Skip to main content

Full text of "Ukrainische Rundschau. v.6.1908"

See other formats



INDIANA 

university 

LIBRARY 


Digitized by 


NIVERSIT 






Digitized by 


Go gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 







Digitized by 


Go 'gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



Ukrainische Rundschau 

vormais: „Ruthenische Revue.“ 


Monatsschrift für das gesamte 
Leben des ukrainischen Volkes. 

Herausgeber und Redakteur: WLADiMIR KUSCHNIR. 


Redaktion und Administration : 

Wien XVIII., Gersthof, Hockegasse 24. 



VI. Jahrgang. 


yr 


Gck »gle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



Tnbaltiverzeicbim. 

Seite 

Ant on owytsch, Prof. Wladimir, Henryk Sienkiewicz als 

Romanschriftsteller.2'4, 363, 399 


— Drei nationale Typen.533 

— Die polnische Schlachta in der Ukraine. Aus seinen Memoiren 244 
Batschynskyj, Dr. Wladimir, Die ukrainische Schule im 

polnischen Joch: 

I. Lehrerbildungsanstalten.12 

II. Die Vortragssprache an den galizischen Mittel¬ 
schulen .49 

III. Die Verfolgung der ruthenischen Schuljugend in 

den galizischen Lehrerbildungsanstalten . . 123 

IV. Gewerbe-, Handels- und andere Fachschulen in 

Galizien.283 

V. Die Gründung von Mittelschulen in Galizien . 352 

VI. Die Anzahl und Verteilung der Mittelschulen in 

Galizien.394 

VII. Die Unterbringung der ukrainischen Gymnasien 396 

VHI. Die Aufnahme in die Mittelschule.428 

IX. Die Aufnahmsprüfungen in die Mittelschulen . 432 

X. Der Unterricht in den galizischen Mittelschulen 479 

XI. Die Korruption im galizischen Mittelschulwesen 483 

XII. Kreisschulinspektoren.527 

XIII. Die Wirtschaft im Schulbücherverlag des gali¬ 

zischen k. k. Landesschulrates.529 

XIV. Die Anzahl und Verteilung der Volksschulen in 

Galizien.530 

XV. Die Volksschultypen in Galizien.532 

Brunner, L., An die Ruthenen!. 8 

Budz, IrynaK. M., Uebersetzungen ruthenischer Volkslieder: 

Die Judenherrschatt in der Ukraine.247 

— Bodnariwna.248 

— Kahanetz.294 

B u d z y n o w s k y j, W., R.-R.-Abg , Enteignung ohne Gesetze . 229 

Beresteczko.180 

— Eine nicht gestellte Anfrage an den Präsidenten des öster¬ 
reichischen Abgeordnetenhauses.259 

Charmatz, Richard, Die österreichische Mission der Ruthenen 422 
Domanitzkyj, W.. Die Kooperationsbewegung in der Ukraine 367 
Wer sind Kosaken ?.405 

— Wladimir Antonowytsch.540 

Doroschenko, D., Die Vertreter des ukrainischen Volkes in der 

dritten Duma. 3 


DX 8 

, v ■ L 



Digitized b) 


Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 






















-1L/-6J 


Seite 


Dmytriew, Mykola, Ueber die Enwicklungsbedingungen der 

ukrainischen Literatur. 

Iwanenko, D., Die ukrainisch-nationale Bewegung in Russland 

und deren Gegner ... . 

K a d i s c h, Dr. H , Die Bedeutung der nationalen Autonomie für 

innere und äussere Politik Oesterreichs.. 

Kolessa, Uni v.-P r o f., Dr Alexander, R.-R.-A b g., An die 
Gegner der nationalen Selbständigkeit der Ukrainer . . . 

Korduba, Dr. M.. Abgeordneter Jan Zamorski als Geschichts¬ 
forscher . 

Kociubysk yj, M v c h a j 1 o, In Schaitans Schlingen. Ueber- 

setzt von Iryna K. M. Budz. 

K u s c h n i r. Wladimir. Die Landtagswahlen in Galizien und 

die galizischen Wahlmissbräuche... 

Ein ukrainischer Gesetzentwurf ift der dritten Duma . . . 

— Ein polnischer Informator Europas oder Abgeordneter 

Zamorski als Philologe. 

— Der Statthaltermord. 

— Die Lage der Ruthenen in Galizien. 

— Graf Andreas Potocki als Statthalter. 

—* Abgeordneter Markow und die Petersburger Akademie der 

Wissenschaften über die ukrainische Frage. 

— Ein Blatt aus der kulturellen Enteignungsgeschichte des 

ruthenischen Volkes. 

— Potocki. Eine geschichtliche Betrachtung. 

— Der Neopanslavismus : 

I. Der neue Kurs im Panslavismus. 

II. Der polnische Panslavismus. 

III. Der russisch-polnische Ausgleich. 

IV. Schlussbetrachtung. 

— Der Minister für Landesverteidigung und die Bauernmorde 

in Galizien. 

— Der Kampf gegen das Ukr; inertum. 

— Analphabetismus als Staatsprinzip. 

— Der Landtag von Galizien. 

— Von der Slavenkonferenz in Prag. 

— Was nun ?. 

— Die nationalen Verhältnisse in Lemberg und anderen ost- 

galizischen Städten. 

— Das neue Oesterreich. 

— Die Ruthenen und der Staat. 

— Das Jubiläum des Aufklärungsvereines ,.Proswita u in Lemberg 

— Die Ruthenen und Oesterreich. 

Kuziela, Dr. Zeno: 

III. Die Ausländer über die Ukrainer. 

TV 

A T • 77 77 77 77 9 . 

Lewickyj, D r. Eugen, R.-R.-A bg., Eine Parlamentsrede über 
die Ermordung des Bauern Kahanetz in Koropetz .... 


369 
517 
391 

370 
63 
21 


97 

115 

134 

161 

169 

183 

189 

221 

236 


277 

280 

347 

349 

292 

385 

414 

425 

447 

469 

471 

493 

497 

533 

547 


15 

451 

296 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 
































Seite 

Mang, Richard 1 e, Galizien vor 1868 .. 881 

Ein Vortrag in Dresden.550 

Mötsch u 1 s k y j, Mich., Panas Matiuschenko.408 

Ostapczuk, Jacko, R.-R.-A b g., Nach der Verurteilung . . 286 

Pankiwskyj, Konstantin, Die Anfänge der wirtschaft¬ 
lichen Organisation bei den Ruthenen in Galizien .... 54 

P e r n e r s t o r f e r, E., R.-R.-A b g., Ein Freundeswort an die 

Ruthenen ... .346 

Pressburger, Dr. Richard, Verteidigungsrede für Sit- 

schynskyj vor dem k. k. Kassationshot in Wien ..... 455 

Prosoroff, G., Polnische Rechtspflege.290 

Reichsratsabgeordneter (ein ruthenischer R.-R-Abg.), 

Die Besetzung des galizischen Statthalterpostens .... 187 

Rode, Dr. Walther, Verteidigungsrede für die ukrainischen 

Studenten vor dem k. k, Kassationshof in Wien.145 

— Anklagerede wider Henryk Sienkiewicz vor dem Schwur¬ 
gerichte in Wien.831 

— Ein aussergalizisches Gericht für Myroslaw Sitschynskyj . 249 

Rudenskyj, Wassil, Versuch einer Selbstkritik.126 

— Die Apostel der „aufrichtigen und gänzlichen Verbrüderung“ 435 
Stefanyk, Wassil, Das blaue Büchlein. Uebersetzung von 

J. Rosdolskyj. 19 

— Das steinerne Kreuz. Uebersetzung von J. Rosdolskyj . . 68 

Storoienko, Oleksa, Die Nadel. (Eine Potocki-Geschichte.) 

Uebersetzung von Wilhelm Horoszowski ....... 259 

Tomaschiwsk y j, D r. Stefan, Zur Karte des ukrainischen 


Wohngebietes.57 

Wowk, Uni v.-Prot Dr. Fedir, Die Ukrainer in anthro¬ 
pologischer Beleuchtung.487 

— w — Der k. k. Landesschulrat als Pfleger des österreichischen 

Patriotismus ....". .445 

— Wunderblumen galizischen Assekuranzwesens.500 

Briefe aus Poltawa .. 91 

Büchereinlauf. 43, 274, 418, 468, 514 

Der Czernowitz -r Prozess.503 

Die Wahlmissbräuche in Galizien . 83 

Eine Beschwerde der „Ukrainischen Rundschau“ an die k. k. Post- 

und Telegraphendirektion in Lemberg.506 

Geldsammlungen für politische Zwecke in galizischen Aemtern . 273 

Graf Andreas Potocki als Landwirt.271 

Nachrichten. 215 

Polnischer Chauvinismus bei Gericht.499 

Rundschau.. .. 37, 137, 376, 465, 512, 553 

Selbstanzeige der k. k. Staatsanwaltschaft in Lemberg . . . . . 272 

Tausch verkehr.468, 515, 555 

Zeitschriftenschau.. K 9, 141 


Zeitungsstimmen über das Attentat Sitschynskyjs .... 197, 268 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




























> 


UKRAINISCHE ■ 

:=:.: RUNDSCHAU 


HERAUSGEBER u. REDAKTEUR: W. KUSCHNIR. 

VI. J AHRGANG. 1908. NUMMERT 


Die Vertreter des ukrainischen Volkes in 
der dritten Duma. 


Von D. Doroschenko. 


In der ersten und zweiten Duma besaß das ukrainische 
Volk eine verhältnismäßig starke Vertretung; der Ukrainerklub 
zählte in der ersten Duma 44, in der zweiten 47 Abge¬ 
ordnete. Freilich bedeuten diese Zahlen nicht eine genaue An¬ 
zahl aller Abgeordneten, die aus dem ukrainischen Territorium 
in die Duma geschickt wurden. Die acht reinukrainischen 
Gouvernements allein schickten in die beiden ersten Parlamente 
jedesmal 96 Abgeordnete, und die elf Gouvernements, in denen 
6—7 Millionen Ukrainer wohnen, 87 Abgeordnete; daraus 
folgt, daß, wenn heuer das ukrainische Volk lauter solche Vertreter 
in die Duma entsendet hätte, die sich ihrer Verantwortlichkeit 
vor dem Lande bewußt gewesen wären, der Ukrainerklub zu¬ 
mindest 90 bis 100 Mitglieder hätte zählen sollen. Aber auch 
bei der Mitgliederzahl der beiden ersten Ukrainerklubs be¬ 
deutete die ukrainische Vertretung eine nicht geringzuschätzende 
Macht, mit welcher die anderen Parlamentsgruppen rechnen 
mußten. Die erst kurz vor der Auflösung der ersten und 
zweiten Duma eingetretene Organisierung des ukrainischen Klubs 
erlaubte den ukrainischen Abgeordneten nicht, ihre Tätigkeit 
ersprießlich zu entfalten. Diese Tätigkeit trat zum Vorschein 
nur in der Kritik der Regierungspolitik und einer Anzahl Inter¬ 
pellationen und Anträge (besonders verdient das Projekt der 
Aufhebung des Gesetzes gegen die Streiks landwirtschaftlicher 


Digitized by 


Go^ 'gle 


1 * 

Original from 

INDIANA UNtVERSITY 


4 


Arbeiter und statt dessen der Schaffung eines neuen Reglements 
zugunsten des arbeitenden Proletariats hervorgehoben zu 
werden), welchen es nicht beschieden war, verwirklicht zu 
werden. Aber immerhin hatte der Bestand einer ukrainischen 
parlamentarischen Vertretung eine sehr große moralische Be¬ 
deutung und trug vielfach zur Verbreitung des nationalen Be¬ 
wußtseins unter der ukrainischen Gesellschaft bei. Die Idee 
der Autonomie der Ukraine sowie der Verteidigung der 
nationalen ukrainischen Interessen, verkündet von der Höhe 
der parlamentarischen Tribüne und verbreitet mittelst Tele¬ 
grammen und Zeitungsberichten in allen Winkeln des ukraini¬ 
schen Territoriums, faßte tiefe Wurzeln. Dies kann insbe¬ 
sondere von dem ukrainischen Klub in der zweiten Duma ge¬ 
sagt werden, welcher sein Organ „Die Dumanachrichten“ in 
ukrainischer Sprache herausgab. 

Das Gesetz vom 3. Juni 1907 ändert aber gründlich .den 
Charakter der ukrainischen Repräsentanz. Diesem Gesetze zu¬ 
folge wurde das Uebergewicht bei den Wahlen der Klasse der 
Großgrundbesitzer verliehen. Die Bauern konnten die Mandate 
nur von den Gnaden der letzteren erhalten, nachdem die 
Uebermacht der Großgrundbesitzer überall gesichert war. So¬ 
gar bei der Wahl eines obligaten Kandidaten der ländlichen 
Kurie in jedem Gouvernement nahmen die Großgrundbesitzer teil, 
wodurch ihnen die Möglichkeit gegeben wurde, die Wahl des 
ihnen passenden bäuerlichen Kandidaten zu beeinflussen. Für 
denjenigen, der mit dem Charakter der sozialen Schichtung in 
der Ukraine vertraut ist, wo die Großgrundbesitzerschichte 
durchwegs ein reaktionäres und antinationales Element dar¬ 
stellt, war es nach dem Erlaß des neuen Wahlgesetzes von 
allem Anfang an klar, daß das ukrainische Volk unmöglich 
wirkliche Vertreter seiner Interessen in die Duma werde 
schicken können. Aber der Erfolg der Wahlen erwies sich 
noch trauriger, als es irgend jemand erwarten konnte. Die 
ukrainischen Parteien traten bei den Wahlen fast nirgends 
selbständig auf, indem sie sich auf allen Orten mit den fort- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



5 


schrittlichen russischen Blocks, außerdem aber mit Polen und 
Juden verbanden, um die Wahl der Regierungskandidaten zu 
vereiteln. Nur in Charkow haben die Ukrainer ihr eigenes 
Kandidatenregister aufgestellt, aber die ukrainischen Kandidaten 
gewannen für sich weniger Stimmen als der russisch-jüdische 
Block der fortschrittlichen Parteien. In Kijew gelang es den 
gemeinsamen Bemühungen aller fortschrittlichen nationalen 
Organisationen, den Ukrainer Universitätsprofessor Iwan 
Lutschytzlcyj, ein Mitglied der konstitutionell-demokratischen 
Partei, zu wählen. Im allgemeinen sind in den ukrainischen Gou¬ 
vernements fast durchwegs äußerste Reaktionäre, Mitglieder des 
„Verbandes echt russischer Leute“ gewählt worden. Unter den 
Abgeordneten überwiegen die Großgrundbesitzer, nach ihnen 
kommen die Geistlichen und zuletzt eine geringe Anzahl 
Bauern. 

Gleich nach der Verkündung der Wahlresultate wurde 
es allen klar, daß eine demokratische ukrainische Organisation, 
wie sie in den beiden ersten russischen Parlamenten bestand, 
in der dritten Duma nicht zu erwarten ist. Wenn man die in 
der Ukraine gewählten Abgeordneten auf ihre Nationalität 
prüft, so erweist es sich, daß die Mehrzahl derselben zwar 
der ukrainischen Nationalität angehört, aber diese nationale 
Zugehörigkeit rein formell versteht, ohne dem nationalen Be¬ 
wußtsein einen sachlichen Gehalt beizugeben. Freilich sind 
auch unter den Abgeordneten aus der Ukraine einige, die 
den kulturellen Forderungen des ukrainischenVolkes sympathisch 
gegenüberstehen, aber sie sind sämtlich unter der Fahne der 
reaktionären Parteien gewählt worden, die sich der nationalen 
Emanzipation der Nicht-Staatsnationen gegenüber im allge¬ 
meinen feindlich verhalten. 

Dessenungeachtet ist das Bewußtsein der nationalen 
Eigenart auch unter unseren Abgeordneten in der dritten Duma 
rege geworden. Schon einen Monat vor dem Ende der Herbst- 
Session kamen Meldungen, daß in der Duma die Organisierung 
einer konservativen ukrainischen Partei geplant werde. Die 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



6 


Initiative soll von der Gruppe der geistlichen Abgeordneten aus¬ 
gegangen sein, denen sich gleich die bäuerlichen Abgeordneten 
anschlossen. Diese Fraktion sollte laut Berichten in ihr Pro¬ 
gramm das Postulat der Nationalisierung der Schule in der 
Ukraine und in erster Linie die Einführung des Anfangsunter¬ 
richtes in ukrainischer Sprache, die Aufnahme der Positionen 
ukrainischer Lehrkanzeln an den Universitäten in Kijew, 
Charkow und Odessa u. dgl. aufnehmen. Dagegen soll sich 
die künftige ukrainische Fraktion gegen die Aufonomie der 
Ukraine, sowie gegen eine Durchführung von gründlichen 
politischen und sozialen Reformen erklärt haben. — Bis zur 
Zeit hat sich zwar eine solche ukrainische Fraktion in der 
Duma nicht organisiert, aber man kann mit Sicherheit er- 
'warten, daß die Frühlingssession die Lösung dieser Frage 
bringen wird. 

Interessant ist, wie die Kunde von der geplanten 
Organisierung einer konservativen ukrainischen Fraktion in der 
Duma von der ukrainischen Gesellschaft und Presse aufge¬ 
nommen wurde. Es besteht kein Zweifel, daß ein konservativer 
ukrainischer Klub bei einem Teil der bürgerlichen Gesellschaft, 
insbesondere bei der Geistlichkeit, eine sympathische Aufnahme 
finden würde. Das nationale Bewußtsein unter den Ukrainern 
machte in den letzten Jahren große Fortschritte. Gewiß ver¬ 
binden diese Leute mit ihrem nationalen Bewußtsein rück¬ 
schrittliche Ansichten über die politischen und sozialökono¬ 
mischen Angelegenheiten, auch vielfach antisemitische Ge¬ 
sinnung. Aber der von den radikalen ukrainischen Gruppen 
kolportierte Gedanke, daß der Ukrainismus obligat demokratisch 
sein muß und daß es eine ukrainische Bourgeoisie nicht gebe, 
wird immer mehr illusorisch. 

Auf die Nachricht von der Gründung eines konservativen 
ukrainischen Klubs in der Duma schlug die demokratisch¬ 
radikale ukrainische Presse in Rußland Alarm und beeilte sich 
durch den nun einflußreichen ukrainischen Politiker, Universitäts¬ 
professor in Lemberg, Michael Hruschewskyj, in den 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



7 


Spalten der Kijewer „Rada“ mitzuteilen, daß „das Ukrainertum 
sich auf keinen Fall mit einer solchen Vertretung solidarisieren 
könne und jede Verbindung mit einer solchen Organisation 
ukrainischer Abgeordneten kündige, nachdem das Ukrainertum 
nur auf einer demokratischen Grundlage stehen könne. In 
ähnlichem Sinne äußerte sich der bekannte Kijewer Publizist 
S. Efremow in der russischen Zeitung „Kijewskija.Wjesti“. 
Der noch mehr links stehende sozialistische Flügel der ukraini¬ 
schen Gesellschaft, dessen Sprachrohr das Kijewer „Slowo“ 
ist, begegnete aber der Kunde über die Vorbereitungen zur 
Gründung eines konservativen ukrainischen Klubs mit mehr 
Sympathie, indem er in einem solchen die Zeichen einer 
sozialen Differenzierung in der ukrainischen Gesellschaft be¬ 
grüßte, welche eine notwendige Voraussetzung zur Aufklärung 
des Klassenbewußtseins der arbeitenden Massen sei. Einer 
der hervorragenderen Vertreter dieser Richtung, S. Pet- 
lura, äußerte sich in der Monatsschrift „Ukraina“ dahin, daß 
die Organisation der bürgerlichen Elemente der ukrainischen 
Gesellschaft eine objektive conditio sine qua non für die Ver¬ 
breitung des nationalen Bewußtseins des ukrainischen Volkes 
sei. Zum Trauern sei hier am allerwenigsten Platz. Das gegebene 
Faktum solle nur ein Impuls zu einer intensiveren Organisation 
demokratischer Elemente unserer Nation, entsprechend den 
materiellen Interessen und den idealen Sympathien einer jeden 
nationalen Gruppe sein. 

Aus den angeführten Aeußerungen erhellt, daß eine direkte 
Verständigung zwischen der konservativen ukrainischen Ver¬ 
tretung und den bestehenden politischen Organisationen der 
Ukrainer nicht zu erwarten ist und daß die ukrainischen Abge¬ 
ordneten erst eine Organisation ihnen wohlgesinnter Elemente 
werden durchführen und ein eigenes Organ gründen müssen. 
Ob aber die ukrainischen Konservativen soviel Energie werden 
auftreiben können? In jedem Fall bildet das konservative Ukrainer¬ 
tum eine ganz neue Erscheinung; es zeugt dafür, daß die ukraini¬ 
sche Gesellschaft bereits dem ersten Stadium der Entwicklung ent- 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



8 


rückt ist und entsprechend den sozialökonomischen Verhältnissen 
einen Differenzierungsprozeß durchmacht. Wahrlich ist hier 
zum Trauern kein Platz und bis die ukrainische Gesellschaft 
mit Hilfe der russischen eine gerechtere Wahlordnung er¬ 
kämpft, welche der Ukraine eine wirkliche nationale Ver¬ 
tretung bringen wird, wollen wir warten, was uns der kon¬ 
servative ukrainische Klub beschert. 

An die Ruthenen! 

Von L. Brunner, Obmann des Demokratischen Zentralvereines in Wien *). 

Das war ein merkwürdiger Moment, als in dem neuen 
Volkshause in Wien eine stattliche Schar Vertreter des 
ruthenischen Volkes einzog und* plötzlich als einflußreiche 
Gruppe das Recht desselben auf Mitbestimmung an der Staats¬ 
verwaltung energisch zum Ausdruck brachte. Nicht bloß ein 
Ereignis von Bedeutung für die innerösterreichische Politik, 
sondern auch für die europäische. War doch das ruthenische 
Volk beinahe ausgemerzt aus dem europäischen Völkerkonzert 
und beinahe wäre es seinen Nachbarn und Bedrückern, den 
Polen und Russen, gelungen, dasselbe ganz totzuschweigen. 
Auch heute noch gibt es nur wenige Gebildete, welche wissen, 
daß dieses Volk eine Kopfzahl von 30—35 Millionen Menschen 
Umfaßt, wovon allerdings in Oesterreich nur 4 Millionen wohnen, 
die anderen in Rußland. Die Russen leugnen noch heute die 
Existenz desselben und die offizielle Statistik zählt dieselben 
dem russischen Volke zu, die Polen merkwürdigerweise zu 

*) In Ausführung des in der Ankündigung des neuen Jahrganges 
unserer Zeitschrift enthaltenen Programmes eröffnen wir hiemit eine 
ständige Rubrik für die Stimmen von Nichtruthenen über ruthenische An¬ 
gelegenheiten und sind in der Lage, schon diesmal einen Artikel von 
dem wegen seiner echt demokratischen Gesinnung bekannten Ver¬ 
fasser zu bringen. Gleichzeitig erklären, wir, daß uns Aeußerungen 
Angehöriger fremder Nationalitäten ohne Rücksicht auf deren politische 
Ansichten und Parteizugehörigkeit gleich willkommen sind, für deren 
Inhalt wir jedoch keine Verantwortung übernehmen. Nur durch Ueber- 
lassen der weitestgehenden Freiheit in der Aeußerung der Urteile wird 
die Möglichkeit geboten, ein getreues Bild zu gewinnen, wie sich das 
Ausland zur ukrainischen Frage stellt. Die Redaktion. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



9 


Digitized by 


sieh. Es gibt also soviel Ruthenen als Franzosen oder Italiener, 
doppelt soviel als Spanier, fünfmal soviel als Tschechen oder 
Schweden, Holländer, von andern kleinen Nationen nicht 
zu reden. 

In Oesterreich sind die Bedrücker der Ruthenen die 
Polen, welche ihnen bis vor kurzem sogar die Existenz ab- 
sprachen und behaupteten, ihre Sprache sei nur ein polnischer 
Dialekt. Man könnte dies von jeder nördslawischen Sprache 
behaupten, aber wenn es selbst wahr wäre, so wird jeder¬ 
mann, der irgendwie mit den Angehörigen dieser beiden 
Nationen in Fühlung kommt, erkennen, daß hier zwei Völker 
nebeneinander wohnen, deren Charakter so verschieden ist, 
als nur denkbar. Er könnte kaum verschiedener sein, wenn 
ein Meer sie trennen würde. Ist der Durchschnittspole ein 
lebhafter, oberflächlicher und wetterwendischer Patron, so ist 
der Ruthene gerade das Gegenteil. Die Polen haben ihr Reich 
zugrunde gerichtet durch ihre Sektiererwut, ihre Unverträglich¬ 
keit und die Falschheit ihres Adels, dagegen zeigt die Ge¬ 
schichte der Ruthenen gerade das entgegengesetzte Bild. Sie 
verloren ihre nationale Selbständigkeit geradezu durch ihre 
Treue und Hingebung. Sie hatten die furchtbaren Stöße der 
mongolischen, tartarischen und türkischen Horden auszuhalten, 
und während sie im Kampf gegen dieselben ihre Kraft hin- 
gaben, wurden sie von ihren westlichen und nördlichen Nach¬ 
barn weit mehr durch List und Falschheit als durch deren 
Macht ihrer Selbständigkeit beraubt. Es zeigt von der enormen 
Lebenskraft und dem tiefen Gemüte dieses Volkes, daß es 
trotz aller Bedrückung seine nationale Eigenart, seinen Mut 
im Ertragen von Leiden und seine UnVerdorbenheit behauptet 
hat. Wie der Pole oberflächlich so ist das Gemüt des Ruthenen 
treu, tief und unverdorben. Sie haben keinen Adel und keine 
bevorrechteten Kasten, es ist ein treues, tapferes, echt demo¬ 
kratisches Volk. 

1 Wären unsere Staatslenker nicht so kurzsichtig, sie hätten 
längst diesem Volke seine Rechte gegeben und damit einen 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



10 


wirksamen Damm gegen die ewig unruhige Polonia irredentä 
geschaffen. Wir hatten nur einen solchen Staatsmann aufzu¬ 
weisen, das ist Graf Stadion, aber leider wurde seine Politik 
bald verlassen und das ruthenische Volk der polnischen 
Schlachta ausgeliefert, dem verkommensten und perfidesten 
Adel aller Völker. 

Das Hereinbrechen einer neuen Zeit, die Teilnahme des 
Volkes an der Regierung, hat diese Fesseln gesprengt und die 
unterdrückte und mißachtete Nation hat mit bewundernswertem 
Mut und unter den schwersten Opfern sich Raum an der 
Sonne geschaffen und so hielt dies altehrwürdige und doch 
jugendfrische Volk seinen Einzug im Areopag der europäischen 
Völker. Die lange Bedrückung hat seine Kraft nicht gebrochen, 
sondern gestählt, Talente aller Art schießen aus dem Boden, 
ein unersättlicher Drang nach Bildung und Hebung der Volks¬ 
genossen bricht hervor und jeder wahre Menschenfreund muß 
seine Freude haben an diesem Ereignisse. 

Alle Wahlkniffe und die Benachteiligung bei der Ver¬ 
teilung der Wahlkreise haben nichts gefruchtet, nicht der 
Terrorismus der Beamten, nicht die Gewalttaten der Gendarmen, 
nicht Bestechungsversuche und Wahlfälschungen achtung¬ 
gebietend, 32 Mann stark sind die Vertreter des ruthenischen 
Volkes eingezogen ins Volkshaus, eine Schar tapferer, jugend¬ 
frischer Männer! Ihnen gilt der herzliche Gruß aller Freiheits¬ 
freunde. Seid willkommen, ihr Kämpfer der Freiheit für 
euer Volk! 

Es ist Euch eine schwere Aufgabe zugefallen, welche 
Mut und Klugheit erfordert, wenn ihr das Vertrauen recht- 
fertigen wollt, welches Euer Volk in Euch gesetzt. Das Par¬ 
lament, und besonders das österreichische, ist ein schlüpfriger 
Boden für Politiker, welche gewohnt sind, offen und gerade ihre 
Ziele zu verfolgen. Dort lauert die Versuchung der politischen 
Korruption, die Falschheit an allen Ecken. Alle bestehenden 
Parteien sind von ihr innerlich angefressen. Die Politiker haben 
zwei Gesichter, eines mit dem sie vor das Volk treten, eines 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



11 


mit dem sie in den Wandeigängen des Parlamentes den politischen 
Schacher treiben. Wie leicht wird da ein unverdorbener Volks¬ 
mann das Opfer der Ueberlistung und Verführung. Und das 
ist eine große Gefahr. 

Es gibt hier zwei verschiedene Wege: der Kampf ums 
Recht und der Kampf um die Macht. Die Ruthenen dürfen 
und sollen nicht schwanken in diesem Zwiespalt; wollen sie 
ihrem Volke und den andern Brudernationen dienen, so müssen 
sie kämpfen für das Recht. Nur auf diesem Boden können 
dauernde Erfolge erzielt werden, nur durch ehrliche Mittel, 
nur durch Unterstützung aller freiheitlichen Fragen. 

Sprechen wir zuerst von der nationalen. Wieviel 
Schwindel und Unrecht wird getrieben mit diesem Schlagwort! 
Nehmen Wir zum Beispiel die Deutschnationalen. Im harten 
Kampfe gegen die Klerikalen sind sie gewählt worden, und 
kaum ins Parlament eingetreten, haben sie bei der Präsidentenwahl 
für den ärgsten Feind des deutschen Volkes, der Kultur und des 
Fortschrittes gestimmt. Als Entschuldigung für diesen schmäh¬ 
lichen Umfall mußte die nationale Flagge herhalten. Und doch 
sieht jedermann, welcher nicht blind ist, daß es nur ein Schacher 
war um Mandate und Ministersessel; um ein Linsengericht 
haben sie sich und die heiligsten Interessen ihres Volkes 
verkauft. National sein heißt, für das Wohl seiner Volksgenossen 
wirken, aber in Oesterreich heißt nationale Politik betreiben, 
andere Nationen zu bekämpfen und um ihre Rechte zu betrügen. 
Dem dürfen sich die Ruthenen nicht anschließen; sie wissen 
am besten, wie weh es tut, bedrückt zu werden. Sie sollen 
immer und überall eintreten für alle Bedrückten. Sie sollen sich 
nicht einfangen lassen durch kleinliche Konzessionen, wie 
Professorenposten und dergleichen. Nicht Gunstbezeugungen 
sollen sie verlangen, sondern die Erlangung der nationalen 
Autonomie, der Selbstverwaltung. Jede Nation ordnet ihre 
nationalen Angelegenheiten selbst, vor allem die Schulfrage. 

Ebenso wichtig ist, daß unsere Staatsverwaltung auf den 
Boden des Rechtes gestellt werde. Unsere Administration ist 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



12 


noch ganz wie in einem absoluten Staate. Also Verantwortlich¬ 
keit der Beamten, Staats-, Landes- uud Gemeindebeamten, wie 
es in unserer Verfassung versprochen ist. Kein Verwaltungs¬ 
beamter soll das Recht haben, Bürger zu strafen oder in ihr 
Vermögen einzugreifen, ohne daß dies dem Richter vorgelegt 
werde. 

Kein Land Oesterreichs leidet so unter der Willkür der 
Beamten, wie die ruthenischen Landesteile. Deshalb ist hier 
der Hebel anzusetzen. Die Ruthenen müssen im Parlamente 
verlangen, daß dementsprechende Gesetze erlassen werden. 
Sie werden dadurch alle sich freiheitlich nennenden Parteien 
zwingen, sich ihnen anzuschließen und damit die Führung für 
die wichtigsten Fragen der Freiheit, die Befreiung der Staats¬ 
bürger von der Beamtenwillkür übernehmen. 

Sie haben das Recht und die Pflicht dazu, denn sie sind 
die einzige große wahrhaft demokratische Partei des Parlamentes. 
Dann werden sich um sie alle ehrlichen Elemente scharen, 
und stark in Verfechtung der Freiheit und des Rechtes, werden 
sie ihrem Volke den größten Dienst erweisen, die Sympathien 
aller Gebildeten und Unterdrückten gewinnen und beweisen, 
daß ihr Volk der Freiheit wert ist. 

Wer für sich die Freiheit will, muß sie auch für seine 
Mitmenschen erkämpfen. Das sind die Ratschläge, welche 
ein wahrer Freund und Bewunderer ihres Volkes ihnen mit 
auf den heißen Boden des Parlamentes gibt. 

ln hoc signo vinces! 

Die ukrainische Schule im polnischen Joch'). 

I. Lehrerbildungsanstalten. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 

Die Tendenz, die Volksmassen und insbesondere die 
Ruthenen in Galizien in der geistigen Finsternis zu erhalten, 
wird am besten durch die Art und Weise illustriert, in welcher 

') Unter obigem Titel werden wir die im Heft 6—8 [von 1907 an¬ 
gekündigte Artikelserie über die Zustände auf dem Gebiete des ruthenischen 
Schulwesens in Galizien bringen. (Anmerkung der Redaktion.) 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



13 


hier Lehrerbildungsanstalten gegründet werden. Lehrerbildungs¬ 
anstalten gibt es derzeit in Galizien 15, und zwar 7 in 
Westgalizien (Krakau 2, Tarnow, Rzeszow, Alt-Sandez, Krosno, 
Kenty je eine) und 8 in Ostgalizien (Lemberg 2, Stanislau, 
Tarnopol, Sokal, Zalistschyky, Sambir, Peremyschl je eine). Eine 
Lehrerbildungsanstalt entfällt auf 487.000 Einwohner. Die 
anderen Länder der österreichischen Hälfte der Monarchie 
sind in dieser Beziehung bei weitem besser situiert. So gibt 
es ein Gesetz, demzufolge in einem Lehrerseminar Parallel¬ 
klassen nicht bestehen dürfen. Man darf jedoch die Lehrer- 
seminarien in zwei Abteilungen, z. B. eine männliche und 
eine weibliche oder in solche mit verschiedenen Vortrags¬ 
sprachen teilen. Eine derartige Teilung gibt es in Galizien 
nicht, dagegen wird sie in der Bukowina, in Krain, Steiermark, 
Kärnten, Oberösterreich und Schlesien vorgenommen. Solche 
Lehrerbildungsanstalten mit zwei Abteilungen sind tatsächlich 
Doppelschulen. Der Unterricht wird separat erteilt, nur die 
Museen, die Verwaltung und einzelne Lehrkräfte sind gemeinsam. 
Die Ausstattung der österreichischen Kronländer in Lehrer¬ 
bildungsanstalten sieht in Zahlen, wie folgt, aus 2 ): 


Kronländer 

Österreich unter der Enns 
Österreich ob der Enns 

Salzburg. 

Steiermark 

Kärnten. 

Krain. 

Küstenland . 

Tirol samt Vorarlberg 

Böhmen. 

Mähren. 

Schlesien 

Galizien. 

Bukowina 

Dalmatien . 


_. Eine Lehrer- 

Die Zahl der bildungsanstalt 

Lehrerbildungs-entfällt auf Ein- 


staiten 

wohnerzahl 

10 

310.000 

2 

400.000 

1 

173.000 

4 

339.000 

2 

183.500 

2 

254.000 

2 

378.500 

5 

196.400 

21 

300.900 

9 

270.900 

4 

170.000 

15 

488.000 

2 

365.000 

2 

297.000 


*) In der Tabelle sind nur die Staats-, Landes- und städtischen 
Lehrerbildungsanstalten mit öffentlichkeitsrecht berücksichtigt. — Die 
Daten betreffend Galizien sind der Statistik für das Schuljahr 1907/8, be¬ 
treffend die übrigen Länder der Statistik für das Schuljahr 1906/7 ent¬ 
nommen. (Anmerkung des Verfassers.) 


Digitized by 


Google 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 





14 


Wie wir sehen, hat Galizien die Führerrolle im Rück¬ 
gang zum Analphabetismus inne. Nur in Galizien werden Lehrer 
aus außergalizischen Seminarien nicht zugelassen, während in 
allen anderen Ländern die Lehrer aus einem Land ins andere 
gehen dürfen und dies schon dadurch erleichtert wird, als 
fast in allen anderen Ländern die deutsche Sprache landes¬ 
üblich ist. So empfindet beispielsweise Oberösterreich, welches 
relativ wenig Seminarien hat, keinen Mangel an Lehrkräften, 
weil diese aus anderen Ländern hinströmen können. Nur das 
durch eine chinesische Mauer von dem übrigen Oesterreich 
abgesonderte Galizien wandelt bleibend in Finsternis. Und 
die Verpönung der Aufklärung fällt um so mehr auf, wenn 
man Westgalizien mit Ostgalizien vergleicht. Das überwiegend 
von Polen bewohnte Westgalizien hat 7 Lehrerbildungs¬ 
anstalten oder eine auf 357.400 Einwohner. Westgalizien ist 
in dieser Beziehung mit Schulen reichlicher ausgestattet, als 
Oberösterreich, das Küstenland oder die Bukowina. 

Dafür muß Ostgalizien, als ruthenischer Teil des 
Landes, mit8Lehrerbildungsanstalten, oder mit einer 
auf 601.521 Einwohnerzahl vorlieb nehmen. Wenn def 
ruthenische Teil Galiziens in dieser Beziehung auch so aus¬ 
gestattet wäre, wie der polnische, so müßten hier um sechs 
Lehrerbildungsanstalten mehr bestehen, d. h. 14 statt der be¬ 
stehenden 8. Aber darum sind diese Polen, dieselben Polen, 
die in der ganzen Welt über den Hakatismus der Preußen in 
Posen schreien, nicht bekümmert. Nur vergessen die Herren, 
*daß es in der Provinz Posen hinlänglich genug Lehrerbildungs¬ 
anstalten gibt, wenn auch nicht polnische, so doch wenigstens 
deutsche. Die polnische Majorität im galizischen Landtag, 
welche zu dieser Majorität durch die Wahlgeometrie, durch 
Schwindel und Raub angewachsen ist, fürchtet sich sogar, in Ost¬ 
galizien auch nur polnische Lehrerbildungsanstalten zu errichten. 

Daher darf es auch nicht Wunder nehmen, daß es in 
diesem Lande, in welchem die polnischen Plantatoren wirt¬ 
schaften, 2000 Gemeinden ohne Volksschulen gibt. 

Und diese Herren haben noch die Stirne, an die zivili¬ 
sierte Welt wegen des ihnen angetanen Unrechts zu appellieren, 
wiewohl eigentlich die Preussen erst von ihrem Beispiel lernen, 
ohne daß sie bisher an ihr Vorbild auch nur hinangereicht hätten. 
Ein starker Hals, gut verwertet, macht eben die beste Reklame ... 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



15 


Die Ausländer über die Ukrainer. 

Von Dr. Z. K u z i e I a. 

Hl. 

< Leute, die die galizischen Verhältnisse nicht kennen, 
kommen, wenn sie die unausgesetzten Klagen hören, zur 
Ueberzeugung, dass denn doch etwas daran sein müsse, 
und betrachten die Polen als Verfolger, und zwar als umso 
ärgere und verdammungswürdigere Verfolger, als sie ja 
selbst, von den Russen und den Preussen verfolgt, am 
besten fühlen und verstehen sollten, wie Verfolgung und 
Unterdrückung weh tun. Derart sind die Gefühle 
der wohlgesinnten Fremdländer... Wir wenden 
uns an die Wohlgesinnten, sowohl unter den anderen 
Slaven, wie auch unter den Deutschen, mit der einen höflichen 
Bitte: ,Untersuchet, bevor Ihr richtet!*-» 

Mit diesen Worten beginnt der polnische Reichsrats¬ 
abgeordnete Gymnasiallehrer Zamorski seinen Artikel «Fäl¬ 
schungen im politischen Dienst» in der «Polnischen Post» 
(1908, Nr. 3). Die Melodie hörten wir nicht erst einmal, die 
beiden mutigen Virtuosen Paderewski und Sienkiewicz haben 
sie im Kampfe gegen Björnson anlässlich seines Artikels 
über die Polen als Unterdrücker gesungen und G. Brandes 
hat sie seinerzeit auch wirklich bewogen, dem offiziellen 
Polentum seinen Besuch zu machen. 

Doch wussten alle die Herren wahrscheinlich nicht, dass 
es schon früher, bevor sie auf die Welt gekommen sind, viele 
slavische und deutsche Männer gab, die ähnlicher Meinung 
wie Björnson waren und, ohne eine höfliche Einladung ab¬ 
zuwarten, sich persönlich die polnischen Verhältnisse in 
Galizien und in der Ukraine angesehen und erforscht haben. 
In weiteren Artikeln werden wir noch mehr als zu viel Ge¬ 
legenheit haben, die kritischen Stimmen von Gästen des ge¬ 
schichtlichen Polen anzuführen, wobei wir auf die Publizistik 
verzichten und nur ernstere wissenschaftliche Werke, ins¬ 
besondere Reiseberichte, berücksichtigen wollen. Den Anfang 
machen wir mit den Reisebemerkungen des ausgezeichneten 


Digitized by 


Gck igle 


Original from _ 

INDIANA UNIVERSITY 



16 


deutschen Politikers und Staatsmannes August von Behr*), 
die gewiss grosse Aufmerksamkeit verdienen und noch heute 
so aktuell sind, dass man zeitgenössische Aeusserungen 
zu lesen glaubt.' Behr bewundert ganz aufrichtig alle natür¬ 
lichen Reichtümer Galiziens, äussert sich aber über dessen 
Bewohner direkt abfällig: «Dagegen kann ich von den Be¬ 
wohnern und ihrem eigentümlichen Charakter 
wenig Gutes rühmen, es sind — mit Ausnahme des 
angestellten Personals und des Militärs, welche grösstenteils 
aus anderen Provinzen des österreichischen Kaiserstaates hier¬ 
her versetzt, und mit Ausnahme einiger reicheren Gutsbesitzer 
von feiner französischer Bildung — echte Polen, in Schmutz 
und Völlerei versunken, in den Händen der Juden, die — 
wie Giftschwämme an einem kranken Baume das Mark vollends 
aufzehren» (S. 42). Der Charakter galizischer Juden lässt sich 
jedoch durch die Unterdrückung seitens der Polen ent¬ 
schuldigen. 

«Möchten aber doch die unberufenen deut¬ 
schen Freiheitsprediger, die gar zu gern die Ge¬ 
sinnungen einer durch übermässigen Luxus erzeugten allge¬ 
meinen Unzufriedenheit in einem angeblichen noblen Gefühl 
für Freiheit und Volkstümlichkeit einhüllen und als solches 
zutage fördern, möchten sie, die durch das Beispiel der ver¬ 
worfenen Griechen, durch die Zaghaftigkeit der Belgier und 
Italiener, wie durch einige Beispiele übermässiger Anarchie 
und einer, allgemeines Elend verbreitenden Volksherrschaft 
noch nicht genug gewitzigt sind und nur von dem Edel¬ 
mut und Unglück der unterdrückten polnischen 
Nation radotieren, möchten sie doch mit eigenen 
Augen sich von der Unwürdigkeit und Völlerei 
dieser gepriesenen Nation überzeugen, welche 
für nichts Sinn hat, als ihre Saufsucht zu be¬ 
friedigen und nur dem zu folgen, welcher ihnen 
zur Befriedigung dieser viehischen Begierde 
das Meiste bietet. Hätte denn sonst, und eingerechnet 
die ewige Jalousie, den Neid und die Missgunst ihrer Grossen 

*) Behr August von, Meine Reise durch Schlesien, Galizien, 
Podolien nach Odessa, der Krimm, Konstantinopel und zurück über 
Moskau, Petersburg durch Finnland und die Insel Rügen im Sommer 1832. 
Leipzig, H. F. Hartmann, 1834. 2 Bände. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



17 


und Repräsentanten, welche in ungezügeltem Ehrgeiz alle 
selbst beherrschen wollten, die Nation so tief sinken können!? 
Nicht ihre politische Lage — eingeklemmt zwischen drei 
grossen Monarchien, die die Zerstückelung Polens selbst zum 
Teil nicht wünschenswert erachteten — nur ihre Un¬ 
würdigkeit, ihre Uneinigkeit waren die Schuld 
ihre.s Unglücks. 20 Millionen verschwinden nicht so 
leicht aus der Reihe der Nationen und Frankreich zeigte in 
seiner höchsten Zerrüttung eine innere Kraft, der alle feind¬ 
lichen Armeen nichts anhaben konnten. Dass sich unter den 
höheren Ständen viele Gebildete befinden, dass unter ihnen 
ein hoher Grad von Patriotismus, von hohem Mut und Selbst¬ 
verleugnung sich zeigte, der sie zu Grosstaten antrieb, 
dass eine unter Napoleon gebildete Armee sich brav schlug, 
mit dem Mute der Verzweiflung kämpfte, wer kann und wird 
diese Tatsachen leugnen! Aber bilden diese wenigen 
Tausende das Gros der Nation und singt man 
nicht vielmehr die eigene Waldweise, wenn man 
den Heroismus dieser Handvoll Leute be¬ 
wundert, ihre Taten denen des hohen Altertums 
gleichstellt und von Tyrannei und Unter¬ 
drückung einer edlen, hochherzigen Nation 
spricht? Kommt her und schaut selbst dieses 
elende, mit Lumpen bedeckte, Mumien gl eiche 
Gesindel, ihren Sklavensinn und urteilt selbst, 
ob sie nicht mit dem Lose zufrieden sein 
könnten, das ihnen unter der früheren russi¬ 
schen Suprematie besser bereitet worden, als 
sie es genossen haften» (S. 43—45). 

Ueberhaupt kann der Verfasser sehr wenig Gutes über 
die polnische Bevölkerung sagen; vergleichen wir z. B. seine 
Bemerkungen über die schlesischen Polen: 

«Sprache, Tracht und Sitte ist polnisch; die zerlumpten 
Mäntel, welche auch der ärmste Taglöhner mit spanischer 
Grandezza trägt, und auf welche er so viel Wert legt . .. die 
immer schlechter werdenden Bauernhäuser von Lehm mit 
vermodertem Stroh und von russigem Ansehen, der überhand¬ 
nehmende Schmutz, das Ungeziefer in den Wohnungen, die 
knechtische Ehrfurcht vor den höheren Ständen, die sich 
in tiefen Bücklingen, im Rock- und Aermelküssen ausspricht, 

2 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 




18 


fern vom anmassenden Stolz des Bauernstandes im nördlichen 
Deutschland, aber auch fern vom deutschen Fleiss, in fauler 
Indolenz sich umhertreibend, wenig für den anderen Tag^ 
sorgend und zufrieden mit den gröbsten Nahrungsmitteln, 
endlich das Ueberhandnehmen der Juden — alles spricht die 
Verwandtschaft mit Polen, dem polnischen Nationalcharakter, 
dem polnischen Volksstamm aus, und man kann sich hieraus 
leicht die Sympathie der gewünschten Wiedervereinigung er¬ 
klären» (I, 24—25). 

Ganz anders sind ihm die ukrainischen Gegenden vor¬ 
gekommen. Podolien nennt er nicht nur ein fruchtbares, 
sondern auch ein schönes Land, voll malerischer Gegenden, 
die besonders an den gebirgigen Ufern des Dnister reizend 
zu nennen sind. Jedes Dorf (und sie sind hier 
grösser und besser gebaut als irgendwo in 
Polen, obschon sie freilich mit den deutschen Dörfern in 
keinen Vergleich zu stellen sind) liegt an einem kleinen See, 
der Wassermühlen treibt, und der Reichtum an Fischen und 
Krebsen ist sehr gross (64). 

ln Podolien fand er auch herrliche Getreidefelder, 
mit Fleiss und Sorgsamkeit beackert, wie in 
Deutschland (61). Die Bevölkerung der Ukraine («äusserst 
fruchtbar, deshalb die mit Recht so berühmte Ukraine» [II, 74J) 
lobt er besonders für ihre Religiosität, Redlichkeit und Ehrlich¬ 
keit; in einsamen Wirtshäusern ohne Fenster und Türe konnte 
er ruhig schlafen. «Man hat kein Beispiel von Räuberei und 
Mord, selbst die Diebstähle sind äusserst selten,» erzählt er 
weiter (I, 104—5). Die Städte Poltawa und Charkow gefielen 
ihm ausserordentlich, die Charkower Universität schätzt er, 
ähnlich wie Prof. Blasius, sehr hoch und bezeichnet sie, was 
Gelehrsamkeit anbelangt, als zweite des Reiches. Auch die 
ukrainischen Steppen machten auf ihn einen guten Eindruck, 
obwohl die Dörfer ziemlich erbärmlich ausschauten. Der Ver¬ 
fasser schreibt dies der polnischen Verwaltung zu und ver¬ 
spricht, sich anderswo über die «polnische Wirt¬ 
schaft, die bei uns zum Sprichwort geworden» 
(I, 75), auszusprechen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



19 


Das blaue Büchlein. 

Von Wassyl Stefanyk, übersetzt von J. Rosdolskyj. 

Jener Anton, der dort betrunken auf der Dorftrift johlt, 
war sein Lebenlang stets unglücklich. Alles glitt ihm aus den 
Händen, nichts war ihm zur Hand. Kauft er eine Kuh, so 
krepiert sie ihm, kauft er ein Schwein, so kriegt es Finnen. 
Und so allemal. 

Als ihm aber sein Weib und bald darauf auch seine zwei 
Knaben starben, da ward Anton mit einemmal ein anderer. 
Er trank und trank und trank; er vertrank sein Stück Feld, 
vertrank seinen Garten, und nun hat er auch noch seine Hütte 
verkauft. Er verkaufte sein Haus, nahm beim Dorfschulzen 
das blaue Dienstbuch und will nun sich verdingen, sich 
irgendwo einen Dienst suchen. 

Jetzt sitzt er dort betrunken und zählt nach, damit das 
Dorf es höre, wem er sein Feld verkauft, wem seinen Garten 
und wem sein Haus. 

«Verkauft und aus damit! Nicht mein ist’s nun und damit 
Schluss! Nicht mein! O, wenn jetzt mein Grossvater selig 
aus seinem Grabe aufstünde! Vier Ochsen, Euer Gnaden, wie 
die Schnecken scr glatt, vierundzwanzig Joch Acker und Wirt¬ 
schaftsgebäude wie nirgends im ganzen Dorfe! Alles hat er 
gehabt. Und sein Enkel — da seht nur!» 

Er zeigte dem Dorfe das blaue Büchlein. 

«O, ich trinke und werd’ noch trinken. Für mein Geld 
trink’ ich, niemand hat ein Recht darauf. Und er sagt mir 
da: Taugenichts du, dein Feld hast du versoffen! Das Siegel 
schlägt er an und schilt! Eh, hab’ schon noch bessere Schulzen 
gesehen! 

«Dass dir das Sterben so leicht wäre, wie mir, Leute, 
jetzt das Leben leicht ist! 

«Da geh’ ich nun aus dem Hause, für immer schon — 
die Schwelle hab’ ich geküsst und gehe. Nicht mehr mein 
und damit Schluss. Wie einen Hund peitscht man mich weg aus 
dem fremden Heim! Es steht frei — bitte! Es war mein und 
nun ist’s fremdes Gut. Hinaus geh’ ich und der Wald rausdrt 
spricht mich an mit Menschenworten: Kehre nach Hause 
zurück, Anton, kehre heim, du mein Lieber!» 

2 * 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 


20 


Er schlägt sich mit beiden Fäusten in die Brust, dass es 
im Dorfe widerhallt. 

«Da, wisst ihr, kam solch ein Sehnen über mich, dass 
sich Oott erbarme! Zurück geh’ ich und in die Stube hinein. 
Ich sitze da, sitze und gehe hinaus — nicht mein, was soll 
ich da sagen, wenn’s nicht mein ist... 

«Dass doch meine Feinde so leicht verendeten, wie’s mir 
leicht war, mein Heim zu verlassen! 

«Hinaus geh’ ich, doch nein, wieder hat’s mich umnebelt. 
Grünes Moos spriesst aus dem Dache, es wär’ an der Zeit, 
die Hütte mit Stroh zu decken. Schwamm drüber! — nicht 
ich werde dich decken fortan, meine Liebe. Steine... — und 
wenn’s ein Stein wäre, bersten müsst’ er vor lauter Weh!» 

Bei diesen Worten haut Anton mit beiden Händen auf 
die Erde los, als wär’s hartes Gestein. 

«Auf der Lehmbank vorn an der Hütte liess ich mich 
nieder. Meine Selige noch hat sie getüncht und ich brachte 
Lehm im Karren herbei. Wie ich nun mich erheben will — 
die Bank lässt mich nicht los; ich will einen Schritt tun — 
sie lässt nicht los. Und weh ist mir — nicht weh, nein! 
Sondern ich verende nun gar wirklich ... Sitz’ ich da und 
brülle, brülle so, wie wenn mich jemand schinden tät’ bei 
lebendigem Leib. Die Leute schauen nur so auf den Jammer. 

«Seht nur, dort beim Tor, da hat der Pope die Leichen¬ 
rede gehalten. Alle Welt hat geweint. ,Eine ordentliche Frau 
war sie' — so sprach er — ,eine arbeitsame...' 

«Wendet euch im Grabe um, meine Lieben, denn ich bin 
ein Schuft. Alles hab’ ich versoffen bis auf den letzten Faden. 
Auch die Leinwand mit. Hörst, Marie, und du, Wassylko, und 
du, Jurtschyk, jetzt wird euer Vater in Hemden von grobem 
Leintuch gehen und den Juden Wasser tragen müssen ...» 

Anton weist jetzt auf des Schulzen Hütte. 

«Doch dem Schulzen seine Frau — die ist ein braves 
Weib. Sie hat mir Brot auf den Weg herausgetragen, dass es 
der Schulze nicht sah. Der liebe Gott möge es deinen Kindern 
mit seiner Gnade lohnen auf jedem Schritt und Tritt. Gott 
möge euch allen ein besseres Los bereiten, als mir nun ... 

«Doch zu welchem Ende soll ich da auf der fremden 
Bank sitzen? Ich geh’ schon. Kaum tat ich einen Schritt, da 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



21 


hüben die Fenster an zu weinen. Sie weinten euch, wie kleine 
Kinder. Der Wald schwatzt ihnen was vor und sie zerfliessen 
in Tränen. Die Hütte brach in Tränen aus. Wie das Kind um 
seine Mutter — so weinte sie um mich! 

«Mit dem Rockschoss wischt’ ich die Fenster ab, dass 
sie nicht weinen täten um mich, denn es wär’ ja auch umsonst 
und ich trat nun vollends ab. 

«Ah, leicht ist mir, wie wenn ich Steine nagte. Dunkel 
ist die Welt um mich her ...» 

Anton zieht mit der Hand einen Kreis rings um sich 
herum. 

«Geld ist noch da, ihr Leute, aber ich will trinken. Mit 
unseren Leuten will ich trinken, mit ihnen will ich’s versaufen. 
Auf dass sie gedenken mögen, wie ich vom Dorfe schied. 

«Da seht das blaue Büchlein, das ich im Busen mithabe. 
Das ist mein Heim, mein Feld, mein Garten. Mit dem da geh’, 
ich bis ans Ende der Welt. Vom Kaiser ist das Büchlein, 
allenthalben stehen mir die Türen offen. Bei Herren und bei 
Juden und bei jeglichem Gelichter!» 


In Schaitans Schlingen. 

Von Mych. Kociubynskyj, übersetzt von Iryna K. M. Budz. 

Emene sitzt auf der sonnendurchglühten Erde in ihrem 
Hofe. Heute ist Bajram, ein Feiertag. Die Mutter ist ins Haus 
gegangen, um während der heissen Tageszeit ein Schläfchen 
zu machen, und der Vater, der alte Chadschi Bekir-Mehmet- 
Ohlu war, wie auch alle anderen Rechtgläubigen, nochmals 
in den Metsched gegangen. 

Ringsum herrscht tiefe Stille. Nur vom Dorfe her, vom 
hohen, altertümlichen Minaretturm tönt wie das Knarren und 
Kreischen eines ungeschmierten Wagenrades der durch¬ 
dringende Ruf des Mullah zur frommen Andacht: 

«La Allah . . . il Allah—ah . . . Mahomed rasul Allah!» 

Emene stützte ihren Kopf mit den Händen, die Ellenbogen 
auf die Knie und schaute vor sich hin. 

Vor ihr, ganz nahe bis zu ihren Füssen, über die steinigen 
Flügel herab, zogen sich die Tabak- und Weinpflanzungen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



22 


hin. Die geraden Linien der Gewächse sahen aus wie grüne 
Zeilen eines riesengrossen Buches, das zur Lektüre aufge¬ 
schlagen dalag, und die Tabakpflanzen nahmen sich wie 
grüne Flecken aus auf dem grauen Steingrunde. 

Weiter unten, auf dem sandigen Uferrande zwischen den 
schattigen Obstgärten, schimmerten die weissen, prächtigen 
Villen der «Gjauren», von schwarzen, schlanken Zypressen 
umgeben. 

Und noch weiter unten breitete sich das Meer aus. 

In blendender Bläue wie der Himmel der Krim lag es 
traumumfangen, nebelatmend, in der Hitze des Sommertages 
und seine zarten Farben flössen mit dem fernen Horizont zu¬ 
sammen; bezaubernd, verlockend war sein reiner, warmer und 
heiterer Spiegel. 

Von der rechten Seite her schob sich zum Meer der 
Aju-Dah vor, sein buckliger Schatten, der aufs Gewässer fiel, 
ähnelte einem gewaltigen Tiere, das in der Sonnenglut seinen 
Durst löscht. 

Ernenn blickt gleichgiltig in die bekannte Landschaft: 
sie langweilt sich. Sie ist ein Mädchen, «Kiz», ihr sind die 
Reize und der Zauber dieses Meeren unbekannt und ver¬ 
schlossen; sie wird es niemals durchkreuzen, wie sie 
auch niemals die düsteren Berge des Jajla übersteigen wird, 
der dort hinter ihrem Vaterhaus über dem Dorfe drohend 
seine felsigen Spitzen emporhebt, von jener Seite das Land 
Allahs von den Ungläubigen scheidend. 

Während der Arbeitstage geht es noch an, wenn Emene 
rastlos tätig ist, den Tabak anpflanzt, den Wein beharkt, das 
Gemüse begiesst oder bei der Milchwirtschaft beschäftigt ist 
— da fühlt sie die Langeweile nicht; aber an einem Feiertag, 
wie eben jetzt, wenn die zänkische, brummige Mutter schläft, 
der Vater betet und die Arbeit ruht, da weiss das Mädchen 
nicht, was es beginnen soll. 

Totenstille umgibt sie und so grabesruhig wie auf Erden 
ist es auch am Himmel. Die Sonne steht hoch, die glühend¬ 
heisse .Erde brennt mit der kleinsten Scholle, mit jedem 
Steinchen. Eine gleichmässige, sengende Hitze entströmt wie 
aus einem Riesenofen der Erde,. dem Himmel, dem Meere, den 
grauen Felsmassen des Jajla. Der bleichgefärbte, breitblättrige 
Tabak erfüllt die Luft mit betäubendem Duft. Sogar in den 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



23 


Lüften lagert die Langeweile, sie rieselt langsam in Bächlein 
über die Steinchen im Hofe, aus Langeweile hüpft der alte 
Hund an der Kette und dumpf mit dem Eisen klirrend heult 
er mit klagenden heiseren Tönen zum Himmel empor. 

Allah — Allah! . . Allah — Allah! . . 

Ein Frosch hüpft aus der Pfütze und quackt in längeren 
Pausen melancholisch .... Auf den dunklen, schaufelartig 
geformten Feigenbäumen zirpen ohne Unterlass, ausdauernd 
wie Hunderte von Klappern, die Grillen bis zur Bewusst¬ 
losigkeit* bis zur Selbstbetäubung. Und nur umso stiller, umso 
langweiliger ist es durch diese eintönigen Geräusche. 

Endlich verdross es Emene auch, auf dem heissen Erd¬ 
boden zu sitzen. Mit den lässigen, trägen Bewegungen einer 
Odaliske richtete sie sich empor, reckte ihren schlanken, jungen 
Leib gerade, erhob sich langsam und streifte mit einem apathi¬ 
schen Blick ihre Umgebung. Was soll sie tun — womit die Feier¬ 
tagslangeweile vertreiben? Zufällig bleiben ihre Augen auf 
dem Frosche haften. Es war ein grosser Frosch, mit ausge¬ 
spreizten Beinen sass er da, sein Bäuchlein schmiegte sich 
an das warme Erdreich; das grossäugige Köpfchen empor- 
gehoben, stiess er bald jammernde Töne voll rührender Klage 
und Melodie hervor, bald zornige, brummige Laute, als ob 
in seinem Innern etwas rumoren würde. 

Behutsam, auf den Fusspitzen, schlich Emene an dieses 
gleich ihr einsame Tier heran. Aber der FTosch gewahrte den 
ungebetenen Gast und huschte flugs ins Wasser zurück mit 
gestreckten Beinchen, bloss eine Säule aufgewirbelten Schlamms 
hinterlassend. Das Mädchen blieb an der Pfütze stehen und 
sah zu, wie der Schlamm sich langsam wieder senkte und 
das Wasser sich klärte. Aber auch dessen wurde sie bald 
überdrüssig. 

Sie zog ihre Sandalen aus, nahm die Falten ihrer breiten 
Hosen fest zwischen die Knie und begann die Füsse zu 
waschen. Die blendenden Sonnenstrahlen beleuchteten die 
schlanke Gestalt der Tartarin, spielten auf ihren roten, frisch¬ 
gefärbten Zöpfen, auf dem gelben Oberkleid, den roten, breiten 
Hosen, und die schwarz untermalten Augenbrauen, die roten, 
gleichfalls gefärbten Nägel auf den Händen und Füssen 
glänzten in der Sonne, als wären sie emailliert. 

Emene plätscherte in dem warmen Wasser herum, als 
sie plötzlich, nach einem zufälligen Blick auf die Niederlassungen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



24 


am Ufer, in jäh erwachtem Interesse regungslos, in derselben 
gebückten Stellung wie erstarrt stehen blieb. Das, was ihre 
Neugier in solchem Masse erweckt hatte, waren drei gesattelte 
Pferde vor der Veranda der Villa. Der Führer, ein Tartar, 
schien offenbar jemanden zu erwarten. Aber siehe da! von 
der weissen Wand des Gebäudes sich ablösend, erschienen 
zwei weibliche Gestalten — schlank waren sie und hoch wie 
junge Zypressen — und schritten zu den Pferden. Nun konnte 
Ernenn nicht mehr an sich halten; sie sprang aus dem Wasser, 
und ohne die Sandalen anzuziehen, mit nassen Füssen, lief 
sie über den Hof, stürzte auf den Zaun zu und streckte neu¬ 
gierig den Kopf hinter einem Baume vor. Das Herz pochte 
stärker in ihrer Brust: sie erkannte den Septar — die Schön¬ 
heit der Kutschukkojer Burschenschaft, herrisch und eigen¬ 
sinnig, dessen Bild schon lange das arme Mädchen in ihrem 
Herzen trug, wenn sie auch nicht wagte, die Augen zu ihrem 
Ideal emporzuheben, wie es einer anständigen tartarischen «Kiz» 
geziemt. Aber still! Da nähern sich die Frauen den Pferden. 
Septar legt die Handfläche unter, die Dame setzt ihren Fuss 
darauf, berührt leicht seine Schulter und schwingt sich wie 
ein Ball aufs Pferd. «Ts ... ts ... ts . ..» bedächtig schüttelt 
Emene den Kopf und fühlt, wie eine heisse Blutwelle ihr 
ins Herz strömt und zu Kopfe steigt. 

«Allah, Allah!» denkt Emene, «du bist gerecht, aber 
warum ist den ungläubigen Frauen ein schöneres Leben 
beschieden als den rechtgläubigen?» 

Sündige Gedanken verwirren das Köpfchen des Mädchens. 
Und heut’ ist Bajram, ein Feiertag! Aergerlich ist sie und un¬ 
willig darüber, dass der Satan sie zu umgarnen versucht, ihr 
schlechte Gedanken zuflüstert und ihr junges Blut in Aufruhr 
bringt ... Er fesselt ihre Augen an die Stelle, wo sie vor 
wenigen Augenblicken ihren heimlich Geliebten und ein dem 
ihrigen so grundverschiedenes Leben geschaut, und sie kann 
den Blick nicht davon wenden, obwohl dort nichts mehr 
zu sehen ist, als die nun verödete Stelle vor der Veranda der 
Villa ... 

Bald darauf weckte Pferdegetrappel auf der harten Land¬ 
strasse Emene aus ihrer Versunkenheit. Sie zuckte zu¬ 
sammen, sprang hastig an die Umfriedung am anderen Ende 
des Hofes und lugte durch eine Lücke auf die Strasse. Das 
Herz hüpfte ihr im Leibe wie ein Fisch in der Hand und die 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



25 


Augen verschlangen gierig das Stückchen der Strasse, das sie 
durch die Zaunlücke überblicken konnte. Da erdröhnte schon 
der Boden und die Kavalkade wurde sichtbar. Ganz vorn ritt 
eine Dame in grauem Anzuge, hinter ihr eine in blauem; 
neben der letzteren Septar. 

Emenes Augen verschlangen förmlich den Führer. Er 
aber, die Hand keck in die Hüfte gestützt, hatte die gold¬ 
gestickte Brust stolz herausgewölbt und betrachtete mit einem 
frechen, lüsternen Blick die Dame im blauen Anzuge . . •, 
Auf seinem glattrasierten, wie ein Paradeisapfel rotglänzenden 
Gesicht, das unter dem runden, goldbedeckten Käppchen 
hervorschaute, malte sich Eigendünkel mit einem Zug von 
Verachtung der Weiblichkeit, welche bewies, dass er die An¬ 
nehmlichkeiten des Führerstandes wohl genossen und zu 
würdigen verstand, und dass so manche russische Dame 
«ihn geliebt . . . ihm Geld gegeben», und dass er für dies 
Geld «flott gelebt». Emene bewunderte seinen kräftigen, ge¬ 
sunden, gleich einer Gurke prallen Leib, der von feinem Tuch 
eng umschlossen war, seine zudringlichen Blicke, die sie für 
ein Zeichen der Kühnheit und Ritterlichkeit hielt. Er schien 
ihr wie ein leuchtender Stern, der sich in dem Meere ihres 
Herzens abgespiegelt und einen glänzenden Pfad zum Lebens¬ 
glücke gezeichnet. 

Da klirrte an der Pforte das gesprungene Glöckchen. 
Emene schrak zusammen, als ob sie auf einer bösen Tat 
ertappt worden wäre, und auf ihre Sandalen gänzlich ver¬ 
gessend, stürzte sie ins Vorhaus. Das Glöckchen gellte noch 
einmal. Das war das Zeichen, dass auch ein fremder Mann 
ankam. Und in der Tat; kaum hatte Emene Zeit gefunden, 
sich zu verstecken, als schon ihr Vater, der alte Chadschi 
Bekir, in Begleitung des jungen Schlächters Mustafa in den 
Hof trat. Mit diesem frommen Schlächter, der stark nach 
Schaffett roch, hatte der alte Chadschi immer etwas zu ver¬ 
handeln, wobei die Zukunft Emenes keine geringe Rolle spielte. 

In demselben Moment hatte die Kavalkade die höchste 
Stelle der Landstrasse erreicht, und die stattliche Gestalt 
Septars hob sich scharf vom blauen Himmel ab. Chadschi 
Bekir blickte hin und seine Augen blitzten auf unter der 
Tschalma. Er erhob die Hand mit einer drohenden Gebärde 
hinter dem Rücken des Führers und stiess zornig hervor: 

«Kjepek!» (Hund!) 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



26 


Und dann, nachdem er mit Abscheu der Kavalkade nach¬ 
gespuckt, führte er seinen Gast auf die Veranda, sich auf 
seinen, wie bei einem Rhachitiker gekrümmten tartarischen 
Füssen wiegend und JWe und da den mit der weissen Tschalma 
umwundenen Kopf schüttelnd. Diese Tschalma gab ihm im 
Verein mit dem weissen, langen Bart das Aussehen eines 
Patriarchen aus dem alten Testament. 

Emene hatte heimlich diese Szene beobachtet und fühlte 
sich beleidigt. «Kjepek! warum, wofür Kjepek?» dachte sie. 
«Etwa deswegen, dass er sich nicht von den Gjauren zurück¬ 
zieht, mit ihnen isst und trinkt und* spricht? Die Gjauren 
glauben ja auch an Allah!!!...» 

Ihr Kopf, der zu denken nicht gewohnt war, schien nicht 
in Ordnung, dafür aber fühlte ihr Herz, dass hier etwas nicht 
so war, wie’s sein sollte, dass das Unrecht auf der Seite des 
Vaters war und Septar keine Schuld traf, wie auch das, was 
Septar tat, diese Verachtung nicht verdiente. Sie, die arme 
Sklavin, eingeschlossen in den engen Räumen ihres Gehöftes, 
in der vergitterten und vor männlichen Blicken streng ger 
hüteten weiblichen Abteilung — sie hatte dennoch Augen und 
schaute hinab, dort auf die weissen Ansiedelungen, mitten in 
den üppigen Hainen, und ihr konnte nicht entgehen, dass es 
dort ein anderes Leben gab, als das der Tartarinnen, und sie 
konnte nicht umhin, dieses mit dem ihrigen zu vergleichen. 
Sie sah dort das Weib als eitt -freies Wesen, einen Kame¬ 
raden, nicht als eine Sklavin des Mannes, ein Wesen, dem 
gleich dem Manne die ganze Welt gehörte ... Sie sah, wie 
das «ungläubige» Weib mit fremden Männern im Kahne 
schaukelte, lachte und scherzte, wie es das Ross tummelte 
oder auf den Bergen und in den Wäldern herumstreifte, in 
die Moschee wie in ihr eigenes Haus hineinging, während 
sie, die rechtgläubige Tochter Allahs, nicht einmal die Schwelle 
des Tempels überschreiten durfte, als wäre sie ein unreines 
Geschöpf. «Kjepek! Kjepek!» denkt Emene verletzt und fühlt 
im Herzen einen Groll gegen den Vater und seufzt unwill¬ 
kürlich, und wieder flüstert ihr der Schaitan sündige Gedanken 
zu und stört ihren Frieden! 

Und von der Veranda her, durch die vergitterten Fenster 
tönt die kreischende, eintönige Stimme des Vaters zu ihr 
herüber. Der alte Chadschi erzählt wohl zum hundertstenmale 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




27 


von seiner Mekkafahrt. Die Mutter ist schon auf, es klirren 
die Tassen, es riecht nach Kaffee. 

«Und wir kamen nach Mekka, zum El-Koram,» fährt die 
kreischende Stimme des Chadschi Bekir fort, «und es ent¬ 
flammte mein Herz im grossen Feuer der Freude...» 

Und plötzlich taucht vor Emen6s Innerem ein Bild Tn 
grellen Farben auf, welches sie einst vom Weingarten aus 
erblickt und das einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte. 
Dort, am Meeresstrande, unter den von der scheidenden Sonne 
vergoldeten Zypressen — tanzten die «Gjauren». Gleich bunten 
Schmetterlingen flattern die Mädchen über die grünen Matten, 
und die Burschen haschen nach ihnen, umschlingen — so — 
ihre Taillen, drücken ihnen die Hände . . . blicken tief in die 
Augen und wirbeln vereint dahin, wie vom Wind gepflückte 
Blumen .. . Gesang, Gelächter, fröhliche Zurufe schallen durch 
die Haine, und es schwillt Emenes Herz und ihre Augen 
glühen. Sie blickt hinab wie bezaubert. «Solche Freuden ge¬ 
messen wohl nur die Houris im Paradiese mit den Seligen,» 
flüstert sie und kann die Augen nicht von dem wunderbaren 
Schauspiel wenden, kann sich daran nicht satt schauen. Das 
herrliche Bild hatte sie damals ins Vaterhaus mitgenommen, 
und dieses Bild lebt immer wieder auf in ihrer Seele und 
schillert in prächtigen Farben. 

«Und der barmherzige Allah hat mich auserkoren, vor 
Kaabi mein Haupt zu neigen, mein Knie zu beugen, und es 
gefiel ihm, mich von meinen Sünden zu reinigen, nachdem 
ich Eswada berührt...» ächzt Chadschi Bekir, und ihm ant¬ 
wortet hie und da die meckernde Stimme des gottesfürchtigen 
Schlächters. 

Aber Emene hört nicht darauf. 

Ihre Augen wie auch ihre Gedanken schweifen über das 
ferne, unermessliche Meer ... 

Das Meer aber, unschuldig und rein gleich einem Mädchen 
in blendend blauen Gewändern, mit einer Perlenreihe von 
Schaum am Halse, lächelt dem Ufer zu, schmiegt sich an 
dasselbe und kost wie ein liebendes Wesen. Weit vom Ufer 
entfernt spielt in den Wogen ein Schwarm von Delphinen; 
die schwarzen Ungeheuer, gleich einer Teufelsbrut, tauchen 
aus der Tiefe empor, überschlagen sich in der Luft, tauchen 
kopfüber wieder unter und wieder empor, um wieder von 
neuem ihre heiteren Spiele zu beginnen. 


Digitized by 


Gck gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



28 


Und noch weiter, wohin nur das Auge reicht, unbestimmt, 
ob auf dem Wasser oder in den Lüften, gleitet schattenhaft 
ein Dampfer vorüber, hinter ihm gleich einem langen Schweif 
zieht eine Rauchsäule hin und zerfliesst, verschwindet wie 
eine gespenstische Erscheinung in der blauen Ferne . .. Das 
Meer atmet ruhig; ein frischer, salziger Hauch geht von ihm 
aus, kost schmeichelnd ums Antlitz, erfrischt die Brust. 

«Ernenn! Kel munda!» (komm’ her!) erschallt vom Hofe 
her die piepsende Stimme der Mutter. 

Der Gast hatte sich also bereits entfernt und sie konnte 
sonach das Zimmer verlassen. 

Ernenn trat auf den Ruf der Mutter heraus und hätte 
beinahe die zwei Europäerinnen über den Haufen gerannt, die 
eben in einer Unterhaltung mit derselben begriffen waren, 
wobei sie sich offenbar gegenseitig nicht verstehen konnten. 
Die Mädchen schienen der Alten in der Gebärdensprache 
etwas begreiflich machen zu wollen, zeigten aufs Haus, auf 
das Dorf, aber alles war vergebens: die Alte begriff nichts, 
obwohl sie mit dem Kopfe ihnen zunickte und sich den 
Anschein gab, als ob sie ganz gut ihre Wünsche verstanden 
hätte. Diese Unterhaltung konnte natürlich kein Ergebnis 
bringen. Anfangs waren die Gäste ganz verwirrt, aber als sie 
sahen, dass ihre Bemühungen vergeblich waren, wurden sie 
ganz lustig, kicherten und lachten. Dies ermutigte die Tartarinnen, 
Ernenn, die bis jetzt die Fremden nur von der Seite beobachtet, 
trat nun näher und begann dieselben angelegentlich vom Kopf 
bis zu den Füssen zu mustern. 

Ihre Augen wanderten lebhaft umher; alles an diesen 
unbekannten Wesen hatte für sie ein besonderes Interesse. 
Zuerst hatte sie eines der Mädchen leicht am Rock gezupft, 
dann wiegte sie dessen schweren Zopf in der Hand und 
schnalzend vor Entzücken wiederholte sie: 

«Karosch . .. Karosch urus . . .» 

Die Mädchen lachten und wehrten, nicht. 

Dadurch kühn geworden, fiel Emene förmlich über die 
Gäste her: sie streichelte ihnen die Hände, Gesicht und Haar, 
guckte ihnen ganz nahe in die Augen, klopfte ihnen sanft auf 
die Schultern, drückte sie an sich, beschaute und betastete 
jede Kleinigkeit an ihrer Toilette. Mit der Zunge schnalzend 
und das Köpfchen schüttelnd, voller Freundlichkeit, schwatzte 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



29 


l\ e . ^as in überstürzender Hast in der den Mädchen unver- 
^ andhchen Sprache. Die alte Tartarin wich auch nicht von 
der Seite der Tochter und es währte nicht lange, und die 
Europäerinnen befanden sich in einer förmlichen Gefangen¬ 
schaft unter den Wilden; es wurde ihnen schon angst und 
ange, wenn auch nicht um das Heil ihrer Haut, so doch 
um das ihrer Toilette. Ohne die Fremden einen Augenblick 
loszulassen hatten die Tartarinnen alle möglichen Leckerbissen 
ur sie herbeigeschleppt: sie bewirteten dieselben mit ge¬ 
ronnener Milch in schmutzigen Näpfen, mit frischem Ingwer- 
geback und in Schaffett geschmorrten kleinen Kuchen. 

«Koste urus... koste!» forderten sie die Mädchen zum 
Essen auf und guckten ihnen in den Mund. 

Als sich die Gäste entfernt hatten, blickte Emene noch 
lange den kühnen Frauen nach, die allein, ohne einen männ- 
IC i_ U rer * vorn Meeresufer heraufgekommen waren und 
nun dahin zurückkehrten, ohne ihre hübschen Gesichter zu 
verschleiern. 


Und wieder ist Ernenn allein und wieder langweilt sie 
sich. Sie tappt über den Hof hin und her, läuft ohne Zweck 
und Ziel ins Haus zurück, sucht überall nach einer Zer- 
s reuung oder Arbeit. Arbeit aber gibt es nicht und Zerstreuung 
bildet für ein Tartarenmädchen bloss eines: die Toilette. Und 
das ist auch alles. Emene kämmte ihr Haar und flocht die 
flammrot gefärbten Zöpfe gar künstlich in lauter kleine Flechten, 
warf ein neues Oberkleid mit sonderbaren Arabesken über 
und umgürtete sich derart mit einem breiten Bande, dass das 
buntgemalte Ende desselben rückwärts ihre Figur von der 
Taillenlinie tiefer nach abwärts bedeckte, wie’s die Sitte vor¬ 
schrieb. Dann behing sie ihren Hals mit ihrem ganzen Reich¬ 
tum, ein dichtes Kollier aus goldenen Dukaten war es, und 
auf das Köpfchen drückte sie einen kleinen, mit goldenen 
Münzen dicht benähten Fez. Eine leichte Tschadra um die 
Schultern und rote Sandalen vervollständigten ihre Toilette. 
Es blieb nur noch übrig, die Wangen rot zu schminken und 
die Augenbrauenbogen über der Nasenwurzel zusammentreffend 
zu malen. Als sie fertig war, glich sie einem indischen Götzen 
und war mH ihrer Erscheinung ausserordentlich zufrieden. 

Aber auf dem Hofe, wohin sie sich würdevoll begab, 
gab es niemanden, der diese Schönheit bewundert hätte. Das 
arme Mädchen seufzte. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





30 


Der Tag ging schon zur Neige. Das bleiche, müde Meer 
wogte träge und plätscherte leise ans Ufer. Die steinernen 
Bergspitzen des Jajlagebirges glühten im Abendrot, ein bläu¬ 
licher Nebel versank in den Schluchten der Felsen und schwarz,- 
als wären sie abgebrannt, zogen sich die Wälder an den Berg¬ 
abhängen hin. 

Emene blickte empor, nach dem Dorfe hin. Die Reihen 
der ungetünchten Häuschen mit den flachen Dächern waren 
in der Weise aufgebaut, dass das Dach des einen Häuschens 
einen Hof für das über demselben befindliche bildete. Aus 
einem Walde von kleinen Säulchen, welche die Wetterdächer 
stützten, starrten gleich schwarzen Höhleneingängen die Türen 
und Fenster, und alles zusammen erinnerte an die Nester der 
Flusschwalben an dem steilen Ufer des Flusses. Auf den 
flachen Dächern sassen die Weiber in kleinen Häufchen bei¬ 
sammen ; in ihren Feiertagsgewändern, bunten Blumen ähnlich, 
belebten sie den grauen Hintergrund des armseligen Dorfes. 
Der alte Turm mit seinen abbröckelnden, vom Zahn der Zeit 
zernagten Mauern, der sich in einiger Entfernung und höher 
vom Dorfe abhob, schien von seiner Höhe auf den tartarischen 
Ameisenhaufen, der sich zu seinen Füssen regte, drohend 
herabzublicken. 

Endlich gewahrte Emene diejenige, nach welcher sie Aus¬ 
schau hielt. 

«Fatme—e—e!» schrie sie mit einer dünnen, durchdrin¬ 
genden Stimme auf. 

«Emene—e—e!» klang’s vom Dorfe her ebenso zurück. 

Emene ergriff rasch den kupfernen Krug und begab sich 
zum «Tschischme», um Wasser zu holen. 

Sie lief den Berg hinauf, mit den Sandalenabsätzen den 
steinigen Weg entlang klappernd, schlank und gewandt wie 
ein junges Zicklein und schwelgte schon im Vorgeschmack 
all der kleinlichen Klatschereien des engumgrenzten Lebens 
des Tartarenweibes, mit welchen die Freundin sie am 
«Tschischme» erwartete. Auf der Chaussee musste sie jedoch 
innehalten: die ihr bekannte Kavalkade sauste an ihr vorüber, 
voran die Damen und hinter ihnen der schöne Septar, auf¬ 
recht und gerade, mit herausgewölbter, goldstrotzender Brust, 
mit dem frechen, siegesgewissen Blick. 

Der Zug war schon längst vorübergestürmt, Emene aber 
verharrte noch immer an derselben Stelle und schaute ihm 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



31 


nach, als ob sie erwartete, dass ihr Glück zu ihr zurück¬ 
kehren werde, welches ihren Augen entschwand, und sie mit- 
nehme ins weitere, freiere Leben, in jene Welt, die wohl 
grösser sein musste als die vergitterten weiblichen Aufenthalts¬ 
räume in ihrem Vaterhause. «Kjepek!» *Es fiel ihr das ver¬ 
ächtliche Wort des Vaters ein und das hasserfüllte Gesicht 
des Chadschi. 

Das Herz zog sich krampfhaft in ihrer Brust zusammen 
und Tränen traten ihr in die Augen ... 

* * 

* 

Im Dorfe ist es dunkel und still. Die Kaufläden und 
Fleischhandlungen sind geschlossen, die Führer hatten die 
Pferde abgesattelt, alle Händler von «Jamurta» (Eiern), Wein¬ 
trauben u. dergl. verschoben ihre Geschäfte auf den Wochen¬ 
tag, der Feiertag hatte überhaupt dem ganzen geschäftigen 
Leben und Treiben, das es auf den vollen Geldbeutel der 
Gjauren abgesehen hat, ein Ende gesetzt. Der Muezzin hat 
vom Minaret aus das «La Allah» abgekreischt lind die^Recht- 
gläubigen ruhen nun aus. Nur das nimmerruhende Meer 
wogt in der Ferne, als ob ein unsichtbarer Riese die Tages¬ 
hitze wieder ausatmen würde, und die Sterne zittern in der 
nächtlichen Kühle, während ein Stern nach dem anderen sich 
hinter die schwarzen Spitzen der Jajla wie hinter Wolken 
verbirgt. 

Zu Füssen des Turmes zuckt ein Lichtschein. Dort in 
der rauchgeschwärzten Kluft sowie in der Höhlung eines 
mächtig grossen Baumes kocht auf glühenden Kohlen der 
Kaffee. Rund ums Feuer kauern mit unterschlagenen Beinen, 
nach orientalischem Brauch, bärtige Chadschis mit riesigen 
Turbanen und einfache Muselmänner mit den Fezen auf den 
Köpfen. Chadschi Bekir nimmt den Ehrenplatz ein: er sitzt 
an der Seite eines runzeligen Türken in weissem Kaftan und 
grüner Tschalma. Das ist der Softa, direkt aus Konstantinopel, 
und die Gläubigen hatten sich versammelt, um seinen weisen 
und frommen Reden zu lauschen. 

Alle schweigen, sind ernst gestimmt. 

Sogar der schöne Septar, der etwas weiter seinen Platz 
gefunden und seine nach Pferdemist riechenden, muskulösen 
Hände über der Peitsche gekreuzt hielt, schien nicht mehr so 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



32 


stolz die goldgestickte Brust herauszü recken und blickte auch 
weniger übermütig umher. 

Das Feuer zuckt und züngelt, spielt in den roten Kopf¬ 
bedeckungen, beleuchtet die gebräunten Gesichter. Der 
kupierne Kessel summt auf der Glut, das ferne Meer wogt 
in rhythmischem Gleichmass. 

Nun aber dampfte der Kaffee in kleinen Tassen in den 
Händen der Gäste und der Softa begann. 

Er sprach gedämpft, mit knarrender, monotoner Stimme 
im blumigen Stil und ziemlich lang. Er fing von Adam an. 
ln glänzenden Farben malte er den ehemaligen Ruhm und 
die Grösse des Tartarenvolkes, dessen Kämpfe mit den Un¬ 
gläubigen, dessen mohammedanische Fahne beinahe die 
Hälfte der Welt durchzogen. Er rühmte die Herrlichkeit und 
Weisheit der grossen Chane, gedachte voll Rührung der 
Frömmigkeit der Rechtgläubigen und enthüllte das Herz 
Allahs, welches von Freude und Wohlgefallen an den treuen 
Dienern Mohammeds überfloss. Wie der Mond unter den 
Sternen, wie jder Adler unter den Vögeln — so waren die 
Muselmänner unter den anderen Völkern. Er rief die urewigen 
Berge zu Zeugen an, die in ihrer Unverrückbarkeit den ehe¬ 
maligen Ruhm des grossen Volkes geschaut, berief sich auf 
den Turm, unter welchem er sass, er gedenke jener Zeiten, 
da das Blut der Gjauren seine Mauern färbte und der Halb¬ 
mond seine Spitze überstrahlte ... 

Meisterhaft und poetisch erzählte er die ihnen wohlbe¬ 
kannten und ihren Herzen teueren Volkslegenden, beschwor 
ans den Gräbern herauf die Schatten der Heiligen und Helden, 
die ihr Blut für den Glauben und zum Ruhme Allahs und 
Mohammeds vergossen. Seine Rede glich einem kunstvollen 
Netze, durchflochten mit Zitaten und Weissagungen aus dem 
Koran, mit den Volkssagen vermischt, und breitete ein wunder¬ 
bares Zaubergewand über die Vergangenheit aus. Ein Feuer 
loderte in den schwarzen Augen des Softa und das blasse 
Gesicht war noch blässer geworden. Die Gläubigen lauschten 
mit gespannter Aufmerksamkeit, sich gleichzeitig auf den 
untergeschlagenen Beinen im Takte hin- und herwiegend. 

Und der Softa fuhr in seiner Rede fort. 

Er rief alles Unrecht, das die Gjauren den Gläubigen 
angetan, wieder ins Gedächtnis zurück. Sie hatten ihr Reich 
zerstört, ihre Wohnsitze dem Erdboden gleichgemacht, all ihr 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



33 


Hab’ und Gut geraubt, das blühende Land in eine Wüste 
verwandelt. «Wo sind die herrlichen Ansiedelungen, das Volk, 
das einst wie ein emsiger Schwarm das fruchtbare Land über¬ 
flutet hatte? Es existiert nicht mehr, es wurde vom Feinde 
aus seiner Heimat vertrieben. Schaut nur — blickt umher,» 
rief er mit einer bezeichnenden Handbewegung, «lauter Ruinen, 
alles haben die Ungläubigen vertilgt .... Sie haben den 
Meeresstrand überschwemmt, den schönsten Grundbesitz an 
sich gerissen, haben den Rest des Tartarenvolkes in die Berge, 
auf den unfruchtbaren Stein getrieben. Spanne um Spanne, 
Stück für Stück geht das Eigentum der Tartaren in die Hände 
der Ungläubigen über und bald wird auch für den heiligen 
Tempel kein Platz mehr übrig bleiben, wo sie Allah und 
Mohammed noch preisen können . . . Aber wird es noch 
jemand tun? Die alten Bräuche werden nicht respektiert, mit 
der Ehrlichkeit und Geradheit ist’s schon lange vorbei, es 
schwindet die Gottesfurcht .... die Unreinen haben die 
Gläubigen mit ihren sündigen Geschwüren angesteckt ... es 
herrscht die Sittenlosigkeit, Ausschweifung ... der Schnaps ... 
sogar Diebereien . . . Allah — Allah! Du siehst es!» 

Und der blasse Türke mit dem Gesicht voll Runzeln 
hob die Arme zum Monde empor, der eben hinter dem Meere 
auftauchte und alles in einen bläulichen Schimmer hüllte. Die 
feierliche Stille unterbrach nur der rauschende Wellenschlag 
des Meeres und das silberne, melodische Zirpen der Grille 
des Südens. Die schwarzen Berge ragten gespenstischen Er¬ 
scheinungen gleich zum Himmel empor und blickten auf den 
goldigen Lichtstreif, den der Mond aufs Meer warf, welcher 
zitternd, schuppenartig glitzernd, schillerte. 

Der Softa seufzte, ln diesem Seufzer drückte sich ein 
inbrünstiges Mitleid mit dem ehemals mächtigen Lande aus, 
ein tiefer Schmerz über den Verfall und Untergang des recht¬ 
gläubigen Volkes. 

«Aber noch ist nicht alles verloren. Der barmherzige 
Allah hat für die Gläubigen noch Land erübrigt, wo der 
Gjaur nicht herrschen und sie nicht misshandeln kann. Ueber 
dieses glückliche Land breitet der gerechte und weise Sultan 
schützend seine mächtige Hand aus und schirmt seine Unter¬ 
tanen, gleichwie eine Mutter ihre Kinder behütet. Dahin — 
unter die Glaubensgenossen und Landsleute, sich von den 

3 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



34 


Sünden reinigen, die Seele retten! . . . Nicht in diesem gott¬ 
losen Lande das letzte Stündlein erwarten, denn wenn ihr 
hier das Haupt zur letzten Ruhe bettet, wird das Auferstehen 
zum jüngsten Gericht unter dem sündhaften fremden Volke 
nicht so leicht vonstatten gehen. Ihr Rechtgläubigen! Ihr Alten 
und Jungen, Reichen und Armen, Kranken und Gesunden! 
schüttelt den Staub dieser Unglücksstätte von euren Füssen; 
folgt dem Beispiele eurer frommen Vorfahren, nehmt eure 
Habe, eure Weiber und Kinder und wandert aus unter die 
mächtige Rechte des rechtgläubigen Monarchen, näher zu den 
heiligen Tempeln, zu der unter Mohammeds Füssen geweihten 
Erde . . . Und möge dieses von den Gjauren uns geraubte 
Land in den tiefsten Abgrund versinken, möge der gerechte 
Allah Feuer vom Himmel herabregnen lassen und dies Land 
verbrennen und die Asche ins unermessliche Meer streuen! 
La Allah il Allah — Mahommed rasul Allah!» 

Und der Softa breitete die Hände über das Land aus, als 
wollte er auf dasselbe den Zorn des furchtbaren Allah herab¬ 
schwören. 

Die Seele des Chadschi Bekir war entflammt. Er schaute 
auf den Softa mit leuchtenden Augen, er sah schon das vom 
Himmel herabzüngelnde Feuer und dort fern hinter dem 
Meere strahlten ihm die mohammedanischen Reliquien ent¬ 
gegen. 

Es wurde still. Die Glut unter dem Turme erlosch aM- 
mählich und der Vollmond blickte von seiner Höhe auf die 
Versammlung' herab. 

Die Rechtgläubigen aber sassen mit gesenkten Augen¬ 
lidern und es schien, als ob ein spöttisches Lächeln über 
ihre gebräunten Gesichter irrte. 

«Ja,» dachten sie im Stillen, «Gjaur... Gjaur... Aber 
wovon leben wir denn — wenn nicht vom Gjaur?...» 

Und sie gedachten all der unzähligen Arten von Erwerb, 
die ihnen die Gjauren verschafften. Sie erinnerten sich all der 
«Jamurtas», der Weintrauben, Milch, Vorspann, Führer, Miete 
u. s. w., allerlei «Bakschisdi» (Trinkgelder), all der reichen 
Ernten, die der Tartaze hei den Gjauren, ohne zu säen und 
zu pflügen, einheimst. Wie sollen sie da auswandern? Wozu? 
fragten sie sich und sie hatten nicht übel Lust, dem weisen, 
aber mit der Lage der Dinge nicht vertrauten Softa offen ins 
Gesicht zu lachen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



35 


Aber sie schwiegen. 

Das Schweigen begann zuletzt peinlich zu werden, alle 
fühlten dies unwillkürlich, da befreite sie Septar aus der Ver¬ 
legenheit. Er trat an den Softa näher heran, stützte sich mit 
den gewaltigen Händen auf die Peitsche und sagte: 

«Weiser Mann, du sagst, wir sollen von hier auswandern... 
Sag’ uns aber, warum denn von euch, aus der Türkei, solch 
eine Masse lumpigen Arbeitsvolkes hieher zu uns strömt und 
uns den Erwerb abjagt? Wozu dringen sie hier ein, wenn 
dort so gut zu leben ist? Und du forderst uns auf, dorthin 
zu ziehen .. . Schau — hältst du dich mit deiner Rede an 
den Pfad der Wahrheit?... Du sagst, es seien Gjauren, Un¬ 
gläubige; bei uns aber wiegt ein reicher Gjaur zwei Recht¬ 
gläubige auf... Der Gjaur lebt und lässt uns auch leben. 
Bei uns geht es eben so zu: geht einer auf die Jajla — hat 
er Geld verdient; eine Fahrt auf dem Meere macht sich auch 
bezahlt; fährt er den Gjaur herum — hat er wieder Geld .. . 
Da hab’ ich just auch heute 15 Taler verdient» — und Septar 
klimperte mit den Münzen in der Tasche —- «und was wirst 
du uns in der Türkei geben, wo es keine Gjauren gibt?...» 

Und stolz seine goldgestickte Brust herausreckend, starrte 
er keck dem fassungslosen Softa ins Gesicht, die Antwort 
erwartend. Die Rechtgläubigen schnalzten sogar auf. Das war 
ihnen aus der Seele gesprochen — lautere Wahrheit! Sie 
hätten auch nicht anders dem Softa antworten können. 

Nur das Herz des Chadschi Bekir füllte sich mit dem 
Zorn des Gerechten und seine Augen schossen Blitze, als er 
Septar zuschrie: 

«Schweig’ still, du abscheulicher Knecht der Gjauren!» 
Doch Septar schwieg nicht. 

«Ei, Alter, ich weiss, dich hat der Neid gepackt — es 
wurmt dich mein Geld, welches du selber durch eigenen 
Starrsinn nicht verdienen willst...» 

Ach ja, er hatte recht, das war die heimlich tief im 
Herzen verborgene Wahrheit, und der Chadschi konnte nicht 
mehr an sich halten. Seinen Rang und seine Würde ver¬ 
gessend fuhr er von seinem Sitze auf und all seine Ent¬ 
rüstung spie er dem Septar ins Gesifcht: 

«Kjepek! Asma Kjepek!» (Hund! toller Hund!) Die 
Augen des Führers füllten sich mit Blut und traten förm- 

3 * 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



36 


lieh aus den Höhlen, wie bei einem angestochenen Bock. Es 
schien, der Handel werde ein schlimmes Ende nehmen, doch 
Septar erlangte seine Selbstbeherrschung wieder. 

«Ei, Alter, wahre deinen Bart, wenn er dir lieb und teuer 
ist,» nach dieser Drohung wandte er sich kurz auf dem Ab¬ 
satz um und verliess, eine Tanzweise pfeifend, die Versammlung. 

Der Softa stand wie versteinert. Seine schwarzen Augen 
waren rund und gross geworden; unsägliches Entsetzen 
spiegelte sich darinnen ab. Er glaubte, nun müsse sich die 
Erde auftun und den dreisten Septar verschlingen, oder der 
Sünder werde sein Grab unter den Trümmern des Turmes 
finden, unter diesen Mauern, die das empörte Volk gleich 
niederreissen werde. Aber es geschah nichts dergleichen; es 
blieb alles beim alten: die # Erde tat sich nicht auf, der Turm 
stand an derselben Stelle fest, und sogar die Rechtgläubigen 
sassen ruhig da, als ob nichts vorgefallen wäre, als teilten 
sie die Ansicht Septars voll und ganz. Ja, sie fingen sogar 
bald darauf an, auseinanderzugehen, unter dem Vorwände, es 
sei schon spät geworden, und morgen hätten sie viel zu tun ... 

Einen verwirrten, erstaunten Blick warf der Softa um 
sich, und es dämmerte in seinem Kopfe, als käme nun eine 
Erleuchtung über ihn. 

«Schaitans Schlingen ... Schaitans Schlingen ...» murmelte 
er mit entfärbten Lippen, sein bleiches Gesicht dem entrüsteten 
Chadschi Bekir zuwendend. 

Dieser jedoch spie in seiner ohnmächtigen Wut aus, da¬ 
zwischen greulich fluchend . . . 

Die letzten, die den Turm verliessen, waren der Chadschi 
Bekir und der Softa. 

Wie Gespenster glitten sie über die mit silbernem Mond¬ 
schein überflutete Strasse, lange, unförmige Schatten nach 
sich ziehend. 

Traurig und enttäuscht kjagten die beiden Alten einander 
ihr Leid und in der Ferne seufzte das Meer, als ob es mit¬ 
fühlte, und in den Hainen schluchzte die Nachtigall . . . 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



37 


Rundschau. 

Die Landtagswahlen in Galizien. Die Wahlagitation 
ist in vollem Gange. Die polnischen Parteien wollen die 
letzten Wahlen auf Grund des alten Wahlsystems in her¬ 
kömmlicher Weise durchführen, weil die Zusammensetzung 
des Landtages auch für die zu beschliessende Wahlreform ent¬ 
scheidend sein wird. In erster Reihe sind es die polnischen 
Schlachzizen, welche eine jede Reform als Attentat auf ihre 
Privilegien fürchten und durch die Wahl einer grossen Zahl 
Landtagsabgeordneter aus ihrer Mitte für die Wahlreform 
ausschlaggebend sein wollen. Sie werden auch in sämtlichen 
Wahlkreisen Ostgaliziens ihre Kandidaten aufstellen. Dagegen 
schneiden die polnischen Demokraten verschiedener Färbungen, 
insbesondere die Nationaldemokraten (Allpolen) diesmal schlecht 
ab, nachdem sie sich bloss auf die Städte beschränken müssen 
und ihnen auch hier manches Mandat strittig gemacht 
wird. Die Tatsache, dass die Schlachzizen die Allpolen zur 
Teilung der ruthenischen Mandate nicht zugelassen haben, 
war es, welche die Enthaltung der letzteren von der Wahl¬ 
aktion des polnischen «Nationalrates» herbeigeführt hat. In 
dem betreffenden Kommunique der Allpolen heisst es, dass 
«die Verantwortlichkeit für die Auswahl der Kandidaten und 
den Erfolg der Wahlen jene Partei tragen solle, welche 
auch die Schuld an der Beibehaltung der bisherigen, für die 
nationalen Interessen schädlichen Wahlordnung trägt, das 
heisst die Konservativen». Dies hindert aber nicht, dass sich 
die allpolnische Partei an weiterer Stelle verpflichtet, nicht nur 
gegen die schlachzizischen Kandidaten nicht aufzutreten, sondern 
im Interesse der nationalen Solidarität dieselben zu unter¬ 
stützen ... So wird die Ehre der Partei salviert und das Odium 
für die Wahlmissbräuche auf die Schlachzizen herabgewälzt. 
— Dem Prinzip der «nationalen Solidarität» bleiben auch die 
polnischen Volksparteiler treu, die immer deutlicher eine An¬ 
näherung an die Schlachta suchen. Als Basis der Annäherung 
sollen die angeblich gemeinsamen Interessen aller Landleute, das 
heisst sowohl derGrossgrundbesitzer als auch der Bauern dienen. 
Bemerkenswert ist, dass die polnische Volkspartei, welche in 
den Reichsrat lauter Bauern geschickt hat, in den Landtag in 
der Mehrzahl Intelligenzler kandidiert, welche nun wetteifernd 
in die Reihen der Volksparteiler eintreten. Die polnische 
Bauernpartei kann sich sogar rühmen, in letzter Zeit 
einen Grafen (Graf N. Rej) für sich gewonnen zu haben. 
Die wahre Liebe ist das gewiss nicht. Als Entgelt dafür wird 
dem Herrn Grafen ein Mandat angetragen. Jedenfalls wird 
die polnische Volkspartei dadurch hoffähig. — Die anderen 
polnischen Parteien haben sehr geringe Aussichten auf Erfolg. 

Die ruthenischen Parteien, von denen sich die nationaldemo¬ 
kratische, die radikale, die sozialdemokratische und die russo- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



38 


phile an den Wahlen beteiligen werden, äussern ihre Tätigkeit 
in den zahlreich einberufenen Wählerversammlungen. Die 
meisten Erfolge hat die stärkste derselben, die nationaldemo¬ 
kratische Partei, welche fast in sämtlichen Wahlkreisen Ost¬ 
galiziens ihre Kandidaten aufstellen wird, zu erwarten. In 
einigen Wahlkreisen wurden aber Kompromisskandidaten sämt¬ 
licher nationaler Parteien aufgestellt. Die Russophilen, welche 
eine offene Allianz mit den Polen geschlossen haben, werden 
vielleicht die ruthenische Gesellschaft mit manchem Erfolg 
überraschen. 

Die Wahlmissbräuche in Galizien. Die von den rutheni- 
schen Abgeordneten bei der Zentralregierung vorgenommenen 
Schritte zur Hintanhaltung der Missbräuche der Amtsgewalt 
seitens der polnischen Beamten in Galizien veranlassten den 
galizischen Statthalter, ein Rundschreiben an die galizische 
Beamtenschaft zu richten, in welchem derselben ans Herz ge¬ 
legt wird, die ruthenische Bevölkerung auf dieselbe Weise zu 
behandeln wie die polnische und jeden Amtsmissbrauch, vor 
allem aber einen solchen zu vermeiden, welcher nationalen 
Untergrund hätte. Doch ebenso, wie es der Herr Statthalter 
wenig aufrichtig mit seinem Erlass meinte, den er nur unter 
dem Drucke der Regierung erliess, ebensowenig sind die 
galizischen Beamten geneigt, sich an die Worte des Erlasses 
zu halten. Die ruthenischen Blätter bringen nach wie vor un¬ 
zählige Meldungen von krassen Missbräuchen der Amtsgewalt, 
die jetzt, in der Wahlperiode, geradezu erschreckenden Umfang 
annehmen. Man muss sich nach dem, was jetzt schon geleistet 
wird, um den Kandidaten des polnischen Nationalrates zum 
Siege zu verhelfen, darauf gefasst machen, dass auch diesmal 
bei den hoffentlich letzten Kurialwahlen in Galizien die galizische 
Wahlmethode noch einmal zu Ehren gebracht werden wird. 
Jetzt handelt es sich darum, dass die Wählerlisten entsprechend 
den Interessen der Kandidaten des Nationalrates konstruiert 
werden. Zu diesem Zwecke werden oft wahlberechtigte Ruthenen 
gar nicht, dagegen von den Anhängern der polnischen Kandi¬ 
daten auch solche in die Listen eingetragen, die nicht wahl¬ 
berechtigt sind, darunter auch Minderjährige (in Risd- 
wjany, Bezirk Terebowla, wurde sogar ein 13jähriger Knabe 
in die Wählerliste aufgenommen!), ja Tote (in Nahorjänka, 
Bezirk Buczacz, wurden 12 Tote zu Wählern gemacht!) Von 
den Fällen, wo Freunde polnischer Kandidaten mehreremale 
in den Listen figurieren, wo vor vielen Jahren nach Amerika 
Ausgewanderte bei den nächsten Wahlen ihre Stimmen ab¬ 
zugeben haben u. dergl., nicht zu sprechen. Aber nicht nur 
mit der Bestimmung der Zahl der Wahlmännerwahlen wird 
Unfug getrieben. Auch die Zahl der zu wählenden Wahl¬ 
männer wird nach Belieben reduziert oder vergrössert. So 
wurden im Bezirk Peremyschlany zwölf Gemeinden statt je 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



39 


drei bloss je zwei Wahlmänner zuerkannt. Und als die Deputation 
des Dorfes Dusaniw bei dem Bezirkshauptmann darüber Klage 
führte und zu deren Unterstützung darauf hinwies, dass die 
1345 Einwohner des Dorfes auf drei Wahlmänner Anspruch 
haben, machte der allmächtige Bezirkshauptmann mit einem 
Federstrich aus 1345 die Zahl 1245 und erklärte, die Sache 
sei dadurch erledigt... Ein anderer Schwindel beruht wiederum 
darin (er wird in vielen Bezirken, auf grossem Fuss aber in 
Bibrka, betrieben), dass in die Wählerlisten nicht die zwei 
Drittel der am höchsten Besteuerten eingetragen werden, 
sondern die Summe der Steuern als Grundlage angenommen 
und diejenigen der am höchsten Besteuerten eingetragen 
werden, deren Abgaben zwei Drittel der allgemeinen Steuer- 
sümme bilden . .. Diese und andere Wahlmissbräuche sind 
aber nur ein Vorspiel zu den Missbräuchen bei den Wahlen 
selbst, zu denen sich sämtliche polnische Parteien fieberhaft 
rüsten. 

Polnische Industrie und ruthenisches Kunstgewerbe. 

Mit der Ausbreitung des Ruhmes der polnischen Nation 
machen sichs die Polen sehr bequem. Es wird auch hier eine 
eigenartige Aneignungspolitik betrieben. So eignen die Polen 
in der Regel alle Ruthenen, die sich durch irgend etwas im 
Auslande ausgezeichnet haben, der polnischen Nationalität an. 
Wenige Beispiele für viele: Die bekannten ruthenischen Künstler, 
die Opernsänger Salomea Kruschelnitzka und M. Mencinskyj 
werden in der polnischen Presse ständig als «unsere polnischen 
Landsleute» bezeichnet... Trotz der sehr zahlreichen Berich¬ 
tigungen, auch seitens der betreffenden Personen selbst, brachte 
noch neulich die «Polnische Post» eine Notiz von dem Auf¬ 
treten der «berühmten polnischen Opernsängerin Salomea 
Kruschelnitzka». Ein Kunststück aber in dieser Beziehung 
leistete seinerzeit das «Slowo polskie». In einer Korrespondenz 
aus Aegypten schrieb der Korrespondent des Blattes von dem 
«polnischen Landsmann» Herrn Bilinski, Hofapotheker des 
Vizekönigs von Aegypten, und knüpfte daran die Bemerkung, 
dass ♦sogar das Leben des Vizekönigs in den Händen eines 
Polen ruht»! .. Indessen sind alle drei genannten Personen 
Ruthenen und zufällig auch Abonnenten der «Ukrainischen 
Rundschau». Tableau! 

Dieses Vorgehen erstreckt sich, kurz gesagt, auf alles, 
wo in irgendwelcher Weise Ruhm für das Polentum zu holen 
ist. Vor allem wird das ruthenische Kunstgewerbe, weil gali- 
zisch, von den Polen immer als polnisch dargestellt. So ge¬ 
schieht es, dass sämtliche, von den Polen gern veranstaltete 
Ausstellungen der polnischen Industrie, was das Kunst- 
gewerbeanbelangt, im überwiegenden Teil von ruthenischen 
Erzeugnissen vertreten werden. So war es auch in der 
vor einigen Jahren arrangierten Ausstellung der polnischen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



40 


Industrie in Wien, auf die sich die Pölert soviel zugute taten. 
Diese Selbsttäuschung könnte man den Polen noch gern ver¬ 
zeihen, wenn die in letzter Zeit vorgenommenen Versuche 
nicht darnach angetan wären, das ruthenische Kunstgewerbe 
zu vernichten und dasselbe durch das polnische zu ersetzen. 
Emen dahingehenden Versuch bedeutet die vor zehn Jahren 
in Kolqmea gegründete Schule für Kunstgewerbe. Bis zu 
jener Zeit gab es dort eine Gesellschaft, welcher die Pflege 
des huzulischen Kunstgewerbes oblag und welche eine 
Werkstätte für huzulische Erzeugnisse unterhielt. Die hier er¬ 
zeugten Gegenstände hatten in der galizischen Landesausstellung 
in Lemberg, 1894, die allgemeine Bewunderung erregt, und 
dies war auch die Ursache, dass, dank den Bemühungen der 
interessierten Faktoren, das Unterrichtsministerium beschloss, 
in Kolomea eine Fachschule zu gründen. Die Gesellschaft 
wurde aufgelöst und durch die jetzt bestehende Fachschule 
ersetzt und zu Lehrern Leute ernannt, welche keinen Begriff 
vom huzulischen Stil haben und in Ermanglung dieser Grund¬ 
kenntnisse das bereits weltbekannte huzulische Kunstgewerbe 
«modernisieren» und verpfuschen. Der im vorigen Jahre neu¬ 
ernannte Direktor der Schule hat es aber unternommen, das 
huzulische Kunstgewerbe zu p o 1 o n i s i e r e n. So wird der 
huzulische Stil durch den Zakopaner und unter dem Lehr¬ 
körper der Schule Kenner des huzulischen Stils durch solche 
ersetzt, welche sich eben zur Polonisierung des huzulischen 
Stils eignen. Aber nicht nur der huzulische Stil wird poloni- 
siert; auch die ganze Schule trägt den Charakter einer Poloni- 
sierungsanstalt. Die Vortragssprache in der zur Pflege der 
ruthenischen Kunst und auf dem kernruthenischen Territorium 
errichteten Schule ist p o 1 n i s c h, die Lehrer polnische 
Chauvinisten, welche nicht nur den Schülern, sondern auch 
ihren anderen Kollegen mit ruthenischen Schülern, deren es 
hier zweimal soviel als polnische gibt, ruthenisch zu sprechen 
verbieten u. s. w. Ja freilich, die Polonisierungsindustrie ist 
den Herren eine heiligere Pflicht als die Pflege des ruthenischen 
Kunstgewerbes. 

Parteitag der ukrainischen nationaldemokratischen 
Partei. Am 25. und 26. Dezember 1907 fand in Lemberg 
der nationaldemokratische Parteitag, kurz Nationaltag genannt, 
statt, zu welchem Delegierte aus sämtlichen ruthenischen 
Bezirken Galiziens erschienen waren. Der Verlauf der Be¬ 
ratungen war sehr lebhaft. Der Parteitag, an welchem von 
den der Partei angehörenden Reichsratsabgeordneten der 
Rechenschaftsbericht über ihre Tätigkeit im Parlamente er¬ 
stattet wurde und die nahenden Landtagswahlen zur Be¬ 
sprechung gelangten, beschloss noch folgende Resolutionen: 
1. Die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten 
Wahlrechtes für die Landtags-, Bezirksrats- und Gemeinde- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



41 


ratswahlen; 2. Absperrung der russischen und rumänischen 
Grenzen gegen den Viehimport und Eröffnung derselben für 
den Getreideimport; 3. Enteignung der Wälder zugunsten der 
Bauern und Hintanhaltung der Wälderdevastierung sowie 
Errichtung von Holzniederlagen in den Bezirken; 4. Regulierung 
der Flüsse und Gebirgsströme in Ostgalizien; 5. Aufhebung 
der Steuern von kleineren Erbschaften; 6. Reform des Veterinär¬ 
gesetzes in der Richtung, dass der jetzt üblichen Sekkatur 
der ruthenischen Bauern aus politischen Rücksichten seitens 
der Bezirksveterinäre ein Riegel vorgeschoben werde; 7. Auf¬ 
hebung des Jagdrechtes; 8. Aenderung des Gesetzes über 
die Gemeindezuständigkeit; 9. Gründung einer ruthenischen 
Universität in Lemberg; 10. Teilung des Landesschulrates in 
eine ruthenische und eine polnische Sektion; 11. Aufhebung 
des Landesschulgesetzes vom 22. Juni 1867, demzufolge die 
Gründung eines neuen ruthenischen Gymnasiums von dem 
galizischen Landtag abhängt; 12. Abschaffung der iure caduco 
als obligater Gegenstand eingeführten polnischen Sprache in 
den ruthenischen Volksschulen; 13. Schaffung von Lehrkursen 
für die Analphabeten; 14. Zurückversetzung der nach West¬ 
galizien verbannten ruthenischen Beamten, insbesondere Lehrer, 
nach Ostgalizien u. s. w. 

Zur blutigen Immatrikulation an der Lemberger 
Universität. Der in der Presse angekündigte Prozess gegen 
die polnischen Studenten findet nicht statt. Bei der Unter¬ 
suchung im Lemberger Landesgerichte wurden zwar einige 
ruthenische Studenten einvernommen, doch haben sie alle 
Aussagen gegen die Arrangeure der blutigen Immatrikulation 
verweigert. In einer im Lemberger Tagblatte «Dilo» veröffent¬ 
lichten Berichtigung der Meldung über die angeblich von der 
ruthenischen Studentenorganisation unternommenen Schritte 
zum Zwecke der gerichtlichen Belangung der allpolnischen 
Studenten heisst es: «Das ukrainische Studententum hat das 
Bewusstsein der persönlichen Ehre und wird nie in die Fuss- 
stapfen der Mitglieder der allpolnischen «Akademischen Lese¬ 
halle» treten und nie aus den eigenen Reihen die freiwilligen 
Denunzianten werben, die dem Untersuchungsrichter die Türe 
einrennen; dies bleibt für immer die Spezialität der allpolnischen 
Ritter. Die Sache, für welche die ukrainische Universitätsjugend 
kämpft, ist so erhaben und gerecht, dass zu deren Verteidigung 
keineswegs die gestrengen Massregeln der galizisch-polnischen 
Themis nötig sind.» An der ganzen Angelegenheit ist nur 
soviel wahr, dass von den ruthenischen Studenten zur Konsta¬ 
tierung der schweren, in einem Falle sogar lebensgefährlichen, 
Verwundung einer Anzahl Kollegen während der Immatrikulation 
die gerichtsärztliche Kommission verlangt wurde, damit ge¬ 
gebenenfalls ein amtliches Beweisstück zur Verfügung stehe. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



42 


Mitteilungen. Unsere Redaktion hat einen schweren Ver¬ 
lust zu verzeichnen. Am 20. Jänner d. J. verschied unser Mit¬ 
arbeiter und Redakteur der „Ruthenischen Korrespondenz“, 
Dr. Roman Tustanowskyj, bei seinen Verwandten in 
Wilky mazowecki in Galizien nach einem kaum 26 Jahre 
langen Leben. Friede seiner Asche! 


Anfangs März findet in Wien das 40jährige J u b i 1 ä u m 
des ältesten ukrainischen St u den ten verein es „Sitsch“, 
welcher zugleich auch einer der ältesten ruthenischen Vereine 
überhaupt ist, statt. Außerdem erscheint aus diesem Anlasse 
ein „A lmanach“, an welchem sich als Mitarbeiter die ge¬ 
wesenen und gegenwärtigen Mitglieder des Vereines beteiligen 
werden. Die Redaktion des Almanachs wurde einem Komitee 
anvertraut, bestehend aus den Herren : Dr. Zeno K u z i e 1 a, 
Mykola Tschajkiwskyj und Wladimir Kuschnir. 


Am 28. Jänner d. J. feierten die Kijewer Ukrainer das 
25jährige Jubiläum der großen ukrainischen dramatischen 
Künstlerin Maria Zankowetzka. Die Feier gestaltete sich 
zu einer nationalen Feier des ukrainischen Theaters, mit 
welchem der Name der Künstlerin eng verknüpft ist. Unsere 
Redaktion entsendete der Jubilarin ein Begrüßungstelegramm. 


Der an der königlichen Oper in Stockholm seit einigen 
Jahren wirkende, auch dem deutschen Publikum aus seinen 
debütierenden Auftritten in Elberfeld, dann aber aus den Gast¬ 
auftritten in Bayreuth, wo er sich die Anerkennung der Frau 
K. Wagner gewann, gut bekannte ukrainische Opernsänger 
Modest Mencinskyj trat Ende 1907 in Mannheim in den 
Wagnerschen Stücken auf. Aus Anlaß seines Auftretens in 
den Trilogiestücken bereitete ihm das Theaterpublikum leb¬ 
hafte Ovationen in und vor dem Theater und die Lokalblätter 
„General-Anzeiger“, „Volksstimme“, „Neue Bad. Landeszeitung“ 
u. a. widmeten ihm ganze Feuilletons. Der Künstler, welchen 
der verstorbene schwedische König mit der goldenen Medaille 
pro litteris et artibus ausgezeichnet hat, ist auch dem Londoner 
Publikum aus seinem Auftreten in dem Covent-Garden Theater 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



43 


bekannt und die englischen Blätter „Times“ und „Telegraph“ 
behaupteten, Mencinskyj sei den besten europäischen Tenoren, 
welche Wagner singen^gleichzustellen. Zu bemerken ist, daß der 
zurückgetretene Direktor der Wiener Oper, M a h 1 fe r, im 
vorigen Jahre Herrn Mencinskyj für diese Oper zu gewinnen 
suchte. 



Anmerkung. Infolge Uebernahme des Druckes und der Expedition 
der Ukrainischen Rundschau durch eine neue Druckerei wurde die Ver¬ 
sendung der Jännernummer 1908 leider erheblich verspätet. Dagegen 
erscheint die Februarnummer im vorgeschriebenen Termin. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 


44 


Ethnographische Karte 
der Ukraine 

von D. Aitoff 

erschien im Verlag der Ukrainischen Rund¬ 
schau, ausgeführt von der Firma Brüder Erhard in Paris. 
Maßstab 1:10,000.000. 

Die Stärke der ukrainischen Bevölkerung ist in fünf 
Farben veranschaulicht, welche das prozentuelle Ver¬ 
hältnis der ukrainischen Bevölkerung zur nichtukrainischen 
nach folgendem - Schema darstellen: 1) 90—100%; 
2) 50—90%; 3) 30-50%; 4) 10—30%; 5) 1—10%. 

Die Karte ist sehr elegant ausgeführt, ihren großen 
Vorzug bilden aber die sehr zahlreichen, dabei mit bloßen 
Augen sehr gut leserlichen Inschriften. 

Preis der Karte 70 Heller samt Porto. 


Erhältlich in der 

Administration der Ukrainischen Rundschau 

Wien, XVII/s, Frauenfelderstraße 2 

nach der vorherigen Einsendung der Gebühr, welche 
auch in Postmarken entrichtet werden kann. 

» Die Abonnenten der Ukrainischen Rundschau A 
erhalten die Karte unentgeltlich und wird « 
# dieselbe mit der Februarnummer verschickt. # 

Die neubeitretenden Abonnenten erhalten die 


Karte, wenn sie ihr Abonnement spätestens 


bis 15. Februar anmelden, sonst nur solange 


der Vorrat reicht 


Digitized fr, 


Google 


Original frorn 

INDIANA UNfVERSITY 






45 


Digitized by 


HAUSDRUCKEREI. Jedermann sein eigener Drucker! 

Mit meinen Kautschuktypen-Druckapparaten 
kann jeder sofort drucken: Visit- oder Adreß- 
karten, Avisos, Zirkulare, amtl. Vorladungen etc. 

Eine einmalige Zusammenstellung er¬ 
möglicht tausende Abdrücke. Preise mit 
allem Zubehör: 



65 Typen K 

1 .— 

90 Typen K 

1.40 

120 „ „ 

2.— 

140 „ „ 

2.40 

211 „ „ 

4.— 

255 „ „ 

4.80 

54 „ „ 

6.— 

468 „ „ 

7.20 

650 „ „ 

10.- 

809 „ „ 

12.- 


Auch in russischer Sprache erhältlich. 

Für 3 K eine geschmackvoll ausgeführte Gummistampiglie, bis 4 Zeilen 
Text, von unbegrenzter Haltbarkeit, in eleganter Kassette, mit immer- 
Preisliste gratis. währendem Stempelkissen. Vertreter gesucht. 

J. LEWINSON. Wien, I., Adlergasse 12, Filiale Odessa (Russland). 

Stampiglienfabrikation u. Gummitypengießerei. 


Wichtig für österreichische Politiker! 

ist das im Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig erschienene Werk 


Deutsch-österreichische Politik 

Studien über den Liberalismus und über die auswärtige Politik 
Oesterreichs von RICHARD CHARMATZ. 

Preis 8 Mark. Erhältlich durch alle Buchhandlungen. 


SANDI IST Icold 


Alle Maschinen für Hand- und Kraftbetrieb 
: : : und Formen in jeder Preislage : : : 

zurgewinnbringenden Verwertung von Sand, Steinbruchabfällen usw. 

zu Mauersteinen, Dachziegeln, Platten, Röhren, Trögen etc. 

Hochlohnende Nebenindustrie mit geringer Kapitalsanlage. 

Man fordere gratis illustrierte Orientierungsbroschüre Nr. 238. 
Besuch unseres Werkes erbeten. 

Spezialmaschinenfabrik für Sandverwertung 
Leipzig er Zementindustrie Dr. Gaspary & Co., Makranstädt b. Leipzig 
Größte Firma der Branche. Kapital 1,000.000 Mark. 


Go igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSIT7 , 














Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 


Betrag, welchen sie nach Verkauf der ICO Lose am 1. Mai 1909 erhalten, und so wird auch, wenn mehrere Haupttreffer 
gezogen werden, der Betrag höher, je mehr Anteilscheine meine geschätzten Kunden besitzen. 



Zu bemerken ist noch, dass auf jedem Anteilscheine die Löse sowie deren Serie, Nummer und Ziehungstage wie 


47 


sz- i tp+r 
o ^ S c w 
3 -£ S 3 J2 

03 cn ^ bß*5 
— - H. 'ZI 

g g 

o5 2 = ^3 
>^sö W)0) 

> Xj ^ 1 Qj rr 

'S 22 ^ 

g® ic« 

ff-« S .SP 60 
t: | 

© C — cö — 

“ü > 8 £ 
® S « 2 •« 

'OO ^ oß-^ 

' _ . © o 

&ß_* ao GQ 

C rf © 
3 rZ' *+ ir 
_G fi — © 'O 

r O Q Ul Hl 

C v- ® ® © 
® te w •— -® 

2 ^ 'S ' a =3 
’S ffsS § js 

Hl CZ PO 

° ~ c >s 
^ 'S ® © 

j ü 

CO ®0 rr\ 

o) © jc *■© 

_ö rK o m 


C G G 
*£ CD ® S 
80^ M c 

■s-ül 

g *5 c M 
S c 

g-.2 © jC 
® W'O Ü 
•— rf CO 

o a> S fc- 
C.G S o 

t; a> ^ c 

§ *»| 

» ®‘&2 
r* «-Q a, 05 

® 2£-§ 
g c‘ = 

o c ^ 
c Cu JB h. 
«2 £*>" « 
■85= *« 

-j — « t, 

» on 3) 5 

^U'o S 

8.2 Mg 

§T3 
•0 © M c 

*— S S 3 

GH 


v **' ;> —^ — 

2 OfaCt: 

$ *§«£ . 
■PS« * 5 « ~ ^5 i 


£ I c "°« = « _* r 

© .5 § «r s = s 'S § . 

2 « 2 =3 C C o 

£ - c ^ cs n; • 

.-g-S-.fi fe i;§o«e 
* g-o^i sS-gS-ö 

^ rrj C © Q — W »C 

.8° = gs >| c g 3 

^ <D G ’S £ .2 ° fc cf I 

o'gc S> ^ 00 S H ■ 

O- © S 4= 'S r>« 

**| s'g . §*.« | r 

32*2 = £ £ S gf I 

’S -2 I £ gu ® _ e'öoi 

E o_o'g *05®J , 

2 S.« 8 ® 5 -§ = I rt ' 0 

<v %*> S 5ö^Q c ®* 

yßc3C(jjC >- ^ , «2 E 
ScSE^ 3 £ r S F °'S m 
*>2 oi » w> 

® j| & 5 S » « 05 g =2 

'O 'S J3 C <d f-< G ^_T ® -4-» 
cö o zZ ri m ^ •— , " o 

c 0 n 3 ’S O ® cä o 

C P O r k> £ tü; ^ 

OC> 1 )CO 

JC3ÄM . G 2 
^Tj^o^-occajajo 
^ «2 •— ^3 *- a) Hl U> 

© cca ® ^ ® ^ äs o 

ra ^»'^jG ^ ^jS^ 1 

toi; ceJori-HH-ai 

g «2 3 ^ N y ® ^ S " 
,20,^2 _r*s 
^ E c ? - ® 


.fad 43 
h. O 

IJ 

bßO 

5*o> 

O v-i 

h *5 
igS 

£~ . 
3S c 
e .-2 ® 
2 ja » 

» c2 
0) 

© *» 2 

|äs 

2 G öS 
cd CO T3 


tiO "CCSQra-^M m 

a «2 3 ^ .5: N, y ® ^ S " 

£ o , Ä S -*G bO^-O.S 

^“i-S^g^Sgal® 
£-§a: ® ® ä g-oj? c -s 

!> SCrt-Sf®S 3c ^ t ^ 

.® * ® l-g >|s g-g s 
a ? a _-“ä-^sSc 


Q 5 Ji Jti) g > 

c V Oi N 

< £ 2 © 

*r? CO #-i 

-© ® s 

• —I Hi f—. 43 

-O 33 .« O 


173 bß 

S ü O 
cd © TT 
Ä«&3 


o oooooooooo 

« 8 §si 8 isigs 

• • A • • • • • 

- O^OOOOO^OOO 
c ■>-ab<3o^^KS05«5'i«oo 

© ^ © 
2 


^ rkrrrrrrr 


•M 


© ® • • 
13* 

+ 1- V 

> 

-Ö 

CÄJ • • 

o 3 * 


CO 

» i 
© 44 


©3 

43 

O» ©. • 

3 

» CÖ ' ' 


fei. 

3 : 


•* f 

g; 

0) 

3 ? 

= “ 


a * ® * ' * * 

|s 1 sl*l*s 

oS“5S« 2ä 2« 
a.S 5 x Ä ’S »’S N 

Scs 2 *3'S 2 « 83 

ac h n x ^ m oc i-s 

HHHHHHHHI3 


©©OOOO©©© 

: 8§§8§gi8S 

• •••••-•• 

1 O © © © © j© © O »o 
©QÜ © © 00 © «00 so 
^ 1-^' « 

t*J RRRRRT-RR 

r ». 


2 RRTRRR^RR 

Ä 

9 

cd 

a 


s 

•«! 


S « N 

S . -fl • s •> 

Oä 03 

S • « in ® 

O _ S © CO 

® © 5 0Q ff ©, 

^ 2 ®? o .-nl 

£ T5 G ^ g ^ g 

S® S .£ ®-2 

® © ^ ftO’S öS SS 

2- © fl 3 © © 

H (N H H N © »d < 
i-H ®1 i 


© 

00 ■ 

N 2 

®^3 ^ 
Äs© 

W ©J3 

CW fa 
ct ® 

£-3 

&SS 


Difitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 


800.000 4 Türkenlose 






















48 





Ruthenisches Hotel mit Restaurant 
© © © und Kaffeehaus © ® © 

in Lemberg. 

Eigentum des Vereines „Narodna Hostynnycia“. 

♦ 

Das Hotel befindet sich Ecke der Sykstuska- und 
Kosciuszkogasse, der frequenteste Posten in Lemberg, direkte 
Verbindung mit allen Bahnhöfen, Haltestelle der Elektrischen, 
Zentrum der Lemberger Geschäftswelt, unmittelbare Nähe von 
allen wichtigeren amtlichen Institutionen etc. 

Dasselbe ist mit allem Komfort der Neuzeit eingerichtet: 
Elektrisches Licht, Lift, Telephon, warme und kalte Bäder etc. 

Vorzügliche erstklassige Küche. 

Im Kaffeehaus liegen die gelesensten in- und ausländischen 
Zeitungen auf. 

Im Hause sind etabliert: Schneider, Friseur und Schuh¬ 
macher. 

Zimmer von 2 bis 10 Kronen. 

Um zahlreichen Besuch bittet 

die Leitung des Hotels. 


Lemberg Dflistef“ 

Ruskagasse „I/IUOIVI 

Die einzige ruthenisehe Versicherungsgesellschaft. 

— Gegründet 1892. -■ 

Versichert Gebäude, Mobilien, Getreide, Futter gegen Brandschaden; 
sehr mäßige Prämien; den Reingewinn verteilt unter die Mitglieder als 
Rückzahlung; in den letzten drei Jahren betrug diese Rückzahlung 8%. 

Die Entschädigungen werden sehr prompt ausgezahlt. In den letzten zehn 
Jahren hat die Gesellschaft in 6064 Fällen im Ganzen 3,187.258 Kronen 

gezahlt. 

Bei Anleihen werden die Polizzen des „Dnister“ von der Landesbank 
und von den Sparkassen akzeptiert. 


Eigenes Haus. 


.Dnister“ 


vermittelt die Lebensversicherungen bei der 
Krakauer Lebensversicherungsgesellschaft und tritt 
einen Teil der Provision für die ruthenischen 
Wohltätigkeitszwecke ab. 


Digitized b', 


Gck igle 


Original fro-m 

INDIANA UNIVERSITY 












. • . • 
• • • • 


• . •. • 

• • • * • . 

HERAUSGEBER u. REDAKTEUR: W. KUSCHNIR. 

VI. JAHRGANG. ^908. NUMMER 2. 

Die ukrainische Schule im polnischen Joch 0. 

II. Die Vortragssprache an den galizischen 
Lehrerbildungsanstalten. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 

Die Ruthenen in Galizien wurden nicht nur dadurch be¬ 
einträchtigt, daß in dem ruthenischen Teile des Landes viel 
zu wenig Lehrerbildungsanstalten gegründet wurden. Das 
weitere Unrecht besteht darin, daß den ostgalizischen Lehrer¬ 
bildungsanstalten ein dem Volke, inmitten dessen sie be¬ 
stehen, fremder Charakter verliehen wurde. 

Nach den österreichischen Staatsgrundgesetzen und ent¬ 
sprechend den nationalen Siedelungsverhältnissen sollten die 
acht Lehrerbildungsanstalten in Ostgalizien rein ukrainisch, 
dagegen fünf westgalizische rein polnisch und zwei west- 
galizische, in Krosno und Alt-Sandez, polnisch-ukrainisch sein. 

- Die bekannte polnische Gerechtigkeit entschied anders. 
Die westgalizischen Lehrerbildungsanstalten sind rein polnisch 
und die ostgalizischen polnisch-ukrainisch. Rein ukrainische 
Lehrerbildungsanstalten gibt es überhaupt nicht. Das wäre 
aber noch nicht alles. Der galizische Landtag erreichte nämlich 
den Grad von Niederträchtigkeit, daß er im Jahre 1906, den 
Staatsgrundgesetzen zum Hohn, einen Beschluß faßte, demzu¬ 
folge in Galizien andere Lehrerbildungsanstalten als polnische 
oder utraquistische nicht bestehen dürfen. Ein derart infamer 




*) Siehe den gleichbetitelten Artikel in der Ukrainischen Rund¬ 
schau Nr. 1. 


1 



Original from 

liINDIANA UNIVERSITY 




2 


Beschluß ist in Oesterreich noch von keinem Landtag, 
auch nicht in Schlesien, wo die Deutschen die Mehr¬ 
heit über Polen und Tschechen besitzen, gefaßt worden. Was 
für einen Lärm möchten aber die Herren schlagen, wenn man 
dort ein ähnliches Gesetz beschließen würde. Bekanntlich 
haben aber die von den Polen so sehr verschrienen Deutschen 
es sogar zugelassen, daß in Teschen am deutschen Lehrer¬ 
seminar rein polnische (keineswegs polnisch-deutsche) parallele 
Abteilungen bestehen und die Polen in der allernächsten Zeit 
in Teschen oder in der Nähe dieser Stadt eine rein polnische 
Lehrerbildungsanstalt bekommen werden. 

So haben die vier Millionen Tiroler des Ostens in Oester¬ 
reich keine einzige ukrainische Lehrerbildungsanstalt, im eigenen 
Lande müssen die Beschützer der Dynastie von 1848, das 
Kanonenfutter von den Schlachtfeldern von Solferino, Magenta 
und Königgrätz, in geistiger Finsternis ihr Leben fristen. Die 
Schande ist um so auffallender, als die 200.000 ukrainischen 
Einwanderer in Kanada, wo sie doch nicht heimatsberechtigte 
Fremdlinge sind, eine ukrainische Lehrerbildungsanstalt er¬ 
hielten. 

Dies ist der Gewinn der Ruthenen von Oesterreich, wo 
sie den Polen rücksichtslos zur Beute ausgeliefert wurden! 

In Oesterreich wohnen 750.000 Italiener, und sie haben 
neben einer utraquistischen drei rein italienische Lehrer¬ 
bildungsanstalten. Sogar die national nicht gleichberechtigten 
Slovenen haben eine rein slovenische Lehrerbildungsanstalt 
neben drei utraquistischen, und die Kroaten zwei rein kroatische 
- von den Tschechen, welche auf nicht ganze sechs Millionen 
Bevölkerung 17 rein tschechische Lehrerbildungsanstalten 
haben, schon gar nicht zu sprechen. 

Doch darf auch nicht vergessen werden, daß der gali- 
zische Utraquismus nur ein Hohn und Spott auf die (übrigens 
mit den Staatsgrundgesetzen in Widerspruch stehenden und 
doch sanktionierten!) Landesgesetze ist, welche von den Polen 
selbst geschaffen werden. In den galizischen pseudoutraquisti- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



3 


sehen Lehrerbildungsanstalten sollen nämlich manche Gegen¬ 
stände polnisch, andere ruthenisch vorgetragen werden, auch 
die Prüfungen sollen in beiden Sprachen vorgenommen werden. 
In der Praxis wurde aber das betreffende Gesetz vergewaltigt 
und zugunsten der Polen und zum Nachteil für die Ruthenen 
zurechtgeschnitten. So erlaubt man in den pseudoutraquistischen 
Lehrerbildungsanstalten den Lehrfachkandidaten die Lehr¬ 
befähigungsprüfung (den Privatschülern auch die Reifeprüfung) 
nur in polnischer Sprache abzulegen. Dagegen wird es in 
keinem Fall gestattet, eine dieser Prüfungen in ukrainischer 
Sprache allein zu machen. Es ist dies eine echt polnische 
Auslegung des Gesetzes, dessen Bestehen für sich allein schon, 
abgesehen von der in Wirklichkeit geübten Fälschung des¬ 
selben, himmelschreiend ist. 

Die utraquistischen Lehrerbildungsanstalten sollen neben 
den polnischen ukrainische Uebungsschulen haben. Bei den 
Lehrerbildungsanstalten in Zalistschyky und Peremyschl gibt 
es aber ukrainische Uebungsschulen noch immer nicht. 

Für die Gegenstände, die in polnischer Sprache vorge¬ 
tragen werden, ernennt man ausschließlich Polen, für die 
Gegenstände aber, die ukrainisch vorgetragen werden sollen, 
werden auch Polen ernannt. So läßt man fast an allen Lehrer¬ 
bildungsanstalten die Hygiene und die Somatologie von Polen 
vortragen, diese aber erteilen den Unterricht eigenmächtig, 
wie dies z. B. der Professor Kowenickf in Tarnopol tut, in 
polnischer Sprache. Das Vorrecht auf einen Lehrposten mit 
ukrainischer Vortragssprache haben (wenn es dem Landes¬ 
schulrate überhaupt beliebt, den Posten einem Nichtpolen zu 
geben) solche Ruthenen, die mit Polinnen verheiratet sind, 
sich der polnischen Umgangssprache bedienen und die all- 
polnisch-jagellonische Idee akzeptieren, mit anderen Worten 
entnationalisierte Ruthenen, also Polen. 

Der größte Unfug wird aber mit der Besetzung der 
Direktorenstellen getrieben. Zum Direktor der Lehrerbildungs¬ 
anstalt in Sambir wurde der Pole Kratochwil ernannt, obwohl 

l* 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




4 


er nur eine Prüfung für die Bürgerschule hat und um diesen 
Posten Ruthenen mit Universitätsstudien und Doktortiteln sich 
beworben haben. Von fünfzehn Lehrerbildungsanstaltsdirektoren 
in Galizien sind nur zwei Pseudoruthenen, in Sokal und Zalis- 
tschyky, beide sind nämlich polnische Patrioten und unter¬ 
scheiden sich von den Polen nur durch ihre Abstammung. 
Infolge der an den galizischen Lehrerbildungsanstalten 
herrschenden Verhältnisse fühlen sich ruthenische Lehrer, wenn 
es einem wirklich gelingt einen solchen Posten zu erlangen, 
terrorisiert. 

Man hat noch nie gehört, daß ein ruthenischer Lehrer an einer 
Lehrerbildungsanstalt es je gewagt hätte, sich beispielsweise als 
oppositioneller Kandidat um ein Abgeordnetenmandat zu be¬ 
werben oder, sei es auch vom ultraloyalen Standpunkt der 
österreichischen Staatsidee, gegen die Einimpfung der jagel- 
lonischen Staatsidee in die Gemüter der Schüler aufzutreten; 
kein ruthenischer Lehrer wagt es sich an dem öffentlichen 
Leben zu beteiligen, weil einen jeden das Los erwartet, 
welches zum Beispiel dem Lehrer an der Uebungsschule in 
Stanislau, Herrn Budzinskyj, zuteil wurde. Er ist anerkannter¬ 
weise ein sehr fähiger und tüchtiger Pädagoge. Selbst die Schul¬ 
behörden gestehen es zu, indem sie ihn als „eine tüchtige 
Kraft“ von Ort zu Ort schleudern. Was gilt das aber gegenüber 
dem Fehler, daß sich der Herr nicht als polnischer (aber auch 
nicht als ruthenischer), sondern als ein österreichischer 
Beamter fühlt. Er ist auf dem untergeordneten Posten eines 
Uebungsschullehrers grau geworden, ohne daß er die Er¬ 
nennung zum Lehrer an einer Lehrerbildungsanstalt erlebt 
hätte, welche Stellen polnischen Jünglingen, meistens ohne 
Befähigung, dafür mit guter Protektion, Vorbehalten werden. 
Und die Kehrseite der Medaille? Das sind die polnischen 
Herren Falats, Zubczewskis, Michalowskis, Wojciechowskis, 
Kratochwils und wie sie alle heißen, welche als Direktoren 
an Lehrerbildungsanstalten tätige Mitglieder solcher politischer 
Organisationen wie der „Obrona narodowa“ (Nationale Ab- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



5 


wehr) sein können, das sind die Herren vom Schlage des 
•allpolnischen Lehiers Srokowski in Tarnopol, welcher sich 
in ganz Galizien herumtreibt und ruthenenfeindliche Ver¬ 
sammlungen arrangiert und ein sehr rühriges Mitglied der 
Organisation ist, welche zur Zeit der Wahlreformbewegung 
das galizische Podolien mit Agitationsbroschüren gegen die 
.autochtone Bevölkerung überschüttet hat. 

Das wäre das Bild der galizischen Lehrerbildungsanstalt 
mit besonderer Berücksichtigung der Vortragssprache. Ver¬ 
gleichen wir nur die Lage der Ruthenen in Galizien mit der 
Lage der Polen in Preußen, wo die letzteren nicht einmal 
eine utraquistische Lehrerbildungsanstalt besitzen. 

Vorher muß der grundsätzliche Unterschied hervorgehoben 
werden: ln Preußen werden in Anwendung an die Polen die 
Staats- und Landesgesetze respektiert. Diese Gesetze sind für 
die Polen oft streng, aber mißbraucht werden sie nicht. Und 
in Galizien ? 

Die österreichischen Staatsgrundgesetze garantieren allen 
Völkern des Staates, also auch den Ruthenen die Freiheit, 
beim Schulunterricht die Muttersprache zu gebrauchen, ohne 
xiaß jemand gezwungen werden könnte, den Unterricht in 
meiner fremden Sprache zu nehmen. Aber die polnische Land¬ 
tagsmajorität pfeift auf die Staatsgrundgesetze und beschließt, 
daß die Staatsgrundgesetze in Galizien nur für die Polen da 
-seien, dagegen oktroyiert sie den Ruthenen den Utraquismus 
auf. Aber die polnischen Herren respektieren ebensowenig wie 
-die österreichischen Grundgesetze auch die von ihnen selbst 
geschaffenen Gesetze, indem der Utraquismus in der Praxis 
ad absurdum geführt wird. In Bezug auf das Halten an 
irgendwelche Gesetze herrscht bei den Polen noch immer 
dieselbe Anarchie, wie sie zu Zeiten der alten Sünderin, der 
polnischen Republik, zu Hause war. 

Werden denn die Gesetze in Preußen in Bezug auf die 
Polen auch nur annähernd so kraß gebrochen? Man lasse 
die Tatsachen reden. (Ein weiterer Artikel folgt.) 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





6 


Die Anfänge der wirtschaftlichen Organi¬ 
sation bei den Ruthenen in Galizien. 

Von Konstantin Pankiwskyj. 

Seit einer Reihe von Jahren geht bei den Ruthenen 
Galiziens neben der politischen Aktion auch eine, äußerlich 
weniger glanzvolle, dafür aber umso intensivere Arbeit um 
die wirtschaftliche Hebung des ruthenischen Volkes vor sich. 
Die Bilanz unserer politischen Bestrebungen weist aus ver¬ 
schiedenen, nicht immer von uns selbst abhängigen Gründen 
keine großen Erfolge auf, dagegen kann man beobachten, 
daß die Erfolge auf ökonomischem Gebiete immer mehr 
zufriedenstellend werden, ln unseren Städten, Städtchen und 
Dörfern ersteht eine Schar in der Stille wirkender Arbeiter, 
welche ihre in den meisten Fällen ganz uneigennützige Arbeit 
der Organisierung, Führung und Entwicklung unserer wirt¬ 
schaftlichen Kräfte widmen. Deshalb können wir mit einer 
gewissen Selbstzufriedenheit unseren Blick auf dieser alltäg¬ 
lichen, in ihren momentanen Erfolgen kleinen, in ihren Folgen 
aber ungemein wichtigen Tätigkeit unserer Handels-, Kredit-, 
Erwerbs- und Produktivgenossenschaften und Vereine ruhen 
lassen. Dies um so mehr, als die Erfolge dieser Arbeit, welche 
erst seit einer ganz kurzen Zeit, und zwar seit der Gründung 
der ruthenischen „Landeskreditvereinigung“ in Lemberg“ (Kra- 
jewyj Sojus Kredytowyj) im Jahre 1899, welche die Rolle des 
Leiters, Lehrers, Kreditors und Organisators übernahm, plan¬ 
mäßig geführt wird, zu der kurzen Dauer derselben in einem 
für diese Tätigkeit äußerst günstigen Verhältnisse stehen. 

. Die seit dem Jahre 1898 planmäßig geführte Tätigkeit 
beschränkte sich allerdings anfangs hauptsächlich auf den 
Kreditzweig. Das Jahr 1903 brachte uns indessen schon eine 
andere wichtige Institution, die „Landesrevisions - Ver¬ 
einigung“ (Krajewyj sojus rewisijnyj), welche außer den 
offiziellen Revisionen noch durch die Herausgabe der ökono¬ 
mischen Monatsschrift „Ekonomist“, durch Erteilen von In- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



7 


Digitized by 


formationen und Weisungen betreffend die Führung von ver¬ 
schiedenen Vereinen und Aufsicht über dieselben nicht unbe- 
Irächtlich zu deren Entwicklung beitrug. Im Jahre 1907 ent¬ 
standen wiederum zwei neue Bindeglieder des wirtschaftlichen 
Lebens: „Landesverband der Milchprodukte¬ 
genossenschaften in Stryj“ (Krajewyj sojus molotschar- 
skyj) und „Landeszentrale für Handelsgenossen- 
schafteninLemberg“ (Krajewyj sojus torhowelnyj), deren 
Ziel dem dSr Landeskreditvereinigung gleich ist, und zwar 
unsere wirtschaftlichen Kräfte auf dem Gebiete der Milch¬ 
produktion und des Handels zu organisieren; die Organisation 
ist noch nicht endgiltig durchgeführt und so können sich die 
beiden Institutionen noch keiner größeren Erfolge rühmen, 
aber sicher ist, daß sie, gut geleitet, für die Bevölkerung mehr 
Nutzen werden bringen können, als die Kreditvereine. 

In Ermangelung endgiltiger Berichte über den Stand 
unserer ökonomischen Vereine am Ende des Jahres 1907 
führen wir einige interessantere Daten aus den Berichten für 
1906 an, woraus deren Fortschritte am deutlichsten erhellen: 


1 

in 
-*—■ 
u—■ 

O) 

■a £ 







:cj £ 
SZ -E 
o <S 
m 

<D 

o 

N 

C > 

< 

_ O 

xz — 

cz pß 

N 

Einlagen 

Reserve¬ 

fonds 

Betriebs- 

Einlagen 

Rein¬ 

gewinn 

Kassa¬ 

betrieb 

1899 

18 

6.539 

225.580 

25.537 

1,493.450 

22.525 

6,111.065 

1900 

31 

13.855 

507.160 

98.672 

2,958.727 

55.111 

14,903.136 

1901 . 

43 

18.123 

645.043 

135.171 

3,660.438 

70.518 

19,282.385 

1902 

55 

23 333 

792.944 

178.446 

4,856.535 

100.232 

22,111.110 

1903 

73 

36.295 

1,139.094 

270.392 

6,812.676 

131.729 

34,381,984 

1904 

77 

35.531 

1,111.684 

278.553 

8,332.550 

121.065 

35,196 871 

1905 

100 

46.630 

1,390.974 

348.102 

10,386.185 

153.406 

46.416.344 

1906 

134 

59.548 

1,774.580 

4i 4.016 

13,231.996 

174.850 

62,596.218 


Von den 134 Vereinen im Jahre 1906 waren 104 Kredit-, 
die anderen 30 Handels und landwirtschaftliche Vereine. Das 
gesamte Betriebskapital-derselben betrug über 62 Millionen, 
der Warenbetrieb 5 Millionen, Spenden für wohltätige Zwecke 
-34.000 Kronen. Aus der Zusammenstellung der Bilanz im 
Jahre 1905 und 1906 ergibt sich, daß die Zunahme im Jahre 1906 


Gck 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



8 


betrug: An Einlagen 384.Ö00, im Reservefond 66.000, an Spar*- 
einlagen 3 Millionen, an Immobilien 426.000, an Gewinn 21.000, 
an Spenden 6.000, an Betriebskapital 5 Millionen Kronen^ 
Mit Ende 1907 waren in den beiden Vereinigungen, für Kredit 
und Revision, bereits 180 Vereine vertreten. Davon in Lem¬ 
berg 13, in den Kreisstädten 23, in den Bezirksstädten 38, in 
den kleineren Städtchen 38, in den Dörfern 68. Nach den 
Handelsgerichtskreisen waren im Kreis Berezany 15, Zolo- 
tschiw 16, Kolomea 6, Lemberg 28, Neu-Sandez 1, Pere- 
inyschl 17, Sambir 8, Stanislau 28, Stryj 13, Sanok 1, 
Tarnopol 47. Im ganzen 142 Kredit-, 31 andere und 7 Vereine 
mit gemischtem Charakter. Unter den letzten 38 Vereinen- 
waren 12 für Handel, 8 für Gewerbe, 7 landwirtschaftliche, 
3 für Milchproduktion, 8 gemischten Charakters. Außerdem 
gab es noch viele ruthenische Genossenschaften, die nicht 
registriert waren oder den Landesverbänden nicht angehörten. 
Gar keine wirtschaftliche Organisation gibt es bis jetzt in 
folgenden ruthenischen oder polnisch-ruthenischen Bezirken: 
Bohorodtschany, Bereziw, Horlyci, Hrybiw, Dobromyl, Dolyna,. 
Husiatyn, Kossiw, Korosno, Lisko, Petschenischyn, Rudky, 
Towmatsch, Turka und Jaslo. 

Der binnen einer verhältnismäßig sehr kurzen Zeit voll¬ 
zogene Aufschwung des ruthenischen Volkes in Galizien aut 
wirtschaftlichem Gebiete beweist, daß dieses Volk einen 
Prozeß intensivster Entwickelung durchmacht. Die bisherigen 
Erfolge beweisen aber auch, daß keine Verpönung desselben 
imstande sein wird, dieses Volk zu Falle zu bringen, sie wird 
vielmehr dasselbe noch zum Kampfe um den ihm zu seiner 
Entwickelung nötigen Raum aufmuntern. 



Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



9 


Zur Karte des ukrainischen Wohngebietes. 

Von Dr. Stefan Tomaschiwskyj. 

Die Karte der Ausbreitung des ukrainischen Volkes, aus- 

* 

geführt von Herrn Aitoff, welche den Lesern der „Ukrainischen 
Rundschau“ zur Ansicht vorliegt, erheischt einige Erläuterungen. 
Vor allem muß konstatiert werden, daß die Ausfertigung einer 
guten ethnographischen Karte der Ukraine infolge mangelnden 
sicheren statistischen Materials auf ungemein große Schwierig¬ 
keiten stößt. Die statistischen Daten über die russische Ukraine 
wurden der letzten allgemeinen Volkszählung in Rußland vom 
Jahre 1897 entnommen, welcher jedoch große Fehler anhaften: 
1. Viele Ukrainer (Kleinrussen) wurden dabei in die Rubrik 
„Russen“ (Großrussen), hauptsächlich in den Städten, einge¬ 
tragen. 2. Die Karte weist keine Daten von politischen Ge¬ 
meinden, sondern summarisch von ganzen Bezirken auf. 

Der erstere Fehler ist allgemein bekannt. Dessen Ur¬ 
sache ist entweder Ignoranz oder Tendenziosität. Darüber 
haben oft Fachleute unter Aufrollung ernster Argumente ge¬ 
schrieben.*) Bei der Abschätzung von statistischen Daten der 
russischen Volkszählung von 1897 könnte man manches auf 
Rechnung der Ignoranz der ausführenden Organe, aber auch 
der Bevölkerung (es war dies nämlich die erste Volkszählung 
in der Muttersprache in Rußland) setzen, während in Oester¬ 
reich-Ungarn dieSchuld hauptsächlich der krassen Tendenziosität, 
die Anzahl der Ukrainer möglichst zu verringern, zuzuschreiben 
ist. Angesichts dessen könnte man Herrn Aitoff vielleicht 
daraus einen Vorwurf machen, daß er zwischen den Territorien 
mit der ukrainischen Bevölkerung von 90 -100 Prozent und 
weniger unterschied. Besser wäre es, nur eine Grenze bei 
50 Prozent oder sei es bei nur 75 Prozent zu machen. Genau 

*) Auch in der „Ruthenischen Revue“ 1904, 1; 1905, 1, 6, 10. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





10 


zu erläutern, an welchen Stellen und inwieferne der wirk¬ 
liche Stand sich von den statistischen Daten unterscheidet, 
hieße ein großes Studium schreiben. 

Nicht weniger wichtig ist auch der zweite Fehler der 
russischen Statistik. Derselbe macht eine genaue Bezeichnung 
des ukrainischen Territoriums fast unmöglich. Infolgedessen 
fallen die ethnographischen Grenzen der Ukrainer mit denen 
der politischen Kreise zusammen (was in Wirklichkeit fast nie 
der Fall ist), und die Anzahl der ukrainischen Bevölkerung 
nimmt prozentuell ab, trotzdem sie in einem gewissen Teil des 
Bezirkes ein geschlossenes Territorium einnimmt. Infolgedessen 
muß es auch auf der Karte so dargestellt werden, als ob die 
Ukrainer in der Minderheit unter den Fremden verstreut wären 
und nirgends eine absolute Mehrheit besitzen möchten. Aus 
diesem Grunde müssen wir, wenn wir, sei es auch nur an¬ 
nähernd, die Länder bezeichnen wollen, wo die Ukrainer die 
absolute Mehrheit der Bevölkerung bilden, der Karte des 
Herrn Aitoff einige Korrekturen hinzufügen. 

Wenn man im Gouvernement Cherson die Stadt Odessa 
mit ihrer sehr kosmopolitischen Einwohnerschaft, sowie einige 
deutsche und rumänische Ortschaften am unteren Dnister in 
Abrechnung bringt, so entfallen auf den ganzen Odessaer Be¬ 
zirk nicht 10—30 Prozent Ukrainer, sondern 50—70 Prozent. 
Ebenso verhält es sich auch in dem Bezirke Tiraspol, nur ist 
dessen westlicher Teil rumänisch, der Rest ukrainisch. Aehn- 
lich kann auch in Beßarabien das geschlossene ukrainische 
Territorium von dem rumänischen und deutschen, hauptsäch¬ 
lich im nördlichen und südlichen Teile des Landes abgegrenzt 
werden. So beginnt das ukrainische Hauptterritorium bei der 
Mündung der Donau neben der Stadt Kilia, läuft parallel mit 
dem Meeresufer bis zum nördlichen Ufer des Dnisterlimans, 
geht auf das linke Ufer des Dnister über, lenkt ein gegen 
Norden an der Grenze des Gouvernements Podolien, geht den 
Dnister aufwärts, biegt unter Soroky ein gegen Westen bis 
zum Prutstrom wobei noch eine bedeutende Anzahl ukra- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



11 


inische Inseln unter den Rumänen bei Seite gelassen werden. 
Behufs Einheitlichkeit mit der russischen Ukraine bediente 
sich Aitoff derselben Methode bei Bestimmung der Grenze 
Oesterreich - Ungarns, indem er hier die Ruthenen nach den 
ganzen Komitaten auswies, wodurch das geschlossene ruthenisch- 
ungarische Territorium bedeutende Aenderungen erlitt und 
zwar an einer Stelle bei der Biegung der Theiß unbedeutend 
vergrößert, dagegen an anderer Stelle (von Ungarn bis über 
den Poprad) um einen beträchtlichen Streifen verkleinert wurde. 
Aehnlich ging er auch auf der galizischen Seite vor. Dagegen 
könnte man die schraffierten Stellen zu beiden Seiten der 
Karpathen verkleinern. Auch ist die ethnographische Grenze 
in der Bukowina nicht ganz gut ausgefallen: Norden, Westen 
und Osten — ruthenisch, der Süden und das Innere des 
Landes rumänisch. 

Nördlich von Galizien macht das kompakte ukrainische 
Territorium einen regulären Boden von der Stelle aus, wo 
die österreichisch-russische Grenze der Sanfluß bildet, bis zum 
Knie des Flusses Wepr (unterhalb von Lublin), von da ab 
nordwärts bis zum Flusse Buh (bei der Mündung des Nuretz); 
hier überschreitet es denselben und läuft bis zum oberen 
Teile der Narwa, von da ab läuft es gegen Südwesten längs 
der Jasiolda und gegen Osten die Prypet entlang bis zum 
Dnipro, wobei unbedeutende Windungen links und rechts von 
der Prypet entstehen. 

Weiter dehnt sich das ukrainische Territorium längs 
des Dnipro bis zur Mündung des Flusses Soscha, von da 
läuft es in Windungen bis zum Mhlyn, von da südlich -längs 
der Grenze der Gouvernements Tschernihow und Orel. Der 
nördliche Teil des Tschernihower Gouvernements ist der 
Statistik zufolge als nicht ukrainisch (weiß-und großrussisch) 
bezeichnet, in Wirklichkeit aber wohnen die Ukrainer viel 
weiter nordwärts, und zwar nicht insei- oder kolonieenartig, 
sondern in kompakter Masse. Von der Stelle an, wo sich die 
Gouvernements Tschernihow, Orel und Kursk berühren. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





12 


nimmt die Grenze des ukrainischen Hauptterritoriums in einer 
Bogenschleife diesen Teil des Kursker Gouvernements ein, der 
an das Tschernihower, Poltawaer, Charkower und Woronescher 
angrenzt; von den Quellen des Donetz und der Stadt Oskol 
läuft die Grenze ostwärts bis zum Don, in der Mitte zwischen 
Ostrohosk und Woronesch; am linken Ufer des Don biegt 
sie ein wenig gegen Süden, dagegen gelangt sie, weiter ostwärts 
sich wendend, bis zum Choper, von wo aus sie direkt gegen 
Süden bis zum Donetz gelangt, um dann westlich das linke 
Ufer des Don entlang unterhalb Rostows den Fluß zu 
überschreiten, hier aber direkt südlich zum Inneren der * 
Kuban, und von da an südwestlich senkrecht zur Uferlinie 
des Schwarzen Meeres abzufallen. In der Krim dehnt sich 
das geschlossene ukrainische Gebiet nur längs der nördlichen 
Ufer des Meeres aus, obwohl auch viele Ukrainer das Innere 
der Halbinsel bewohnen. 

Außerhalb dieses kompakten ukrainischen Haupt¬ 
territoriums sind noch viele Ukrainer hauptsächlich im Osten 
ansäßig, nur daß sie bis jetzt noch nicht territoriell mit dem 
Stammland verbunden sind. Die größte Anzahl wohnt neben 
Zarycyn an .der Wolga und im Stauropoler Gouvernement am 
Fuße des Kaukasus. In einigen Teilen dieses Gouvernements 
bilden die Ukrainer die absolute Mehrheit. Im allgemeinen 
geht die ukrainische Kolonisation jetzt noch immer ständig 
nach Osten zum Don, zur Wolga, zum Kaspischen Meer und 
zum Kaukasus. Es ist zu erhoffen, daß nach einer gewissen 
Zeit dieses ganze Gebiet ukrainisch werden wird. Ebenso 
zeigt das ganze Uferland des Schwarzen Meeres von der 
Donau bis Batum die Tendenz, ukrainischen Charakter an¬ 
zunehmen. Das Ukrainische wurde für die vorkaukasischen 
Stämme zur internationalen Umgangssprache. 

Vom national-politischen Gesichtspunkte aus muß als 
das ukrainische Territorium augenscheinlich nur jenes Ge¬ 
biet betrachtet werden, welches geschlossen, ununterbrochen 
und massenhaft von der ukrainischen Bevölkerung bewohnt 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



13 


ist. Dieses Territorium erstreckt sich vom 19. bis 39. der 
östlichen Längegrade (von Paris) und 44. bis 53. der nördlichen- 
Breitegrade. Die Oberfläche dieses ganzen Gebietes könnte 
man annähernd auf 750.000 Quadratkilometer schätzen. Sie 
umfaßt: das ganze mittlere und obere Dniprobecken, das 
ganze Bohbecken, fast das ganze des Dnister, das obere und 
und mittlere des San, das obere und mittlere des Buh, das 
ganze Donetzbecken, manche Teile des mittleren und des unteren 
Don, endlich das untere und mittlere der Kuban, also, wie 
wir sehen, fast das ganze Becken des Schwarzen Meeres mit 
den Ausläufern ins Becken des Baltischen Meeres. Aus diesem 
Grunde bildet die Ukraine ein geographisches Ganzes. Auf 
diesem ganzen Gebiete wohnen gegen 40 Millionen, wovon 
die Ukrainer mehr als 80 Prozent, also 30 bis 32 Millionen 
ausmachen. Der übrige Teil der Bevölkerung ist in kleine 
national unterschiedliche Kolonien zersplittert, welche nirgends 
größere geschlossene Inseln bilden. Oestlich vom Dnipro 
entfällt der größte Prozentsatz fremder Elemente auf Juden 
(10 bis 15 Prozent), im Osten auf Russen, im Süden aber 
sind die Minderheiten sehr verschiedenartig (Tartaren, Rumänen, 
Deutsche, Bulgaren, Russen, Griechen und andere). Diese 
Mannigfaltigkeit von verschiedensten nationalen Minderheiten 
bringt es mit sich, daß sie alle (auch ohne Ausschluß der 
Juden) im zukünftigen Leben des ukrainischen Volkes keine 
ernstere politische Rolle spielen können. 

Jetzt können wir nur die Erscheinung beobachten: Die 
Städte am linken Ufer des Dnipro sind größtenteils jüdisch, 
hauptsächlich infolge des beschränkten Ansiedlungsrechtes 
in den Dörfern; am linken Ufer aber haben die größeren 
Städte äußerlich russischen Charakter, das Resultat des 
jetzigen Staatssystems (Bureaukratie, Militär, Schulen u. s. w.) 
Dagegen haben die kleineren Städte ukrainische Physiognomie 
bewahrt. Uebrigens ist die Bevölkerung in den größeren 
Städten im Grunde genommen ukrainisch, nur aus bekannten 
Gründen russifiziert. In dem Augenblicke, wo das ukrainische 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY- 




14 


Volk die Gleichberechtigung für seine Sprache in der Volks¬ 
schule erlangt, wird der Prozeß der Wiederükrainisierung der 
ukrainischen Städte beginnen, hauptsächlich durch Hinzu¬ 
strömung der ländlichen Bevölkerung. Was die Juden in der 
l/kraine rechts des Dnipro anbelangt, wird mit dem Moment, 
wo sie die bürgerliche Gleichberechtigung und somit die Mög¬ 
lichkeit erlangen, sich jenseits des Dnipro und im Zentral-Rußland 
anzusiedeln, die Zahl der jüdischen Bevölkerung in demselben 
langsam den ukrainischen Elementen weichen. Schließlich 
betonen wir, daß ein so großes Gebiet wie das ukrainische 
eine in Europa nicht zu findende Spracheinheitlichkeit auf¬ 
weist. Natürlich gibt es auch unter den Ukrainern Dialekte, 
doch sind diese, was die Lexik, Phonetik und die Formen 
der Sprache anbelangt, einander so verwandt, wie in keiner 
anderen lebenden (nicht literarischen) Sprache. Demnach ist 
das ukrainische Gebiet nicht nur eine geographische, sondern 
auch eine sprachliche kulturelle Einheit. Dasselbe kann auch 
vom kulturell-wirtschaftlichen und vom allgemein ökonomischen 
Charakter des Landes (auf den schwarzerdigen Gebieten sehr 
fruchtbarer Boden — einer der besten, teilweise der beste 
in Europa) behauptet werden. Was die Mineralreichtünier 
anbelangt, so beschränken sie sich auf verhältnismäßig kleine 
Gebiete, immerhin mangelt es hier an den notwendigsten 
Produkten in keiner Hinsicht (Kohle — Dnipro und Donetz, 
dortselbst Eisen und Steinkohle, Petroleum an der Kuban, 
in Wolhynien Eisen, in Galizien Wachs, Petroleum, Salz, 
Kohle etc). Wenn wir noch den geographischen Hintergrund 
des Landes, das Schwarze Meer, hinzudenken, so ersehen 
wir daraus, daß das ukrainische Territorium alle Bedingungen 
für das selbständige wirtschaftliche Leben besitzt. Selbst¬ 
redend setzt dessen Entwicklung entsprechende politische 
Bedingungen voraus. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



15 


Abgeordneter Jan Zamorski als Geschichts¬ 
forscher. 

Von Dr. M. Korduba. 

ln keine Wissenschaft — die Medizin vielleicht aus¬ 
genommen — wird von unkompetenter und unberufener Seite 
so viel hineingepfuscht, wie in die Geschichte. So mancher, 
dem von der Schulbank her nur einige Daten und Namen im 
Gedächtnisse haften geblieben, fühlt sich berechtigt, in 
Fragen und Erörterungen ein autoritatives Wort zu ergreifen, 
obwohl sein persönliches Interesse ihm Schweigen gebieten 
sollte. Doch solche Ignoranten, welche die Geschichte bona 
fide fälschen, gehören zu der weniger gefährlichen Sorte. 
Ihre Unwissenheit verrät sich sofort, kann übrigens ganz 
leicht festgestellt und das auf ihrer Grundlage aufgestellte 
Gebäude mühelos umgeworfen werden. Viel gefährlicher sind 
die Geschichtsfälscher mala fide, die oft selbst Historiker 
sind und ihre Geschichtsweisheit zu verschiedenen politischen 
Zwecken mißbrauchen. Im vorigen Jahre hat die „Oester- 
reichische Rundschau“ einen ausgezeichneten Artikel u. T. 
„Die ungarische Geschichtsfälschung“ gebracht, wo an der 
Hand eines sorgfältig gesammelten Materials die Auswüchse 
einer solchen tendenziösen Entstellung von Tatsachen vor¬ 
geführt wurden. Ein ganz analoger Aufsatz ließe sich über 
die polnische Geschichtsfälschung schreiben, wozu ja die 
Behandlung der Geschichte in den polnischen Schul- und 
Lehrbüchern förmlich herausfordert. Doch das für eine spätere 
Zeit reservierend, wollen wir einstweilen einem in der 3. dies¬ 
jährigen Nummer der „Polnischen Post“ veröffentlichten Auf¬ 
sätze einige Zeilen widmen. 

Der Aufsatz trägt den Titel: „Fälschungen im politischen 
Dienst“ und stammt aus der Feder des Reichsratsabgeordneten 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA-UNtVERSITY 





16 


Jan Zamorski. Wenn der Verfasser diesen Titel auf seine 
eigenen Ausführungen bezogen hat, so hätten wir nur zu 
bemerken, daß er gut getan hätte, sich zuvor ein Schulbuch 
der polnischen Geschichte anzuschauen und seine Kenntnisse 
auf diesem Gebiete zu ergänzen. Denn so wie der Aufsatz 
jetzt vorliegt, müssen wir ihn in die Kategorie der weniger 
gefährlichen Fälschungen einrechnen. Er enthält eine Reihe 
von solch groben Verstößen gegen die Elemente der vater¬ 
ländischen Geschichte, daß ein durchschnittlicher galizischer 
Sextaner — in dieser Klasse beginnt man dort den Unterricht 
in der polnischen Geschichte — nie wagen würde, seinen 
Namen unter diesen Artikel zu setzen. 

Abgeordneter Zamorski versucht nichts anderes zu 
beweisen, als daß Ostgalizien schon von altersherein polnisches,, 
von den Polen bewohntes Land sei. Um sich dabei den Schein 
von Unparteilichkeit zu geben, beruft sich der Verfasser auf 
den „ältesten ruthenischen Historiker“, den Mönch Nestor,, 
der „über dieses Land (Ostgalizien) mit Bezug auf die Jahre 966, 
1018, 1025 und so weiter schreibt und es ein polnisches Land 
nennt“. 

Zuerst sei festgestellt, daß die sogenannte Chronik Nestors 
bei dem Jahre 966 weder von Ostgalizien noch von ) 
auch nur eine Silbe erwähnt. Die Anführung diese Datums 
ist nur einer der chronologischen Fehlgriffe, an denen der 
Artikel des Herrn Abgeordneten trotz seiner Kürze so reich 
ist. Offenbar ist hier die Notiz der Chronik bei dem Jahre 981 
gemeint, auf welche sich die polnische Journalistik schon 
einigemale berufen hat. Ob mit Recht, werden wir gleich sehen. 

Diese Notiz lautet in wörtlicher Uebersetzung: „Im 
Jahre 981 zog Wladimir (Großfürst von Kiew) zu den Lachen 
und nahm ihre Städte Peremyschl, Tscherven und andere 
Burgen, die noch bis zum heutigen Tage unter Rusj sind“. 

Wenn wir diese Nachricht des Chronisten auch ohne 
jeden Vorbehalt annehmen, könnte man aus ihr nur folgern, 
daß diese Städte, nach der Anschauung des Chronisten i m 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



17 


politischen Sinne polnisch waren. Daß sie aber im 
nationalen (ethnographischen) Sinne ruthenisch waren, 
das wußte der Chronist ganz gut, wie es aus anderen Stellen 
seines Werkes ersichtlich ist. 

Dies unter Voraussetzung einer kritiklosen Annahme 
dieser Nachricht. Ein jeder aber, der sich mit der Geschichts¬ 
forschung, wenn auch nur wenig, befaßt hat, weiß, daß dem 
Historiker nicht gestattet ist, den Quellen ohneweiteres Glauben 
zu schenken, sondern, daß er an denselben eine Kritik üben muß. 

Man muß sich vor allem vergegenwärtigen, daß zu dieser 
Zeit das polnische Reich nur ein kleines Territorium an der 
Warte und Netze umfaßte und daß zu diesem Reiche (unter 
Mieczyslaw I.) nicht einmal Westgalizien gehörte. Der böhmische 
Chronist Kosmas von Prag sagt ausdrücklich, daß West¬ 
galizien noch in den letzten Dezennien des 10. Jahrhunderts 
zu dem tschechischen Reiche gehörte. Das wird auch 
durch das Zeugnis eines Zeitgenossen, des Geographen Ibrahim 
Ibu Jakub bestätigt, welcher Krakau zu den böhmischen 
Städten rechnet und den Fürsten Mieczyslaw „Herrscher des 
Nordens“, also des Warte- und Netze-Gebietes nennt. 

Ohne aber Westgalizien unterworfen zu haben, konnte 
Polen unmöglich ostgalizische Städte besitzen, da ihm mit 
diesen jede Verbindung fehlte. Diese Ansicht vertreten auch 
die hervorragendsten polnischen Historiker, und hätte der 
Abgeordnete Zamorski im ausgezeichneten Handbuche der 
polnischen Geschichte von seinem parlamentarischen Genossen 
Professor Bobrzynski (Dzieje Polski Bd. I., p. 99) nachgesehen, 
was dieser über den territorialen Umfang Polens unter 
Mieczyslaw I. sagt, hätte er es sich vielleicht überlegt, auf 
Grund der Notiz eines Chronisten aus dem Anfänge des 
XII. Jahrhunderts so halsbrecherische Ansichten über die 
territorialen und ethnographischen Verhältnisse im 12. Jahr¬ 
hundert öffentlich auszusprechen. 

Nun einiges über Nestor. Herr Zamorski hat auch etwas 
über die Ergebnisse der Kritik von Quellen zur ruthenischen 

2 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



18 


Geschichte gehört und mit naiver Verschmitztheit will er allen 
eventuellen Einwendungen Vorbeugen. „Da nun Nestor jenen 
Herren unbequem ist — sagt er in seinem Aufsätze — haben 
die Ruthencn die Hypothese aufgestellt, daß der unter diesem 
Namen bekannte Chronist ein großer Ignorant war . . . 
Nun können wir den verehrten Herrn Abgeordneten beruhigen, 
daß es keinem Ruthenen je im Traume eingefallen ist, an 
der Existenz Nestors zu zweifeln, so wenig man etwa an der 
Existenz des Herrn Zamorski zweifeln könnte. Der Mönch 
Nestor lebte und war Verfasser zweier wichtiger historischer 
Werke: über den hl. Theodosius und über Boris und Hlib 
nicht aber der Chronik, die unter seinem Namen bekannt ist, 
wahrscheinlich aber dem Mönche Silvester gehört. Auch 
bitten wir den Herrn Abgeordneten, gütigst zur Kenntnis 
nehmen zu wollen, daß diese Chronik nicht im 13. Jahrhundert 
— wie er es siebenmal in seinem Aufsatze betont — sondern 
am Ende des 11. oder in den ersten Jahren des 12. Jahr¬ 
hunderts abgefaßt wurde, was er doch im Interesse seiner 
eigenen Beweisführung wissen sollte. 

Wie aber der Chronist auf den Gedanken kommen konnte, 
Wladimir die ostgalizischen Städte von dem polnischen Reiche 
erobern zu lassen, läßt sich eben aus den Zuständen, die Ende 
des XI. Jahrhunderts dort herrschten, leicht erklären. Damals 
war Polen schon im Besitze Westgaliziens und hiemit unmittel¬ 
barer Nachbar der ruthenischen Fürsten, die über das heutige 
Ostgalizien herrschten. Der Chronist, der irgendwo die Notiz von 
der Eroberung von Peremyschl, Tscherven und anderer Burgen 
durch den Kiewer Fürsten Wladimir im Jahre 981 vorgefunden 
hat und nicht wußte, wem diese Städte früher gehörten, 
versetzte die Zustände seiner Zeit ins X. Jahrhundert und 
glaubte, Wladimir müsse sie von den Polen erobert haben. 

Diese Vermutung des Chronisten berechtigt aber doch 
nicht zur Annahme, daß „die aufgeklärtesten Ruthenen des 
XIII. (!) Jahrhundertes überzeugt waren, daß dieses Land (Ost¬ 
galizien) im X. Jahrhundert polnisch war“ ebensowenig, 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



19 


wie die „historischen“ Ausführungen des Herrn Abgeordneten 
Zamorski zur Annahme berechtigen können, daß die aufge¬ 
klärtesten Polen im XX. Jahrhundert auch keinen Begriff von 
der historischen Entwicklung ihres Landes haben. 

Bei den Jahren 1018, 1025 und anderen erzählt der 
Chronist den Verlauf der Kriege zwischen Polen und 
den Kiewer Fürsten, ohne irgendwie sich über die natio¬ 
nalen (ethnographischen) Verhältnisse Ostgaliziens zu 
äußern. 

Doch die krassesten Behauptungen hat der Verfasser 
für den Schluß seines Artikels aufgespart. So hätten seiner 
Ansicht nach die Ruthenen das heutige Ostgalizien erst am 
Ende des XI. Jahrhundertes erobert. Anfangs haben wir an 
einen einfachen Lapsus calami gedacht — doch einige Zeilen 
weiter spricht der Herr Abgeordnete wiederum von einer 
hundertjährigen Zugehörigkeit dieses Landes zu Polen vor 
dem Ende des XI. Jahrhundertes. Dagegen zu polemisieren 
halten wir für ganz überflüssig, da sich doch jeder, auch 
Herr Zamorski, in einem ganz beliebigen Handbuche der 
polnischen Geschichte von dem Gegenteile überzeugen kann. 
Köstlich ist auch die Ansicht, daß der polnische König Kasimir 
Ostgalizien vom Tartarenjoche befreit habe. Daß dieses 
Land vor dem Jahre 1340 ein selbständiges nationales 
Fürstentum gebildet hat, ist auch dem Herrn Abgeordneten 
nicht unbekannt. Wenn man von einer Abhängigkeit des 
Fürstentumes Halitsch von den Tartaren überhaupt reden kann, 
so war diese gewiß nicht größer als die Abhängigkeit des 
heutigen Bulgarien von der Türkei. Ob man, wenn etwa 
Rußland heute dieses Fürstentum überfallen und annektieren 
würde, von einer Befreiung der Bulgaren vom türkischen 
Joche sprechen könnte — diese Frage zu beantworten über¬ 
lassen wir den Lesern. Mit einer falschen Datierung der 
Kosakenerhebung unter Chmelnytzkyi, wie auch mit einigen 
daran geknüpften Elokubrationen, über die jede Kuh 
lachen müßte, schließt Herr Zamorski seinen Aufsatz und 

2 * 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



20 


droht den unschuldigen Lesern, noch einige Aufsätze dieser 
Art zu liefern *) 

Auch wir schließen nun, und zwar mit den Worten, die 
der Herr Abgeordnete als Motto für seinen Artikel gewählt 
hat: Calomniez, il en restera toujours quelque chose — doch 
zuvor machen Sie sich vertrauter mit dem Gegenstände, von 
dem Sie schreiben wollen, sonst il n’en restera rien. 


Das steinerne Kreuz. 

Von Wassyl Stefanyk. 

Aus dem Ukrainischen übersetzt von J. Rosdolskyj. 

I. 

Solange Iwan Djiduch in der Erinnerung der Grundwirte 
des Dorfes lebte, hatte er stets nur ein Pferd und ein Wägelchen 
mit einer eichenen Deichsel gehabt. Das Pferd spannte er 
linker Hand, sich selbst zur rechten Seite vor den Wagen.; 
das Pferd hatte ein ledernes Laufseil und einen Deichselriemen, 
sich selbst legte Iwan ein kleines Hanfseil an. Einen Deichsel¬ 
riemen hatte er nicht nötig, da er mit der Linken sich dem 
Wagen wohl besser entgegenstemmte als mit einem Riemen. 

Wenn sie so zusammen Garben vom Felde oder Dünger 
ins Feld schleppten, schwollen dem Pferde sowohl wie Iwan 
gleicherweise die Adern an, beiden zugleich spannten sich die 
Seile straff wie Saiten, wenn sie bergauf fuhren und schleiften 
den Boden, wenn’s bergab ging. In die Höhe empor klomm 
das Pferd wie auf Glatteis, dem Iwan aber schwoll die Stirn¬ 
ader faustdick an, gerade als hätte ihm jemand mit einem 
Knüttel eins in die Stirn versetzt. Wenn sie aber den Abhang 
hinunterkollerten, sah das Pferd aus, als wäre es von Iwan 

*) Abgeordneter Zamorski hat auch inzwischen seine Drohung aus¬ 
geführt, indem er einen weiteren Artikel in der „Polnischen Post“ ver¬ 
öffentlicht, in welchem er sich mit der Statistik Galiziens beschäftigt und 
diese ebenso wie die Geschichte fälscht. Wir kommen darauf übrigens 
noch zu sprechen. Anmerkung der Redaktion. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



21 


Digitized by 


für irgend ein schweres Vergehen am Deichselriemen aufge¬ 
hängt worden, um Iwans linke Hand aber schlang sich ein 
Netz von blauen Adern, einer Kette von blauem Stahl gleich. 

So manches Mal fuhr Iwan frühmorgens noch vor Sonnen¬ 
aufgang ins Feld, den schmalen Feldweg entlang. Er hatte 
sich nicht mit dem Seil vorgespannt, sondern ging zur Rechten 
und hielt die Deichsel gleichsam unterm Arm. Beide, das Pferd 
und sein Genosse schritten kräftig aus, denn sie hatten sich 
-ausgeruht über Nacht. Führte der Weg einen Abhang hinab, 
so liefen sie. Man mußte ja auch dem Pferd seinen Pferde¬ 
willen tun. Sie trabten ins Tal hinab und ließen die Spuren 
•der Räder, der Hufe und Iwans breiter Fersen hinter sich zu¬ 
rück. Die Kräuter und Gräser, die am Felde wuchsen, schaukelten 
sich und schwankten nach allen Seiten dem Wagen nach und 
überschütteten die Spuren mit Tautropfen. Zuweilen aber, 
mitten im stärksten Lauf, gerade in der Mitte des Abhangs, 
begann Iwan an einem Fuße zu hinken und stemmte das 
Pferd zurück. Dann ließ er sich wohl am Wagen nieder, nahm 
den Fuß in die Hände und wusch ihn mit Speichel rein, um 
-die Stelle herauszufinden, wo die Distel hineingedrungen war. 

„Mit einem Karst abschaben müßt’ man den vermaledeiten 
Fuß, nicht mit Speichel waschen“, sprach Iwan mit Ingrimm. 

„Väterchen Iwan, Ihr solltet ihn mit der Peitsche hauen, 
den Gaul rechter Haud, er soll laufen, wenn er Hafer zu 
fressen kriegt“, so höhnte wohl ein Nachbar, der von seinem 
Felde aus Iwans Mißgeschick wahrgenommen. 

Aber Iwan war an solche Spaßvögel längst gewöhnt, so 
nahm eFs denn auch nicht übel und mühte sich ruhig weiter 
mit seiner Distel. Und wenn er sie doch nicht herausziehen 
konnte, dann tri£b er sie mit der Faust noch tiefer in den 
Fuß hinein und sprach, sich aufrichtend: 

„Nur unbesorgt, wirst dich ausfaulen und von selbst 
herausfallen, ich hab’ keine Zeit nicht, mit dir zärtlich zu 
tun 

Im Dorfe hieß man Iwan auch wohl den „Zerbrochenen“. 
Er hatte einen Hüftenfehler, denn er ging stets gebückt ein¬ 
her, als zögen zwei eiserne Haken seinen Rumpf zu den 
Füßen herunter. Ein Luftzug hatte ihn gelähmt. - 

Vom Militär nach Hause zurückgekehrt, hatte Iwan weder 
Vater noch Mutter vorgefunden, sondern nur eine elende, halb¬ 
verfallene Hütte. Und statt aller Habe hinterließ ihm sein Vater 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSIT7 



22 


ein Stück Hügelland, das am höchsten gelegene und aller¬ 
schlechteste unter allen Dorffeldern. Weiber gruben Sand auf 
diesem Hügel; mit seinen Schluchten und Felsklüften gähnte 
er gegen Himmel empor wie ein scheußliches Ungetüm. 
Niemand pflügte noch säte ihn, kein Grenzrain war darauf zu 
sehen. Iwan allein begann seinen Anteil umzugraben und 
darauf zu säen. Er und sein Gaul, beide führen Dünger bis 
zum Fuße des Hügels herbei, und von dort trug ihn Iwan 
selbst in einem Sacke hinauf. Gar oft erscholl vom Hügel aus 
über die drunten liegenden Gefilde sein lautes Geschrei: 

„Ach, du Unhold, wenn ich dich hinabschmettere, in 
Fäden fliegst du auseinander - wie wiegst du mir so schwer!“ 

Aber er schmiß den Sack wohl nie hinab, denn es war 
schade — ganz sachte ließ er ihn von seinem Rücken auf 
den Boden niedergleiten. Und einmal abends erzählte er seinem 
Weib und seinen Kindern: 

„Die Sonne sengt — sie sengt nicht, sie speit Flammen, 
ich aber klimme auf den Knien mit dem Dünger hügelaufwärts, 
daß die Haut sich mir schuppt. Schweiß sickert mir unter 
jedem Härchen hervor, im Munde ist mir so salzig und bitter 
zugleich. Mit schwerer Not war ich endlich auf dem Hügel 
angelangt. Und da blies nun ein leichter Wind auf mich her, 
so sanft und gelind, daß es einem ordentlich wohl tat. Wie’s 
mich aber nach kaum einer Minute in der Hüftengegend zu 
stechen begann, gleichwie mit glühenden Messern - ich 
meinte, ich müßt’ auf der Stelle vergehen!“ 

Seit jenem Vorfall war’s, daß Iwan immer mit zusammen¬ 
gebogenen Hüften einherging und von den Leuten der „Zer¬ 
brochene“ getauft wurde, » 

Allerdings hatte jener Hügel ihn krummgebogen, er gab 
auch eine recht gute Ernte. Iwan schlug Pfähle und Pflöcke 
hinein, trug feste Rasenstücke hinauf und faßte seinen Anteil 
rundum ein, daß die herbstlichen und die Frühjahrsregengüsse 
den Dünger nicht fortschwemmten und nach den Felsklüften 
trügen. Ein Stück Leben hat er auf jenem Hügel zurück¬ 
gelassen. 

Je älter er wurde, um so schwerer fiel es ihm, dem 
Krüppel, von dem Hügel herabzusteigen. 

„So’n Hundsfott von einem Hügel, der einen kopfüber 
ins Tal hinabstößt!“ 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




- 23 - 

Gar oft, wenn die untergehende Sonne Iwan noch auf 
dem Gipfel des Hügels antraf, trug sie seinen Schatten mit 
dem des Hügels zugleich weithin und breitete ihn über die 
Fluren. Auf diesen lagerte dann Iwans Schatten gleich einem 
Riesen mit krummgebogenen Hüften. Iwan pflegte dann wohl 
mit dem Finger auf seinen Schatten zu weisen, wobei er den 
Hügel ansprach: 

„Da sieh nur, du Unhold, wie du mich zu einem Bogen 
zusammengekrümmt hast! Aber solange mich die Füße tragen, 
mußt du Brot spenden! Wirst dich nicht umsonst am Sonnen¬ 
schein laben und mit Regen tränken!“ 

Die andern Feldstücke, welche Iwan für das beim Militär 
zusammengelegte Geld angekauft hatte, bestellten die Söhne 
mit der Mutter. Iwan mühte sich meist um seinen Hügel. 
Auch das noch war von Iwan im Dorfe bekannt, daß er all¬ 
jährlich nur einmal, zu Ostern, in die Kirche ging und Hühner 
exerzierte. Er hatte sie derart abgerichtet, daß keines sich auf 
den Hof hinauswagen und im Mist herumscharren durfte. 
Hatte eines von ihnen sich erfrecht, nur einmal mit dem Fuße 
zu scharren, so kam es unfehlbar, von einem Spaten oder 
Knüttel getroffen, elendiglich um. Mochte auch sein Weib der 
Länge nach sich vor ihn hinstrecken, es half nichts. 

Noch eins war dem Iwan eigen; daß er nie am Tisch 
aß, sondern immer auf der Bank. 

„Ich war Hausknecht, habe dann meine zehn Jahre beim 
Militär abgedient, aber einen Tisch hab’ ich nicht gekannt, 
und am Tische mundet mir einmal Essen und Trinken nicht.“ 

So beschaffen war Iwan, in seinem Wesen wie in seinem 
Tun gleich merkwürdig. 

II. 

Iwans Hütte war voll Gäste, Wirte und Wirtinnen. Alle 
seine Habe war verkauft. Die Söhne mit der Mutter hatten 
den Entschluß gefaßt, nach Kanada zu ziehen, und der Alte 
hatte endlich nachgeben müssen. 

Das ganze Dorf hatte Iwan zusammengeladen. 

Nun stand er vor seinen Gästen, hielt eine Portion 
Branntwein in der rechten und sah wie versteinert d’rein, er 
war nicht imstande, ein Wort auszusprechen. 

„Schönen Dank, ihr Wirte und Wirtinnen, daß ihr mich 
für einen Wirt gehabt und mein Weib für eine Wirtin ....“ 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 




24 


Sprach’s nicht zu Ende und trank niemand zu, sondern 
stierte stumpfsinnig vor sich hin und schüttelte den Kopf, als 
spräche er ein Gebet und nickte zu jedem Worte desselben 
mit dem Kopfe. 

Wenn zuweilen eine Woge tief am Grunde einen mächtigen 
Felsblock aus dem Wasser hervorwälzt und ans Ufer hinlegt, 
so steht dieser Stein schwer und seelenlos am Ufer. Die Sonne 
schält die Kruste alten Schlammes von ihm ab und malt auf 
seine Oberfläche kleine, in Phosphorglanz schillernde Sterne. 
Der Stein flimmert mit den toten, von der auf- und unter¬ 
gehenden Sonne entliehenen Farben, und blickt mit seinen 
steinernen Augen auf das lebendige Wasser und trauert still, 
daß die Wucht des Wassers ihn nicht mehr drückt, wie sie 
ihn seit jeher gedrückt. Er blickt vom Ufer nach dem Wasser 
hin, wie nach verlorenem Glück, 

Wie dieser Stein das Wasser, so sah Iwan die Leute au. 
Er schüttelte sein graues Haar wie eine aus Stahlfäden ge¬ 
schmiedete Mähne und fuhr fort zu sprechen: 

„Ich danke euch schön, Gott gebe euch, was immer ihr 
von ihm begehrt. Auf Euer Wohl, Väterchen Mychajlo!“ 

Er reichte Mychajlo die Portion und sie küßten einander 
die Hände. 

„Gevatter Iwan, Gott möge Euch noch ein langes Leben be¬ 
scheren hier auf Erden und in seiner Barmherzigkeit Euch an Ort 
und Stelle geleiten und mit seiner Gnade Euch beistehen, daß Ihr 
wieder ein Grundwirt seid!“ 

„Wenn’s Gott verstattet... Ihr Wirte, ich bitte euch 
schön, so langt doch zu ... Ich dachte, ihr würdet euch so um 
den Tisch herum setzen, wenn ihr zu meines Sohnes Hoch¬ 
zeit kämt aber es geschah nun anders. Es ist nun schon 
dazu gekommen heutzutage, daß, was unsere Väter und Gro߬ 
väter nicht gekannt, wir es nun kennen lernen müssen. Gottes 
Wille geschehe! Doch laßt’s euch schmecken, ihr Wirte, und 
vergebt wenn noch was zu wünschen bleibt!“ 

Er nahm eine Portion Branntwein und trat zu den 
Weibern heran, die am andern Ende des Tisches, gegen das. 
Bett zu, saßen. 

„Tymoficha, Gevatterin, Euch will ich zutrinken. Ich blick’ 
Euch an und, wie man wohl sagt, meine jungen Tage kommen 
mir ins Gedächnis zurück. 0, wie lang ist’s schon her! Ihr 
wart aber ein nettes Dirndl, wert, an den Mann zu kommen! 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



25 


Digitized by 


Manch ein Nächtlein hab’ ich vertändelt, Euch zuliebe 
im Tanze ginget ihr wie eine Weberweife, so gerad und schön! 
Ja, wo sind sie nur, Gevatterin, diese unsere jungen Tage! 
Lang lebt mir und vergebt, daß ich in den alten Tagen des 
Tanzes gedacht hab’. Ich bitt’ schön .. 

Er warf einen Blick auf seine Alte, die unter den Weibern 
weinte, und holte ein Tuch aus dem Busen hervor. 

„Da nimm nur das Tuch, Alte, und wisch dich damit 
schön ab, daß ich keine Tränen hier sehe. Auf die Gäste sollst 
du Obacht geben, zum Weinen hast du noch immer Zeit 
genug — wirst dich schon noch satt weinen, daß dir die 
Augen herausrinnen werden.“ 

Kopfschüttelnd trat er auf die Wirte zu. 

„Ich hätt’ wohl was zu sagen, doch ich will lieber 
schweigen, denn ich scheue die Heiligenbilder in der Stube 
und euch alle, ihr ehrsamen Leute. Aber immerhin verschone 
Gott alle seine Guten damit, daß sie einmal herunterkommen 
sollten auf den Verstand eines Weibes. Da seht, wie sie 
weint — und um wessentwillen wohl, um meinetwillen? Um 
meinetwillen, du meine Wirtin? Hab’ ich dich in deinen alten 
Tagen mit der Wurzel ausgerissen aus deiner Hütte? Schweig, 
schluchze nicht, sonst reiß’ ich dir gleich die grauen Zöpfe 
aus, daß du wie ein Judenweib nach diesem deinem 
Amerika gehst.“ 

„Gevatter Iwan, so laßt doch Euer Weib in Ruh’, sie 
ist ja Euch und ihren Kindern nicht gram. Bang ist ihr um 
ihre Sippe und ihr Heimatsdorf.“ 

„Tymoficha, wenn Ihr nichts wißt, so sprecht auch kein 
Wort! Also ihr tut’s weh, und ich, ich gehe wohl singend und 
springend dahin?!“ 

Seine Zähne knirschten gleich Mühlsteinen, er drohte 
seinem Weibe mit der Faust wie mit einer Holzk-eule und 
schlug sich an die Brust. 

„Da nehmt die Axt und schlagt sie mir in die Leber, 
dann wird wohl die Galle platzen, den sonst halt ich’s nimmer 
aus. Ihr guten Leute, so bang, so bang ist mir, daß ich nicht 
weiß, was mit mir vorgeht!“ 

III. 

„Ich bitt’ euch, Wirte, greift zu ohne viel Umstände. Ihr 
müßt schon entschuldigen, wenn’s irgendwo fehlt, denn wir 
sind ja zur Reise bereit. Und ihr müßt mir, dem Alten, auch 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



26 


nicht verargen, daß ich ein wenig gegen mein Weib losziehe, 
aber es geschieht nicht umsonst, bei Gott nicht. Es wäre gewiß 
nicht dazu gekommen, wäre sie nicht einesSinnes mit den Söhnen. 
Die Söhne, wißt ihr, sind der Schrift kundig, es fiel ihnen 
irgend ein Schreiben in die Hände, eine Karte, und da fielen 
sie nun über die Alte her und sägten, sägten so lange, bis 
sie’s entzweigesägt. Zwei Jahre lang war in der Hütte von 
nichts anderem zu hören als nur von Kanada und Kanada. 
Und wie sie mich schon arg in die Enge getrieben hatten, 
wie ich einsah, daß sie mich sonst in meinen alten Tagen nur 
so immerfort quälen würden, wenn ich ihnen nicht den Willen 
täte, da hab’ ich nun alles ausverkauft, daß auch nicht ein 
bißchen übrig blieb. Die Söhne aber, sie wollen nicht Knechte 
sein nach meinem Ableben, darum sagten sie: ,Du bist unser 
Vater, führe uns in das Land und gib uns Brot, denn gibst 
du jedem von uns sein Teil ab, so werden wir nicht einmal 
was anzufassen haben/ Gott helfe ihnen, dieses Brot essen, 
mir ist ja ohnehin kein langes Leben mehr beschieden. Wo 
sollt' ich Krüppel, der ich bin, noch an weite Gänge denken? 
Ich hab’ ja längst meine Arbeit getan mein ganzer Körper 
ist eine Schwiele, meine Knochen sind so schwach, daß ich 
jeden Morgen zehnmal aufstöhnen muß, bis ich sie alle zu¬ 
sammengelesen habe!“ 

„Das ist nun schon dahin, Gevatter Iwan, und Ihr müßt’s 
Euch nicht allzusehr zu Herzen nehmen. Vielleicht auch, weist 
Ihr uns den Weg, werden wir Euch alle dahin folgen. Ist ja 
auch gar nicht der Mühe wert, um dieses Landes willen im 
Herzen bange zu sein! Dies Land ist ja nicht imstande, so 
viel Volk zu erhalten, gegen so viel Not aufzukommen. Der 
Bauer vermag’s nicht und das Land nicht, beide Vermögens 
nicht mehr. Heuschrecken gibt’s keine, und doch ist auch kein 
Weizen da. Und die Steuern wachsen und wachsen, anstatt 
wie vorhin einen Gulden, zahlst du jetzt fünf; statt Speck zu 
essen, wie ehedem, ißt du jetzt Kartoffeln. O, ausgemergelt 
haben sie uns und halten uns fest in ihren Händen, daß uns 
niemand daraus losmachen kann — es bleibt uns nichts übrig, 
als auf und davonzugehen! Aber einen Jammer wird’s noch 
einmal geben dazulande, denn das Volk wird sich gegenseitig 
abschlachten! Ihr braucht Euch wahrlich um nichts zu grämen. 

„Ich dank’ Euch für das Wort, aber ich kann’s nicht 
gelten lassen. Allerdings ist’s wahr, daß das Volk sich ab- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



27 


Digitized by 


schlachten wird. Zürnt denn Gott denen nicht, die ihren Grund 
und Boden feilhäben? Heutzutage braucht ja niemand mehr 
Boden, sondern nur Wechsel und Banken. Jetzt sind ja schon 
junge, gescheite Wirte aufgekommen, solche Sicherheitsmänner 
die ohne Boden sicher sind. Da seht nur diese alte Geige da 
die soll man noch zu Markte tragen?! Das ist ja wie ein 
hohler Weidenbaum — du rüttelst mit dem Finger daran, und 
er zerstiebt wie Mohnkörner! Ihr glaubt, sie kommt an Ort 
und Stelle ? Umfallen wird sie und in den ersten besten Feld¬ 
graben hinein, und die Hunde zerren sie auseinander, uns 
andere aber treibt man weiter fort und wehrt uns gar, zum 
letztenmal noch einen Blick auf sie zu werfen ! Wie soll da 
noch Gott solchen Kindern seinen Segen geben? Hierher, Alte!“ 

Iwanycha schlich herbei, greis und spindeldürr. 

„Kateryna, Arme, was denkst du dir wohl in deinem 
Kopfe? Wo soll ich dich denn ins Grab betten? Soll ein 
Fisch dich auffressen? Aber da hat ja ein ordentlicher Fisch 
nicht einfhal was um einen Zahn zu wickeln. Schaut her!“ 
Und er spannt die Haut straff an der Hand seines Weibes 
und wies sie den Leuten. 

„Nichts als Haut und Knochen. Wie soll das da, ihr 
Wirte, vom Ofen herab? Warst eine ordentliche Wirtin, hast 
schwer gearbeitet, nicht gepraßt, nur in deinen alten Tagen,, 
da hast du dich aufgemacht zu einer langen Reise. Da schau, 
siehst du, wo dein Weg ist in dein Kanada? Da — dort!“ 

Und er wies mit der Hand durch das Fenster auf den 
Grabhügel. 

„Du wolltest nicht hingehen nach diesem Kanada, und 
so werden wir nun in die weite Welt gehen, und unsere greisen 
Knochen werden sich allenthalb zerstreuen, wie Blätter über 
das Feld hin. Gott mag’s wissen, was mit uns geschieht.... 
ich aber will nun vor diesen unsern Leuten von dir Abschied 
nehmen. So wie wir vor ihnen unsere Trauung feierten, so 
will ich nun auch vor ihnen Abschied nehmen von dir in den 
Tod. Vielleicht werden sie dich irgendwohin ins Meer werfen, 
daß ich’s nicht sehen werde, vielleicht auch werfen sie mich 
hin, daß du’s nicht siehst — so vergib mir, Alte, wenn ich 
dir einmal vielleicht mit Worten wehgetan hab’, oder wenn 
ich dir Unrecht zugefügt hab’, verzeih mir’s nun zum ersten., 
zum zweiten und dritten Male.“ 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





28 


Sie küßten sich. Die Alte fiel Iwan in die Arme, er aber 
sprach: 

„So führ’ ich dich nun, du Arme, fort nach einem fernen 
Grab.. 

Doch diese Worte hörte niemand mehr, denn von dem 
Frauentische wogte lautes Weinen heran wie der Wind, der 
zwischen scharfen Schwertern hindurch heranweht, und neigte 
alle Köpfe der Bauern tief auf die Brust herab. 

IV. 

„Und nun, Alte,- geh’ unter die Wirtinnen und sieh zu. 
daß jede zu dem Ihrigen kommt und trink dir auch selbst 
einen Rausch an, daß ich dich einmal in meinem Leben be¬ 
trunken sehe. 

„Und euch, Wirte, hab’ ich noch um zwei Dinge zu 
bitten. Vielleicht werden’s einmal meine Söhne mit der Post 
dem Dorfe kundmachen, daß ich und meine Alte nicht mehr 
unter den Lebenden sind. Dann würd’ ich euch bitten, daß 
ihr für uns ein Meßlein bestellt und daß ihr so wie heute zu 
einem kleinen Mittagmahl zusammenkommt und ein Vater¬ 
unser für uns betet. Vielleicht wird uns dann Gott die Sünde 
geringer anrechnen. Das Geld’ werd’ ich dem Jakob zurück¬ 
lassen, denn er ist ein junger rechtschaffener Mann, so wird 
er wohl des Alten Sparpfennig nicht unterschlagen.“ 

„Die Messe werden wir bestellen und das Vaterunser 
für Euch beten ...“ 

Iwan versank in Nachdenken. Auf seinem Antlitz malte 
sich etwas wie Scham. 

„Ihr müßt euch über den Alten nicht wundern und ihn 
nicht auslachen. Ich schäme mich ja beinahe selbst, euch das 
zu sagen, aber es dünkt mich, als hätt’ ich eine Sünde zu 
tragen, sagt’ich’s euch nicht. Ihr wißt, daß ich mir auf meinem 
Hügel ein steinern Kreuzei errichtet habe. Bitter bekam’s mir, 
es hinaufzufahren, bitter, es den Hügel hinanzuschleppen, aber 
ich hab’s aufgestellt. Es wiegt so schwer, daß der Hügel es 
nicht abschütteln kann, es auf sich halten muß, so wie er 
mich gehalten hat. So viel Andenken an mich wollte ich 
hinterlassen,“ 

Er schloß die Handflächen zusammen zu einem Trichter 
und preßte sie an die Lippen. 


Digitized by 


Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



29 


Digitized by 


„Wie das Kind nach der Mutterbrust, so sehn’ ich mich 
nach diesem Hügel. Auf ihm habe ich mein Leben verbracht, 
auf ihm bin ich zum Krüppel geworden. Könnt’ ich’s nur, in 
meinem Busen würd’ ich ihn bergen und mitnehmen in die 
weite Welt, ich sehne mich nach dem kleinsten Häuschen im 
Dorfe, nach dem kleinsten Kind, aber nach diesem Hügel 
werd’ ich mich sehnen müssen bis an mein Ende.“ 

In seinen Augen flimmerte grenzenloses Weh, sein Antlitz 
bebte wie das schwarze Erdreich unter der sengenden 
Sonnenglut. 

„Liege ich da vergangene Nacht in der Scheune und 
denke und grüble: Barmherziger Gott, was hab’ ich denn so 
gar Arges verbrochen, daß du mich forttreibst über die Welt¬ 
meere hinaus? Mein Leben lang tat ich ja nichts als arbeiten 
und arbeiten ! Wie oft, wenn der Gottestag zu Ende war, bin 
ich auf den Acker hingesunken und habe heiß gebetet zu 
Gott: Herr, versage mir nicht mein schwarzes Stück Brot, 
und ich werd’ immer arbeiten, bis daß ich weder Hand noch 
Fuß mehr regen kann .. 

„Und dann kam solch ein Sehnen über mich, daß ich 
meine Fingergelenke zernagte und die Haare mir ausraufte 
und mich auf dem Boden wälzte wie ein Vieh! Und der Böse 
schlich an mich heran. Weiß nicht wie und wann er mich 
unter dem Birnbaum fand, das Ochsenseil in der Hand. Noch 
ein Augenblick und ich hätt’ mich aufgehängt. Doch Gott der 
Barmherzige weiß, was er tut. Ich gedachte meines Kreuzes, 
und da war’s auch schon an mir vorbei. Und wie ich mich 
nun aufmache, vorwärts im Lauf und immer dem Hügel zu, 
■dem Hügel zu — in einem Stündchen saß ich schon unterm 
Kreuz. Ich blieb dort geraume Zeit sitzen und es ward mir 
leichter ums Herz. 

„Seht, da steh’ ich vor euch und sprech’ mit euch, dieser 
Hügel aber kommt mir nicht aus dem Sinn. Ich seh’ ihn doch 
vor mir und seh’ ihn immerfort, und in der Todesstunde werd’ 
ich ihn auch noch sehen. Alles werd’ ich vergessen, aber ihn 
vergess’ ich nimmer. Lieder wußt’ ich und vergaß sie auf 
diesem Hügel, Kräfte hatt’ ich und ich ließ sie darauf zurück.“ 

Eine Träne rollte sein Antlitz hinunter, wie eine Perle 
abwärts über einen Fels. 

„Und noch bitt’ ich euch, Wirte, wenn ihr einmal am 
heiligen Sonntag die Felder weiht, dann sollt ihr auch meinen 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 30 - 

Hügel nie vergessen. Irgend ein Jüngerer unter euch mag 
wenigstens hinauflaufen und das Kreuz mit Weihwasser be¬ 
sprengen, denn ihr wißt ja, der Geistliche wird den Berg nicht 
hinansteigen. Ich bitt’ euch sehr darum, daß ihr nie und 
nimmer an meinem Kreuze vorübergeht! Ich werd’ Gott für 
euch bitten in jener Welt, nur müßt ihr dem Alten schon 
seinen Willen tun.“ 

Es war als wollte er wie ein Leintuch sich ausbreiten 
der Länge nach, als wollte er mit seinen guten, grauen Augen 
seine Bitte auf ewig eingraben in die Herzen der Gäste. 

„Gevatter Iwan, so laßt doch das Sehnen gehen, schleudert 
es weit fort von euch. Wir werden euer immer gedenken, 
ein für allemal. Ihr war’t ja ein ordentlicher Mensch, Ihr habt 
ja nie jemand behelligt und niemand angebunden, niemand 
habt ihr in seinen Acker hineingepflügt noch gesät, nie fremdes 
Korn zertreten. Gott bewahre ! Und darum werden die Leute 
euer gedenken und am heiligen Sonntag an eurem Kreuz nie 
vorübergehen.“ 

So sprach Mychajlo dem Iwan Trost zu. 

V. 

„So hab’ ich euch denn, ihr Herren Wirte, alles gesagt,, 
was mir am Herzen lag, und nun wer mich liebt, wird 
trinken mit mir. Schon steht Gottes Sonne über dem Grab¬ 
hügel und ihr habt noch keine Portion Branntwein mit mir 
getrunken. Solang ich noch in meiner Hütte bin und Gäste 
sitzen habe hinter meinem Tisch, werd’ ich mit ihnen trinken 
und wer mich gern hat, der wird’s auch.“ 

Und es hub ein Trinken an, eines von denen, die aus 
Grundbauern tolle Burschen machen. Bald ließ der schon be¬ 
trunkene Iwan den Musikanten kommen, daß er der Jugend, 
die den ganzen Hof dicht besetzt hatte, eins aufspiele. 

„Ihr, meine Lieben, tanzen sollt ihr, daß die Erde erdröhnt,, 
daß kein Grashalm auf der Tenne übrigbleibt!“ 

In der Hütte tranken alle und sprachen alle durchein¬ 
ander, und niemand hörte zu. Die Reden flössen für sich selber, 
denn man mußte sie unbedingt sagen, man mußte sich aus¬ 
sprechen, wenn auch blos in den Wind hinein. 

„Wie ich es abgeputzt habe, gelt, da war es blank ge¬ 
putzt — was darauf ein schwarzes Haar war, das war 
wie wenn man auf schwarz Silber gestreut hätt’, und die 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



31 


Digitized by 


weißen, als hätte man Schnee mit Butter bestrichen. Die 
Pferde, die waren bei mir nett gehalten der Kaiser selber 
hätt’ können darauf sitzen! Und Geld hab’ ich euch gehabt 
wie Spreu ... 

„Daß ich mich sähe mitten in einer Wüste, wo nur ich 
o’rin wäre und Gott! Daß ich umherstreifte wie ein wildes 
Tier nur daß ich diese Juden nicht sähe und die Herren 
und Pfaffen! Dann würde es heißen, daß ich ein Herr bin ! 
Und diese Erde da, sie mag meinetwegen einfallen, sogleich 
auf der Stelle mich würde die Reue gewiß nicht versengen. 
Weshalb auch? Sie schlugen und marterten unsere Väter und 
spannten sie ins Joch, und uns lassen sie nun gar nicht ein¬ 
mal das Stück Brot hinunterschlucken ... Ei, wenn’s so nach 
mir ginge ... 

„Es fand sich noch kein solcher Sequester, das sag’ ich 
euch, daß er dem hätt’ was wegnehmen können für die Steuer, 
bei Gott nicht! Es kam der Tscheche, der Deutsche, der Pole 
Dreck haben sie genommen, vergebt mir das Wort. Aber 
wie der Madzure*) kam, der fand euch die alte Pelzjacke so¬ 
gar weit drüben hinterm Weichselbaum. Ich sag’s euch, der 
Madzure ist wie die Pest selbst, ihm kannst du die Augen 
ausbrennen, und es wird keine Sünde sein ...“ 

Allerlei Reden gab es die Hülle und Fülle, aber sie zer¬ 
stoben allenthalben wie angefaultes Holz im Urwalde. 

Mitten in all dem Lärm, das Brausen und Jammern und 
in die kläglich-fröhlichen Töne drang schrill hinein der Ge¬ 
sang des Iwan und des alten Mychajlo. Ein Gesang, wie man 
ihn oft bei Hochzeitsfesten hören kann, wenn alte Bauern ein¬ 
mal lustig werden und altvaterische Weisen anstimmen. Die 
Worte des Gesanges brechen durch die alte Kehle hindurch 
unter Hindernissen, wie wenn bei ihnen nicht bloß an den 
Händen, sondern auch in der Kehle Schwielen angewachsen 
wären. Sie wehen dahin, die Worte dieser Lieder, wie fahl¬ 
gelbes Herbstlaub,, das der Wind einherjagt über das hartge¬ 
frorene Erdreich, und es bleibt einmal ums andere liegen 
über jeder Erdspalte und zittert mit seinen zerrissenen Rändern 
wie vor dem Tode. 

Iwan und Mychajlo sangen in solcher Weise von ihren 
Jugendjahren, die sie eingeholt hätten auf der Zedernbrücke 

*) Masuren die Polen in Westgaliziens. 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



32 


und wie diese nicht mehr zu ihnen wiederkehren wollten, nicht 
einmal zu Gaste. Wenn sie irgendwo einen Ton hoch empor¬ 
zogen, preßten sie einander die Hände zusammen, aber so fest, 
daß die Gelenke knackten, und so oft sie an eine gar traurige 
Stelle kamen, neigten sie sich einander zu und schmiegten 
Stirn an Stirn und trauerten. Sie haschten sich bei den Hälsen 
und küßten sich, schlugen mit den Fäusten auf die Brust und 
auf den Tisch und brachten solch ein Sehnen über sich mit 
ihren verrosteten Stimmen, daß sie endlich kein Wort mehr 
auszusprechen vermochten als nur: 0 Iwanchen, Brüderchen! 
O Mychajlo, Freundesherz! 

VI. 

„Hört, Vater, es ist ja schon Zeit, zur Bahn zu gehen, 
und Ihr hebt da ein Singen an, wie in alten guten Zeiten.“ 

Iwan riß die Augen weit auf, mit so seltsamem Ausdruck, 
daß sein Sohn erbleichte und hach hinten zurückwich. Er 
stützte den Kopf in die Hände und grübelte lange über etwas 
nach. Dann ging er hinterm Tische hervor, trat auf sein Weib 
zu und faßte es beim Aermel. 

„Alte, auf, marschieren, eins, zwei, drei! Komm’, wir wollen 
Herrenkleider anlegen und Herren sein.“ 

Sie gingen beide hinaus. 

Wie sie wieder in die Stube hereintraten, brach die ganze 
Hütte in ein Weinen aus. Als wäre eine Tränenwolke, die über 
dem Dorfe gehangen, plötzlich entzweigerissen, als hätte 
Menschenweh den Donaudamm durchbrochen — solch ein 
Weinen hub an. Die Weiber rangen die Hände und hielten 
sie so verflochten über der alten Iwanycha, als besorgten sie, 
daß etwas Fürchterliches von oben herabfallen und sie zer¬ 
malmen könnte. Mychajlo aber packte Iwan bei den Schultern 
und rüttelte ihn wütend und schrie wie besessen. 

„Du mein, wenn du ein Wirt bist, so schmeiße diese 
Fetzen von dir, sonst werd’ ich dich abohrfeigen wie eine 
Hure !“ 

Aber Iwan sah gar nicht hin. Er packte seine Alte beim 
Halse und wirbelte mit ihr im Tanze herum. 

„Eine Polka sollst du mir aufspielen, wie sie die Herren 
tanzen, ich hab’ Geld!“ 

Die Leute waren wie erstarrt, Iwan aber zerrte sein 
Weib umher, als hätte er vor, sie nimmer lebendig aus den 
Händen zu lassen. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



33 


Die Söhne kamen herbeigelaufen und brachten die beiden 
mit Gewalt aus der Hütte fort. 

Auf dem Hofe tanzte Iwan weiter irgend eine Polka¬ 
tanzweise, Iwanycha umfing mit den Händen die Schwelle 
und jammerte: 

„Wie hab’ ich dich ausgetreten, wie dich ausgehöhlt mit 
diesen meinen Füßen da!“ 

Und sie wies immerfort in der Luft, wie tief sie die 
Schwelle ausgetreten. 

VII. 

Die Zäune an den Dorfstraßen krachten und brachen zu¬ 
sammen alle Welt gab Iwan das Geleit. Er schritt mit der 
Alten einher, gebückt, mit einem grauen Zeugstoff angetan, 
und hüpfte jeden Augenblick wieder in seiner Tanzweise. 

Erst als alle vor dem Kreuz stehengeblieben waren, 
das Iwan auf dem Hügel errichtet hatte, kam er ein wenig 
zu sich und wies auf das alte Kreuz. 

„Siehst, Alte, unser Kreuzei? Dort ist auch dein Name 
efngegraben. Nur unbesorgt, mein Name ist da und der deine 
auch ...“ 

Die Wahlmißbräuche in Galizien. 

Auch diesmal verlangten die Wahlen in Galizien eine 
Hekatombe. Der böse Zufall wollte es aber, daß der Leichnam 
eines ruthenischen Wählers auf dem Wahlfelde fiel, wo 
der Neffe jenes Herrn sich das Mandat zur Vertretung der 
ruthenischen Bevölkerung erkämpfen will, während dessen 
Regimes in Oesterreich zum erstenmal in Galizien bei den 
Wahlen Leute gemordet wurden. Der Wähler Marko Kahanetz, 
Mitglied der Exekutive der ruthenischen nationaldemokratischen 
Partei, wurde von einem Gendarmen in Koropetz, Bezirk 
Buczacz, erstochen, wo von seiten des polnischen Nationalrates 
der Graf Heinrich Badeni kandidiert... 

So geht die Wahlbewegung in Galizien recht lebhaft 
vor sich und schon, bevor noch die Wahlen selbst gekommen, 
welche erst ein Schauspiel für Götter vorstellen, ist bei den 
Wahlmännerwahlen bereits soviel gefälscht und geschwindelt 
worden, und die ruthenische Presse bringt von allen Landes¬ 
enden soviel Berichte über die haarsträubendsten Mißbräuche 

3 


Difitized 


bv Google 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



34 


seitens der Verwaltungsorgane in Ostgalizien, daß die laufende 
Wahlperiode schon jetzt allen bisherigen galizischen Wahlen 
den Rang abgelaufen hat. Weil der Erfolg der Land¬ 
tagswahlen auch für die in der nächsten Session des Land¬ 
tages zu beschließende Wahlreform entscheidend sein soll, 
ist die Schlachta, welche bis jetzt über eine gewaltige Mehr¬ 
heit im galizischen Landtage verfügte, eifrig bestrebt, eine 
möglichst große Anzahl Kandidaten aus ihrer Mitte um jeden 
Preis in den Landtag durchzusetzen. Wie sehr den Herren 
daran gelegen ist, die wahrscheinlich zum letztenmal auf 
Grund des Kurialsystems durchgeführten Wahlen zu ihren 
Gunsten zu beeinflussen und auszunützen, möge der Aus¬ 
spruch des Wahlkommissärs in Zabje, Bezirk Kossiw, be¬ 
weisen, der, als die über den falschen Ausgang der Wahlen 
empörten Bauern ihrer Entrüstung lauten Ausdruck gaben, 
dieselben in folgender Weise zu beruhigen suchte: „Seid ver¬ 
nünftig, Leute, und macht euch nichts daraus, daß es nicht 
so geschehen ist, wie ihr es gewollt; es sind ja schon die 
letzten Wahlen, bei welchen auf die Art gestimmt wird, das 
nächste Mal kommt ja schon das allgemeine Wahlrecht.“ 

Bezeichnend ist dabei, daß die Ruthenen bei der laufenden 
Wahlkampagne buchstäblich von sämtlichen polnischen Par¬ 
teien bekämpft weiden. Auch die polnischen Volksparteiler, 
welche, solange sie klein waren, mit den Ruthenen kokettierten, 
predigen, seitdem sie mit den Schlachzizen zur Wahrung der 
angeblich gleichen Interessen der großen und kleinen Bauern 
einen Bund schlossen, nun aus „nationaler Solidarität“ die 
Verteidigung des „nationalen Besitzstandes“ in Ostgalizien. 
Und die Allpolen, welche als Strafe dafür, daß sie sich ver¬ 
maßen, die Schachzizen vom Ruder der polnischen Politik im 
Reichsrate beiseite drängen zu wollen, nun von dem polnischen 
Nationalrat zur Teilung der Landtagsmandate nicht zuge¬ 
lassen wurden, erklären in einem Parteikommunique, trotzdem 
den Kandidaten des Nationalrates keine Schwierigkeiten be¬ 
reiten zu wollen, vielmehr erachten sie es für ihre nationale 
Pflicht, zur Wahrung des nationalen Besitzstandes in Ost¬ 
galizien mit allen Kräften beizutragen. 

Im Namen der „nationalen Solidarität“ und im Interesse 
des „nationalen Besitzstandes“ wird in Ostgalizien Wahlraubund 
Wahlschwindel betrieben und wird, wenn dies die nationale Sache 
erheischt, auch von Wahlmorden nicht Abstand genommen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




35 


Digitized by 


Nachstehend einige Berichte aus den Wahlbezirken : 

Zalistschyky: Hier kandidiert der Obmann des 
Nationalrates selbst, Cienski, gegen den Reichsratsabgeordneten 
Dr. Ochrymowytsch. Es wurden in keinem einzigen Dorfe 
des Bezirkes die Wahlmännerwahlen angekiindigt, als aber 
die Wähler dies dringend verlangten, wurden in der Bezirks¬ 
hauptmannschaft (nicht aber auch in den Gemeinden) am 
2. Februar Wahltermine vom 29. Jänner bis 4. Februar ange¬ 
kündigt, und zwar nur betreffend zwanzig Gemeinden. Die 
Wahlkommissäre aber selbst kommen in die Dörfer nicht an¬ 
gekündigt und gänzlich unverhofft, meistens in ganz früher 
Morgenstunde, wenn es noch ganz finster ist, rufen einige 
Eingeweihte zusammen und führen mit deren Beistand die 
Wahlen streng geheim durch. So war es in Capiwci und 
Tluste. Ein Meister in dieser Beziehung ist der Praktikant 
Attenstädter. 

Er kam z. B. nachts inkognito nach Wyniatynci, 
wo er die bestellten Konfidenten vier von ihm selbst be- 
zeichnete Wahlmänner wählen ließ. Um 7 Uhr früh waren 
schon die Wahlen beendet und erst nach den Wahlen wurde 
die Ankündigung derselben für den gleichen Tag um 9 Uhr 
an dem Wahllokal angeschlagen. Vorübergehende lasen die 
Ankündigung und riefen in der Eile die Dorfeinwohner zu¬ 
sammen, die auch um Vs 9 Uhr in Massen vor dem Wahllokal 
erschienen waren, aber die „Wahluhr“ des Herrn Kommissärs 
zeigte um zweieinhalb Stunden mehr, als die Uhren sämtlicher 
Wähler und auch der diensthabenden Gendarmen. Die Leute 
aber wurden mit dem Bescheid, daß es schon zu spät sei, 
einfach abgefertigt. — Derselbe Kommissär kam am 30. Jänner 
nach Kasperiwci zur Durchführung der Wahlmännerwahlen, 
welche hier ausnahmsweise, allerdings nur einen halben Tag 
früher, angekündigt waren. Von ruthenischer Seite gaben 80 
Wähler ihre Stimmen ab, von polnischer 25. Aber es geschah 
ein Wunder. Nach Beendigung der Wahl wurden drei polnische 
Wahlmänner und nur ein einziger ruthenischer als gewählt 
verkündet. Indessen erklärten sich alle 80 ruthenischen Wähler 
bereit, unter Eid auszusagen, ihre Stimmen für ruthenische 
Wahlmänner abgegeben zu haben. Interessant ist, daß sowohl 
hier als auch sonst überall in Ostgalizien die offenen Wahlen 
in geheime umgewandelt wurden, obwohl das Volk dagegen 
als einem Mittel zur Fälschung protestierte. 

3 * 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



35 


Staryj Sambir. Nicht minder kraß ist das Vorgehen 
derVerwaltungsorganein Staryj Sambir. Der hiesige Bezirkshaupt¬ 
mann Ricci scheute sich nicht einmal vor einigen ruthenischen 
Geistlichen (deren Namen bekannt sind) auszusagen: „Ich 
werde den ruthenischen Abgeordneten P. Jaworski vernichten! 
Nur über meine Leiche wird er in den Landtag kommen!“ 
Nicht nur in den Gemeinden, sondern auch in der Stadt 
Staryj Sambir selbst, wurde der Wahltermin nicht angekündigt 
Als sich das Verlangen danach immer stürmischer kundgab, 
wurde ein Ankündigungszettel am Vortage der Wahlen, am 
30. Jänner, um 3 Uhr nachmittags angeschlagen, aber von 
ruthenischer Seite wurden über 100 Wähler (deren Namen 
angegeben werden können) nicht ins Wahllokal gelassen, ob¬ 
wohl sie bis spät in die Nacht im Frost warteten. Am 
10. Februar wurde die Wahlmännerwahl in Suschycia welyka 
unter Assistenz des Bezirkshauptmannes selbst durchgeführt; 
nach Beendigung der Wahlen erklärte aber der Bezirks¬ 
hauptmann, er könne das Resultat nicht verkünden, werde 
dasselbe aber schriftlich der Gemeinde mitteilen. Als aber 
die Leute auseinandergingen, tief Herr Ricci sechs Juden, die 
schon einmal ihre Stimmen abgegeben hatten, und machte 
mit diesen eine „Ergänzungswahl“, auf Grund welcher einer 
der Juden an Stelle des gewählten ruthenischen Ortsgeistlichen 
„gewählt“ wurde, 

Buczacz: Im Wahlkreis Buczacz, Dorf Koropetz (dem 
Ort, in welchem der neueste Wahlmord geschah), wurden in 
die Wählerliste 14 Tote und einige Bauern aufgenommen, die 
schon vor Jahren nach Bosnien ausgewandert sind, außerdem 
eine Menge gar nicht Besteuerter, während andererseits viele 
der am höchsten Besteuerten gar nicht eingetragen wurden. 
Den Gemeindevorstehern wurden falsche Ausweise zugestellt, 
nach denen dann die Listen hergestellt wurden. So sind in 
Baraniw statt 162 Wahlberechtigte nur 29 eingetragen worden. 
Erst als die Dorfeinwohner auf dem Kirchturm Alarm schlugen, 
wurden die anderen nachgetragen. In Jaslowetz wurden von 
600 Wahlberechtigten nicht ganz 150 eingetragen. Ebenso 
in Barycz u. a. In Nahorjanka, desselben Bezirkes, wo die 
Ruthenen zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen, wurden 
in die Wählerlisten von 204 Wahlberechtigten nur 74 Ruthenen 
eingetragen, die reichsten ruthenischen Landwirte wurden 
übergangen, dafür aber 12 Tote eingeschrieben. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



37 


Peremyschl. Einen interessanten Wahlmodus erfand 
der Bezirkskonzipient Olszewski in Peremyschl. Nachdem ihm 
bei der Wahlmännerwahl in Kniasyczi die Anzahl der An¬ 
hänger der polnischen Partei zu gering vorkam, erlaubte er 
dem Großgrundbesitzer, für seinen Waldheger zu stimmen! 
Nachdem aber auch daraus kein Erfolg zu erwarten war, so 
wurde das Wahlresultat gefälscht. Sämtliche Bauern erklärten, 
unter Eid aussagen zu wollen, daß sie für eine andere Person 
gestimmt haben als für die gewählte. Dasselbe war auch in 
Malhowyczi der Fall. 

B i b r k a. Im Bibrkaer Wahlkreise wurden die Wähler¬ 
listen gründlich auf die Art gefälscht, daß als wahlberechtigt 
nicht die zwei Drittel der am höchsten Besteuerten, sondern 
diejenigen erklärt wurden, deren Steuern zusammengenommen 
zwei Drittel der gesamten Steuersumme ausmachen, auf welche 
Weise zum mindesten ein Drittel der Wahlberechtigten des 
Wahlrechtes beraubt wurde. In Laschky hirni, Brynci, Wodnyky, 
Hryniw, Suhrowa und Knisel wurden die Wahlresultate ge¬ 
fälscht. Nicht einmal die Gemeindevorstände durften der Wahl¬ 
kommission beiwohnen. Der Wähler bemächtigte sich größte 
Erregung. Daten, Zahlen und Unterschriften zur Bestätigung der 
Wahlmißbräuche wurden gesammelt und Deputationen an die 
Statthalterei entsendet. In Lany welyki erhielten die ruthenischen 
Wahlmännerkandidaten 59 Stimmen (die 59 Bauern wollen dies 
unter Eid bestätigen), dagegen die polnischen 44, doch wurde das 
umgekehrte Resultat verkündet. Viele Wahlberechtigte und in 
die Listen Eingetragene wurden zur Wahl nicht zugelassen, 
an deren Stelle jedoch fünf solche, die überhaupt nicht in 
die Listen eingeschrieben waren. In Laschky hirni wurden in 
der Wählerliste auf 77 Eingetragene 34 wahlunberechtigte 
Anhänger der Kandidatur des Grafen Mycielski, dagegen 
75 wahlberechtigte Anhänger des ruthenischen Kandidaten 
gar nicht aufgenommen. Als aber die ruthenischen Wähler 
eine Deputation an den Statthalter entsendeten, wurde ein 
Teil der nichtaufgenommenen ruthenischen Wähler zwar in die 
Liste eingetragen, — die 34 Unberechtigten verblieben aber an¬ 
standslosweiter in den Listen. In der Gemeinde Tschyziwfungierte 
als Wahlkommissär ein Steueradjunkt. Dieser Herr machte 
sich die Sache außerordentlich bequem. Er fälschte nicht erst 
lange, sondern verkündete zum Schluß ganz einfach das um¬ 
gekehrte Resultat ... 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



38 


Peremyschlany: In Peremyschlany erleichterte sich der 
Bezirkshauptmann die Arbeit auf die Art, daß er den für den 
ruthenischen Kandidaten sicheren Gemeinden einen Wahl¬ 
mann entzog (Batschiw, Bile, Bolotnia, Dusaniw, Korelytschi, 
Ladanci, Dunajiw, Swerz, Peremyschlany), anderen aber (zum 
Beispiel dem für den polnischen Kandidaten sicheren Kuro- 
wytschi) einen mehr zuerkannte. 

Horodenka: Hier wurden die Wählerlisten in sämt¬ 
lichen Gemeinden gefälscht. Es gibt Gemeinden, die bis 50 
Reklamationen einreichten. In Horodenka selbst wurden die 
Wahlen auf zwei Tage geteilt. Man erwartete, daß die Wähler 
das Ausharren in der Kälte bis spät in die Nacht satt ge¬ 
worden, am nächsten Tage nicht mehr kommen würden. 
Aber es geschah das Gegenteil davon! Am nächsten Tage er¬ 
schienen sie in ungeschwächter Anzahl und wurden wieder bis spät 
in die Nacht draußen in der Kälte festgehalten, während die An¬ 
hänger des polnischen Kandidaten durch die Hintertüre in 
das Wahllokal gelassen wurden. Hierauf wurde das Wahl¬ 
resultat verkündet und nur dem persönlichen Einflüsse des 
Kandidaten, Abgeordneten Dr. Okunewskyj, ist es zu ver¬ 
danken, daß es nicht zum Blutvergießen kam. 

Sokal: Am 8. Februar kam der Bezirkshauptmann 
Kaliniewicz selbst nach Uhryniw zu den Wahlmännerwahlen. 
Er ließ den Ortsvorsteher in das Gendarmeriegebäude kommen 
und bewog ihn, den Leuten zu verkünden, daß sie nur für 
denjenigen stimmen sollten, welchen er angebe; er werde 
sich dafür schon in der Art erkenntlich zeigen, daß er ihnen 
anstandslos die Passierscheine nach Rußland (das Dorf liegt 
an der russischen Grenze) ausfolge. Zur Wahl wurden viele 
unberechtigte Polen und Juden, dafür sehr viele wahlberech¬ 
tigte Ruthenen nicht zugelassen. Als aber die Leute darüber 
murrten, sagte er: „Da könnt ihr dafür den Gemeindevor¬ 
stand durchprügeln, weil er euch nicht eingetragen hat.“ 

Jaroslaw: In Skoloschiw meldeten sich zu den Wahl¬ 
männerwahlen über 200 ruthenische Wähler, es wurden aber 
bloß 8 zugelassen. Die 14 polnisch-jüdischen Wähler siegten 
auf diese Weise. 

Sanok: In Komance waren die Wahlmännerwahlen 
für den 4. Februar, 2 Uhr nachmittags, bestimmt, der Wahl¬ 
kommissär kam aber schon um 4 Uhr nachts und war um 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



- 39 


Digitized by 


9 Uhr vormittags mit den Wahlen fertig. Kein einziger ruthe- 
nischer Wähler erhielt Kenntnis davon. 

Zboriw: In Torhiw wurden trotz gefälschter Wähler¬ 
liste ruthenische Wahlmänner gewählt und das Wahlresultat 
ordnungsgemäß verkündet. Als aber die Leute sich entfernten, 
ordnete der Wahlkommissär für Nachmittag eine andere ge¬ 
heime Wahl ah, in welcher dann die Wahlmänner der Gegen¬ 
partei gewählt wurden. 

Dolyna: ln Roznitiw wurde der Wahltermin nicht an¬ 
gekündigt. Als aber der Wahlkommissär ins Dorf kam, um 
mit Hilfe der Eingeweihten die Wahl der Wahlmänner durch¬ 
zuführen und ruthenische Wähler zufällig davon erfuhren und 
sich ansammelten, wurde keiner zur Wahl zugelassen. 

Das wären hur einige wenige Beispiele, wie in Galizien 
Wahlen gemacht werden. Die Berichte lauten beinahe stereotyp: 
die Wählerlisten gefälscht, die Wähler zur Ausübung des Wahl¬ 
rechtes nicht zugelassen die wirkungsvollsten Mittel, 
um den Sieg der Schlachta bei den Wahlen zu er¬ 
leichtern. Früher, als der ruthenische Bauer noch nicht so auf¬ 
geklärt war, half man sich mit Korruption. Jetzt, wo Geld nicht 
mehr zieht, wird offener Raub getrieben. Die Folge des Rund¬ 
schreibens des Grafen Potocki an die Verwaltungsämter in 
Galizien sollte sein, daß die Beamten bei Behandlung der 
Parteien keinen Unterschied zwischen einem Polen und 
Ruthenen machen darf. Aber die polnischen Beamten in 
Galizien wissen es nur zu gut, daß ihr oberster Chef es mit 
seinem Rundschreiben keineswegs ernst gemeint hat*) 


Zeitschriftenschau. 

Im Dezemberheft der Monatsschrift „Literaturno- 
naukowyj Wistnyk* (Literar.-wissenschaftl. Bote — er¬ 
scheint in Kiew und Lemberg) entwirft Prof. M. Hruschewskyj 

*) Die Wahlmißbräuche wurden bereits von den besten Erfolgen 
für deren Anstifter gekrönt. Bei den am 25. Februar d. J. vorgenommenen 
Wahlen der Landgemeindenkurie wurden im ganzen auf 74 Wahlkreise 
bloß 21 Ruthenen, darunter 10 von dem polnischen Nationalrat unterstützte 
Altruthenen gewählt. Nachdem über den Ausgang der Wahlen der anderen 
Kurien kein Zweifel besteht, wird die Anzahl der polnischen Abgeordneten 
im galizischen Landtag, als Vertreter des den Ruthenen der Zahl nach 
gleichen polnischen Volkes in Galizien, achtmal so groß als die der 
ruthenischen sein! 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



40 


den Plan zur Gründung einer „Ukrainischen Hochschule 
für Sozialwissenschaften“ in Kiew aus Privatmitteln, 
welche in Ermangelung einer ukrainischen Universität ver¬ 
schiedenen Wissenschaftszweigen aus dem Bereiche der Ukraini- 
stik dienen sollte. Wohl sei die Frage der Errichtung von ukraini¬ 
schen Lehrkanzeln an den drei südrussischen Universitäten 
akut geworden und dürfte schon in der nächsten Zukunft 
teilweise zugunsten der Ukrainer gelöst werden, immerhin 
aber — meint der Verfasser — würde auch in einem solchen 
Fall die ukrainische Wissenschaft stiefmütterlich behandelt 
werden, um so mehr als sich die russische Regierung bei der 
Wahl der Dozenten weniger nach deren wissenschaftlicher 
Qualifikation, als vielmehr nach deren politischer und nationaler 
Gesinnung richten würde. Herr Hraschewskyj nimmt an, daß 
die geplante Hochschule, deren Lehrkörper bei dem in Betracht 
gezogenen Jahresbudget von 40.000 Rubel aus, sechs ordentlichen 
Dozenten und ebensoviel Adjunkten bestehen sollte, welche 
Zahl selbstverständlich nach Bedarf ergänzt werden könnte, 
binnen vier bis sechs Jahren organisiert werden kann. Er gibt 
folgendes Verzeichnis von Lehrgegenständen an: ukrainische 
Sprache; Literatur; Folklor; politische und soziale Geschichte; 
Kulturgeschichte; Kunst; Archäologie und Ethnologie; Anthro¬ 
pologie; Geographie; ukrainisches Recht; das heutige Staats¬ 
recht in den verschiedenen Teilen des ukrainischen Terri¬ 
toriums; Wirtschaftslehre und Statistik. 


In dem Aufsatz „JudenundDeutsch ein Galizien“ 
bespricht das Lemberger Tagblatt „Dilo“ Nr. 35, die Rolle, 
welche die beiden nationalen Minoritäten in diesem Lande 
als Stützen der polnischen Politik gespielt haben, wovon sie 
sich die Sicherung ihrer Nationalität und Religion er¬ 
hofften. Dank dessen wuchsen die Polen in die Kraft, und 
die Folge davon war die in letzter Zeit mit großer Anstrengung 
betriebene Polonisierungsaktion, gerichtet gerade auf Assi- 
milierung der Juden und Entnationalisierung der Deutschen. 
Erfreulicherweise macht sich in der letzten Zeit ein Um¬ 
schwung bemerkbar. Er geschah bei den Juden früher als bei 
den Deutschen. Doch geht auch bei diesen seit unlängst eine 
' lebhafte nationale Bewegung vor sich. Bei den jetzigen Wahlen 
treten die galizischen Deutschen sogar als eine besondere 
politische Kraft auf. Sie stellen in einigen Wahlkreisen ihre 
Zählkandidaten auf, in den städtischen Wahlkreisen Biala, 
Kolomea und Stryj rüsten sie sich aber sogar zu einem ernsten 
Wahlkampf. Diese Stellung der Deutschen rief in der polnischen 
Presse einen Entrüstungssturm hervor. Indem die polnischen 
Zeitungen die galizischen Deutschen für ihren bis jetzt be¬ 
kundeten polnischen Patriotismus beloben, erklären sie, daß, 
wenn die Deutschen den politischen Separatismus weiter be- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



41 


treiben wollten, sie den Boykott der deutschen Industrie- und 
Handelsfirmen zu gewärtigen hätten. 

„DieStellung derRuthenen zu den nationalen Bestrebungen 
der Deutschen und Juden in Galizien ergibt sich — bemerkt 
das „Dilo“ — von selbst. Indem wir einem jeden Volke das 
Recht zuerkennen, über die nationalen Angelegenheiten selbst¬ 
ständig zu entscheiden, können wir dem Wiedererwachen des 
nationalen Bewußtseins bei jenem Teile der Bevölkerung unseres 
Landes, welcher bisher nur ein Werkzeug zur Herrschaft über 
unser Volk für das historische Polen war, nicht anders als 
mit Sympathien begegnen. Dabei liegt dieses nationale Wieder¬ 
erwachen der Juden und Deutschen in Galizien in unserem 
unmittelbaren nationalen Interesse, weil dadurch das historische 
Polen die Kraft verlieren würde, welche ihm von den beiden 
nationalen Minoritäten in Galizien verliehen wurde. Man soll 
sich aber keine Illusionen machen, denn trotz der Schönen 
Anfänge wird sich die Gesamtheit der Juden und Deutschen 
in Galizien nicht so bald von dem Polentum emanzipieren.“ 

* * * 

Zu dieser Frage äußert sich das „Deutsche Volks¬ 
blatt fürGalizien“ wie folgt: „Die Deutschen in Galizien 
können keineswegs auf dem Standpunkte der untrennbaren 
politischen Einigkeit mit den Polen stehen, unter anderem 
auch deshalb nicht, weil dies uns in einen unversöhnlichen 
Gegensatz zu dem wackeren ruthenischen Volk treiben würde, 
unter welchem die meisten unserer Kolonien gelegen sind.“ 

Als nationale Forderungen der Deutschen Galiziens nennt 
das genannte Blatt folgendes: 1. Deutsche Schulen und 
deutsche Lehrer in deutschen Gemeinden, sowie Unterstützung 
für private deutsche Schulen aus dem Staatsfonde; 2. Gleich¬ 
berechtigung der deutschen Sprache in den Aemtern; 3. Ver¬ 
treter der Deutschen Galiziens im Landtag und Reichsrat. 



Briefe aus Poltawa. 

Der gegen die politische und kulturelle Entwickelung des 
ukrainischen Volkes jahrzehntelang ausgeübte Druck, welcher 
nach dem ostasiatischen Kriege und der großen Bewegung 
im Jahre 1905 nachzulassen schien, setzt in dem Gouvernement 
Poltawa, dem „Herzen der Ukraine“, mit erneuerter Wucht 
wieder ein. In einigen anderen ukrainischen Gouvernements 
durften nach dem Jahre 1905 ukrainische Aufklärungsvereine 
gegründet werden. In dem Poltawaer sträubt sich die Verwaltung 
gegen die Gründung von solchen Vereinen, als „Nestern des 
Separatismus“ ganz entschieden. Die Bittsteller von Poltawa, 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY ' 



42 


Zinkiw, Lubny und anc'eren Ortschaften erhalten auf die mit 
hartnäckiger Ausdauer immer wiener eingereichten Gesuche, 
die sich übrigens auf das verfassungsmäßige Vereinsgesetz 
stützen, die alte, gut bekannte, immer gleich klingende Antwort: 
„wird nicht gestattet“. 

Gegen Ende 1905 erschienen in Poltawa 10 Blätter, 
darunter der ukrainische „Ridnyj Kraj“. Aber die freiheitlicheren 
von denselben wurden unterdrückt und auch das genannte 
einzige ukrainische Blatt mußte infolge der argen Schikanen 
seitens der Preßbehörden nach Kiew flüchten. 

Trotz der für ganzRußland geltenden Gesetze, welche auch 
der ukrainischen Sprache die Freiheit garantieren sollten, er¬ 
laubt die Verwaltung nicht einmal den Druck von ukrainischen 
Theaterankündigungen. Das Theater Sadowskyj erhielt eine 
solche Bewilligung überhaupt nicht, das Theater Saksahanskyj 
erst na«h energischen, bei den höchsten Instanzen gemachten 
Schritten. 

Dife einzige ukrainische Institution, welche unter den 
herrschenden Verhältnissen doch gewisse Spuren vom Leben 
zeigt, ist die Verlagsgesellschaft „Ukrajinskyj Utschytel“ (Ukra¬ 
inischer Lehrer). Sie gab im Jahre 1907 ein Dutzend ukraini¬ 
scher Bücher heraus und bereitet weitere Ausgaben vor. 

Letzter Tage erschien hier der ukrainische Kalender 
„Ridnyj Kraj“ (Vaterland), welcher populäre Abhandlungen 
über die ukrainische Sprache, Geschichte, Volksliteratur, Theater 
etc. enthält. 


Das neue Semstwogebäude. In diesem Jahre ver¬ 
sammelten sich die Semstwomitglieder zum erstenmale im 
neuen Semstwogebäude, dessen Beratungssaal ukrainische 
Ornamente und drei aus der ukrainischen Literatur, aus dem 
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Ukraine 
entnommene Gemälde schmücken. Das erste Gemälde stellt den 
„Kosak Holota“ (der Kosake Habenichts) aus einem alten Volks¬ 
epos dar. Das zweite ist dem wirtschaftlichen Leben entnommen. 
In der Ferne ist ein ukrainisches Dorf sichtbar. Rechts Felder 
und Wiesen, links eine Gruppe „Tschumaken“*) mit ihren 
Fuhren. Auf dem dritten Gemälde sieht man die kosakische 
Obersten wähl im alten Poltawa. Auf einem großen Platz ist 
eine Menge Leute angesammelt. Dem neugewählten Obersten 
werden die Insignien überreicht. 

Die Gemälde sind tadellos ausgeführt, dagegen lassen 
die Ornamente manches zu wünschen übrig. Die Schuld daran 
trägt die Bauverwaltung selbst, welche noch in der letzten 

*) „Tschumaken“, handeltreibende ukrainische Bauern, welche noch 
bis vor nicht langer Zeit in Karawanen nach der Krim, hauptsächlich um 
Salz und gedörrte Fische zogen. Als Zugtiere dienten in der Kegel Ochsen. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



43 


Zeit den herv or ra gen den Kenner des aiaaüuschen Siü&, den 
Künstler Krytschewskyj, der die Arbeiten von altem Anfang 
an geführt hat, durch andere ersetzte, welche durch Hinzu¬ 
fügen von verschiedenen Sträußen u. dgl. an manchen Stellen 
die Reinheit der Ornamente verdarben. Im ganzen macht 
auch die Ornamentik einen sehr günstigen Eindruck und man 
darf erwarten, daß das Poltawaer Semstwogebäude, welches 
man hier allgemein das „Ukrainische Semstwo“ nennt, Schule 
machen wird. Man ersieht daraus, über wie große Reich- 
tümer die produktive Kraft des ukrainischen Volkes auf dem 
Gebiete der Kunst verfügt. M. D. 



Büchereinlauf. 

Gespenster, Drama in drei Aufzügen. Von Henrik Ibsen- 
Uebersetzt von M. Sahirnia. Verlag von Borys Hrintschenko, 
Kiew, 1908. Preis 30 Kopeken. (Ukrainisch). 

Die polnische und russische revolutionäre Be¬ 
wegung und die Ukraine. Erste vollständige Ausgabe. Von 
Michael Losynskyj. Im Selbstverlag des Verfassers, Lemberg, 
1908. S. IV, 200. Preis 3 K. (Ukrainisch). 

Die Allpolen. (Ueber die Allpolen, ihre Geschichte, 
Theorie und geheime Organisation). Von Ossyp Nasaruk. 
Verlag von P. Wolosienka (Bibliothek des „Hromadskyj Holos,“ 
Nr. 7—12). Lemberg, 1907. (Ukrainisch). 

Ukrainskij skipidar. Von E. S. Hrebeniuk, St. Peters¬ 
burg, 1907. (Russisch). 

T. Jaroslawenko: Lieder für Männerchor: 1. Ne 
pora (Partitur, Preis 40 Heller); 2. My hajdamaky (Partitur 
4 Stimmen, Preis 40 Heller); 3. Wy chotilyb spynyt (Partitur, 
Preis 40 Heller). Verlag der „Ukrajinska Nakladnia“, Lem¬ 
berg, 1908. 


Das einzige ruthenische Hotel 

NABODNA HOSTYMSYCIA 

in LEMBERG, Ecke der Sykstuska- und der Kosciüszkogasse, Haltestelle 
der elektrischen Straßenbahn. Hotel, Restauration und Kaffeehaus, 
eir gerichtet nach europäischem Muster. Elektr. Beleuchtung, elektr. Lift, 
Telephon und Bad. Besondere Schlafstellen für minderbemittelte 
Bauern. Die Gesellschaft nimmt neue Mitglieder und Einlagebüchel zur 

Prozentuierung auf. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



An die Völker Europas! 

Das ukrainische Volk besitzt keine großartigen Handels¬ 
magazine und blüht auch bei ihm keine Weltindustrie, 
aber es ist fähig, Sachen zu erzeugen, die infolge ihrer 
hübschen und geschmackvollen Ausführung und 
künstlerischen Form die schönsten Fabrikate überragen. 

beschlagen mit den verschiedenfarbigen 
AOlZcrZSUgUlSSc Korallchen in Dessins, wie: 

Teller im Preise von 10—100 K 
Rahmen verschiedener Größe von 10—120 K 
Spazier Stöcke, axtförmig, von 10—100 K 
Lineale von 5 K aufwärts 
Federstiele von 1—20 K 
Papiermesser von l - 50—3 K 
Fäßchen zu 30 und 40 K u. a. 


Eorailchenerzeugnisse, verschiedenfarbig, dessiniert, wie: 

Uhrketten für Herren von 2—5 K, für Damen zu 6 K 

Gürtel von 10-100 K 

Haar- und Halsbänder zu 2, 3 u. 5 K. 

(Majolika in verschiedenen Dessins, volks- 

1 onsrzeugnisss tüniliche Motive): 

Blumenvasen von 5—100 K 
Wandtell er von 2—30 K 

Aschenbecher und Waschbecken zu verschiedenen 
Preisen. 


Stofferzeugnisse 

Gestickte Hemden von 12—30 K 

„ Krawatten zu 4 und 5 K 
„ Handtücher von 6 K aufwärts 
„ Tischdecken von 30 K aufwärts. 
Huzulenschürzen von 6—20 K 
Huzulische Teppiche von 30 —50 K 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pr. Stk. 

Hände lsfirmenwird ein Rabatt gewährt. 
die Ware aber nur gegen vorher einge¬ 
sendeten Barbetrag geliefert. 


Zu beschaffen durch die Firma 

„Sokilskyj Bazar“ 

Gesellschaft für Handel und Industrie in LEMBERG 


Ruskagasse 20 (Galizien, Oesterreich). 



Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 





I 



HAUSDRUCKEREI Jedermann sein eigener Drucker! 

|- Mit meinen Kautschuktypen-Druckapparaten 

kann jeder sofort drucken: Visit-oder Adreß- 
p? / karten, Avisos, Zirkulare, amtl. Vorladungen etc. 

# / Eine einmalige Zusammenstellung er- 

K £,=._ . . /»y möglicht tausende Abdrücke. Preise mit 

allem Zubehör: 

90 Typen K 1.40 
40 „ „ 2.40 

>55 „ „ 4.80 

168 „ „ 7.20 


' ‘.Vv 


—- Auch in russischer Sprache erhältlich. --- 

Für 3 K eine geschmackvoll ausgeführte Gummistampiglie, bis 4 Zeilen 
Text, von unbegrenzter Haltbarkeit, in eleganter Kassette, mit immer- 
Preisliste gratis. währendem Stempelkissen. Vertreter gesucht. 

J. LEWINS0N Wien, I., Adlergasse 12, Filiale Odessa (Russland). 

Stampiglienfabrikation u. Gummitypengießerei. 


Wichtig für österreichische Politiker! 

ist das im Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig erschienene Werk 

Deutsch-österreichische Politik *99 

Studien über den Liberalismus und über die auswärtige Politik 
Oesterreichs von RICHARD CHARMATZ. 

Preis 8 Mark. Erhältlich durch alle Buchhandlungen. 


Alle Maschinen für Hand- und Kraftbetrieb 
: : : und Formen in jeder Preislage : : : 

zurgewinnbringendenVerwertung von Sand, Steinbruchabfällen usw. 
zu Mauersteinen, Dachziegeln, Platten, Röhren, Trögen etc. 

Hochlohnende Nebenindustrie mit geringer Kapitalsanlage. 

Man fordere gratis illustrierte Orientierungsbroschüre Nr. 238. 
Besuch unseres Werkes erbeten. 

Spezialmaschinenfabrik für Sandverwertung 
Leipziger Zementindustrie Dr. Gaspary & Co., Makranstädt b. Leipzig 
Größte Firma der Branche. Kapital 1,000.000 Mark. 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 


Digitized by 




46 



o 


o 


cd 

a> 


<u . 

bJOl 


c 

<u 

cj 

Vh 

'S 

N 

3 

2 

a> 

x: 

c 

>1 

I* 

c 

o> 

N 

Xd 

£ 

o 

CO 
CJ , 
bß 


s 

4= 

CJ 

c/o 

<D 

bß 

c 

<U 

# G 

*5 

£ 

JC 

o 

<u 

CU X5 
4= Cd 
u JC 

| c 
> <1/ 
CO 
„r- co 

o *~ 

** 
:3 c 

CO S 

8 3 = 

Q> 


C C 

S_g 

4-* £ 

xd Z 

S*a 

bß n 

S 3 

i 

-*-* 
C Ou 
CU 3 

V. 

§ = 

~ § 
*o *o 

8« 

«JS 

5 g 

ffl.Si 

CO 

u. 

a> «*- 
c 3 
a> cd 

> 3 
?> <d 

3 — 

<ü Cd 

"I 

® i 

E M 

0 ) <u 
3 .22 
‘o o> 

* > 
C CO 
bß 
CU c 
■f* 3 
Oßjag 
0/ C 

t: q> 
cu x: 
o 

x: co 

^ c 
o 
*3 
3 




£ C£ <» « 3 JL 0) V- t- 

.£ a> o -2 t; E ~ •—«i 4> 



o> *S 5 *5 * ap ^ o ^ 2i 

gs^d* | -sf-g 
§ mE 

0-2 S|HO d § 


. 333 ^- 

Q <U ^ C _. 
bßcG^-i a> c 


C <D 

- - _ O 3 

üj .2 c •- irt > *53 3 

SslT'l's^-g 

3 « 1» 3° « = “ 

42 ÖJD <U G „ 


° E 

gl 


3 pj C ju-a -o 



.2> G 


E 2 ^ Ä) 

^.E ^ So 

<u « ° 


O | G 5/5 ^ 

So J ig'S.EÄSSaC 

1 = ^71 ~f-S 

"■ssiisfjjäll 

Est o >-S s-° 2J= S 

O CJ f/ ,ü n 

bߣ-0-^*- co*X.3 

öO 43 ß fll 

Ci^TJ <D _c 

“* <U .*2 .2 <1> e -fe *5 _ _ 

. ^ S- •=“ 

S^-ggc-gllsJ 

älco^?«j s i 

_ o *3 c IÖ3 I 

§ ’S 2 eo £ ä JL J .E o n 

52 ^2 «S3§-‘°^§< 


Eoi}| 
o.S 
c 05 o 

rr* rm ^ C 


i T3 
• c 


nWS 


3 . 4 = O 

,C 3 ~ U , ‘ 


1 « § si sj«2§.S 

Sa!-8«3« .<ÖÄ 

" “ 

1 Qi *4- O 

^ - 3 34 = 
cd 4= c ec m 
cu ^ x= 
Oi 2 o ■ 


i> c 

OJC CU 


cd-o’O’O Ui X3 CÄ 
T* 3 c CU CU 

x « 3 §■« 3 V 

a><3 cj 

c 3 

<u cd 

<U ^ 

> 

<u 


: ^ 
)T 3 


- T 3 :3 

: § o 

3 <U 

> O C 

3*J 3 

3 

CJ 

2 
§S 

'S «= 

•- CJ 


bß 

cd 


co r3 ^ <u 
<u co^> 

^■4-4 O ^ 

*>< x * -gs 

X cd OQ 


<U T3 

g C 
O c/ 


o 

nJ CO 


CO 3 


<d a> 
i .=: *o 

CO 


8 


3 G 
-Üg 


O) 

vT^-4 CO 

- « * « 

Cm- O JjM-j 
<U 3 *0 c — 1 
bß cd cd 3 o 

O 3 ^ ^U ^ 

.S>S ö 5 f : ä> 

> E li-o 

:^ = 3 ä bbCQ'ölo 


Digitized by C^Quöie 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 





— 47 


O 3 <D 

toj: 

> > v 

CD 

O CÄ > 

bßtG ^ 

cc_, 

w *0 

l M § 

§ N W> 

j= =•- 
iS M a> 

•N c 

■o-ts-g 
c « ° 
3 x: Ä 

, c c 

*-i o GJ 

gj?.ä? 

Io ' 5 

^ o 


x: 

o 


<d 

,X5 


cf 0 


o 


■o 

5.5 


' bß+x 

<3 

^ bß— 


CS CO 
JC ^ 

•- p -» "> 


U (1) V3 3 


^•O § 
c S-O 
£*•5 

<d 

uc c 
<d g 

<D -*-» 3 
-- tsj ^ 

|g § 

co 'S .sp 

O c £ 
-J <d 
c 2 
CD •— 


■ö S ’S •§ i> 

Üajfj 

u. OQ 
n 

S ~ c 

|»3? &M 

cs ^ o> .zr f- 
^3 CW t « 
CD (D 33 c3 ~ 
OQ JQ*£ CO 

cö .ä 

w,i: n 

CD O 

TS u, 

ao-Ts 8 .Sä 

£ c « u’S 

2 0) CD p 

= > S <d :2 

CD -> wG- 3 

co *n 
■E « £ c •*= 
<DXi£ 0.2 

o£ >" 

— <D CO W «rj 

^O^ca _ 

ö§s«| 

0-5 S£f 

E T5 ö O 
CD e V ^ O. 

i . 5.5 ja *- 

*5 o 2 

ro u, Ti *3 C 

fl» — •— 

CD 


3 

CC 


ox: 

Jn .,2 
bß—» 

— co 
CD 


C 3 C 

4> E 

CO — CO C 

« «£ o 

c- 

E E a».c 
o .e 73 o> 

Q<U Q-p 

5 »-g » 

1 j 8 i| 

4> o> 
^ o>CL E 

CQ > S 
CC3 > CO 3 

x * & N 

S^.|| 

§§*-g 
•gfis £ 

«2 bß £ c§ 

S5 Sx 
'S« g a> 

’S ^ <D 

<0« bß c 

- öß’O c *a 

«3 3 c 

— .£ £2 3 

O ^ 3 

(4_a <D *0 

-^CQ£ 
3 


CCS 


.8 -■-= 


<D CD 
£ CD 

E.C* 

o.ä 

'fj « 

Jq 0> co 

+-> o 

-5.|J 

e* 

C it jÖ 

£ E — 

-§COX> 

CD 

— 4 . -C 
*4- TS CD 

2.5 co 
«3 co 
^ OS 

*gQ o 

’S-22 

5 

£ *c5 

o <d 
o bß< 
c 

-4-» > 

CO 

"^cl’g 


S«j c 

E 

f J c s o 

«a > 

M- fli Ä 

> öd c -o 

co >£i 5 c 
O^^X) 3 
‘ ‘ Jd « ‘ 


3 y > g 


■>—' — 1 ^ QJ 

5 _ 2 *§ X) 


c oi 

5«- 

- £ 5 r 

« g c « J 

£ | c n“ - 
2 ° c 
c 42 x* ws jz 

§ X g 

tlnSt 
« > 4) bO = 
^ 9 fc B I 

^B X 

<5 # CO 
?>§ 


c ir 


__ ^S^Obg 

O U T3 ^ ^ 

CO co CO Um 
p •-< CO^ (D 


3 CO 

CD 

bß ,• 

C J 

s Cv| 


bß 


» c 


.2ä öc 

*o *E ’S ^ e 

"-gS-gsÄ-s 


s-g ii^ 

ccs ^ 4S 2 

CD C co^ C " 
Sou CD CD - 


2 

bßC g ö-g =5*0 ^üt 

^ CD O^CD- r; <C T 5cob 

|^fl s s^= 3 sl 

PcijiSo» C M« 

«ts-g 2 j= c c S = a 

^13 C3 •— .O .y *"* O) Ä S? b 

4> c® 2.Sä 5» COÄ fe «.ä 
^-•aSOisg | «h 


co 


■Sig’?§ a SS€ 55 a 

3 3 _r* D •— bß**- J2 

- S io> n 05 = 3-0 

CCS ^ 


^ ^ S _ C as *^ CD c 

° G.SP £ S=x « ö - 

e ci*c in*— _o^ü <d 

— 3 C5 ^4? 2 Ai :3 co T3 

X «TD |-g 

3 g § öO 5 ^ .-5 - *' 


c 42 ii 


c« 


_ <D 

c 


3 

Tsl 


T3 

£ 22 

t> 3Ä 

3 CD CCS 

cs x: N 


bß ^ 

Ä l- 

• S «n 


w J= 
CD ,0 
O 


JÜC 

-S , 

N c 


C 
< 

D ^ w w 

'S xj.Eo X(XUJ 


CD <DU 
^ bß 
*= SZ 3 
55 cd *2 
C3 <D U 



Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 























| 3t ifc 


* *****■**'** 


THE 


TRADUCTEUR TRANSLATOR I TRADUTTORE 


Drei Halbmonatsschriften zum Weiterstudium der 
französischen, englischen und italienischen Sprache. 

Es gibt zum gleichen Zwecke keine besser an¬ 
gelegten und billigeren Hilfsmittel. Außerdem ver¬ 
mitteln diese Blätter die Korrespondenz in fremder 
Sprache. Wir empfehlen allen Interessenten, sich von 
der Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit dieser Blätter zu 
überzeugen. 

Probenummern für Französisch, Englisch oder 
Italienisch stellt der Verlag des „Traducteur", in La 
Chaux-de-Fonds (Schweiz), bereitwilligst kostenlos zur 
Verfügung. 


Französisch Englisch 


Italienisch 


Lemberg 

Ruskagasse 


Dnister“ 


Eigenes Haus. 


Die einzige ruthenische Versicherungsgesellschaft. 
===== Gegründet 1892. = 

Versichert Gebäude, Mobilien, Getreide, Futter gegen Brandschaden 
sehr mäßige Prämien; den Reingewinn verteilt unter die Mitglieder als 
Rückzahlung; in den letzten drei Jahren betrug diese Rückzahlung 8%. 

Die Entschädigungen werden sehr prompt ausgezahlt. In den letzten zehn 
Jahren hat die Gesellschaft in 6064 Fällen im Ganzen 3,187.258 Kronen 

gezahlt. 

Bei Anleihen werden die Polizzen des „Dnister“ von der Landesbank 
und von den Sparkassen akzeptiert. 


.Dnister 


U vermittelt die Lebensversicherungen bei der 
Krakauer Lebensversicherungsgesellschaft und tritt 
— einen Teil der Provision für die ruthenischen 
Wohltätigkeitszwecke ab. 



Digitized by Got igle 


Original frorn 

INDIANA UN1VERSITY 



















B 


Ukrainische 

Rundschau. 

Herausgeber und Redakteur: Ul. Kuschnir. 

UI. Jahrgang. 190$. Dummer 3. 

OladxlTuck sämtlicher Artikel mit genauer Quellenangabe gestattet.) 


Die Candtagswablen in Dalixien and die galiiischen 
Ulahlföisshräuche. 

Als seinerzeit eine ruthenische Deputation unter Führung 
ruthenischer Abgeordneter beim Statthalter von Galizien, dem 
Grafen Andreas Potocki weilte, Hess sich dieser bezüglich 
der zwischen den ruthenischen Abgeordneten und der Zen¬ 
tralregierung eingeleiteten Verhandlungen dahin vernehmen, 
dass sich die Ruthenen keineswegs auf einen richtigen Weg 
begeben hätten. Mit anderen Worten sagte Herr Potocki offen¬ 
herzig heraus, dass die Zentralregierung in die Angelegen¬ 
heiten des Landes Galizien, welchem auch die Ruthenen an¬ 
gehören, nichts dreinzureden habe. Und doch liess er sich 
von der Zentralregierung, welche sich gegenüber den 
Ruthenen durch Versprechen verpflichtet fühlte, ein Zirkular 
an die ihm unterordneten Behörden abgewinnen, demzufolge 
die letzteren angewiesen werden, gegenüber den beiden das 
Land bewohnenden Nationalitäten gleiches Recht walten zu 
lassen, damit ja die Ruthenen keinen Anlass zur Klage über 
die nationale Intoleranz seitens der politischen Behörden in 
Galizien haben sollten. Freilich gab schon die Tatsache viel 
zu denken, dass ein Rundschreiben von solcher Bedeutung, 
wie man sie demselben ganz berechtigt beimessen durfte, 
nicht in der offiziellen Landeszeitung „Gazeta lwowska“, 
sondern in einem Beiblatt des Statthalters veröffentlicht wurde, 
wodurch einerseits gegen die Zentralregierung demonstriert 
und andererseits dem Rundschreiben selbst jede Bedeutung 
einer offiziellen Kundgebung entzogen wurde. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




98 


Die jüngsten Landtagswahlen in Galizien aber lieferten 
erst einen eklatanten Beweis dafür, dass der Statthalter 
Potocki den Verfügungen der Regierung nicht nur gar keine Be¬ 
deutung beimisst, sondern vielmehr dieselben in einer für die 
letztere höchst beleidigenden Weise ignoriert, selbst aber in 
Galizien ein absoluter Monarch ist, für welchen nur der höchst¬ 
eigene Wille und die Interessen der polnischen Schlachta aus¬ 
schlaggebend sind. Die zur Zeit des Antrittes der Regierung 
Potockis in Galizien verbreiteten Gerüchte, derselbe habe 
sich für sein Vizekönigtum eine unbeschränkte Freiheit der 
Handlung ausbedungen, bestätigten sich in einer geradezu 
erschreckenden Weise. 

Wir können mit einem Gefühl der Betroffenheit verfolgen, 
dass die berüchtigte Wahlprozedur in Galizien, statt mit der 
Zeit in legalere Bahnen einzulenken, im Verhältnis zu dem 
im steten Fortschritte begriffenen Wachsen des politischen 
Bewusstseins des ruthenischen Volkes sich in einen immer 
grösseren Kontrast zu jeglichen Rechtsbegriffen stellt. Die 
letzten, auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahl¬ 
rechtes durchgeführten Reichsratswahlen bewiesen dies zur 
Genüge, müssen aber vor den letzten galizischen Landtags¬ 
wahlen sehr in den Hintergrund treten. Die Tatsache, dass 
die Ruthenen in Galizien, die schon im Jahre 1867 im Land¬ 
tage 46 Abgeordnete hatten und nun auf 149 Mandate nur 
21 zu behaupten vermochten, von denen übrigens 9 von 
Herrn Potocki den Russophilen überlassen wurden, ist an 
sich schon Beweis genug. Der letztere Umstand ist aber für 
die Politik des Grafen Potocki ganz besonders bezeichnend. 
Durch die Wahl russophiler Abgeordneter wollte Potocki, 
der als Eigentümer von immensen Besitzungen in Russland 
mehr russischer Untertan als österreichischer Staatsbürger 
ist, seine Loyalität gegenüber Russland bezeigen. Ausserdem 
sollte auf diese Weise einerseits der neue Kurs der polni¬ 
schen Politik, wie er aus den Reden der. polnischen Mit¬ 
glieder der österreichischen Delegation deutlich herausklang, 
gekennzeichnet und andererseits die ruthenische Vertretung im 
galizischen Landtage geschwächt werden. 

Die Polen sind Meister in der Irreführung der öffent¬ 
lichen Meinung, das muss man ihnen schon lassen. Sie 
haben durch die Art der Durchführung der letzten Landtags¬ 
wahlen dafür wieder einen Beweis geliefert, indem sie sich 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



99 


trotz Koropetz, wo Blut geflossen ist, sogar vom Munde des 
österreichischen Kaisers das Lob für den ruhigen Verlauf der 
Wahlen geholt haben. Allerdings wurde diesmal in t Galizien 
eine neue Wahlmethode zur Anwendung gebracht. Während 
bei den früheren Wahlen die Korruption die Hauptrolle 
spielte und erst was durch Bestechung nicht gewonnen 
werden konnte, am Wahltage selbst mit Hilfe von Bajonetten, 
Arrest, Stimmzetteldiebstahl usw. bewerkstelligt wurde, wurde 
jetzt der Hochdruck auf die Fälschung der Wählerlisten und 
auf Missbräuche bei demWahlmännerwahlen verlegt. Dadurch 
wurde zwar der Missbrauch der Amtsgewalt allgemeiner, 
aber weniger auffallend betrieben und führte sicher zum 
Ziele. Die Wahlen selbst brauchten nicht mehr gefälscht zu 
werden. 

Wie allgemein der Wahlschwindel in Ostgalizien war, 
möge folgendes Verzeichnis von Bezirken beweisen, 
aus welchen besonders krasse Wahlmissbräuche gemeldet wer¬ 
den: Zalistschyky, Bibrka, Staryj Sambir, Bu¬ 
tschatsch, Peremyschl, Peremyschlany, Tere- 
bowla, Horodenka, Tarnopol, Husiatyn, Sambir, 
Jaworiw, Rawa ruska, Nadwirna, Skalat, Beiz, 
Sanok, Zolotschiw, Brody, Tschortkiw, Sokal, 
Dolyna, Jaroslaw, Kossiw, Zboriw, Towmatsch, 
Borstschiw, Rohatyn, Rudky, Dobromyl, Turka, 
Mostyska, Cischaniw;. 

?äi$d)NftgcR der Wäftkrliitei. 

Vor allem wurde überall dafür Sorge getragen, dass in 
die Wählerliste eine möglichst grosse Anzahl Anhänger der 
Kandidaten des polnischen „Nationalrates“ eingetragen, 
dagegen die Anzahl der Anhänger der ruthenischen Kandidaten 
reduziert werde. Dieser Schwindel war der allgemeinste, er 
wurde nicht nur in allen Wahlbezirken, sondern, und dies 
kann man mit Sicherheit behaupten, in jeder einzelnen Ge¬ 
meinde getrieben. Es wurden schwer besteuerte ruthenische 
Bauern gar nicht, dagegen Polen und Juden, auch minder 
oder gar nicht besteuerte, in die Listen aufgenommen. In 
sehr vielen Gemeinden wurden Tote oder vor Jahren Aus¬ 
gewanderte eingetragen, für welche eigens dazu bestellte 
Individuen abstimmen durften. In manchen Bezirken schrieben 
sich die Herren die Listen auf die Weise zurecht, dass nicht 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



100 


zwei Drittel der am höchsten Besteuerten, sondern diejenigen, 
deren Steuerbeträge zusammengezählt zwei Drittel der ge¬ 
samten Abgaben aus dem Dorfe ausmachten, in die Listen 
kamen, wobei sich die Steuerämter selbst die grössten Fäl¬ 
schungen erlaubten. Dann war die Abfassung der Wählerlisten 
auch davon abhängig, ob die betreffende Gemeinde wohl- 
oder weniger wohlaffektioniert war. So kam es sehr oft vor, 
dass kleinere Gemeinden doppelt soviel Wahlmänner wählen 
durften als grössere. Reklamationen wurden fast gar nirgends 
berücksichtigt und übrigens auch die Möglichkeit zu rekla¬ 
mieren den ruthenischen Wählern dadurch entzogen, dass 
die Wählerlisten entweder gar nicht oder erst dann zur Durch¬ 
sicht vorgelegt wurden, wenn die Reklamationsfrist bereits 
verstrichen war. Auch die Virilstimmenlisten wurden gefälscht. 
Nachstehend 

Berichte. In Nahorjanka, Bezirk Butschatsch, wo die 
Ruthenen zwei Drittel der Bevölkerung bilden, wurden nur 
74 Ruthenen und 139 Andere (Juden und Polen) in die 
Wählerliste eingetragen. Von den Ruthenen wurden solche, 
die K 8 bis 18 Steuern zahlen übergangen, dagegen nur K 5 
Steuern zahlende Polen und Juden aufgenommen. Viele Polen 
wurden doppelt eingetragen (vergl. Pos. 74 und 190, 
Pos. 179 und 197 usw.). Ausserdem erhielten 12 Tote 
das Stimmrecht. Das Steueramt stellte falsche Steuer¬ 
ausweise zur Verfügung. (Beispiele: der Dorfspolizist, 
der ein Joch Acker besitzt, wurde als Zahler von K 12 
Steuern, ein anderer, Eigentümer von zwei Joch als Zahler 
von K 25 Steuern bezeichnet, nur damit sie für polnische 
Wahlmännerkandidaten stimmen konnten.) ln Nowosilka 
jaslowetzka wurden in die Wählerliste Knechte des 
Gutsbesitzers, die gar nicht besteuert sind, von denen 
noch dazu einige erst eine Woche vorher aus einer anderen 
Gemeinde gekommen waren, aufgenommen. In Koro petz, 
dem Tatorte des letzten Wahlmordes, wurden 14 Tote 
in die Wählerliste aufgenommen. In Barysch und vielen 
anderen Gemeinden des Bezirkes wurden die Wählerlisten 
erst dann zur Durchsicht vorgelegt, als die Reklamationsfrist 
bereits vorüber war. 

Im Bezirke Mostyska wurde sogar die Viril stimmen¬ 
liste gefälscht. Häring Wolf und S. Majer, welche die 
Virilstimme schon vor sieben Jahren eingebüsst haben, wurden 
in die Virilstimmenliste auch diesmal aufgenommen. In 
Balytschi wurden 14 Tote zu Wählern gemacht, viele 
Tote durften auch in Hussakiw stimmen. Dagegen figu¬ 
rierten auf der Wählerliste der Ortschaft Wyschyna blos 
8 Wähler. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



101 


Von der ruthenischen Organisation für den Bezirk 
Mostyska wurde ein Protest gegen die Gewährung des Stimm¬ 
rechtes für minderjährige Lehrer und Beamte eingebracht. 
Die Bezirkshauptmannschaft entschied aber die Angelegenheit 
in ihrem Beschluss vom 21. Jänner 1908, Z. 298/2 e 24 dahin, 
dass Lehrer und Beamte auch dann wahlberechtigt 
seien, wenn sie das gesetzlich vorgeschriebene 
Alter noch nicht erreicht haben . . . 

Im Dorfe Rossochatsch, Bezirk Tschortkiw, konnten 
keine Wahlmänner bestimmt werden; sobald nämlich solche 
von den Gemeindemitgliedern ausersehen wurden, ver¬ 
schwanden sie aus der Wählerliste. Man wollte 
auf diese Weise eine Einigung unter den Bauern verhindern. 

Die Bezirkshauptmannschaft inPeremyschlany re¬ 
duzierte in den für den ruthenischen Kandidaten sicheren 
Bezirken die Zahl der Wahlmänner (so inDusaniw, 
Bolotnia, Batschiw u. a.), dem Dorf Kurowytschi 
aber, dem Zentrum der Besitzungen des polnischen Kandidaten 
Grafen R. Potocki, wurde einWahlmannmehr zuerkannt. 
Als die Gemeindemitglieder des Dorfes D u s a n i w unter 
Berufung auf die Einwohnerzahl des Dorfes die Zuerkennung 
von drei Wahlmännern verlangten, machte der Bezirkshaupt- . 
mann mit einem Federstrich aus der Einwohner¬ 
zahl des Dorfes 1345 die Zahl 1245 und sagte, dass 
in Anbetracht dessen Dusaniw nur zwei Wahlmänner ge¬ 
bührten . . . 

In dem Marktflecken Uhniw, Bezirk Rawa ruska, 
welcher halb ruthenisch, zur anderen Hälfte aber erst polnisch 
und jüdisch ist, wurden fast alle Polen und Juden, ob 
ihnen nun das Recht zustand oder nicht, in die Wählerliste 
aufgenommen, dadurch aber die Ruthenen auf einDrittel 
reduziert. Viele Polen erhielten zwei Stimmen (Pos. 
359, 698 u. a.). Von Verstorbenen wurde eine 

ganze Menge eingetragen (Pos. 859, 863, 930, 978, 981 u. a.). 
Der Inhaber der Position 981 liegt aber schon 20 Jahre im 
Grabe! . . . 

In den Gemeinden des Bezirkes Zalistschyky, wel¬ 
cher bei seiner zu 80% ruthenischen Bevölkerung den Obmann 
des polnischen Nationalrates, Cienski, zu seinem Vertreter im 
Landtage erhielt, wurden die Wählerlisten durchwegs gefälscht 
Der grösste Unfug, auch mit Toten, wurde getrieben in 
den Gemeinden: Anheliwka, Hopkiwci, Chart o- 
niwka, Nowosilka, Blyschanka, Capiwci. Die Ge¬ 
meindevorsteher erhielten den Auftrag, die Listen nicht zur 
Kontrolle vorzulegen, so dass manche von ihnen aus den 
Dörfern flüchten mussten, um dem Verlangen der Ein¬ 
wohner nicht entsprechen zu müssen. In einigen Gemeinden 
des Bezirkes wurden ruthenische Geistliche, soP. 
Jaworski in Kolodribka und P. Woloschyn, des Wahl- 


Digiti by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



102 


rechtes für verlustig erklärt. Als der erstere, der das Stimm¬ 
recht auch als Besitzer von acht Joch Feld hat, sein Recht 
reklamierte, antwortete die Gemeindeobrigkeit, die Gemeinde 
habe ihren Seelsorger nicht gestrichen, sondern der Bezirks¬ 
hauptmann. 

InKniasytschi, Bezirk Peremyschl, wurde das 
Wahlrecht zwei Individuen, die unter Kuratel stehen, 
gewährt, obzwar sie nicht einmal wahlberechtigt sind. 

ln Proniatyn, Bezirk Tarnopol, wurden Tote, 
in Butzniw desselben Bezirkes 20 gar nicht Besteuertein 
die Wählerliste aufgenommen. Im Bezirke Nadwirna 
wurden die Wählerlisten in allen Gemeinden gefälscht. In 
Risdwjany, Bezirk Terebowla, wurden Minderjährige 
in die Wählerliste eingetragen. Im Bezirk D o 1 y n a wurden 
den für den polnischen Kandidaten sicheren Gemeinden 
Ludwikowka und Wyschkow je ein Wahlmann 
mehr zuerkannt usw. usw. 

Die mUsfträiKhe »ei den Ulablmä tut erwählen. 

Die durch die Fälschung der Wählerlisten erleichterten 
Erfolge erzielte die Partei des polnischen Nationalrates bei 
' den Wahlmännerwahlen selbst auf folgende Weise: Es wurden 
fast gar nirgends Wahltermine angekündigt, die Wahl¬ 
kommissäre brachen in die Dörfer unverhofft, oft nachts, 
herein und führten die Wahlen mit Hilfe von eigens dazu 
bestellten Individuen durch, wobei oft solche Kuriosen vor¬ 
kamen, dass die Anzahl der Gewählten die der Wähler über¬ 
traf. Wenn aber die Wahlen in irgend einer Ortschaft ja an¬ 
gekündigt wurden, so pflegten die Kommissäre um einige 
Stunden früher zu kommen und waren mit den Wahlen fertig, 
noch ehe die angegebene Stunde kam; wenn aber die Bauern 
zur anberaumten Stunde einlangten, wurden sie gewöhnlich 
unter Hinweis auf die k. k. „Wahluhr“ des Kommissärs ab¬ 
gewiesen. Auch solche Unmöglichkeiten kamen vor, dass die 
Wahltermine erst nach den durchgeführten Wahlen ange¬ 
kündigt wurden. Die Wahlmännerwahlen selbst, welche öffent¬ 
lich, in Anwesenheit aller Wähler stattfinden sollen, wurden 
überall in geheime umgewandelt, damit die Fälschung und 
der Terrorismus ungeniert betrieben werden konnten. Es 
wird gewiss einem jeden Westösterreicher sonderbar Vor¬ 
kommen, dass die Ruthenen öffentliche Wahlen geheimen 
vorziehen. Was nämlich anderswo die Bürgschaft der Rein¬ 
heit der Wahlen ist, ist bei uns der Freibrief für die grössten 
Gaunereien. So wurden überall die Wahlmännerwahlen bei ge- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



103 


schlossener Tür durchgeführt und die Wähler einzeln hinein¬ 
gelassen, wo sie bearbeitet wurden und dann eventuell, wenn 
sie Polen oder Juden waren oder sich „überzeugen“ Hessen, 
doppfelt und für ihre nicht mehr unter den Lebenden weilenden 
Anverwandten stimmen durften. Wo aber alle Künste nichts 
halfen, dort wurde einfach das umgekehrte Resultat verkündet. 
Waren doch alle Wahlkommissionen aus von den Kommis¬ 
sären eigenwillig ausgesuchten Individuen zusammengesetzt. 
In den Gemeinden aber, in denen die Gemeindevorstände 
nicht ein gefügiges Werkzeug in den Händen des Bezirks¬ 
hauptmannes sind (solche sind nämlich weisse Raben), wurden 
auch diese von der Kommission ferngehalten. 

Freilich gab es auch einige Bezirke, in denen die Wahlen 
ohne grosse Missbräuche durchgeführt wurden. Die Herren 
waren nämlich so liebenswürdig, auf die 149 Mandate c(en 
Ruthenen 21, beziehungsweise 12 zu überlassen und in den 
betreffenden Wahlbezirken den ruthenischen Kandidaten sogar 
keine sehr grossen Schwierigkeiten zu bereiten. Nachstehend 

Berichte. 

(Nichtankündigung der Wahltermine.) Die Verheim¬ 
lichung der Wahltermine wurde in allen Bezirken praktiziert. 
In manchen Bezirken wurden in ganzen Reihen von Gemein¬ 
den die Wahltermine verheimlicht, z. B. im Bezirke Zalistschyky 
in den Dörfern: Sadky, Solonne, Swyrzkiwci, War- 
wulynci, Kasperiwci, Capiwci, Wyniatynci u. a. 
Die Wahlkommissäre kamen in diese Dörfer unangekündigt 
und führten mit Hilfe der Eingeweihten die Wahlmänner¬ 
wahlen durch. — In Strilky, Bezirk Staryj Sambir, wurden 
die Wahlmännerwahlen nicht angekündigt. Der Kommissär 
Liszkowski kam unverhofft ins Dorf, rief acht dazu 
ausersehene Individuen zusammen und liess in dem rein 
ruthenischen Dorfe zwei Juden wählen. In der 
Stadt Staryj Sambir selbst wurden die Wahlmänner¬ 
wahlen für den 30. Jänner, 4 Uhr nachmittags, als es 
schon ganz' finster war und niemand mehr die Ankündigung 
lesen konnte, angekündigt. — Verheimlicht wurden die Wahl¬ 
termine in den meisten Gemeinden des Bezirkes Dolyna 
(Roznitiw, Swarytschiw, Nadijiw, Broschniw, 
Wytwycia, Rachyn u. a.), in vielen Gemeinden des Be¬ 
zirkes Beiz (Prusyniw u. a.) usw. 

(Anberaumung des Wahltermines nach den 
Wahlen.) In S o 1 o n n e, Bezirk Zalistschyky, erhielten die 
Einwohner des Dorfes die offizielle Nachricht von dem Wahl¬ 
termine, als die Wahlen bereits vorüber waren. Dies war 
auch in Wyniatynci, desselben Bezirkes, der Fall. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 104- - 


(Ein Kuriosum.) Im Bezirke Zalistschyky, wo der Ob¬ 
mann des polnischen Nationalrates kandidiert hat, wurden die 
Wahlen fast gar nirgends angekündigt. Als aber die Leute 
deswegen zu viel Lärm machten, liess der Bezirkshauptmann 
am 2. Februar eine Ankündigung im Gebäude der Be¬ 
zirkshauptmannschaft (nicht aber in den Gemeinden selbst!) 
anschlagen, wodurch die Termine für die Wahlmänner¬ 
wahlen, die zwischen dem 29. Jänner und 4. Februar 
stattfanden, angekündigt wurden. Dieselbe wurde aber so 
hoch angebracht und war so unleserlich, dass ein Teil der¬ 
selben, wie der Gewährsmann des „Dilo“ berichtet, nur 
mittels eines Binokles zu entziffern war — ein Teil derselben 
war verklebt. 

(Die Wahluhr.) Der Wahlkommissär Attenstädter 
in Zalistschyky kam nach Wyniatynci, als es noch 
ganz finster war und „wählte“ bis V 2 8 Uhr früh, noch 
bevor jemand von seiner Ankunft erfuhr, 4 Wahlmänner. Erst 
nach der Wahl erschien die Ankündigung für 9 Uhr vor¬ 
mittags. Als die Leute davon erfuhren und bis 7 2 9 Uhr den 
Platz vor dem Wahllokal besetzten, fertigte sie der Herr 
Kommissär mit dem Hinweis auf seine Uhr, die 11 Uhr zeigte, 
ab. — Ähnliches geschah auch in Lanowytschi, Bezirk 
S a m b i r. Hier waren die Wahlen für 9 Uhr angesagt, doch 
ist der Kommissär um 8 Uhr gekommen und war bis 9 Uhr, 
bis die Leute kamen, mit den Wahlen fertig. — Dieselbe Ge¬ 
schichte wiederholte sich in Barantschytschi desselben 
Bezirkes. 

(Nichtzulassung ruthenischer Wähler 
zur Ausübung der Wahlpflicht.) Diese Massregel 
wurde in allen Wahlkreisen angewendet. Wir führen einige 
Beispiele an. In Slobidka horischna, Bezirk Bu¬ 
tschatsch, wurden auf 150 Wahlberechtigte nur 48 zur 
Wahl zugelassen. — In der Stadt Staryj Sambir, wo 
der Bezirkshauptmann Ricci geschworen hat, den 
ruthenischen Kandidaten nicht durchzulassen („P. Jaworski 
wird nur über meinen Leichnam in den Landtag hinein¬ 
kommen“ — seine eigenen Worte!), durften die Ruthenen 
überhaupt nicht stimmen. — In Warwulynci, Bezirk 
Zalistschyky, wurden auf 39 ruthenische Wähler 20 zur 
Wahl nicht zugelassen. — In Lany welyki, Bezirk Bibrka, 
wurden viele in die Listen eingetragene ruthenische Wähler 
zur Stimmenabgabe nicht zugelassen, dagegen durften 
Wahlunberechtigte ihre Stimmen abgeben. In K n i s e 1 
desselben Bezirkes durften auf 52 ruthenische Wähler nur 
12 ihre Stimmen abgeben. — In Wytkiw, Bezirk Beiz, 
wurden zwei ruthenische, am höchsten im ganzen Dorfe be¬ 
steuerte Bauern zur Stimmenabgabe nicht, an deren Stelle 
aber zwei, die gar keine Steuern zahlen, zugelassen. In 
Machniw desselben Bezirkes wurden viele Wahlberechtigte 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



105 


von der Wahl ausgeschlossen. — In Mi zun, Bezirk Dolyna. 
wurden 25 ruthenische Wähler zur Wahl nicht zugelassen. — 
In Z a b j e, Bezirk Kossiw, durften auf 285 Wahlberechtigte 
nur 140 ihre Stimmen abgeben. — In Bilyj potik, Bezirk 
Tschortkiw, wurden auf 80 Stimmberechtigte von den 
Ruthenen, die 2 / s der Dorfseinwohnerschaft ausmachen, im 
Ganzen 25 zur Teilnahme an den Wahlmännerwahlen zu¬ 
gelassen. — In Zalawle, Bezirk Terebowla, wurden 34 
ruthenische Wähler nicht zugelassen, dafür 7 nichtruthenische, 
die nicht einmal auf den Listen waren. Ähnlich in Mohyl- 
n y c i a und S e m e n i w desselben Bezirkes, ln letzterer 
Gemeinde, wo die Wahlmännerwahlen der Bezickshauptmann 
selbst leitete, wurden ebenfalls 34 ruthenische, Wähler nicht 
zugelassen, darunter Landwirte, die 30—70 Kronen Steuern 
zahlen; dagegen durften Juden, die nicht einmal eine Haus¬ 
steuer zahlen, stimmen. Ähnliche Missbräuche wiederholten 
sich in den Bezirken Terebowla (Pidhirjany u. a.), D o- 
b r o m y 1 (Korosno u. a.), Horodenka u. v. a. 

Wie gesagt war dieser Missbrauch, die Nichtzulassung 
der Wähler zur Stimmenabgabe am allgemeinsten. Er fand 
in allen ostgalizischen Wahlbezirken die ausgiebigste An¬ 
wendung. 

(Fernhalten der Gemeindevorstände von 
der Wahlkommission.) In Tulyholowy, Bezirk 
Mostyska, wurde entgegen den Bestimmungen des § 29 der 
Wahlordnung der Gemeindevorstand zur Wahlkommission 
nicht zugelassen. Desgleichen in S t o j a n k a. Hier wurden 
die Wähler aus dem Wahllokal mit den Worten ausgewiesen: 
„Marsch! Alles hinaus 1 Ich werde euch schon lehren!“ Nicht 
einmal im Flur durften sich die Wähler aufhalten, sondern 
mussten draussen in der grössten Kälte stehen. Dies alles 
bei dem öffentlichen Wahlrecht! 

(Verkündigung umgekehrter Wahlresultate.) 
Diese Massregel wurde im grossen Masstab im Bezirke Bibrka 
angewendet. Der hiesige Bezirkshauptmann Grodzicki, 
derselbe, welcher nach den Reichsratswahlen den neugewählten 
ruthenischen Abgeordneten Budzynowskyj, welcher dorthin ge¬ 
kommen war, um sich die Wahlschwindel in der Nähe an¬ 
zuschauen, arretieren liess, hatte jetzt beschlossen, den ruthe¬ 
nischen Kandidaten, welcher in dem Bezirke unleugbare 
Chancen gehabt hat, unbedingt zu Falle zu bringen. So 
wurden hier erstens die Wählerlisten total gefälscht, die 
Wahlmännerwahlen selbst aber auf die Weise durchgeführt, 
dass die Wahlprozedur verhältnismässig ruhig verlief und 
dann erst das umgekehrte Resultat verkündet wurde. 
So wurden in Hryniw, wo ruthenische Wähler aus dem 
Saal hinausgedrängt wurden, für die ruthenischen Wahl¬ 
männerkandidaten 41 Stimmen abgegeben, für die polnischen 
28, doch wurde das umgekehrte Resultat verlautbart. Das- 

2 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



106 


selbe geschah in den Gemeinden Lany welyki, Wolos- 
tschyna, Suchodil, Knisel, Listschyn, Ottyne- 
wytschi, Hlibowytschi welyki — alle im Bezirke 
Bibrka. — In Slobidka horischna, Bezirk Butschatsch, 
fielen auf die ruthenische Wahlmännerliste 26 Stimmen, auf die 
polnische 22 Stimmen, doch wurde das verkehrte Resultat ver¬ 
kündet. — In Kalyniwstschyna, Bezirk Tschortkiw, 
wurde das umgekehrte Wahlresultat verkündet, desgleichen 
in Romaniwka, Bezirk Terebowla. Gleich ungesetzlich 
wurden die Wahlmännerwahlen in Zazdrist, Warwa- 
rynci, Maliw, Iwaniwka und Terebowla, Bezirk 
Terebowla, durchgeführt. 

(Die Wähler leisten den Eid in der Kirche.) In 
Dewiatnyky, Bezirk Bibrka, fielen von 68 Wählern 50 Stimmen 
auf die ruthenische Wahlmännerliste, doch wurde auch hier das 
umgekehrte Resultat kundgemacht. Die darüber erstaunten 
ruthenischen Wähler eilten in die Kirche, wo sie den Eid 
ablegten, dass sie für den ruthenischen Kandidaten gestimmt 
hatten. — In Tschajkowytschi, Bezirk Rudky, wurde 
ein Anhänger des polnischen Kandidaten angeblich mit 74 
auf 79 sämtlicher abgegebener Stimmen zum Wahlmann ge¬ 
wählt, obwohl 23 Wähler unter Eid aussagten, für ihn nicht 
gestimmt zu haben. 

(Verkündigung des Wahlresultates im pri¬ 
vaten Wege.) In Suhriw, Bezirk Bibrka, wurden zwei 
Wahlmänner gewählt, doch nur die Wahl von einem offiziell 
verkündet, die Wahl des anderen wurde dann von dem Kom¬ 
missär „privat“ mitgeteilt. 

(Kompromi-ssresultate.) In Kasperiwci, BezirkZalis- 
tschyky, wo die für den 30. Jänner anberaumten Wahlen 
am 29. nachmittags durch ein Plakat angekündigt wurden, 
wurden die Wahlmännerwahlen bei geschlossener Türe vor¬ 
genommen. Es wurden 80 Stimmen auf die ruthenische und 
25 auf die polnische Wahlmännerliste abgegeben. Demnach 
sollte die ruthenische Liste siegen, oder, wenn schon gefälscht 
wurde, die polnische durchdringen. Indessen vernahm man 
zur allgemeinen Verwunderung, dass zwei polnische und ein 
ruthenischer Wahlmann gewählt wurden. — In Tschajko¬ 
wytschi, Bezirk Rudky, wurde die Wahl von drei Wahl¬ 
männern verkündet, obwohl sie nicht die Stimmenmajorität 
für sich hatten. Dem gegen diese Wahlen eingebrachten 
Protest wurde zwar stattgegeben, doch entfaltete der Kom¬ 
missär bei den Neuwahlen einen unerhörten Terrorismus und 
erklärte zuletzt, dass zwei Polen und ein Ruthene gewählt 
werden müssten, weil er sonst überhaupt keinen Ruthenen 
durchlasse. 

(Eine Ergänzungswahl.) In Suschycia welyka, Be¬ 
zirk Staryj Sambir, wurde das Wahlresultat, welches für die pol¬ 
nische Partei ungünstig ausfiel, nicht verlautbart. Der bei der 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



107 


Wahl anwesende Bezirkshauptmann Ricci teilte den Wählern 
mit, er werde ihnen dasselbe schon schriftlich bekannt¬ 
geben. Als sich aber die Leute entfernten, rief er einige 
Juden zusammen und führte eine „Ergänzungswahl“ durch, 
bei welcher an Stelle des bereits gewählten ruthenischen 
Geistlichen ein Jude gewählt wurde. 

(Übereifrige Wahlkommissäre.) In Komancze, Be¬ 
zirk Sanok, waren die Wahlen für den 4. Februar, 2 Uhr nach¬ 
mittags angekündigt. Doch kam der Kommissär bereits um 
4 Uhr früh ins Dorf und war um 9 Uhr mit den Wahlen fertig. Keine 
einzige ruthenische Stimme konnte abgegeben werden. — 
Nach C a p i w c i, Bezirk Zalistschyky, kam der Kommissär Lu- 
baczewski um V 28 Uhr früh ohne vorherige Ankün¬ 
digung und führte mit den bestellten Individuen augenblick¬ 
lich die Wahlen durch. Als die Leute in einer halben Stunde 
auf ein Signal zusammenliefen, war der Kommissär schon 
mit den Wahlen „fertig“ und Hess keinen Wähler mehr 
stimmen. Dasselbe war in Tluste, desselben Bezirkes, der 
Fall. Zu bemerken ist, dass dies zwei der grössten Ge¬ 
meinden im Bezirke sind, die zusammen 11 Wahlmänner 
liefern. 

(Der Kommissär hat sich geirrt.) In Perehinsko, 
Bezirk Dolyna, waren die Wahlmännerwahlen auf den 19. Fe¬ 
bruar anberaumt. Doch kam der Wahlkommissär schon am 
17. mit 15 Gendarmen und erklärte den verwunderten Dorfs¬ 
einwohnern, die ihn auf die Nichteinhaltung aufmerksam 
machten, er habe sich geirrt . . . 

(Eine Ehrenstimme.) In Seredna, Bezirk Peremyschl, 
wurde der Sohn des Grossgrundbesitzers in Krywcze, Jocz, 
zum Wahlmann gewählt, obwohl er nicht einmal in der Ge¬ 
meinde wohnt Als aber die Leute fragten, wie so er über¬ 
haupt auf die Liste aufgenommen wurde, erhielten sie zur 
Antwort, er habe eine Ehrenstimme. Für die brave 
Aufführung bei den Wahlen versprach der Bezirkshaupt¬ 
mann Lanikiewicz dem dortigen Ortsrichter, dieser 
werde seine Würde bis an sein Lebensende bekleiden, unge¬ 
achtet dessen, dass derselbe schon jetzt infolge einer bereits 
stattgefundenen Neuwahl des Gemeinderates ungesetzlich 
amtiert. 

(Hintertürwahlen.) In Horodenka dauerten die Wahlen 
zwei Tage. Während die Polen und Juden durch eine Hinter¬ 
tür hineingelassen wurden, mussten die ruthenischen Wähler 
draussen, vor dem Haupteingang ins Wahllokal, im grössten 
Frost warten. Man wollte auf diese Weise die Leute des 
Wartens überdrüssig machen. Als sich aber die Leute auch 
durch zweitägiges Warten nicht abschrecken Hessen, wurde 
das Wahlresultat spät abends verlesen und die Leute wegen 
vorgerückter Stunde abgefertigt. — In Jaworiw wurden die 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original frcm . 

INDIANA UNtVERSITY 



108 


Polen und Juden durch eine Hintertür hineingelassen, die 
Ruthenen dagegen gar nicht. 

(Der Meierhof als Wahllokal.) Der Kommissär 
Smolen kam am 4. Februar auf Umwegen durch die Wiesen zum 
Gutspächter in P r u s y n i w, Bezirk Beiz, wo ihn 6 pol¬ 
nische Wähler erwarteten. Ohne dass jemand im Dorfe etwas 
davon wusste, wurde die Wahl ohne Kommission 
durchgeführt. Es wurden gewählt der Gutspächter, ein Jude, 
ausser ihm aber noch ein Jude und ein Pole. 

(Biosstellung eines Wahlkommissärs.) In 
R i p ja n k a, Bezirk Butschatsch, setzte der Wahlkommissär 
Gawel die Wahl des Ortsvorstandes gegen dessen Willen durch. 
Dieser begab sich dann ins Bureau des Kommissärs und fragte, 
auf welche Weise er gewählt worden sei, nachdem er selbst 
bei der Kommission anwesend war und gesehen habe, dass er 
nicht, wie es im Protokoll steht 26, sondern nur gerade die 
Hälfte davon erhalten habe. Der erzürnte Kommissär antwortete 
aber darauf: „Das geht Sie aber nichts an, es ist so aus¬ 
gefallen und Schluss !“ — Auch inNahorjanka desselben 
Bezirkes fand sich ausnahmsweise ein anständiger Gemeinde¬ 
vorstand, der infolgedessen, weil viele ruthenische Wähler 
zur Wahl nicht zugelassen wurden, sein Amtssiegel für die 
Protokolle nicht hergeben wollte. Der Kommissär fuhr ohne 
Bestätigung davon, kam aber am nächsten Tage zurück, sein 
Verlangen wiederholend. Als aber der Vorstand standhaft 
blieb, schlug er eigenmächtig einen Zettel mit der Verkündigung 
des nicht bestätigten Wahlresultates an dem Gebäude der 
Gemeindekanzlei an. 

(97V 2 0 /o Wähler des Wahlrechtes beraubt.) In der 
Bezirksstadt Peremyschlany wurden die Wahlmännerwahlen 
am 4. Februar vorgenommen. Auf 500 Wähler wurden nur 
15 zur Wahl zugelassen, welche 10 Wahlmänner wählten ! — 
Ähnliches ereignete sich in Skolyschiw, Bezirk Sokal, 
wo auf 200 ruthenische Wähler blos acht Ruthenen stimmen 
durften. 

(Von der Hochzeit zur Wahl.) In Polupaniwka, 
Bezirk Skalat, wusste niemand wann die Wahlmännerwahlen 
stattfinden sollten. Nur der Gemeindevorstand wurde in das 
Geheimnis eingeweiht. Es wurde so abgemacht, dass der Kom¬ 
missär nach Mitternacht ins Dorf kommen und die Wahlen 
mit den Konfidenten noch in der Finsternis machen sollte. 
Dem Gemeindevorstand traf sich eine gute Gelegenheit bei 
einer Hochzeit die Nacht zuzubringen, von wo er sich mit 
einigen angeheiterten Gevattern in das bestimmte Lokal begab 
und mit dem Kommissär die Wahlmänner wählte. 

(Kriegslist eines k. k. Kommissärs.) In Kalne, Be¬ 
zirk Dolyna, wurde der Wahltermin nicht angekündigt. Doch 
vermochten die Leute denselben auf irgend eine Weise zu er¬ 
fahren und versammelten sich in der Gemeindekanzlei, wo 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



109 


sie die Ankunft des Kommissärs erwarteten. Doch war dieser 
noch pfiffiger. Er liess die Leute ruhig warten und führte die 
Wahlen in der Wohnung des Försters durch. — 
In Zawadiw, Bezirk Jaworiw, wurden die Wahlen vor- 
schriftsmässig angesagt, nur das Wahllokal nicht bezeichnet. 
Die Leute glaubten, dass die Wahlen, wie es bei ihnen üblich 
war, in dem Gemeinderatsgebäude stattfinden werden und 
versammelten sich dort. Indessen schlug der Kommissär sein 
Quartier in der Dorfsschule auf und war augenblicklich mit 
den Wahlen fertig. Die Leute begannen, davon in Kenntnis ge¬ 
setzt, dorthin zu laufen, aber sie wurden nicht hineingelassen. 

(Verbesserungen der Wahlen.) In Torhiw, Bezirk 
Zboriw, wählten die Bauern vormittags ruthenische Wahl¬ 
männer. Nach den Wahlen aber, als die Leute auseinander¬ 
gingen, kündigte der Wahlkommissär ausserordentliche 
Wahlen für Nachmittag an, zu welchen ausersehene Individuen 
einberufen wurden und korrigierte die Vormittagswahlen 
nach seinem Ermessen. 

(Zwei Wähler wählen drei Wahlmänner.) Nach 
Steniatyn, Bezirk Sokal, kam der Wahlkommissär ohne jede 
Ankündigung zum Dorfsvorsteher, liess unter dem Vorwand, 
dass dieser krank sei, einen Gemeinderat holen und beide 
einander und noch einen dritten Nichtanwesenden wählen. 

(Der Zynismus eines galizischen Wahlkom¬ 
missärs.) Der Gemeinde Belejiw, Bezirk Dolyna, wo der 
Bezirkshauptmann mit Bestimmtheit auf ein günstiges Wahl¬ 
resultat für den polnischen Kandidaten rechnete, wurden statt 
2Wahlmänner3 zuerkannt. Aber weil infolge der Sicherheit 
nicht geschwindelt wurde, wurden lauter ruthenische Wahl¬ 
männer gewählt. Nach beendeter Wahl überraschte aber der 
Kommissär Stroka die Wähler mit folgender Erklärung: „Wisst 
Ihr Leute, diese Wahlen werden nicht verkündet werden, weil 
die Gemeinde eigentlich nur zwei Wahlmänner wählen soll“ . . 

(Stimmenzersplitterung.) In Markiwka, Bezirk 
Towmatsch, stimmten alle Wähler für einen ruthenischen Wahl¬ 
mann. Doch machte der Kommissär aus einem drei Namen 
(Mlenynskyj, Mlynynskyj, Mlynskyj) und erklärte seinen Kan¬ 
didaten für gewählt. — Ähnliches geschah in Zniatyn, Be¬ 
zirk Sokal, wo der ruthenische Wahlmannskandidat Dumka 
die Mehrheit erhielt. Aberder Kommissär „vergass“ dem rutheni¬ 
schen Kandidaten vier Stimmen einzurechnen, die restlichen für 
diesen abgegebenen Stimmen teilte er aber zwischen dem Dumka 
und Duma (der verstümmelte Name Dumka mit ausgelassenen 
„k“) und so konnte sein Kandidat, der polnische Geistliche, 
durchdringen. 

(Ein Wahlwunder.) In Wysypiwci, Bezirk Terebowla, 
fielen von 75 Wählern 80 Stimmen. Anfangs dachten die 
Leute an ein Wunder, welches sich erst dann aufklärte, als 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



110 


man erfuhr, dass bezahlte Individuen für Tote ge¬ 
stimmt haben. 

(Rache für die Reichsratswahlen.) In Pidhirjany, 
Bezirk Terebowla, wurden viele wahlberechtigte Ruthenen zur 
Wahl nicht zugelassen. Der Gemeindevorstand rief aus: „Diese 
dürfen nicht wählen, weil sie bei den Reichsratswahlen für 
Mahler gestimmt haben“. — „Ganz richtig“ — bestätigte 
diese Enunziation der Wahlkommissär. — Der Bezirkshaupt¬ 
mann selbst bat die Juden von Terebowla, sie sollen dem 
Abgeordneten Mahler telegraphieren, dass er nicht zur Be¬ 
richterstattung über seine Tätigkeit im Reichsrat komme, weil 
er eine schädliche Beeinflussung jüdischer Wähler durch den¬ 
selben befürchtete. 

(Die Rechenkunst einesgalizischenWahlkom- 
missärs.) In Zabje, Bezirk Kossiw, sperrte sich der Kom¬ 
missär Tyszkowski im Wahllokal mit dem Gemeindevorstand ein 
und Hess die Wähler einzeln herein. Auf 6900 Einwohner der 
Ortschaft waren 941 auf der Liste. Von diesen Hess er nur 285 zur 
Stimmenabgabe zu, von den 285 abgegebenen Stimmen er¬ 
kannte er nur 140 für giltig, selbstverständlich nur solche, 
die ihm passten und wählte so seine 14 Wahlmänner. 

(Auch ein Grund.) In Chlopiatyn, Bezirk 
Sokal, fungierte als Wahlkommissär Herr Smolen. Als 
er bemerkte, dass auf 32 Wähler bereits 26 ihre Stimmen 
für den ruthenischen Kandidaten abgaben, unterbrach er 
die Wahlen mit der Bemerkung: „Die Wahlen sind nicht 
giltig, weil nicht alle gleich gestimmt haben“ ... — Ähnliches ge¬ 
schah in Borynia, Bezirk Turka. Hier wurden die Wahlen 
von dem Kommissär verschoben, als er gesehen hatte, dass 
die Angesammelten lauter bewusste ruthenische Bauern waren. 

(Die Wahldisziplin.) In Korosno, Bezirk Dobromyl, 
wurden zwei Wählerlisten angelegt, eine für die Bauern, eine 
andere für die Juden. Doch wollte der Kommissär die erstere 
nicht verlesen und Hess die Bauern wegdrängen. Als der 
der Kommission beiwohnende Stellvertreter des Gemeinde¬ 
vorstandes, ein bewusster ruthenischer Bauer, dies gewahrte, 
verliess er das Lokal mit der Bemerkung, er könne dieser 
Vergewaltigung nicht zusehen. Der erzürnte Kommissär liess 
den Bauern durch den anwesenden Gendarmen einholen 
und beim Kragen zurückführen. Dem ins Lokal Hineinge¬ 
drängten drohte er aber mit einem halben Jahr Kerker. Es 
wurden zwei Juden und ein polnischer Förster gewählt, welch 
letzterer nicht einmal in der Gemeinde wohnt. 

(Der Kommissär hat kein Papier.) In Chliw- 
tschany, Bezirk Sambir, hält der Wahlkommissär vor den 
Wahlmännerwahlen die übliche Ansprache, in welcher die 
Wähler bestimmt werden, für die Anhänger des polnischen Kan¬ 
didaten zu stimmen und schliesst dieselbe mit den Worten: 
„Stimmt gut ab, zersplittert nicht eure Stimmen und wählet den- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



111 


jenigen, welchen ich euch wählen lasse, weil ich nur soviel 
amtliches Papier habe, um den einen aufzuschreiben!“ . . . 

(Ein Zauberwort.) In Wyschniw wurden die für die 
Ruthenen günstig ausgefallenen Wahlen für ungiltig erklärt. 
Aber für den Tag der Neuwahlen erhielten sehr viele Wähler 
Vorladungen ins Gericht, andere aber schleppte die Gen¬ 
darmerie in den Wald behufs Untersuchung eines Holzdieb¬ 
stahls. Da fiel es einem ein, sich als Pole zu bekennen. 
„Herr — sagte er zum Gendarmen — ich bin ein Pole und 
werde für den Polen stimmen.“ Dies wirkte. Der Bauer durfte 
zu den Wahlen gehen. 

Die k. k. politischen Beamten in Balizien als Ulahlagitatoren. 

Die Schuld an dem Verlaufe der Wahlen trifft jedoch 
die galizische Beamtenschaft nicht nur als Arrangeure der 
himmelschreienden Missbräuche, sondern auch als die tätig¬ 
sten Agitatoren des polnischen Nationalrates. Und Agitations¬ 
mittel hat ein galizischer Bezirkshauptmann die Hülle und 
Fülle bei der Hand. Ein Gemeindevorstand, welcher nicht so 
handelt, wie es der Herr Bezirkshauptmann wünscht, muss 
jeden Tag einen anderen Strafboten gewärtigen. Einmal fehlt 
ein Ausweis, ein anderesmal kommt ein Bericht über die 
Tätigkeit der Gemeinde zu spät, dann wiederum kommen 
Missverständnisse wegen Schulangelegenheiten, Sanitätsvor¬ 
schriften, Viehpasseporten vor usw. usw. Besonders die 
sanitären Vorschriften sind seit den letzten Wahlen eine 
Plage für die Bevölkerung. So wird auch in einer Reihe von 
Interpellationen, welche die ruthenischen Reichsratsabgeord¬ 
neten in der verflossenen Session einbrachten, über die 
Schikanen seitens der Bezirksveterinäre Klage geführt. 

Wie die Agitation der k. k. galizischen politischen Be¬ 
amten ausschaut, das mögen einige Beispiele zeigen. So 
versuchte der Peremyschler Bezirkshauptmann Lanikiewicz 
die Witischyner Gemeindemitglieder zur Abgabe ihrer Stimmen 
für die polnischen Kandidaten zu bewegen und versprach 
ihnen dafür die Erlaubnis zu einer Sammlung für 
den Bau der Kirche,, um welche sich die Gemeinde schon 
längere Zeit bewarb. Der Bezirkshauptmann in Sokal, Kali- 
niewicz, versprach den Leuten aus Uhryniw, einem an der 
russischen Grenze gelegenen Dorfe, die anstandslose 
Ausfolgungvon Passierscheinen nach Russland, 
wenn sie die ihm angenehmen Wahlmänner wählten. Der 
Schulinspektor J. Freudenberg in Jaworiw, machte vor den 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



112 


Wahlen eine Tournee durch die ihm unterstehenden Schulen, 
an denen ruthenische Lehrer angestellt sind, trachtete die 
verschiedenartigsten Schikanen gegen dieselben ausfindig zu 
machen und sagte dann: „Also merken Sie sich, bessern Sie 
sich, lassen Sie sich zum Wahlmann wählen und stimmen 
Sie dann für den Grafen Szeptycki, sonst werde ich 
eine D i s z i p 1 i n a r u n t e r s u c h u n g gegen Sie 
e i n 1 e i t e n.“ — Der Bezirkshauptmann von Bibrka, Gro- 
dzicki, zitierte vor den Wahlen täglich Leute zu sich, drohte 
ihnen mit Gendarmen, Arresten und Prozessen, weil 
angeblich für den 25. Februar, den Abgeordnetenwahltag, 
ein Pogrom vorbereitet werde. Er arretierte auch aus 
diesem Anlasse den ruthenischen Studenten M a r c z a k, 
welchen das Gericht aber sofort auf freien Fuss setzen 
lassen musste. — In Ozerjany, Bezirk Borstschiw, wurde 
100 Schulkindern ungenügende Frequentierung der Schule 
nachgewiesen und deren Eltern eine Strafe im Gesamtbeträge 
von K 500 auferlegt. Der Vorstand von Ozerjany begab sich 
infolgedessen zum Verwalter der Statthalterei als Vorsitzenden 
des Kreisschulrates. Dieser erklärte, die Strafe a u f- 
heben zu wollen, wenn die Gemeinde für 
den L a n d e s r e g i e r u n g s k a n d i d a t e n stimmen 
werde. — Der Bezirkskommissär Switalski in Towmacz 
liess den Gemeindevorstand von Ladske schlachotske 
zu sich rufen und sagte zu diesem: „Machen Sie die Wahlen 
so, wie ich es Ihnen angebe, sonst werden Sie nicht 
mehr Gemeindevorstand.“ — In Biloberizci, Bezirk 
Kossiw, wollte der Gemeindevorstand dem Bezirkskommissär 
Markowski das Gemeindesiegel nicht zur Besiegelung der 
Wahlfälschungen ausfolgen. Dafür wandte sich dieser mit 
dem Ersuchen an den Bezirksrat, man möge eine Lustration 
der Tätigkeit des Gemeinderates durchführen. Diese fiel so aus, 
dass der Gemeindevorstand suspendiert wurde, damit er 
bei den neu durchzuführenden Wahlen nur ja nicht anwesend 
sei. — In Starjawa, Bezirk Dobromyl, wurden ruthenische 
Wahlmänner gewählt. Dafür rächt sich wiederum der dortige 
k. k. Kammergutsverwalter an den ruthenischen Bauern 
usw. usw. 

Der aiabitnord. 

Wahlmord ist seit mehr als zehn Jahren ein von den 
galizischen Wahlen untrennbarer Begriff. Der von Björnstjerne 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



113 


Björnson unnachsichtig entblösste böse Geist der polnischen 
Nation scheint seine besondere Ehre darin zu suchen, dass 
jede Wahlbewegung in Galizien mit Leichen ruthenischer 
Wähler geschmückt werde. Während der ersten Wahlen aus 
der neugeschaffenen fünften Kurie im Jahre 1897 fiel in 
Tschernijiw Petro Stasiuk durch dieHandderGendarmen. 
Ihm folgte im Jahre 1902 Franko Skotschylis in Jachtoriw, 
der im Jahre 1902 während des Massenstreikes der ruthe* 
nischen Feldarbeiter umgebracht wurde. Während der Agitation 
für die Wahlreform im Jahre 1905 fielen drei Leichen, 
darunter eine weibliche in Ladske. Während der 
zum erstenmal auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes durch¬ 
geführten Wahlen im Jahre 1907 wurden in Horutzko vier 
Leute ermordet. Im Jahre 1908 aber büßte Marko 
Kahanetz in Koropetz auf dem Felde des Wahlkampfes 
sein Leben ein. 

Infolge des von der Lemberger Filiale des k. k. Korre¬ 
spondenzbureaus, welches, wie bereits im Parlament 
von seiten der ruthenischen Abgeordneten hervorgehoben 
wurde, zu Diensten der polnischen Gewalthaber steht, ge¬ 
fälschten Berichtes über den Wahlmord in Koropetz 
sehen wir uns veranlasst, die Geschichte desselben in aller 
Kürze auf Grund authentischer Informationen wiederzugeben. 
Am 4. Februar wurde in Koropetz, Bezirk Butschatsch, 
der ruthenische Bauer Marko Kahanetz, Mitglied des 
erweiterten Nationalrates, von Gendarmen ermordet. Er erhielt 
von einem Gendarmen eineh Bajonettstich, von einem andern 
zwei, welche den augenblicklichen Tod zur Folge hatten. 
Dem unglücklichen Opfer konnte keine andere Schuld nach¬ 
gesagt werden, als dass es gegen die Fälschung der Wähler¬ 
listen protestiert und am Vortage seines Todes ein Telegramm 
in Angelegenheit der gefälschten Wählerlisten an den Bezirks¬ 
hauptmann entsendet hat. Am 4. Februar, dem Tage seines 
Todes, war Kahanetz in Begleitung eines anderen Bauern 
auf dem Wege zur Gemeindekanzlei, als beide von einem 
Gendarmen arretiert wurden. Der Begleiter des Kahanetz 
hatte sich nämlich an einer Schlägerei beteiligt, welche aus 
dem Grunde entstanden war, dass die Gemeindemitglieder 
den Gemeindevorstand und dessen Bruder nicht in die 
Wahlmännerliste aufnehmen wollten. Kahanetz aber wurde 
deswegen arretiert, weil er sich in dessen Gesellschaft 

3 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



114 


befand und man froh war, Gelegenheit zu finden, ihn, der 
in der ganzen grossen Gemeinde (mit über 5000 Ein¬ 
wohnern) die Führerrolle innehatte und bei der Fälschung 
der Wählerlisten der Partei des Grafen Henryk Badeni einen 
Strich durch die Rechnung machte, abzufangen. Als sich nun 
die Arretierten mit den Gendarmen der Gemeindekanzlei 
näherten, wo ein anderer Gendarm die Untersuchung über 
die erwähnte Schlägerei führte, Hess der die beiden Arretierten 
eskortierende Gendarm dieselben einfach beiseite und begab 
sich zu seinem Kollegen, worauf sie plötzlich die Menge, zu 
deren Anwachsen sie selbst beigetragen hatten, auseinander¬ 
gehen Hessen. Diese wich zurück, und die beiden 
Arretierten, die sich in ihrer Mitte befanden, wurden mitge¬ 
rissen. Nun drang auf einmal ein Gendarm durch die Menge 
zu Kahanetz und versetzte ihm einen Stoss in den 
Kopf, so dass dieser betäubt schwankte. Nun wurde er 
von seinem Bruder und seiner Frau, welche bei dem allen 
anwesend waren, unter die Arme genommen und geführt. In¬ 
dessen ging der wackere Gendarm zu seinen Kollegen zurück. 
Dann sprangen sie über einen Zaun, um von einer anderen 
Seite aus zu den Leuten zu gelangen und drängten mit auf¬ 
gepflanzten Bajonetten diese zurück. Auf einmal stürzten 
sich alle drei Gendarmen wie auf Kommando 
auf Kahanetz, welcher von drei Leuten gestützt wurde 
und einer stach den gänzlich Wehrlosen in die Brust. 
Bevor er noch von den ihn Stützenden geschützt werden 
konnte, wurde er von dem zweiten Helden zwei¬ 
mal in den Bauch gestochen, was seinen sofortigen 
Tod herbeiführte. 

So wurde am hellen lichten Tage von den Wächtern 
der öffentlichen Sicherheit ein wehrloser Mensch umgebracht, 
ohne dass er oder irgend jemand anderer aggressiv gegen 
dieselben vorgegangen wäre. — Zu bemerken ist, dass der 
Ermordete seinerzeit infolge seiner politischen Tätigkeit ein 
polnisches Todesurteil erhalten hat. Dieses wurde nun 
vollführt. 


1897, 1902, 1906, 1907, 1908 — das sind in der Ge¬ 
schichte der politischen Emanzipation des ruthenischen 
Volkes denkwürdige Jahre. Wenn jemand die Daten ver¬ 
gleicht, wird er aus ihnen eine sonderbare Konsequenz gewahr. 


□ igitized by Google 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



115 


Das nationale und politische Bewusstsein des ruthe- 
nischen Volkes in Galizien reift heran und wird den 
Allgewaltigen im Lande unerträglich, die Reaktion der 
Letzteren gegen die aufgewachte ruthenische Volksseele wird 
fieberhaft betrieben, die Opfer fallen immer häufiger, 
die Daten verdichten sich und verdichten die Atmosphäre 
im Lande. . . Die Leichen fallen, aber die Volksseele lässt 
sich nicht unterdrücken, aus dem Blute der Gefallenen er¬ 
stehen neue Kämpfer und Rächer. 1906, 1907, 1908, jedes 
Jahr mit dem Blute ruthenischer Bauern befleckt! Wird denn 
das Volk sich dies auch weiterhin gefallen lassen? Wird es 
ruhig abwarten wollen, bis sich die Morde allmonatlich, all¬ 
wöchentlich wiederholen? Wird es weiter ruhig bleiben? 
Wohl hat es sich das Lob für seine Ruhe von der höchsten 
Stelle aus zugezogen. Aber die Ruhe ist trügerisch. Das 
haben einst die Vorfahren des Grafen Potocki auf ihrer Haut 
zu spüren bekommen. W. K. 


Ein ukrainischer Gesetzentwurf in der dritten Duma. 

Dank der neuen, oktroyierten Wahlordnung konnte die 
Ukraine an Stelle der 47 ukrainischen Abgeordneten in der 
zweiten Duma, die, in einen Klub zusammengetan, eine nationale 
Vertretung des ukrainischen Volkes waren, blos einen einzigen 
Abgeordneten in das dritte russische Parlament schicken, von 
dem man die Vertretung der Interessen des ukrainischen 
Volkes erwarten durfte. Alle anderen Abgeordneten aus der 
Ukraine waren lauter Anhänger der rechten russischen Parteien 
verschiedener Schattierungen, deren Programme sämtlich in 
den drei Schlagworten gipfeln: Orthodoxie, Selbstherrschaft 
und Nationalität (nota bene russische) und die sich als solche 
der ukrainischen Frage gegenüber äusserst feindlich verhalten. 
Die reaktionäre russische Gesellschaft und deren Repräsentanz 
in der Presse, allen voran das „Nowoje Wremja“, triumphierten. 
Für sie schien die ukrainische Frage dadurch auch schon 
gelöst zu sein. Die Gerüchte über die bevorstehende Bildung 
eines konservativen ukrainischen Klubs (mancher feurige Kopf 
begann sogar aus diesem Anlasse vom Schwarze Hundert- 
schaften-Ukrainismus zu reden) schienen eine Unmöglichkeit 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



116 


zu sein. Hatte sich doch die ukrainische nationale Bewegung 
dem allgemeinrussischen Befreiungskampf unterordnet und 
schien die ukrainische nationale Idee von den Begriffen des 
Fortschrittes und politischen und sozialen Radikalismus unzer¬ 
trennlich zu sein. Das ukrainische Sozialistenblatt „Slowo“ 
war das erste, welches der Märe von der offiziellen Fort¬ 
schrittlichkeit des Ukrainismus ein Ende machte. Dasselbe 
begegnete der Kunde über die Organisierung konservativer 
ukrainischer Elemente als einer notwendigen Erscheinung und 
einem Zeichen der sozialen Differenzierung des ukrainischen 
Volkes. Zur Bildung eines besonderen ukrainischen Abge¬ 
ordnetenklubs kam es allerdings bis jetzt noch nicht, aber 
wir haben bereits einen Beweis aufzuweisen, dass die Gerüchte 
keinesfalls unbegründet waren und dass die Organisation 
der konservativen Ukrainer in der Duma jm Gange ist. Es ist 
dies ein von 33 Abgeordneten, Angehörigen verschiedener 
Parteien der Rechten eingebrachter Gesetzentwurf über 
die Einführung der ukrainischen Sprache in 
den auf ukrainischem Territorium befindlichen 
Volksschulen. Der Entwurf lautet: 

1. In den Ortschaften mit ukrainischer Bevölkerung findet 
der Unterricht in den Elementarschulen, ganz besonders in 
den ersten Jahren, in der Muttersprache statt. 

2. Die russische Sprache als Staatssprache ist in den 
Elementarschulen obligater Unterrichtsgegenstand. 

3. In den Elementarschulen des ukrainischen Territoriums 
werden Lehrbücher gebraucht, die dem Verständnis und den 
Lebensbedingungen der örtlichen Bevölkerung angepasst sind. 

Wie wir sehen, sind die nationalen Forderungen der 
konservativen Ukrainer in der Duma recht bescheiden. Es 
fehlt dem Gesetzentwürfe der 33er der hochtrabende Schwung. 
Aber unter den Antragstellern bilden die Mehrzahl Geistliche 
und Bauern, welche keine Politik auf grossem Fuss betreiben 
wollen, sondern praktische Ziele verfolgen. Es ist von 
grosser Bedeutung, dass gerade Mitglieder dieser beiden 
Gesellschaftsklassen unter den Abgeordneten aus der Ukraine 
den Impuls zum Gesetzentwurf gegeben haben und denselben 
vor dem Plenum vertreten werden, die die Notwendigkeit des 
Unterrichtes in der Muttersprache unmittelbar empfinden. Diese 
Tatsache ist ein Zeugnis von der elementaren Kraft des 
Ukrainismus und hierin liegt ihre Bedeutung. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



117 


Dem Gesetzentwürfe der 33er sind Erläuterungen bei¬ 
geschlossen, die es uns gestatten, tiefer in die Gemüter der 
Antragsteller hineinzuschauen als dies bei den drei kurz¬ 
bemessenen Punkten des Gesetzentwurfes selbst möglich ist 
und uns deren wahre Ansichten verraten. Wir geben dieselben 
teilweise wieder: 

Unter anderen Gebieten unseres Vaterlandes lenkt der 
Rayon der ukrainischen Gouvernements durch ganz unge¬ 
nügende Aufklärung des Volkes unsere Aufmerksamkeit auf sich. 
Nach Angaben der Volkszählung beträgt die Zahl der Lese- 
und Schreibekundigen in Russland durchschnittlich 21‘2%, 
in einigen russischen Gouvernements steigt diese Zahl bis auf 
36%> während sie in den ukrainischen Gouvernements manchen¬ 
orts bis auf 9% sinkt. Vergleicht man dann die Aufklärung 
der gesamten Bevölkerung der Ukraine mit der der Ukrainer 
allein, so wird man.feststellen müssen, dass im ersten Falle 
der Prozentsatz der Schriftkundigen bedeutend höher ist, als 
im anderen. So beträgt zum Beispiel die Zahl der Schrift¬ 
kundigen bei der gesamten Bevölkerung des ukrainischen 
Gouvernements Wolhynien 17 2% und bei der dortigen ukrai¬ 
nischen Bevölkerung allein nur 9'4%; im Kiewer Gouverne¬ 
ment sind die analogen Zahlen 18*1% und 11*8%, im Gou¬ 
vernement Podolien 25*9% und 15*3%, im Jekaterinoslawer 
Gouvernement 21‘5% und 14'4% usw. Diese Zahlen müssen 
umso schmerzlicher berühren, als früher das ukrainische Volk 
die Fremden durch seine hohe Kultur in Erstaunen setzte. So hat 
zum Beispiel der Archidiakon Paul, Sohn des Patriarchen 
Makarius von Antiochia, mit dem er im Jahre 1652 die Ukraine 
bereiste, seinem Erstaunen über das Streben des ukrainischen 
Volkes nach Aufklärung folgendermassen Ausdruck gegeben: 
„Von dieser Stadt (Raschkiw — im heutigen Podolien) an¬ 
gefangen haben wir auf dem ganzen von Kosaken bewohnten 
Territorium eine schöne Erscheinung, welche unser höchstes 
Erstaunen erweckte, wahrgenommen: sie alle, mit wenigen 
Ausnahmen, sogar die Mehrheit ihrer Frauen und Kinder, sind 
schriftkundig. Ausserdem belehren die Geistlichen die Waisen 
und lassen sie nicht unwissend auf den Strassen ihre Jugend 
verbringen. Der Kinder gibt es hier mehr wie Gras, und alle 
können lesen, sogar die Waisen!“ („Reisen des antiochischen 
Patriarchen Makarius.“) Auch im XVIII. Jahrhundert besass 
die Ukraine ein dichtes Netz von Volksschulen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



118 


Aus der Volkszählung vom Jahre 1732 ersieht man, dass 
in der östlichen Ukraine der Prozentsatz der Schüler im Ver¬ 
hältnisse zur ganzen Bevölkerung so gross war, wie im 
Charköwer Gouvernement erst im Jahre 1882. Nach der 
Volkszählung in den Jahren 1740—1748 gab es auf dem 
Territorium der sieben Hetmanschen Kosakenregimenter mit 
1094 bevölkerten Ortschaften (darunter 792 Dörfer und 205 
Vororte) 866 Schulen; nach Rumianzew gab es auf dem Terri¬ 
torium des Tschernihower Regimentes auf 142 Dörfer 143 
Schulen; jedes Dorf hatte also seine eigene Schule, obwohl 
die Dörfer damals bedeutend schwächer bevölkert waren als 
heute. Mag auch der Unterricht in den Schulen des XVII. 
und XVIII. Jahrhunderts vielleicht dürftig gewesen sein, so 
müssen wir uns doch darüber wundern, dass im Volke das 
Bewusstsein der Nützlichkeit der Bildung und die Neigung 
zu derselben so tief lag, dass es ohne jegliche Organisation, 
ohne Zwang seitens des Staates, unter den ungünstigsten 
Umständen schöne Resultate auf dem Schulgebiete erzielt 
hatte. Die im XVIII. Jahrhunderte eingeführte Leibeigenschaft 
wurde zum unüberbrückbaren Hindernisse für die Volksauf¬ 
klärung. Statt fortzuschreiten, geht von da an die Aufklärung 
sogar gewissermassen zurück. Davon kann man sich schon 
durch den Vergleich der Angaben Rumianzews mit den 
späteren Daten überzeugen. Auf dem Territorium der heuti¬ 
gen Bezirke Tschernihow, Horodno, Lochwycia gab es im 
Jahre 1768 134 Schulen, wobei eine Schule auf 746 Köpfe 
entfiel, im Jahre 1875 gab es auf demselben Territorium aber 
nur 52 Schulen, wobei eine auf 6730 Köpfe entfiel. („Osnowa“ 
1862, V und „Kijewskaja Starina“ 1904, I, „Zemskij Sbornik 
Tschernihowskoj Gub.“ 1877.) 

Die Hauptursache dieses rapiden Verfalls der Aufklärung 
bei der ukrainischen Bevölkerung war das Losreissen der 
Schule von dem Volke. Die Aufklärung des Volkes in einer 
anderen, fremden Sprache, als in der es spricht, denkt und 
fühlt, und in welcher es sein ganzes geistiges Leben zum 
Ausdruck bringt, konnte nicht von Dauer sein. Die Mutter¬ 
sprache bildet den Hauptfaktor bei der Volksaufklärung, und 
dieser Faktor soll auch in der ukrainischen Schule Anwen¬ 
dung finden. Das Leben selbst sorgte für die Lösung dieser 
Frage gerade in dieser Richtung. Noch Mitte der Fünfziger¬ 
jahre erschienen ukrainische Lesebücher von Kulisch, Schew- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



119 


tschenko, Zolotow, Schejkowskyj, Hatzuk, Jastschenko, Konys- 
kyj und anderen; es wurden auch Handbücher für andere 
Gegenstände des Schulunterrichtes — die Bibel, Arithmetik 
und andere — verfasst. Tatsächlich wurde in Sonntags- und 
anderen Schulen, auch in der Pädagogischen Schule in Kiew 
der Unterricht in ukrainischer Sprache erteilt. Aber später, zu 
Anfang der Sechzigerjahre, wurden alle diese Bemühungen 
um die national-kulturelle Hebung des ukrainischen Volkes 
aus von der Pädagogik weit entfernten Gründen plötzlich 
verpönt; seit der Zeit wurde der Gebrauch der ukrainischen 
Sprache als eines natürlichen Hilfsmittels beim Unterricht in 
den Volksschulen in der Ukraine unmöglich. 

Die Motive, welche diese Massregeln hervorgerufen haben, 
haben zwar gegenwärtig keine Bedeutung mehr, aber die Sach¬ 
lage hat sich bis jetzt noch nicht gebessert, wenn auch die Re¬ 
gierung mehr Toleranz für die nationalen Forderungen auf 
dem Gebiete des Schulwesens an den Tag legt. So hat das 
Ministerium für Volksaufklärung, indem es die polnische und 
lithauische Sprache als Unterrichtsgegenstand in den Volks¬ 
schulen der Gouvernements mit polnischer und lithauischer 
Bevölkerung zuliess, diese Bestimmung auf die Ortschaften 
mit ukrainischer Bevölkerung nicht ausgedehnt. Noch in den 
letzten Zeiten hat das Ministerium für Volksaufklärung die 
Bestimmungen veröffentlicht, auf Grund welcher in den nicht¬ 
russischen Schulen der Gebrauch der Muttersprache zuge- 
gelassen wird — nur die Schule auf dem ukrainischen Terri¬ 
torium bleibt in dem alten Zustande. 

Fast alle hervorragenden Pädagogen, welche in ukraini¬ 
schen Gouvernements dienstlich tätig waren, haben sich mit 
seltener Einstimmigkeit für die Erteilung des Unterrichtes in 
ukrainischen Schulen in der Muttersprache ausgesprochen. 
Das Mitglied des Schulkomitees des Unterrichtsministeriums 
Hr. Wessel, schrieb folgendermassen über die Angelegenheit: 

„Die Kinder die Muttersprache nicht lernen lassen 
heisst, die Entwicklung des Volksgedankens, aller geistigen 
Kräfte des Volkes unterbinden, das Volk für immer im Kind¬ 
heitsalter zu belassen. Wenn wir das Volk statt seiner eigenen 
eine fremde Sprache lehren wollen, so handeln wir noch 
schlechter; wir verstümmeln die selbständige geistige Ent¬ 
wickelung des Volkes und vergewaltigen seine ganze geistige 
Natur.“ („Utschitel“ 1862.) Gleicher Meinung waren auch 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



120 


andere angesehene Pädagogen — Baron Korff, W. J. Wodo- 
wosow, K. D. Uschinskij und andere. 

Öffentliche Institutionen, welche in irgend einer Weise 
mit der Volksaufklärung zu tun hatten, erhoben auch fort¬ 
während ihre Stimmen für die Einführung der ukrainischen 
Sprache in den ukrainischen Schulen. Im Tschernihower 
Semstwo wurde diese Frage, angefangen vom Jahre 1870, 
einigemale aufgerollt, zum letztenmale wurde im Jahre 1900 
eine diesbezügliche Bitte eingereicht. Ähnliche Forderungen 
wurden vom Poltawaer Gouvemementssemstwo und einigen 
Bezirkssemstwos dieses Gouvernements erhoben. Dasselbe 
haben auch der Poltawaer und Odessaer Stadtrat nach¬ 
gesucht. Landwirtschaftliche Komitees für die Bedürfnisse der 
landwirtschaftlichen Industrie in Chotyn, Ananiew, Lubny, 
Poltawa, Lochwycia, Tschemihow, Konotop und Woronesch 
haben sich auch für den unbedingten Gebrauch der ukraini¬ 
schen Sprache in der Volksschule, sei es in der oder jener 
Form, ausgesprochen. 

Dieser Meinung ist nicht nur die intelligente ukrainische 
Gesellschaft; sie wurzelt auch tief im Bewusstsein der Volks¬ 
massen, welche den Mangel schmerzlich empfinden; eine 
Umfrage bei den Bauern würde in dieser Beziehung jeden 
Zweifel zerstreuen. Eine solche fand noch im Jahre 1860 
statt; erst kürzlich wurde eine ähnliche Umfrage, vorgenommen 
im Zolotonoscher Bezirke, GouvernementPoltawa, veröffentlicht 

Mit geringen Ausnahmen haben sich alle Bauern für die 
Notwendigkeit der Schule und des Buches in der Mutter¬ 
sprache ausgesprochen. 

Die Entfernung der Muttersprache aus der Schule 
bereitet dem natürlichen Entwickelungsgange der Schüler 
unüberwindliche Schwierigkeiten. Statt seine ganze Aufmerk¬ 
samkeit auf das Begreifen des Inhaltes des Unterrichtsstoffes 
zu lenken, muss der Schüler dieselbe auf das Erlernen der 
unverständlichen Worte aufwenden. Eine solch komplizierte 
und schwere Arbeit ist von einem Durchschnittsschüler kaum 
zu beherrschen — und das Resultat davon ist, dass keines 
der vorgesteckten Ziele erreicht wird. 

Erstens erlernen die Schulkinder fast gar nie die russische 
Sprache, welchen Zweck eigentlich der ganze Schulunterricht 
in der Ukraine verfolgt. Die russische Sprache, welche ohne 
Zuhilfenahme der Muttersprache den Schülern eingepaukt 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



121 


wird, bleibt für den Schüler nach Absolvierung der Volks¬ 
schule nur mehr ein Sammelsurium von mehr oder weniger 
unverständlichen Worten. 


Der Vortrag in einer fremden, wenig verständlichen 
Sprache führt zum rein mechanischen Ausbüffeln mit einer 
äusserst geringen Teilnahme des Verstandes des Bewusstseins 
und der Logik und ohne jegliche Teilnahme der Phantasie, 
der Einbildung und der Assoziation der Ideen. 


Daraus ergeben sich — sagt ein Berichterstatter der 
Landwirtschaftlichen Komitees in Südrussland — die unver¬ 
meidlichen traurigen Folgen: Mangel an Wissensdrang, 
schwache Entwicklung der Aufklärung im Volke und das 
Rezidiv zum Analphabetismus. Den grössten Prozentsatz der 
Reanalphabeten findet man auf ukrainischem Territorium 
in den Charkower und Kiewer Militärdistrikten. Der Rückfall 
in den Analphabetismus ist eine ganz alltägliche Erscheinung 
bei der ukrainischen Bevölkerung und man kann ihn bei den 
Absolventen der Volksschule schon nach drei bis vier Jahren 
beobachten. Chischniakow, Vorsitzender des Tschernihower 
Landesausschusses, schrieb: Bei Schulinspizierungen bin ich 
in den Dörfern jungen Leuten begegnet, welche vier Jahre 
nach der Absolvierung der Volksschule das Lesen vollständig 
vergessen haben. („Pädagogische Kurse für Lehrer des 
Tschernihower Gouvernements.“) 

Der hervorragende russische Pädagoge Uschinskij ent¬ 
wirft folgendes grelle Bild der heutigen ukrainischen Schule: 
„Einen mehr als geringen Erfolg wird eine Schule haben, in 
welche das Kind aus dem Elternhause wie aus dem Paradies 
in die Hölle eintritt, wo alles dunkel, fremd und unverständ¬ 
lich ist und dann zurück in das prächtige Paradies, wo es 
überall hell, alles verständlich und dem Herzen nahe ist, 
davonrennt.“ Einen ähnlichen Eindruck muss auf das ukrai¬ 
nische Kind diese Schule ausüben, wenn es diesen merk¬ 
würdigen Ort, in welchem es die sonst im ganzen Dorfe 
unverständliche Sprache hört, zu besuchen beginnt. 

„Das Kind, welches zuhause nie ein russisches Wort ge¬ 
hört hat, wird vom ersten Tage an gezwungen, sich russisch 
auszudrücken. Doch das wäre noch nicht das grösste Übel. Aber 
die Folge davon ist dieser scheussliche Jargon, der infolge 
der Bestrebungen, russisch zu sprechen, entsteht. Eine solche 
4 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



122 


Schule erinnert das Kind vom ersten Tage an lebhaft daran, 
dass es nicht zuhause ist. Wenn eine solche Schule nicht 
imstande ist, feste Wurzeln im Volke zu fassen und sich ihm 
nützlich zu zeigen, so ist dies nicht Wunder zu nehmen. 
Eine solche Schule steht viel tiefer als das Volk selbst. 
Das Kind vergisst die in der Schule erlernten russischen 
und zugleich auch die damit verbundenen Begriffe. Was hat 
also die Schule geleistet? Etwas schlechteres, als gar nichts. 
Sie hat auf einige Jahre den natürlichen Entwicklungsgang 
des Kindes aufgehalten. Den Geist des Kindes entwickelt 
eine solche Schule nicht, sie verdirbt ihn eher.“ (Sammlung 
Pädagogischer Werke von K. D. Uschinskij.) 

Das Aufhalten der geistigen Entwicklung des ukrainischen 
Volkes, als Resultat der schlechten Einrichtung des Schul¬ 
wesens spiegelt sich auf allen Gebieten des Volkslebens, 
auch auf dem wirtschaftlichen, sehr nachteilig ab. Die heutige 
elende wirtschaftliche Lage der ukrainischen Bevölkerung, 
welche die fruchtbarsten Bodenflächen Russlands bewohnt 
und doch auf seinem gesegneten Boden an chronischer Armut 
leidet und Infolge seiner Unwissenheit und der mit derselben 
zusammengehenden Gleichgiltigkeit nicht genug Kraft besitzt, 
die altüberlieferte Wirtschaftsweise durch eine mehr rationelle 
zu ersetzen, ist in grossem Masse auf die Rechnung der 
geistigen Ketten zu setzen, mit welchen die Entwicklung des 
talentvollen Volkes infolge Vernachlässigung der natürlichsten 
und sichersten Mittel, die zu derselben führen, erdrosselt 
wurde. „Der ukrainische Bauer liest bedeutend weniger als 
der russische und schon gar nicht landwirtschaftliche oder 
medizinische Bücher, die er nicht versteht, und deshalb fehlt 
ihm das mächtige Mittel, welches er zur Hebung seiner land¬ 
wirtschaftlichen Kultur und zum Schutze seiner Gesundheit 
sich dienstbar machen könnte. Es darf deshalb nicht Wunder 
nehmen, dass die Bücher, welche auch von ukrainischen 
Aufklärungsvereinen in Charkow und Kiew, freilich in russi¬ 
scher Sprache, für das Volk herausgegeben werden, meisten¬ 
teils in nördlichen, russischen Gouvernements nicht aber in 
ukrainischen, ihre Verbreitung finden.- Es ist auch nicht zu 
verwundern, dass unter solchen Umständen von unparteiischen 
Personen Beobachtungen gemacht wurden, welche eine sehr 
flaue kulturelle Hebung des ukrainischen Volkes feststellen. 
Damit steht auch die schwache Entwickelung der landwirt- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



123 


schaftlichen und industriellen Kultur dieses Volkes im Zusam 
menhange.“ (Berichte der Lochwyciaer Kommission.) 


Die nkraiiiiicDe Sdmle in polnischen loch. 

III. Die Verfolgung der ruthenischen Schul¬ 
jugend in den galizischen Lehrerbildungsan¬ 
stalten. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 

Es gibt, wie ich in einem meiner letzten Artikel ein¬ 
gehend ausgeführt habe, nur sehr wenig Lehrerbildungsan¬ 
stalten im ruthenischen Teile Galiziens. Der monströse Utra¬ 
quismus erschwert den ruthenischen Schülern schon an und 
für sich den Unterricht, und die polnische Pädagogik ist 
überdies noch danach angetan, ihnen Steine unter die Füsse 
zu wälzen. 

So wurde für die Aufnahme von ruthenischen Schülern 
ein numerus clausus eingeführt. In die Lehrerinnenbildungs¬ 
anstalten in Lemberg und Peremyschl, die einzigen Anstalten 
dieser Art auf dem ruthenischen Territorium Galiziens, werden 
die Rutheninnen quasi aus Gnade und nur bei grosser 
Protektion aufgenommen; sie dürfen dabei nicht das Viertel 
der gesamten Anzahl der Schülerinnen überschreiten. Im 
Schuljahre 1904/5 wurden in Lemberg für den ersten 
Jahrgang im Ganzen 9 Rutheninnen aufgenommen, obwohl 
jährlich 60 neue Schülerinnen in diese Anstalt aufgenommen 
werden. Aber die polnischen Hakatisten sind schlau; in dieser 
miserabel kleinen Zahl von ruthenischen Schülerinnen bilden 
die Mehrzahl solche, die nur ruthenischer Abstammung sind, 
in Wirklichkeit aber sich als Polinnen bekennen. Bei der Auf¬ 
nahme von Schülerinnen benimmt sich die Direktion der Lehrer¬ 
innenbildungsanstalt in Lemberg einfach zynisch. Den nicht 
aufgenommenen Rutheninnen wird höhnisch geraten, sich in 
die einzige ruthenische private Lehrerinnenbildungsanstalt in 

Lemberg zu inskribieren.Ein derartiger Rat wird aber 

den Polinnen nicht erteilt, trotzdem es in Lemberg allein 
mehrere private polnische Lehrerinnenbildungsanstalten gibt. 

Der erwähnte „numerus clausus“ brachte es dazu, dass 
im Jahre 1905/6 in der Lehrerinnenbildungsanstalt in Pere- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




124 


myschl auf die Gesamtzahl der Schülerinnen von 258 nur 60 
und in Lemberg auf die Zahl von 239 nur 41 Rutheninnen 
kamen. 

Eine solche Behandlung wird auf dem ruthenischen 
Territorium den geduldigen ruthenischen Steuerzahlern zuteil. 
Ob sie nicht doch einmal die Geduld verlässt .... 

Hat man jemals von einem „numerus clausus“ für die 
Polen an den preussischen Lehrerbildungsanstalten in Posen 
etwas gehört? Wenn die Preussen einmal einen solchen bei 
sich werden einführen wollen, so werden sie sich wahr¬ 
scheinlich die galizischen Lehrerbildungsanstalten zum Muster 
nehmen. 

Aber wenn nur die Sache damit ihr Bewenden hätte! 
Es wird aber noch in Bezug auf die ruthenischen Schüler 
bei den Aufnahmsprüfungen ein unerhörter Terrorismus an¬ 
gewendet. Zur Aufnahmsprüfung in den bei der utraquistischen 
Lehrerbildungsanstalt in Tarnopol bestehenden Vorbereitungs¬ 
kurs 


meldeten sich wurden aufgenommen 


im Jahre 

Ruthenen 

Polen 

Juden 

im Jahre 

Ruthenen 

Polen 

Juden 

1902/3 

70 

45 

17 

1902/3 

22 

44 

4 

1903/4 

64 

57 

9 

1903/4 

21 

36 

3 

1904/5 

53 

57 

7 

1904/5 

21 

44 

4 


Die meisten ruthenischen Schüler fallen infolge mangelnder 
Kenntnis der polnischen Sprache durch. Um den polnischen 
Kandidaten das Bestehen der Prüfung aus der ruthenischen 
Sprache zu ermöglichen, werden zu Examinatoren aus dieser 
Sprache nachsichtige Lehrer ernannt, oder es wird auf die¬ 
selben ein Druck ausgeübt, damit sie die minder vorbereiteten 
Polen durchlassen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die 
Polinnen beim Eintritt in die utraquistischen Lehrerinnenbil¬ 
dungsanstalten kaum ruthenisch lesen können. Es ist auch 
eine alte Tatsache, dass die polnischen Absolventinnen einer 
utraquistischen Lehrerinnenbildungsanstalt oft die ruthenische 
Sprache erst während ihrer Diensttätigkeit in den ruthenischen 
Dörfern von der Schuljugend lernen. 

In der Lehrerbildungsanstalt in Lemberg ist als Lehrer 
der ruthenischen Sprache ein gewisser Herr Kopytczak tätig. 
Dieser Lehrer hat, wie wir aus dem „Dilo“ vom 5. Oktober 1907 
erfahren, noch nie einem polnischen Schüler eine schlechte 
Note aus der ruthenischen Sprache gegeben. Er fürchtet das 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



125 


zu tun, um nicht die Ungnade seiner polnischen Kollegen 
heraufzubeschwören. Infolgedessen lassen die polnischen 
Lehramtskandidaten den Unterricht der ruthenischen Sprache 
ausseracht und wenn sie in die ruthenische Obungsschule zu 
praktischen Übungen kommen, werden sie von den kleinen 
Schülern im Sprechen korrigiert. Es möge dabei erwähnt 
werden, dass sich um diesen Posten ein anderer Kandidat, 
Dr. S. T., bewarb, welcher die Staatsprüfung aus zwei 
Gruppen für die Mittelschulen abgelegt, mehrere wissen¬ 
schaftliche Abhandlungen aus der Geschichte veröffentlicht 
hat und Kandidat auf eine Universitätskanzel ist. Aber solche 
Leute sind den Herren Polen unbequem, sie könnten sich in 
der Amtsführung an die österreichischen Gesetze und Vor¬ 
schriften halten und nicht gemäss den allpolnischen Wünschen 
handeln. Dabei müssen die ruthenischen Schüler die polnische 
Sprache mehr als alles andere lernen. Der Lehrer der 
polnischen Sprache Zaremba hält, dem „Dilo“ zufolge, an 
dem Prinzipe fest, dass der Pole, ob er vorbereitet ist oder 
nicht, doch immer seinen Gegenstand versteht, der Ruthene 
aber immer gut vorbereitet sein muss. 

Es gibt utraquistische deutsch-slovenische Lehrer¬ 
bildungsanstalten in Krain, es gibt einen Utraquismus in den 
Schulen Schlesiens und des Küstenlandes, es müssen die 
Ruthenen und Rumänen in der Bukowina und die Slovenen 
in Steiermark Lehrerbildungsanstalten mit deutscher Vortrags¬ 
sprache besuchen, nehmen übrigens auch die Polen den 
Unterricht in deutschen Schulen in Preussen, aber niemand 
bat noch von einer derartigen Exterminationspädagogik ge¬ 
hört, wie sie in Galizien gegen die Ruthenen angewendet 
wird. 

Und so, wie man die ruthenische Jugend bei den Prü¬ 
fungen und bei der Aufnahme in die Lehrerbildungsanstalten 
terrorisiert, so verkürzt man sie auch bei der Verteilung von 
Unterstützungen. 

Man hat jetzt in Galizien bei den Lehrerbildungsanstalten 
Schülerheime gegründet. Diese erhalten Subventionen aus 
den öffentlichen Fonds, ausserdem bekommen die Schüler 
Stipendien, durchschnittlich jeder je 20 Kronen monatlich. 

In der männlichen utraquistischen Lehrerbildungsanstalt 
in Zalistschyky macht die Zahl der ruthenischen Schüler die 
Hälfte aus. Trotzdem wurden in das Studentenheim dieser 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original fro-m 

SNDIANA UNtVERSITY 



126 


Anstalt für das Schuljahr 1906/7 auf 61 Schüler 48 Polen 
und nur 13 Ruthenen aufgenommen, im Jahre 1907/8 im Ganzen 
52 Schüler, darunter nur 10 Ruthenen. 

Bei der Lehrerbildungsanstalt in Lemberg sind zwei 
Schülerheime. In eines derselben werden die Ruthenen über¬ 
haupt nicht aufgenommen; in das andere wurden im Jahre 
1907/8 auf 81 Schüler 24 Ruthenen aufgenommen und auch 
diese sind meistenteils solche, welche die Polen mit Leichtig¬ 
keit zu Renegaten zu erziehen hoffen. 

So schaut die Verteilung der ruthenischen und polni¬ 
schen Steuergelder auf dem Schulgebiete in Galizien aus. 
Sie wird eben nach den Prinzipien der polnischen Gerech¬ 
tigkeit gehandhabt. 

Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, dass es 
an den Lehrerbildungsanstalten Galiziens, in welchem Lande 
die Ruthenen faktisch die Mehrheit der Bevölkerung bilden, 
im Ganzen nur 25*9% ruthenischer Schuljugend gab. 

Uersucb einer Selbstkritik. 

Von Wassil Rudenskyj. 

Es tut einem wohl, inmitten der polnischen publizistischen 
Literatur, welche in ihrem Hauptteil der Selbstverherrlichung, 
der Idealisierung des historischen Polen und Beschimpfung 
der Gegner des letzteren gewidmet ist, einer Arbeit zu be¬ 
gegnen, deren Verfasser nicht zurückscheut der Wahrheit ins 
Gesicht zu schauen und seinen Landsleuten offenherzig ihre 
Fehler auszuweisen. Wir meinen das im Jahre 1906 in Posen 
erschienene Werk von Wieslaw Sclavus unter dem Titel 
„Finis Poloniae“. Wohl war es gewiss am allerwenigsten die 
Absicht des Verfassers, auch fremdes, europäisches Publikum 
mit dem Inhalt des Buches bekannt zu machen — denn es 
ist dies ein Versuch der nationalen Selbstkritik, bestimmt für 
die Landsleute des Verfassers, um sie durch den Genuss der 
bitteren Pillen zu bessern. Dessenungeachtet wollen wir das¬ 
selbe stellenweise in der Ukrainischen Rundschau wiedergeben. 
Die Berufung auf ein Werk, dessen Verfasser, ein glühender 
polnischer Patriot, die Fehler seines Volkes entblösst, unter 
denen auch die Ruthenen zu leiden haben, und die wir nur 


Digitized by Google 


Original fmm 

INDIANA UNiVERSDY 



127 


zu gut kennen, wenn auch nicht bei ihrem Namen so nennen 
wollen, wie dies ein pplnischer Patriot tun darf, um nicht 
einer aus nationalem Hass diktierten Übertreibung beschuldigt 
zu werden — erleichtert uns in vielem unsere Arbeit. 

Wir beginnen von der Stelle an, wo der Verfasser den 
nationalen Charakter der Polen erörtert. „Der Pole ist — 
sagt er — ein geborener Aristokrat. Der Pole sucht in ge¬ 
ringster Stellung sich zu erhöhen, und zwar nicht durch 
eigene Verdienste, nicht durch Vorzüge des Herzens, sondern 
durch Unterdrückung, schnöde Behandlung und Erniedrigung 
der Anderen. Der Pole ist ein Aristokrat, aber nicht darum, 
weil er mit einem Gebrechen, mit eirier aristokratischen Beule, 
zur Welt kommt, sondern weil er schon von Kindheit an 
die Seuchenbazillen einsaugt, weil män ihn einerseits schon 
in den jüngsten Jahren anleitet, sich vor den Mächtigeren zu 
erniedrigen, die Rolle des Lakaien zu spielen und seine 
eigene Würde zu unterdrücken, andererseits den Ausfluss des 
falschen Ehrgefühls auf die Nacken der Schwachen und Ab¬ 
hängigen straflos zu entladen“ (S. 208). 

Der Verfasser klagt Über die Herrschsucht der öster¬ 
reichischen Polen: „Sie tragen die Gleichheit zu Grabe — 
sie kehren selbe nur bei feierlichen Gelegenheiten hervor, 
versorgen sie aber ins Magazin der Prunkembleme, sobald 
die letzte Fanfare verhallt. (S. 209.) 

„Die Gleichheit! AchPWir sind es ja, die dieses kost¬ 
bare Metall entdeckt haben... Wir pflegen Sitten, * die der 
Zeiten der Sklaverei, der Leibeigenschaft und der Magnaten¬ 
herrschaft würdig sind. Und es verwundert noch mehr, dass 
diese barbarische Sitte, die Schwächeren schnöde zu be¬ 
handeln und sich auf deren Unkosten zu erhöhen, kein privi¬ 
legiertes Übel einer Kaste, sondern eine Krankheit ist, die 
selbst diejenigen beherrscht, die nicht einmal einen eingebil¬ 
deten Anspruch auf soziales Übergewicht haben (S. 207 .) 

„Kein Volk hat so viele schöne Apostrophen und don¬ 
nernde Aufrufe und feierliche Versprechungen an die Adresse 
des gemeinen Volkes ausgesprochen, wie das polnische, nun 
hat aber auch kein Volk im Verhältnis mit Losungen so 
wenig für das gemeine Volk getan, wie das unsrige ... Das 
gemeine Volk hebt sich kaum aus seinem Verfall, reibt sich 
kaum die Augen, es erkühnt sich kaum das Wort zu er¬ 
greifen und seine Rechte zu fordern. Demokraten der Tat 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



haben wir wenig, und unter ihnen viele, die mehr Übel an- 
richten, als Gutes bewirken, und aus Zwistigkeiten die Waffen 
für sich schmieden (S. 203—5). In uns selbst sollen wir mit 
dem sozialen Analphabetismus aufräumen (S. 216). 

„Das gemeine polnische Volk?!... Es fällt schwerer, 
die Wahrheit zu sagen, als zu lügen. Das polnische Volk ist 
schlecht. Es ist schlecht, denn es ist zum grösseren Teil 
rachsüchtig, misstrauisch, listig, argwöhnisch und hartnäckig. 
Es ist sehr schlecht, denn es ist unwissend — es ist übrigens 
so, wie es unsere Gleichgiltigkeit und Ratlosigkeit und die 
Verhetzungspolitik der Eroberer gemacht haben. . 

„Das Pflichtgefühl ist bei uns schwach entwickelt. Der 
Durchschnittspole ist ein schlechter Arbeiter ... Allerdings 
ist der polnische Arbeiter dort anders, wo er, wie in Posen, 
von harten Daseinsbedingungen derart verwandelt wurde, 
dass er seinem russischen oder österreichischen Landsmann 
beinahe gar nicht ähnelt (S. 139). Unsere Auswanderung ist 
den gastfreundlichen Nationen allzulästig geworden durch die¬ 
jenigen, die im Auswanderersack das Intrigantentum, böse 
Instinkte und schlechte Gewohnheiten aus dem Vaterlande 
mitgenommen haben (S. 76.) 

„Unsere Opferwilligkeit ist gering, der Bürgersinn un¬ 
bedeutend, denn arm an Taten — seine Leistungen sind 
kaum nennenswert. (Der Verfasser nennt sie „Viertelmitter ... 
S. 158). Unser kulturelles Übergewicht? Eine schöne Redens¬ 
art zum* Gebrauch der kleinstädtischen Intelligenz .. . (S. 187,). 
Wir sind bereit mit der ganzen Welt bis aufs Messer darum 
zu kämpfen, dass unsere eigene Ignoranz, unsere Unwissen¬ 
heit und Verblendung immer reichlichere Früchte trägt (S. 81). 

„Seht, was Russisch-Polen zwecks Bekämpfung des 
Analphabetismus getan hat, was es für das Volk getan hat, 
was wirklich wichtige Reformen wert waren! Und lenkt eure 
Augen auf Galizien... Erinnert euch wenigstens der Sache 
des Analphabetismus ... erwägt, warum die fünfzigjährige 
Arbeit, anstatt die ruthenischen Wunden zu heilen, selbe 
eitern gemacht hat, und warum das an Industrie und Fabriks¬ 
arbeiterelement arme Land in einen so heftigen Paro- 
xysmus des Sozialismus verfiel (S. 69). 

„Warschau hat 60% Analphabeten auf 350.000 zweifellos 
polnische Einwohner. Warschau ist in kultureller Hinsicht 
eine polnische Stadt, aber ist nur zum sechsten Teile auf- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



129 


geklärt, darüber hinaus lebt es im Obskurantismus, in Un¬ 
wissenheit, im Indifferentismus, Egoismus und Spiessbürger- 
tum. Verflucht gering ist die Lust zum Lesen, geradezu 
kümmerlich der Zustand der Institutionen, die unmittelbar 
vom guten Willen der Bürgerschaft abhängen und geradezu 
kindisch die Ratlosigkeit auf jedem Gebiete der allgemeinen 
gesellschaftlichen Aufgaben selbst bei denjenigen, die nicht un¬ 
mittelbar vom Mangel der Selbstverwaltung oder von der Lok- 
kerung der Fesseln der Sklaverei abhängig sind“ (S. 170—171). 

Wie fassen die Polen ihre Vergangenheit auf? Auf 
diese Frage antwortet W. Sclavus wie folgt (Seite 36—37): 
„Tatsächlich lieben wir unsere Geschichte nicht, vielmehr 
lieben wir darin lediglich das, was von unserem Ruhme, 
von unserer Macht oder vom Heldentum unserer Ahnen 
handelt . . . Infolgedessen verlieren wir die Unbefangen¬ 
heit der Auffassung, wir hegen einen voreingenommenen 
Hass gegen Alles, was uns zu heilen sucht, und fanatische 
Liebe für diejenigen, die Täuschungen in uns gross¬ 
züchten. Unsere Verblendung ist so gross, dass wir nicht 
einmal einsehen wollen, welch grosses Unrecht wir unseren 
nationalen Helden damit tun . .. In Polen genügt es nicht, um 
zu einem ehernen Mann aufzuwachsen, unverwüstliche Taten 
zu vollbringen, man muss auch Glück haben, man muss 
auch noch zu Lebzeiten eine Meute sich verschaffen, welche 
die Grabeshymne rechtzeitig zu heulen wüsste ... Sienkie- 
wicz stand es frei (?! W. R.) den Jeremias WiSniowiecki 
(sc. in seinem Roman ,Mit Feuer und Schwert*) zu Kristall 
umzuschmelzen, ihm Geist einzuhauchen und ihn lebensvoll 
und mächtig darzustellen — aber die polnische Gesellschaft 
soll dessen eingedenk sein, dass sie in dem durch ihre 
Kämpfe bereicherten Wortschatz das Beiwort ,Wieschatiel* 
(Der Henker) hat und dass eben WiSniowiecki ein solcher 
,Wieschatiel* und Verursacher der Kosakenaufstände gewesen 
ist (S. 39). Und weiter, was ist von dem Löwenteil unserer 
historischen Malerei zu halten, von diesen hübschen Kompo¬ 
sitionen, die zwar Kunstwerke sind, aber nur zu häufig in 
schwachem Zusammenhang mit der Wahrheit stehen, was ist 
von dem Wahn zu halten, in künstlerischer Schöpfungskraft 
die Wahrheit zu suchen? Was haben wir von der Über¬ 
spannung zu halten, welche uns glauben machen will, dass 
wir Polen eine aUgemeinmenschliche Mission in der Welt zu 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



130 


erfüllen haben, dass wir immer vorangehen und etwas voll¬ 
bringen werden, was die Erde aus den Angeln heben wird! 
Diese Überspannung bringt uns die Überzeugung bei, dass 
wir.-, .als eine auserwählte Nation anderen Nationen voran¬ 
gehen werden. Wohin?“ (S. 42.) 

Der Verfasser wirft seinen Konnationalen vor, dass 
„die Gemeinplätze, welche sich überlebt und allen Sinn ver¬ 
loren haben, im Bewusstsein der Polen allmächtige Argumente 
ersetzen“. (S. 45) „Das gemeinsame Kennzeichen unserer Häuser 
der Sklaverei — sagt der Verfasser — ist offenbar das, was wir 
vor Allem in dieselben hineingetragen — also die Feigheit. 
Wessen? Selbstverständlich unsere ganz und gar polnische 
Feigheit. (S. 57.) Wir belügen vor Allem uns selbst, denn wir 
wollen uns glauben machen, dass wir immer als eine Leuchte 
unter den Nationen stehen,... dass wir uns selbst dann auf¬ 
opfern, wenn die Aufopferung uns keinen Nutzen bringt. 
(S. 59—60.) Aber wir belügen nicht nur uns selbst, sondern 
auch alle diejenigen, mit denen uns das Schicksal zusammen¬ 
führt. Das Kennzeichen unserer Lüge ist immer die 
Engherzigkeit der Sklaverei und die schülerhafte Naivität. 
(S. 60.) Bald grüssen wir die Satrapen ins Gesicht, lügen 
ihnen allerhand „Gefühle“ vor, bald fluchen wir hinter ihrem 
Rücken, ihnen, zu deren Händen wir uns um die Wette ge¬ 
drängt haben — das ist unsere Ethik in den Häusern der 
Sklaverei. Aber die Folgen dieser verkehrten, unwürdigen 
Ethik sind furchtbar. Denn kann das gemeine Volk Zutrauen 
zu seinen Herren und Führern hegen, wenn es dieselben in- 
einemfort lavieren, ineinemfort lügen sieht!? Und habt ihr 
etwa mit polnischen Beamten nie zu schaffen gehabt? Seid 
ihr mit polnischen Vertretern der Amtsgewalt nie in Berührung 
gekommen? Ist es nötig euch daran zu erinnern, dass der 
polnische Beamte in Russland, Österreich oder Deutschland 
meistens geradezu ein Unglück für die Bevölkerung ist?... Seid 
ihr mit polnischen Polizei-, Zoll- oder Fiskalbeamten nie in 
Berührung gekommen? . . . Und gedenkt ihr jener unzähligen 
,leidenden' polnischen Lehrer und Professoren? Haben 
vielleicht viele von ihnen keine Geschenke angenommen? 
Sind denn'nicht vor Allem sie ein Schrecken in ihrer grenzen¬ 
losen Pedanterie gewesen? . . . Gab es denn unter den 
polnischen Professoren der Warschauer Universität viele, 
welche ausser Gehalt und Amt sonst kein anderes Ziel im 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



131 


Auge hatten! (S. 63.) Bildet ihr euch in Wahrheit ein, dass 
die Nichtswürdigkeit und der Lakaiengeist im Verkehr mit den 
russischen Vorgesetzten dadurch gerechtfertigt werden kann, 
dass man ja auf das tägliche Brot Rücksicht nehmen muss? 
Umsonst verschliessen wir die Ohren der inneren Stimme, die 
uns sagt, dass ,polatschiska‘ (so werden die Polen von den 
Russen ironisch genannt), simulierte Einfalt und unverschämte 
Unterwürfigkeit, Falschheit und versteckten Hass bedeutet... 
Die Falschheit wird zum untrennbaren Zug unseres Charakters, 
zum Stempel, der nicht nur die Handlungsweise der Individuen, 
sondern auch ganzer Korporationen kennzeichnet. 

„Die zweite, nicht minder ertötende Errungenschaft der 
Sklaverei ist der Hass, der versteckte Hass... Schlimm steht’s 
um den Patriotismus, der sich vom Hass nähren muss ... 
(S. 63—4). Dieser Patriotismus ... er macht aus uns Bettler, 
Lazare, welche ihre Lumpen schütteln, der Welt ihre Wunden 
zeigen und sich freuen, dass mitleidige Hunde diese 
manchmal belecken. Dieser unser Patriotismus hat auch zur 
Folge, dass unser Stolz tatsächlich der Stolz eines Verrückten 
und Bettlers ist, der in seinem siechen Leben sich mit der 
Ungeheuerlichkeit seiner Wunden brüstet, der sich weder 
wäscht, noch sich die Haare schneiden lässt, den Schmutz 
auf sich anwachsen lässt, um nur ja nichts von seinem 
schrecklichen Aussehen zu verlieren (S. 63—4). 

„Wenn die Völker uns auch als Almosen ein Wort des 
Mitleids zuwerfen, wenden sie doch dann den Kopf von uns 
ab, wie ein täglich Vorübergehender, der die Art und Weise 
des krüppelhaften Bettlers kennt. Dieser krampfhafte Patrio¬ 
tismus verscheucht uns in Maulwurfshöhlen, in eine Umgebung 
der ärgsten Rückschrittler,... vertreibt uns in uferlose Niede¬ 
rungen, welche von der erstbesten Flussüberschwemmung in 
Sümpfe und Moore verwandelt werden können. Posen möchte 
jeden Tag in den Takt „Gott erhalte den Zaren“ einstimmen, 
Galizien, der Autonomie überdrüssig, schaut auf Russisch- 
Polen wie ein hungernder Spatz auf einen im Käfig gemästeten 
Kanarienvogel, und gleichzeitig schlägt sich Russisch-Polen 
in die Brust und beschwört seine politische Untrennbarkeit 
vom russischen Reiche ... 70 Jahre der Tätigkeit des Hasses 
haben schliesslich zu keinem anderen Resultat geführt, als 
dass man zittern muss, dass allerlei ökonomische Motive und 
„das erwachende Bewusstsein der russischen Gerechtigkeit“ zur 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



132 


zweiten Grenze unseres Patriotismus werde (S. 66). Wie vor¬ 
dem alles russische uns als niederträchtig, elend und un¬ 
würdig galt, so kommt uns heutzutage das, was in und aus 
Russland wirklich niederträchtig, elend und unwürdig ist, 
selbst nicht russisch vor. Das sind die sichtbaren Früchte 
des Hasses! Hätte die Hakate ihre feindseligen Losungen 
nicht erschallen lassen, so wäre Posen die sarmatische Ich¬ 
heit gänzlich losgeworden (S. 67). 

„Die Türkei, das Reich der Unwissenheit, der Rückständig¬ 
keit und des Missbrauches der Amtsgewalt, hat in uns auf¬ 
richtige Freunde, denn sie allein hat die Teilung Polens bis 
heute nicht unterschrieben, denn sie hat selbst alte 
Rechnungen mit Russland zu begleichen. Darum kümmern wir 
uns weder um die Niedermetzelungen der Armenier, noch 
um die Verfolgungen der Balkanslaven, noch um die schlechte 
und unwürdige Regierung, noch um die Jungtürken — der 
Sultan hat für uns einen Zauber, der Sultan ist für uns jener 
orientalische märchenhafte Chalif der Chalifen, der erwachen, 
die Fahne des Propheten entfalten, über Europa stürzen und, 
das Pferd in der Weichsel getränkt, die polnische Dynastie 
der Osmane gründen wird! (S. 88.) 

„Ja — ja! Ideale, hübsche Worte von der Achtung der 
Völkerrechte, von der Moral in der Politik wünschen wir für 
uns, wir wünschen, dass der Edel- und Grossmut der 
Mächtigeren erwache — für Andere dagegen ermangeln wir 
manchmal der philosophischen Auffassung des Lebens, das 
sich vom Tode nährt“ (S. 90.) Obwohl der Verfasser den Mut 
hat, die Schwächen seiner Konnationalen bloszulegen, tritt 
er sehr rücksichtslos gegen die Juden auf, was nur bezeugt, 
dass er ein ... echter Pole ist. „Wir Polen — doziert er — 
sind wahre Toleranten in Religionsangelegenheiten und sind 
hinsichtlich der Andersgläubigen so liberal, wie es die Juden 
nie gewesen sind und es nie sein werden. (!) Wir sind Fort¬ 
schrittler im vollen Sinne des Wortes (der Verfasser hat ja 
diese Fortschrittlichkeit der Polen eben sehr hübsch zur Dar¬ 
stellung gebracht! W. R.), die Juden dagegen sind die ärgsten 
Konservatisten. Die Tatsache allein, dass der Jude ein 
Nächster des Christen, der Christ dagegen kein Nächster des 
Juden ist, bezeugt, wo der Fortschritt und wo die Rückständigkeit 
zu suchen ist“. Die Juden sollen nach der Ansicht des Ver¬ 
fassers sich zum Polentum bekennen. „Der Jude, der sich als 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 133 - 

Pole bekennt, zerhaut — sagt er — mit einemma! den gor- 
dischen Knoten .— aber solche Juden sind so rar, dass 
es ihrer auf 4 Millionen keine 100.000 gibt. Wir dürfen ganz 
und gar nicht mit unserem Polentum uns aufdrängen, aber 
wir werden keinen Jargon, kein Kauderwälsch dulden, welches 
keine Sprache des jüdischen „Volkes“, sondern eine elende 
Missgeburt, ein Volapük der Unwissenheit, des verbissenen 
Separatismus und des bösen Willens ist... Der Ruf „Nieder 
mit Polen“ kann im Munde eines Polen gerechtfertigt werden 
... aber im Munde eines Juden, welcher sagt, er sei kein 
Pole, sondern ein Jude, ist es ein Attentat auf unsere Frei¬ 
heiten, ist es eine Solidarisierung mit dem, wogegen wir 
kämpfen. Es ist nicht nur unwürdig, sondern auch bedenk¬ 
lich, unsere Gesellschaft zu reizen, fremde Wunden blutend 
zu machen!... Wir sind uns Manns genug, nicht nur dem 
aufrichtigen Freunde Schutz zu gewähren, sondern auch noch 
einen Feind mehr zu bekämpfen!“ (S. 108—115 passim.) 

Während der Verfasser die jüdische Frage und die des 
Sozialismus eingehend bespricht, widmet er bezeichnender¬ 
weise der ruthenischen Frage kaum einige Worte: er erwähnt 
kurz der „ruthenischen Wunden“ und der „Erbitterung der 
Ruthenen“, ausserdem führt er, offenbar nach einer polnischen 
Zeitung, die erlogene Nachricht an, dass „ein Teil des grie¬ 
chisch-katholischen ruthenischen Klerus die Partei der ruthe¬ 
nischen Mörder ergreift“ (!) (S. 214). Der polnische Patriot, 
welcher seinen Landsleuten vorwirft, dass sie nicht nur andere, 
sondern auch sich selbst belügen, hat es für seine Pflicht 
erachtet, die Lügen der polnischen Presse zu wiederholen, — 
dass aber die Ruthenen ihre Teilnahme an den Landtags¬ 
und Reichsratswahlen mit Kerkerstrafen und Leichen büssen 
mussten, das hat er unerwähnt gelassen. Er ist ja auch ein 
Pole ... Er bedauert die Ruthenen in Russland, dass sie des 
Rechtes, sich der Muttersprache zu bedienen, beraubt sind 
(S. 220—221), dass sie aber auch von seinen Landsleuten in 
Galizien dieses Rechtes beraubt werden, das ist für ihn ein 
Geheimnis. 

Dagegen belehrt er die Russen, „es sei nicht erlaubt, 
sich vom fremden Eigentum zu nähren, sich auch nur einen 
Schein der Unterdrückung zuschulden kommen zu lassen, 
man müsse das Gestohlene zurückerstatten und nicht der 


Digitized by 


Gck gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



134 


Welt vorlügen, dass man dasselbe im gegebenen Momente 
auf dem Altar niederlegen werde“ (S. 228). 

„Ja, ja! Ideale, hübsche Worte von der Achtung der 
Völkerrechte, von der Moral in der Politik wünschen wir für 
uns...“ (s. oben). Eine verkehrte und unwürdige Ethik. . . . 


€in politiscDer Informator Europas oder Abgeordneter 
Zamorski als Philologe« 

Herr Zamorski wollte sich mit den Lorbeeren, mit denen 
er von Dr. M. Korduba als „Geschichtsforscher“ bekränzt 
wurde (Ukrainische Rundschau Nr. 2) nicht zufriedenstellen. 
Es gelüstete ihn noch mit seinen Kenntnissen als Philologe 
und Statistiker in den Spalten der „Polnischen Post“, Nr. 4, 
10, 11 und 12, zu prunken. 

In dem Artikel „Die ukrainische Nationalität“ unternimmt 
Herr Zamorski den Versuch zu beweisen, dass die Ruthenen 
kein national-selbständiges Volk seien und leistet schon in 
dieser seiner Grundauffassung etwas Unvergleichliches. Von 
der zu Beginn des Artikels aufgestellten Behauptung aus¬ 
gehend, dass die Ruthenen vor acht Jahrhunderten eins mit 
den Russen waren, macht der gelehrte Verfasserin seiner 
Auffassung eine Entwicklung durch, die ihn am Schluss des¬ 
selben Artikels annehmen lässt, dass die Ruthenen eigentlich 
nur eine Abart der Polen seien, dass der Unterschied 
zwischen einem Polen und einem Ruthenen eigentlich nur so 
gross sei, als zwischen einem Mecklenburger oder Hannoveraner, 
die beide national Eines sind. Der Verfasser stellt sodann 
fest, dass die ruthenische Sprache eine slawische ist— eine 
Feststellung, die übrigens keine speziellen Kenntnisse voraus¬ 
setzt — und nimmt damit von der Wahrheit Abschied. Denn 
schon seine nächste Behauptung, dass das Weissrussische 
und Kleinrussische Dialekte des Ruthenischen seien, stellt 
seinen Kenntnissen als Philologe ein klägliches Armutszeug¬ 
nis aus. Auf demselben wissenschaftlichen Niveau versteht 
sich aber der Verfasser bis zum Ende des Artikels zu er¬ 
halten. Er ist so loyal, um anzuerkennen, dass sich die alt- 
ruthenische Sprache vor acht Jahrhunderten, allerdings nur „in 
einem gewissen Masse als Gesetzgebung^-, ja teilweise sogar 
als Literatursprache“ entwickelte, scheint aber von derselben 
keinen blauen Dunst zu haben, indem er zum Beispiel das 
altruthenische Gesetzbuch „Ruska prawda“ mit den russi¬ 
schen Volksliedern „Byliny“ unter eine Richtschnur nimmt 
und die letzteren als ein altruthenisches Werk (!) anerkennt. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



135 


Wir zitieren den betreffenden Passus, der auch sonst interessant 
ist, wörtlich: „ ... Deswegen sieht die Geschichte der ru- 
thenischen Literatur einigermassen seltsam aus: im 11. und 
12. Jahrhundert gibt es Werke, wie die „Ruska prawda“, die 
„Byliny“ und andere, dann gibt es einige Jahrhunderte hin¬ 
durch überhaupt nichts (!), bis endlich zu Beginn des 
19. Jahrhunderts die literarischen Versuche beginnen. Mit 
Ausnahme von wenigen eintönigen Volksliedern hat die Dicht¬ 
kunst des kleinrussischen Volkes bis zum 19. Jahrhundert 
absolut nichts geschaffen“ usw. Die Methode des polnischen 
Gelehrten ist bewunderungswürdig: Im 11. und 12. Jahrhundert 
gibt es eine ruthenische literarische Sprache und Werke in 
dieser Sprache und dann gibt es einige Jahrhunderte hindurch 
einfach „überhaupt nichts“.. . So spricht der gelehrte Abge¬ 
ordnete von der altruthenischen literarischen Sprache, in 
welcher nicht nur historische Chroniken und Gesetze, sondern 
auch Werke von solch künstlerischem Wert geschrieben 
wurden, wie das Heldenepos „Ein Wort von Ihors Heer“, 
welches auch in Übersetzungen in verschiedenen euro¬ 
päischen Sprachen zu lesen ist — dies alles zur Zeit, 
als in polnischer Sprache noch überhaupt nichts ge¬ 
schrieben wurde, während sich andererseits die ruthenische 
Sprache noch im XIV. Jahrhundert sogar den Zutritt bei dem 
polnisch-königlichen Hof als Kanzleisprache errang. — Vor 
allem aber muss einem jeden, der mit dem geistigen Leben des 
ruthenischen Volkes auch nur sehr oberflächlich vertraut ist, 
die Dreistigkeit auffallen, mit der der Herr Zamorski von der 
ruthenischen Volkspoesie spricht, welche solche Kenner, wie 
Prof. JagiC, die „schönste unter den slawischen“ nennen, 
von deren Heimat selbst der grösste polnische Dichter 
Mickiewicz als dem „Sitz der lyrischen Poesie der Slawen“ 
spricht, von wo aus, wie Friedrich Bodenstedt sagt, „Lieder 
unbekannter Volksdichter häufig das ganze Slawentum durch¬ 
zogen“, von welcher ein anderer deutscher Dichter singt: 
„Du Ukraine bist das Land der Sänger, schufst Genien im 
Gesang und Kampf gleich gross — Dein Volk lebt treu der 
Patriarchen Zeiten, und unter ihm wohnt heimatlich sein 
Gott usw.“ 

Köstlich ist der Passus, in welchem der Verfasser von 
den faktischen Unterscheidungsmerkmalen zwischen den 
Ruthenen und Polen spricht. Deren gibt es seinem Da¬ 
fürhalten nach drei: die Religion, den Kalender und die 
Schrift... So haben, sagt er, die Polen den katholischen 
Ritus und findet ihr Gottesdienst bei Orgelklängen statt, 
dagegen sind die Ruthenen griechisch-uniert und haben 
keine Orgeln in der Kirche. . . . Das religiöse Moment, 
welches der Herr Professor (Herr Zamorski ist nämlich 
Gymnasialprofessor) an erster Stelle nennt, ist bei ihm 
als nationales Merkmal so wichtig, dass er dasselbe auch 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



139 


auf die russischen Ruthenen anwendet und sagt, dass die 
letzteren wegen ihres orthodoxen Glaubens auch national den 
Russen näher stehen als den gälizischen Ruthenen, die 
„wenigstens formell“ mit Rom geeint sind (das übliche De¬ 
nunziationsmittel gegen die ruthenische Geistlichkeit vor 
Rom!) Dann spricht noch Herr Zamorski von dem zweiten 
Merkmal, dem Julianischen Kalender, „welcher die Kluft des 
Unterschiedes zwischen zwei einander so nahen Stämmen“ 
grösser macht und „in dessen Gleichmachung mit dem 
Gregorianischen die ruthenischen Politiker nicht einwilligen 
wollen, da dies beim ruthenischen Volke das Bewusstsein 
seiner Nichtzugehörigkeit zu den Polen erschüttern und damit 
ihre Aspirationen hinfällig machen könnte“, obzwar gerade 
das Gegenteil der Wahrheit entspricht, nachdem die Ruthenen 
nur soviel mit dem Julianischen Kalender zu tun haben, als 
griechisch-katholische Feiertage dreizehn Tage später als 
römisch-katholische fallen, welche Angelegenheit gewiss nicht 
von den ruthenischen Politikern dirigiert wird, die selbst, 
wie auch die gesamte ruthenische Gesellschaft und die ru¬ 
thenische Presse nur den Gregorianischen Kalender kennen, 
wie dies auch schon aus praktischen Rücksichten anders 
nicht zu denken ist. — Dann spricht Herr Zamorski noch 
von der ruthenischen Schrift. „Es ist dies ein sehr einförmiges 
Alphabet, das sich zumeist in dem Rahmen zweier Linien 
bewegt und deswegen jenen, die an das lateinische oder an 
das deutsche Alphabet gewöhnt sind, unangenehm.“ . . Gegen 
eine derartige Argumentation sind wir wirklich nicht in der 
Lage aufzukommen. 

Um sich von dem bekannten polnischen Pasquilschreiber 
Franciszek Rawita Gawronski den Rang nicht ablaufen zu 
lassen, welcher in seiner seinerzeit in unserer Zeitschrift 
besprochenen Broschüre „Un danger pour l’Europe“ die 
Ruthenen auf gleiche Stufe mit den Zulus und Kaffern stellt, 
erlaubt sich Herr Zamorski die ruthenische Schrift wegen 
ihrer Ähnlichkeit mit der russischen „manchmal eine 
chinesische Schrift“ zu nennen, „in der dasselbe Zeichen 
in der Mandschurei anders ausgesprochen wird, wie im Tibet, 
jedoch hier wie dort die gleiche Bedeutung hat“ — und 
führt als Beispiel die Bezeichnung für das Wort „Adler“ an, 
welches sowohl in ruthenischer als auch in russischer Sprache 
gleich geschrieben wird, jedoch bei den Russen „arjol“, 
bei den Ruthenen aber „orel“ ausgesprochen wird. Man 
möge nun erraten, was damit gemeint sein soll! Ein 
Ruthene würde ein ähnliches Beispiel als Argument für die 
Verschiedenheit der ruthenischen Sprache von der russischen 
selbst anführen. Herr Zamorski scheint aber diesen witzigen 
Vergleich gebraucht zu haben, nur um seinem Hassgefühl 
eine Schleusse zu öffnen. Dass der Witz des gelehrten Abge¬ 
ordneten einen Mangel an elementaren philologischen Kennt- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



137 


nissen involviert und an und für sich ein Unsinn ist, darüber 
möge er sich aus dem folgenden anspruchslosen Vortrag über¬ 
zeugen. Zum Beispiel hat das Wort „warm“ im Deutschen 
und Englischen die gleiche Bedeutung, wird aber in den 
beiden Sprachen anders ausgesprochen (englisch: worm), 
ebenso das Wort „mild“ (majld), „Wolf“ (wulf) und Hunderte 
andere; so ist auch zum Beispiel im Englischen und 
Französischen die Schreibweise der identischen Worte 
„amusement“ (in englischer Aussprache „emjuhsment“, in 
französischer „amüsman), „silence“ (englisch ausgesprochen 
„sailens“, französisch „silans“), „course“ („cohrs“ und „curs“) 
usw. usw. gleich; man könnte solcher Beispiele unter den 
germanischen und romanischen Völkern, auch solchen, die 
zwei verschiedenen Volksstämmen angehören, zu Tausenden 
anführen, ohne dass es jemandem je einfallen könnte, die 
eine oder die andere Schreibweise chinesisch zu schimpfen. 
Dies tut aber ein polnischer Pädagoge, der an einer ost- 
galizischen, also auf dem ruthenischen Territorium liegenden 
Schule wirkt, das heisst in den Herzen seiner polnischen 
Schüler Hass und Verachtung gegen die zweite das Land 
bewohnende Nationalität einimpft, nun aber als Abgeordneter 
dieselbe Moral in die Politik einführt und als Informator 
Europas die Rolle eines Verleumders übernimmt. 

Die Artikelserie des Herrn Zamorski ist auch sonst noch 
reich an derartigen Auslassungen. So wiederholt er bei der 
Besprechung der Siedelungsverhältnisse in Galizien die be¬ 
kannte Lüge von anderthalb Millionen Polen in Ostgalizien 
(lies: Juden, römisch-katholische Ruthenen, katholische 
Deutsche, die auch als Polen gezählt werden und wirkliche 
Polen) und macht aus Ostgalizien, mit Ausnahme des kleinen 
südöstlichen Zipfels, welchen er als rein ruthenisch zu be¬ 
zeichnen geruht, ein „»Mischland« par excellence“, die For¬ 
derung der Ruthenen nach Teilung Galiziens in einen pol¬ 
nischen und einen ruthenischen Teil nennt er aber eine 
„Tartarenforderung“ . . . Wir glauben, : dass das weitere 
Analysieren der Auslassungen des Herrn Zamorski überflüssig 
ist. Man kann sich schon aus dem Angeführten ein Bild über 
die Methode des polnischen Gelehrten schaffen. W. K. 


Rundschau. 

f Wladimir Alttoitowytsd), Doktor der russischen Ge¬ 
schichte, Professor an der Universität in Kijew, korrespon¬ 
dierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in 
Petersburg, Mitbegründer der Ukrainischen Schewtschenko- 
Gesellschaft der Wissenschaften in Kijew, langjähriger Obmann 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 188 


der Historischen Gesellschaft zu Ehren des Chronisten Nestor, 
Ehren- und wirkliches Mitglied vieler anderer wissenschaft¬ 
licher Vereine. 

„Wer die Biographie Antonowytschs genau schreiben 
möchte, der würde zugleich das Bild der Leiden entwerfen, 
welche das ukrainische Volk in dem letzten halben Jahrhundert 
ausgestanden hat“ — so schrieb ein Biograph des am 21. März 
im Alter von 74 Jahren verstorbenen Professors anlässlich 
des 45jährigen Jubiläums seiner wissenschaftlichen und gesell¬ 
schaftlichen Tätigkeit im Jahre 1906. 

Geboren als Sohn eines in der Ukraine ansässigen 
Schlachzizen, erzogen inmitten schlachzizischer Traditionen, 
stellt sich Antonowytsch schon in seinen Jugendjahren in den 
Dienst des ukrainischen Volkes, wodurch er sich den Hass 
und die Verfolgung seitens der polnischen Schlachta zuzieht. 
Seine Bekehrung schildert er in seiner „Beichte“: „ ... Ich 
sah, dass den polnischen Schlachzizen, die in der Ukraine 
wohnen, zwei Wege offen stehen: Entweder das Volk, 
inmitten dessen sie wohnen, liebzugewinnen und zur 
Nationalität zurückzukehren, welche ihre Vorfahren verlassen 
hatten, und durch die mühevolle Arbeit und Liebe das Übel 
zu ersetzen, welches sie dem Volke angetan haben . .. oder, 
wenn die moralische Kraft dazu nicht reicht, ins polnische, 
von Polen bewohnte Land auszuwandern, um nicht noch ein 
Schmarotzer mehr zu sein und sich übrigens von dem schweren 
Vorwurf zu befreien, dass unsereiner auch ein Plantator 
ist, der mittel- oder unmittelbar sich von fremder Arbeit nährt, 
und der Entwicklung des Volkes, in dessen Haus er unge¬ 
beten kam, in den Weg tritt. . . Selbstverständlich habe ich 
mich — schliesst Antonowytsch — für das erstere entschlossen.“ 

Antonowytsch war Teilnehmer an der ganzen nationalen 
Bewegung der Ukrainer und erwarb sich vor allem den Ruf des 
besten ukrainischen Historikers nach Kostomarow, als welcher 
er eine Schülergemeinde hinterliess, zu der auch der jetzt an 
der Lemberger Universität wirkende Professor Michael Hru- 
schewskyj, Verfasser der monumentalen „Geschichte der 
Ukraine“, zählt. Der Ort seiner wissenschaftlichen Tätigkeit 
war Kijew. Hier wirkte er anfangs als Gymnasiallehrer, dann 
wurde er berufen in das „Komitee zur Erforschung alter Doku¬ 
mente“ als Hauptredakteur, welche Stelle Professor Iwani- 
schow vor ihm innehatte, und verblieb auf diesem Posten 
von 1863 bis 1882, vom Jahre 1870 überdies als Privatdozent, 
und vom Jahre 1878 als ordentlicher Professor an der Kijewer 
Universität tätig. Eine ausführlichere Abhandlung über seine 
wissenschaftlichen Arbeiten (die wichtigeren von ihnen sind: 
„Forschungen über das Kosakentum nach den Akten von 
1500—1648“, „Die letzten Zeiten des Kosakentums an der 
rechten Seite des Dnipro“, „Über die Abstammung der 
schlachzizischen Geschlechter im südwestlichen Russland“, 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



139 


„Forschungen über die Städte im südwestlichen Russland“, 
„Akte über die wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse 
der Bauern im XVI11. Jahrhundert“, „Forschungen über die 
Hajdamakenbewegung“ und viele andere) werden wir in einer 
der nächsten Nummern bringen. Hier sei noch bemerkt, 
dass Antonowytsch auch als Archäologe und Ethnograph 
tätig war. Als Ethnograph ist er Mitverfasser des gemeinsam 
mitDrahomanow herausgegebenen Werkes „Historische Lieder 
des ukrainischen Volkes“. In der nächsten Nummer der 
Ukrainischen Rundschau werden wir eine publizistisch-histo¬ 
rische Arbeit des verstorbenen Gelehrten veröffentlichen, 
welche eine Analyse der Tätigkeit Henryk Sienkiewicz als 
historischer Romanschriftsteller «enthält. 

JluatOl OladmianyH +. Am 11. Februar verschied Anatol 
Wachnianyn, einer der ersten Pionniere der ukrainischen 
nationalen Idee in Galizien, welcher er, als Gründer von ver¬ 
schiedenen Vereinen, als Komponist, Schriftsteller und Poli¬ 
tiker diente. Er war einer der Gründer des ruthenischen 
Studentenvereines „Sitsch“ in Wien, dessen erster Obmann 
er wurde, und welcher gerade heuer das Jubiläum seines 
40jährigen Bestehens feiert. Dieselbe Ehre wurde ihm in 
dem kurz darauf gegründeten Aufklärungsvereine „Pros- 
wita“ in Lemberg zuteil, welcher bisher die Zentralstätte der 
aufklärerischen Tätigkeit für das ruthenische Volk geblieben 
ist. Ausserdem gab er Anlass zur Gründung der Musikvereine 
„Torban“ in Lemberg im Jahre 1870, „Lwiwskyj Bojan“ 
im Jahre 1890, und wirkte an dem Zustandekommen des 
„Verbandes der ruthenischen Musik- und Gesangs¬ 
vereine“ in Lemberg, dessen Obmann er wurde, und des 
„Höheren Musikinstitutes“ in Lemberg mit, als dessen 
Direktor er bis an sein Lebensende tätig war. — Als Politiker 
brachte er es zum Landtags- und Reichsratsabgeordneten, 
als welcher er an den Versuchen teilnahm, die ruthenisch- 
polnische Verständigung herbeizuführen, welche Aktion dann 
allerdings von der ruthenischen Gesellschaft ungünstig beur¬ 
teilt wurde. — Die grössten Verdienste erwarb er sich um 
die ukrainische Musik als Organisator und Komponist. 

Kottrerenxen der rmbenischen Reidwats- und Eaudtag** 
abgcordneten. Am 6. März fanden in Lemberg Konferenzen 
der ruthenischen Reichsrats- und Landtagsabgeordneten statt. 
Gegenstand der Konferenz der ersteren war die gegenwärtige 
politische Situation der Ruthenen und im Besonderen die 
letzten Landtagswahlen. Der reichsrätliche Ruthenenklub stellte 
einstimmig fest, dass die Regierung trotz der Versicherungen 
und der diesbezüglich erlassenen Verordnung des galizischen 
Statthalters vom 20. Oktober 1907, Z. 20.077/Pr., ihr ruthenen- 
feindliches System nicht abgeändert, insbesondere aber die 
Landtagswahlen ungesetzlich und tendenziös durchgeführt 
hat, wobei sogar von den krassesten Missbräuchen nicht 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



140 


Abstand genommen wurde. Infolge eines derartigen Vorgehens 
der Regierung drückte der Ruthenenklub derselben gegenüber 
seine Entrüstung aus und beschloss dementsprechend seine 
weitere Taktik. 

In der am gleichen Tage abgehaltenen Konferenz der neu¬ 
gewählten ruthenischen Abgeordneten hat sich der landtägliche 
Ruthenenklub konstituiert. Zum Obmann wurde einstimmig 
der gewesene Obmann des landtäglichen Ruthenenklubs, 
Reichsrats- und Landtagsabgeordneter Dr. Eugen Oles- 
nytzkyj gewählt. Dem Klub sind zwölf Abgeordnete bei¬ 
getreten. 

Der Prozess der mtbenischeit Studenten vor dem Kassation*« 
bof. Am Jahrestage jenes denkwürdigen Sonntages, welcher 
dem Hungerstreik der ruthenischen Studenten den Sieg ge¬ 
bracht hat, — am 24. Februar fand vor dem Kassationshofe 
in Wien eine Verhandlung statt, welche die von den acht 
verurteilten ruthenischen Studenten eingebrachte Nichtigkeits¬ 
beschwerde zum Gegenstand hatte. Der Ausgang der Ver¬ 
handlung brachte eine neuerliche Niederlage der galizischen 
Justiz, welche vor einem Jahre schon nahe daran war, in Aus¬ 
führung der aus den polnischen politischen Kreisen hervorge¬ 
gangenen Aufträge an den jungen Kämpfern für ihre nationalen 
Rechte furchtbare Vergeltung zu üben. Gegen hundert junge 
Leute wurden damals eingesperrt und zu einem Hungerstreik 
provoziert, dessen Folgen einer derselben bereits mit seinem 
Leben bezahlte. Der Hungerstreik verhinderte den in der 
polnischen Presse verkündeten Plan, alle Eingesperrten bis 
nach den Wahlen, die Ausersehenen aber bis zur Verhand¬ 
lung im Gefängnis zu halten. Die durch die öffentliche 
Meinung erzwungene Abtretung der Angelegenheit an das 
Wiener Gericht brachte es mit sich, dass die Zahl der An¬ 
geklagten auf 17 zusammenschmolz, die sich vor dem Wiener 
Gerichte zu verantworten hatten. Aber die Wiener Staats¬ 
anwaltschaft kam zur Überzeugung, dass auch diese Anklage 
auf allzu schwachen Füssen stehe und trat von der Anklage 
gegen sechs Angeklagte gänzlich zurück; bezüglich aller 
anderen sah sie sich veranlasst, die Anklage in vielen Punkten 
zu reduzieren. Der Ausgang der Verhandlung brachte dem 
Lemberger Gericht neue Schmach: es wurden noch zwei 
Angeklagte freigesprochen. Die anderen aber wurden auf 
Grund einer derart gekünstelten juridischen Argumentation 
verurteilt, dass sie in juristischen Kreisen höchste Verwun¬ 
derung hervorrief. Auf diese Art sollte aber wenigstens teil¬ 
weise die Ehre der galizischen Justiz salviert werden. Die 
Verhandlung vor dem Kassationshof brachte aber noch dreien 
der Verurteilten die Befreiung; demnach blieben fünf Opfer 
mit je einem Monat Arrest Strafe. Ein trauriger Trost für die 
polnische Justiz, welche den als Rädelsführer Bezeichneten, 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



141 


die, nebenbei bemerkt, sämtlich frei ausgingen, mit einer 
Mindeststrafe von fünf Jahren Kerker drohte. 

Die Verteidigung lag in den Händen der beiden Ver¬ 
teidiger Dr. Walther Rode und Dr. Johann Joachim. Nach 
den Schlussreden derselben wurden beiden prächtige Spazier¬ 
stöcke, kunstvoll eingelegt mit Perlmutter und Korallchen, 
Erzeugnisse der huzulischen Hausindustrie, überreicht. 

Die Verteidigungsrede Dr. Rodes liegt dieser Nummer als 
Beilage bei. 

Der 70. ffe&iimtag ferditaid Kronawetters. Im Februar 
feierte Ferdinand Kronawetter seinen 70. Geburtstag. Aus 
diesem Anlass veranstalteten seine politischen Freunde ihm 
zu Ehren eine Feier, an welcher sich auch viele Ruthenen 
teils durch persönliches Erscheinen, teils durch Absendung 
von Begrüssungsschreiben, beteiligten, Ferdinand Krona¬ 
wetter wird in ruthenischen Kreisen mit grösster Sympathie 
begegnet. Er war nicht nur immer ein Freund des ruthe¬ 
nischen Volkes, interessierte sich nicht nur immer für das 
Schicksal desselben, sondern trat als langjähriger Reichs¬ 
ratsabgeordneter oft gegen die Vergewaltigung desselben auf 
und zur Zeit der grässlichen Wahlmissbräuche im vergangenen 
Dezennium übernahm er sogar die Führung der aus diesem 
Anlasse in Wien eingetroffenen Deputation der Ruthenen. 
Dem unermüdlichen Vorkämpfer wahrhaft demokratischer 
Grundsätze und Pionnier des allgemeinen und gleichen Wahl¬ 
rechtes auch unsere besten und aufrichtigsten Glückwünsche. 



Zdt$(brinen$ü>aii. 

„Dil©“, Lemberg, schreibt in seiner 46. Nummer in dem 
Artikel unter dem Titel „Der Kaiser über die Wahlen“, 
anlässlich der von dem Kaiser bei Empfang der Delegationen 
geäusserten „Zufriedenheit über das Resultat der Landtags¬ 
wahlen in Galizien, insbesondere aber über deren ruhigen Ver¬ 
lauf 4 , folgendes: „Fürwahr sonderbare Worte, und einen 
sonderbaren Eindruck werden dieselben in unserer Gesellschaft 
hervorrufen. Also das Resultat der Wahlen sollte befriedigend 
sein? Warum so? Darum vielleicht, dass 26 Mandate, welche 
das Wahlgesetz unserem Volke zuerkennt, von der „Rada 
Narodowa“ unter dem Protektorat des Herrn Potocki für 
polnische Schlachzizen geraubt wurden, dass die Interessen 
unseres Bauerntums im Landtage der ärgste Feind desselben 
in nationaler, politischer, sozialer, wirtschaftlicher und sogar 
religiöser Hinsicht vertreten wird ? Vielleicht darum, weil die 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



142 


„Rada Narodowa“ geholfen hat 8 Mandate für Leute zu 
erringen, die unserem Volke das Recht auf die nationale 
Existenz absprechen, dass im galizischen Landtage der 
„russische Ambassadeur“ *) Platz haben wird? Es ist möglich, 
dass Österreich davon die Befestigung freundschaftlicher 
Beziehungen zum russischen Staat erwartet — es ist ja 
möglich ... Ob man aber davon auch eine Erstarkung des 
Staatsgefühls bei unserem Volke erwarten kann, wenn dieses 
gewahr wird, dass das Russifizierungssystem, welches bisher 
nur in Russland praktiziert wurde, auch nach Österreich 
übergreift, dass auch Österreich solidarisch mit Russland es 
russifizieren oder polonisieren will ? 

„Besonders befriedigend der ruhige Verlauf der Wahlen.. 
Ruhig war der Verlauf, jawohl! Es wurde nur der einzige 
Kahanetz erstochen und zwar vor den Augen einer ruhigen 
Menschenmenge, die sich selbst dann nicht aus der Ruhe 
bringen Hess, als das Blut von einem aus ihrer Mitte floss. 
Und die Wahlmännerwahlen wurden auch ruhig gefälscht. 
Die Bezirkshauptleute und Kommissäre brachen ruhig die 
Gesetze, verwandelten mit grösster Ruhe den Wahlakt in die 
Vergewaltigung des freien Willens der Staatsbürger und jene 
Bauernmasse, welche, so wie sie die ganze Welt mit ihren 
Händen nährt, alle, die ihr in den Weg treten, mit ihren 
Händen zerschmettern könnte, sie blieb ruhig. Fürwahr, man 
muss diese Ruhe bewundern, die umso grösser ward, je 
grösser die Provokation war.“ 

Die kaiserlichen Worte werden auf falsche Informationen 
zurückgeführt, welche dem Kaiser schon seit jeher in den 
ruthenischen Angelegenheiten erteilt werden. Die Schuld 
daran trifft aber vor allem die Regierung, deren Pflicht es 
ist, den Kaiser richtig zu informieren. 

Journal de £barkroi, Belgien, bringt in Nr. 19 einen 
Leitartikel unter dem Titel „Unterdrückte und Unter¬ 
drücker“, in welchem in sehr interessanter und fesselnder 
Form eine Parallele zwischen der Lage der Polen in 
Preussen und der Ruthenen in Galizien gezogen 
wird. Wir erlauben uns den Artikel auszugsweise wieder¬ 
zugeben. 

„In der letzten Zeit — heisst es da — wurde das Vor¬ 
gehen der preussischen Regierung den Polen gegenüber von 
der Presse beider Weltteile verurteilt. Natürlich haben ihre 
polnischen Mitbrüder nicht nur mit d*er grössten Energie 
gegen dieses Vorgehen protestiert, sondern auch den Versuch 
unternommen, die deutschen Handelsleute zu boykottieren, in 
der Voraussetzung, dadurch die preussische Regierung zu 
treffen. Wahrscheinlich sagten sie sich: Es sind die Deutschen 


*) Der neugewählte Landtagsabgeordnete aus dem Wahlkreis 
Brody, Dr. Dudykewitsch, Russophilenführer. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



143 


Preussens, welche die Mitglieder des preussischen Landtages 
wählen, die den Willen Wilhelms und seiner Minister erfüllen. 
Die Wähler sollen daher für ihre Erwählten büssen. Sicher¬ 
lich ist es möglich, dass es unter den Boykottierten welche 
gibt, die die preussische Politik verwerfen, und nur diejenigen 
allein hätten Grund, sich über die Boykottierung zu beklagen, 
die öffentlich solche Politik Preussens verdammten. Dies zu¬ 
gegeben, wenden wir uns an die boykottierenden Polen in 
Galizien mit den Worten: „Es ist eine zehnmal schändlichere 
(dix fois plus infäme), eine viel abscheulichere und unmensch¬ 
lichere Tyrannei, die die Polen ihre slawischen Mitbrüder 
in Galizien erdulden lassen“. Es wird sodann die Rolle 
der polnischen Schlachta in Galizien unter Hinblick auf deren 
historische Vergangenheit geschildert. Es habe in Österreich 
nur einen Herrscher gegeben, der den Mutwillen der Schlach- 
zizen zu zähmen versucht hat. Das war Josef II., nach dessen 
Tode die beiden despotischen Gewalten, die österreichische 
und die polnische, es bequemer fanden, sich zu vereinigen. 
In Galizien bedeutete diese Tatsache die Fortsetzung der 
historischen Unterdrückung der Ruthenen durch die Polen. 
Dieser Bund zwischen den Polen und der österreichischen 
Regierung erhielt sich bis auf den heutigen Tag. Für die 
Unterstützung der Staatsnotwendigkeiten überliess die öster¬ 
reichische Regierung den Polen in Galizien die Administration, 
die Justiz und die Polizeigewalt im Lande, dank dessen das 
ruthenische Volk gänzlich auf Gnade und Ungnade den Polen 
ausgeliefert wurde. An die politische Unterdrückung 
knüpft sich aber eine ökonomische, welche Tausende 
von ruthenischen Bauern über den Ozean treibt, von welcher 
die Polen in Preussen gewiss keine Ahnung haben. Der 
Verfasser schildert sodann die Organisationsversuche der 
Ruthenen, die eine Abwehr gegen die polnische Invasion 
bezwecken und wodurch das Volk kulturell und wirtschaft¬ 
lich gehoben werden soll, welche aber den ärgsten Schikanen 
seitens der polnischen Verwaltungsorgane ausgesetzt sind. 
An die bekannte Äusserung des Statthalters Grafen Potocki 
anknüpfend, der sich sogar einer Deputation der ihm be¬ 
sonders missliebigen Feuerwehr- und Turnvereine „Sitsch“ 
gegenüber geäussert hat, er werde diese vernichten, macht 
der Verfasser eine Abschweifung in die römische Geschichte, 
welche Stelle wir wörtlich zitieren:,Diese Verfolgung der Feuer¬ 
wehrvereine gibt uns den Ansporn zur Einfügung einer Paren¬ 
these, welche beweist, wie durch die Jahrhunderte hindurch 
das Vorgehen des Despotismus sich gleicht. Ahnt der präch¬ 
tige Graf Potocki, dass er in seinem Vorgehen keinem Ge¬ 
ringeren gleich ist, als dem erhabenen Kaiser Trajan? 
Plinius der jüngere wurde von ihm zum Gouverneur von 
Bithynien ernannt. Plinius musste in allen kleinen und grossen 
Angelegenheiten beim Kaiser dessen Rat einholen. Eines Tages 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



144 


berichtet der Gouverneur seinem Kaiser, dass in Nikomedie 
eine Feuersbrunst viele private und öffentliche Gebäude zer¬ 
stört habe, und zwar vor den Augen der gleichgiltigen Zu¬ 
schauer. Er verlangt daher die Erlaubnis, einen »Handwerker- 
Verein' von etwa 150 Mann gründen zu dürfen, der den Dienst 
unserer heutigen Feuerwehr auszuüben gehabt hätte, und er 
beeilte sich hinzuzufügen: ,Ich werde wohl darauf achten, 
dass das neugeschaffene Vereinsrecht nicht missbraucht 
werde. Es wird übrigens nicht schwer fallen, eine so kleine 
Anzahl von Menschen zu überwachen'. Trajan antwortete ihm 
hierauf: .Vergessen Sie nicht, dass diese Städte bereits beun¬ 
ruhigt wurden durch Parteien ähnlicher Sorte. Wie auch 
immer der Name lauten mag, welcher immer der Zweck sein 
wird, den wir denjenigen bestimmen, die wir in diesen 
Verein berufen, aus dem Verein wird bald eine Brüderschaft. 
Es genügt also, all das zu besorgen, was zum Löschen des 
Feuers notwendig ist, und die Bürger aufmerksam zu machen, 
dass sie sich dieser Gegenstände im Gebrauchsfalle zu bedienen 
haben. Wenn es nötig sein sollte, wird man auch das Volk 
zu Hilfe nehmen können'. 

„Also nur keine Feuerwehr, das ist viel zu gefährlich für 
die Regierung des Grafen Potocki, ebenso wie für diejenige 
des Kaisers Trajan“. 

In der Folge wird der berüchtigte Prozess besprochen, 
den die galizische Staatsanwaltschaft gegen den Initiator der 
Vereine, den jetzigen Abgeordneten Dr. Try 1 owskyj, an¬ 
gestrengt hat, ihm Aneiferung zu judenfeindlichen Hetzen, 
Prätendieren auf einen ruthenischen Thron und andere sinn¬ 
lose Verbrechen vorwerfend, welcher aber infolge falscher 
Zeugenaussagen mit der Verurteilung des Angeklagten endete. 
Seit der Zeit wurden alle möglichen Schritte unternommen, 
unter anderem auch zahlreiche Interpellationen im österreichi¬ 
schen Reichsrat eingebracht, um die Revision dieses einzig 
dastehenden Prozesses zu erwirken, aber vergebens. 

Wir führen noch den Schluss des Artikels an: 

„Die Schlachta, das sind die Hauptschuldigen, gewiss, 
aber schuldig ist auch das polnische Volk, welches in grosser 
Majorität diese Nichtswürdigen mit seinem Vertrauen aus¬ 
stattet und sie auf das Schild hebt, zum Unglück ihrer Mit¬ 
brüder, wie auch zum Unglück der Ruthenen. Es ist daher 
nötig, dass die polnische Demokratie in Preussen und Russ¬ 
land gegen den Despotismus der polnischen Schlachta in 
Galizien protestiert, und zwar mit derselben Energie, die sie 
gegen den preussischen Despotismus an den Tag legt, und 
dass sie diese frechen Krautjunker mit ebensolcher Ausdauer 
boykottiert, wie die preussischen Kaufleute, deren Mehrzahl 
das Verschulden anderer büssen muss. Nur um diesen Preis 
können die Polen auf demokratische Sympathien in ihr.em 
Kampfe um die Unabhängigkeit rechnen.“ 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



145 


V erteidigungsrede 

gehalten am 24. Februar 1908 vor dem k. k. Kassationshof in 
Wien für die der Teilnahme an den Lemberger Universitäts¬ 
exzessen vom 23. Jänner 1907 schuldig gesprochenen ukrai¬ 
nischen Studenten. 

Von Dr. Walther Rode. 

Hoher Kassationshof! 

Wenn ich die Ehre habe vor dem hohen Kassations¬ 
hof für eine Sache einzutreten, unterlasse ich es, andere 
Akzente, als nur juristische anzuschlagen, weil ich der Ansicht 
bin, dass diese abgeklärteste Art der Betrachtung eines Falles 
die dieses höchsten Tribunales allein würdige ist. 

Ich habe, hoher Kassationshof, obgleich ich der Über¬ 
zeugung bin, dass das Verfahren und das Urteil, das diesem 
Verfahren entstammt, mit einer Unmasse von Nichtigkeiten be¬ 
haftet sind, doch nur einen einzigen Nichtigkeitsgrund gegen 
das Urteil angerufen, weil ich davon durchdrungen bin, dass 
dieser Nichtigkeitsgrund vorhanden ist und dass infolge Vor¬ 
handenseins dieses Nichtigkeitsgrundes das Urteil durch dieses 
höchste Gericht vernichtet werden muss. Ich habe mir diese 
Selbstbeschränkung auferlegt in der Zuversicht zum Siege 
des Rechtes, im Vertrauen auf die Wahrheit der Worte des 
grossen Rechtslehrers Rudolf von Ihering: „dass unverbrüch¬ 
liche Sicherheit die Grundstimmung des Rechtes ist.“ 

Es sind die Angeklagten schuldig gesprochen worden, in 
gegenseitigem Einverständnis handelnd, boshafterweise, die 
Einrichtung, die Mobilien, die Porträts der Lemberger Uni¬ 
versität vernichtet und dadurch einen Schaden von über 
K 50 angerichtet zu haben. Sie sind also schuldig gesprochen 
worden des Verbrechens der öffentlichen Gewalttätigkeit durch 
Sachbeschädigung nach § 85 a des Strafgesetzes. Es muss 
daher im Rahmen des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes, 
wonach die im Urteil festgestellten Tatsachen ein strafbares 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



146 


Verschulden der Angeklagten nicht ergeben, untersucht werden, 
ob die Feststellungen des angefochtenen Urteiles zu jenem 
Schluss, welchen die Urteilssentenz ausspricht, berechtigen. 

Es hat das Urteil in seinen Gründen festgestellt, dass 
am 23. Jänner 1907 im ersten Stockwerk der Universität 
Lemberg Sachbeschädigungen und Verwüstungen vorgekommen 
sind, dass eine Anzahl der an diesem Tage mittags im 
Korridor des ersten Stockes der Universität massenhaft ver¬ 
sammelten Studenten die Türe zur Aula der Universität er¬ 
brochen hat, dass in der Aula und im Promotionssaale Porträts 
und Einrichtungsgegenstände vernichtet wurden, dass dieser 
Saal in einen Trümmerhaufen verwandelt worden ist. Der 
Gerichtshof hat nun angenommen, „dass nicht etwa einzelne 
Personen diese Tat vollbracht haben, sondern dass das 
Ganze als ein Gesellschaftsverbrechen, als ein Komplott an¬ 
zusehen ist.“ 

Was ist es aber mit den Angeklagten und ihrer Schuld? 

Da hat der Gerichtshof die Überzeugung gewonnen, 
„dass im Hinblick auf die bevorstehende Immatrikulation und 
die Stimmung der Studentenschaft den Angeklagten klar sein 
musste, dass irgend etwas in der Luft liege und dass Alles 
dazu reif sei, selbst etwas Gesetzwidriges zur Durchführung 
der propagierten Zwecke zu unternehmen.“ 

Diese Feststellung betrifft die Willensstimmung der An¬ 
geklagten vor Verübung der Exzesse, wobei ein Ausspruch 
Über die Urheberschaft noch aussteht. Wir wissen also, was an 
Schaden angerichtet wurde und wie . der Masse zu Mute war, 
welche als das eigentlich delinquierende Subjekt erscheint. 
Wie aber wird die Schuld der einzelnen Angeklagten durch 
die weiteren Feststellungen vom Urteil entwickelt? 

Das Urteil sagt, es steht fest, dass am 23. Jänner 
1907 mittags die ruthenischen Studenten massenhaft auf 
der Universität erschienen sind, dass sie mit Stöcken be¬ 
waffnet waren, dass inmitten des Tumultes Kommandorufe 
ertönten und dass schliesslich eine ruthenische Fahne aus 
dem Universitätsgebäude entfaltet wurde, welche offenbar, 
wie scharfsinnig bemerkt wird, mitgebracht worden sein 
musste. Auf Grund dieser Feststellungen nun kommt das 
Urteil zum Schluss, das die Exzesse vorbereitet waren, dass 
es sich also um eine planmässige, arrangierte Demonstration 
mit Gewalttätigkeiten gehandelt habe. Die Urheber sind also 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



147 


planmässig vorgegangen, sagt sich das Urteil, nicht wild und 
planlos; wir haben es also mit einem verabredeten Verbrechen 
zu tun. 

Gewiss ist also auf der einen Seite der angerichtete 
Schaden, die Massenverwüstung und auf der anderen Seite 
ein planmässiges Arrangement, das diesen Schaden hervor¬ 
gebracht hat. 

Welchen Teil nun haben die Angeklagten den Urteils¬ 
feststellungen zufolge an der nunmehr festgestellten Plan- 
mässigkeit der Exzesse und wie haben sie sich aufgeführt 
im Exzesse? Das Urteil sagt in dieser Richtung, es müsse 
folgende Version bezüglich des Zustandekommens der Exzesse 
adoptiert werden: „Es ist der Bericht der Polizeidirektion 
wahrscheinlich, dass nach der Generalversammlung der 
Akademitschna Hromada vom 22. Jänner, wo nur im Allge¬ 
meinen und über Allerlei debattiert wurde, irgendwo ein 
kleines Konventikel von radikalen Studenten zusammenkam 
und dass hier jene Exzesse beschlossen wurden, welche am 
nächsten Morgen ins Werk gesetzt worden sind.“ 

Und jetzt kommt ein wichtiger Satz: „Allerdings“, heisst 
es, „kann nicht nachgewiesen werden, dass die Angeklagten 
an dieser geheimen Versammlung teilgenommen haben und 
dass sie zur Durchführung der dortselbst beschlossenen Exzesse 
am nächsten Morgen in die Universität gekommen sind, aber 
der Gerichtshof hat aus ihrem Verhalten bei der Demon¬ 
stration und aus ihrer Verantwortung die Überzeugung ge¬ 
wonnen, dass sie erstens wussten, dass irgend etwas Gesetz¬ 
widriges in der Luft liege und dass sie zweitens sofort bei 
ihrem Erscheinen am Tatorte sich jenen Arrangeuren der 
Exzesse angeschlossen haben.“ 

Also: Zwar lässt sich den Angeklagten Teilnahme an 
der vorausgegangenen Verabredung, an dem Zustandekommen 
des verbrecherischen Entschlusses nicht nachweisen, jedoch 
sie haben sich den Rädelsführern angeschlossen. 

Es scheint hier eine Konstatierung vorzuliegen, welche 
die Schuld der Angeklagten in sich schliesst und ich frage 
deshalb und ich werde die Antwort aus den Feststellungen 
des Urteiles geben, welcher Art sind jene Tatsachen, die das 
„Anschliessen der Angeklagten an die Arrangeure der Exzesse“ 
ausmachen? 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



148 


Das Urteil sagt hierüber: „Der Gerichtshof hat dies“, 
nämlich den angeblichen Anschluss der Angeklagten an die 
Arrangeure, „daraus geschlossen, dass die Angeklagten, ob¬ 
gleich es ihnen möglich gewesen wäre, den Tatort zu ver¬ 
lassen, nichtsdestoweniger dort verblieben sind“. 

Das Verbleiben am Tatort ist also jenes Anschliessen 
an die Rädelsführer, welches die Angeklagten auf den ersten 
Blick so schwer belastet. Dass nichts weiter damit gemeint 
war, geht ferner daraus hervor, dass das Urteil an anderer 
Stelle sägt: Als vorzüglichstes Verdachtsmoment hat der Ge¬ 
richtshof die Anwesenheit der Angeklagten am Tatorte an¬ 
gesehen, weil durch diese Anwesenheit das Massenbewusst¬ 
sein gestärkt, der Demonstration ein grösserer Nachdruck 
verliehen und Gott weiss was noch Alles hervorgebracht 
wird. Die Anwesenheit am Tatorte ist also, dem Urteile zu¬ 
folge, nicht nur ein Verdachts- sondern ein Schuldmoment. 

Das ist Alles, was gegen die Angeklagten vorliegt. Die 
Feststellungen des Urteiles betreffen die Geschichte der 
Demonstration überhaupt. Vom einzelnen Angeklagten wissen 
wir nur, dass er dort war und nichts weiter. Um nun die 
Schuld der einzelnen Angeklagten aus diesem Nichts von 
einem Tatbestand zu konstruieren, spricht das Urteil aus: 
Wir haben es mit einer einheitlichen Handlung zu tun und 
da wir es mit einer einheitlichen Handlung zu tun haben, ist 
es nicht notwendig, jedem einzelnen Angeklagten zu beweisen, 
dass er selbst Hand angelegt hat an die Dinge, es genügt 
daraufhinzuweisen, dass jeder der Angeklagten in irgend einer 
Art tätig wurde, um sein schuldbares Handeln zu erkennen. 

In irgend einer Art! Und so avanciert, wie wir 
sehen werden, harmloses Treiben zum Verbrechen. Das 
Ganze ist als eine einheitliche Handlung anzusehen! 
Welcher Art ist aber, und dies scheint mir das Entscheidende 
zu sein, welcher Art ist im Sinne des Urteiles diese Ein¬ 
heitlichkeit des gesamten Vorfalles, aus der vom Urteil so 
wichtige Konsequenzen abgeleitet wurden? 

Ich frage, ist es die Einheitlichkeit der Willensüberein¬ 
stimmung Aller, sodass man bei dieser angenommenen 
Willensübereinstimmung nur auf irgend eine Bewegung des 
Einzelnen hinzuweisen braucht, um seine Schuld zu erkennen? 

Diese Einheitlichkeit aber ist vom Urteil nicht gemeint, 
denn wie wären da Freisprüche denkbar gewesen? Wären 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



149 


alle Demonstranten eines Sinnes gewesen, alle erfüllt von dem 
bösen Willen zum Verbrechen, wie hätten einzelne am Tat¬ 
orte Anwesende freigesprochen werden können, mit der Be¬ 
gründung, sie hätten keinen Teil gehabt am bösen Willen 
Aller? 

Unter den Freigesprochenen waren solche, die sich 
passiv und solche, die sich abmahnend verhalten haben. 
Man kann also von einem Durchdrungensein der ganzen Menge 
vom verbrecherischen Vorsatz nicht sprechen. Und auch das 
Urteil verabsäumt es eine Einheitlichkeit des Vorfalles in 
diesem Sinne festzustellen. 

Die Ansammlung vom 23. Jänner 1907 war also wie 
eine Versammlung mit Minoritätsstimmungen, sie war wie eine 
Wasserfläche mit interferierenden Strömungen. Wenn man 
aber nun fragt, welcher Art ist denn jene Einheitlichkeit, von 
der das Urteil spricht, weichen Sinn hat das Urteil dem Worte 
Einheitlichkeit, auf welchem seine ganze Konstruktion beruht, 
gegeben, so finde ich auch darauf die Antwort im Urteile selbst. 

Folgender Gedankengang des Urteiles lässt sich er¬ 
kennen: Es sind Verwüstungen durch eine Masse angerichtet 
worden. Die delinquierende Masse aber ist über den Tatort 
hinweggerauscht, die Zerstörung verkündigt sie nur. Kein 
Kinematograph kann das Bild der Zerstörungsarbeit wieder¬ 
geben. Es lässt sicht jedoch eine Historie des Falles fixieren. 
Die Zeitfolge der Ereignisse, der Aufmarsch der Studenten¬ 
schaft zum Tatorte, die Ausrüstung mit Werkzeugen lassen 
auf Planmässigkeit schliessen. Wir haben es mit einem ver¬ 
abredeten, arrangierten, veranstalteten Verbrechen zu tun. Da 
die Rolle des Einzelnen unfeststellbar ist, ruft nun das Urteil 
angesichts dieser Entdeckung der Planmässigkeit Heureka 
und zieht aus dieser Entdeckung seine Schlüsse. Es ist also 
die Tatsache der Veranstaltung der Exzesse, die Tatsache 
des Veranstaltetseins als jene Einheitlichkeit, aus welcher 
argumentiert wird, gedacht. Aber damit ist nichts gesagt 
über die Schuld der Einzelnen, da dieser konstatierten 
Planmässigkeit, die ja dem Unternehmen gewiss zu Grunde 
lag, ungeachtet, Räum ist für die Annahme separatistischer 
Stimmungen und separatistischen Verhaltens Einzelner. Plan¬ 
mässigkeit war da, aber darauf kommt es nicht an. 

Das Urteil spricht von einer Einheitlichkeit. Alles was 
ich als ein Ganzes begreife, ist eine Einheit. Wenn ich von 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



150 


demTurm der Karlskirche den Naschmarkt betrachte, so habe 
ich auch ein einheitliches Bild unter mir. Aber es ist das 
nicht eine Einheitlichkeit, bei der man sagen darf, in allen 
Individuen des Bildes habe Willensübereinstimmung geherrscht. 

Das Urteil hat also eine Einheitlichkeit ohne herstell¬ 
baren Zusammenhang mit der Schuld der Einzelnen festge¬ 
stellt, um dann dieses mangelnden Zusammenhanges unge¬ 
achtet unter Hinweis auf irgend eine Bewegung, die Schuld 
der einzelnen Angeklagten im Hinblick auf die angeblich 
bereits festgestellte Willensübereinstimmung mit den eigent¬ 
lichen Tätern des Verbrechens proklamieren zu können. Es 
hat aber keine Willensübereinstimmung Aller geherrscht, die 
Tatsache der Planmässigkeit ist für die Schuld der Einzelnen 
belanglos, es dürfen daher aus der sogenannten Einheitlich¬ 
keit der Handlung zu Niemandes Nachteile Konsequenzen ab¬ 
geleitet werden. 

Es bleibt uns nun übrig zu untersuchen, was jedem 
Einzelnen der Angeklagten zur Last fällt und zwar nach der 
Tatseite sowohl als nach seiner festgestellten bösen Absicht, 
um dann zu sehen, ob dies eine strafbare Schuld ergibt. 

Bezüglich des Angeklagten Jaroslaw Babij hat der Ge¬ 
richtshof festgestellt, dass er am Barrikadenbau beteiligt war. 
Dem Angeklagten Iwan Ciapka konnte vor der Hauptver¬ 
handlung nichts anderes nachgewiesen werden, als dass er 
verbrecherischer Weise Röhrenstiefel getragen hatte. In den 
Gründen des angefochtenen Urteiles ist angegeben, Ciapka 
sei von Paul Krat, dem Haupträdelsführer, welcher sich der 
Gerechtigkeit entzogen hat, angesprochen worden. Was Ciapka 
aber mit Krat gesprochen hat, ob Ciapka vielleicht von Krat 
angepumpt wurde, oder ob er mit ihm über eine der schönen 
Rutheninnen gesprochen hat, die in I. Instanz als Zeuginnen 
aufgetreten sind — der einzige weibliche Lichtblick in diesem 
überaus männlichen Prozess — darüber schweigt das Urteil. 
Ciapka wurde von Krat angesprochen und das ist sein Ver¬ 
schulden. Ausserdem besass er einen Stock und zwar einen 
grossen Stock, von dem allerdings nicht gesagt wird, in welcher 
Weise er dem Zweck der Verwüstung dienstbar gemacht 
worden ist, was, wie mir scheint, das einzig Erhebliche an 
der Sache ist. 

Was dem Angeklagten Didunyk zur Last liegt, kann ich 
wirklich nicht angeben. Es wurde ihm nicht die Mittäterschaft 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



151 


am Barrikadenbau vorgeworfen; es hat sich nur seine Legi¬ 
timationskarte im Besitze des ersten ruthenischen Rektors 
der Lemberger Universität, des Herrn Paul Krat, vorgefunden 
und dies lässt, sagt das Urteil, auf eine grosse Intimität 
zwischen Didunyk und Krat schliessen. Didunyk sagt aber, 
Krat habe ihm diese Legitimationskarte gestohlen. Dies ist, 
glaube ich, kein Zeichen besonderer Intimität. Unter polnischen 
Studenten mag dies anders sein. 

Babij, Hladkyj und Rachinskyj haben, den Urteilsfest¬ 
stellungen zufolge, Bänke geschoben. Ciapka und Didunyk 
verhielten sich passiv. 

Nun frage ich, welchen Sinnes waren die Angeklagten, 
als sie die ihnen zur Last gelegten Tatsachen in die Er¬ 
scheinung treten Hessen?? Das Urteil sagt darüber: „bevor 
sie zum Tatort kamen, da haben sie gewusst, dass irgend 
etwas in der Luft liege und dass alles dazu reif sei, selbst 
etwas Gesetzwidriges zu unternehmen“. Sie haben also Bänke 
geschoben mit dem Bewusstsein, dass irgend etwas in der 
Luft liege. Ist das ein Verbrechen? 

Ist das der Dolus, die böse Absicht, welche der § 1 
des Strafgesetzes zum Verbrechen erfordert? Was kann den 
Angeklagten weiter in der Richtung des bösen Vorsatzes im- 
putiert werden, als dass sie gewusst haben, irgend etwas 
liege in der Luft? Welchen Charakter hat ihre böse Absicht 
gehabt? Das Urteil hat darüber ausdrücklich nichts weiter 
festgestellt. Ich aber will dem Urteil zu Hilfe kommen und 
jene Tatsachen hervorsuchen, welche etwa die böse Absicht 
verkünden, untersuchen, ob das, was den Angeklagten an Tat¬ 
verübung zur Last fällt, den bösen Vorsatz vielleicht schon 
enthält. 

Wenn ich jemandem einen Dolch in die Brust stosse, 
so ist der Rückschluss aus der Tat auf meine Absicht ein 
so zwingender und unabweislicher, dass niemand mir den 
bösen Vorsatz absprechen kann, da steckt der böse Vorsatz 
in der Tat, nun aber, hoher Kassationshof, Ähnliches kann 
man bei den einzelnen hier in Betracht kommenden, über¬ 
haupt diskutablen Tathandlungen nicht sagen, denn was am 
23. Jänner 1907 in der Universität Lemberg geschehen ist, 
was eigentlich strafbar ist, die Verwüstungen, die Vernichtung 
der Einrichtung, das hat sich ja an einem anderen Ort ab¬ 
gespielt, als der Barrikadenbau.Die Angeklagten, nicht alle 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



152 


- Didunyk und Ciapka werden nicht einmal von dieser 
Bagatelle von Schuld getroffen — wurden überführt, Bänke 
geschoben zu haben, während anderenorts, in einem anderen 
Raume des Hauses Möbel dem Erdboden gleichgemacht wurden. 

Wie kann man sagen, dass die Angeklagten, weit weg 
vom Tatorte und bei Verübung von gewöhnlichem Ulk, 
der mit den vorgekommenen Devastationen in gar keinem 
sachlichen Zusammenhänge steht, auch nur das Bewusstsein 
der auf demselben Boden vorgekommenen strafbaren Hand¬ 
lungen haben mussten und hatten? 

Wenn man die Tatsachenfür sich sprechen lässt, so mussman 
sagen, tausendmal, ja unendlichmal wahrscheinlicher als ein 
bewusstes Zusammenwirken mit den wirklich Schuldigen ist, 
dass die Angeklagten, als Werkzeuge einer fremden, über 
ihnen stehenden Planmässigkeit gehandelt haben, dass sie 
einem Kommandoworte gehorchten, dessen strategischer Sinn 
ihnen keineswegs klar war. Wir müssen uns den Tumult ver¬ 
gegenwärtigen, das Durcheinanderwogen von Menschen und 
Stimmen, wie es damals in den Räumen der Universität ge¬ 
herrscht hat, die erregte Phantasie, Verwirrung und Beäng¬ 
stigung aller Anwesenden, wir müssen erwägen, wie angesichts 
einer in solcher Umgebung wahrgenommenen lebhaften Be¬ 
wegung der Nachahmungstrieb im einzelnen explosiv hervor¬ 
bricht, um zu erkennen, wie verkehrt es ist im Bänkeschieben, 
im zufälligen Mittun daran — mehr ist den Angeklagten nicht 
nachgewiesen — die Sicherung der Zerstörungsarbeit zu er¬ 
blicken. Es kommt nicht darauf an, welchen Zweck die 
Barrikaden hatten, sondern darauf, welchen Zweck die An¬ 
geklagten verfolgten, als sie daran mittaten. Die Angeklagten 
haben getan, was rechts und links von ihnen von anderen 
getan wurde und sie hatten keine Ahnung davon, was in den 
andern Räumen geschehen ist, sie können daher nicht hiefür 
verantwortlich gemacht werden. Ich sage, sie hatten keine 
Ahnung von alledem und das Gegenteil ist nicht festgestellt. 

Von einer Mittäterschaft der Angeklagten kann nach 
diesen Feststellungen des Urteils nicht die Rede sein, denn 
Mittäterschaft ist bewusstes Zusammenwirken Mehrerer im 
gemeinsamen Dolus. 

Nun kommt aber das angefochtene Urteil mit einer 
dritten Konstruktion; es sagt: Schon die Anwesenheit der 
Angeklagten am Tatorte ist ein schuldbegründendes Moment, 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



153 


weil die Anwesenheit am Tatorte das Massenbewusstsein 
stärkt, der gegenseitigen Anfeuerung dient und die Unver¬ 
antwortlichkeit der Masse hervorbringt. 

Warum sind aber dann die Herren Bekesewytsch und 
Tychowskyj freigesproch^n worden, die ja auch sträflicher¬ 
weise das Massenbewusstsein durch ihre Anwesenheit am 
Tatorte gestärkt haben? Das Urteil sagt, die Angeklagten 
sind am Tatorte geblieben, obgleich es ihnen freigestanden 
ist, ihn zu verlassen. Nach Ansicht des Urteiles also hätten 
die Angeklagten angesichts der vorhandenen Ansammlung 
die Pflicht gehabt, nachhaus zu rennen und sich ins Bett zu 
legen und weil sie dies nicht taten, haben sie hiedurch das 
Verbrechen der Sachbeschädigung verübt. 

Es ist ja wahr, dass die Masse eine unberechenbare 
Bestie ist, ein Pulverfass, dass sie mehr gestimmt ist zum 
Bösen als zum Guten. Aber macht sich jemand aus dem 
Titel der Vermehrung der Gefährlichkeit der Masse straffällig, 
der, der Ansammlung ungeachtet, in die Kirche geht oder in 
eine Wählerversammlung? Ja, jedes sich solchergestalt zu¬ 
gesellende Individuum stärkt das Massenbewusstsein und 
doch ist es noch nie jemandem eingefallen, einen Zeitgenossen 
aus dem Grunde seiner blossen Koexistenz zu strafen. 

Allerdings bestraft das Gesetz in einzelnen Fällen schon 
die Anwesenheit am Tatorte und dies ist der Fall beim Ver¬ 
brechen des Aufstandes. Jedermann, welcher sich der Rottierung 
zugesellt, macht sich des Verbrechens des Aufstandes schuldig, 
wobei jedoch untersucht werden muss, ob auch er beseelt 
war von der Empörung, welche die Ansammlung zusammen¬ 
brachte. Aber des Verbrechens des Aufstandes waren die 
Angeklagten nicht angeklagt. Zwar hat man sie unter diesem 
Titel in Haft genommen und mit der Gendarmerie durchs 
Land getrieben, aber angeklagt hat man sie des Aufstandes 
nicht. Man hatte zu wenig Vertrauen zu den Richtern des 
Volkes. Ebenso sagt § 157 des Strafgesetzes, jedermann, der 
Hand angelegt hat bei einer zwischen mehreren Personen 
ausgebrochenen Schlägerei, die mit einer schweren Verletzung 
endete, ist strafbar wegen schwerer Körperverletzung. Das 
sind eben Erweiterungen der Strafbarkeit in einzelnen vom 
Gesetz besonders hervorgehobenen Fällen. Wenn jedoch 
Sachbeschädigungen Vorkommen, darf man nicht jeden packen 
und schuldig erklären, der irgendwo in der Nähe stand, etwa 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



154 


nach dem vom Urteil aufgestellten Grundsatz: Alle für Einen 
und Einer für Alle. Diesen Grundsatz hat das Urteil offenbar 
einem afrikanischen Rechte entnommen. Das österreichische 
Recht kennt diesen Grundsatz nicht. 

Bei der ungeheuren Vorsorglichkeit unserer Gesetze für 
die Bestrafung Schuldiger ist aber auch der Fall der Angeklagten 
in der Gesetzgebung vorgesehen und zwar durch die kaiser¬ 
liche Verordnung vom Jahre 1854, deren § 11 das Verhalten 
der Angeklagten sehr deutlich brandmarkt; es heisst darin: 
jede demonstrative Haltung wird bestraft und zwar polizeilich 
bestraft. Die Angeklagten hätten polizeilich bestraft werden 
können mit Geldstrafen bis 100 Kronen. 

Trotz des negativen Ergebnisses des Beweisverfahrens 
ist das Urteil dennoch zu einem Schuldspruch gelangt, was 
menschlich nicht unerklärlich ist. Ein Freispruch wäre das 
Bekenntnis der Ratlosigkeit vor der Verworrenheit des Bildes 
gewesen, die Richter hätten eingestehen müssen, wir wissen 
nicht, wie die Sache war und das tun Richter ungern. 

Angesichts des geschehenen Frevels hat es das Gericht 
gedrängt, die Schuldfrage zu lösen und es entstanden die 
Konstruktionen des Urteiles. Hiedurch sollte die Ungeschick¬ 
lichkeit der Polizei, welcher es nicht gelungen war, die Schul¬ 
digen aufzubringen, saniert werden. Jedoch das gibt es nicht 
Wir aber brauchen uns nicht darüber die Köpfe zu zerbrechen, 
wer die Schuldigen waren. Sagt doch das Urteil selbst, „dass 
nicht etwa einzelne Personen Tathandlungen verübt haben, 
sondern dass das Ganze als Gesellschaftsverbrechen anzusehen 
sei". Der Tumult in den Räumen der Universität Lemberg vom 
23. Jänner 1907 hat sich vollzogen mit der Anonimität eines 
Naturereignisses. Und es bedarf einer Strafe über die Rädels¬ 
führer und Teilnehmer am Studentenaufstande nicht, denn 
was am 23. Jänner geschehen ist, das war schon selbst eine 
Strafe. Das war die Vergeltung für die beispiellosen Unter¬ 
drückungen und Schikanen, die das ruthenische Volk und 
die ruthenische Studentenschaft in Ostgalizien zu erleiden 
haben. Der hohe Kassationshof hat gegenüber den vorge¬ 
kommenen Exzessen keine andere Aufgabe als die, sein placet 
darunter zu schreiben. 

Ich komme dazu, die Nichtigkeitsbeschwerde für Herrn 
Dr. Batschynskyj auszuführen. Dr. Batschynskyj wurde schuldig 
gesprochen der Anreizung zu ungesetzlichen Handlungen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



nach § 305 des Strafgesetzes und soll diese Tat verübt haben 
durch Absendung eines Telegrammes an den Obmann des 
akademischen Vereines Akademitschna Hromada, welches 
Telegramm die drei Wörtlein enthielt: Mutig Genossen, vorwärts. 
Das Urteil sagt, hiedurch habe Dr. Batschynskyj zu Hand¬ 
lungen angeeifert, welche durch das Strafgesetz verpönt sind. 
Ich habe den Staatsanwalt in I. Instanz schon gefragt, bitte 
mir zu sagen, zu welchen strafbaren Handlungen der Ange¬ 
klagte durch sein epigrammatisches Telegramm angeeifert 
hat und ich muss diese Frage gegenüber dem Urteil, womit 
Dr. Batschynskyj schuldig erkannt wurde, zu strafgesetzlich 
verpönten Handlungen durch eben dieses Telegramm angereizt zu 
haben, wiederholen. Hat Dr. Batschynskyj seine Kommilitonen 
durch das Telegramm angereizt zum Verbrechen des Hoch¬ 
verrates oder zum Verbrechen der Abtreibung der Leibes¬ 
frucht? Ich glaube aus den drei Worten des Tele¬ 
grammes, welches Dr. Batschynskyj an Herrn Nasaruk zur 
Versammlung der Akademitschna Hromada vom 22. Jänner 
abgesendet hat, kann man wohl eben so gut die Aufforderung 
zu etwas Grossem und Edlem herauslesen, als die zu etwas 
Verbrecherischem. Aber das Urteil hat die kriminelle Aus¬ 
legung des Staatsanwaltes adoptiert. Wie argumentiert das 
Urteil? Es sagt, Dr. Batschynskyj ist ein Revolutionär. Nach 
seiner bei der Hauptverhandlung ausgesprochenen Über¬ 
zeugung kann man in Galizien als Politiker, der seinem Volke 
dienen will, nicht anders, als mit den Mitteln der Revolution 
Vorgehen. Gut. Aber wo und wie leuchtet diese Überzeugung 
des Herrn Dr. Batschynskyj aus den drei Worten des Tele¬ 
grammes hervor? Hätte Dr. Batschynskyj Dynamit gesprochen, 
hätte er in den revolutionären Akkorden geschwelgt, hätte 
er seine Konnationalen dazu eingeladen, die Herren Schlach- 
zizen an Telegraphenstangen aufzuhängen, das wäre etwas 
anderes gewesen. Aber das Urteil sagt, der Mann ist ein 
Revolutionär, er hat nichts anderes meinen können als das 
Unerlaubte. Ja, aber was ist es mit dem § 11 des Strafge¬ 
setzes? Was geht das Urteil die Gesinnung des Dr. Batschynskyj 
an? Und wenn Dr. Batschynskyj tausendmal der Ansicht ist, 
dass man dem fluchwürdigen Regiment in seinem Heimatlande 
Galizien nur mit Feuer und Schwefel begegnen könne, was 
geht das den Staatsanwalt, was geht das die Gerichte an? 
Dürfen wir zu Gericht sitzen über Überzeugungen, über Ge- 


bv Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



156 


wissen? Über Gedanken und über innerliches Vorhaben gibt 
es keinen Richter und dieser Grundsatz ist hier flagrant 
verletzt worden. 

Ein zweites Telegramm wird gegen Herrn Dr. Batschynskyj 
ins Treffen geführt, ein Telegramm, das er nach der Demon¬ 
stration am 23. Jänner hat aufflattern lassen; ein Zitat aus 
einem ruthenischen Dichter: Morde, schlage, würge den un¬ 
gläubigen Bisurmann. Dr. Batschynskyj hat über die blutige 
Erhebung der ruthenischen Studentenschaft, über das plötz¬ 
liche Volksgericht, mittels welches der allpolnische Chauvi¬ 
nismus so überaus kräftig getroffen wurde, lebhafte Freude 
empfunden, aber mit ihm das ganze ruthenische Ostgalizien. 
Dieses Telegramm ist nicht angeklagt; es soll nur die 
Schwärze der Gesinnung des Dr. Batschynskyj in das richtige 
Licht rücken. Aber, noch einmal sei’s gesagt, über Gesinnun¬ 
gen gibt es keine Justiz. 

Ich stelle den Antrag der hohe Kassationshof möge 
sämtliche Angeklagten freisprechen. 


DrucKfebler-RicDtigsteflNng. 

Im Hefte 2, Artikel „Abgeordneter Zamorski als Ge¬ 
schichtsforscher“, Seite 17, Zeile 4 von unten soll statt „im 
12. Jahrhundert“ stehen „im 10. Jahrhundert.“ In demselben 
Artikel, Seite 18, Zeile 4 von oben soll nach dem Worte 
„aufgestellt“ der Satz eingeschaltet werden: „dass Nestor nie 
existierte“. 

W€ 


□ igitized by Google 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



157 


Wichtig fttr österreichische Politiker! 

ist das im Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig erschienene Werk 

Deutsch-österreichische Politik 

Studien über den Liberalismus und über die auswärtige Politik 
Österreichs von RICHARD CH ARM ATZ. 


Preis 8 Mark. 


Erhältlich durch alle Buchhandlungen. 


Lemberg, Rus- 
kagasse 


„Dnister“ 


Eigenes Haus. 


Die einzige ruthenische Versicherungsgesellschaft. 
- Gegründet 1892. -.— 

Versichert Gebäude, Mobilien, Getreide, Futter gegen Brandschaden, 
sehr mässige Prämien; verteilt den Reingewinn unter die Mitglieder als 
Rückzahlung; in den letzten drei Jahren betrug diese Rückzahlung 8%. 

Die Entschädigungen werden sehr prompt ausgezahlt. In den letzten zehn 
Jahren hat die Gesellschaft in 6064 Fällen im Ganzen 3,187.258 Kronen 

gezahlt. 

Bei Anleihen werden die Polizzen des »Dnister« von der Landesbank 
und von den Sparkassen akzeptiert. 

^ j vermittelt die Lebensversicherungen bei der 

Krakauer Lebensversicherungsgesellschaft und 

ülvIVI_tritt einen Teil der Provision für die ruthe- 

'•^*^******^* n i s c h e n Wohltätigkeitszwecke ab. 


Das einzige ruthenische Hotel 

Narodna Hostynnycia 

in Lemberg, Ecke der Sykstuska- und der Kosciuszko- 
gasse, Haltestelle der elektrischen Strassenbahn. Hotel, 
Restauration und Kaffeehaus, eingerichtet nach europä¬ 
ischen Muster. Elektr. Beleuchtung, elektr. Lift, Telephon 
und Bad. Besondere Schlafstellen für minderbemittelte 
Bauern. Die Gesellschaft nimmt neue Mitglieder und 
Einlagebüchel zur Prozentuierung auf. 


4 || 


Digitized fr, 


Google 


Original frorn 

INDIANA UNfVERSITY 












159 



Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 


















160 


All die Völker Europas! 

Das ukrainische Volk besitzt keine grossartigen Handels* 
xnagazine und blüht auch bei ihm keine Weltindustrie, 
aber es ist fähig Sachen zu erzengen, die infolge ihrer 
hübschen nnd geschmackvollen Ausführung und künst* 
lerischen Form die schönsten Fabrikate überragen. 


TTnlr 7 Ai«f 7 Aii(vnitJC!a beschlagen mit verschiedenfarbigen 
JXUiZ“i/<t5U.glilSSU Korallchen ln Dessins, wies 

Teller im Preise von 10—100 K 
Bahmen verschiedener Grösse von 10—120 K 
Spazierstöoke, axtförmig, von 10-100 K 
Lineale von 5 K aufwärts 

Federstiele von 1—20 K 
Papiermesser von 1*50—3 K 
Fässchen zu 30 und 40 K u. a. 

Korallchenerzeugnisse, rer 8 Chiedenf wi b ef’ de88iniert ’ 

Uhrketten für Herren von 2—5 K, für Damen zu 6 K 
Ottrtel von 10 bis 100 K 

Haar- and Halsbänder zu 2, 3 u. 5 K. 

TAnAmnnmiiacn (Majolika in verschiedenen Dessins, volks- 
± Ullt5I L t5 UglüSÜ)t? tömliche Motive): 

Blnmenvasen von 5—100 K 
Wandteller von 2—30 K 

Aschenbecher nnd Wasohbeoken zu verschiedenen Preisen. 

Stofferzeugnisse 

Gestiekte Hemden von 12—30 K 
,, Kravatten zu 4 und 5 K 

,, Handtttoher von 6 K aufwärts 
,, Tisohdeoken von 30 K aufwärts 

Hnznlensohttrzen von 6—20 K 
Hnzulisohe Teppiche von 30—50 K. 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pro Stück. 

Zu beschaffen durch die Firma 

„SokilskyJ Bazar“, 

Gesellschaft für Handel und Industrie in LEMBERG, 

Ruskagasse Nr. 20 (Galizien, Österreich). 


Digitized by 


Gck igle 



Original fram 

liNDIANA UNIVERSITY 


Ukrainische 

Rundschau. 

Rerausgcber und Redakteur: CU. Kuschnir. 

UI. Jahrgang. 190$. Dummer 4. 

(nacbdruck sämtlicher Artikel mit genauer Quellenangabe gestattet.) 


Der Stattbaltermord. 

Eine gewagte Arbeit unternehmen wir, indem wir ver¬ 
suchen, in dem engen Rahmen eines Artikels den Untergrund 
des unseligen Statthaltermordes zu schildern. Als Organ zur 
Informierung des Auslandes über die ruthenischen Angelegen¬ 
heiten haben wir bereits seit einer Reihe von Jahren unsere 
Aufmerksamkeit speziell den galizischen Zuständen zugewendet 
und die Bände unserer Zeitschrift stellen ein Schwarzbuch 
der ruthenischen Leiden dar, ausreichend genug, um sich 
eine Vorstellung von den Verhältnissen zu bilden, welche 
das Lemberger Attentat heraufbeschworen haben. 

Durch das unselige Attentat des ruthenischen Studenten 
Siczynskyj ist die ruthenische Frage wieder einmal aktuell 
geworden. Die europäische Presse erörtert den Fall in zahl¬ 
reichen Artikeln und sind die in denselben zum Ausdruck 
gebrachten Ansichten sehr geteilt. Wenn man jedoch 
speziell die Stellung der deutschen Presse charakterisieren 
wollte, so kann man fürs Allgemeine annehmen, dass im 
Gegensatz zu den verhältnismässig objektiven Äusserungen 
der reichsdeutschen Presse und der österreichischen Provinz¬ 
blätter die meisten Wiener Zeitungen eine Stellung einnahmen, 
welche ausser der schärfsten Verurteilung des Attentates 
selbst eine direkte Feindseligkeit gegen das ruthenische Volk 
als solches beinhaltet und zugleich mit der Verherrlichung 
des Statthalters auch für dessen Partei Partei ergreift. Der 
Statthalter Graf Andreas Potocki selbst wird geradezu als 
ein erklärter Ruthenenfreund hingestellt, dessen Bemühungen 
hauptsächlich der Herstellung eines nationalen Friedens 
zwischen den Polen und Ruthenen galten. Das galizische 
Regierungssystem wird zwar notgedrungen als derart hin¬ 
gestellt, dass es viel zu wünschen übrig lasse, gleichzeitig 
wird jedoch mit Anerkennung betont, dass dasselbe in stetiger 


□ igitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



162 


Besserung begriffen sei und speziell müsste es wundernehmen, 
wenn die Ruthenen, welche gerade unter der Regierung 
Potockis verschiedene Konzessionen erhalten hätten, unzu¬ 
frieden wären und wenn das Attentat Siczynskyjs vielleicht 
als Ausdruck dieser Unzufriedenheit aufgefasst würde. Ein 
übrigens als ernst geltendes Blatt berichtete sogar, die Tat 
des ruthenischen Fanatikers wäre vor zwanzig oder fünfzehn 
Jahren vielleicht verständlich gewesen, heute aber könne man 
nicht einmal eine psychologische Erklärung, geschweige denn 
eine Entschuldigung für die Tat finden. — Schliesslich wird 
billigerweise das Selbstverständliche zugegeben, dass nämlich 
für die Tat des Einzelnen doch nicht das ganze Volk ver¬ 
antwortlich gemacht werden könne, dass aber immerhin diese 
Tat den Ruthenen mehr Schaden zufügen als Nutzen bringen 
werde. 

Gewiss bedeutet die blosse Verneinung der Enunziationen 
der Wiener Blätter und die Behauptung, dass sich die Lage 
der Ruthenen in Galizien gerade in den letzten fünfzehn 
Jahren verschlechtert hat, noch lange kein Argument. Man 
verlangt nach Daten und Tatsachen und weist bei jeder 
passenden und nichtpassenden Gelegenheit darauf hin, dass die 
Ruthenen in das neue Parlament in verstärkter Anzahl (von 8 
auf 32) eingerückt sind..Man misstdie angebliche Besserung der 
Lage mit Berufung auf letzteren Umstand wahrscheinlich mit 
folgendem Masstab: 32 sind 8x4 — also hat sich demnach 
auch die Lage der Ruthenen ums vierfache gebessert. . . Was 
bedeuten aber die 32, respektive die 25 ruthenischen Abgeord¬ 
neten, wenn die Aktion zur Sonderstellung Galiziens, gegen 
welche die Ruthenen als Wiederherstellung Polens sich immer 
heftiger sträuben, immer erspriesslicher wird! Was bedeutet 
diese, übrigens im Verhältnis zur Bevölkerungsziffer himmel¬ 
schreiend ungerechte Vermehrung der ruthenischen Mandate, 
wenn die Wahlreform selbst voa dem jetzt noch immer 
doppelt starken Gegner der Ruthenen im Parlament nur um 
den Preis der Petrifizierung dieses ungerechten Zustandes 
und Erweiterung der Autonomie Galiziens erkauft wurde. Was 
sind die dreissig Abgeordneten, wenn gerade gleich nach 
ihrer Wahl und trotz der heftigsten Proteste der Bevölkerung 
solche eminent ruthenenfeindliche Gesetze des galizischen 
Landtages sanktioniert wurden, wie es das Landesschulrats¬ 
gesetz und das Gemeinden-Amtssprachegesetz sind? Was 
heissen die 30 Abgeordneten, wenn die Regierung aus Angst 
und Schrecken vor den Polen es nicht einmal für wert be¬ 
findet, dass sie ihnen gegenüber sich wenigstens zum Ein¬ 
halten solcher Versprechungen verpflichtet fühlt, die sie ihnen 
feierlichst mit Brief und Siegel gibt! Was will man mit der 
leeren Behauptung, dass eine Verzweiflungspolitik vielleicht 
vor zwanzig Jahren eine Berechtigung gehabt hätte, wenn die 
Ruthenen noch vor 40 Jahren in den galizischen Landtag 46 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



Abgeordnete entsendeten und zurzeit ihnen als Produkt der 
fortwährenden Verhandlungen mit der Regierung 21 Abgeord¬ 
nete überlassen wurden, darunter 9, die sich nicht einmal als 
Ruthenen bezeichnen — auf eine Anzahl von 145 Landtagsab¬ 
geordneten, wenn die Missbräuche ungewehrt und ungestraft 
weiter betrieben, wenn die schuldigen Organe der Verwaltung 
statt bestraft, ausgezeichnet oder höchstens versetzt werden, 
selbstverständlich mit gleichzeitiger Beförderung in eine 
höhere Rangsklasse! „Vor zwanzig Jahren hätte man vielleicht 
eine Verzweiflungspolitik verständlicher gefunden“ — sagen 
die Wiener Blätter. Aber man wolle sich erinnern, dass der 
fanatisierte Mörder des Grafen Potocki seine Tat als Entgelt 
für den Mord des Bauern Kahanetz durch die Gendarmen 
bezeichnete. Und gerade unter der Herrschaft des Grafen 
Potocki in Galizien wurden die meisten Morde von Sicher¬ 
heitsorganen verübt, wovon man auch in Galizien noch vor 
15 Jahren keine Ahnung hatte. Es ist eben erst seit 
10 Jahren in Galizien Usus geworden, bei den Wahlen die 
Bauern zu morden. Badeni war in dieser Hinsicht Debütant. 
Die sechs Leichen, darunter eine weibliche, in Ladske, die 
vier Opfer in Horutzko und der Mord in Koropetz entfallen 
jedoch unglücklicher — wenn auch nicht zufälligerweise in 
die Statthalterschaftsperiode Potockis. Und man spricht 
euphemistisch von der „Verbesserung der Lage der Ru¬ 
thenen“ . . . 

Die Morde an den armen ruthenischen Bauern haben 
keinen Widerhall in der Öffentlichkeit gefunden, obzwar sie 
von der ruthenischen Gesellschaft gerade so schmerzhaft 
empfunden wurden, wie jetzt der Statthaltermord in Lemberg 
von der polnischen oder vielleicht noch schmerzlicher, nach¬ 
dem man in demselben nur die Folgen eines ganzen ver¬ 
ruchten Systems sieht. Der Mord an dem Statthalter wird 
seine Sühne finden, aber die Verursacher der Bauernmorde, 
obzwar Organe der öffentlichen Sicherheit, gehen unbestraft 
und ungehindert in Freiheit herum. Man tut den erbitterten 
Einwohnern von Koropetz, woselbst der Bauer Kahanetz 
seinen Tod gefunden hat, nicht einmal die Gefälligkeit, die 
tapferen Gendarmen, seine Mörder, zu versetzen. 

Wir leben eben in einem Lande, das zwar einem kon¬ 
stitutionellen und geordneten Staate angehört, selbst aber 
ganz willkürlich verwaltet wird, in welchem konstitutionelle 
Rechte verpflichten, aber nicht eingehalten werden, wo das 
Staatsgrundgesetz über die Gleichheit der Völker theoretisch 
besteht, praktisch aber mit Füssen getreten wird, wo ein 
Volk über das andere wie ein Herrenvolk über Parias herrscht, 
es in kultureller, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht 
ausbeutet, in einem Lande, wo das Verhältnis des einen 
Volkes zu dem anderen sowohl im öffentlichen, wie auch im 
Privatleben nichts anderes bedeutet als eine fortlaufende 

l 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



164 


Kette von Schikanen, Zurücksetzungen und Sticheleien, wo 
wir Ruthenen von unseren unmittelbaren Nachbarn und Herren 
im Lande wie auch von den mittelbaren in Wien nur für 
Bürger letzter Klasse gehalten werden — wir die Tiroler des 
Ostens von einst, heute ein Volk, welches aus seiner Mitte 
politische Mörder hervorbringt! 

Was für eine Evolution haben, wir durchgemacht! Wir 
kamen an Österreich arm und unaufgeklärt nach jahrhunderte¬ 
langer polnischer Knechtung. Oie österreichische Regierung 
zeigte damals sogar Lust, uns zu helfen aus unserer Not. 
Diese Lust herrschte noch vor gleich nach unserem Anschluss 
an Österreich und dann noch kurze Zeit nach 1848. Wir er¬ 
wachten zu neuem Leben und zurückgreifend in unsere Ge¬ 
schichte sahen wir, dass wir nicht immer so arm und unauf¬ 
geklärt gewesen sind, es kam uns in Erinnerung, dass wir 
ehemals ja doch eigentlich Herren auf galizischem Grund 
und Boden wären, dass zwei Drittel des Landes, welchem wir 
den Namen gaben und welches nun allmählich als ein Neu- 
Polen sondergestellt wird, einst eine Domäne ruthenischer 
Fürsten und Könige waren, dass die Hauptstadt dieses Landes 
ihren Ursprung einem ruthenischen Herrscher verdankt, dass 
unsere Sprache keineswegs eine Bauernsprache ist, sondern 
an den Höfen ruthenischer und litauischer Fürsten und sogar 
unserer späteren polnischen Unterdrücker gang und gebe war, 
dass wir Ruthenen ein altes Kulturvolk sind, dessen Kultur um 
einige Jahrhunderte älter als die polnische ist und dass wir uns 
nur infolge der ungünstigen Lage, durch Tartarenüberfälle, pol¬ 
nische und russische Unterjochung nicht weiterentwickeln 
konnten. Wir waren eine Düngstätte für die geistige Kultur 
der Polen und Russen und erfuhren erst aus den Werken 
fremder Schriftsteller früherer Jahrhunderte, dass die Ruthenen 
das kulturälteste Volk in Osteuropa waren und ganz stolz 
waren wir darauf, dass die Ukraine, jenes Land, welches die 
kriegerischen Tartaren zu seinen ständigen Gästen zählte, fast 
in jeder Ortschaft eine Schule hatte, ja, dass es ukrainische 
Provinzen gab, wo im XVI11. Jahrhunderte mehr Schulen als 
Ortschaften bestanden*), dass das Zentrum dieses Landes, 
Kijew, eine Hochschule in sich barg — und wir schämten uns 
unseres Elendes und begannen eine fieberhafte Arbeit, welche 
das Versäumte und Gehemmte wiedereinbringen sollte und 
konnten mit Freude und Stolz wunderbare Resultate ver¬ 
zeichnen — zunächst auf kulturellem Gebiete, ln dem alten 
absolutistischen Österreich brachten wir es zuwege, aus frei¬ 
willigen Beiträgen des Volkes selbst mehr Schulen zu er¬ 
halten, als unsere ehemaligen Herren, die Polen. Aber wiede¬ 
rum sollten diese die Herrschaft über uns gewinnen; das 
ruthenische Volk, welches in Russland verfolgt, in Österreich 


*) Vergl. Ukr. Rundschau Nr. 3. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



das Paradies für seine nationale und kulturelle Entwicklung 
sah, wurde vom Zentrum seinem uralten Feinde auf Gnade 
und Ungnade ausgeliefert, gerade zu der Zeit, als für die 
anderen Völker die Sonne der bürgerlichen Freiheit aufging. 
Die anderen Völker erhielten die konstitutionelle Verfassung 
und den Ruthenen bescherte der damalige österreichische 
Premier die Zurückversetzung unter die polnische Sklaverei. 
Beust verlautbarte den Grundsatz: „Es wird dem galizischen 
Landtage anheimgestellt, inwiefern die Ruthenen zu bestehen 
haben* — und von dieser Zeit an beginnt für uns die neueste 
Periode der polnischen Sklaverei. Der mächtigere Pole, welchem 
Österreich die Macht über uns in die Hände spielte, heimste 
für sich alle Wohltaten der konstitutionellen Verfassung ein 
und behandelte uns als Untertanen des polnischen Reiches. 
Wir waren zu stark, als dass er uns hätte verschlingen 
können, zu stark, als dass unsere neuesten Errungenschaften 
vernichtet werden konnten, aber dieses unser Bewusstsein, 
unser Streben und Drängen stiess überall auf die eisernen 
Gebote des historischen Polen. Es kam zum Ringen, aus 
welchem wir, obwohl immer mehr und mehr unserer Rechte 
beraubt, geistig gestärkt hervorgingen. Und in diesem Ringen 
wandten wir uns an die österreichische Regierung und baten 
um Hilfe. Und diese Regierung, für welche die Söhne unseres 
Volkes bei Solferino, Magenta, Kustozza und Königgrätz ihr Blut 
vergossen hatten, welche sich in Wien den Namen der Tiroler 
des Ostens holten, welchen die Mutter des Kaisers eine 
eigenhändig gestickte Fahne als Lohn „für Treue“ reichte — 
sie Hess uns im Stiche und folgte dem guten Beispiel Beust’s, 
dem galizischen Landtag unser Wohl und Wehe anheim¬ 
stellend — und so handeln alle österreichischen Regierungen bis 
zum heutigen Tage. Und als wir nach dem guten Glauben 
des ruthenischen Bauern, der vielleicht nicht mit Unrecht be¬ 
hauptet, der Kaiser sei ja gut, aber die polnischen Herren 
lassen ihn nicht zu uns zu, in die Hofburg gingen, da fanden 
wir die Tore verschlossen. Und als wir an die Vertreter der 
österreichischen Völker im griechischen Prachtbau am Franzens¬ 
ring appellierten, da waren die Ohren der in kleinlichem 
Parteihader versumpften Volksvertreter taub und ihr sonst so 
beredter Mund stumm. Sie versicherten uns ihrer Sympathie, 
aber wir sollten uns eben gedulden. Und als wir in Erinne¬ 
rung daran, dass noch im XVII. Jahrhundert eine ukrainische 
Hochschule bestanden hatte und dass die Universität in 
Lemberg für uns gegründet wurde, um Errichtung einer ruthe¬ 
nischen Universität baten, da erhielten wir von dem „Freunde“ 
der Ruthenen, dem verstorbenen Unterrichtsminister zur Ant¬ 
wort, dass die Ruthenen ihr Ross verkehrt in den Wagen 
spannen wollen . . . 

Wir geduldeten uns also und sehnten das damals für 
uns höchste politische Ideal herbei, die Einführung des allge- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 166 - 

meinen und gleichen Wahlrechtes. Dieses Wahlrecht kam und 
war ein neuer Betrug an der ruthenischen Nation. Wir durften 
auf mehr als 115.000 Einwohner einen Abgeordneten ins 
Parlament entsenden, während unseren Feinden schon bei 
45.000 Einwohnern ein Vertreter zugesprochen wurde. Aber 
dieser Feind, der auf unser Verderben lauert, stampfte noch 
im Schosse unseres Volkes eine neue Nationalität aus dem 
Boden und schanzte derselben einen Teil unserer Errungen¬ 
schaften zu. Aus Angst, dass die Wahlreform für die Zukunft 
etwa ein Mittel zul Erringung der Gleichberechtigung durch 
die Ruthenen sein könnte, verstand es unser Gegner, den 
äusserst ungerechten Zustand zu petrifizieren. Während das 
Werk der Wahlreform oft wegen eines Mandates zu scheitern 
drohte, wurden die Ruthenen um zwanzig verkürzt, ohne dass 
sich das öffentliche Gewissen deswegen beunruhigt gefühlt 
hätte. Die Petrifizierung der Wahlordnung in Galizien, das 
sonderbare Proportionalwahlrecht, das Doppelmandate- und 
Stellvertretersystem, das sind Schandflecke der österreichischen 
Wahlreform, die sich Österreich den Polen zuliebe gefallen 
liess, deren Folgen aber noch nicht sobald ihre Wirkung 
einbüssen werden. Das Volk schickte seine Vertreter voll 
Zuversicht ins Parlament, aber bald sollte es enttäuscht werden. 
Diese Vertreter kamen voll Zuversicht nach Wien, aber es 
hat sich nur zu bald gezeigt, dass die Machtsphäre der 
Wiener Regierung an der Grenze Galiziens, aufhört, dass 
dort in Galizien sich eine andere, ebenbürtige Regierung 
etabliert hat. Die beiden Mächte stiessen aneinander, aber 
bald kam man hier in Wien zu der Ansicht, dass es sich 
nicht auszahle, wegen „irgend eines Bauernvolkes“ sichs 
mit der edlen Nation zu verderben. Und wir sind Zeugen 
der sonderbaren Erscheinung, dass sich trotz der verhältnis¬ 
mässigen Vergrösserung der ruthenischen Repräsentanz im 
Parlament die Sonderstellungsaktion mit so raschen Schritten 
vorwärtsbewegt, wie nie zuvor. Wir haben bereits erwähnt, 
dass gerade nach den durchgeführten Reichsratswahlen zwei 
arg ruthenenfeindliche Gesetze des Lemberger Landtages 
sanktioniert wurden. Nun sehen wir, dass in der allerletzten 
Zeit schon die Sonderstellungsaktion von Wien aus bereit¬ 
willigst unterstützt und gefördert wird. Die Machtsphäre der 
polnischen Sprache beginnt sich auf die k. u. k. Gendarmerie 
in Galizien zu erstrecken und uns wird bange bei dem Ge¬ 
danken, dass dieser Teil der österreichischen Armee dem 
Einflüsse der neutralen, nichtpolnischen Oberen gänzlich ent¬ 
rückt wird und sich derselbe ganz in den Dienst der polni¬ 
schen Sache wird stellen müssen. Die Domänenverwaltung 
in Galizien wird der galiziSchen Statthalterei unterstellt und 
dies macht die Erfolge polnischer Kandidaten bei den 
Wahlen sicher. In dem neugeschaffenen Arbeitsministerium 
wird eine besondere Verwaltung für die Kanalbauten für 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



167 


Galizien geschaffen, von welcher selbstverständlich die Ru- 
thenen ganz ausgeschlossen sind. Haben sie ja doch auch 
in anderen Ministerien keinen einzigen höheren Beamten. 
Zum Vizepräsidenten des galizischen Landesschulrates (Prä¬ 
sident ist der Statthalter selbst) wurde gerade derjenige 
Mensch ernannt, gegen welchen die Ruthenen immer pro¬ 
testiert haben. Mittelschulen werden überhaupt nur polnische 
errichtet und wenn alle zehn Jahre einmal eine ruthenische 
bewilligt wird, so erstehen dafür zehn polnische. Das 
heisst „Besserung der Lage der Ruthenen . . .“ Dank den 
Bemühungen der ruthenisehen Abgeordneten war es ge¬ 
lungen, dem verstorbenen Statthalter ein Rundschreiben an 
die Verwaltungsbehörden gegen den Missbrauch der Amts¬ 
gewalt abzuringen, aber der Schwindel wurde in noch höherem 
Masse als zuvor getrieben. Dagegen erwies sich die Zentral¬ 
regierung als zu schwach. Hatte sich doch übrigens Graf 
Potocki gegenüber den ruthenischen Abgeordneten selbst ge¬ 
prahlt, dass er Aufträge von Wien nicht anerkenne. Wie sehr 
das Vertrauen in die legale parlamentarische Arbeit unter 
den Ruthenen gesunken ist, möge die Mandatsniederlegung 
durch den Abgeordneten Dr. Ochrymowytsch bezeugen, wel¬ 
cher in einem Schreiben an seine Wähler erklärt, seine bis¬ 
herige Tätigkeit im österreichischen Parlament habe ihm die 
Überzeugung beigebracht, dass die Ruthenen auf dem parla¬ 
mentarischen Wege nicht imstande sein werden, irgend was 
zu erreichen. Er habe während seiner Amtstätigkeit seine 
ganzen Kräfte dem einen Ziele, der Beseitigung der Amts¬ 
missbräuche in seinem Wahlbezirke gewidmet, doch der Er¬ 
folg war, dass die Beamtenwillkür noch grösser wurde. Er 
habe feststellen können, dass gerade die Missbräuche, gegen 
welche er, sei es persönlich bei den entsprechenden Faktoren, 
sei es mittelst Interpellationen, protestiert hat, sich gleichsam 
zum Hohne wie mit Naturnotwendigkeit wiederholten. Im Be¬ 
wusstsein seiner Ohnmacht als Reichsratsabgeordneter gegen¬ 
über der Allmacht eines galizischen Verwaltungsbeamten lege 
er seine Würde nieder. Eine deutliche Sprache! 

Nun merke man sich, wie in Anbetracht solcher Um¬ 
stände der Gedankengang eines Durchschnittsruthenen be¬ 
schaffen ist. Wir leben in einem Nationalitätenstaat, welcher 
die konstitutionelle Verfassung besitzt. Man prägt uns seit 
der Kindheit ein, was für Wohltaten uns daraus fliessen, man 
überzeugt uns schon von der Schule angefangen, dass wir in 
einem geordneten Staate leben; wir selbst aber, denen man 
soviel von der Gerechtigkeit und Gleichberechtigung spricht, 
die wir das politische und nationale Leben in den anderen 
Ländern beobachten, wo die Gesetze geachtet werden, wo 
die geringste Abweichung von dem gesetzlichen Wege oder 
die geringste Verkürzung der bürgerlichen oder nationalen 
Rechte, wie etwa ein tschechisches Schriftstück an eine 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



168 


deutsche Behörde gerichtet, zu den grössten Konflikten 
führt — wir haben ein nationales Tantalusleben hinter 
uns. Aufgezogen in dem uns eingeprägten Bewusstsein un¬ 
serer Gleichberechtigung und unserer Rechte, die uns in den 
göttlichen und menschlichen Gesetzen verbürgt sind, und 
indem wir sehen, dass das Gute so nahe liegt und wir 
dasselbe trotz jahrzehntelangem Haschen doch nicht er¬ 
reichen können, vielmehr immer und überall zurückgedrängt 
werden, können wir nur schwer über unsere Gefühle 
Herr bleiben. Daher die Verzweiflung einerseits und Zähig¬ 
keit andererseits. Das langjährige Joch der Sklaverei hat uns 
nicht unterzukriegen vermocht. Das Ruthenentum steht zur 
Zeit moralisch höher als je und ist fest entschlossen, mit 
dem Aufgebote aller Kräfte seine Rechte wiederzugewinnen. 
Zur Erlangung unserer Ziele gingen wir immer auf legalen 
Wegen und sind nicht gesonnen, dieselben zu verlassen. Wir 
reichten Gesuche ein, schickten Petitionen, entsandten Depu¬ 
tationen, veranstalteten Volksversammlungen, und als dies 
alles nichts half, griffen unsere Abgeordneten im galizischen 
Landtag und unsere Studenten an der Universität zu dem 
weitestgehenden legalen Mittel, zur Sezession. Und als auch 
das nicht fruchtete, da reifte in manchem jungen, feurigen Kopf 
der gewagte Gedanke, mit illegalen Mitteln zu kämpfen. Doch 
schien der Barrikadenbau an der Universität nur ein harm¬ 
loser Streich zu sein. Dem folgte die Demolierung der Uni¬ 
versität in Lemberg, mit deren Nachspiel, dem Hungerstreik, 
während dessen die Gemüter der jungen Demonstranten ab¬ 
gehärtet wurden und Entschlossenheit in junge Herzen einzog. 
Und nun fielen Revolverschüsse. 

Wo ist die Garantie, dass sich die jetzigen Verhältnisse 
ändern und solche eintreten, die einen zweiten Siczynskyj un¬ 
möglich machen? Den Schlüssel zur Beantwortung dieser 
Frage gibt uns der Schlussatz eines Artikels aus einem 
Wiener Blatt: „Die Revolverschüsse in der Lemberger Statt¬ 
halterei machen uns auf den Abgrund aufmerksam, dem wir 
entgegentreiben, wenn nicht allseits ernsthaft der Friede 
gesucht und gewollt wird. Würde man sich bemühen, die 
einzig richtigen und nächstliegenden Lehren aus der Lem¬ 
berger Untat zu ziehen, dann hätte wahrlich dieser unreife 
Verbrecher sich für unsere Monarchie als einen Teil der 
Kraft erwiesen, „die stets das Böse will und doch das Gute 
schafft!“ W. K. 



Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 


« 



169 


Die tage der Rwtbmn in Galizien 

Die Ruthenen kamen an Österreich nach der Teilung 
Polens als ein von der polnischen Schlachta in Leibeigen¬ 
schaft gehaltenes, unaufgeklärtes Volk, welches seine alte 
Kultur durch den Übertritt des ruthenischen Adels im Laufe 
der polnischen Herrschaft ins polnische Lager eingebtisst 
hatte. Bis zum Jahre 1848 konnten die Ruthenen keine poli¬ 
tische Macht entfalten, aber nach dem teilweisen Zusammen¬ 
bruch des Absolutismus bot sich auch ihnen die Möglich¬ 
keit dazu. Die Ruthenen genossen bis 1867 beinahe die¬ 
selben Rechte, wie die Polen. Nach der Schlacht bei König- 
grätz, als die österreichische Regierung dringend Freunde 
brauchte und dieselben in der polnischen Schlachta fand, 
welche, gewitzigt durch die misslungenen Aufstände der Re¬ 
gierung ihre Dienste anbot, wendet sich das Blatt und es 
beginnt die Periode der masslosen Bevorzugung der Polen, 
welche bis auf den heutigen Tag mit nie schwankender 
Konsequenz fortgesetzt wird. Im Jahre 1867 sagte der da¬ 
malige österreichische Ministerpräsident die Verdammungs¬ 
formel über die Ruthenen: „Es wird dem galizischen Land¬ 
tage anheimgestellt, inwieferne die Ruthenen zu bestehen haben“ 
— und tatsächlich ist der galizische Landtag, welcher 
übrigens von den Polen als „das einzige polnische Parlament 
auf dem Territorium der polnischen Republik“ bezeichnet 
wird, die höchste Instanz für die Vergewaltigung des ruthe¬ 
nischen Volkes geblieben. Die landesfürstliche politische 
Verwaltung Galiziens befindet sich zur Gänze in den Händen 
der Polen. Die leitenden Beamten der Statthalterei, sowie 
auch der 76 Bezirkshauptmannschaften, auch im ruthenischen 
Ostgalizien, sind durchwegs Polen. Die höchste autonome 
Verwaltungsbehörde Galiziens, das ist der vom galizischen 
Landtag gewählte Landesausschuss, besteht aus fünf Polen 
und einem Ruthenen, unter dem Vorsitz des vom Kaiser er¬ 
nannten Landmarschalls, selbstverständlich immer eines 
Polen. Die autonomen, aus einer Wahl hervorgehenden Be¬ 
zirksvertretungen bestehen aus 26 Mitgliedern, wovon im 
günstigsten Fall, auch in den rein ruthenischen Bezirken, 12 
Ruthenen sind, demzufolge auch das von der Bezirksvertretung 
zur ständigen Amtierung gewählte Organ, der Bezirksausschuss 
in der Regel auf 6 Polen einen Ruthenen zählt. Natürlich ist 
auch die Autonomie der Gemeinden unter solchen Umständen 
ein Hohn, denn die Gemeindevorstände sind Kreaturen des 
Bezirkshauptmannes und des Bezirksausschusses. Man be¬ 
denke ferner, dass die höchste autonome Institution des 
Landes Galizien, der Landtag, in 7 / 8 aus Polen besteht 
und noch dazu viel grössere Kompetenz hat, als die Land¬ 
tage aller übrigen Kronländer. Ein klassisches Beispiel seiner 
Macht ist zum Beispiel das Gesetz vom 22. Juni 1876: Die 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



170 


Gründung von Mittelschulen in ganz Österreich gehört zur 
Kompetenz der Zentralregierung, natürlich auch die Gründung 
von galizischen Mittelschulen. Aber der galizische Landtag, 
welcher in seiner Mehrheit die Ansicht vertritt, dass die Ru- 
thenen keine Schulen brauchen — dieser Ansicht hat auch 
der Statthalterkandidat Bobrzynski öffentlich Ausdruck ge¬ 
geben — hat sich ausbedungen, dass die Errichtung einer 
ruthenischen Mittelschule nur auf Grund der Zustim¬ 
mung des galizischen Landtages erfolgen kann. 
So kam es, dass die Polen über 50 Mittelschulen be¬ 
sitzen, die Ruthenen dagegen nur 5, dazu darunter eine un¬ 
vollständig, ganz zu schweigen davon, dass der galizische 
Landtag eigentlich noch niemals seine Zustimmung zur 
Gründung einer solchen gegeben hat. Sehr interessant ist 
die Entstehungsgeschichte des zuletzt gegründeten ruthe¬ 
nischen Gymnasiums in Stanislau, dessen Gründung sich der 
Landtag mit grösster Entschiedenheit widersetzte, welche 
die Sezession der ruthenischen Abgeordneten aus dem Land¬ 
tag nach sich zog. Die betreffende Position war nämlich be¬ 
reits für dieses Gymnasium im Budget eingesetzt, auch hatte 
der Kaiser zur Zeit seines Aufenthaltes in Galizien den 
Ruthenen ausdrücklich dieses Gymnasium versprochen, aber 
die Polen setzten die Streichung der Position durch. Aller¬ 
dings hindert das den Herrn Abgeordneten German nicht, in 
der „Zeit“ vom 19. April zu erklären, dass sich der galizische 
Landtag nie gegen die Gründung ruthenischer Mittelschulen ge¬ 
wehrt habe ... Dieser Landtag, vor welchen alle Klagen der 
Ruthenen, gemäss der Überlieferung Beusts von der Zen¬ 
tralregierung gewiesen werden, beschliesst gerade in den 
letzten zehn Jahren eine Menge Gesetze, welche die Träume 
der Polen von der Sonderstellung Galiziens immer mehr der 
Wirklichkeit nähern, Gesetze, welche überdies die Schädigung 
und Vernichtung des ruthenischen Volkes auf wirtschaft¬ 
lichem und kulturellem Gebiete bezwecken. 

Befassen wir uns vorerst mit dem letzteren. Die Ruthenen 
haben eine alte Kultur, das hat auch weiland Kronprinz 
Rudolf während einer Galizienreise offenkundig anerkannt; 
die Kultur der Ruthenen ist jedenfalls älter als die polnische, 
nur durch die unausgesetzten Tartarenüberfälle in ihrer Ent¬ 
wicklung gehemmt. Doch den Zeugnissen fremder Reisenden 
zufolge gab es in der Ukraine im XVII. und XVIII. Jahrhundert 
mehr Schulen als heute unter der russischen Regierung. Jede 
Gemeinde sorgte damals selbst für ihre Schule. Das Land 
Galizien, welches eine grosse und schöne kulturelle Ver¬ 
gangenheit besitzt — wurde doch auch das erste Buch in Ga¬ 
lizien von einem Ruthenen und in ruthenischer Sprache ge¬ 
druckt — stand allerdings bei Anschluss an Österreich nach 
der Teilung Polens sehr tief, wenn auch allerdings um 
keinen Grad tiefer, als das heute kulturell höherstehende 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



171 


Westgalizien. Doch schon die Tatsache, dass der griechisch- 
katholische Gottesdienst der Ruthenen in der teilweise ver¬ 
ständlichen kirchenslawischen Sprache abgehalten wird und 
die Schriftzeichen gleich denen der ruthenischen Sprache 
waren, war mit ein Grund, dass im Volke der Drang zur 
Lese- und Schreibkunde rege wurde. Die Lockerung der 
Fesseln der polnischen Sklaverei nach dem Anschluss an 
Österreich brachte es mit sich, dass die Ruthenen vor dem 
Jahre 1867, in welchem Jahre das galizische Volksschulwesen 
dem galizischen Landesschulrate unterstellt wurde, in 
ihren Dörfern mehr Volksschulen besassen als die 
Polen, abgesehen davon, dass fast zwei Drittel Trivial¬ 
schulen, wie auch die Pfarrschulen in den Städten mit ge¬ 
mischter Bevölkerung ihnen gehörten. Auch besassen sie 
eine Lehrerpräparanda in Lemberg. Im Ganzen hatten die 
Ruthenen vor dem Jahre 1868 54*9% sämtlicher Volksschulen in 
Galizien, das ist 1360 auf 1055 polnische. Und heute? Wohl 
behaupten die Polen, und an ihrer Spitze die Herren Ger¬ 
man, Glombinski und Malachowski, dass die Ruthenen auch 
heute noch dank ihnen (!) mehr Volksschulen als sie selbst 
besitzen. Aber diese Behauptung ist eine bewusste Unwahr¬ 
heit. Bis zum Jahre 1904 erhielten die Polen 1028 Schulen, 
die Ruthenen dagegen nur 634 mehr und überdies wurde in 
den letzteren der polnische Sprachunterricht als obligatorisch 
eingeführt, ganz entgegen den Bestimmungen des § 19 der Staats¬ 
grundgesetze, so dass es im Jahre 1905 2228 polnische und 
2218 pseudoruthenische, in Wahrheit utraquistische Schulen 
gab. Und noch etwas! Nach Übernahme des Schulwesens 
durch den Landesschulrat wurden alle mehrklassigen rutheni¬ 
schen Schulen in polnische umgewandelt, nur damit 
die Ruthenen keinen Zutritt in die Mittelschule finden könnten, 
so dass heute auf 369 vier- und fünfklassige polnische Volks¬ 
schulen nur 12 ruthenische kommen, so dass sämtliche pol¬ 
nische Schulen im Jahre 1905 eine Gesamtklassenzahl von 
5440 erreichen, dagegen die ruthenisch-polnischen eine solche 
von nur 3200 Klassen. Nun möge man sich die Äusserung 
des gewesenen Vizepräsidenten, des galizischen Landes¬ 
schulrates und jetzigen Statthalterkandidaten Bobrzynski 
(welche Kandidatur, nebenbei bemerkt, eine höchste Provo¬ 
kation für die Ruthenen bedeutet) in Lemberg 1905 vor Augen 
halten: „Der Bauer bedarf keiner Schule, denn er hat nur 
die Pflicht, das Vieh zu hüten“. So steht schon gewiss die 
galizische Volksschule an und für sich, noch weniger aber 
die utraquistische galizische Volksschule auf der Höhe ihrer 
Aufgabe, dies um so weniger, als beinahe die Hälfte der 
Lehrkräfte keine Qualifikation besitzt; dies gilt vor allem von 
den Lehrerinnen, die nach absolvierter Bürgerschule sofort 
angestellt werden und sich in den meisten Fällen erst von den 
Kindern die Kenntnis der ruthenischen Sprache aneignen. Ihre 

2 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



172 


wichtigste Aufgabe besteht darin, den ruthenischen Kindern 
ein tadelloses Polnisch beizubringen; um dies möglich zu 
machen, lernen die Kinder gleich Papageien das Vorgesagte 
auswendig und leiern es, ohne den Sinn erfassen zu können, 
herunter. Es ist nur natürlich, dass bei einer solchen Me¬ 
thode der positive Unterricht ganz und gar ausseracht ge¬ 
lassen wird. Es ist das von Bobrzynski eingeführte Ver¬ 
dummungssystem. Der Bauer bleibt so unaufgeklärt wie er 
es war, und die Liebe zum polnischen Vaterland wird ihm 
schon mittels polnischer patriotischer Lieder etc. beigebracht! 
Auch wenn er kein Pole sein will! 

Wie die Fürsorge für die ruthenische Schule aussieht, 
kann auch daraus erhellen, dass, während im Jahre 1905 für 
polnische Bücher 66.495 Kronen votiert wurden, man für die 
ruthenischen nur 25.000 Kronen bestimmte. Nun möge man 
aber auch darauf Bedacht haben, dass es nur sehr wenige 
ruthenische Lehrer gibt, und zwar sind an den ruthenischen 
Schulen selbst mehr Polen als Ruthenen, ganz einfach darum, 
weil zurzeit keine einzige ruthenische Lehrerbildungsanstalt 
besteht, und in die bestehenden utraquistischen die Ruthenen 
nur bis zu einem numerus clausus aufgenommen werden.*) 
Rein ruthenische Anstalten gibt es, wie gesagt, überhaupt 
nicht. Lehrern, welche gegen das Maxime Bobrzynskis handeln, 
werden die verschiedenartigsten Schikanen bereitet; so be¬ 
richten ruthenische Zeitungen von Volksschulinspektoren (es 
gibt solcher nur 4 ruthenische auf 70 polnische), welche den 
Lehrern mit Disziplinaruntersuchungen drohten, falls sich die¬ 
selben nicht zu Wahlmännern wählen lassen und für den 
polnischen Kandidaten stimmen würden (zum Beispiel Freuden¬ 
berg in JaworiW). Nichtgefügige werden nach Westgalizien 
versetzt. Die Zurückversetzung der verbannten ruthenischen 
Lehrer nach Ostgalizien bildet ja auch eine der Forderungen 
des Ruthenenklubs. Von den Schikanen der ruthenischen 
Schulkinder seitens polnischer Lehrer, vom Zwang ruthe- 
nischer Schulkinder zum Polnischsprechen, auch 
sogar mit Hilfe von Prügeln und Karzerstrafen, ebenso, wie 
ruthenische Schulkinder wegen eines ruthenischen „Hier“- 
rufes geprügelt werden, ferner weil einer dem Befehl, das 
Porträt Mieckiewicz zu küssen, nicht Folge leisten wollte, ein 
anderesmal, weil ein Schüler ruthenischen Unterricht ver¬ 
langte usw., haben wir oft und oft berichtet und bilden die 
ruthenischen Interpellationen einen reichen Informationsquell. 

Dass dies alles im Aufträge der leitenden polnischen 
Kreise geschieht, ist selbstverständlich. Es besteht zu diesem 
Zwecke ein polnischer Ostmarkenverein, dessen Programm 
einer seiner Organisatoren, Finanzkommissär Biegon mit den 
Worten charakterisierte: „Der Kampf gegen die Ruthenen 


*) Darüber näheres «Ukrainische Rundschau“, Nr. 3. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



173 


auf Leben und Töd ist unser Ziel“. Davon wollen wir schon 
gar nicht mehr eingehender sprechen, dass die Ruthenen 
an der Lemberger Universität heute schlechter situiert sind, 
als vor hundert Jahren, dass im Laufe der letzten 15 Jahre 
sie nur eine Lehrkanzel an der Universität erhielten, sonst 
aber der Status quo von den 60 er Jahren fortdauert, 
dass die Ruthenen keine einzige Fachschule, weder Handels- 
noch Gewerbe- oder Landwirtschaftsschulen besitzen, ja, 
dass der Landesausschuss seit einer Reihe von Jahren nicht 
einmal die kleinste Subvention für den Aufklärungsverein 
„Proswita“ zur Erhaltung eines landwirtschaftlichen Wander¬ 
lehrers gewährt usw. Dass das ganze Streben der polnischen 
Verwaltung darauf gerichtet ist, die Entwickelung der ruthe- 
nischen Kultur zu hemmen, geht schon daraus hervor, dass 
die Dotationen für kulturelle Zwecke der Ruthenen 8% der 
gesamten Ausgaben für diese Zwecke bilden. 8% gegen 92°/ 0 
für polnische kulturelle Zwecke — ein getreues Spiegel¬ 
bild der ruthenisch-polnischen Verhältnisse! Selbst für die 
höchste Pflegestätte der ruthenischen Wissenschaft, die 
Schewtschenkogesellschaft der Wissenschaften in Lemberg, 
wird nur eine Subvention von 17.000 K gegen 120.000 K für 
die polnische Akademie der Wissenschaften in Krakau be¬ 
willigt. Für Wohltätigkeitszwecke erhielten die Ruthenen 
1200 K, die Polen 60.320 K, polnische landwirtschaftliche 
Vereine 40.000 K aus dem Landesfonds, ruthenische 1000 K, 
dagegen muss sichs die ruthenische Bevölkerung gefallen 
lassen, dass auch für ihr Geld das polnische Königsschloss 
in Krakau renoviert wird — eine Provokation der ruthenischen 
Nation sondergleichen! 

Gehen wir auf die wirtschaftliche Lage der Ruthenen 

über. 

Ja, die wirtschaftliche Lage der Bauern in 
Galizien! In seiner Rede in der letzten Budgetdebatte hat der 
Abgeordnete Budzynowskyj die Räuberpolitik der polnischen 
Schlachta, in welcher sie von der österreichischen Beamten¬ 
schaft unterstützt und gefördert wurde, an der Hand zahl¬ 
reicher Daten demonstriert. Die Haare stehen einem zu Berge, 
wenn man liest, auf welche Art und Weise die Bauern ihrer 
Wälder und Wiesen beraubt wurden, von den 32.000 verlorenen 
Prozessen derselben usw. 

Der ruthenische Bauer verarmt und das ist eben das 
Ziel der polnischen Politik. Ostgalizien muss 
um jeden Preis polonisiert werden und das gelingt am 
ehesten im Wege der Verarmung des Bauern; der ruthenische 
Bauer flüchtet nach Amerika und seinen Boden kauft der 
von Westen kommende Masure an. Dabei erschallt auch 
der Ruf, dass der ehemals den ruthenischen Ureinwohnern 
durch polnische Könige und Magnaten geraubte Boden nur 
an polnische Bauern verkauft werde. Dem verhelfen polnische 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



174 


Parzellierungsbanken zur Verwirklichung, das 
gleiche Ziel verfolgt das Rentengütergesetz, gleich¬ 
falls ein Geschenk des XX. Jahrhunderts für die Ruthenen, 
welches trotz Petitionen und Protesten der gesamten rutheni- 
schen Bevölkerung sanktioniert wurde. Der ruthenische Bauer 
soll entweder ganz auswandern, um dem polnischen Platz zu 
machen oder er soll an die Scholle des Gutsherrn gebunden 
sein. Deshalb wird der Auswanderung der Ruthenen als 
Saisonarbeiter nach Preussen mit grösster Rücksichtslosigkeit 
und Strenge entgegengearbeitet, es werden weder Fahrtbegün¬ 
stigungen gewährt, noch Arbeitsbücher ausgefolgt, oder es 
werden die Auswanderer einfach von den Gendarmen unter¬ 
wegs zurückgehalten und heimgeschickt, so dass die Aus¬ 
wanderer häufig zu Listen ihre Zuflucht nehmen müssen; 
auch wurde zur Zeit der Statthalterschaft Potockis ein Gesetz 
über Landes - Arbeitsvermittlungsbureaus durch¬ 
geführt, dessen Zweck es war, die Leitung der Auswanderung 
aus dem Lande zu übernehmen, um die der polnischen Ar¬ 
beiter zu fördern, die der ruthenischen aber zu verhindern 
oder doch zu hemmen. Um die Ziele der polnischen Schlachta 
zu verstehen, möge man sich vor Augen halten, dass die gali- 
zische Statthalterei unter gar keiner Bedingung einem Ruthenen 
die Konzession für ein Arbeitsvermittlungsbureau gewährt, 
nicht einmal die doch gewiss ernste Firma, der Aufklärungsverein 
„Proswita“ bekommt eine solche, obzwar sich derselbe schon 
seit dem Jahre 1900 vergeblich um eine solche bemüht. Der 
Statthalter Potocki aber, welcher als ein Ruthenenfreund 
geschildert wird, erklärte den ruthenischen Abgeordneten 
gegenüber, er würde den Ruthenen noch eher eine 
Universität als ein Arbeitsvermittlungsamt 
geben! 

Wie wird nun beispielsweise in Galizien mit dem Not¬ 
standskredit umgegangen. Darüber gibt uns die fol¬ 
gende Zuschrift eines ruthenischen Abgeordneten genügende 
Auskunft: 

Das Jahr 1907 war für die grösstenteils ackerbauende 
Bevölkerung Galiziens ein Unglücksjahr. Unter den unge¬ 
heueren Schneemassen verdorrten im Winter die Winter¬ 
saaten, insbesondere die Kornsaaten (in Ostgalizien beinahe 
gänzlich) und die Weizensaaten grösstenteils. Der Bevölkerung 
drohte nicht nur eine Hungersgefahr, sondern auch die weit 
grössere und folgenschwerere, dass in Ermanglung von Saat¬ 
gut in der Herbstzeit die Felder brach liegen würden und 
infolge Viehfuttermangel die Viehzucht niedergehen werde. 
Infolge dieser kritischen Lage des Kronlandes wurde ein er¬ 
höhter Notstandskredit für dasselbe pro 1907 im Betrage von 
2,500.000 K angewiesen. Dieser Kredit ermöglichte sicherlich 
eine weitgehende und segensreiche Notstandsaktion, wenn 
er nicht, leider, in die Hände der galizischen Verwaltungs- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



175 


behörden, der Statthalterei und der zwei wahrhaftigen Geissei 
des Landes, der Bezirkshauptmannschaften und der Bezirks¬ 
vertretungen gelangt wäre. Die Statthalterei wies aus diesen 
Notstandsgeldern einzelne Beträge an die Bezirkshauptmann¬ 
schaften an, mit der Aufforderung, diese Beträge im Ein¬ 
vernehmen mit den Bezirksvertretungen und deren Ausschüssen 
für die Inangriffnahme von öffentlichen Arbeiten zu verwenden, 
wobei die ärmste Bevölkerung einen verhältnismässig guten 
und leichten Erwerb finden könnte, sowie auch ihr Augen¬ 
merk auf die Herabsetzung der Preise von Saatgut und 
Vrehfutter, wo dieselben notwendig sein sollten, zu richten. 
Nun diese Unterstützungsbeträge waren für die Bezirkshaupt¬ 
mannschaften, insbesondere für die Bezirksvertretungen, die 
bekanntlich, wenn nicht ganz, so in der durchschlagenden 
Majorität von den Polen verwaltet werden, sehr erwünscht, 
zumal das Jahr 1907, wie vorgesehen, das Jahr der Reichs¬ 
ratswahlen und das Jahr 1908 das Jahr der Landtagswahlen 
war. Die Bezirksvertretungen beuteten die ihnen zur Ver¬ 
fügung gestellten Unterstützungsbeträge zu ihren politischen 
Parteizwecken aus, indem sie von dem angekauften Saatgut- 
und Viehfutter nur diejenigen Gemeinden Anteil nehmen 
Hessen, die für ihre, d. i. polnische Kandidaten eingetreten 
sind, dagegen andere, wenn auch noch so arme und von 
Elementarschäden heimgesuchte Gemeinden, wenn diese sich 
für ruthenische Kandidaten erklärt hatten, schnöde zurück¬ 
wiesen, mit dem Bemerken: — „Geht hin zu euerem Kandi¬ 
daten, er möge euch helfen“. So verfuhr die Bezirksvertretung 
von Peremyschl mit den Gemeinden Hurko, Drohojiw und 
vielen anderen, indem sie ihnen an angekauften Hafer¬ 
vorräten jedweden Anteil verweigerten und die Bittsteller an 
den ruthenischen Kandidaten Gregor Cegliriskyj verwiesen ... 

Ein abschreckendesBeispiel dieser sogar die grösste Volks¬ 
not ausbeutenden Politik der polnischen Verwaltung in Galizien 
liefern uns noch folgende Tatsachen: Der Reichsratsabge¬ 
ordnete Gregor Cegliriski veröffentlicht in der „Selariska Rada“ 
Peremyschl, Nr. 8, folgenden Bericht über die von ihm ein- 
gebrachten Dringlichkeitsanträge in Notstandsangelegenheiten: 
„Ich habe am 2. Juli 1907 einen Dringlichkeitsantrag in Not¬ 
standsangelegenheiten eingebracht, worin ich das Abgeord¬ 
netenhaus um Unterstützung für die durch heftige Hagel¬ 
schläge heimgesuchten Gemeinden des Bezirkes Peremyschl, 
Zorotowyczi, Drozdowyczi, Gdeszyczi, Nizynec, Borszewyczi, 
Byblo, Packowyczi, Fredropil, Kormanyczi ersucht habe. — 
Am 16. Juli 1907 brachte ich einen gleichlautenden Dringlich¬ 
keitsantrag in Notstandssachen betreffend die Gemeinden ein: 
Popowyczi, Bykiw, Pleszewyczi, Nowosilky, Tyszkowyczi, 
Chidnowyczi, ebenfalls Gemeinden des Bezirkes Peremyschl. 
Am 19. Juli 1907 habe ich einen gleichlautenden Antrag 
betreffend die Gemeinde Malniw (Bezirk Mostyska) einge- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



176 


bracht. Die Dringlichkeitsanträge wurden vom Abgeordneten¬ 
hause der Regierung zur Würdigung überwiesen. Die Re¬ 
gierung ordnete amtliche Erhebungen an, aber trotzdem, dass 
dieselben in der Tat einen ungewöhnlichen und erschrecken¬ 
den Notstand vorgefunden hatten, den durch Hagelschläge 
angerichteten Schaden auf 352.000 Kronen bezifferten, trotz¬ 
dem, dass in den genannten Gemeinden schon in der Herbst¬ 
zeit die grösste Not herrschte, und typhöse Krankheiten, zum 
Ausbruch kamen, wurde ihnen bis zum heutigen Tage nicht 
ein heller an Unterstützung zuteil. Als die Delegierten der 
betreffenden Gemeinden bei mir zu wiederholten Malen er¬ 
schienen und darüber laute Klagen führten, suchte ich dar¬ 
über Aufklärungen zu finden, zunächst in der Bezirkshaupt¬ 
mannschaft in Peremyschl, sodann in der galizischen Statt¬ 
halterei, schliesslich im k. k. Ministerium des Innern. Erst 
hier fand ich vor, dass zu diesem Zwecke laut den an das 
k. k. Ministerium des Innern eingelangten Statthaltereiberichten 
namhafte Summen angewiesen wurden, und zwar laut dem 
Statthaltereibericht vom 19. August 1907 — 18.000 Kronen, 
laut Statthaltereibericht vom 8. Sept. 1907 — 28.000 Kronen, 
späterhin für den Bezirk Mostyska, zu welchem die Gemeinde 
Malniw gehört, 8000 Kronen. Also die Anweisungen wären 
eruiert, die Geldbeträge ebenfalls, aber wo sind denn die den 
vom Hagelschlag beschädigten Gemeinden zu gewährenden 
Unterstützungen? Das Rätsel wurde gelöst, als ich in den 
genannten Statthaltereiberichten weiterlas, dass diese Unter¬ 
stützungen für den ganzen Bezirk (nicht nur für die be¬ 
schädigten Gemeinden) zuhanden der Bezirkshauptmannschaft 
angewiesen wurden. Die mit der Verteilung der Unterstützungen, 
wenn auch in Form von gemeinnützigen öffentlichen Arbeiten, 
betrauten Behörden, also die Bezirkshauptmannschaft und die 
Bezirksvertretung von Peremyschl hüteten sich wohlweislich 
den von mir in den Dringlichkeitsanträgen angeführten Ge¬ 
meinden irgendwelche Unterstützungen zu gewähren (in den 
diesbezüglichen Statthaltereierlässen werden die betreffenden 
Gemeinden ebenfalls mit keiner Silbe erwähnt), damit dadurch 
ihr Vertrauen zu mir nicht etwa noch gehoben werde.“ 

Schliesslich erschien der Reichsratsabgeordnete Gregor 
Cegliriski im Monate Februar noch einmal beim Statthalter, 
schilderte ihm die schreckliche Lage der vom Hagelschlage 
heimgesuchten Gemeinden, die wir oben genannt hatten. Der 
Statthalter gab dem Ansuchen des Abgeordneten nach, wies 
noch einmal die Summe von 20.000 Kronen an, ab er wiede¬ 
rum nicht für die genannten Gemeinden, sondern 
für den ganzen Bezirk. Das Endresultat war, 
dass von den genannten, sich in grösster 
Not befindenden Gemeinden wieder keine ein¬ 
zige irgendwelche Unterstützung erhielt. Der 
angewiesene Unterstützungsbetrag von 20.000 Kronen wurde 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



177 


zur Belohnung an jene Gemeinden und Gemeindemitglieder 
verteilt, die bei den Landtagswahlen* ihre Stimmen dem pol¬ 
nischen Kandidaten, Fürsten Sapieha, zugeführt hatten. Die 
Bezirksvertretung machte auch kein Hehl daraus, indem der 
mit der Verteilung der Unterstützungsgelder vertraute Bezirks¬ 
vertretungssekretär Kwiatkowski, den bei ihm er¬ 
schienenen und um Unterstützung ansuchenden Ortsvorständen 
offen erklärte: „Ihre Gemeinden haben nicht mit 
uns gestimmt, folglich haben sie auf Unter¬ 
stützung keinen Anspruch!“ Von dem beträchtlichen 
Notstandskredite im Betrage von 2% Millionen Kronen, gelang 
es nur, dem ruthenischen Bildungs- und Gewerbeverein 
„Proswita“, durch Intervention der Abgeordneten Dr. K. Le- 
witzkyj und Dr. E. Olesnitzkyj 12.000 Kronen zu erwirken, 
welche Summe zum Ankauf von Saatkorn für die arme Land¬ 
bevölkerung verwendet wurde. Fürwahr, ein Tropfen im Ver¬ 
gleiche zum riesigen Bedarf!“ 

Aber das System der wirtschaftlichen Ausbeutung des 
ruthenischen Ostgalizien ist noch viel weitverzweigter. Zum 
Beispiel die Verteilung der Unterstützungen für den 
Wasser- und Strassenbau für West- und Ostgalizien. 
Man möge dabei nicht vergessen, dass das polnische West¬ 
galizien 20.048 km 2 gross ist, das ruthenische Ostgalizien da¬ 
gegen 55 442 km 2 . Nun waren noch im Jahre 1875 die beiden 
Landesteile bei Strassenbauten gleich dotiert. Von da ab er¬ 
hält das mehr als zweimal kleinere Westgalizien immer mehr, 
oft doppelt soviel als Ostgalizien. Ostgalizien erhielt im Jahre 
1875 96.371 Kronen, Westgalizien hingegen 326.434 Kronen; 
im letzten Viertel des verflossenen Jahrhunderts erhielt das 
mehr als zweimal kleinere Westgalizien für beide Zwecke 
47,200.000 Kronen, Ostgalizien aber nur 38,300.000 Kronen; 
im Verhältnis zur Grösse der beiden Landesteile hat Ost¬ 
galizien für Westgalizien 21 Millionen Kronen an Steuern 
gezahlt.*) Auf diese Art spart der polnische Bauer sein Geld 
und kauft im Osten dafür Felder an. Und so hat Westgalizien 
schöne Strassen und geregelte Flüsse und ein in die Verhält¬ 
nisse Uneingeweihter, der das Land bereist, wundert sich 
über die Kultur des polnischen Westens und die Unkultur 
des ruthenischen Ostens! Kein Wunder, dass die ruthenische 
Bevölkerung in Wirklichkeit nicht nur äusserlich, durch die 
Fälschung der Statistik, zusammenschmilzt. Wenn noch 
Anfangs des 19. Jahrhunderts nachdem Zeugnis des polnischen 
Bischofs Kicki es in Ostgalizien nur 10% lateinischen Ritus 
(darunter selbstverständlich auch ein Teil Ruthenen), wenn 
es in den Fünfzigerjahren in ganz Galizien, Polen gab, und ge¬ 
genwärtig die Polen in Ostgalizien 1% Millionen zählen 


*) Budzynowskyj: Polonisierung Galiziens auf Staatskosten, 
Ruth. Revue, 1. Jahrg., S. 63. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 







— 178 - 

wollen, so greift hier allerdings eine ausserordentliche Über¬ 
treibung Platz, die sich eben auf die falsche Statistik stützt. 
In dieser Beziehung sind die Polen nicht wählerisch. Über 
600.000 Juden, gegen 200.000 römisch-katholische Ruthenen, 
eine Menge römisch-katholische Deutsche, aber auch grie¬ 
chisch-katholische Ruthenen, soweit sie von den Polen abhängig 
sind,werden als Polen bezeichnet und so das Märchen von der 
polnischen Mehrheit des Landes gebildet, während dieselbe 
in Wirklichkeit entschieden überwiegend ruthenisch ist. Dieser 
Umstand kann uns aber nicht im Unklaren über die Tatsache 
lassen, dass die Polonisierung mit allen Mitteln betrieben 
wird. Zu diesem Zwecke wird erstens das Volk über den 
Ozean befördert (gerade jetzt hat wieder eine rege, von den 
Polen geförderte Agitation zur Auswanderung nach Brasilien 
eingesetzt), ausserdem dient den Polonisierungszwecken vor 
allem die Schule und die Kirche. Wir machen darauf aufmerk¬ 
sam, dass in Galizien, wo nach fünf Jahrhunderten polnischer 
Herrschaft nur einige lateinische Kirchen in den Städten be¬ 
standen, heute in jedem Dorfe, wo einige Bauernfamilien 
lateinischen Ritus sind, sofort lateinische Kirchen und Kapellen 
gebaut werden und die Gläubigen zur Eidesablegung gedrängt 
werden, nicht anders als polnisch zu reden. Zu diesem Zwecke 
scheuen sich die lateinischen Geistlichen nicht, Christus und 
die Mutter Gottes als — Polen hinzustellen! Gewiss ein 
wirksames Agitationsmittel! Natürlich wimmelt es nun auch 
im Lande von den verschiedenartigen polnischen Kongrega¬ 
tionen, barmherzigen Schwestern, Felizianerinnen, Franzis- 
kanerinnen usw. usw., welche die Polonisierung auf grossem 
Fusse betreiben. Einen grossen Fortschritt für diese Be¬ 
mühungen bedeutete die in den Siebzigerjahren durchgesetzte 
Übergabe des ruthenischen Basilianerordens unter die Ober¬ 
aufsicht und Obhut der Jesuiten, von welcher sich aber 
der erstere binnen Kurzem zu emanzipieren verstand. 

Und nun denke man noch, dass zu dieser politischen, 
nationalen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Be¬ 
drückung (Verhinderung ruthenischer Prozessionen, wie in 
Kopyczynci, Zwang zum polnischen Gebet in der Schule, 
Verspotten der ruthenischen Konfession durch polnische 
Lehrer und Geistliche usw.) des ruthenischen Volkes der 
ganze Beamtenapparat in Galizien zu Verfügung steht. Es ist 
eben nicht wahr, wenn Herr German in seinem, allerdings 
in versöhnendem Geiste gehaltenen „Zeit“-Artikel behauptet, 
dass die Ruthenen an der Verwaltung des Landes Anteil 
haben. Kein Ruthene traut sich, zum Verwaltungsdienste zu 
gehen, weil er entweder gleich von Anfang bei einer Be¬ 
werbung zurückgewiesen wird, oder aber ein williges Werk¬ 
zeug der Unterdrückung seines Volkes sein muss. 76 Bezirks¬ 
hauptleute gibt es in Galizien, darunter keinen einzigen Ru¬ 
thenen. Was das heisst? Dass es in Anbetracht dessen freilich 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 





179 


wahr ist, dass, wenn heute die Regierung solche Posten mit Ru- 
thenen besetzen wollte, sie nicht einmal die entsprechenden 
Kräfte finden könnte. Denn zum Verwaltungsapparat und zur 
Universität, also zu den beiden höchsten Instanzen der Politik 
und Kultur werden die Ruthenen überhaupt nicht zugelassen. 

Selbstverständlich ist das Aussehen des ganzen Landes 
nach aussenhin vollständig polnisch. Wenn man durch Ost¬ 
galizien reist, gewinnt man den Eindruck einer eroberten 
Provinz. Die Bevölkerung ist durchwegs ruthenisch, die 
Amtssprache bei allen Behörden polnisch und werden die 
Ruthenen gezwungen, polnische Schriftstücke anzunehmen. 
Abgesehen von den unvermeidlichen Missverständnissen hatte 
diese Tatsache sogar schon mehrmals irrige Urteile 
zur Folge. Die Inschriften sind überall polnisch und sogar 
bei den sogenannten ruthenischen Volksschulen sind dieselben 
in den meisten Fällen polnisch. Alle Bücher und Kataloge 
werden nur polnisch geführt, auch sind in diesen angeblich 
ruthenischen Anstalten die Ankündigungen, Stundeneinteilun¬ 
gen usw. nur polnisch. Wie sehr es den Polen um die Be¬ 
wahrung wenigstens des Scheines ihrer Herrschaft zu tun 
ist, geht daraus hervor, dass seit Jahren Beschwerden und 
Interpellationen über die Nichtführung ruthenischer Fahr¬ 
karten erfolglos geblieben sind. Wir sehen, dass der Aus¬ 
rottungskrieg gegen die Ruthenen bis in die kleinlichsten 
Details reicht. 

So schaut im allgemeinen und in Zahlen ausgedrückt 
die Lage des ruthenischen Volkes in Galizien aus. Wie sich 
nun die Verhältnisse im täglichen Leben gestalten, die eben 
gerade am schmerzlichsten empfunden werden, geht über 
den Rahmen dieses Artikels hinaus. Davon ein anderesmaL 

— r. 



Digitized by 


Go^ 'gle 


3 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



ISO 


Beresteako. 

Vom Reidisratsabgeordneten Wiatscheslaw Budzynowskyj. 


In tiefem Kummer schluchzend klagte 
Frau Potocka: 

„Und hab ich Dir, Herr Potocki, nicht 
lange schon zugeredet?“ 

„Schon lange Zeit führst Du, Potocki, 
Kriege mit den Kosaken; 

„Du besiegst sie nicht, nur verlierst 
Du umsonst Deine Kräfte.“ 

(Aus einem ruthenischen Volkslied*). 

Aufrichtige Verwunderung musste sich eines jeden 
Ruthenen bemächtigen, der in den Wiener Blättern von dem 
verstorbenen Grafen Potocki als von einem Manne las, 
dessen ganze Tätigkeit der Wiederherstellung des Friedens 
zwischen den Ruthenen und Polen gewidmet war. Mag sein, 
dass der verstorbene Graf Potocki im persönlichen Verkehr 
ein liebenswürdiger Mensch gewesen ist, das stellen auch 
die Ruthenen, die ihn kannten, nicht in Abrede, als Statthalter 
aber, als Repräsentant der polnischen Allmacht über die 
Ruthenen, war Potocki ein Mann, der nicht nach den Mitteln 
fragte, durch welche das ruthenische Volk im Namen der 
überlieferten schlachzizischen Tradition vernichtet werden 
soll. Und gerade darin unterschied er sich zuerkannterweise 
günstig von seinen Vorgängern, dass er seine Ziele offen¬ 
kundig verfolgte und seine Pläne sowie sein Regierungs¬ 
programm gar nicht geheimhielt. Und sein Programm war: 
Beresteczko. 

Was dieses für fremde Ohren sonderbar klingende 
Programm bedeutet, will ich eben an dieser Stelle erklären. 
Wir müssen zu dem Zwecke in die Geschichte der ruthenisch- 
polnischen Verhältnisse in den vergangenen Jahrhunderten 
zurückgreifen. Bis zum Jahre 1569 war die ganze Ukraine, 
d. i. die von der ruthenischen Bevölkerung bewohnten Länder, 
mit Ausnahme eines Teiles des heutigen Galizien, welches 
schon seit dem XIV. Jahrhundert Polen angehörte, der Haupt¬ 
bestandteil des litauisch-ruthenischen Staates. In diesem 
Jahre erfolgte die Union dieses Staates mit Polen, angeblich 

*) Das Lied besingt den Kummer der Gräfin Potocka, Gattin des 
polnischen Feldherrn, während der polnisch-ruthenischen Kriege im 
17. Jahrhundert, Nikolaus Potocki, welcher unglücklich gegen die Ko¬ 
saken kämpfte und in einer Schlacht seinen Sohn Stefan verlor. (An¬ 
merkung des Verfassers.) 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 





181 


als gleichwertige Glieder eines Staatswesens, tatsächlich aber 
bedeutete dieser Schritt die Unterstellung der Ukraine und 
Litauens unter die polnische Herrschaft. Wie diese Herrschaft 
aussah, erkennen wir daraus, dass wir schon zweiundzwanzig 
Jahre darauf von einem ruthenischen Aufstand hören, der 
von dem militärisch organisierten Teile der ukrainischen 
Bevölkerung,, den Kosaken, erhoben wurde. Seit diesem 
ersten Kosakenaufstande begegnen wir einer Reihe solcher 
Erscheinungen, .wobei das Glück auf beiden Seiten wechselte. 
Erst Bohdan Chmelnytzkyj gelang es nach seinem Auftreten 
im Jahre 1648 der polnischen Herrschaft in der Ukraine ein 
Ende zu bereiten. Er vernichtete einige polnische Armeen, 
eine nach der anderen gänzlich. Polen selbst ging seinem 
Untergange entgegen. Da kam für. Polen eine unerwartete 
Hilfe. Es erhielt zur Verstärkung nämlich fast die ganze Armee 
Wallensteins, welche der Habsburger nach der Beendigung 
des dreissigjährigen Krieges nicht mehr brauchte und die 
ihm infolgedessen sogar lästig war. Gemeinsam mit dem 
minderwertigen polnischen Landstürme stiessen diese alten 
Krieger im Jahre 1652 mit der Armee Chmelnytzkyjs bei dem 
Städtchen Beresteczko zusammen. (Das wäre der erste Punkt 
des Programmes der Potockis: die Habsburgische Armee und 
die Polen gegen die Ruthenen.) Da aber diese Verbündeten 
unter Führung Potockis, eines Ahnen des verstorbenen Statt¬ 
halters, auf dem Marsche zum Kriegsschauplätze, alle Dörfer 
und Städte niederbrannten und das Volk schlachteten, so flüchtete 
sich, was eben entfliehen konnte, ins ruthenische Kriegslagen In 
demselben soll sich eine 60.000 köpfige Menge wehrloser 
Bauern, zumeist Greise, Weiber und Kinder befunden haben. Die 
ersten zwei Schlachttage waren für die Polen höchst ungün¬ 
stig, obwohl dieselben nur von den mit uns verbündeten 
Tartaren belästigt wurden und die rutheaische Armee noch 
nicht in Aktion getreten war. Als Chmelnytzkyj eben im 
Begriffe war, zu einem entscheidenden Schlage auszuholen, 
der für Polen ein Requiem bedeutet hätte, lief der mit den 
Polen insgeheim verbündete Tartarenchan aus dem Schlacht¬ 
felde ins polnische Lager über, den Kosakenführer Chmel¬ 
nytzkyj als Gefangenen mit sich führend. Trotz der furcht¬ 
baren Verwirrung und Panik, welche infolge des Verrates 
des Chans und des rätselhaften Verschwindens des Feld¬ 
herrn und seines Kanzlers Wyhowskyj im ruthenischen Lager 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



182 


entstanden war, legte die Generalität soviel Geistesgegenwart 
an den Tag, dass man imstande war, die Truppen aus dem 
Lager hinauszuführen und sie ausser Gefahr zu bringen. 
Nunmehr schickte man sich an, auch das wehrlose Volk aus 
dem Bereich der Gefahr zu schaffen. Das undisziplinierte 
Volk hatte aber durch Lärm und angstvolles Gedränge diesen 
ganzen Plan zunichte gemacht. Der Lärm machte die deutschen 
Soldaten auf die Vorgänge im ruthenischen Lager aufmerksam 
und nun nahmen die Verbündeten dasselbees befanden 
sich darinnen nur Wehrlose — im Sturme und schlachteten 
die wehrlosen Kinder, Weiber und Greise sowie die mit den 
Kreuzen und geweihten Kelchen bewaffneten Priester samt 
ihrem Patriarchen ab. 

Dass dieses unseligen Angedenkens Beresteczko das 
Programm der Potockis von einst und jetzt war, das hat 
auch der gewesene Statthalter Potocki, der auf so tragische 
Art zu Grabe ging, mit eigenem Munde offenkundig gestanden. 
Es war in der galizischen Stadt Butschatsch, als Graf Andreas 
Potocki vom Kaiser zum galizischen Landmarschall ernannt 
wurde und ihm zu Ehren von den Schlachzizen dieses Be¬ 
zirkes ein Bankett veranstaltet wurde. Es flössen Reden und 
Toaste wurden erhoben und als die Rede auf die Ruthenen 
kam, da erhob sich der Landmarschall Graf An¬ 
dreas Potocki und indem er auf die Taten seines 
Ahnen hinwies, der bei Beresteczko die polnischen Trup¬ 
pen befehligte und auch sonst immer Siege davontrug, 
sobald er gegen wehrlose Greise, Kinder und Weiber zu 
kämpfen hatte und immer besiegt wurde, wenn ihm be¬ 
waffnete Männer gegenüberstanden, munterte er die Anwesen¬ 
den auf, es den polnischen Mordbrennern vom XVII. Jahr¬ 
hundert gleichzutun. Und seine denkwürdige Programmrede 
schloss mit den Worten: „Den Ruthenen muss ein 
neues Beresteczko bereitet werden!“ 

So sprach ein vom Kaiser neu ernannter Landmarschall, 
welchem bald darauf die Ehre beschieden war, den Monarchen 
in Galizien zu vertreten, der aber trotzdem dennoch seinem 
Beresteczko-Programm treu geblieben ist. Seine Amtstätigkeit 
war nichts anderes als ein ununterbrochener Ausrottungs¬ 
krieg gegen die Ruthenen, ein Krieg, der mit den verwerf¬ 
lichsten Mitteln geführt wurde. Er kämpfte gegen uns so, 
wie sein ruhmreicher Ahne vom XVII. Jahrhundert gekämpft 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



183 


hat. Die Leichen der hingemordeten wehrlosen Bauern in 
Ladske und Koropetz bieten dafür ein genug beredtes Zeugnis. 

Mag sein, dass der verstorbene Graf Potocki als Privat¬ 
mensch ein Gentleman war. Als Statthalter war er dies jeden¬ 
falls nicht. Und ein grosses Unrecht fügen diejenigen Blätter 
den Ruthenen zu, welche ihn zu einem Ruthenenfreunde 
stempeln wollen. Für das ruthenische Volk war er der ärgste 
und rücksichtsloseste Feind. 


Graf Andrea* Potocki als Stattkalter. 

Graf Potocki ist dem Attentate eines ruthenischen Studenten 
zum Opfer gefallen, als Träger jenes ruthenenfeindlichen gali- 
zischen Systems, welches wir in den vorangehenden Artikeln an¬ 
nähernd zu beleuchten versucht haben. Da der Attentäter selbst 
erklärt hat, er habe nicht auf den Grafen Potocki, sondern auf 
den Statthalter von Galizien abgezielt, so würden wir uns mit 
der Schilderung des galizischen Regierungssystems zufriedenstellen, 
ohne uns mit der Person .des Verstorbenen selbst zu befassen. 
Indessen sehen wir uns dazu veranlasst durch die Stellung der 
gesamten europäischen Presse, welche, anscheinend infolge einer 
tendenziös in die Welt lanzierten Behauptung, den Statthalter 
Potocki als einen ausgesprochenen Ruthenen freund darstellt, 
welcher Umstand dem Ereignis in dem Lemberger Statthalterpalast 
nur noch einen umso tragischeren Zug beigibt. Ein Wiener Blatt 
schrieb daran anknüpfend, „es gehöre die ganze Überspanntheit 
eines mit dem Wesen und Betrieb ernster, politischer Ursachen 
und Wirkungen durchaus fernestehenden Menschen dazu, anzu- 
nehmen, die Ermordung des Statthalters von Galizien werde das 
ruthenische Volk auch nur um einen Schritt der Erfüllung poli¬ 
tischer und nationaler Wünsche näher bringen. Es wäre eine 
solche Annahme vielleicht dann noch denkbar ge¬ 
wesen, wenn der Ermordete die Ruthenen gehasst 
hätte, wenn er persönlich ein Hindernis für den Sieg gerechter 
politischer Forderungen gewesen wäre.* *) 

Nun, diese und andere Äusserungen der Wiener Blätter, 
welche einstimmig den ermordeten Statthalter als Friedensengel 
darstellen, wollen wir auf Grund der Tatsachen widerlegen. 

Schon die Ernennung des Grafen Andreas Potocki zum 
Statthalter erfolgte unter ganz besonderen Umständen. Der Statt¬ 
halterposten wurde vakant durch den Rücktritt des Grafen Pininski, 
Nach dem Auftauchen der Gerüchte über die bevorstehende Er¬ 
nennung des Grafen Potocki, welcher damals Landmarschall war, 
protestierten die Ruthenen gegen die Anmassung, auf den Posten 
des höchsten Beamten im Lande einen Menschen zu erheben, dessen 
Programm die Unterdrückung des ruthenischen Volkes war. Graf 

*) Vergl. Artikel: Die Presstimmen. 

Digitized by Go> gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




- 184 - 


Potecki hatte nämlich eine für die Ruthenen sehr traurige Ver¬ 
gangenheit hinter sich. Noch als Landtagsabgeordneter hatte er 
sich vielfach als Ruthenenfeind hervorgetan. Als er dann im Jahre 
1902 Landmarschall wurde, Hess er sich in einem, ihm zu Ehren 
veranstalteten Bankett in Butschatsch zur Entwickelung seines 
auf Vernichtung der Ruthenen hinzielenden politischen Programmes 
hinreissen. Unter Berufung auf die Taten eines seiner Ahnen, 
welcher mit den ukrainischen Kosaken Kriege führte, versprach 
er, die Ruthenen zu unterdrücken. („Den Ruthenen muss 
ein neues Beresteczko bereitet werden" . . . vergleiche den Artikel 
„Beresteczko“ vom Abgeordneten W. Budzynowskyj. D. R.) 
Ein Pendant zu dieser Rede bildete seine Eröffnungsrede im Land¬ 
tage, ebenfalls eine Kriegserklärung gegen die Ruthenen. 

Trotz den energischen Protesten der ruthenischen Be¬ 
völkerung, für welche die Ernennung eines deklarierten Feindes 
der Ruthenen eine arge Provokation bedeutete, und der Vor¬ 
stellungen des damaligen Ruthenenklubs im Reichsrat, welcher die 
Ernennung eines Beamten, keineswegs aber eines polnischen 
Parteimannes forderte, am liebsten aber einen General auf dem 
Statthalterposten sehen wollte, wurde die Ernennung Potockis 
im April 1903 perfekt. Die ihm verliehene Macht, noch grösser 
als die seiner Vorgänger, machte ihn zum unumschränkten Herrscher 
in Galizien und diese Macht liess ihn, unbeschadet der grossen 
Protestkundgebungen der Ruthenen, sein Programm rücksichtslos 
in die Wirklichkeit umwandeln. Wie allmächtig der Statthalter 
Potocki von Galizien und wie ohnmächtig ihm gegenüber die 
Zentralregierung war, bezeugen sowohl Äusserungen der Ver¬ 
treter der Zentralregierung, als auch Potockis selbst. Es war zur 
Zeit der bekannten Galizicnreise Korbers, als der Statthalter Potocki 
anlässlich einer Demonstration der Ruthenen gegen Korber, 
ein Massakre gegen die Demonstranten mittels Militär und Polizei 
arrangierte. Als an demselben Tage abends Abgeordneter Roman- 
czuk mit Körber darüber sprach, bemerkte der letztere: „Geduldet 
Euch nur, Ihr Ruthenen müsst Eure Rechte wiedergewinnen!“ 
Die Allmacht des Statthalters Potocki gegenüber der Zentral¬ 
regierung kam aber vor allem in den letzten Zeiten sehr deutlich 
zum Vorschein. Es handelte sich um die Errichtung der Ruthenischen 
Sparkassa, der ersten ruthenischen Bank mit Pupillarsicherheit, 
um welche sich die Ruthenen jahrelang beworben hatten. Die 
Sparkassa hätte laut Konzession seitens der Zentralregierung in 
Lemberg eröffnet werden sollen. Potocki bestimmte aber gegen 
den Willen der Ruthenen die Stadt Peremyschl als Sitz der Spar¬ 
kassa, wogegen wiederum die Zentralregierung Einwände erhob, 
nachdem in dieser kleinen Stadt schon so wie so zu viele Kassen 
waren. In dieser Angelegenheit begab sich der jetzige Reichsrats¬ 
abgeordnete Dr. K. Lewitzkyj zum Statthalter, doch erhielt er 
von diesem zur Antwort: „Was hat denn Wien mir zu be* 
fehlen!“ Es geschah so, wie es Potocki wünschte, nicht wie es 
die Regierung bestimmt hat. Noch greller trat die Allmacht 
Potockis gegenüber der Wiener Regierung in Angelegenheit der 


Digitized by 


Google 


Original from 

INDIANA UNIVER5I' 



185 


Kammerguter zu Tage. Diesbezügliche Briefe des Ackerbauministers 
Auersperg weigerte er sich überhaupt anzunehjnen. Graf 
Auersperg schrieb dann durch Vermittlung des Ministerpräsidenten 
Freiherrn von Beck. Aber auch diesem antwortete er weder auf 
Briefe noch auf telegraphische und telephonische Anfragen. Die 
Kammergüter hielt Potocki nämlich für seine ureigenste Domäne, 
wo er ohne Rücksicht auf die Regierung nach Belieben schalten 
und walten durfte. Das Personal der Kammergutsverwaltung stellte 
auch wiederum während der Wahlen die eifrigsten Wahlagitatoren 
für die polnischen Kandidaten. 

Zum Trotz gegen die Zentralregierung, welche dem Ruthenen- 
klub versprochen hatte, auf die Versendung eines Rundschreibens 
zur Beseitigung der Amtsmissbräuche beim Statthalter hinzuwirken, 
zögerte Potocki mit der Veröffentlichung desselben einige Wochen 
und veröffentlichte es dann nicht in dem Amtsblatt „Gazeta 
lwowska“ sondern in einem Beiblatt, um so auch dann noch 
gegen die Zentralregierung zu demonstrieren und so dem 
Rundschreiben den offiziellen Charakter zu benehmen. Tatsächlich 
wurde weiter wie zu den alten Zeiten geschwindelt. — Anläss¬ 
lich der Verhandlungen des Ruthenenklubs mit der Regierung 
äusserte sich Potocki ruthenischen Abgeordneten gegenüber, dass 
die Ruthenen nicht gut daran tun, wenn sie direkt mit der 
Zentralregierung in Verbindung treten. Als nun anlässlich einer 
Audienz der parlamentarischen Kommission des Ruthenenklubs 
bei Freiherrn von Beck, bei welcher auch Graf Potocki anwesend 
war, Abgeordneter Batschynskyj diese Äusserung des Statthalters 
in Erinnerung brachte, rief dies eine allgemeine Konsternation 
hervor. — Seine grösste Machtvollkommenheit zeigte er aber dem 
Ministerpräsidenten Gautsch gegenüber, dessen Sturz er auch 
verursachte. — Einmal allerdings musste Potocki vor der Zentral¬ 
regierung weichen. Anlass dazu gab die Verhaftung ruthe- 
nischer Studenten, welche, wie allgemein behauptet wurde, 
über ausdrücklichen Auftrag des Statthalters vollzogen wurde. Die 
Regierung konnte sich in dieser Weise denn doch nicht vor den 
Kopf stossen lassen und musste wohl oder übel die Freilassung 
der Verhafteten duschsetzen. Dagegen konnten die Versprechungen 
der Zentralregierung, eine Frucht der Verhandlungen des Ruthenen¬ 
klubs mit derselben nicht erfüllt werden, weil Potocki darunter 
sein Placet nicht setzen wollte. Wie weit sein Hass gegen die 
Ruthenen ging, erhellt daraus, dass er selbst solche Konzessionen 
der Zentralregierung an die Ruthenen, welche sogar der Polenklub 
akzeptierte, nicht anerkennen wollte. Unter normalen Umständen 
hätte die Regierung selbstverständlich den Statthalter nicht darum 
gefragt, aber in den galizischen Angelegenheiten war eben Potocki 
eine höhere Instanz. 

Wie sehr Potocki die Ruthenen hasste, wie sehr er immer 
bestrebt war, der nationalen Entwickelung der Ruthenen Steine 
unter die Füsse'werfen, mögen nur die wenigen angeführten Bei¬ 
spiele bezeugen: 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



186 


Die Ruthenen organisieren seit einigen Jahren die Erwerbs¬ 
auswanderung von ruthenischen Saisonarbeitern nach Preussen. 
Diese Auswanderung ist selbstverständlich den polnischen Gross¬ 
grundbesitzern nichts weniger als lieb und angenehm und des¬ 
halb widersetzte sich Potocki allen ruthenischen Forderungen um 
Erlaubnis zur Errichtung eines Arbeitsvermittlungsbureaus; nicht 
einmal dem ruthenischen Aufklärungsvereine „Proswita“ wurde 
eine solche Konzession erteilt, obwohl ein jeder Hausjude eine 
solche bekommen kann. Dahingehende Gesuche seitens der 
Ruthenen werden überhaupt nicht berücksichtigt. Einer ruthenischen 
Deputation gegenüber äusserte sich Statthalter Potocki folgender- 
massen: „Ich gebe euch eher eine Universität, als ein 
Arbeitsvermittlungsbureau“ . . . Im Jahre 1904 versendete 
er einen Erlass an die Bezirkshauptmannschaften dahinlautend, 
die nach Preussen auswandernden ruthenischen Bauern aufzuhalten. 
700 Arbeiter wurden daraufhin zurückgeha1ten und heim¬ 
geschickt. Nachdem er die Eröffnung eines Arbeitervermittlungs¬ 
bureaus nicht zuliess, wendete sich der Verein an die Statthalterei 
um die Bestätigung der Statuten der „Vorsehung“, eines Emi¬ 
grationsbureaus mit humanitären Zielen. Obzwar bereits eine 
polnische Institution mit den gleichen Statuten besteht, wurden 
die Statuten nicht bestätigt. Auch ein Emigrationsbureau dürfen 
die Ruthenen nicht haben, denn auch ein solches Bureau wird 
als Mittel zur Organisation gefürchtet. 

Bekannt ist der Widerwille des Grafen Potocki gegen die 
ruthenischen Feuerwehrvereine. Er sagte einmal ganz offen 
heraus: „Ich muss di.ese Vereine vernichten“. Eine 
Anzahl solcher wurde auch bald darauf aufgehoben. So klein¬ 
lich war Potocki in seinem Hass gegen die Ruthenen, dass er 
einem solchen nicht einmal die Konzession zur Eröffnung einer 
Buchdruckerei erteilen wollte. Sämtliche dahingehende Ge¬ 
suche wurden abgewiesen. Über die für Unterstützungen der von 
Elementarschäden heimgesuchten Bauern bestehenden Fonds ver¬ 
fügte Herr Potocki — in dem letzten Jahre waren dies 2'5 Millionen 
Kronen — ganz nach seinem Belieben, nicht aber, wie dies von 
der Regierung bestimmt war (näheres darüber im Artikel „Die 
Lage der Ruthenen in Galizien“) usw. 

Selbstverständlich war sein ganzes Mühen und Trachten 
darauf gerichtet, vor allem das ruthenische Volk in politischer 
Beziehung zu vernichten. Ein solcher Anschlag gegen die Ruthenen 
war die Ünterstützung derRussophilen bei den Wahlen, 
wodurch einerseits die Ruthenen geschwächt, andererseits Russland 
gegenüber seine Loyalität (er war auch russischer Untertan und 
Eigentümer immenser Reichtümer in der Ukraine) bezeugt werden 
sollte. Es ist hier noch zu bemerken, dass er sein der Regierung 
gegebenes Versprechen, dass die Ruthenen 33 Mandate für den 
Reichsrat bekommen sollen, nicht gehalten hat, nachdem dank 
den Wahlmissbräuchen nur 32 ruthenische Abgeordnete gewählt 
werden konnten. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



187 


Graf Potocki, „die eiserne Hand, im Benehmen ein feiner 
liebenswürdiger Herr“, war als politischer Gegner rücksichts-' und 
skrupellos. Seine ganze Regierungsperiode war ein fortlaufender 
Ausrottungskrieg gegen die Ruthenen. Gerade in diese Zeit ent¬ 
fallen die meisten Morde an ruthenischen Bauern, ge¬ 
rade zu seinen Statthalterzeiten wurde eine species des politischen 
Kampfes gang und gebe, und zwar das Inscenieren falscher 
Alarme über ruthenische Juden- und Polenpogrome usw. Solche 
Manöver wiederholten sich zur Zeit der Statthalterschaft Potockis 
einigemale. Jedesmal wurden Gerüchte in Umlauf gesetzt, dass 
ruthenische Bauern morden und brennen, jedesmal wurde Militär 
requiriert, Verhaftungen vorgenommen usw. und nie ist jemandem 
auch nur ein Haar gekrümmt worden. Aber die Gerüchte waren 
in der Welt ausgestreut und man konnte sie nicht mehr zurück¬ 
ziehen. Andere Beruhigungsmittel für die Bauern als Militär und 
Standrecht hatte Herr Potocki nicht. Mit dem letzteren drohte 
Potocki zur Zeit des Feldarbeiterstreiks und als ihn seinerzeit 
Abgeordneter Dr. Olesnitzkyj auf die Unzufriedenheit im Volke 
infolge der Missbrauche der Beamtenschaft aufmerksam machte, 
da antwortete Potocki; „Ah, was! ich schicke einige Kom¬ 
pagnien Soldaten hin und die Ruhe ist wieder her- 
gestellt“. So fasste Potocki seine Statthalterpflichten auf. Und 
gleich ihm verstanden auch seine Untergebenen ihre Pflichten. 
Ja, sie konnten auch nicht anders. In einer Anwandlung von 
Aufrichtigkeit äusserte sich der Bezirkshauptmann von Peremyschl, 
Hofrat Lanikiewicz, vom Abgeordneten Ceglinskyj auf die Amts¬ 
missbräuche aufmerksam gemacht, folgendermassen: „Herr Ab¬ 
geordneter, Sie könnten doch einsehen, dass ich anders nicht 
handeln darf“ ... . 

So war der Statthalter Potocki und sein System. Möge das 
letztere mit seinem Träger ins Grab gegangen sein! 


Die Besetzung des galizUcben $tattftalterpo$ten$. 

Von einem ruthenischen Reichsratsabgeordneten. 

Gleich nach Beerdigung des dahingeschiedenen Statt¬ 
halters, Andreas Grafen Potocki versammelten sich die Leiter 
des reichsrätlichen Polenklubs, das Präsidium und die parla¬ 
mentarische Kommission, um über die Neubesetzung des 
galizischen Statthalterpostens zu beraten. 

Nach langen, bisweilen sehr stürmischen Debatten, bei 
denen sich insbesondere die Stimme des neukooptierten 
Vizeobmanns Stapiriski vernehmlich machte, kam man 
überein, dass das politische Bekenntnis des zu ernennenden 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



188 


Statthalters mit den politischen Bekenntnissen der dem Ver¬ 
bände des Polenklubs angehörenden Parteien, wenn nicht 
vollkommen kongruent, so doch einem derselben angepasst 
sein müsse. 

Der Statthalter kann also nur ein Konservativer, Allpole, 
Klerikaler oder Volksparteiler sein — von der ruthenischen 
Bevölkerung wurde gar nicht gesprochen, denn diese gehört 
selbstverständlich zum ständigen Inventar der galizischen 
Verwaltung. Sodann wurde zur Spezialdebatte, das ist zur 
Wahl der Kandidaten geschritten, welche Kandidatenliste dem 
k. k. Ministerpräsidenten vorgelegt werden sollte. In die Kan¬ 
didatenliste wurden aufgenommen: der gegenwärtige Landes¬ 
marschall Graf Stanislaus Badeni, der ehemalige. Finanz¬ 
minister und gegenwärtige Gouverneur der österreichisch¬ 
ungarischen Bank Dr. Biliriski, der gegenwärtige Finanz- 
minister Dr. Korytowski, auch des ehemaligen Staats¬ 
ministers Grafen Goluchowski wurde gedacht; hierauf 
gelangten in die Liste die Kandidaten minorum gentium, der 
ehemalige Vizepräsident des galizischen Landesschulrates 
Dr. Bobrzynski und der Sektiönschef im Ackerbaumini¬ 
sterium Dr. Z a 1 e w s k i. 

Die Kandidatenliste wurde zusammengestellt, dem Minister¬ 
präsidenten offiziell eingehändigt, um hinterdrein rücklings in 
den Parteiblättern allerlei Intriguen gegen einzelne Kandidaten 
spinnen zu können. So wird Graf Stanislaus Badeni als viel 
zu ruthenenfreundlich geschildert, was die Polen als eine 
Provokation hinnehmen würden, Dr. Korytowski als viel zu 
arm, Dr. Biliriski als viel zu alt, Graf Goluchowski als viel 
zu bequem und der Landesverhältnisse unkundig* Doktor 
Bobrzynski als viel zu konservativ, reaktionär, klerikal, 
despotisch, anmassend, Dr. Zalewski als viel zu jung und 
unerfahren dargestellt und niedergerungen. 

Wir Ruthenen stehen bei dieser politischen Komödie 
gänzlich abseits, wir sehen dieselbe nicht zum ersten Male 
und perhorreszieren diese unwürdige, parteiische, egoistische 
Stellenhascherei heute, wie zuvor. Wir Ruthenen vertreten, 
verfechten diese Ansicht, die wir auch der Regierung gegen¬ 
über zum Ausdruck bringen werden, dass uns an der recht- 
und gesetzmässigen Verwaltung des Landes am meisten ge¬ 
legen sei und dass wir nur für eine solche Persönlichkeit 
eintreten werden, die sich verbindlich machen würde, mit der 
heutigen schlachzizischen Missverwaltung, dem Urquell alles 
Missgeschickes im Lande zu brechen und eine rechtmässige, 
gesetzliche, konstitutionelle Verwaltung anzubahnen. 

Dies könnte nur e i n gewissenhafter, charak¬ 
terfester Beamter sein, der die Wahrung der Gesetze 
sich zur allerersten und heiligsten Pflicht in diesem gesetz¬ 
lich verwahrlosten Lande machen würde, der seine ganze 
Kraft, sein ganzes Wissen, seine innerste Überzeugung ein- 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



189 


setzen würde, um das üppig emporwuchernde, gesetzlose 
Willkürunkraut in der Verwaltung auszujäten und die gesetz- 
mässigen Zustände in allen Verwaltungsgebieten, in der Ad¬ 
ministration, dem Schulwesen, den autonomen Behörden, kurz in 
allen Verwaltungsgebieten von der Gemeindeverwesung bis zur 
Statthalterei, von der Bezirksvertretung bis zur Landesver¬ 
tretung mit allem Aufgebot der Energie und Selbstverleugnung 
einzuführen. Freilich — eine Riesenleistung und eine Riesen¬ 
arbeit! Aber anders ist das Kronland nicht zu retten, die 
zum Schrecken des ganzes Reiches unwillkürlich zum 
Durchbruch kommenden Schaudererscheinungen nicht zu 
bannen. 

Das ist unsere innerste und innigste Überzeugung. 
Schliesslich können wir uns des Gedankens nicht erwehren, 
warum denn ein Land, das zur Hälfte von der ruthenischen 
Bevölkerung bewohnt wird, die im Reichsrate eine den pol¬ 
nischen Parteien gleichzählige und gewiss auch gleichbefähigte 
Vertretung besitzt, nur von einem Polen verwaltet werden 
müsse? Es wäre gewiss sowohl aus politischen Gründen 
als auch von rechtswegen angezeigt, an eine wechselweise 
Besetzung des galizischen Statthalterpostens ernstlich zu 
denken. 




Abgeordneter markow und die Petersburger Akademie 
der missensebaften über die ukrainische frage. 

Wir haben uns bereits in einer Artikelserie mit der 
Russophilen-Frage in Galizien befasst.*) Damals wendeten 
wir unser Augenmerk hauptsächlich der politischen Seite 
dieser Frage zu, nachdem wir dieselbe ausschliesslich 
als eine politische Erscheinung betrachten, deren Ent¬ 
stehung nur ein Ausfluss der trostlosen Verhältnisse, 
unter denen die ukrainische Nationalität ihre Entwickelung 
durchmacht, einerseits und die Folge der von Russland her¬ 
stammenden und mit dem Gelde der russischen Regierung 
geförderten panslawistisch-russophilen Agitation andererseits 
ist. Der mächtige Aufschwung der ukrainischen nationalen 
Idee in Galizien hatte den gänzlichen Untergang der russo- 
philen Partei unter den galizischen Ruthenen zur Folge, so 
dass man mit den Russophilen als einer Partei überhaupt zu 
rechnen aufgehört hatte. Die Wahl von 5 russophilen Abge- 


*) Vergleiche die Artikelserie „Von den ruthenischen 
Russophilen“, Ukr. Rundschau, 1907, Nr. 9—12 von W. K. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



190 


ordneten ins Wiener Parlament war aber nur die Frucht einer 
gekünstelten Kombination, welcher die polnisch-russophile 
Allianz, ein Produkt der Oravitierung der österreichischen 
Polen zu Russland und deren Hass gegen die ruthenische 
nationale Bewegung, zu Grunde liegt. 

Dass der russophilen Bewegung keinerlei wie immer 
geartete Grundlage nationaler Natur innewohnt, erhellt schon 
auch daraus, dass bisher, und zwar nicht einmal zur Zeit der 
Blüteperiode der russophilen Strömung in Galizien in den 
70 er Jahren, als es schien, dass die Mehrheit der Ruthenen 
russophil gesinnt war, noch keine einzige Zeitschrift und 
keine einzige Broschüre in russischer Sprache für das Volk 
erschienen ist, geschweige denn, dass ein russophiler Agitator 
es je gewagt hätte, mit dem Volke russisch zu reden. 

Der Abg. Markow erst hatte den Mut, den fremden Lesern 
das Unmögliche und Sinnlose nicht nur als möglich und klug, 
sondern es als ganz natürlich und selbstverständlich hin¬ 
zustellen. ln seiner kürzlich in Wien in deutscher Sprache 
erschienenen Broschüre unter dem Titel: „Die russische 
und ukrainische Idee in Österreich“ unter¬ 
nimmt er den etwas sehr gewagten Versuch, auf Grund philo¬ 
logischer und geschichtlicher Daten nachzuweisen, dass die 
Ruthenen und Russen national Eines seien und dass das Ruthe¬ 
nische (Kleinrussische) und das Russische (Grossrussische) nur 
Dialekte einer einheitlichen Sprache vorstellen. Herr Markow 
ahmt -- und das geben wir ohneweiters zu — seinen Partei¬ 
genossen, die zur Verteidigung ihrer Ideen mit der Feder be¬ 
waffnet zu Felde ziehen, in vieler Beziehung nicht nach. Wir 
stossen in seiner Broschüre auf verhältnismässig wenig Entstel¬ 
lungen von Tatsachen, auch die geschichtlichen Daten ent¬ 
sprechen im Grossen und Ganzen der geschichtlichen Wahr¬ 
heit — doch können wir dem Verfasser zwei Kardinalvorwürfe 
nicht ersparen und zwar, dass er den gewichtigsten Argumenten 
vorsichtig und geflissentlich aus dem Wege geht und selbst 
aus den angeführten Prämissen falsche Schlüsse zieht. 

Wir müssen es uns versagen, auf die einzelnen Argu¬ 
mentationen des geehrten Herrn Verfassers einzugehen, schon 
darum, weil wir der Ansicht sind, dass solche Fragen in 
dem engen Rahmen eines Aufsatzes keineswegs entschieden 
oder erschöpfend behandelt werden können. 

Wir ziehen uns sogar ganz von dem polemischen Schlacht¬ 
felde zurück und ziehen es vor, der Autorität des Reichs¬ 
ratsabgeordneten Dr. Dmitrij Markow die Autorität 
der St. Petersburger kaiserlichen Akademie 
der Wissenschaften entgegenzustellen. Lassen wir die 
beiden Autoritäten selbst den Streit ausfechten. 

Es war im Jahre 1905, als sich die Fesseln des gedemü- 
tigten russischen Absolutismus zu lockern begannen und 
auch für die Ruthenen in Russland die Freiheitssonne auf- 

Digitized by Go< igle 


Original fram 

SNDIANA UNIVERSITY 



- 191 


ging. Und die erste, die Gemüter sämtlicher Ukrainer be¬ 
wegende Angelegenheit war der geheime Ukas vom Jahre 1876, 
demzufolge die ukrainische Sprache aus der Schule lind 
Kirche, Wissenschaft und Literatur proskribiert wurde und 
dessen Aufhebung die Ukrainer energisch anstrebten. Das 
die Zensurangelegenheiten beratende Ministerkomitee sah 
sich durch die heftige Protestbewegung der Ukrainer ver¬ 
anlasst, die Revision dieses Ukases vorzunehmen und wandte 
sich in dieser Angelegenheit an die Petersburger Aka¬ 
demie der Wissenschaften sowie an die Universi¬ 
täten in Kijew und Charkow um deren Meinungs¬ 
äusserung. Sämtliche drei genannten Institutionen erklärten 
sich einhellig für die Aufhebung des barbarischen Ukases 
und die Akademie der Wissenschaften nahm sofort Gelegen¬ 
heit, ein diesbezügliches Memorandum*) mit der Klar¬ 
stellung des Standpunktes der Akademie in der Frage der 
proskribierten ruthenischen Sprache und Literatur an das 
Ministerkomitee zu richten. Infolge Raummangels sowie mit 
Rücksicht darauf, dass dieses Memorandum bereits in unserer 
Zeitschrift in Gänze abgedruckt wurde,**) geben wir hier nur 
die Stellen wieder, welche eine direkte Zurückweisung 
der Behauptung Markows bedeuten und auch an und für 
sich imstande sind, die ukrainische Frage in ein klares Licht 
zu bringen. 

Die von der Petersburger Akademie der Wissenschaften 
ausgesprochenen Sätze beziehen sich auf die Einwände der 
russischen Gegner der ukrainischen Nationalität in Russland. 
Wir denken, dieselben können auch als Antwort auf die 
gleichlautenden Einwände Markows gelten. 

Sowohl die russischen Gegner der ukrainischen natio¬ 
nalen Bewegung, als auch unsere galizischen Russophilen 
und an deren Spitze Abgeordneter Markow behaupten, die 
Ruthenen und Russen seien ein und dasselbe Volk, ihre 
Sprachunterschiede seien nur dialektischer Natur. Sie berufen 
sich vornehmlich auf die Denkmäler der russischen Literatur. 
Dazu bemerken die Verfasser des Memorandums: „Die süd¬ 
russischen Denkmäler unserer alten Literatur des XL und XII. 
Jahrhunderts weisen eine Reihe von typischen Merkmalen 
der ukrainischen Sprache auf***): sie lassen keinen Zweifel 

*) Kaiserliche Akademie der Wissenschaften. Über die Auf¬ 
hebung der Einschränkung betreffend die kleinrussischeri Druck¬ 
schriften. St. Petersburg, 1905. III + 95 S. Gedruckt über Anordnung 
der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (als Manuskript),' 

**) Ruthenische Revue, 1905, Nr. 15—22. 

***) Die sogenannte altrussische, auf den Grundlagen der Alt¬ 
kirchenslawischen gebildete Sprache, bildete das Gemeingut der 
Russen und Ruthenen. Doch war die in dieser Sprache geschriebene 
altrussische Literatur, wie dies die zahlreichen Ukrainismen bezeugen, 
das Produkt der Südrussen (Ukrainer). Das wird auch von den russi¬ 
schen Gelehrten zugestanden. Anm. d. Verf. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



192 


mehr übrig, dass die südrussischen (kleinrussischen) Dialekte 
bereits in der vortartarischen Periode sowohl von den mittel¬ 
russischen, wie auch von den nordrussischen vielfach a b- 
wichen. Diese Unterschiede konnten nicht einmal durch 
die politische Vereinigung der russischen Stämme im X. und 
XI. Jahrhundert verwischt werden. Im Gegenteil, der Zerfall 
des russischen Reiches in kleine Fürstentümer, der Auf¬ 
schwung des neuen politischen Zentrums, der Verfall Kijews 
in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts entfernen immer 
mehr Südrussland vom Norden und durch die tartarischen 
Überfälle wird diese Entfernung perfekt. Erst die spätere 
Kolonisation im XVII. und XVIII. Jahrhundert bringt die 
gross- und kleinrussischen Stämme in dem Quellgebiet des 
Sejm, Donez und Don miteinander in Berührung. Auf diese 
Weise bewirkten die historischen Bedingungen eine voll¬ 
ständige Absonderung Kleinrusslands von dem von den 
Grossrussen bewohnten Territorium; daher die faktischen 
Unterschiede in der Sprache der beiden Nationalitäten, 
der gross- und kleinrussischen.“ 

Den von den Gegnern der ukrainischen' Nationalität 
vorgebrachten Einwand über das Bestehen einer „allgemein- 
russischen“ Sprache beantwortet das Memorandum folgen- 
dermassen: „Wir wollen die Argumente prüfen, zu denen 
sowohl amtliche Personen und Institutionen, wie auch Pub¬ 
lizisten griffen, um die die Freiheit des gedruckten ukraini¬ 
schen Wortes beschränkenden Massnahmen zu rechtfertigen. 
Diese Argumente versetzen uns vor allem auf das Gebiet 
der Kulturgeschichte des russischen Volkes: diese Geschichte 
soll, wie manche Publizisten behaupten, der Masstab für das 
Verhältnis der ukrainischen Literatur zu der „allgemeinrussi¬ 
schen“ Literatur und der ukrainischen Sprache zu der „all¬ 
gemeinrussischen“ Sprache sein. Aber haben wir denn 
das Recht von einer „allgemeinrussischen“ 
Sprache zu reden? Es unterliegt zwar keinem Zweifel, 
dass die Vorfahren der Russen und Ukrainer einst eine ge¬ 
meinsame Sprache besassen. Diese in schriftlichen 
Denkmälern uns nicht überlieferte und nur 
hypothetisch neu geschaffene Sprache bekam 
in der Wissenschaft die Benennung: „allgemeinrussisch“. 
Noch in der vorhistorischen Epoche wies die „allgemein¬ 
russische Sprache verschiedene dialektische Besonderheiten 
auf.“ „Das historische Leben schuf für sie (Russen und 
Ukrainer) keine gemeinsame Sprache, es machte viel¬ 
mehr jene dialektischen Besonderheiten noch deutlicher, 
durch welche sich die Vorfahren der Ukrainer einerseits und 
die der Grossrussen andererseits in den Anfängen unserer 
Geschichte auszeichnen. Es ist evident, dass die lebendige 
grossrussische Sprache, wie sie in Moskau, Rjazari, Jaroslau, 
Archangelsk und Nowgorod gesprochen wird, im Gegensatz 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



193 


» 

zu der ukrainischen Sprache in Poltawa, Kijew und Lemberg, 
unter keiner Bedingung „allgemeinrussisch“ ge¬ 
nannt werden kann.“ 

Herr Markow behauptet nach dem Muster der Allrussen 
in Russland, dass es „ein Barbarismus, eine Torheit“ wäre, 
eine Trennung der gemeinsamen Kulturarbeit durchzuführen, 
welche mit den gemeinsamen Kräften der Gross- und Klein¬ 
russen geschaffen wurde. Er behauptet, dass „die heutige 
grossartige russische Literatur ihre erste Grundlage 
und ihre erste Nahrung auf dem kleinrussischen 
Boden gefunden hat“; man müsse staunen, sagt er, „wie 
die Kleinrussen trotz ihrer politischen Abhängigkeit und Ver¬ 
folgungen unter einer Fremdherrschaft sich so grosse Ver¬ 
dienste um die Einheit und Schönheit der heutigen literari¬ 
schen russischen Sprache haben erwerben können!“ . . . 
»Die bedeutendsten Männer aus der Zeit Peter des Grossen,, 
welche mit ihm das heutige Russland kulturell gross gemacht 
haben, sind zum grossen Teile Kleinrussen gewesen. Die 
Gründung der Akademien in Petersburg und Moskau, die 
Anfänge der russischen Dramaturgie, Pädagogik und des 
Volksunterrichtes und überhaupt eines jeden Wissenzweiges, 
dies alles war vornehmlich ein Verdienst der Kiewer oder 
der galizischen Ruthenen ... Dank diesen Kleinrussen und 
einer Reihe anderer Schriftsteller hatte der Begründer der 
literarischen russischen Sprache, der berühmte Lomonossow, 
eine leichte Aufgabe. Er hat die heutige russische Sprache 
aufgebaut auf dem Material, welches die genannten klein¬ 
russischen Schriftsteller ihm in ihren Werken als Erbe hinter¬ 
lassen haben.“ 

So behauptet Herr Markow übrigens dasselbe, was wir 
selbst sehr oft hervorgehoben haben. Nur kann es uns nicht 
einleuchten, warum die angeführten Tatsachen gegen die Ent¬ 
wicklung der ukrainischen Sprache, Literatur und Nationalität 
sprechen sollten. Wir sind ganz der entgegengesetzten 
Meinung. Sie wären höchstens ein Zeichen, dass wir Ukrainer 
zu jener Zeit kulturell höher gestanden haben, als die Russen, 
denen wir zum Aufbau ihrer Kultur verhalten und dass wir 
ein Menschenschlag sind, welcher in hohem Masse ent¬ 
wicklungsfähig ist. Aber hören wir zu, was die Verfasser 
des Memorandums dazu sagen: „Jetzt bleibt noch die Frage 
zu beantworten, heisst es dort, ob kein Grund vorhanden ist, 
demtufolge unsere literarische Sprache als „allgemeinrussisch“ 
anerkannt werden kann? Wurde sie denn nicht mit den ver¬ 
einigten Kräften aller russischen Völker herausgebildet, und 
haben sich in ihr nicht die Besonderheiten der russischen 
Dialekte abgespiegelt? Den entsprechenden Behauptungen 
mehrerer Publizisten zufolge spielten die Ukrainer eine an¬ 
sehnliche Rolle in der Bildung unserer literarischen Sprache. 
Als Beweis für diese Behauptungen hält man für genügend, 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



194 


auf den Einfluss ukrainischer Schriftsteller und Gelehrten im 
XVII. und XV11I. Jahrhundert, anfangs auf die moskovitische 
Aufklärung, später aber auf die Reformen Peter des Grossen 
hinzuweisen. Es lässt sich nicht leugnen, dass dieser Einfluss 
auch unsere literarische Sprache gestreift hat, er war aber 
nur temporär; die Bemühungen unserer grossen Schrift¬ 
steller brachten die literarische Sprache der volkstümlichen 
immer näher und nichts war imstande, diese Strömung auf¬ 
zuhalten, dank welcher schon am Ende des XVI11. und zu 
Beginn des XIX. Jahrhunderts unsere literarische Sprache 
rein grossrussisch wurde, indem sie sich unter anderem auch 
von dem ukrainischen Akzent befreite, der, wie Prof. Budde 
nachgewiesen hat, der Sprache Lomonossows und Sumaro- 
kows nicht fremd war. Wir sehen keinen wichtigen 
Grund, warum diese Sprache „allgemeinrussisch“ genannt 
werden sollte, weil sie kein Amalgama darstellt, in welchem 
sich die Besonderheiten aller lebendigen russischen Dialekte 
abgespiegelt hätten.“ 

Das Memorandum enthält weiters die Schilderung des 
Entstehens der ukrainischen literarischen Sprache seit dem 
XVI. Jahrhundert, an welche sich folgende Bemerkung an- 
schliesst: „Aus der Gesetzlichkeit und Natürlichkeit 
des Entstehens der ukrainischen literarischen 
Sprache erklärt sich auch die Gesetzlichkeit ihrer weiteren 
Entwickelung. Die Entwickelung der literarischen Sprache 
geht natürlicherweise im gleichen Schritt mit der Entwicke¬ 
lung der Literatur selbst vor sich. Viele russische Publizisten 
(auch Markow. D. R.) befassten sich mit der Frage, ob eine 
ukrainische Literatur überhaupt notwendig sei ? Andere 
wollten ihren Umfang innerhalb gewisser Grenzen ein¬ 
schränken; sie glaubten, es sei genügend, Gedichte und Er¬ 
zählungen aus dem Volksleben ukrainisch zu schreiben und 
Volkslieder und Sagen zu sammeln. Man war sogar willig, 
das ganze Gebiet der schönen Literatur der ukrainischen 
Sprache zugänglich zu machen. Aber dieses Gebiet zu über¬ 
schreiten, wurde ihr verboten, die russischen Publizisten 
wollten dies ebensowenig zulassen wie die russische Re¬ 
gierung, und zwar im Interesse der grossrussischen Literatur. 
Die Antwort auf die übrigens unstichhältige Frage, ob die 
ukrainische Literatur überhaupt nötig sei, gab das Leben 
selbst.“ 

Das Bestreben der gemässigten Russophilen (Herr 
Markow plaidiert übrigens selbst dafür) geht dahin, wenigstens 
die etymologische Rechtschreibung bei der 
ruthenischen Schrift zu gebrauchen, welche Rechtschreibung 
der russischen sehr ähnlich ist. (Die Ruthenen gebrauchen 
die phonetische Rechtschreibung und ist eine solche auch 
für die galizischen Schulen vorgeschrieben.) Die Stellung 
der Petersburger Akademie der Wissenschaften ist aber auch 


□ igitized by 


Gougle 


Original frcm 

INDIANA UN1VERSITY 



195 


in dieser Frage eine ganz entschiedene. Das Memorandum 
sagt: Der Gebrauch der „allgemeinrussischen, 
d. i. in der Tat der grossrussischen Rechtschreibung in 
ukrainischen Texten, ist überhaupt eine unglaubliche 
Erfindung aus dem Grunde, weil die Rechtschreibung 
unbedingt der Phonetik untergeordnet und in linguistischen 
Arbeiten, wie es ein Wörterbuch ist, einfach undenk¬ 
bar ist; deswegen kann die Probe der Verfassung eines 
ukrainischen Wörterbuches unter derartigen Bedingungen 
als ein unwürdiges Unternehmen angesehen werden, was im 
Wege der umgekehrten Probe — der Verfassung eines gross¬ 
russischen Wörterbuches in der Rechtschreibung von Kulisch, 
zu ersehen wäre. Was den Gebrauch der in Kleinrussland 
im XVIII. Jahrhundert verwendeten Rechtschreibung anlangt, 
so ist die hier erwähnte Rechtschreibung, abgesehen von 
der willkürlichen Aufzwingung derselben, schon aus dem 
Grunde nicht autoritativ, weil zu jener Zeit ein jeder mehr 
oder weniger nach seiner Art schrieb, und wenn wir die 
Ukrainer des XVII. und XVIII. Jahrhunderts nachahmen 
wollten, würden bei uns derartige Formen zum Vorschein 
kommen, die in keine bestimmte einheitliche Norm gefügt 
werden könnten.“ 

Den Schluss der Ausführungen des Memorandums der 
Petersburger Akademie der Wissenschaften, dessen Verfasser 
solche Autoritäten, wie F. E. Korsch, W. W. Zelenskij, 
A. S. Lappo-Danilewskij, S. Oldenburg, A. S. Tamicyn, 
F. 0. Fortunatow und A. A. Schachmatow sind, bildet das 
folgende treffliche Resümee: 

Die Prüfung der Argumente, die in der 
Publizistik gegen das Bestehen der ukraini¬ 
schen Sprache ins Treffen geführt wurden 
und die Einschränkung ihres Wirkungs¬ 
kreises anstreben, beweisen zur Genüge, 
dass diese Argumente auf einem einseitigen 
Verständnis der Geschichte des ukrainischen 
Volkes und seiner Sprache beruhen, und 
ihren Ursprung in dem tendenziösen Streben 
nach Beschränkung der Rechte des ukrai¬ 
nischen Volkes zugunsten der schlecht ver¬ 
standenen gross- und allgemeinrussischen 
Interessenhaben. 

Mit diesen Worten ist unseres Erachtens auch das 
Bemühen des Abgeordneten Markow genügend charakterisiert. 
Gewiss noch weniger stichhältig als die Argumente philo¬ 
logischer Natur sind seine politischen und geschichtlichen 
Ausführungen. In seiner Broschüre, die an ernsten Argu¬ 
menten so arm ist, sieht er sich veranlasst, zu solchen ge¬ 
schichtlichen Quellen Zuflucht zu nehmen, wie deutsche 
Witzblätter und der Brief des Humoristen Moritz Gottlieb 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



196 


Saphir an den Grafen Stadion mit dem Datum: 3 Jahre seit 
der Erfindung der Ruthenen, es sind. Was sollen wir nun 
mit solchen Argumenten anfangen? Versuchen doch auch die 
Polen die Welt zu überzeugen, dass die Ruthenen erst vom 
Grafen Stadion im Jahre 1846 erfunden wurden und gewiss 
hätte auch Saphir die Ruthenen eher den Polen als den 
Russen zugezählt. Herr Markow geht wohlweislich ernsten 
Gegenargumenten aus dem Wege. Er redet von dem An¬ 
schluss der Ukraine an Russland, setzt aber nicht hinzu, 
dass das ukranische Volk sich selbst einige Jahre darauf 
gegen den treubrüchigen Zaren auflehnt, dass sich die Auf¬ 
stände gegen die russische Herrschaft bis weit in das 
XVI11. Jahrhundert hinein wiederholen, dass das Volk dem 
für die Befreiung von der polnischen Sklaverei als „Vater“ 
gepriesenen Bohdan Chmelnytzkyj für die Überführung 
unter eine andere, die russische Sklaverei, ein furchtbares 
Denkmal in der Volkspoesie hinterlassen hat, als Verräter, 
welcher die Ukraine Moskau verkauft hat. Nun bleibt 
für uns Ukrainer, die wir die Angelegenheiten von der 
geschichtlichen Ferne übersehen, freilich der Trost übrig, 
dass Chmelnytzkyj keineswegs der schimpfliche Verräter 
an seinem Volke war, als welcher er hingestellt wird, denn 
sein Anschluss an Russland war nur eine der politischen 
Kombinationen, welche auf Gründung eines grossen ukrai¬ 
nischen Reiches abzielten. Der Abgeordnete Markow sieht 
das zwar nicht ein, dagegen entgeht es nicht seinem Auge, 
dass Chmelnytzkyj von der russischen Regierung (allerdings 
sagt Markow: von dem gesamten Russentum) ein Denkmal 
errichtet wurde mit der Inschrift: ,Das einheitliche und un¬ 
trennbare Russentum . . Er behauptet, dass das ukrainische 
Volk als solches an eine nationale Selbständigkeit nicht 
denke und setzt sich mit seiner liebenswürdigen Leicht¬ 
fertigkeit auch über die Tatsache hinweg, dass es in der 
zweiten Duma einen 46 Mitglieder zählenden Ukrainerklub gab, 
dessen Programm die Autonomie der Ukraine enthielt. 

Nun, Jedermann mag seinem Gotte dienen, wie er’s ver¬ 
steht. Für den Fremden aber, der sich mit der ruthenischen 
Frage vertraut machen wollte, gibt es zwei Autoritäten: die 
Petersburger Akademie der Wissenschaften, deren Mitglieder 
hervorragende Gelehrte, dabei echte Russen sind und den 
Abgeordneten Markow, zwar kein Gelehrter, aber doch auch 
ein „echter“ Russe. Wir denken, die Wahl wird nicht 
schwer sein. W. K. 


Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



1.97 


Oie Pre$$timnteti Iber das Attentat $lcxyn$kyj$. 

Die gesamte deutsche Presse mit der sehr geringen 
Ausnahme der sogenannten grossen Blätter Wiens nahm zu 
dem Lemberger Statthaltermord eine im allgemeinen verhält¬ 
nismässig objektive Stellung ein. Der Mord als solcher 
wird im allgemeinen als eine in einem konstitutionellen Staate 
unerhörte Tat streng verurteilt. Aber die meisten deutschen 
Blätter, vor allem die reichsdeutsche Presse und die österrei¬ 
chischen Provinzblätter verstehen es, sich zu der Höhe einer 
mehr oder weniger objektiven Betrachtung der Dinge aufzu¬ 
schwingen, wonach das Land Galizien nicht als Teil eines 
konstitutionell regierten Staates, sondern als eine eigene, ab¬ 
solutistisch regierte Domäne erscheint. Die Stimmen der 
reichsdeutschen Blätter sind für uns umso interessanter, als 
man in Wien die Tendenz zeigte, die Reproduzierung der¬ 
selben auf ein Mindestmass herabzusetzen. Wir lasen in den 
Wiener Blättern die Versicherung, dass man in der reichs¬ 
deutschen Presse dem Lemberger Vorfall kein besonderes 
Interesse entgegenbringe, obzwar gerade das Gegenteil der 
Fall war; dies geht unzweideutig aus dem von der Nord¬ 
deutschen Allg. Zeitung veröffentlichten offiziösen Kommunique 
hervor, demzufolge die Zeitungen in Deutschland vor einer 
„Einmischung in die Angelegenheiten des fremden Staates“ 
gewarnt wurden. Was die Wiener Presse anbelangt, so ist 
hier die Wahrnehmung zu machen, dass die Objektivität der 
Darstellung zu dem Grade der von den einzelnen Blättern 
beanspruchten Fortschrittlichkeit im entgegengesetzten Ver¬ 
hältnisse steht. Im nachstehenden führen wir die Stimmen der 
verschiedenen Blätter an: 

JIII<I<Nt$<f)e$ Cagblatt, Wien, schreibt: „Das System der 
Unterdrückung des ruthenischen Volkes in Galizien hat ein 
blutiges Opfer gefordert. Der galizische Statthalter Graf Potocki 
ist von einem ruthenischen Studenten durch mehrere Revolver¬ 
schüsse zu Tode getroffen worden. Man mag über einen 
politischen Mord nun denken wie man will, man mag ihn 
entschieden verdammen, man mag ihn unter gewissen Ver¬ 
hältnissen billigen — wir erinnern nur an unseres Schillers 
„Wilhelm Teil“ — das eine steht fest, dass nur die in der 
ganzen Welt berüchtigte polnische Wirtschaft, die nur für 
Polen Recht und Gesetze kennt, das ihnen an Grösse über¬ 
legene ruthenische Volk aber mit den schamlosesten Mitteln 
der Gewalt niederhält, einem für sein Volk begeisterten jungen 
Mann die Waffe in die Hand zwang.“ 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



198 


In einem anderen Aufsatz unter dem Titel „Eine Erinne¬ 
rung" heisst es da: „Die polnische Presse ist tagtäglich voll 
Entrüstung und Abscheu über die verruchte Tat des Ruthenen 
Siczynski. Siczynski ist in ihren Augen ein abscheulicher 
Mörder, der die härteste Strafe verdient. Da gestatten wir 
uns denn die Frage, ob die polnische Presse und das pol¬ 
nische Volk immer mit gleicher sittlicher Entrüstung den 
politischen Mord verdammte und missbilligte. Antwort gibt 
uns ein Ereignis, das sich vor einigen Monaten in Galizien 
zutrug. Die Polin Wanda Dobrodzicka hatte in Warschau mit 
Helfershelfern gegen den Gouverneur Skallon Bomben ge¬ 
schleudert, die zwar den beabsichtigten Zweck verfehlten, 
woran aber die Täter vollkommen unschuldig waren. Wanda 
Dobrodzicka floh nach Österreich, wo man sie festnahm und 
sie in Wadowitz vor die Geschworenen, vor polnische Bürger, 
stellte. Die Angeklagte leugnete ihre Tat nicht. Sie gestand 
ihre Absicht, den Gouverneur zu töten, ein, und zwar ver¬ 
übte sie die Tat, weil ihr Volk in Russisch-Polen unterdrückt 
werde. Die Bombenschleuderin wurde freigesprochen und 
unter ungeheurem Jubel des Volkes heimgeleitet. Was für ein 
Unterschied besteht nun zwischen dem Bombenwürfe der 
Dobrodzicka und dem Revolveranschlage Siczynskis? Doch 
in nichts anderem, als in dem Erfolge, der in diesem Falle 
erreicht wurde, in jenem aber ausblieb.“ 

Berliner Cageb'att schreibt in dem Artikel unter dem 
Titel „Der polnisch ruthenische Konflikt“ folgendes: Die 
Kette der Gewalttätigkeiten, die die Ruthenen seit einem Jahr¬ 
zehnt im verzweifelten Kampfe gegen die in Galizien herr¬ 
schenden Polen verüben, ist durch den Mord am Grafen 
Potocki nur um ein neues Glied bereichert worden. Vielleicht 
hat damit das blutige Drama seinen Höhepunkt erreicht, sein 
Ende ist es nicht. Die Ruthenen wehren sich gegen ihre Be¬ 
drücker um so hartnäckiger, als sie in einer starken Minorität 
sind. Bei den letzten Landtagswahlen konnten die Ruthenen, die 
schon im Jahre 1867 im Landtage 46 Abgeordnete hatten, trotz 
des gestiegenen politischen Bewusstseins in den Massen von 
145 Mandaten nur 21 behaupten. Die von den Ruthenen er¬ 
sehnte kulturelle Entwicklung wird ihnen durch die Polen 
geschmälert. Die Ruthenen besitzen keine eigene Universität, 
und bei der Erregung der Massen ist es nicht wunderbar, 
wenn es alljährlich an der Lemberger Universität zu argen 
Ausschreitungen kommt. Das Gericht, das sich mit den 
letzten Exzessen dieser Art befasste, hat vorweg festgestellt, dass 
bei der allgemeinen Stimmung der Studentenschaft immer 
etwas in der Luft liege, und dass alles dazu reif sei, etwas 
Gesetzwidriges zur Durchführung der propagierten Zwecke 
zu unternehmen....“ Der Gerichtshof hat aus dieser Stimmung 
den Schluss gezogen, dass schon die Anwesenheit am Orte 
der Tat eine Ungesetzlichkeit wäre. Die Wahlbewegungen in 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original frcm 

INDIANA UNIVERSITY 



199 


Galizien zumal gehen nie ohne Todesopfer vorüber. Während 
der ersten Wahlen aus der damals neu geschaffenen fünften 
Kurie im Jahre 1907 fiel ein Ruthene durch die Hand der 
Gendarmen. Während der Agitation für die Wahlreform gab 
es drei Leichen. Bei den Wahlen nach dem allgemeinen 
Wahlrecht kamen vier Leute ums Leben. Auch die letzten 
Landtagswahlen verliefen wieder unter blutigen Unruhen, und 
wieder wurde ein Mann getötet. Eine Besserung ihrer Lage 
können die Ruthenen von dem politischen Verbrechen natür¬ 
lich kaum erwarten. Der Ruthene wird wohl noch lange 
politisch, kulturell und wirtschaftlich weiter darben bei seiner 
Kartoffelkost und dem mühseligen Erwerb seiner Haus¬ 
industrie. Denn auch das Land ist bitter arm, das die Ru¬ 
thenen bewohnen: die einst prachtvollen Wälder Ostgaliziens 
sind infolge eines Raubbaues, der die verheerendste Wirkung 
hatte, in einem kläglichen Zustande. Auf so traurigem Boden 
wirkt nationale Bedrückung natürlich nur um so unerträg¬ 
licher — und das Ende ist Fanatismus und Gewalttat.“ 

DtlltMhtl UoIRsblatt, Wien: „Das Verbrechen, dem Statt¬ 
halter Potocki zum Opfer gefallen ist, kann durch nichts gerecht¬ 
fertigt oder auch nur entschuldigt werden. Es ist aber jedenfalls 
ein Beweis für das Vorhandensein einer tiefgehenden Gärung 
unter der ruthenischen Bevölkerung, eines schroffen Zwiespaltes 
zwischen den beiden das Kronland Galizien bewohnenden 
Völkern und damit ist auch schon den massgebenden Kreisen 
der Weg gezeigt, den sie gehen müssen. Es muss mit allen 
Mitteln danach getrachtet werden, einen Konflikt zu beseitigen, 
der sich bereits in solchen Formen äussert. Die Aufgabe der 
Regierung kann sich — dafür ist das Lemberger Ereignis ein 
überzeugendes, beredtes Plaidoyer — nicht darauf beschränken, 
ein Gesetz zustande zu bringen, durch das die Sprachenfrage 
bei den Behörden in Böhmen geregelt wird, sondern die 
Aktion, welche sich die Lösung der nationalen Frage in 
Österreich zum Ziel setzt, darf keine engen Grenzen haben, 
sie darf nicht nur die deutsch-tschechischen Angelegenheiten 
umfassen, sondern sie muss sich auch auf jene Gebiete er¬ 
strecken, auf welchen, wie sich jetzt gezeigt hat, noch viel 
bedenklichere Verhältnisse herrschen wie in den Sudeten¬ 
ländern, wo der Sprachenstreit in den letzten Jahren wenig¬ 
stens durchaus auf gesetzlichem Boden geführt worden ist. 
Es gilt jetzt — das wird man sich auch in polnischen Kreisen 
vor Augen halten müssen — nicht das vergossene Blut des 
Grafen Potocki zu rächen, sondern Verhältnisse zu schaffen, 
die eine Wiederholung derartiger Erscheinungen für die Zu¬ 
kunft ausschliessen.“ 

TreideilhUtt, Wien: „Die Tat des ruthenischen Studenten 
Siczynski ist feiger Meuchelmord. Zum Abscheu über das 
nichtswürdige Verbrechen gesellt sich die Empfindung der 
völligen Grundlosigkeit der Bluttat. Niemals ist der ruthe- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 200 — 

nischen Nation, die zu rächen der Mörder vorgibt, grösseres 
Entgegenkommen bezeigt worden, als unter der Statthalter¬ 
schaft Potockis, der sich gerne in den Dienjjt der Politik der 
Regierung stellte, die ehrlich bestrebt ist, den ruthenischen 
Wünschen im Einvernehmen mit den Polen Geltung zu 
verschaffen. Es kann unmöglich das Schicksal seiner Nation 
sein, das Siczynski zum Morde getrieben hat. Er scheint von 
Parteifanatismus fortgerissen worden zu sein, das „russische“ 
Beispiel dürfte ihn angesteckt und zum Mörder gemacht 
haben. Die Partei wird sich zweifellos beeilen, jede Gemein¬ 
schaft mit dem Mörder zurückzuweisen. Es ist unmöglich, 
dass sich diese Art des politischen Kampfes auf österreichi¬ 
schem Boden einbürgern könnte. Der Mord ist die Folge 
verbrecherischer Verwirrung, die Tat muss vereinzelt bleiben. 
Auf die Politik der Regierung kann die Mordtat nicht von 
Einfluss sein. Solchem blutigen Terrorismus nachzugeben, 
wäre der verhängnisvollste aller Fehler.“ 

fiain&liraer nad>rid>teil schreiben in dem Leitartikel der 
Nummer 269: „Die Lemberger Mordtat kann natürlich auf das 
Verhalten der österreichischen Regierung keinen Einfluss 
ausüben. Im Gegenteil wird man zunächst den Ruthenen mit 
noch grösserer Strenge entgegentreten. Das muss auch sein, 
wenn man den Eindruck vermeiden will, aus Schwäche 
zurückgewichen zu sein. Dazu kommt, dass die österreichische 
Regierung sich aus parlamentarischen Gründen hüten wird, 
die Polen vor den Kopf zu stossen. Sie verhätschelt sie ja 
förmljch und lässt es ruhig zu, dass Lemberg nach wie vor 
als Zentralstelle für die auf Wiederherstellung Polens ge¬ 
richtete grosspolnische Agitation funktioniert, dass alle Fäden 
der Verschwörung, durch welche die polnischen Gebietsteile 
namentlich Preussens so stark beunruhigt werden, in der 
galizischen Hauptstadt zusammenlaufen. Zu dieser Duldung 
hat die österreichische Regierung auch ihre guten Gründe. 
Die nämlichen, auf denen es zum Beispiel beruhte, dass sie 
es im vorigen Jahre, als die galizischen Polen sich freche 
Demonstrationen gegen die preussische Enteignungsvorlage 
herausnahmen, an jeder ausreichenden Genugtuung dem ver¬ 
bündeten Deutschland gegenüber fehlen Hess. Für Österreich 
hat ja auch die Polenfrage bei der geographischen Lage 
Galiziens nicht entfernt die Bedeutung wie für Preussen. Aber 
die Wiener Regierung darf bei diesem ihren Verhalten sich 
auch nicht wundern, wenn die öffentliche Meinung des Aus¬ 
landes, und namentlich die deutsche, sofort gegen sie Partei 
nimmt und sie mit Misstrauen betrachtet, sobald es sich um 
ihre Stellung zu den galizischen Polen handelt. So wird es 
auch diesmal geschehen und wir können nur hoffen, dass es 
dazu beiträgt, in Wien die Erkenntnis von der Gefahr zu 
fördern, die Österreich bei der Begünstigung des Polentums 
läuft. Vielleicht ringt man sich in Wien auch zu der Einsicht 


Digitized by 


Go gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



201 


durch, dass es im Interesse der Gesamtmonarchie liegt, der 
einseitigen Herrschaft des Polentums in Galizien Grenzen zu 
ziehen und eine Versöhnung der Nationalitäten anzubahnen. 
Man kann sich nicht darüber täuschen, dass die Loyalität, 
welche die Polen gegen den österreichischen Staat zur Schau 
tragen, nur eine Loyalität mit Vorbehalt ist, ähnlich 
wie die Polen in Preussen ihre Pflichten als preussische Unter¬ 
tanen nur unter Vorbehalt anerkennen. Auch kann man auf die 
Dauer in Wien nicht ignorieren, dass die Wiederherstellung 
eines selbständigen Königreiches Polen das Ziel der galizi- 
schen Polen ebenso gut ist, wie das der preussischen und 
russischen. Vor allem aber hoffen wir, dass die leitenden 
Wiener Kreise allmählich zu einem besseren Verständnis für 
unbequeme internationale Verwicklungen gelangen, in die man 
geraten kann, wenn man den Polen immer mehr entgegen 
kommt und ihre Sache zu der österreichischen macht Die 
Polen rechnen ja förmlich darauf, dass es Österreich sein 
werde, das die Hand zur Wiederherstellung des Königreiches 
Polen bieten wird. Es kann aber nicht zur Verstärkung der 
internationalen Position Österreich-Ungarns beitragen, wenn 
man in den vom Polonismus bedrohten anderen Staaten die 
immer mehr wachsende Neigung Österreich-Ungarns wahr-r 
nimmt, die polnischen Aspirationen zu begünstigen“. 

,JllN$trierte$ Wiener Extrablatt“: „Die Ermordung des 
Statthalters von Galizien ist, nicht oft genug kann es gesagt 
werden, die Tat eines Einzelnen. Sie beweist nichts, was man 
nicht auch bisher schon wusste, dass nämlich in Galizien 
zwischen Polen und Ruthenen ein leidenschaftlicher, erbitterter, 
grimmiger Gegensatz besteht. Dieser Gegensatz wirkt auf die 
Seele des ruthenischen Volkes, das sich zurückgesetzt, be¬ 
drückt und geknechtet fühlt, naturgemäss anders, als auf die 
Seele der polnischen Nation; der Bedrückte greift leichter 
zur Gewalt, als Jener, der sich von jedem Drucke frei fühlt. 
Es ist ein Zeichen des durchaus gutmütigen und verträglichen 
Naturells der Ruthenen, dass sie sich, ausser in Zeiten, da, 
wie bei Wahlen, die Erregung eine natürliche Erscheinung 
ist, bisher aller Ausschreitungen und Demonstrationen ent¬ 
halten haben. Die Ruthenen in ihrer grossen Masse haben an 
dem Verbrechen Siczynski’s keinen Teil und so wenig man 
ein Volk verantwortlich machen darf für einen seiner Söhne, 
der zum Raubmörder wird, ist es gestattet, die Ruthenen für 
den Attentäter, der den Statthalter aus politischen Motiven 
erschlug, büssen zu lassen. Traurig genug, dass man dies 
erst sagen, ausführen und förmlich begründen muss; aber es 
scheint notwendig zu sein nach dem, was man aus Lemberg 
vernimmt. In der galizischen Landeshauptstadt erhebt eine 
empörende und frevelhafte Agitation ihr Haupt. Polnische 
Hitzköpfe demonstrieren auf den Strassen, stürmen auf ruthe- 
nische Schulen, erschrecken ruthenische Nonnen und was das 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



202 


Ärgste, das Lächerlichste, das Tollste ist, die polnischen 
Beamten eines staatlichen Amtes erklären, sie wollten mit 
ihren ruthenischen Kollegen nicht mehr beisammensitzen, 
diese sollten in eine eigene Abteilung eingereiht werden. Das 
kann nicht anders als nationaler Wahnsinn genannt werden 
und dagegen muss Alles in Österreich, was inmitten des Ober¬ 
handnehmenden Terrorismus ruhiges Blut behält, Stellung 
nehmen“. 

K$llli*d)e Zeitung schildert das galizische Regierungs¬ 
system, dessen Hauptvertreter vielleicht nicht Potocki gewesen 
sei. „Aber der grössere oder geringere Teil von Schuld, die er 
etwa auf sich geladen, spielt bei Beurteilung des Verbrechens, 
dessen beklagenswertes Opfer er geworden ist, eine unter¬ 
geordnete Rolle. Er war die sichtbare Spitze eines Systems, 
gegen das die Ruthenen schwere Anklagen erheben, und nur 
das System ist es, das der Mörder in seiner Person hat treffen 
wollen! Das ruthenische Volk betrachtete die Wahlreform als 
einen Betrug an seinen natürlichen Rechten. Und hier sollen 
es wieder vor allem die Bemühungen des Statthalters ge¬ 
wesen sein, der das zustande brachte. Bei den Wahlen selbst 
spielten wieder alle Mittel des polnischen Verwaltungs¬ 
apparates gegen die ruthenischen Kandidaten. Bei den jüng¬ 
sten Landtagswahlen nun sollten, das war den Ruthenen vom 
Ministerpräsidenten versprochen worden, völlig freie Wahlen 
durchgeführt werden. Allein, wie die Berichte deutlich be¬ 
sagten, scheint der Statthalter sophistisch unter Wahlen nicht 
auch die Wahlen der Wahlmänner verstanden zu haben, denn 
der Verlauf der Wahlmännerwahlen zeigte durchaus das alte 
polnische Rezept. Bei den Wahlen selbst wurde dann aller¬ 
dings der Schein der Freiheit gewahrt. Aber auch hier fand 
der Statthalter nach den Behauptungen der Ruthenen eine 
Hintertür, um die ruthenische Partei, die der polnischen Herr¬ 
schaft am gefährlichsten ist, ein Bein zu stellen. Er gab die 
Parole aus, die sogenannten Altruthenen zu unterstützen, eine 
Partei, die sich mit dem Russentum identifiziert und eine Ver¬ 
einigung mit Russland anstrebt, also direkt hochver¬ 
räterische Ziele verfolgt. Man kann sich denken, dass die 
Erbitterung der Jungruthenen, die die breite demokratische 
Masse des ruthenischen Volkes beherrschen, darüber aufs 
äusserste stieg. Es ist infolge dessen für den, der die Vor¬ 
gänge in Galizien aufmerksam verfolgt, keine unerklärliche 
Sache, dass gerade jetzt diese Erbitterung der Ruthenen 
in einem Mord sich Luft gemacht hat. Es war sozusagen 
ein psychologischer Augenblick. Auch dass die 
Explosion in einem Mord erfolgte, überrascht den auf¬ 
merksamen Beobachter nicht: die Ruthenen, die Glieder 
der russischen Völkerfamilie, haben die Passivität dieser 
slawischen Rasse, aber auch den Hang zur Gewalttat, wenn 
das Mass ihres Duldens voll ist. Die Tat des ruthenischen 


X 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



203 


Studenten Siczynski gehört in die lange Reihe der politischen 
Morde, an der die Geschichte des russischen Volkes, na¬ 
mentlich die allerjüngste, so schrecklich reich ist. Man muss 
diese Tat verdammen wie alle die anderen, denn sie ist eines 
Volkes, das Anspruch darauf macht, zu den zivilisierten ge¬ 
rechnet zu werden, unwürdig und wäre auch in diesem Falle 
nicht einmal als ultima ratio zu entschuldigen, da die Mittel 
des zivilisierten Kampfes um die Völkerrechte noch keines¬ 
wegs erschöpft sind. Aber ohne Lehre ist sie nicht. Sie ge¬ 
mahnt daran, dass es höchste Zeit ist, mit dem System 
der nationalen Vergewaltigung zu brechen.“ 

KfoigSfttrger fiartllllg’SdK Zeitung schreibt: „Das Wiener 
„Fremdenblatt“ behauptet, dass der ruthenischen Nation, 
die zu rächen der Mörder vorgibt, noch niemals grösseres 
Entgegenkommen bezeigt worden sei, als unter der Statthalter¬ 
schaft Potockis, der sich gerne in den Dienst der Politik der 
Regierung stellte, die ehrlich bestrebt ist, den ruthenischen 
Wünschen im Einvernehmen mit den Polen Geltung zu ver¬ 
schaffen. Der Mord ist die Folge verbrecherischer Verwirrung, 
die Tat muss vereinzelt bleiben! Auf die Politik der Regierung 
kann die Mordtat nicht von Einfluss sein. Solchem blutigen 
Terrorismus nachzugeben, wäre der verhängnisvollste aller 
Fehler. In diesen Zeilen des offiziösen Blattes spiegelt sich 
die Anschauung der österreichischen Regierung wieder. Dass 
die Regierung davor warnt, durch Terrorismus eine Änderung 
der galizischen Politik erzwingen zu wollen, ist ebenso be¬ 
greiflich wie berechtigt Dass sie aber behauptet, die Ruthenen 
haben es unter dem Statthalter Potocki gut gehabt und das 
Attentat entbehre der sachlichen Begründung, das ist nur ge¬ 
schrieben worden, weil die Regierung die Polen braucht und 
— fürchtet. Gegenüber den Ausführungen des offiziösen 
„Fremdenblattes“ möchten wir wiedergeben, was das März¬ 
heft der in Wien erscheinenden „Ukrainischen Rund¬ 
schau“, einer Zeitschrift zur Verteidigung des Ruthenentums 
gegen die polnische Herrschaft schreibt: (Hier wird ein Ar¬ 
tikel der U. R. zitiert.). 

Selbst die deutsch-offiziöse „Nordd. Al lg. Ztg.“ 
geht nicht so weit, zu behaupten, dass die Ruthenen es unter 
der vergewaltigenden polnischen Herrschaft gut haben. Sie 
drückt sich recht diplomatisch aus, wobei zwischen den 
Zeilen zu erkennen ist, dass sie die polnische Misswirtschaft 
verurteilt. Die Ermordung des Statthalters wird keine Ände¬ 
rung in der polnischen Misswirtschaft herbeiführen, gegen 
die seit 1848 von den Ruthenen mit der grössten und gerecht¬ 
fertigten Erbitterung gekämpft wird, ohne dass die Macht der 
polnischen Schlachta gebrochen werden konnte. Aber die 
ruthenische Bewegung ist doch allmählich ein Faktor ge¬ 
worden, den die Polen nicht mehr wie früher mit einer ele¬ 
ganten, verächtlichen Handbewegung ausschalten können; die 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



204 


Ruthenen haben es auch verstanden, sich die Sympathien 
Europas zu gewinnen. 

CtiPZigtf Cagefclutt verurteilt das Attentat aufs schärfste, 
nimmt aber dasselbe zum Anlass eines Ausfalles gegen die 
Polen. „Aber der Schuss, den der Lemberger Student ab¬ 
gefeuert hat, gibt doch noch eine besondere Lehre: er galt 
dem Führer desselben Volkes, das bei uns nicht laut genug 
über Gewalt und Übeltat klagen kann, wenn wir, die ihm die 
Kultur gebracht haben, Gehorsam gegen die Gesetze ver¬ 
langen, das aber mit der schmählichsten Tyrannei -die Minder¬ 
heiten unterdrückt, wo der geschichtliche Zufall ihm die 
Macht in die Hände gab.“ 

neue freie Presse, Wien: „Die schreckliche Ermordung des 
Grafen Potocki ist jedoch nicht das einzige Unglück, das 
dieser noch nicht vollmündige Verbrecher angerichtet hat. 
Nicht minder schrecklich ist das Unheil, dass ein blutiges 
Gespenst zwischen Polen und Ruthenen steht. Beide. Volks¬ 
stämme bewohnen Galizien, beide müssen das Schicksal 
dieses Landes teilen und zahllose gemeinsame Interessen 
haben. Jetzt drängt sich dieser Mörder zwischen sie und ver¬ 
tieft noch den gegenseitigen Hass. Das geschieht in einem 
Augenblick, in welchem die Ruthenen mit Hilfe des allge¬ 
meinen Stimmrechts als stärkere Macht in das Zentralparlament 
zurückgekehrt sind und sich dort bereits wiederholt Gehör 
verschaffen konnten(?). Sie klagen über das bitterste Unrecht 
in der Wahlreform, aber sie fühlen dennoch, dass sie schon 
durch ihre jetzige parlamentarische Vertretung in eine ganz 
neue Epoche ihrer nationalen Entwicklung gekommen sind. 
In diesem hoffnungsvollen Moment kommt ein ruthenischer 
Student und schiesst den Statthalter, den bisher niemand 
wegen Grausamkeit oder auch nur persönlicher Voreinge¬ 
nommenheit getadelt hat, meuchlerisch nieder. Graf Potocki, 
ist durch das Verbrechen eines Toren umgebracht worden.“ 
neue Preu$$i$d>e (Kreuz-) Zeitung, Berlin, berichtet: 
„Seit Jahrhunderten haben die Polen mit allen Mitteln 
versucht, die Ruthenen zu entnationalisieren und zu polo- 
nisieren, hatten indessen Erfolge nur gegenüber dem 
ruthenischen Adel, während der ruthenische Bauer an 
seiner Nationalität festgehalten hat und gegenwärtig wesent¬ 
lich infolge des polnischen Druckes grösseres National¬ 
bewusstsein besitzt als je zuvor. In Galizien zeigt sich noch 
jetzt, dass die polnische Herrschaft die gewalttätigste ist, 
und weit begründeter als die Klagen der Polen in Preussen 
sind diejenigen der Ruthenen in Galizien über nationale 
Unterdrückung. Seitdem das deutschliberale Bürgerministerium 
im Jahre 1867 aus Parteirücksichten Galizien der polnischen 
Herrschaft überliefert hat, sind die Ruthenen und Deutschen 
nahezu rechtlos geworden. Galizien gilt in den Augen aller 
Polen als ein Kristallisationspunkt für ihre 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



205 


künftige staatliche Wiedergestaltung. Tat¬ 
sächlich herrschen sie dort nahezu unbeschränkt und beein¬ 
flussen Gesetzgebung und Verwaltung einzig und allein nach 
Massgabe ihrer nationalen Interessen. Nach der beklagens¬ 
werten Ermordung des Statthalters ist von den Polen zu be¬ 
sorgen, dass sie die Ruthenen noch rücksichtsloser als bis¬ 
her entrechten und unterdrücken werden. Hoffentlich fühlt 
man sich in Wien nachgerade stark genug, einer einseitigen 
Herrschaft des Polentums in Galizien Grenzen zu ziehen, um 
eine Versöhnung der Nationalitäten auch in Galizien anzu¬ 
bahnen, vor allem aber im Interesse des Gesamtstaates und 
der Dynastie selbst. Denn die Loyalität, die von den Polen 
in Galizien zur Schau getragen wird, ist, wie anderwärts, nur 
eine bedingte, nur eine Loyalität mit Vorbehalt. 
Unausgesetzt denken sie an die Wiederherstellung eines 
selbständigen Königreiches. Allein es lasst sich dieses Ziel in 
Wien nicht als Aushängeschild benutzen, so äusserte sich ein¬ 
mal der frühere Abgeordnete v. Bilinski, heute Präsident der 
Österreichisch-Ungarischen Bank, da müsse man fein diplo¬ 
matisch zu Werke gehen und es der Vorsehung überlassen, 
ob sie sich nicht etwa Österreichs zur Wiederaufrichtung 
Polens bedienen werde. Es gäbe weder österreichische, noch 
preussische, noch russische Polen, sondern nur polnische 
Polen. Dagegen sind die Ruthenen entschieden zuverlässiger, 
kaisertreu und reichsfreundlich und haben sich von den pan- 
slavistischen Verlockungen nicht bestricken lassen, obwohl 
seit 1867 alle Ministerien in Österreich das Polentum begün¬ 
stigten, weil es mit seiner unverhältnismässig grossen Zahl 
von Vertretern im Abgeordnetenhause das Zünglein an der 
Wage bildete. Gleichwohl waren die Polen bemüht, in Wien 
die Ruthenen gelegentlich zu verdächtigen, als ob sie zu dem 
stammverwandten Russland hinneigten. Ein glänzendes Zeugnis 
stellte Kronprinz Rudolf den Ruthenen aus, als er Mitte 1887 
Galizien bereiste. Damals versicherte er gegenüber den ruthe- 
nischen Abordnungen im Namen des Thrones wiederholt, „dass 
Wir das wärmste Interesse hegen für Ihre kaisertreue Nation, 
die zu allen Zeiten ihre Ergebenheit für den Thron bewiesen hat.“ 
Von Wien aus sollte man bemüht sein, die Ruthenen enger an 
Österreich zu fesseln, man sollte ihre Gleichberechtigung in 
Galizien, die gegenüber dem polnischen Regiment nur auf 
dem- Papier steht, wirklich durchführen, etwa durch Wieder¬ 
herstellung eines nationalen Verwaltungsgebietes für das 
ruthenische Galizien, wie es einst Graf Stadion plante und 
wie es unter Bach bereits bestand.“ 

neues Ul jener Cagblattt „Es kann nicht geleugnet werden, 
dass den Ruthenen in Galizien noch nicht i*n vollem 
Masse jene Möglichkeiten der freien kultu¬ 
rellen Entwicklung zur Verfügung stehen, auf die sie 
nach den Grundsätzen der österreichischen Verfassung An- 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



206 


Spruch haben, und erst jüngst ist im Parlament die Not¬ 
wendigkeit anerkannt worden, für die Ruthenen eine eigene 
Universität zu schaffen. Aber wenn man ein Mass ihrer 
schwankenden politischen Orientierung haben will, so genügt 
es zu erwähnen, dass sie dieses Zugeständnis, das 
vielleicht noch mehr bedeutet, als was sie bisher forderten, 
jetzt von sich weisen und erklären, sie wollten 
keine neue Universität, und nur vollständige 
Umwandlung der jetzigen polnischen Hoch¬ 
schule in Lemberg in eine ruthenische würde sie be¬ 
friedigen.*) An solchen und ähnlichen Dingen ist bisher jeder 
Versuch eines Ausgleiches zwischen Polen und Ruthenen 
gescheitert. Als Graf P o t o c k i den Posten eines Land¬ 
marschalls von Galizien verliess, um Nachfolger des Grafen 
Pininski im Statthalterpalais zu werden, war es eine seiner 
ersten Sorgen, einen solchen Ausgleich zu 
versuchen. Graf Potocki war ja in allen ruthenischen Dingen, 
wie gesagt, einer der Einsichtigsten, der Nach¬ 
sichtsvollsten und der Entgegenkommend¬ 
sten, sein Lebenswerk galt der Herstellung 
des nationalen Friedens in Galizien — das ist 
das hohe Vermächtnis, dessen Ausführung die Aufgabe der 
Polen und der Ruthenen, die Pflicht der kommenden Tage ist.“ 

0$tschlc$i$chc Deutsche Zeitung: „Die allgemeine Erbitte¬ 
rung gegen die Ruthenen in Galizien ist gross und besonders 
ist es wieder die polnische akademische Jugend, welche die 
ruthenischen Kommilitonen mit Repressionen bedroht. Vor¬ 
aussichtlich wird die Regierung solche Verschärfungen des 
nationalen Hasses nicht zulassen zwischen zwei Völkern, die 
das Schicksal einmal bestimmt hat, neben- und zwischen¬ 
einander zu wohnen. Es wird den Polen Mässigung ihres 
schwer verletzten nationalen Empfindens auch aus dem Grunde 
zu empfehlen sein, weil sie von nationaler Einseitigkeit ver¬ 
blendet, zur Glorifizierung des politischen Mordes 
durch den Wadowitzer Freispruch der Attentäterin 
Dobrodzicka sich haben hinreissen lassen. Kann der Ver¬ 
brecher Siczynski nicht auch durch die Lobeshymnen der 
polnischen Blätter auf den Freispruch der Mörderin des 
Warschauer Gouverneurs Skallon und die Verherrlichung der 
nationalen Märtyrerin bestimmt worden sein, sich diese billige 
Volksgunst zu erkaufen durch eine Tat, die denn doch nichts 
anderes ist als ein Verbrechen! Was der Dobrodzicka 
recht war, muss dem Siczynski billig sein. 


*) Es ist schade, dass die Redaktion des Blattes den Quell dieser 
Information nicht angibt, weil diese Behauptung schon dadurch hin¬ 
fällig wird, dass die Ruthenen noch nicht in Versuchung geführt wurden, 
eine Universität zurückzuweisen, nachdem ihnen bis jetzt eine solche 
noch von keiner Seite angetragen wurde. Die Redaktion. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



207 


Recht muss Recht bleiben unter allen Um¬ 
ständen.“ 

Prager Cagblatt, 14. April: „Wie immer man über die Tat 
selbst denkt, ob man nun den Täter unter die gemeinen Ver¬ 
brecher einreiht oder ihm durch das Epitheton „politisch“ einen 
Milderungsgrund zugesteht, immer wird man nach dem Kausal¬ 
nexus suchen müssen, der diese subjektiv verwerfliche Tat 
objektiv erklärt, denn jedes Geschehen, mag es subjektiv noch 
so unvernünftig und verwerflich sein, hat doch allemal seine ob¬ 
jektiv vernünftigen Ursachen. Und damit kommen wir auf eines 
jener wunden Dinge Österreichs, auf die polnische Frage, die sich 
seit Jahrzehnten durch unsere Geschichte zieht, ohne sich 
irgendwie sonderlich geändert zu haben. Wenn Giskra einmal, 
allerdings in den Sechzigerjahren, sagen konnte: „Bei Boden¬ 
bach hört die soziale Frage auf!“, so konnten Galiziens 
Machthaber mit mehr Recht noch sagen: An unseren Grenzen 
hört die Entwicklung auf. Mögen Geschichtsphilosophen und 
andere Optimisten immerhin mit dem Entwicklungsgedanken 
spielen, in Galizien bleibt die Geschichte stehen und wird 
stehen bleiben, solange wir es wünschen und wollen“. Man weiss, 
mit welchen Schwierigkeiten die Ruthenen seinerzeit im Wahl¬ 
reformausschuss zu kämpfen hatten, um nicht alle Früchte der 
Reform zu verlieren. Dennoch mussten sie sich gefallen lassen, 
mit einem Ausnahmewahlrechtabgespeist zu werden, das nach 
dem Schema eines komplizierten Minoritätswahlrechtes den 
Polen, die im Lande die Minorität bilden, doch noch die Rechte 
der Majorität sicherte. Die Ruthenen konnten diese Gestaltung 
der Dinge trotz des Exodus aus dem Wahlreformausschuss 
und trotz des erneuerten Protestes nicht hindern. Die Wahlen 
selbst, die unter dem Hochdruck der polnischen Regierung 
vorsichgingen, haben den Hass der Ruthenen noch verschärft, 
und erst recht die letzten Landtagswahlen waren nicht darnach, 
den Frieden im Lande zu fördern. Dass es mit der Erfüllung der 
kulturellen Bedürfnisse der Ruthenen sehr schlecht bestellt 
ist, wissen wir, und wer es nicht wusste, ward durch den 
merkwürdigen Hungerstreik ruthenischer Studenten auf dieses 
Kapitel aufmerksam. Graf Potocki ist tot und die ver¬ 
brecherische Tat wird ihre Sühne finden, aber damit sollte 
man sich nicht begnügen. Es scheint höchste Zeit zu sein, 
endlich einmal auch in dem dunkelsten Österreich ein bischen 
Licht zu machen. 

$d)le$i$d)t Zeitung, 16. April: „Die reichsdeutsche pol¬ 
nische Presse bemüht sich, aus dem Attentate auf den gali- 
zischen Statthalter gegen das Deutschtum politisch Kapital 
zu schlagen. Der „Kurjer Posnanski“ meint, die national¬ 
ukrainische Partei habe durch den Anschlag den Preussen 
einen Gefallen erwiesen. Der preussische Einfluss würde in 
Wien eine Reaktion gegen die Ruthenen verhindern. Der 
„Dsiennik Berlinski“ behauptet, die gewissenlose ruthenische 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



208 


Agitation sei durch den preussischen Taler gefördert worden. 
Mit Recht protestiert das „Posener Tageblatt“ auf das ent¬ 
schiedenste gegen diese Versuche der polnischen Presse, den 
Deutschen eine moralische Mitschuld an dem Attentate auf¬ 
zuhalsen, indem es gleichzeitig daran erinnert, dass die Gärung, 
die zweifellos seit den letzten Wahlen wegen der geradezu 
zahllosen Gesetzwidrigkeiten der polnischen Wahlmacher 
unter den Ruthenen bestand, dadurch noch gewachsen sei, 
dass ein polnisches Gericht in Galizien den politischen Mord 
als ein erlaubtes Mittel im politischen Kampfe betrachtet 
habe: „Die Wanda Dobrodzicka, die sich offen rühmte, den 
Mordversuch gegen den Generalgouverneur von Warschau 
unternommen zu haben, wurde in Galizien freigesprochen, 
ohne dass der Staatsanwalt dagegen Revision eingelegt hätte! 
Das gesamte Polentum nahm jenen Freispruch mit jubelnder 
Begeisterung auf. So mag sich in dem Hirn des ruthenischen 
Studenten der Gedanke festgesetzt haben, dass auch er zum 
politischen Morde greifen dürfe, wenn die Polen darin sogar 
eine patriotische Tat, ein rühmenswertes Heldenstück er¬ 
blicken. Die polnische Presse hätte also allen Grund gehabt, 
die moralisch Mitschuldigen im eigenen Lager zu suchen.“ 
Cage$P0$t, Graz, vom 14. April bringt einen Leitartikel 
unter dem Titel: „Die österreichische Methode“ als 
Entgegnung auf den Artikel des „F r e m d e n b 1 a tt“ unter 
dem Titel „Die russische Methode“: „Die österreichische 
Methode, meint das „Fremdenblatt“ anlässlich des traurigen 
Attentates in Lemberg, dürfe nicht von der russischen oder 
mazedonischen Methode verdrängt werden. Gewiss die 
Meinung aller guten Patrioten und der Wille derselben. War 
aber das, was man in den Verhandlungen des österreichischen 
Abgeordnetenhauses seit Jahren über die galizischen Wahlen 
vernehmen musste, eine Förderung der österreichischen Me¬ 
thode, oder wurde da nicht vielmehr die österreichische durch 
die galizische Methode aufgehoben? Man erzählt uns heute, 
dass die letzten Wahlen wahre Desperados ruthenischer Kan¬ 
didaten ins Haus gebracht habe. Aber würde das ruthenische 
Volk diese Desperados gewählt haben, bei allem Drucke, 
unter dem die Wahlen sich vollzogen, gewählt haben, wenn 
nicht eben die Stimmung im ruthenischen Volke eine desperate 
gewesen wäre? Und man gestattet zu erwähnen, dass wir 
einmal an das unnatürliche Bündnis erinnerten, das die Polen 
bei den Landtagswahlen dieses Winters zur Unterdrückung 
der einflussreichsten Ruthenenpartei geschlossen haben. Be¬ 
kanntlich bildeten sich in den letzten Jahren unter den Ruthenen 
zwei Parteien, die altruthenische, die die Ruthenen als Russen 
der Nation nach auffasst und die russisch gesinnt ist und die 
Ukrainer, die die Ruthenen als selbständige Nation auffassen. 
Diese letztere, den Russen abgeneigte Partei, ist die weitaus 
einflussreichste der Ruthenen, und um diese zu treffen, 


Digitized by 


Go», igle 


Original frorri 

END1ANA UNfVERStTY 



Ü09 


schlossen die Polen ein Wahlbündnis mit den russnrak-g£- 
sinnten Altruthenen. Würde in Galizien, schrieben wir damals, 
österreichisch regiert werden und nicht polnisch, so hätte 
man den Russophilen nicht die Hand geboten und alles wäre 
geschehen, um die freie Entfaltung des demokratischen Ru- 
thenen(Ukrainer)tums zu begünstigen. Und das ists ja. In 
Galizien wird seit Jahrzehnten nicht im österreichi¬ 
schen Sinne, sondern im polnischen regiert. 
Wo bleibt da die österreichische Methode des nationalen 
Kompromisses? Sie ist, wie alles was von Wien kommt, 
mit Höflichkeiten an der galizischen Grenze abge\yiesen 
worden. Und an ihre Stelle setzte man in Lemberg die pol¬ 
nische Methode, während man in Wien genug getan zu haben 
glaubte, wenn man den Schlachzizen gelegentlich einen wohl¬ 
wollenden Wink gegeben hatte. Das tragische Ereignis in 
Lemberg hat die Unzulänglichkeit der österreichischen Me¬ 
thode, sich von einem energischen Eingreifen in Galizien ab¬ 
halten zu lassen, aufgezeigt, es hat die Sünden der polnischen 
Adelswirtschaft, die selbst die intellektuellen Kreise des Polen- 
tums korrumpiert, aufgezeigt, es hat die trostlose geistige 
Verfassung des Ruthenentums aufgezeigt, das sich in den 
Wahnwitz terroristischer Taktik zu versinnen beginnt. Man 
hat seit Jahren im Abgeordnetenhause auf die galizische 
Wirtschaft hingewiesen, auch deutsche Abgeordnete haben 
ihre warnende Stimme erhoben, aber unsere Polenpolitik be¬ 
stand in einer Verhätschelung der polnischen Magnaten und 
des polnischen Kleinadels, deren ungeschickten Händen man 
die Verwaltung einer der wichtigsten Provinzen des Reiches 
kontrollos überliess. Finanzminister Korytowski könnte ja 
auch ein Lied davon singen, wie beliebt er bei dem polni¬ 
schen Adel wurde, als er als Finanzdirektor in Galizien das 
Steuerwesen ernst zu nehmen begann. Die österreichische 
Methode hat eben wohl viel guten Willen, aber häufig keine 
Tatkraft.“ 

C4gC$-Po$t, Linz, 14. April: „Der Revolverschuss, der im 
Empfangssaale des Statthalterpalais in Lemberg erdröhnte, 
wird ein lebhaftes Echo ausserhalb Galiziens erzeugen. Die 
galizianischen Polen sind ja immer die ersten, die über Unter¬ 
drückung klagen und die Sympathien der Freiheitlichen aller 
Länder für sich aufrufen, da, wo sie selbst in der Minderheit 
sind. Wie jammern und klagen sie gerade jetzt wieder über 
Vergewaltigung, die ihnen durch den neuen Kurs der preussi- 
schen Polengesetzgebung in den deutschen Ostmarken an¬ 
getan wird. Die Massnahmen der preussischen Regierung 
bleiben streng auf dem Boden von Gesetz und Recht, die 
preussischen Polen geniessen alle die Vorteile eines geord¬ 
neten Staatswesens und einer gerechten und guten Verwaltung 
und trotz aller Hetzereien der polnischen Führer und der 
Geistlichkeit hat sich die Bevölkerung niemals zu solchen 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



210 


Gewalttätigkeiten hinreissen lassen, wie sie in Galizien an der 
Tagesordnung sind. Die politische Erbitterung hat trotz allen 
Schürens nie den Grad erreicht, dass es zu ähnlichen Atten¬ 
taten auf die preussischen Regierungsbeamten gekommen 
wäre. Trotzdem bezeichnen die Polen aller Länder die Be¬ 
handlung ihrer Konnationalen in den Ostmarken als einen 
Schandfleck der Menschheit und wollen die ganze Welt gegen 
Preussen mobilisieren. Da ist es nun gut, dass wieder ein¬ 
mal durch die öffentliche Erörterung des Attentates der 
Schleier weggerissen wird vom wahren Charakter des Polen- 
tums, und gezeigt wird, wie unerträgliche Zustände da 
herrschen, wo die Polen die Zügel der Regierung in der 
Hand haben und in der Lage sind, andere Nationen zu 
knebeln und zu schikanieren. Diese Kleinrussen in Galizien 
sind vom selben Fleisch und Blut wie ihre russischen Brüder, 
wie diese stets bereit, die Persönlichkeit im politischen 
Kampfe einzusetzen und fremdes Blut zu vergiessen. Wie 
horchte man im vorigen Sommer im österreichischen Reichs¬ 
rate auf, als anlässlich der Debatte über die galizianischen 
Wahlen die Ruthenen für einige Zeit die Verhandlungen durch 
den Vortrag ihrer nationalen Hymnen mehr abwechslungs¬ 
reich gestalteten als verschönten. Es waren sehr kampflustige 
und revolutionäre Töne, die in diesen Liedern erklangen: 
„Unsere Feinde werden verschwinden wie der Tau in der 
Sonne. Auch wir Brüder werden zur Herrschaft gelangen in 
unserer Heimat. Unser Leben und unsere Seele werden wir 
hingeben für unsere Freiheit und wir werden zeigen, dass 
wir vom Kosakengeschlechte herstammen.“ Solche Stellen 
kamen in diesen Liedern vor und der junge ruthenische 
Student, der jetzt als Rächer seines Volkes auftrat, hat wohl 
oft und oft den Klängen dieser Heimatsweisen gelauscht und 
hat daraus jene Erbitterung gegen die Feinde seines Volkes 
gesogen, die ihn zu der Tat drängte. Die Mordtat an dem 
•Statthalter, der ja auch der Angehörige einer der vornehmsten 
polnischen Familien des Landes war, wird die Beziehungen 
beider Nachbarvölker auf lange Zeit vergiften und die Natio¬ 
nalitätenkämpfe im Königreiche der Schlachzizen dürften in 
nächster Zeit noch schärfer und noch erbitterter geführt 
werden.“ 

Das Uaterlaltd, Wien, Nr. 173, Artikel „Pistolen¬ 
schüsse als Warnungssignal“: „Es gehört die ganze 
Überspanntheit eines mit dem Wesen und Betrieb ernster 
politischer Ursachen und Wirkungen durchaus ferne stehen¬ 
den Menschen dazu, anzunehmen, die Ermordung des Statt¬ 
halters von Galizien werde das ruthenische Volk auch nur 
um einen Schritt der Erfüllung politischer und nationaler 
Wünsche näher bringen. Es wäre eine solche An- 


*) Vergl. Artikel: Graf Andreas Potocki als Statthalter. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



211 


nähme vielleicht dann noch denkbar gewesen, 
wenn der Ermordete die Ruthenen gehasst 
hätte,*) wenn er persönlich ein Hindernis für den Sieg 
gerechter politischer Forderungen gewesen wäre. Aber das 
gerade Gegenteil war der Fall: Graf Potocki war die Güte 
und Versöhnlichkeit selber, er war ein Freund der Gerechtig¬ 
keit und er suchte allen gerecht zu werden, die sich hilfe¬ 
suchend an ihn wandten. Darum wird sich auch wohl nicht 
ein einsichtiger Ruthene finden, der nicht jene Mordtat ver¬ 
urteilte, eine Mordtat, die verübt wurde, als der Statthalter 
selbst seinen Sonntag wieder opferte für das Wohl des ihm 
anvertrauten Volkes“. — »Gar unheimlich knallten die Re¬ 
volverschüsse aus dem Lemberger Statthaltereipalaste herüber 
in den ganzen Wirrwarr nationaler Streitigkeiten. Sie machten 
uns auf den Abgrund aufmerksam, dem wir entgegentreiben, 
wenn nicht allseits ernsthaft der Friede gesucht und gewollt 
wird. Würde man sich bemühen, die einzig richtigen und 
nächstliegenden Lehren aus der Lemberger Untat zu ziehen, 
dann hätte wahrlich dieser unreife Verbrecher sich — leider 
unter Opferung eines edlen Menschenlebens — für unsere 
Monarchie als einen Teil der Kraft erwiesen, „die stets 
das Böse will und doch das Gute schafft“. 

UorwärtS, Berlin, 15. April: „Das Attentat auf den Statt¬ 
halter von Galizien hat nicht nur in Galizien, sondern in ganz 
Österreich-Ungarn nachhaltige Erregung hervorgerufen. Be¬ 
sonders gibt natürlich die polnische und polenfreundliche 
Presse ihrem Abscheu über die Tat des ruthenischen Studen¬ 
ten Siczynski Ausdruck, der als feiger Meuchelmörder und 
verkommenes Subjekt hingestellt wird, während der Graf 
Potocki als Muster eines liebenswürdigen, gerechten Staats¬ 
mannes gefeiert wird. In der ersten Reihe marschiert natürlich 
bei diesem Treiben das Wiener „Fremdenblatt“, das sich 
folgendes Urteil leistet: (Es wird hier der auch von uns oben 
angeführte Teil eines Artikels des „Fremdenblatt“ wieder¬ 
gegeben. D. R.). 

Wie falsch dieses Urteil ist, zeigt allein schon die Tat¬ 
sache, dass der Attentäter nicht nur von den ruthenischen 
Studenten als Märtyrer gefeiert wird, sondern selbst unter ge¬ 
reiften Männern Sympathie findet. Tatsächlich ist es die bru¬ 
tale Unterdrückung der Ruthenen durch die Polen in Galizien, 
die das Attentat heraufbeschworen hat. Die polnische Schlachta 
hat in Galizien ein Stück der alten polnischen Adelsrepublik 
aufgerichtet. Mit allen Mitteln werden die Ruthenen, meist 
Bauern, obgleich sie beinahe die Hälfte der Bevölkerung aus¬ 
machen, vom polnischen Adel niedergehalten und vom staat¬ 
lichen Regiment ausgeschlossen. Charakteristisch dafür ist, 
dass bei den letzten vor sechs Wochen stattgefundenen 
Landlagswahlen die Ruthenen von 145 Mandaten nur 21 
erhielten.“ 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



212 


0O$$Ud)t Zeitung, Berlin, Nr. 176: „Es ist weit mit 
Galizien gekommen, wenn auch dort, nach dem Beispiel des 
russischen Nachbarlandes, der Meuchelmord zum politischen 
Verteidigungsmittel wird. In wilden (!) Agrarunruhen tobt sich 
von Zeit zu Zeit der Groll des ruthenischen Bauern gegen 
den polnischen Grundbesitzer aus; in grimmigen Wahl¬ 
schlachten, die reich an Menschenopfern sind, versucht es die 
ruthenische Wählerschaft immer wieder vergebens, das Joch 
zu brechen, das ihnen der polnische Verwaltungsapparat 
auferlegt; in stürmischen Kundgebungen an der Lemberger 
Universität kämpft die studierende ruthenische Intelligenz, 
hinter der die gesamte ruthenische Bürgerschaft steht, gegen 
die Entrechtung an, unter der das Volk leidet. Es ist viel 
Zündstoff im Laufe der Jahre angehäuft worden, aber die 
Polen, denen das Land von der Wiener Zentralregierung aus¬ 
geliefert ist, haben unbekümmert darum ihren eigensüchtigen 
Weg weiter verfolgt. Sanfte Mahnungen, die hin und wieder 
von Wien her ertönten, fruchteten nichts, und selbst schärfere 
Warnungen, wie sie einst der frühere Ministerpräsident v. 
Koerber im Parlamente ergehen Hess, blieben wirkungslos. 
Ein entschiedenes Einschreiten gegen die ständigen Amts¬ 
missbräuche in Galizien hat noch keine der österreichischen 
Regierungen gewagt. Offenbar denkt man in Wien, dass gegen 
Naturnotwendigkeiten nicht anzukämpfen ist, und Missbräuche 
in der Verwaltung sind eben dort, wo die Polen die Macht 
in Händen haben, eine unumgängliche Sebstverständlichkeit.“ 
Es wird in der Folge ein Teil des Artikels über die Land¬ 
tagswahlen aus der letzten Nummer der „Ukrainischen 
Rundschau“ nachgedruckt, worauf Folgendes zu lesen ist: 

,Statthalter Graf Potocki mag persönlich nicht alle die 
Schreckenstaten gutgeheissen haben, die seine Untergebenen 
verübten, aber, an der Spitze der Landesbehörden stehend* 
hatte er die Verantwortung dafür zu tragen. Das Aller¬ 
schlimmste indes war, das auch in diesem Falle die Recht¬ 
losigkeit der Ruthenen gegenüber den Polen zu Tage trat. 
Der verblendete Jüngling rächte sie an dem Grafen Potocki. 
Er wird seine entsetzliche Tat schwer zu büssen haben, doch 
damit wird die Ursache, die ihm die Mordwaffe in die Hand 
gedrückt hat, nicht aus der Welt geschafft sein, und die 
Feindschaft zwischen Polen und Ruthenen wird sich nicht 
besänftigen, sondern nur noch mehr emporflammen. Die Er-r 
regung in Galizien ist durch die Tat des jungen Ruthenen 
aufs höchste gesteigert worden. Beide Nationalitäten des 
Landes haben nun ihre Märtyrer, und weitere ernste Zwischen¬ 
fälle sind sicher noch zu erwarten.“ 

Die Wage, Wien, 18. April, Artikel „Der Statthalter¬ 
mord“: „Die Tat des ruthenischen Studenten Siczynskyj, 
welcher der bedrückten Sache der ruthenischen Minderheit 
in Galizien durch einen Mordanschlag auf den polnischen 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



213 


Statthalter dieses Kronlandes, Grafen Andreas Potocki, zu 
helfen vermeinte, ruft Geister und Gespenster der Verge¬ 
waltigung und Bedrückung in solcher Anzahl hervor, dass 
sie fast den natürlichen Abscheu und die Entrüstung ver¬ 
decken. — Die Polen üben als Mehrheit und Regierung in 
Galizien einen derart unerträglichen nationalen und poli¬ 
tischen Druck auf die andersnationalen Minderheiten aus, 
dass im Schosse dieser an die Wand Gepressten Reden und 
Taten fallen, die wohl in einem jungen exaltierten Menschen 
den unreifen Gedanken auslösen können, durch die Ermor¬ 
dung einer Spitze der Majorität einer bedrückten Minderheit 
helfen zu können. Diese ruthenische Bewegung kann nicht 
aus Totenachtung für den Grafen Potocki aus der Welt ge¬ 
leugnet werden. Es ist müssig zu erörtern, ob Andreas 
Potocki persönlich gemässigt war und seine Bemühungen 
auf einen polnisch-ruthenischen Ausgleich richtete — daher 
gerade der Anschlag gegen ihn ein umso grösseres Unrecht 
gewesen sei. Potocki stand sicher in weit grösserer Ab¬ 
hängigkeit von den Schlachzizen, als ihm selbst als hochge¬ 
bildeten Menschen und als Haupt der Landesverwaltung lieb 
war. Aber der verabscheuungswürdige Anschlag wird — wenn 
schon nicht in Lemberg, so doch in Wien — darüber zu 
denken geben, dass es nicht ohne Lockerung der politischen 
Moral abgehen könne, nationale Minoritäten einfach zu 
unterdrücken und zu ignorieren.“ 

Die Seit: „Auch die massloseste Übertreibung 
kann nicht behaupten, dass gegenwärtig in Galizien 
ein Unterdrückungssystem herrsche, dessen Bruta¬ 
lität die verzweifelte Abwehrtaktik des Meuchelmordes recht- 
fertigen würde. Vor zehn oder fünfzehn Jahren mag 
es ja anders gewesen sein, damals, als die Willkür¬ 
herrschaft der Schlachta in Galizien noch ungebrochen war 
und auf ihren eigenen politisch und sozial unterdrückten 
Volksgenossen nicht minder schwer lastete, als auf den 
national unterdrückten Ruthenen. Aber die Badenische Re¬ 
gierungsmethode, in westösterreichisches Licht getreten, lenkte 
die allgemeine Aufmerksamkeit ihrem Ursprungsboden zu. 
Damals wurde Galizien sozusagen politisch entdeckt, und die 
öffentliche Kritik leuchtete so gründlich in die polnische 
Adelswirtschaft hinein, dass diese mit ihren Schleiern zu¬ 
gleich auch ihre Kraft und ihren Halt verlor.“ 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



214 


Die Gattung der politischen Preise. 

Die Ermordung des Grafen Potocki löste unter der polnischen 
Gesellschaft ein ganzes Meer von Gift und Galle gegen die ganze 
ruthenische Nation aus. Wir geben im Nachstehenden einige Stimmen 
der blutgierigen polnischen Presse wieder. Man möge sich ein Urteil 
darüber bilden, wie die polnische Gesellschaft, aus deren Mitte die 
Richter Siczynskyjs hervorgehen werden, beeinflusst und zur Rache 
aufgestachelt wird. 

fioniec polskit „Siczynskyj gehört zu den Studenten, aus welchen 
die ruthenischen Professoren, Popen, Advokaten, Beamten, Abgeord¬ 
nete u. a. schimpflichen Ruhmes entstehen. Das Verbrechen ist so un¬ 
geheuerlich, dass es nicht nach Sühne, sondern nach Rache 
schreit! Von jedem anderen Volke wäre der Verbrecher gelyncht 
worden. 

Denjenigen, welche die ruthenischen Studenten morden, ist es 
gleichgiltig ob sie von schlechten und niederträchtigen oder von 
wahnsinnigen Ruthenen gemordet werden. Der Schluss bleibt immer 
derselbe, nämlich, dass angesichts der Haidamaken edle Menschen 
nicht existieren können. Seit 20 Jahren liefern die Ruthenen immer 
häufigere und abscheulichere Beweise, welch furchtbarer Fehler 
unsere gutherzige Politik des Entgegenkommens gegenüber den rutheni¬ 
schen blutrünstigen Forderungen war. 

Der Urquell, aus welchem sich das Gift ergoss, sind die „Sitsch“- 
Vereine und die ruthenischen Gymnasien. Die „Sitsch“-Vereine sind 
organisierte Räuberbanden. Zum Brand eilen sie nicht, aber 
zum Brandlegen während der Streiks, zum Morden bei den 
Wahlen (!), zum Morden bei polnischen Feierlichkeiten sind sie 
stets bereit. In den ruthenischen Gymnasien werden Jünglinge nach dem 
Muster von Krat und Siczynskyj erzogen, unwissende, blöde Leute, die 
wegen anormaler Veranlagung zur Exklusion sich qualifizieren. Dies 
alles ist noch zu wenig: unlängst verlangte einer dieser räuberischen 
Abgeordneten, dass den vom gleichen Gifte angesteckten Bauern das 
Tragen der Waffen gestattet werde. Es gab immer Völker mit an¬ 
geborenen schlechten Instinkten (wie es heute die 
Deutschen sind), aber ein so abscheulich schlechtes, 
so tief niederträchtiges Volk gab es seit dem Be¬ 
stehendes Menschengeschlechtes noch nicht!“ „Die 
Ruthenen sind ein einzig dastehendes Phänomen, nachdem auf sie 
die Zivilisation so nachteilig wirkt, dass sie nur ihre bestialische 
Natur zu ungeheueren Dimensionem steigert . . . Denn soweit der 
ungebildete ruthenische Bauer .zum Betrug und Diebstahl neigt, 
sind bei den Gymnasiasten diese Eigenschaften in mehr raffinierter 
Art ausgebildet. Das genügt wohl! . . . Den wilden Tieren werden 
die Zähne und Krallen ausgerissen — auch den wilden Haidamaken 
muss man die Merkmale entziehen, welche sie zur Schande und zum 
Verderben der Menschheit machen. Sind jene roh, so seien wir ent¬ 
schlossen und entreissen wir ihnen das, was sie vertiert: Die „Sitsch“- 
Vereine und die Gymnasien. Die „Sitsch“-Vereine muss man auf¬ 
lös e n und deren Mitglieder unter Aufsicht stellen! Nicht ein 
einzigesGymnasium mehr, nicht ein Katheder an der 
Universität, weil diese Giftstätten Schwärme von 
Giftschlangen zum Schaden und zur Schande der Menschheit 
produzieren. Die strengste Aufsicht über die Volks-Lesevereine, 
keinen Heller aus den Landesfonds für ruthenische 
Zwecke! 

Die ruthenische Kultur ist die Apotheose und 
das Synonym des Verbrechens und der abscheulich¬ 
sten Niedertracht. Die Ruthenen sollen sich daher nur an der 
polnischen Kultur bilden können, auf dass sie Menschen werden. Die 
Abgeordneten Wassilko, Budzynowskyj, Baczynskyj und andere ver- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




215 


kündeten mit Zynismus, dass die bisherigen Verbrechen der Ruthenen 
nichts sind gegen diejenigen, die noch erfolgen werden I! Ein anderes 
Volk würde solche Siczynskyj, Budzynowskyj und Baczynskyj augen¬ 
blicklich auf der Stelle gelyncht haben, aber wir mit unserer 
Lammsgeduld dulden auch weiter unter uns verschiedene Gontas und 
Zalizniak (Führer der revoltierenden ruthenischen Bauern im XVIII. 
Jahrhundert. D. R.) — ja es gibt auch solche, die an „Frieden“ glauben. 
— Genug dessen! Genug!! Es wird nicht mehr an der Zeit sein, auf 
Rettung zu sinnen, wenn die Haidamaken das ganze Land gebrand- 
schatzt und die Hälfte von uns hingemordet haben werden! 

DxifRRik polski bringt aus Anlass der Ermordung des Statthalters 
einen Artikel unter dem Titel: „Der Inhalt des Ukrainismus“. Wir geben 
den Ideengang des Verfassers wieder. 

Nach der Ansicht desselben ist die ukrainische Partei nichts 
anders, als eine „Korporation (?) des moralischen Ab¬ 
schaums“, deren ethische Grundlage „satanischer Hass, 
Verrat und Besitzgierde“ ist, sie ist die sizilianische 
Maffia, welche „für den Selbstgebrauch nach dem Muster des 
D i e b s - J a r g.o n s eine spezielle Sprache bildete, und 
trotzdem, dass sie alle Jahre sich verändert, doch'Dank dem Bestreben 
der Maffia das Bürgerrecht erlangt hatte“. Dieser „Jargon“ entwickelte 
sich nicht wie die anderen kulturellen Sprachen auf die Weise, dass 
sie nach allem Erhabenen strebt, sondern sie nimmt die trivialsten 
Ausdrücke, welche ihre „Gelehrten“ bei den niedrigsten Gesellschafts¬ 
klassen entdecken, in sich auf. Der Ukrainismus, aas ist die räube¬ 
rische, auf fette Posten, Diäten und Pensionen 
gierigeBande, welche ein auf dem Leibe des Landes eiterndes 
Abszess bildet. Der Ukrainismus soll angeblich auf die Art ent¬ 
standen sein, dass die Ukrainer seinerzeit den Polen das Offert für 
die Erdrückung der orthodoxen Bewegung in Galizien vorlegten, 
welches die Letzteren annahmen und so wuchs die „giftige 
Schlange“ heran, welche wir, statt sie sofort zu zertreten, weil sie 
ganz offen die haidamakschen Losungsworte auf ihre Fahne nieder¬ 
schrieb, lange, wie von ihr hypnotisiert, auf die Hand zogen und ihr 
sogar die Rechte und Privilegien eines Volkes zuerkannten. Nach der 
Meinung des „geistreichen“ Herrn Verfassers gibt es nämlich über¬ 
haupt kein ukrainisches Volk.“ 


ßackriAtefl. 

Am 12. April 1908 wurde in dem Lemberger Statthaltereigebäude 
der Statthalter Graf Potocki von dem 20jährigen ruthenischen Studenten 
Miroslaw Siczynskyj durch drei Revolverschüsse getötet. Der Attentäter, 
der sich ohne Widerstand festnehmen liess, erklärte, seine Tat für 
die der ruthenischen Nation zugefügten Unbilden verübt zu haben. 
Am gleichen Tage wurde auch die Mutter des Attentäters, die sich 
als Anstifterin zum Attentat bezeichnete, in Verwahrungshaft genommen. 
Die gleichfalls verhafteten Schwestern Siczynskyjs, sowie zwei rutheni- 
sche Studenten, Freunde des Attentäters, wurden in Ermangelung be¬ 
lastender Umstände wieder auf freien Fuss gesetzt. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



210 


Die Ermordung des Grafen Potocki gab Anlass zu wüsten Aus¬ 
schreitungen der polnischen Bevölkerung gegen die Ruthenen. Es 
wurden sämtliche ruthenischen Institutionen beschädigt, darunter ein 
Nonnenkloster, eine Buchhandlung und mehrere Zöglingsheime. Bei den 
Ausschreitungen, die einige Tage andauerten, wurden mehrere 
Ruthenen überfallen und schwer verwundet. Es wird in Lemberg und 
in anderen Städten für die Boykottierung der Ruthenen, besonders 
unter der Kaufmannschaft und der Beamtenschaft, lebhaft agitiert. 


ln der letzten Sitzung der Kijewer Gouvernementsbehörde für 
Vereine und Genossenschaften erhielten zwei neue ukrainische Gesell¬ 
schaften die Bestätigung: die Ukrainische Gesellschaft zur 
Pflege der Wissenschaft, Literatur und Kunst und der 
Ukrainische Geselligkeitsverein in Kijew. Der 
Wirkungskreis des ersteren erstreckt sich auf die Gouvernements: 
Kijew, Podolien, Wolhynien, Poltawa und Tschernihow. 

Der für drei Jahre nach Wologda verbannte ukrainische Schrift¬ 
steller und Mitarbeiter der Ukrainischen Rundschau, Herr W; D o ma- 
nitzkyj, erhielt von dem Ministerium des Innern die Erlaubnis, sich 
ins Ausland zu begeben. Die Wiederkehr nach Russland bleibt ihm 
dabei untersagt. • _ 


Aus Petersburg wird die Herausgabe einer neuen ukrainischen 
literar-wissenschaftlichen Zeitschrift unter dem Titel „Ukrajinetz“ 
(der Ukrainer) angekündigt. _ 


Die Verhandlung gegen den von den ruthenischen Studenten 
wegen Ehrenbeleidigung angeklagten Henryk Sienkiewicz wurde 
für den 18. Mai anberaumt. Die Verhandlung wird leiten Hofrat Dr. 
Feigel. Die Vertreter der ruthenischen Studenten sind Dr. Walther Rode 
und Abgeordneter Dr. Okunewskyj, Verteidiger des Angeklagten Prof. 
Dr. Rosenblatt aus Krakau und Dr. Rabenlechner. 


Reichsratsabgeordneter Dr. Wladimir Ochry'mo wytsch, 
Vertreter des Bezirkes Zalistschyky, legte am 5. April sein Mandat 
nieder. Sein Mandat ging in Besitz seines Stellvertreters Wasyl 
Stefanyk über. Stefanyk schliesst sich der Gruppe der Radikalen 
im Ruthenenklub, deren Zahl nun von drei auf vier stieg, an. Dagegen 
bedeutet der Rücktritt Dr. Ochrymowytsch die Schwächung der 
Nationaldemokraten, die nunmehr über sechzehn Stimmen im 
Klub verfügen werden. Abgeordneter Wasyl Stefanyk ist bekannt als 
einer der bedeutendsten ruthenischen Schriftsteller und als der grösste 
Novellist. Seine Novellen wurden in die verschiedenen europäischen 
Sprachen (deutsch, französisch, russisch, böhmisch, polnisch usw.) 
übersetzt. 


In Kijew gründeten die Anhänger der „echtrussischen“ Partei 
einen „Klub russischer Nationalisten“, dessen Ziel der 
Kampf gegen den Ukrainismus ist. Ein Punkt des Programmes besagt, 
dass das von den Ukrainern bewohnte Territorium ein „echtrussisches 
Land“ sei und dass es „kein kleinrussisches oder ukrainisches Volk“ 
gebe, sondern nur eine Abzweigung der einheitlichen russischen Nation. 
Obmann des Klubs ist der bekannte Ruthenenfeind Prof. Florinskij. 



Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



217 


Biicbereinlauf. 

R o s w a h a, ukrajinskyj deklamator (Sammlung von Gedichten, 
Novellen und Dramen mit Abbildungen der Verfasser). Redigiert von 
Oleksa Kowalenko, Kijew 1908. Preis 1 Rubel, elegant gebunden 
P50 Rubel. 

Antisemitismus und National Judentum. Ein arischer 
Beitrag zur Lösung der Judenfrage. Von Kamilla Theimer. Wien, 
Selbstverlag, 1908. 

Boletim colonial e agricola do estado do parana. 
Coritiba, Brazil 1908. 

Die russische und ukrainische Idee in Öster¬ 
reich. Vom Reichsratsabgeordneten Dmitrij Markow. Verlag von 
Stern, Wien, 1908. 

Nowi tschasy (Neue Zeiten, illustrierte Sammlung). Heraus¬ 
gabe des Aufklärungsvereines „Proswita“, Lemberg 1908. 

Kosa deresa (Sammlung von Gedichten und Erzählungen 
für Kinder). Herausgabe der Kinderbibliothek „Ditotscha Biblioteka“, 
Czernowitz 1908. 

J. Jaroslawenko: Lieder für Männerchor: 1. Final 
(Partitur, Preis 80 h); 2. Stiah (Partitur, Preis 80 h). Verlag der 
„Ukrajinska Nakladnia“, Lemberg 1908. 



Zeitungsnachrichten * 

in Original-Ausschnitten 

über jedes Gebiet, für Schriftsteller, Gelehrte, Künst¬ 
ler, Verleger von Fachzeitschriften, Grossindu¬ 
strielle, Staatsmänner usw., liefert zu mässigen 
- - Abonnementspreisen sofort nach Erscheinen - - 

AOOLF SCHUSTERMANIU, Zeitungs-Nachrichten-Bureau, 

BERLIN 0., Blumenstrasse 80/81. 

Liest die meisten und bedeutendsten Zeitungen uni Zeitschriften der Welt. 

Referenzen zu Diensten. — Prospekte und Zeitungslisten gratis u. franko. 



Digitiz&d by CjCk -öle 


Original from 

INDIANA UN1VERSI 




218 - 


Unentbehrlich für Anfänger in der Französischen u. in der Englischen Sprache 

Le Commengant. The Beginnen. 

(Der Anfänger) 

Preis jedes Lehrt» ach es M. 2 .— (Porto 10 Pf.). 

Unentbehrlich für Weiterfortgeschrittene 

Französisch Englisch ' Italienisch 

Le Repätiteur * The Repeater * II ripetitore 

(Der Wiederholer) 

Preis jeder Zeitschrift M. 1.20 p. Quart. (Porto 20 Pf.) 

Jahresabonnement Mk. 4.80 franko. 

Ausführliche Probebogen und Probenummern gratis und franko. 

Verlag Rosenbaum & Hart, Berlin SW. 48. 


Ruthenische Hausindustrie 

Teppiche und huzulische Ornamentik 

erzeugt in Regie der Filiale des Aufklärungsvereines »Proswita« in Neu-Sandez (Galizien) 
unter dem Protektorat des gewesenen Reichsratsabgeordneten Basil von Jaworskyj, 
überragen sämtliche ähnlichen galizischen Landesprodukte und können, was 
Schönheit der Muster, unverwüstliches Material u. elegante Ausführung 
anbetrifft, den gleichartigen Erzeugnissen des Auslandes angereiht werden. In beiden 
Hinsichten haben aber die Neu-Sandezer Teppiche den unleugbaren Vorzug vor den 
gleichen bosnischen Waren, schon in Anbetracht der bedeutend billigeren Preise. 

Zu besichtigen und zu beziehen in der 

Wiener Handelsfirma „TITAN“, XVIII. Theresiengasse Nr 73, 

im »Sokilskyj Bazar«, Lemberg, Ruskagasse und in der Filiale der »Proswita« in Neu-Sandez. 

Der Reinertrag wird für die mittellose Schuljugend in Neu-Sandez verwendet. 



Alle Maschinen für Hand- und Kraft¬ 
betrieb und Formen in jeder Preislage 

zur gewinnbringenden Verwertung von Sand, Steinbruchabfällen usw. 

zu Mauersteinen, Dachziegeln, Platten, Röhren, Trögen etc. 

Hochlohnende Nebenindustrie mit geringer Kapitalsanlage. 

Man fordere gratis illustrierte Orientieruugsbroschiire Nr. 238. 

Besuch unseres Werkes erbeten. 
Spezialmaschinenfabrik für Sandverwertnng 

Leipziger Cementindustrie Or. Caspary & Co., Makranstädt b. Leipzig. 

Grösste Firma der Branche. Kapital 1,000.000 Mark. 


Digitized by 


Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




219 


Wichtiq fUr österreichische Politiker! 

ist das im Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig erschienene Werk 

Deutsch-österreichische Politik 


Studien über den Liberalismus und über die auswärtige Politik 
Österreichs von RICHARD CHARMATZ. 

Preis 8 Mark. Erhältlich durch alle Buchhandlungen. 


Lemberg, Rus- 
kagasse 


Dnistcr 


Eigenes Haus. 


Die einzige ruthenische Versicherungsgesellschaft. 
===== Gegründet 1892. - 

Versichert Gebäude, Mobilien, Getreide, Futter gegen Brandschaden, 
sehr mässige Prämien ; verteilt den Reingewinn unter die Mitglieder als 
Rückzahlung; in den letzten drei Jahren betrug diese Rückzahlung 8%- 

Die Entschädigungen werden sehr prompt ausgezahlt. In den letzten zehn 
Jahren hat die Gesellschaft in 6064 Fällen im Ganzen 3,187.258 Kronen 

gezahlt. 

Bei Anleihen werden die Polizzen des »Dnister« von der Landesbank 
und von den Sparkassen akzeptiert. 

I 

__ # vermittelt die Lebensversicherungen bei der 

Krakauer Lebe ^Versicherungsgesellschaft und 

ttlflllVlVI 

tritt einen Teil der Provision für die ruthe- 
ni sehen Wohltätigkeitszwecke ab. 

A 












— *220 - 


An die Kunstfreunde! 

Das ukrainische Volk besitzt keine grossartigen Handels¬ 
magazine nnd blüht anch bei ihm keine Weltindustrie, 
aber es ist fähig Sachen zu erzeugen, die infolge ihrer 
hübschen und geschmackvollen Ausführung und künst¬ 
lerischen Form die schönsten Fabrikate überragen. 

TrAlr/Aw/aiurnicua beschlagen mit verschiedenfarbigen 
UUl/iuIAüllgUlSSc Korallchen ln Dessins, wies 

Teller im Preise von 10—100 K 
Rahmen verschiedener Grösse von 10—120 K 
Spazierstöoke, axtförmig, von 10-100 K 
Islneale von 5 K aufwärts 

Federstiele von 1—20 K 
Papiermesser von 1*50—3 K 
Fässchen zu 30 und 4<> K u. a. 

Korallchenerzeugnisse, yer8Chledenf ^ i b ef’ de88iniert » 

Uhrketten für Herren von 2—5 K, für Damen zu 6 K 
Gürtel von 10 bis 100 K 

Haar- and Halsbänder zu 2, 3 u. 5 K. 

^IIati A|,nAii/im|nn a Majolika in verschiedenen Dessins« volks- 
XUIlUi/iUUglllSSU t&mllche Motive): 

Blomenvaeen von 5—100 K 
Wandteller von 2—30 K 

Asohenbecher und Wasohbeoken zu verschiedenen Preisen. 

Stofferzeugnisse 

Gestickte Hemden von 12—30 K 
„ Kravatten zu 4 und 5 K 
,, Handtücher von 6 K aufwärts 
,, Tischdeoken von 30 K aufwärts 

Huzalensohttrzen von 6—20 K 
Hnzallsohe Teppiohe von 30—50 K 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pro Stück. 

Zu beschaffen durch die Firma 

„Sokilskyj Bazar“, 

Gesellschaft für Handel und Industrie in LEMBERG, 

Ruskagasse Nr. 20 (Galizien, Österreich). 



Digitized by 


Go gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




Ukrainische 

Rundschau. 

fierausgeber und Redakteur: 01. Kuschnir. 

Ul. Jahrgang. 1908. Dummer 5. 

(nad)dru<k amtlicher Artikel mit genauer Quellenangabe gestaltet.) 


Ein Blatt aus der kulturellen Enteignungsgescbicbte des 
rutbenisebeu Uolkes. 

(Zur Ernennung Bobrzynskis.) 

Bobrzynski ist also kaiserlicher Statthalter von Galizien 
geworden. Natürlich wollte man auch diesmal nicht von dem 
Grundsätze der „eisernen Hand“ abgehen und tat auch in der 
Hinsicht absolut keinen Fehlgriff. Dr. Bobrzynski ist ein Ge¬ 
lehrter, ein Rechtsgelehrter und Historiker, ein Mann von 
Überzeugung, ein beständiger Charakter — als solcher wird 
er von Seiten seiner Mitnationalen gepriesen und auch wir 
haben keinen Grund, daran zu zweifeln. Zehn Jahre seiner 
Tätigkeit als Vizepräsident des galizischen Landesschul¬ 
rates (nomineller Präsident ist der Statthalter selbst) haben 
ihn als einen Mann von unbeugsamer Willenskraft gezeigt, 
als einen Menschen, der fest entschlossen ist, rücksichtslos, 
allerdings vom Standpunkt des engen Programms des Stan- 
czykentums, seine Ziele zu verfolgen. Er ging sowohl als 
Politiker, wie auch als Pädagoge unentwegt der Doktrin nach, 
wie sie sich aus seiner Geschichtsauffassung ergeben musste, 
nämlich einer despotischen und freiheitsfeindlichen Doktrin. 
Als Historiker stellte er fest, dass Polen an der schlachzizi- 
schen Gleichheit zu Grunde gegangen sei und entwickelte 
sein politisches Programm, aus dem hervorgeht, dass ein 
Staat nur auf der Grundlage einer gesunden sozialen Ungleich¬ 
heit gedeihen könne: keine sogenannten Prinzipien sollen den 
Herrschenden den Weg zur Erlangung von Vorteilen verlegen. 
Eine gesunde politische Pädagogik im Lande soll den Herr¬ 
schenden das Befehlen, die übrige Gesellschaft das Gehorchen 
lehren. Der Geist der Disziplin soll wachgerufen werden, ein 
Gefühl der Verehrung für Persönlichkeiten. Er entwickelte die 

1 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 






‘222 


Stanczykentheorie weiter und bald sollte sich ihm Gelegen¬ 
heit bieten, dieselbe in die Praxis umzusetzen.*) 

Badeni, „die eiserne Hand“, war gerade auf den Statt¬ 
halterposten in Galizien berufen worden. Man suchte nun 
nach einer Persönlichkeit, welche im Sinne der durch die 
Verwaltung wehenden Lüfte das galizische Schulwesen mit 
„eiserner Hand“ zu leiten imstande wäre. Die Wahl fiel auf 
Bobrzynski. Durch volle zehn Jahre war er auf diesem 
Gebiete der schrankenlos Herrschende. Ein Dezennium 
wahren Martyriums für unsere Schule. Er trieb eine reine 
politische Pädagogik ganz im Sinne der Stanczyken, die da¬ 
hinging, das Wachstum der Volksaufklärung mit „pädagogi¬ 
schen“ Mitteln kalt zu stellen. Als absoluter Anhänger des 
historischen Polen trieb er eine Pädagogik, welche aus Ga¬ 
lizien eine polnische Provinz machen sollte und die Ver¬ 
nichtung des Bewusstseins im ruthenischen Volke als einer 
besonderen Nation anstrebte. Bei seinem Amtsantritt erklärte 
er offen, sein Ziel gehe dahin, dass sich die 7 Milli¬ 
onen Einwohner Galiziens a 1 s P o 1 e n f ü h 1 e n 
möchten und glaubte es auf die Art erreichen zu können, 
dass die Volksmassen nicht zur höheren Kultur, sondern zur 
Disziplin und Ergebenheit in seine Ideen erzogen werden 
sollten. Wie der Stanczyke Herrenhausmitglied Fürst Georg 
Czartoryski in öffentlicher Rede erklärte, dass die Bildung 
nicht unumgänglich notwendig sei, da man 
auch ohne solche gut und ehrlich sein kann, 
wie ein anderer Stanczyke, Graf Tarnowski, Universitäts¬ 
professor und Präsident der Krakauer Akademie der Wissen¬ 
schaften im Jahre 1899 anlässlich des antisemitischen Auf¬ 
ruhrs unter den polnischen Bauern schrieb: „es raubten die 
jüngeren Bauern aus der heutigen Schule, dagegen haben die 
alten, gemässigten und gottesfürchtigen Anal¬ 
phabeten nur zugesehen“, — so behauptete der Stan¬ 
czyke Bobrzynski, Chef der höchsten Institution für Volks¬ 
aufklärung, der Bauer brauche keine Bildung. 
Und getreu dieser Maxime gab er im Jahre 1903 eine 
„Instruktion für Lehrer“ heraus, in der es hiess: „Die 
Schule soll die Jugend* über die Aufgaben und Bedingungen 
jener Berufe aufklären, aus welchen die Kinder der be¬ 
treffenden Schule herstammen und welchen sie sich wahr¬ 
scheinlich widmen werden.“ Also eine speziell eingerichtete 
Erziehung für Bauern-, Handwerker- und Beamtensöhne, auf 
dass jeder Schuster bei seinem Leisten bleibe und das ru- 
thenische Bauernvolk sich nicht über die gewöhnliche Bauern¬ 
masse erhebe .... 

Das galizische Schulwesen wird durch die jeweilige 
Zahl der Analphabeten charakterisiert. Das galizische Landes- 

*) Dr. Iwan Franko: Die Grosstaten des Herrn Bobrzynski, 
„Die Zeit“, 1901. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



223 


Schulgesetz von 1873 bestimmt zwar, dass in jedem Dorfe, 
wo sich im Umkreise von einer Meile 40 Kinder im schul¬ 
pflichtigen Alter finden, eine Schule gegründet werden soll, 
aber zehn Jahre darauf konnte festgestellt werden, 
dass im ganzen 200 neue Schulen gegründet wurden, dass 
2500 Gemeinden ohne Schulen sind und kaum 13% der Ein¬ 
wohner lesen können. Der Landtag raffte sich zwar im Jahre 
1887 auf zu der Resolution, dass binnen zehn 
Jahren keine Gemeinde mehr ohne Schule 
sein s o 11, es verstrichen aber volle siebzehn Jahre, darunter 
zehn Jahre der Tätigkeit Bobrzynskis, das Landesbudget für 
das Schulwesen wurde inzwischen von 5 auf 16 Millionen 
Kronen erhöht und der Erfolg war, dass auf 6260 Gemeinden 
es ebensoviel Gemeinden ohne Schulen gab, 
wie vor 17 Jahren, und zwar 2500, dass 700.000 Kinder 
keinen Schulunterricht genossen und die Zahl der An¬ 
alphabeten am Ende des XIX. Jahrhunderts volle 5,021.940 
betrug, also noch gestiegen war. 

Stellt sich die Tätigkeit des Herrn Bobrzynski auf dem 
Gebiete des gesamten galizischen Schulwesens schon so 
miserabel dar, so war dieselbe für die ruthenische Schule 
geradezu vernichtend. Es möge das Faktum genügen, dass 
auf 2000 reinruthenische Schulen, die Bobrzynski zu Beginn 
seiner Tätigkeit traf, er zutvege gebracht hat, dass bei seinem 
Rücktritt keine einzige ruthenische Schule 
mehr übrigblieb. 

Seine Tätigkeit als oberster Chef der galizischen Volks¬ 
aufklärungsverwaltung zeitigte die Folgen, dass Ende des 
XIX. Jahrhunderts von 38 ostgalizischen Bezirken 
20 mit 77% schulpflichtigen Kindern waren, die keinen 
Schulunterricht genossen, während es in Westgalizien 
nur 17 Bezirke gab, die 20 bis 36% solcher Kinder aufwiesen. 

Gewiss ist man dabei geneigt, auf die kulturellen 
Unterschiede bei den beiden das Land bewohnenden 
Völkern und auf deren Kulturfähigkeit und Lust 
zum Lernen zu verweisen. Trommeln doch die Polen 
unausgesetzt die Kunde davon aus, wie die kulturellen Verhält¬ 
nisse in den beiden Ländern beschaffen sind, haben sich 
doch auch ihre Errungenschaften bei der Wahlreform auf die 
kulturelle Überlegenheit gegenüber den Ruthenen gestützt. 
Wir bitten aber, nur die folgenden Daten zu 
beachten, die geeignet sind, gar manchem die Augen 
zu öffnen über die wirklichen kulturellen Verhältnisse bei 
den beiden Völkern, noch mehr aber über die kulturelle 
Aufnahmsfähigkeit derselben; sie sind auch notwendig zum 
Verständnis der Tätigkeit Bobrzynskis. 

Im Jahre 1869, also gleich nach der Übergabe des 
galizischen Schulwesens gab es in Galizien 1293 ruthe¬ 
nische und nur 1055 polnische Schulen, die 


Digitized by 


Go^ 'gle 


INDIANA UNEVERSITY 



224 


von den betreffenden Gemeinden selbst erhalten wurden, ja 
noch i m J a h r e 1873, als schon die vernichtende Tätigkeit des 
Landesschulrates begann, gab es in Ostgalizien im 
Verhältnis zur Bevölkerung mehr'Schulen, als in 
W e s t g a 1 i z i e n. Noch im Jahre 1875/6 waren im ost- 
galizischen Bezirke Zolocziw von den 300 Gemeinden 
desselben nur 7 ohne Schule, im Stryjer Bezirke von 231 
Gemeinden nur 34, im Tarnopöler von 279 nur 32, im Sta- 
nislauer von 203 nur 52 Gemeinden ohne Schule, dagegen 
gab es in Westgalizien in dem reinpolnischen Bezirke 
Wadowice auf 375 Gemeinden 238 ohne irgendeine Schule, 
in Bochnia auf 315 Gemeinden 137 ohne Schule, in Tarnow 
131 auf 360 Gemeinden usw. 

In den Lehrerseminarien gab es im Ganzen 
82 ruthenische und nur 45 polnische Kandi¬ 
daten. 

Was geschah nun unter der Leitung des galizischen 
Landesschulrates: Aus den 1293 ruthenischen 

Schulen vom Jahre 1869 wurden im Jahre 1871 
ganze 572 und aus den 1055 polnischen 902, da¬ 
gegen machte man mit einem Schlag aus den 67 pol- 
nisch-ruthenischen 787! Im Jahre 1874 hingegen 
gibt es keine einzige utraquistische Schule mehr, nur 1537 
ruthenische und 1118 polnische. «Im Jahre 1875 finden wir 
aber schon wiederum 260 utraquistische, 1340 ruthenische 
und 1093 polnische. Es ist klar, dass infolge solcher extra¬ 
vaganter Experimente beim Volke die Lust zum Lernen 
schwand und die Zahl der Volksschüler sank, zum Beispiel 
im Berezanyer Kreise um 895, im Czortkower um 631, im 
Lemberger um 395, im Stryjer gar um 1232. Bis zum Jahre 
1876 stieg die Zahl der polnischen Schulen um 30, der 
utraquistischen um 27, dagegen nahm die der ruthenischen 
um 33 ab. Die Tendenz polnische und utraquistische Schulen 
zu vermehren und ruthenische zu vermindern, zeigte sich 
also gleich nach der Übergabe des galizischen Schulwesens 
unter die Obhut des galizischen Landesschulrates. 

Folgende Daten verleihen dieser Tendenz noch eine 
besondere Beleuchtung. Aus dem Landesfonds wurden D o- 
tationen zur Gründung und Ausgestaltung 
der Schulen bestimmt und zwischen die beiden Landes¬ 
teile nach folgendem Verhältnis verteilt: Von den ostgali- 
zischen Bezirken erhielten Nadwirna 9336 K, Czortkiw 
3516 K, Zaliszczyky 6052 K, Husiatyn 11.416 K, Tarnopol 
8372 K, Berezany 7612 K, Horodok 1612 K, Drohobycz 
5768 K; dagegen inWestgalizien Rzeszow 30.988 K, 
Jaslo 22.100 K, Neu-Sandez 19.210 K, Myslenice 18 738 K, 
Wadowice 30.910 K und der ruthenisch-polnische Bezirk 
Jaroslau, wo die Zahl der ruthenischen Schulen gleichzeitig 
abnahm, erhielt für polnische Schulen 33.790 K. Im Jahre 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



'* *• "r 


- 225 — 


1878 erhielt von den polnischen Bezirken Wadowice 26.000 K, 
Bochnia 24.000 K, Jaslo 24.694 K, Rzeszow 34.030 K, dagegen 
die ruthenischen Bezirke Horodok 2180 K, Zowkwa 2060 K, 
Berezany 3826 K, Husiatyn 6000 K, Zaliszczyky 3000 K und 
der ruthenisch-polnische Bezirk Peremyschl bekommt zwar 
38.000 K, aber nur für polnische Schulen und überdies werden 
hier von den 90 bestehenden ruthenischen Volksschulen 49 in 
polnische umgewandelt, ln den Zeiten Bobrzynskis wurde 
diese Maxime weiter praktiziert und der Schwerpunkt auf die 
Städte verlegt. So bekam Krakau 119.875 K, demnach allein 
soviel, wie 6 ruthenische Bezirke zusammen. Noch a m A n¬ 
fang der 60er Jahre hob die allenfalls noch öster¬ 
reichische, nicht polnische, Verwaltung des Landes in den 
Berichten nach Wien hervor, dass die Frequenz der 
Volksschulen in Ostgalizien grösser sei als 
in Westgalizien; doch gleich bei dem Antritt 
Bobrzynskis hat es in Ostgalizien Bezirke gegeben, in 
denen der Prozentsatz der Volksschüler auf 
weniger als 10% sank (Lemberg 4%, Sanok 9%) und 
nur ausnahmsweise 25% überstieg. 

So hat Herr Bobrzynski gewiss erschreckende Zu¬ 
stände im galizischen Schulwesen vorgefunden. Sein spezielles 
Verdienst für das historische Polen in Galizien bestand darin, 
dass er diese Zustände in ein System brachte. Sein 
Schlagwort war: Utraquismus. Er brachte die Leistung 
zustande, dass er während der 10 Jahre seiner Tätigkeit 
sämtliche bisher ruthenischen Schulen in 
u t r a q u i s t i s c h e und teilweise in polnische 
umwandelte. In allen ruthenischen Volksschulen wurde 
nämlich der Unterricht der polnischen Sprache, des Lesens 
und Schreibens in polnischer Vortragssprache eingeführt und 
das Hauptgewicht auf ein „korrektes Polnisch¬ 
sprechen“ verlegt. Eine Anzahl ruthenischer Schulen 
wurde kurzerhand gleich in polnische umgewandelt und eine 
grosse Anzahl von Schulen in den Dörfern, wo der Gemeinde¬ 
rat, der über die Vortragssprache entscheidet, sich der Zu¬ 
lassung der polnischen Sprache widersetzte, gesperrt, das 
heisst in nicht-aktive (eine echt galizische species, 
Schulen, die in den Berichten als solche figurieren, aber 
entweder kein Lokal oder keinen Lehrer haben! . . .) um¬ 
gewandelt. Herrn Bobrzynski war es Vorbehalten, es dahin 
zu bringen, dass während in den Jahren 1890—98 die Volks¬ 
schulenanzahl von 3597 auf 3726, also nur um 129 vermehrt 
wurde, die Zahl der nichtaktiven in derselben Zeit von 256 
auf 480 stieg. Noch viel interessanter ist, dass während 
seiner Regierung die Zahl der nichtaktiven ruthenisch-pol- 
nischen Schulen beständig ansteigt. Sie betrug im Jahre 
1894/5 bereits 286 gegen 171 nichtaktive polnische; im Jahre 
1887/8 betrug die Zahl der nichtaktiven polni- 


Digitized by 


Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



226 


sehen nur 155, die der ruthenisch-polnischen 
aber 321. 

Diese Ziffern gewinnen ihre volle Bedeutung erst wenn 
man bedenkt, dass unter den quasi ruthenischen Schulen in 
diesem Jahre 1471 einklassige, 292 zweiklassige, 15 vier- 
klassige und 12 fünfklassige, also 1790 aktive pseudo- 
ruthenische Schulen mit 2175 Klassen waren, 
wogegen die 1896 aktiven polnischen Schulen 
3500 Klassen zählten. Es gibt auch bis heute noch keine 
einzige ruthenische oder auch nur utraquistische sechs- 
oder mehrklassige Volks- respektive Bürgerschule, ebenso 
wie überhaupt in keiner einzigen grösseren galizischen Stadt 
eine ruthenische respektive utraquistische Schule existiert. 

Angesichts dieses Raubes am ruthenischen Schulwesen 
wird von den Freunden Bobrzynskis hervorgehoben, dass 
seit seiner Vizepräsidentur zwei ruthenische Gymnasien, bei 
einigen utraquistischen Lehrerseminarien ruthenische Übungs¬ 
schulen gegründet und ausserdem zwei ruthenische Lehr¬ 
kanzeln (für Geschichte und ruthenische Sprache) kreiert 
wurden, bei welch letzterer Aktion auch Herr Bobrzynski 
teilgenommen hat. 

Nun, wir wollen auch diesen Sachen einige Worte 
schenken. Bobrzynski gehört zu denen, die der Schaffung 
der sogenannten „Neuen Ära“ unglückseligen Angedenkens 
sehr nahe gestanden sind. Es war dies die Probe eines 
Waffenstillstandes zwischen Ruthenen und Polen. Badeni 
glaubte die galizischen Ruthenen durch Schaffung einer 
polenfreundlichen Professorenpartei in Schach halten zu 
können. Das Volk sollte durch einige Konzessiönchen, wie 
zwei ruthenische Universitätslehrkanzeln, zwei Gymnasien, 
Subvention für das Parteiorgan und bessere Avancements¬ 
verhältnisse für die die Partei bildenden Gymnasialprofessoren 
zufriedengestellt werden, die ruthenische Politik jedem sozialen 
und nationalen Radikalismus entsagen und von dem Stand¬ 
punkte ausgehen, dass die polnisch-ruthenischen Verhältnisse 
nur im galizischen Landtage ausgetragen werden können. 
Führer der Partei, welche nur in der Theorie bestanden hat, 
war der langjährige Abgeordnete Professor Barwinskyj. 
„Alles und noch mehr werden wir euch geben“, sagte damals 
Bobrzynski zu dem Abgeordneten Okunewskyj, „aber euere 
Seele müssen wir erobern“... Man grub das 
Schlagwort „unter gemeinsamem Dache“ aus, was 
nach aussen hin gleich durch die Unterbringung des neu¬ 
geschaffenen ruthenischen Gymnasiums in Peremyschl unter 
dem gemeinsamen Dache mit dem polnischen zum Ausdruck 
kam. Diese Konzession sollte verschmerzt werden, denn es 
wurde bereits ein anderes Schlagwort der pädagogischen 
Politik Bobrzynskis hervorgehölt, welches bald dem Wettstreit 
der beiden Landessprachen in der Schule ad maiorem Po- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



227 


loniae historicae gloriam ein Ende machen sollte. Dieses 
uns bereits bekannte Schlagwort hies Utraquismus und 
sollte eben das Zaubermittel sein, um die Forderungen der 
Ruthenen nach der nationalen Schule überhaupt aus der Welt 
zu schaffen. 

Der Anfang war mit den Lehrerbildungsan¬ 
stalten gemacht. Obzwar die Ruthenen noch nach der 
Übernahme des Schulwesens durch den Landesschulrat eine 
eigene Lehrerpräparanda besassen, war auf die Anzahl 
von 2000 rein ruthenischen Schulen, die Bobrzynski 
antraf, kein einziges Lehrerseminar. Mit dem 
Rücktritt Bobrzynskis wurden alle ruthenischen 
Volksschulen in utr a q u i s ti s c h e umgewande 11 
und man brauchte dann eben auch nur utraquistische Lehrer¬ 
bildungsanstalten. Man gab die Parole der Utraquisierung 
aller galizischen Schulen, selbstverständlich auch Gymnasien 
aus. In den Lehrerseminarien gelang der Plan auf den ersten 
Streich. Der Utraquismus an diesen Schulen ist direkt ein 
Hohn, die Lehrerseminarien nennen sich zwar utraquistisch, 
aber die meisten Gegenstände werden polnisch vorgetragen, 
auch solche, für die der ruthenische Unterricht vorgeschrieben 
ist, das Äussere ist rein polnisch, ruthenische Lehrer werden 
nur ausnahmsweise angestellt, sämtliche Direktoren sind 
durchwegs Polen, die Kataloge, Kundmachungen usw. polnisch, 
der Lehrkörper von patriotischem polnischen Geist durch¬ 
setzt, kurz und gut, alles darnach eingerichtet, dass „eure 
Seelen erobert werden“. An den Gymnasien machte 
man den Anfang in dieser Hinsicht auf die Art, dass der 
Unterricht der ruthenischen Sprache, welcher 
früher nicht obligat, aber für diejenigen, die sich dazu mel¬ 
deten, normaler Lehrgegenstand war, nunmehr für sämtliche 
Schüler obligat wurde, so aber, dass die Erfolge aus diesen 
Gegenständen nur positiv, nicht aber auch negativ einge¬ 
rechnet und dieselben bei der Reifeprüfung nicht berück¬ 
sichtigt werden. Überdies wurde das Ruthenische zum fünf¬ 
jährigen Elementarkurse herabgedrückt mit dem Lehrplan: 
Gut lesen und schreiben und deklamieren. So wurde der 
ruthenischen Sprache der Stempel eines minderwertigen 
Gegenstandes aufgedrückt und überdies noch für die 
zukünftigen polnischen Beamten ein Qualifikationszeugnis für 
die erforderliche Kenntnis der ruthenischen Sprache in die 
Hände gegeben. Wie der Unterricht eines Gegenstandes auf¬ 
gefasst wird, der negativ nicht mitzählt, kann man sich leb¬ 
haft denken! Der Endzweck aller dieser Manipulationen ist 
dabei der, keine ruthenischen Mittelschulen gründen zu 
müssen, nur utraquistische und wurde diese Anomalie in 
bezug auf die Lehrerbildungsanstalten durch den vorjährigen 
Beschluss des Landtages petrifiziert. Es dürfen in Ga¬ 
lizien ruthenische Lehrerbildungsanstalten 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



228 


nicht gegründet werden, nur polnische für West¬ 
galizien und polnische oder polnisch-ruthenische für Ost¬ 
galizien. Was die Gründung von Gymnasien anbelangt, so 
darf die Zentralregierung, welche deutsche, 
tschechische, slowenische, polnische und 
italienische Mittelschulen gründet, keine 
ruthenischen Mittelschulen ins Leben rufen, 
weil diese dem galizischen Landtag ge¬ 
fälligst überlassen sind und dieser Landtag 
geruhte zwar, drei ruthenische Gymnasien als Folge von 
verzweifelten Schritten der ruthenischen Abgeordneten, (wie 
der Exodus aus dem Landtag) und der Einmischung der 
Zentralregierung und des Kaisers selbst zu bewilligen (gegen 
50 polnische), aber es geht darin ein Ruf, unter keinen 
Umständen 'ein ruthenisches Gymnasium mehr gründen 
zu lassen, nur — utraquistische. Es besteht auch ein 
dahingehendes Gesetz des Landtages, welches utraqui¬ 
stische Gymnasien in Aussicht stellt. Nur bei einer Institution 
haben die Polen Angst vor dem Utraquismus, und zwar bei 
der Universität, wo der Utraquismus gesetzlich fest¬ 
gesetzt ist. Man half sich hier immer auf die einfachste Art, 
indem man ganz als selbstverständlich keine' ruthenischen 
Dozenten zur Habilitierung zuliess. Nachdem aber die Ru- 
thenen sich das nicht bieten lassen wollten und Lärm schlugen, 
versuchte man dem Übel auf eine andere Weise beizukommen, 
und auch hier spielte Herr Bobrzynski eine wichtige Rolle. 
Seit vielen Jahren blieb die Kanzel des österreichi¬ 
schen Zivilrechtes mit ruthenischer Vor¬ 
tragssprache an der Lemberger Universität vakant. Da 
es weiter doch nicht anging, den Posten unbesetzt zu halten 
und nachdem sich eine Reihe von ruthenischen Dozenten 
meldete, setzte es Herr Bobrzynski durch, dass nach Zu¬ 
rücksetzung zweier ruthenischer Kandida¬ 
ten ein gewisser, nicht einmal der rutheni¬ 
schen Sprache m ä c h t i g e r H e r r D o 1 n i c k i d i e 
Dozentur erhielt, jedoch — keinen einzigen ruthe¬ 
nischen Hörer bekam und so abtreten musste. 

Wir haben uns in der Bezeichnung des nationalen Cha¬ 
rakters der galizischen Schulen vornehmlich an die Vortrags¬ 
sprache gehalten. Aber die Sprache ist gewiss das wichtigste, 
jedoch keineswegs das ausschliessliche nationale Merkmal. 
Man beachte, dass in allen galizischen Schulen, selbstver¬ 
ständlich auch in den sogenannten ruthenischen, exoffo 
der polnische Patriotismus eingeimpft wird, wo¬ 
bei unter Polen nur das historische Vaterland, und unter 
Ruthenien nur ein Bestandteil Polens verstanden wird. Aus 
der ruthenischen Geschichte dürfen nie Gestalten hervorge¬ 
holt werden, welche vielleicht auf die nationale oder politische 
Selbständigkeit aufmerksam machen könnten, ein berühmter 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



229 




Ruthene ist nur der, der Polen geliebt und für Polen ge¬ 
kämpft hat. Dank Herrn Bobrzynski sind für ostgalizische 
Schulen eine Anzahl ruthenischer Lehrbücher verfasst 
worden. Er selbst nahm regen Anteil daran, las selbst 
Bürstenabzüge und nahm selbst Korrekturen vor. Vor 
allem die letzteren! Alles was an die Kosakenkriege 
mit den Polen, eine zweihundertjährige, mit Blut ge¬ 
schriebene Geschichte der Ruthenen erinnerte, wurde ge¬ 
strichen. „Ich wünsche, dass von allen diesen Zänkereien 
zwischen Ruthenen und Polen in den Schulbüchern nichts 
gesagt werde.“ . . . Eine von ihm gutgeheissene ruthenische 
Grammatik war bereits in 10.000 Exemplaren gedruckt und 
gebunden. Als ihm ein Ehrenexemplar überreicht wurde, fand 
er .unter den Paradigmen den Satz: „Chmelnytzkyj war ein 
grosser Feldherr.“ 0 Greuel! Das Buch musste zum Buch¬ 
binder, die Blätter wurden herausgeschnitten und der Satz 
durch einen unverfänglichen ersetzt. 

Und in was bestanden denn die anderen Verdienste des 
Herrn Bobrzynski als „polnischer Unterrichtsminister“, wie 
er genannt wurde?! Protektionssystem und Spionage- 
geist, welcher in den galizischen Schulen seinen Einzug 
hielt. Wurden doch zu diesem Zwecke nach russischem 
Muster für die Mittelschüler Uniformen eingeftihrt, 
die zugleich den Zweck verfolgten, Bauernsöhnen den Ein¬ 
tritt in die Mittelschulen zu erschweren. Zur Zeit Bobr- 
zynskis wurde eine grosse Anzahl ruthenischer Lehrer 
nach Westgalizien versetzt und die trostlose Lage 
der galizischen Lehrer, die schlechter bezahlt sind 
als Amtsdiener und Steuerexekutoren, hat sich nicht um ein 
Haar gebessert. Als einmal eine Abordnung galizischer Lehrer 
in ausgeliehenen schwarzen Anzügen bei ihm wegen Gehalts¬ 
aufbesserung vorsprach, bekam sie zur Antwort: „Ihr habt 
doch so feine Anzüge und Schuhe, Euch geht es doch ge¬ 
wiss nicht schlecht . . . 

So war Herr Bobrzynski. Vor ihm wurde am ruthenischen 
Schulwesen geraubt und gefrevelt, das Volk von der Auf¬ 
klärung zurückgehalten und Herr Bobrzynski kam und brachte 
die Sache in ein System, dank ihm wurden die Zustände fest¬ 
genagelt. Westgalizien wurde kulturell gehoben, Ostgalizien 
niedergedrückt. Das Volk, welches sich zur Aufklärung ge¬ 
drängt hatte, welches aus seinen eigenen Mitteln mehr Schulen 
erhielt als sein polnischer Nachbar, zieht sich jetzt beim 
Vergleich mit dem letzteren, den Beinamen einer unkulturellen 
Masse zu. Welch eine Ironie! 

Herr Bobrzynski wurde nun Statthalter von Galizien und 
als solcher auch Präsident des galizischen Landesschul¬ 
rates, dessen Autonomie bekanntlich im vorigen Jahre noch 
erweitert wurde. Als solcher empfing er Vorstellungsbesuche 
von Vertretern verschiedener ruthenischer Institutionen. Einer 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



1 


— 230 -- 

solchen Vertretung gegenüber äusserte er sich, er habe bereits 
als Vize-Präsident des galizischen Landesschulrates für die 
kulturelle Hebung des ruthenischen Volkes Sorge getragen 
und sei auch gesonnen, auf demselben Wege fortzuschreiten. 
Uns schaudert davor. 

W. K. 


Enteignung ohne Gesetze. 

Vom Reichsratsabgeordneten W. Budzynowskyj. 

Als in einer, nach Einbringung der preussischen Ent¬ 
eignungsvorlage gehaltenen Rede des jetzigen polnischen 
Landsmannministers Abrahamowicz, welche die galizischen 
Verhältnisse zum Gegenstand hatte, der Redner auf den 
Zwischenruf eines ruthenischen Abgeordneten, denselben, 
darauf reagierend, fragte: „Wo sind denn in Galizien Ent¬ 
eignungsgesetze?“ — antwortete ihm der Ruthene: „Ihr ent¬ 
eignet uns schon ohne Gesetze“. 

Nun möchte ich den Lesern der Ukrainischen Rund¬ 
schau das Kunststück einer solchen gesetzlosen Enteignung 
vor Augen führen. 

Zu der Zeit, in welcher ein Teil der ruthenischen 
Nation unter die Flügel der Habsburger geraten ist, waren 
fast alle Wälder Galiziens noch das Eigentum der Bauern¬ 
gemeinden. Mit dem Patente vom 10. September 1782 
hatte die kaiserliche Regierung die Oberaufsicht und die 
Verwaltung der Gemeindewaldungen an die Dominien über¬ 
tragen und auf solche Weise den Übergang des Gemeinde¬ 
eigentums in das Eigentum polnischer Schlachzizen vor¬ 
bereitet. Um den Grundbesitz neu zu besteuern, begannen 
1786 die Arbeiten an dem neuen Grundsteuerkataster. 
Dabei wurde die Scheidung des Dominikalbesitzes vom 
Rustikalbesitze durchgeführt. Die Art der Durchführung 
dieser Scheidung ist eine der wichtigsten Ursachen des 
heutigen Elends der ruthenischen Bauernschaft, denn sie 
hat die Gemeindewälder, Gemeindewiesen und Gemeinde¬ 
weiden in den Besitz des polnischen Adels überführt. 

Um die Gemeinden ihres Besitzes zu berauben, wurden 
von den kaiserlichen Beamten und den gewissenlosen 
Schlachzizen die Unwissenheit und Unbeholfenheit der 
Bauernschaft in spitzbübischer Weise ausgenutzt. Dieser ge¬ 
meine Raub wurde auf zweifache Weise ausgeführt. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



281 


Ich habe schon erwähnt, dass die Grossgrundbesitzer 
von der kaiserlichen Regierung zu Verwaltern des Gemeinde¬ 
gutes gemacht wurden. Als es sich nun um die amtliche 
Feststellung handelte, was der herrschaftliche und was der 
Gemeindebesitz sei, stellten die kaiserlichen Beamten solche 
Fragen an die Vertreter der Bauerngemeinde: „Nicht wahr, 
Iwan, wenn ein Bauer aus dem Walde das Holz nehmen will, 
muss er erst den Herrn fragen, ob er das tun darf?“ Die 
Bauern bejahten wirklich die Frage, weil dieser Herr ihr 
gesetzlicher Vormund war, wie zum Beispiel heute das 
Gericht Vormund minderjähriger Waisen und Verwalter des 
Vermögens derselben ist. Der Regierungskommissär stellte 
sich aber dumm und verstand diese Antwort so, als ob die 
Bauern nur deshalb die Erlaubnis des Herrn erlangen müssten, 
weil der Wald das Eigentum des Herrn war. Damit war der 
Wald für die Gemeinde verloren — er wurde dem Gross¬ 
grundbesitzer zugeschrieben. 

Noch ein Mittel wurde mit gutem Erfolge angewendet. 
Vor allem riefen die Beamten einen panischen Schrecken 
unter der Bauernschaft hervor, indem sie alarmierende Nach¬ 
richten von den kolossalen Grundsteuern, die der neuen Be¬ 
messung des Grund und Bodens folgen werden, verbreiteten. 
Da auch diejenigen Wälder und Weiden, welche im Jahre 
1786 schon den Dominien angehörten, einst doch Gemeinde¬ 
eigentum gewesen waren, besass der Bauer als den Rest 
seines ehemaligen Eigentumsrechtes das Recht, den jetzt 
schon herrschaftlichen Wald in derselben Weise zu benutzen, 
wie den Gemeindewald selbst. Mit Holz handelte der Bauer 
damals nicht; den Wald brauchte er nur für sich selbst, um 
Bau- und Heizmaterial zu bekommen. Das musste ihm aber 
auch der Schlachzize aus dem dominikalen Walde gewähren, 
wenn kein Gemeindewald da war. In diesen Zeiten war es 
also dem Bauer ganz egal, wessen Eigentum der Wald war. 
Als ihm dazu noch gesagt wurde, dass er für den Gemeinde¬ 
wald eine schreckliche Grundsteuer werde zahlen müssen, 
protestierte der Bauer nicht, wenn die Katastralkommission 
den Gemeindewald als Eigentum des Schlachzizen in den 
Grundbüchern eintragen liess. Der Bauer durfte doch den 
herrschaftlichen Wald weiter in demselben Masse benutzen, 
wie bisher den Gemeindewald, noch dazu brauchte er keine 
Grundsteuer zu zahlen. Der polnische Schlachzize bekam 
den Gemeindewald, der nur mit dem Servitutsrechte der Ge¬ 
meindemitglieder belastet war. Der Bauer wusste noch nicht, 
dass der Staat die Wälder, nachdem sie Eigentum der 
Schlachzizen geworden, gar nicht besteuern werde. 

Alle wirtschaftlichen Streitfragen zwischen Ruthenen und 
Polen, das heisst zwischen Bauern und Grossgrundbesitzern 
Ostgaliziens, entschied die Zentralregierung immer nach den 
Wünschen des polnischen Adels; sie bereicherte die polni- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



232 


sehen Herren auf Kosten der ruthenischen Bauern. Wie schon 
erwähnt, wurde aus Anlass der Bildung einer Grundlage für 
die Besteuerung des Grundbesitzes fast der ganze Gemeinde¬ 
besitz an Weiden und Wäldern als Eigentum der Grossgrund¬ 
besitzer anerkannt. Im Besitz der Gemeinden blieb nur ein 
kleiner Rest von Wäldern - 16 Prozent! Von dem ehemaligen 
Eigentum der Bauern blieb seit dem 10. Februar 1789, zu 
welcher Zeit sie auch zu Eigentümern der ihnen zuerkannten 
Grundstücke erklärt wurden, nur noch das Recht, aus den 
„herrschaftlichen“ Wäldern Bau- und Heizmaterial beziehen 
und auf herrschaftlichen Weiden das Vieh weiden zu dürfen. 
Auf die Dauer konnten jedoch solche, mit der modernen 
Waldkultur unvereinbare Rechte nicht erhalten bleiben. Man 
schritt also an die Ablösung der Servitute. Diese Ablösung 
wurde so durchgeführt, dass die Bauern, welche das Eigen¬ 
tumsrecht auf die Wälder schon lange verloren hatten, jetzt 
auch den Rest von ihrem ehemaligen Eigentume, ihre 
Nutzungsrechte am grundherrlichen Lande, fast ohne ein 
Äquivalent dafür bekommen zu haben, verlieren sollten. Es 
wurden Kommissionen gebildet, deren Aufgabe es war, einer¬ 
seits den Geldwert der bäuerlichen Arbeit zu Gunsten des 
Grossgrundbesitzers, andrerseits den Geldwert des bäuer¬ 
lichen Nutzungsrechtes an den herrschaftlichen Wäldern und 
Wiesen zu ermitteln. Da nun die Dynastie den polnischen 
Adel für ihre politischen Zwecke zu gewinnen trachtete, wurde 
seitens des Ministers Bach den untergeordneten Behörden 
befohlen, die Servitutenablösung im Sinne der Interessen der 
Schlachta durchzuführen, das heisst, den Bauern ihre Nutzungs¬ 
rechte fast ohne jede Entschädigung wegzunehmen. Als der 
Staat die herrschaftlichen Servitute, das Recht der Schlach- 
zizen auf die Arbeit des Bauern ablöste, wurde der Wert 
dieser Arbeit auf 70 Prozent des damaligen Wertes des herr¬ 
schaftlichen Besitzes geschätzt. Einen anderen Masstab legte 
man aber an, als es sich um die Entschädigung der Bauern 
für den Verlust ihrer Rechte auf die herrschaftlichen Wälder 
und herrschaftlichen Weiden handelte. Die mit der Ein¬ 
schätzung betrauten Beamten und Kommissionen erachteten 
es vor allem für ihre erste Pflicht, dem Bauern jedes Recht 
auf die Entschädigung abzusprechen. Fast ein jeder- Bauer 
musste im Prozesswege beweisen, dass er ein Nutzungsrecht 
und das Recht auf eine Entschädigung habe. In Kaminka 
woloska zum Beispiel wurde auf 1050 Bauernhöfe überhaupt 
nur 319 Bauern die Entschädigung zugestanden, einem jeden 
wurden nur drei Fuhren Brennholz und der Wert einer Fuhre 
wurde mit 45 h berechnet. In der Regel hat man das Recht, 
Holz aus dem Walde beziehen zu dürfen, pro Bauernhof und 
Jahr auf 17 h und noch weniger geschätzt. Die Kommissionen 
und die k. k. Beamten waren also der Ansicht, dass ein 
Bauernhof in Galizien in einem Jahre höchstens für 17 h 

Digitized by Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



233 


Holz zu verbrennen im stände war und verbrennen durfte. 
Den Preis des mittelalterlichen Rechtes auf die Bauernarbeit 
hatte man nach den damaligen Preisen der Arbeit, der Ver¬ 
pflegung und der landwirtschaftlichen Produkte geschätzt. 
Diese Preise standen aber infolge des Krimkrieges unver¬ 
hältnismässig hoch. Dagegen berechnete man die Preise der 
bäuerlichen Nutzungsrechte nach den Preisen der Jahre 1835 
bis 1845 und damals hatte das Holz in Galizien gar keinen 
Marktpreis gehabt. 

Bei den Schätzungen wurde vom Staate das Recht des 
Herrn auf die Arbeit nach dem Werte geschätzt, welchen 
diese unbezahlte Arbeit in der Zukunft für ihn haben konnte. 
Welchen Wert Wald und Wiese, das Holz und das Gras, die 
der Bauer umsonst bekommen sollte, für ihn in der Zukunft, 
zum Beispiel heutzutage haben konnte, durfte bei der Schätzung 
des Wertes der bäuerlichen Nutzungsrechte nicht berück¬ 
sichtigt werden. Aber auch die Entschädiguhg nach einer auf 
solche Weise durchgeführten Schätzung trachtete die Regierung 
unter verschiedenen Vorwänden den Bauern vorzuenthalten. 
Das Patent vom 5. Juli 1853 und die Verordnung vom 
19. November 1857 Hessen dem Schlachzizen die Wahl frei, 
die Bauern entweder mit Geld oder mit Grundbesitz zu ent¬ 
schädigen. Das Gesetz bestimmte aber auch, dass, wenn die 
den Bauern zuerkannte Entschädigung die wirtschaftliche 
Schwächung des Dominiums zur Folge haben könnte, die 
Bauern sich mit einer kleineren Entschädigung begnügen 
müssen. Von dieser Bestimmung wurde überall reichlich 
Gebrauch gemacht. 


Konfisziert. 


Die Servitutenablösung nützte man noch als eine Ge¬ 
legenheit aus, um den Bauerngemeinden weitere, noch in 
ihrem Besitz gebliebene Wälder wegzunehmen. Auf welche 
Weise die Behörden diese ganze Servitutenablösung durch¬ 
führten, illustriert uns die Zahl von 32.000 Prozessen, welche 
die Bauern aus diesem Anlass zu führen gezwungen waren, 


Konfisziert. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



234 


Die damaligen Vertreter der ruthenischen Nation hatten 
sich über die parteiische, ungerechte und gesetzwidrige Art 
der Servitutenablösung sehr oft beschwert und sie verlangten 
von der Zentralregierung, sie möge die Durchführung der 
Servitutenablösung unparteiischen Behörden übergeben. Mi¬ 
nister Schmerling verspürte jedoch nicht die mindeste Lust, 
es sich mit den polnischen Magnaten zu verderben. Er erliess 
zwar mancherlei Verordnungen, um den Schein zu wahren, 
aber die Beamten wussten, dass sie nur insofern die mini¬ 
steriellen Verordnungen zu befolgen haben, als dieselben zu 
Gunsten der Schlachzizen lauten. In einer Verordnung vom 
18. November 1862 hiess es: „Den Unterbehörden wird nach¬ 
drücklich empfohlen, den Umstand zu prüfen, ob durch die 
Ablösung und die Art derselben der übliche Hauptwirtschafts¬ 
betrieb der berechtigten oder verpflichteten Güter nicht auf 
eine unersetzliche Weise gefährdet wird.“ Die Bauern, welche 
kein Organ besassen, um ihre Interessen verteidigen zu können, 
mussten es sich gefallen lassen, dass die Regierungsbehörden 
ausschliesslich darauf achteten, damit „der Hauptwirtschafts¬ 
betrieb der verpflichteten Güter nicht gefährdet wird“. Minister 
Belcredi hat noch weniger auf die Beschwerden der Ruthenen 
in dieser Hinsicht Rücksicht genommen und Beust — dieser 
Beust, welcher alle politischen Wünsche des polnischen Adels 
in Bezug auf Galizien erfüllte — hat auch die Servituten¬ 
ablösung gemäss den Wünschen der polnischen Schlachta 
zu Ende führen lassen. 


Konfisziert. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



235 


Konfisziert, 


Der ruthenische Bauer hat, ohne 
eine Entschädigung bekommen zu haben, das Bau-, und Heiz¬ 
material verloren, er hat auch die Viehwirtschaft grösstenteils 
aufgeben müssen. Die Folgen dieser Entziehung von Wald 
und Weide Hessen nicht lange auf sich warten. Die Statistik 
vom Jahre 1851 zählte in Galizien 487.693 Ochsen; bis zum 
Jahre 1869 ging diese Ziffer auf 345.305 und bis zum Jahre 
1880 auf 312.786 herab. Die Zahl der Ochsen hatte sich in 
29 Jahren um 36% ihrer ursprünglichen Zahl verringert. Im 
Jahre 1851 gab es 955.908 Schafe, im Jahre 1857 blos 
810.831, im Jahre 1880 609.253 — auch um 36% der ursprüng¬ 
lichen Zahl weniger. Wegen Mangels an Nahrung kamen 
vom Jahre 1861 bis 1865 nicht weniger als 21.800 Stück 
Rinder um. In den östlichen Bezirken Galiziens konnte man 
eine Kuh um 20 K kaufen und ein Joch des besten ostgalizi- 
schen Ackers verkaufte der Bauer um 24 K! Auf den Märkten 
Zolotyj Potik und Butschatsch verkaufte man die Pferde zu 
K 1*60 pro Stück! Das Elend und der Hunger waren so stark 
und allgemein, dass ein Taglöhner um den Taglohn von 10 h 
arbeitete! Die ruthenischen Stämme in den Karpathen, welche 
ausschliesslich von der Weidewirtschaft leben, wurden nach 
der Servitutenablösung gänzlich ruiniert und fristen ihr Leben 
jetzt dadurch, dass sie Hirten fremder Ochsenhändler sind. 

Konfisziert. 

Indem man dem ruthenischen Bauern die Weiden und 
Wälder wegnahm, machte man diesen Bauern wirtschaftlich 
und politisch vom polnischen Grossgrundbesitzer abhängig. 
Der ruthenische Bauer wurde von ihm abhängig als Lohn¬ 
arbeiter und als Staatsbürger. Es gibt ganze Bezirke, wo der 
ruthenische Bauer, der mehr von der Arbeit auf herrschaft¬ 
lichem Gute als von seinem eigenen Gute zu leben gezwungen 
ist, kein Stück Holz, keinen Halm Gras für sein Vieh kriegt, 
wenn er nicht zur Erntezeit um 30 bis 40 h Taglohn — ohne 
Kost — bei „seinem Herrn“ arbeiten will, oder wenn er bei 
der Landtags- oder Reichsratswahl für den ruthenischen 
Kandidaten zu stimmen sich erfrecht. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



236 


Potocki. 

(Eine geschichtliche Betrachtung). 

Anlässlich der Äusserung eines ruthenischen Abgeord¬ 
neten, der Statthalter Potocki sei gefallen als Repräsentant 
jenes, auf den Ruthenen seit Jahrhunderten lastenden Schlach- 
zizenregimes, dessen Hauptträger gerade die Mitglieder der 
Familie Potocki gewesen waren, erlaubte sich ein bekanntes 
Wiener Blatt die Bemerkung von dem kulturellen Zerr¬ 
bild, welches die Ruthenen vorstellen, nachdem sie sich 
angeblich nicht einmal scheuen, den historischen Hass unter 
Berufung auf geschichtliche Daten neu zu konstruieren. — 
Der Vorwurf war zumindest ungerechtfertigt, dies umsomehr, 
als gerade der verstorbene Andreas Potocki es war, welcher 
bei der Ankündigung seines politischen Programmes erklärt 
hatte, gegen die Ruthenen müsse so gekämpft werden, wie 
seine Vorfahren im XVII. Jahrhundert gekämpft haben. 

Wie dieser Kampf der Vorfahren Andreas Potockis gegen 
die Ruthenen ausgesehen hat, das braucht dem ruthenischen 
Volke nicht erst auf künstlichem Wege und in agitatorischer 
Absicht eingeprägt zu werden. Wenn nach der am heissen 
Erntetage verrichteten Arbeit die Bauern scharenweise nach 
Hause eilen oder im Winter zu Spinnabenden zusammen-, 
kommen, dann werden ohne Geschichtskunde und ohne 
Agitation die geschichtlichen Daten und die Taten der Po¬ 
tockis und wie sie alle heissen in den Liedern lebendig, 
welche sich von Generation zu Generation forterben als 
lebendiges Denkmal der historischen Leiden des Volkes. 
Vor den Augen des Zuhörers entsteht in klaren Bildern 
die Leidens- und Ruhmesgeschichte dieses Volkes. Vielleicht 
ist manchem Sänger derselbem dies oder jenes Datum 
nicht ganz klar, vielleicht weiss er nicht, , wann und 
wo dieser oder jener historische Held gelebt und gewirkt 
hat, aber des Einen sind sich alle bewusst und das ist: der 
tiefe Antagonismus, welchen der ruthenische Bauer gegen 
seinen polnischen Bedrücker empfindet. Und es ist gewiss 
sehr bezeichnend, dass in dieser Volkspoesie kein polnischer 
Name so oft genannt wird, als der Name Potocki, 
welcher für das Volk den Inbegriff von Reichtum 
und Graus am k e i t bildet. Es ist nicht weniger bezeich¬ 
nend, dass gerade die Vorfahren des unlängst „für die Un¬ 
bilden des ruthenischen Volkes“ gemordeten Grafen Andreas 
Potocki in der Geschichte der Vergewaltigung des ruthenischen 
Volkes in den letzten drei Jahrhunderten als Hauptakteure 
figurieren. Vor unseren Augen bewegt sich eine ganze Galerie 
von Potockis, die zu verschiedenen Zeiten gelebt und ge¬ 
wirkt haben. 

Vorerst einige geschichtliche Anmerkungen. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



237 


Mit Ausnahme eines Teiles des heutigen Galizien, welcher 
zu Mitte des XIV. Jahrhunderts nach dem Aussterben der ru- 
thenisch-galizischen Herrscherdynastie von dem polnischen 
König erobert wurde, bildeten die übrigen ruthenischen Länder 
Bestandteile des litauisch-ruthenischen Staates, in welchem 
das ruthenische Element vorherrschend war. Im Jahre 1569 
erfolgt die Personalunion zwischen Polen und Litauen und 
gehen auch die ruthenischen Länder in polnische Herrschaft 
über. Dies bedeutete zugleich den Übergang von der Freiheit 
in die Sklaverei. Das polnische Joch war so unerträglich, 
dass die Ukrainer schon nach 22 Jahren einen Aufstand er¬ 
hoben. Die Polen begingen nämlich die Unvorsichtigkeit, das 
Volk zu jäh in das Joch der Sklaverei zu spannen. Gleich 
nach Anschluss der ruthenischen Länder an Polen werden 
ganze Gebiete dem ruthenischen Volke enteignet, den 
polnischen Magnaten oder jenen ruthenischen, die cfem 
Ruthenentum entsagten, überlassen und das bisher freie 
Volk selbst leibeigen gemacht. Mit dem bisher freien ru¬ 
thenischen Bauer durfte nun der polnische Gutsherr schalten 
und walten, wie es ihn gelüstete. Die Jurisdiktion über die 
Bauern wurde ganz und gar den Herren anvertraut, so dass 
den Gutsherrn nicht einmal für das Erschlagen eines Bauern 
irgend eine Strafe treffen konnte. • 

Dazu gesellte sich auch die Unterdrückung auf dem reli¬ 
giösen Gebiete. Schon 27 Jahre nach Anschluss der ruthenischen 
Länder an Polen wird dem ruthenischen Volke die kirchliche 
Union mit Rom aufoktroyiert, ruthenisch-orthodoxe Kirchen 
gewaltsam in unierte umgewandelt, die Orthodoxen verfolgt 
(übrigens erging es auch den Unierten nicht besser, weil ja 
das eigentliche Ziel erst der Katholizismus war), zu keinen 
Ämtern zugelassen usw. Der immensen Gebiete Herr ge¬ 
worden, gab es in der Ukraine mehrere schlachzizische 
Geschlechter, die nicht nur reicher, sondern auch mächtiger 
als der König selbst waren. Während der König, der tituläre 
Feldherr über die Wehrmacht (die übrigens zu jener Zeit 
nur wenige Tausende betrug) keine eigene Miliz haben 
durfte, besassen die polnischen Magnaten in der Ukraine 
ganze Armeen und geberdeten sich wie selbständige 
Herrscher. So ein Herrschergeschlecht in der Ukraine 
waren die Potockis. Die Anarchie war so stark in den 
polnischen Staatsorganismus eingerissen, dass es kein an¬ 
deres Recht als das des Stärkeren gab. Ein solcher Magnat 
namens Laszcz, welcher mit Potocki gegen die Kosaken 
kämpfte, wurde mit 36 Infamieurteilen bestraft und 287 mal 
verbannt, doch wurde ihm trotzdem nie auch nur ein Haar 
gekrümmt. Man erzählte von ihm, dass er sich von den über 
ihn gefällten Urteilen ein Gewand nähen Hess und mit dem¬ 
selben angetan, dem königlichen Hof zu Warschau einen 
Besuch abstattete. . . . Die schwache Staatsgewalt war 


Digitized by 


Go», gle 


INDIANA UNIVERSITY 



238 


solchen Zuständen gegenüber ratlos. Als der Kosakenhetman 
Chmelnytzkyj mit einer Kosakendeputation am königlichen 
Hofe erschien und über die Entziehung der Freiheit und die 
Plagen des Volkes Klage führte, konnte ihm der polnische 
König Wladyslaw IV. keine andere Antwort erteilen als: „Vel 
non habes frameam stupide!“ („Hast denn kein Schwert, Du 
Narr!“) ... 

Ein anderes Mittel als das Schwert, um die Fesseln der 
Sklaverei abzuschütteln, gab es nicht. Die polnischen Herren, 
welche der Meinung waren, das freie Ukrainervolk ebenso 
Widerstands- und protestlos knechten zu können, wie ihre 
verdummten bäuerlichen Konnationalen, begingen den Leicht¬ 
sinn, die bisher ganz freien Menschen mit einemmale als 
Vieh zu behandeln. Der Schlag der schweren polnischen 
Faust übte anfangs eine betäubende Wirkung auf das Volk, 
welches sich dann aber, nach kurzer Zeit, zu einem energi¬ 
schen Protest aufraffte, an dem das Königreich Polen zu 
Grunde ging. 

Der erste Aufstand erhob sich in den Jahren 1591—93. 
Ihm folgten neben, unzähligen kleineren die Aufstände vom 
Jahre 1596, 1625, 1630 usw. Die Aufstände wurden erhoben 
von den Kosaken, der ukrainischen Volksmiliz*), welche sich 
aus dem Volke rekrutierte. Dem Beispiel derselben folgend, 
erhob sich dann gewöhnlich auch das gemeine Volk. An 
dem Aufstande im Jahre 1630 beteiligte sich aber auch die 
ukrainische Geistlichkeit mit ihrem Metropoliten Boretzkyj an 
der Spitze, welcher den Aufständischen den Segen spendete. 
Die Polen hatten als Führer ihrer Armee den Grosshetman 
(hetman koronny) Koniecpolski und einen Potocki, der Feld¬ 
herr (hetman polny) war. Es kam zu einer Schlacht bei Pere- 
jaslaw, welche den Zeugnissen der polnischen Chronisten 
zufolge (Pamietniki do pan. Zygmunta III.) den Polen mehr 
an Leuten kostete, als der ganze dreijährige Krieg gegen 


*) Die Kosaken teilten sich in die Städtekosaken, die pol- 
nische Untertanen waren, sich aber einer Autonomie, wie freie 
Wahl der Oberen, erfreuten und in die Sitschkosaken, die 
eine freie Republik am unteren Dniproufer bildeten; diese war 
n i e Polen unterworfen und anerkannte auch nie die polnische Herr¬ 
schaft. Die letzteren machten mit den anderen ukrainischen Kosaken 
immer gemeinsame Sache, sie schlossen sich immer den ukrainischen 
Aufständen an und von ihnen ging gewöhnlich das Signal zum Volks¬ 
aufstand aus. Sie bildeten einen Kriegerorden, der sich aus den 
Volontären aus der Ukraine ergänzte. 

Nach dem Muster der ukrainischen Kosaken rüsteten auch die 
polnischen Magnaten ihre Hofmiliz aus und nannten dieselbe auch 
Kosaken; diese hatte zwar nichts Gemeinsames mit der Kosaken¬ 
organisation, schlossen sich jedoch oft den Volksaufständen an. — 
Zu bemerken ist, dass die jetzigen russischen Kosaken mit den ukrai¬ 
nischen absolut nichts gemeinsames haben. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



239 


Gustav Adolf. Doch wurde der Aufstand unterdrückt. Im 
Jahre 1637 wiederholt sich der Aufstand. Der Anführer des 
polnischen Heeres, Nikolaus Potocki, erliess ein 
Manifest an die Kosaken, in welchem es zum Schlüsse 
hiess: „Und wenn ihr anders vorgeht, so mögt ihr wissen, 
dass eure Weiber und Kinder ausgemerzt werden und ihr 
selbst unter den Schwertern der Heere seiner königlichen 
Hoheit zugrunde gehen werdet!“ Diese Drohung sollte in 
Erfüllung gehen. Bei Kumejky wurden die Kosaken, denen 
nur anfangs das Kriegsglück hold war, geschlagen. Die 
Kosaken ergaben sich, nachdem ihnen Potocki zusicherte, 
dass die als Geissein ausgelieferten Anführer nicht mit dem 
Tode gestraft werden würden. Doch wurde dieses Versprechen 
nicht gehalten. Der Kosakenfeldherr P a w 1 u k und noch 
drei andere hervorragende Kosakenführer wurden nach 
Warschau geschafft und dort zum Tode verurteilt. Die Hin¬ 
richtung Pawluks sollte in der Art stattfinden, dass demselben, 
weil er nach den Behauptungen seiner Richter ein selbständiges 
Reich gründen wollte, eine glühende Krone aufs Haupt ge¬ 
drückt und ein glühender Szepter in die Hand gegeben 
werden sollte. Erst auf die Vorstellungen des ruthenischen in 
polnischen Diensten stehenden Magnaten Kysil, welcher darauf 
hinwies, dass sich Pawluk freiwillig ergeben habe und ihm 
die vollständige Amnestie versprochen wurde, wurde dieses 
Urteil durch, ein weniger grausames ersetzt. Es wurde ihm 
blos einfach der Kopf abgeschnitten, dann der Rumpf 
mit Spreu angefüllt und der Kopf aufge- 
s p i e s s t. 

Nach dem beendeten Feldzug beeilte sich Potocki, erst 
seine Drohungen auszuführen. Er begab sich in seine Re¬ 
sidenz zu Nischyn, Hess unterwegs einige Tausende Pfähle 
spitzen und auf der Strecke von gegen 200 km 
(von Borowycia nach Nischyn) ruthenische Bauern, 
die ihm gerade in den Weg liefen, darauf s p i e s s e n. „Man 
muss — sagte er dabei — Allen einen solchen Schrecken 
einjagen, dass 10 Bestrafte Hunderten, Hunderte Tausenden 
ein Exempel bilden.“ Seiner eigenen Aussage zufolge hatte 
er sich nach Nischyn begeben, um „die Freude auszu¬ 
kosten, aufgespiesste ruthenische Bauern 
zu sehen.“ 

Der ganze Weg, den Potocki zurücklegte, wurde von 
den aufgespiessten Bauern wie mit einer Statuengalerie ver¬ 
ziert. Hernach begab sich Potocki nach Kijew, wo er den 
Anführer einer zweiten aufständischen Kosakenarmee, der in 
seine Hände geraten war, auf den Pfahl spiessen Hess. 
Potocki war der erste, der diese polnische Hinrichtungs¬ 
spezialität in grossem Masstabe anwendete und worüber sich 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



240 


der polnische Schriftsteller Sienkiewicz in seinem Roman 
„Mit Feuer und Schwert“ so ergötzt.*) 

Die fürchterlichen Repressalien verfehlten jedoch ihre 
Wirkung, denn schon im nächsten Jahre (1637) brach ein 
neuer Aufstand aus. Die Einwohner von Nischyn, der Resi¬ 
denz Potockis, und Umgebung standen als erste in den Reihen 
der Aufständischen, nachdem sie vorerst die rings um das 
Schloss als Abschreckungsmassregel aufgespiessten Köpfe 
der ruthenischen Bauern herabgenommen und bestattet hatten. 
Den Aufstand, welcher anfangs unter Ostrjanycia für die Ko - 
saken einen günstigen Verlauf nahm, so dass Potocki um 
Waffenstillstand bitten musste, diesen aber verräterischer¬ 
weise brach, entschied die Umklammerung des Kosakenlagers 
durch Potocki. Ein Teil vermochte die Reihen des Feindes 
zu durchbrechen und entkam. Die Übrigen mussten sich er¬ 
geben. Um die Kosaken zur Unterwerfung zu zwingen, griff 
Potocki zu dem schon oft bewährten Mittel, nämlich zu der 
Drohung, dass anderenfalls die Familien der Kosaken ausge¬ 
mordet und ihre Wohnstätten verbrannt würden. Die Kosaken 
unterwarfen sich nicht und das schauerliche Verwüstungswerk 
setzte ein. Damals schrieb der Kosakenhetman Hunia an 
Potocki: „Wollet lieber mit uns Kosaken kämpfen. Das un¬ 
glückliche Volk aber, dessen Stöhnen und unschuldig ver¬ 
gossenes Blut zum Himmel um Rache schreit, lasst in Ruhe.“ 
Der Chronist, der diese Kämpfe mitangesehen, erzählt, man 
habe Dörfer niedergebrannt, Greise undKinder 
mit wahrer Wollust abgeschlachtet, den Frauen 
und Mädchen die Brüste mit Holzscheiten zer¬ 
quetscht und abgeschnitten und mitdenselben 
die Männer und Väter insGesicht geschlagen, 
und darauf erst sämtliche Erwachsene hingeschlachtet; die 
Kinder aber wurden im Feuer verbrannt oder 
auf eisernen Platten geschmort. Über Befehl 
Potockis drangen polnische Schlachzizen in das Nonnen¬ 
kloster in Kaniw ein (dies war nach dem erbetenen Waffen¬ 
stillstand, welchen jedoch die Polen nicht hielten, weil die 
Schlachzizenehre gegenüber den „Schlechtgeborenen“ nach 
schlachzizischem Kodex ein Versprechen zu halten nicht 
verpflichtet war), plünderten dasselbe und beraubten es, 
schändeten d ie h e i 1 ige n S ac h e n, vergewaltigten 
dieNonnen und trieben sie nackt aus dem Kloster¬ 
gebäude heraus. — In dieser Beziehung gleicht diesem 
Potocki nur noch der Sienkiewicz-Held Fürst Jeremias 
Wiszniowiecki, auch ein Renegat, dessen Vater noch 
ein orthodoxer Ruthene war, der aber selbst von den Jesuiten 
in einen fanatischen Katholiken und Polen umgewandelt 


*) Vergl. Artikel: Henryk Sienkiewicz als Romanschriftsteller. 
Von Prof. Antonowytsch. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



241 — 


wurde. Als die Leute seines Gutes Pohrebyszcze sich dem 
Aufstande angeschlossen hatten, Hess er alle erwachsenen 
Männer unter den schrecklichsten Qualen töten, den Geist¬ 
lichen die Augen ausbohren und dann erst vollends töten, 
Weibern und Kindern Hess er die Augen herausnehmen, 
doch überliess er auf jedes Hundert von den letzteren ein 
Wesen mit nur einem ausgestochenen Auge als Anführer. 

Doch früher als ers gedacht, sollte die Rache des 
Himmels über Potocki kommen, von welcher Hunia dem 
letzteren schrieb und zwar der grossartige Aufstand des ge¬ 
samten ukrainischen Volkes (1648—1656), welche mit der 
Lostrennung der Ukraine am linken Ufer des Dnipro von 
Polen endete und der Anfang vom Ende Polens war. Den 
Aufstand erhoben die Kosaken mit ihrem Hetman Chmelnytzkyj 
an der Spitze. Ihnen schloss sich bald das Bauerntum an. 
Auch die Hofmilizen der polnischen Magnaten in der Ukraine, 
z. B. die zahlreiche Miliz eines Andreas Potocki in 
Bar ging ins Kosakenlager über und die Städte öffneten den 
Kosaken ihre Tore. Gegen Chmelnytzkyj wurde der 26jährige 
Stefan Potocki, Sohn des Feldherrn Nikolaus gesendet. 
Sein Vater schickte ihn in den Krieg mit der Aufmunterung: 
„Gehe mein Sohn, möge die Geschichte von deinem Ruhm 
berichten. — Geht und durchkreuzt die Steppen und Wälder, 
vernichtet die Sitsch, das verfluchte Nest und bringt die An¬ 
führer zur gerechten Strafe!“ Die feindlichen Armeen stiessen 
bei Zowti wody zusammen. Die polnische Armee, ob¬ 
wohl der ruthenischen an Zahl Überlegen, wurde vernichtet 
und auch der junge Feldherr fand hier seinen Tod. . 
Sein Vater suchte Trost in der Rache, die in Plünderungen und 
Hinschlachten der Bauern ihren Ausdruck fand. Er schickte 
den Befehl aus, Dörfer und Städte zu verbrennen. Als er die 
Stadt Korsun anzünden Hess, wurde er von den Kosaken 
überrascht, sein Heer aufs Haupt geschlagen und er selbst 
festgenommen*). Die Kosaken traten ihn dem mit ihnen 


*) Den Kummer der Gräfin Potocka nach dem Verlust des 
Sohnes und Gatten besingt ein ruthenisches Volkslied, dessen Schluss 
lautet: 

ln tiefem Kummer, schluchzend klagte Frau Potocka: 

„Und hab’ ich Dir, Herr Potocki, nicht schon lange zugeredet, 
„Schon lange Zeit führst Du, Potocki, Krieg mit den Kosaken; 
„Du besiegst sie nicht, nur verlierst Du umsonst Deine Kräfte.“ 
ln einem anderen ruthenischen Volkslied, welches sich auf die 
Gefangenschaft Potockis bezieht, heisst es: 

„Und da haben die Kosaken nachgesetzt den Polaken 
„Und gleich einem störrisch Böcklein Potocki gebunden.“ 
Der gefangen genommene Feldherr wird vor Chmelnytzkyj ge¬ 
bracht, der sich über ihn lustig macht: 

„Ei, ei, Herr Potocki, halte mir nur Stand, 

„Was hat Dich verführet, dass Du Krieg geführet, — 

„Dein Weiberverstand?“ 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



242 


Digitized by 


verbündeten Tartarenchan ab, von dem er sich dann loszu¬ 
kaufen verstand und im weiteren Verlauf des Krieges sein 
Handwerk als Plünderer und Henker weiterführte. Von diesem 
Potocki schreibt der polnische Chronist Jerlicz: „Nikolaus 
Potocki sorgte mehr für volle Becher und Gläser als für die 
Sachen der Republik und deren Wohl. Ohne auf sein hohes 
Alter zu achten, waren seine Gedanken mehr bei jungen 
Mädchen und hübschen Frauen als sonstwo — und durch 
seine Sauflust und sein Wüstlingsleben brachte er die 
Armee ins Verderben und tat der Republik unauslöschliche 
Schande an.“ Dieser Potocki hatte auch Anteil an dem für 
die Kosaken infolge des Verrates des Tartarenchans so ver¬ 
hängnisvollen Beresteczko, mit welchem der Statthalter 
Potocki den Ruthenen drohte. Doch bedeutete dieses Be¬ 
resteczko keineswegs den Zusammenbruch der ukrainischen 
Wehrmacht. Denn schon ein Jahr darauf wird die polnische 
Armee von den Kosaken bei Batih vernichtet und die Feld¬ 
herrn Kalinowski und Marek Sobieski (Bruder des nach¬ 
maligen Königs) fanden hier ihren Tod*). 

Ein polnischer Chronist erzählt von einem Potocki, der 
sich aus Rache gegen die seinen Verwandten angetane 
Schmach an Chmelnytzkj dadurch rächte, dass er die Braut 
des Sohnes Chmelnytzkyjs, die Tochter des moldauischen 
Fürsten überfiel und vergewaltigte. 

Man würde sich aber in der Annahme, es habe sich 
allen Potockis, die so wacker gegen die Ruthenen kämpften, 
nur um das Vaterland Polen gehandelt, sehr täuschen. Den 
besten Gegenbeweis liefert uns der Stanislaus Potocki, 
welcher im Jahre 1655 als’Grossfeldherr dem Siebenbürgischen 
Fürsten Görgy Rakoczy ohne Wissen des lebenden polnischen 
Königs die polnische Krone offerierte, also einen Hoch¬ 
verrat beging. Am 10. Oktober kam der Gesandte Rakoczy’s 
Sebesi zu Potocki und sie machten aus, dass Rakoczy Soldaten 
beistellen, Sold bezahlen und durch Geschenke die polnischen 
Magnaten gewinnen sollte. Aber auch Rakoczy wurde zum 


ln einem anderen Lied klagt Potocki über Chmelnytzkyj: 

„Mich, den Herrn Potocki, den König der Polen 
„Drei Tag’ festzuhalten hat er anbefohlen; 

„Vor dem Geschütz bin ich gefesselt gesessen, 

„Er gab mir nichts zu trinken und gar nichts zu essen“ usw. 


*) In einem Volkslied wird gesungen : 

„So hat Leid erfahren fürs stolze Gebahren 
„Der Marschall Potocki; 

„Und Du hast es auch erfahren 
„Feldherr Kalinowski.“ 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



24! 


Besten gehalten, weil er sich am 28. Oktober mit seinen 
11.000 Mann den Schweden ergab.*) 

Die langjährige Kampagne endete für die Polen sehr 
unglücklich; sie büssten den schönsten Teil des Reiches ein. 
Der Schauplatz der Kriege, d e Ukraine, wurde vollständig 
verwüstet, ganze Gebiete waren brachliegend, aber das Volk 
triumphierte. „Ach nirgends ist besser und nirgends ist 
schöner als bei uns in der Ukraine, wir haben keine Polen 
mehr und keine Herren und brauchen nicht zu fürchten 
Unionen und Verrat“ — heisst es in einem Volkslied. — Aller¬ 
dings war das Bündnis mit Moskau, übrigens gedacht nur 
als ein Mittel zum Zweck, zur Errichtung eines selbständigen 
Reiches, ein Fehler, der sich dann schwer rächte. Auch unter 
Moskau, welches die Selbständigkeit der Ukraine nicht re¬ 
spektierte, brachen mehrere Aufstände aus, die hier jedoch 
vor allem politischen Charakter hatten, während die ukraini¬ 
schen Aufstände in Polen einen sehr starken sozialen Unter¬ 
grund hatten. Nach der Teilung der Ukraine im Jahre 1681 
unter Moskau, die Türkei und Polen wiederholen sich die 
Bauernaufstände in dem an das letztere zugewiesenen Lande 
bis in die letzten Jahrzehnte des XVIII. Jahrhunderts. Dabei 
haben die Potockis wiederum eine wichtige Rolle inne. 

Die Lage des ukrainischen Volkes besserte sich nämlich 
in dem an Polen geratenen Teile der Ukraine nicht im Ge¬ 
ringsten. Im Gegenteil. Polen ging kopfüber seinem Unter¬ 
gang entgegen, die Anarchie griff immer mehr um sich und 
feierte wahre Orgien. Das Opfer der schlachzizischen Aus¬ 
gelassenheit war aber, wie immer, das ukrainische Volk. Die 
Schlachzizen überboten sich gegenseitig an raffinierten Mitteln 
und Wegen, den ruthenischen Bauern auszubeuten und zu 
misshandeln.**) Die Leibeigenschaft war noch das wenigste. 
Wurden doch auch ruthenische Geistliche ins herrschaftliche 
Feld zur Robot und zwar auch an den Feiertagen getrieben.***) 
Das ius primae noctis erhielt sich bei den polnischen Gutsherrn 
noch bis ins XIX. Jahrhundert. Der ruthenische orthodoxe 
Glaube wurde das Zeichen nicht nur etwas Minderwertigen, 
sondern direkt etwas, was man hassen und verachten musste. 
Noch im Jahre 1766 wurde von der polnischen Schlachta auf dem 
Landtage in Warschau der Beschluss gefasst, einem jeden, 
der es wagen sollte, zum Schutze eines Nichtkatholiken auf¬ 
zutreten, als einen Vaterlandsverräter zu betrachten, und dies 


*) Szilägyi Sandor. Elsö szövetkeses Lengyoiorszag felosztäsära 
1656 Budapesti Szemle Bd. 8 (1875) p. 296—331. Mitgeteilt von Dr. M. 
Korduba. 

**) Vergl. die „Memoiren des Grafen Starzenski“ in der Ukr. 
Rundschau Nr. 5—8, 1907. 

***) Noch im Jahre 1792 musste der ruthenische Pfarrer von 
Zalynkowate, Bez. Skole in Galizien, am ruthenischen Ostersonntag 
ins herrschaftliche Feld arbeiten gehen. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



244 


geschah zu einer Zeit, als in der nächsten Nähe von Polen, 
in Westeuropa, die religiöse Toleranz bereits selbstverständ¬ 
lich war. ln der Ukraine aber durfte ein jeder orthodoxe 
Ruthene beraubt und ermordet werden, eben weil er orthodox 
war und ihn niemand in Schutz nehmen konnte und tatsächlich 
wurden nicht nur wohlhabendere Ruthenen beraubt und er¬ 
mordet, sondern auch ruthenische Klöster überfallen, Nonnen 
vergewaltigt. Ruthenische Kirchen wurden geplün¬ 
dert und an die Juden verpachtet, heilige Sachen 
geschändet und die Ruthenen gezwungen dasselbe zu tun. Das 
nannte man die Bekehrung der ruthenischen Bauern zum Ka¬ 
tholizismus. Auf solche Art bekehrte und belehrte auch Josef 
Potocki die Ukrainer anfangs des XVIII. Jahrhunderts und 
so gelang es auch wirklich, alles was etwas zu verlieren 
hatte, wenigstens formell zum Katholizismus zu bekehren . . . 
So kam das ruthenische Volk um seine Intelligenz. 

Der Typus eines zum Tiere gewordenen polnischen 
Magnaten war aber zweifellos ein Nikolaus Potocki, 
Starosta in Kaniw, der noch nach Anschluss Galiziens, wo 
er begütert war, an Österreich sein Verwüstungswerk fort¬ 
setzte. Es ist dies gewiss die populärste Gestalt vom Hero¬ 
stratentum in der Ukraine. Dieser pervers veranlagte Wüst¬ 
ling, über welchen eine Unmenge Sagen und Lieder beim 
ruthenischen Volke in Umlauf sind, war vor allem eine Geissei 
für die Weiber. Er musste jedes schöne Weib im 
Umkreise besitzen, nach Besitzergreifung des¬ 
selben aber Hess er es töten. Wenn sich ihm ein Mäd¬ 
chen nicht freiwillig ergeben wollte, So schleppte er es in die 
Kirche, Hess sich dort trauen und wenn er sich des Mäd¬ 
chens durch einige Tage als legitimer Mann erfreut hatte, Hess 
er es töten, weil er sonst nicht mehr „legitim“ heiraten könnte, 
und ihm ein feierliches Leichenbegängnis veranstalten. 
Wir bringen an anderer Stelle eine Übersetzung des Liedes 
„Bodnariwna“ (Bodnars Tochter), welches den Tod eines 
ruthenischen Mädchens von Potockis Hand zum Thema hat. 
Diesem Potocki, im Volke unter dem Namen Pan Kaniowski 
(Herr auf Kaniw) bekannt, machte es ein besonderes Ver¬ 
gnügen, alte Weiber undjuden auf die Bäume 
klettern zu lassen und herabzuschiessen. 

„Herr Kaniowski“ ist der bekannteste aller Potockis 
unter dem ruthenischen Volke. Es gibt gewiss in der ganzen 
Ukraine, so lang und breit sie ist, keinen einzigen ruthenischen 
Bauern, welcher noch nie etwas von Kaniowski gehört hat 
oder nichts zu erzählen wüsste. 

Je näher es dem Untergang Polens zuging, je grösser 
die Anarchie wurde, desto ärger wurden die bestialischen 
Misshandlungen. Am ärgsten ging es aber auf den Besitzungen 
des Salesius Potocki zu, wo die Union mit der 
römischen Kirche auf die bewusste Weise eingeführt wurde, 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



245 


bis sich das Volk wieder einmal gegen die Deichsel stemmte 
und aus dem Gleichgewicht kam. Viel trug auch die polnische 
Geistlichkeit dazu bei, die Unzufriedenheit im Volke zu hellen 
Flammen zu entfachen, indem sie öffentlich den Kreuzzug 
gegen die ruthenische, sowohl orthodoxe, als auch unierte 
Kirche predigte. Ein solcher Kanonikus namens Kosowski 
predigte: „Jeder Ruthene ist ein Hund und sein 
Glaube ein Hundeglaube.“ Man durfte mit einem Nicht¬ 
katholiken ganz nach Gefallen handeln; der Jude, dem man als 
Zeichen seiner Hoheit das Schwert zu tragen erlaubte, durfte 
z. B: straflos den Geistlichen ohrfeigen. Musste doch der 
ruthenische Geistliche zuerst zum Juden um die Kirchen¬ 
schlüssel gehen.*) 

Im Jahre 1776, als der Leidenskelch bis zum Übermass 
gefüllt war, brach sich der angehäufte Ingrimm in Form einer 
fürchterlichen Revolte Bahn. Der Ausspruch, der ruthenische 
Glaube sei ein Hundeglaube, der Ruthene ein Hund — wurde 
von einem anderen abgelöst: „Polak, Jud und Hund sind 
eines Glaubens.“ Dieser Spruch war zugleich auch der Frei¬ 
brief zum Hinmorden der Schlachta und Juden. Das grösste 
Blutbad wurde aber, selbstverständlich, auf den Besitzungen 
des Salesius Potocki, dessen Hofmiliz unter Führung Gontas 
zu den Aufständischen überging. Eine ungezählte Menge von 
Schlachzizen und Juden wurde hiebei abgeschlachtet. Der 
Aufstand wurde erstickt und . an den Aufständischen fürchter¬ 
liche Rache genommen. Sie wurden mit Säbeln und Äxten vom 
Kopfe bis zu den Füssen zerhackt und die Glieder ins 
Rad geflochten und aufgespiesst. Gonta selbst wurde auf die 
Art hingerichtet, dass ihm zuerst ein Auge herausge¬ 
stochen, auf einen Speer gespiesst und zur Ab¬ 
schreckung dem Volke herumgezeigt wurde, dann wurde ihm 
eine Hand abgehauen und herumgezeigt, wobei ihn 
der Henker in ruthenischer Sprache fragte, wo er geboren 
sei, ob er Frau, Vater, Mutter und Kinder habe. Dann wurde 
ihm gleicherweise die andere Hand, ein Fuss nach 
dem anderen abgehauen, der Bauch aufge¬ 
schlitzt, das. Eingeweide herausgenommen, 
zuletzt der Kopf abgeschnitten, die Zunge 
h erausgerissen und mit einem Nagel auf einen Pfosten 

*) So werden noch heute bei den zu Ostern auf den Kirchen¬ 
plätzen veranstalteten Volksunterhaltungen Lieder vorgetragen, welche 
an diese schändliche Zeit erinnern. So wird in einem Osterlied von 
Selman, dem jüdischen Pächter gesungen, den der Geistliche und 
das Volk vergebens erwartet, damit er die Kirchentüre öffne. Der 
Jude schläft nämlich und man darf ihn nicht wecken. Auf einmal bricht 
das Volk in ein Freudengeschrei aus: es hat nämlich Herrn Selman, 
der eben mit seiner ganzen Familie die Schenke verlässt, wahrge¬ 
nommen. Er kommt mit den Schlüsseln zur Kirche und öffnet die¬ 
selbe — selbstverständlich gegen Eintrittsgeld. — Wir bringen an 
anderer Stelle die Übersetzung eines ruthenischen Volksliedes mit 
ähnlichem Thema. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



246 


gespiesst; das Herz wurde extra aufgespiesst und der Rumpf 
aufs Rad gelegt.*) 

Wir haben eines Stanislaus Potoki erwähnt, der hoch¬ 
verräterischerart die polnische Krone bei Lebzeiten des 
Königs einem fremden Herrscher antrug. Ein ähnliches Unter¬ 
nehmen bedeutete die von einem anderen Potocki und 
seinem Schwiegervater arrangierte Konföderation der Schlachta, 
derzufolge Polen sich unter das Protektorat Russlands begab, 
worauf bald die Teilung Polens erfolgte. Dieses Vorgehen 
wird von den Polen als Verrat bezeichnet. 

Ein Scheusal von einem Menschen ist aber der von 
dem polnischen Schriftsteller Malczewski in dessen schöner 
Dichtung „Marya“ geschilderte Potocki.Marya war dieTochter 
des Schlachzizen Komorowski, welcher im Bezirke Sokal in 
Galizien wohnte Der Sohn des Grafen, Felix Potocki, verliebte 
sich in die schöne Marya, wozu der Alte unter keiner Be¬ 
dingung seine Zustimmung geben wollte, weil er es für eine 
Schande hielt, dass sein Sohn eine arme Schlachzizentochter 
heirate. Als der Sohn jedoch darauf bestand, mietete der Alte 
einige Mörder, welche die schöne Marya in ihrem Hause 
überfielen, erwürgten und in den Fluss warfen. Dieser 
Potocki lebte in Galizien, als dieses Land bereits im Besitz 
Österreichs war. 

Es gehört nicht in den Rahmen unseres Artikels, ist 
jedoch für das Geschlecht der Potockis charakteristisch, was 
die Budapester „Allgemeine jüdische Zeitung“ auf Grund der 
Annalen der Familie Potocki aus dem XVII. Jahrhundert be¬ 
richtet. Es ist dort die Rede von einem Potocki, welcher 
auf Giund religiöser Studien zur Überzeugung gekommen 
war, dass die mosaische Religion am vernünftigsten sei. Er 
t r at in Amsterdam z u r mo s a i s c h e n Konfession über 
und kam verkleidet als polnischer Jude nach Polen zurück. 
Erkannt, wurde er von seinen Verwandten abgefangen und 
dem Gerichte ausgeliefert. Er wurde unter fürchterlichsten 
Foltern gezwungen, ein Geständnis abzulegen, worauf er am 
Scheiterhaufen verbrannt wurde. — Dies sei zugleich 
eine Illustration der „religiösen Toleranz“, mit welcher die 
Polen so sehr prahlen. 

Es könnten gewiss auch von den lebenden Potockis 
hübsche Geschichfen erzählt werden. Gleich nach dem Lem- 
berger Attentat brachten manche österreichische und ausländi¬ 
sche Blätter recht pikante Sachen. Doch wollen wir uns 
mit solchen nicht befassen. Uns hat sichs nur darum gehandelt, 
auf Grund geschichtlicher Daten und unter Anführung von 
Tatsachen, welche durchwegs von polnischen Chro¬ 
nisten bestätigt werden (sind doch oft polnische Chronisten 
die einzigen diesbezüglichen Quellen), einen Beweis zu liefern, 
dass der Antagonismus, welcher dem ruthenischen Volke 

*) Vergl. Ukr. Rundschau, Nr. 11/12, 1907. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



247 


gegen seine Bedrücker innewohnt, keineswegs eine abge¬ 
sonderte, von Ort und Zeit unabhängige Erscheinung ist, 
sondern seinen Ursprung und seine Begründung in der Ge¬ 
schichte hat. Und die Handlungen des verstorbenen Andreas 
Potocki waren nicht darnach angetan, das strenge Urteil der 
Geschichte zu mildern. w. K. 


Ruibeniscbe Uolkslieäer. 

I. Die Ju d e n h e r r sc h aft in der Ukraine. 

(Aus dem XVII. Jahrhundert. *) 

Es waren die jüdischen Pächter im Lande 

Wie arg sie ’s trieben — es war eine Schande, 
Kosakenkirchen waren gepfändet 
Von den unheil’gen Händen geschändet. 

Und wollt’ ein Kosake sein Kindlein taufen 
Da konnte er nicht zum Popen gehen, 

Zum Juden musste der Arme laufen 

Und seine Erlaubnis erflehen 

Und um ein Sechserl den Eintritt erkaufen. 

Und wollten die Armen sich trauen lassen, 

Der Weg zum Popen war ihnen erlassen, 

Denn liess der Jude sich nur bewegen — 
Der Gang zur Kirche war dann zu erhoffen, 
Doch mussten sie einen Taler erlegen. 

Dann war die Kirchtür ihnen auch offen 
Und dann bekamen sie erst den Segen. 


*) Dieses Lied liegt in mehreren Varianten vor, wie überhaupt 
der Stoff in einer grossen Anzahl von ruthenischen Volksliedern be¬ 
handelt wird. — Die polnischen Magnaten brauchten viel Geld und 
Geld hatten die Juden und stellten dasselbe den ersteren gegen 
die Überlassung der Steuereinnahmen, Verpachtung von Mauten und 
Schenken zur Verfügung. Der Schlachzize bemühte sich von dem Juden 
soviel Geld als nur möglich auszupressen, der Jude presste es seiner¬ 
seits von den Bauern aus. Der Bauer aber selbst hatte zwei Herren 
über sich, den Gutsherrn, dessen Eigentum er war und für den er die 
ganze Woche arbeiten musste (für sich durften die Bauern in der Nacht 
arbeiten) und den Juden, welcher den Bevollmächtigten des Schlach- 
zizen spielte. Der Unwille des Volkes wuchs und artete in Empörung 
aus, wozu in hohem Masse der Umstand beitrug, dass die Schlachta 
in dem Haschen nach neuen Geldquellen es nicht gescheut hatte, sogar 
die ruthenischen Kirchen den Juden in Pacht zu geben. Die Reaktion 
kam in einer Reihe von Revolten und Aufständen zum Ausdruck, mit 
denen die Geschichte der Ukraine im XVII. und XVIII. Jahrhundert 
ausgefüllt ist. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



248 


Nicht konnte den Juden die Herrschaft genügen, 

Sie wollten das ganze Land auch besiegen, 

Sie hatten ’s gepachtet samt allen Flüssen 
Kudeska, Probijna, wie alle sie hiessen — 

Hnyla, Saksan und Samar 
In ihren Händen war. 

Und wollt’ ein Kosake an Fischen sich laben, 

Musst’ er die Erlaubnis vom Juden haben, 

Und hat der Arme mal fischen wollen, 

Dann trug er dem Juden vor sein Begehren, 

Und musste ihm den Tribut dann zollen, 

Gefiel ’s dem Pächter ihn zu erhören — 

Dann könnt’ er wohl die Fische sich holen, 

Um Weib und Kind zu ernähren . . . 

II. Bodnariwna.*) 

(Aus dem XVIII. Jahrhundert.) 

Dort im Städtchen, dort in Buczacz klingen Musikweisen, 
Seht im Rathaus Bodnars Tochter flott im Tanze kreisen. 
Dort im Städtchen, auf dem Marktplatz kreist der Mädchen 

Reigen 

Vor der jungen Bodnariwna alle sie sich neigen. 

Und es kam der Herr Kaniowski,**) alle zu begrüssen, 

Will die junge Bodnariwna in die Arme schliessen. 

Doch die junge Bodnariwna kannt’ die Spässe nicht — 
Wandte ihre kleine Rechte, schlug ihn ins Gesicht. 

Und es gab dort gute Leute, die dem zugesehen: 

Fliehe, fliehe Bodnariwna, ’s wird Dir schlimm ergehen. 

Über Berg’ und Täler ging es, als brennt’s auf den Hacken, 
Hinterdrein saust Herr Kaniowski mit dreien Kosaken.***) 
Und der eine, der erwischt sie und drückt sie an sich: 

O wie leid, Jung-Bodnariwna ist es mir um Dich; 

Und der zweite, der ergriff sie um die weisse Hüfte: 

Fliehe, fliehe Bodnariwna in der Donau Tiefe; 

Und der dritte, der erwischt sie an den schwarzen Locken: 
Genug, genug, Bodnariwna, tat’st Du uns verlocken. 

Und sie führten Bodnariwna in das neue Haus, 

Setzten nieder sie aufs Bänkchen, fragten sie dann aus: 
Willst Du, willst Du, Bodnariwna, Met und Schnäpse trinken, 
Oder willst Du, Bodnariwna, in die Erde sinken? 

Herr, ich bin die Bodnariwna, hab’s Dir gleich erzählet, 

Dir, dem Herrn auf Kaniw, bin ich ja nicht gleich gestehet. 


*) Tochter eines Fassbinders (ruthenisch: Bodnar). 

**) Pan Kaniowski = Nikolaus Potocki, Starosta in Kaniw, 
geb. 1712, gest. 1782. Siehe die Charakteristik desselben im Artikel 
„Potocki“, Seite 244. 

***) Die polnischen Magnaten kleideten und bewaffneten ihre 
Hofsoldaten nach Kosakenart und nannten sie auch Hofkosaken. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



•249 


Drauf hat nun der Herr auf Kaniw zu spielen befohlen. 

Er selbst ging hinein ins Zimmer das Gewehr zu holen. 
Und es sollte ihre Schönheit nimmer ihn erbarmen, 

Denn er zielte, hat getroffen in das Herz der Armen. 

Das Gewand der Bodnariwna ist gestickt, gezieret, 

Und mit Blut der Weg bezeichnet, wo man sie geführet. 
Und die junge Bodnariwna, sie war gelb beschuht, 

Wo man sie geführt, die Arme, gab es Brünnlein Blut. 

Und man führte Bodnariwna in ihr Heim zurücke, 

Legte hin sie auf das Bänklein, damit man sie schmücke. 
Und es rang der alte Vater verzweifelt die Hände: 

Meine kleinen Kinder, dies ist unser Tod und Ende. 

Und es kam der Herr auf Kaniw aufs neue Gehöfte, 

Ob hier Bodnariwna wohne, fragt er seine Knechte. 

Hier hast Du nun, alter Vater, dreihundert Dukaten 
Aufs Begräbnis für die Tochter, sollst sie schön bestatten. 
Und befahl der Herr auf Kaniw um Schneider zu gehen, 
Damit sie der Bodnariwna ’s Totenkleidchen nähen, 

Und es tat der Herr auf Kaniw dem Schreiner befehlen. 
Nun der jungen Bodnariwna den Sarg herzustellen, 

Und befahl der Herr auf Kaniw die Maurer zu holen, 
Damit sie der Bodnariwna die Gruft bauen sollen, 

Und befahl der Herr auf Kaniw, statt Glockengeläute, 

Dass die Musik Bodnariwna gebe das Geleite. 

Wie schön warst Du, Bodnariwna, in dem traurigen Lose, 
Wirst in keinem Garten finden eine schön’re Rose. 

Einen Kranz von Immergrün wand man ihr ums Haupt, 
Schmückte dann die Bodnariwna gleich wie eine Braut. 

Übersetzt von Iryna K. M. B u d z. 


€1* M$$erg<Uizi$d)e$ Gericht für lifyrostow Sicxynskyj. 

Von Dr. Walther Rode. 

Der Eid, den ein Geschworener im Geltungsgebiet der 
österreichischen Strafprozessordnung zu leisten hat, lautet: 
„Ich schwöre und gelobe vor Gott, die Beweise, welche gegen 
und für den Angeklagten werden vorgebracht werden, mit der 
gewissenhaftesten Aufmerksamkeit zu prüfen, nichts uner- 
wogen zu lassen, was zum Vorteile oder zum Nachteile des 
Angeklagten gereichen kann, das Gesetz, dem ich Geltung 
verschaffen soll, treu zu beobachten, vor meinem Aus¬ 
spruch über den Gegenstand der Verhand1ung 
mit Niemand, ausser mit meinen Mitgeschworenen, R ü c k- 
sprachezu nehmen, der Stimme der Zu- oderAb- 
neigung, der Furcht oder Schadenfreude kein 

Digitized by Got «gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



250 


Gehör zu . geben, sondern mich mit der Unpar¬ 
teilichkeit und Fe s t i gk e i t e i n e s r e d 1 i c h e n u n d 
freien Mannes nur nach den für und wider den Ange¬ 
klagten vorgeführten Beweismitteln und meiner darauf gegrün¬ 
deten Überzeugung, so zu entscheiden, wie ich es vor Gott 
und meinem Gewissen verantworten kann.“ 

Das Gesetz verlangt also, dass der zum Richter avan¬ 
cierte Mann aus dem Volke frei sei von Zu- oder Abneigung 
gegen den Angeklagten, frei von Furcht und Schadenfreude 
bei Ausübung seines Amtes, es verlangt, dass der Wille des 
Richters unbewegt bleibe von jenen Motiven, welche das Tun 
und Zugreifen im täglichen Leben bestimmen. 

Diese Forderung wird erhoben, weil die richterliche 
Funktion eine solche ist, die nicht den persönlichen, sondern 
den Interessen der Gesellschaft zu dienen den Zweck hat. 

Die Gesellschaft jedoch, deren Interessen der Ge¬ 
schworene durch seinen Richterspruch wahrzunehmen hat, 
ist nicht die enge Gemeinschaft seiner Sippe, seiner Freund¬ 
schaft, nicht die nahe und lebendige Verbindung mit jenen 
Volksgenossen, welche von natürlicher politischer Solidarität 
umschlossen werden, sonst wäre ja die vom Gesetze per- 
horreszierte Interessiertheit am Ausgange des Prozesses in 
der Brust jedes Geschworenen geweckt, in lebhaftem Wider¬ 
spruch mit der. geforderten Unparteilichkeit des Richters. 

Wer zu richten hat über seinen nationalen Gegner, seinen 
politischen Feind, wo dieser in dem zu beurteilenden Falle 
als politischer Feind hervorgetreten ist, der repräsen¬ 
tiert keineswegs jene Qualitäten der richterlichen Abgeklärt¬ 
heit, des Entferntseins von der zu richtenden Sache, welche 
vorhanden sein müssen, damit ein Spruch zustande kommt, 
welcher gleichermassen die Schwere der Tat und den Drang 
des Täters, Vollstrecker von Ideen oder politischen Notwen¬ 
digkeiten zu sein, abwägt. 

Dies sind Grundsätze, welche die zivilisierten Völker im 
Laufe der Jahrtausende anerkannt haben, sei es dadurch, dass 
sie dem Staatsverbrecher das Recht gaben, Anhängerschaft 
zu werben für seine Sache vor Zusammensetzung des Ge¬ 
richtes, sei es dadurch, dass sie ihm die Praerogative ein¬ 
räumen, sich seine Richter aus einer Sphäre unbeteiligter 
Männer zu wählen. Wer ein Urteil von seinem politischen 
Todfeind erdulden muss, wird nicht gerichtet, sondern justi- 
fiziert, denn die Maxime des politischen Kampfes ist nicht 
Gerechtigkeit, sondern Vernichtung. Und trotz aller Solenni- 
täten der Gerichtsbarkeit ist das Urteil über den ergriffenen 
Feind niemals das Urteil eines Gerichtes. Wenn aber schon 
die latente politische oder nationale Gegnerschaft zum Richter¬ 
amte unfähig macht, wenn schon in unbedeutenden Sachen 
der Brite nicht gerecht sein kann gegen den Iren und der 
Pole nicht gegen den Ruthenen, wie erst dort, wo die Gegner- 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



251 




schaft um grosser Dinge willen in flagrante Feindschaft aus¬ 
artet? Über die ganz besondere Unmöglichkeit im Falle 
Myroslaw Siczynskyj aus dem polnischen Volke Richter zu 
stellen existiert ejn klassisches Dokument, verfasst von einem 
polnischen Richterkollegium, ein Dokument, aus welchem viel 
Klugheit und geistige Freiheit spricht. Anlass zur Verfassung 
dieses Schriftstückes bot der Prozess gegen die ukrainischen 
Studenten wegen der am 23. Jänner 1907 verübten Demolierung 
der Universität in Lemberg. Damals, obgleich es sich um einen 
Strafprozess, der vor sogenannten gelehrten Richtern zur Ent¬ 
scheidung kommen sollte, gehandelt hat, wurde von der Rats¬ 
kammer des Strafgerichtes in Lemberg die Delegierung eines 
deutschen Gerichtes beantragt und zwar mit Argumenten, 
welche es ihrer Triftigkeit und Unwiderleglichkeit wegen ver¬ 
dienen, der Nacht der Vergessenheit entrissen zu werden. 
Wie haarscharf die Argumentation der Ratskammer in Lem¬ 
berg, niedergelegt in dem Sitzungsprotokolle der Ratskammer 
vom 5. März 1907 O. Z. 342 des Strafaktes gegen Paul Krat 
und Genossen, auf den Strafprozess gegen Myroslaw Siczynskyj 
passt, wird jeder Leser ohne Mühe beurteilen können. 

Das Protokoll lautet: „In der Sache Paul Krat und Ge¬ 
nossen wegen des Verbrechens der öffentlichen Gewalttätgi- 
keit wurde die Untersuchung geschlossen und die Akten zus 
Stellung weiterer Anträge an die k. k. Staatsanwaltschaft ge¬ 
leitet und das gesamte Materiale lässt vorherrschen, dasr 
wenigstens gegen einen Teil der Beschuldigten die Anklage 
erhoben werden wird. Die vorliegende Sache hat 
unbestritten einen ausgesprochen politischen 
Hintergrund. Gegenstand des Richterspruches 
werden Handlungen sein, welche unter dem 
Einflüsse von bis zumhöghstenGradeerregten 
nationalen Leidenschaften begangen wurden. 

„Bereits das Wesen des Gegenstandes allein, die Art und 
der Charakter selbst der Handlungsweise, die Ausdehnung 
und Folgen der verübten Gewaltakte und die angerichteten 
Verheerungen zeigen ausdrücklich, dass die Ursache ein un- 
mässiger Rassenhass war, welcher gegen den anderen Volks¬ 
stamm gerichtet war, bei welchem diese Vorgänge, so wie 
die früheren eine nicht minder scharfe Reaktion hervorrufen 
mussten.. Die beiderseitige Steigerung der Empfindungen, 
welche unter dem ersten Eindrücke des Attentates auf die 
Universität und einen der Professoren entstanden ist, wurde 
mit jedem Tage durch den weiteren Verlauf der Vorfälle 
stärker. 

„Jede neue Phase, welche diese Sache 
durchmachte, hallte mit lautem Echo in der 
Stadt und im ganzen Lande nach, war Gegen¬ 
stand lebhafterDiskussionen in derPublizistik, 
in Versammlungen, in Korporationen und 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




252 


weckte immer stärkere Erregung Aus der Mitte des 
Gremiums des hiesigen Gerichtshofes nimmt zwar niemand 
an den politischen Kämpfen teil und nimmt niemand in na¬ 
tionalen Fragen eine konkrete Stellung ein. Trptzdein ist es 
schwer anzunehmen, dass es irgend jemand bis 
zu diesem Grade gelingen wird, die eigene In¬ 
dividualität zu beherrschen, sich der persön¬ 
lichen Anschauungen und Gefühle zu ent- 
äussern, sich von jedem Einflüsse der in der 
Gesamtheit, zu weicherer gehört, quellenden 
Strömungen zu befreien, dass er an die Beur¬ 
teilung einer Sache dieser Art, in ihrer gegen¬ 
wärtigen Gestalt bei der Färbung, welche ihr 
die letzten Episoden verliehen haben, mit 
jener Kühle, jenem Gleichgewicht und jener 
Nüchternheitherangehen wird, welche dieVor- 
aussetzung eines gänzlich unparteiischen und 
objektiven Urteiles darstellen. 

„Andererseits kann es nicht gleichgiltig sein, welche 
Aufnahme das zu fällende Urteil in der Allgemeinheit finden 
wird. Es handelt sich in diesem Falle nicht um die Ansicht 
einzelner bestimmter Personen, einzelner Gruppen oder Par¬ 
teien, sondern es ist leicht vorauszusehen, dass das ganze 
Uoik, welkes an diesem Prozesse ein Interesse hat, in ent¬ 
gegengesetzte Lager zerfallen wird, von 
denen jedes von seinem Standpunkte aus 
die gerichtliche Entscheidung beurteilen 
und aus derselben Schlüsse ziehen wird. 

„Welches Misstrauen die ruthenischen nationalen Kreise 
den Gerichten im Lande, insbesondere in Lemberg, entgegen¬ 
bringen, ist gut bekannt. £s geht dies hervor aus den fast 
täglichen Emanationen der Presse, den parlamentarischen 
Diskussionen, den eingebrachten Interpellationen, welche so¬ 
wohl von Beleidigungen, als von schweren Anklagen gegen 
die galizische Gerichtsbarkeit und deren Vertreter voll sind. 
Ein nicht minder auffallender greller Ausdruck ähnlicher Ar¬ 
gumente und Anschauungen ist der Inhalt der Erklärung, 
welche von den Inhaftierten an das k. k Oberlandesgerichts¬ 
präsidium mit der Ankündigung des Hungerstreikes einge¬ 
bracht wurde. Jedes Wort darin enthält Voreingenommenheit 
gegen die Behörden des Landes und die Überzeugung, dass 
dieselbe Unschuldige bestrafen, Rechtsbrüche begehen, Rache¬ 
akte ausführen. Unter solchen Umständen wird keine Ge¬ 
nauigkeit und Objektivität, wenn sie selbst bis auf das äusserste 
ginge, das Urteil, wenn es kein vollständiger Freispruch sein 
sollte, von den unförmlichsten Einwendungen, Insinuationen 
und Verdächtigungen beschützen. Wenn selbst eine teilweise 
Verurteilung eintreten sollte, wird die ruthenische Gesellschaft 
jeden Verurteilten als ein Opfer der Verfolgung betrachten 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



253 


und die Presse und die Agitation strengen alle ihre Kräfte 
an, um diese Meinung den Massen des „Ein Mehr-Millionen¬ 
volkes“ einzuimpfen und sie mit Hilfe dienstbereiter Blätter 
im ganzen Reiche und im Auslande zu verbreiten. Es ist auch 
die Befürchtung vorhanden, dass die Beschuldigten, welche 
grösstenteils die Aussage verweigern, zwecks Erreichung des 
beabsichtigten Effektes sich auch bei der Verhandlung nicht 
verteidigen und erklären werden, dass sie vor gerichtlichen 
Feinden, welche sie von vornherein verurteilen müssen, über¬ 
haupt nicht antworten werden. Für den Fall des Gegenteiles, 
wenn es nicht zur Verurteilung kommen sollte, würde die 
Gesamtheit des polnischen Volkes nicht leicht an das Vor¬ 
handensein sachlicher Motive glauben, sondern würde dies 
als eine beunruhigende und übelverheissende Erscheinung von 
Schwäche einer verderblichen Kapitulations p o 1 iti k vordem 
Schrecken erklären, und würde nicht ermangeln dieses Er¬ 
eignis mit den zirkulierenden und beharrlich aufrecht gehal¬ 
tenen Gerüchten über den Druck der Zentralbehörden etc. etc. 
in Verbindung zu bringen. 

„Jedenfalls würde das gerichtliche Urteil, anstatt mit 
seinem Ansehen die Gegensätze zu entwaffnen und die öffent¬ 
liche Meinung zu beruhigen, für die Hälfte des Landes und 
dessen Volkes eine neue Quelle von Wirrnissen und Er¬ 
regungen, ein neues Ziel leidenschaftlicher Ausfälle schaffen. 
Man kann auch nicht unterlassen, auf den Umstand die Auf¬ 
merksamkeit zu lenken, dass jeder Gerichtshof im Lande von 
vornherein als ein Werkzeug der herrschenden feindlichen 
Majoritäten verschrien ist und somit ausgesetzt wird den 
Angriffen eines zügellosen Terrorismus und nach wieder¬ 
holten Erfahrungen, besonders nach den Manifestationen vor 
dem Gerichtsgebäude zu Ehren der befreiten Studenten kann 
wohl bezweifelt werden, ob die lokalen Behörden diesem 
Terrorismus eine entsprechend mächtige Schutzgewalt gegen¬ 
überzustellen im Stande sein werden, die die Freiheit der Be¬ 
ratungen und die öffentliche Ordnung sichern könnten. 

„Alle oben angeführten Kollisionen würden aufhören, 
wenn die Sache ein fremder Gerichtshof erledigen wird, bei 
welchem die Richter und sohin auch der öffentliche An¬ 
kläger nicht Bewohner dieses Landes sind und keiner der 
interessierten Nationen angehören würden, daher ausserhalb 
sämtlicher jener Faktoren, welche die Unparteilichkeit und 
die Unabhängigkeit der Meinung gefährden würden. 

„In Erwägung daher, dass die Sache, welche Gegen¬ 
stand der Untersuchung ist, mit Rücksicht auf die Ursachen, 
die Art und die Bedeutung der vorgekommenen Ausschreitungen, 
sowie auf die durch diese Ausschreitungen berührte Sphäre von 
öffentlichen Interessen eine überaus ruhige und sachliche Unter¬ 
suchung erfordert, so hat die Ratskammer nach Anhörung 
der übereinstimmenden Meinung der Staatsanwaltschaft ein- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


3 

Original from 

SNDIANA UNtVERSITY 



\ 


- 254 — 


stimmig beschlossen: Dem k. k. Oberlandesgerichte den An¬ 
trag in dem Sinne der §§ 62 und 63 St. P. O. auf Erwirkung 
der Delegierung eines anderen Gerichtshofes ausserhalb von 
Galizien und Bukowina, welch letzteres Land mit Rücksicht 
auf die nationalen und politischen Verhältnisse mit Galizien 
auf gleicher Stufe steht, behufs weiterer Führung und Erledigung 
der Sache zu stellen.“ 

Was die Lemberger Richter da sagen, hat Sinn und 
Wahrheit. Und der oberste Gerichtshof, welcher über Dele¬ 
gierungen zu entscheiden hat, darf sich, auch wenn die Herren 
Polen heute anderer Meinung sind, als im März vorigen Jahres, 
um diesen Widerstand nicht kümmern, er muss ein Gericht 
ausserhalb Galiziens für die Strafsache Siczynskyj delegieren, 
sonst verletzt er seine Pflichten. Ich jedenfalls habe nicht er¬ 
mangelt, mich in meinem Delegierungsgesuch der ausgezeich¬ 
neten Argumente der polnischen Richter zu bedienen; man 
soll lieber ein Plagiat begehen an guten Gedanken und starken 
Gründen, als originell sein in schwachen. 



fienryk Sienkiewicz als Romanschriftsteller. 

Von Prof. Wladimir Antonowytsch. 

Der bekannte polnische Belletrist Henryk Sienkiewicz ist 
Verfasser des vierbändigen historischen Romans „Mit 
Feuer und Schwert“, dessen Thema der Geschichte der 
Ukraine entlehnt ist. Durchflochten von romantischen Episoden, 
die für die künstlerische Schöpfung des Schriftstellers sehr 
bezeichnend sind, führt uns die Erzählung die gewaltigen 
Kämpfe vor, welche der Kosakenhetman Chmelnytzkyj mit 
den Polen in dem Zeitraum vom Frühling 1648 bis zum 
Friedensvertrag von Zboriw, Ende August 1649 ausgefochten hat. 

Nach dem Eindruck zu urteilen, den diese Erzählung 
Sienkiewicz’ bei der polnischen Gesellschaft hervorrief und 
nach dem, wie sie von den Polen aufgenommen wurde, be¬ 
deutet sie unzweifelhaft den Ausdruck der gegenwärtigen 
Höhe des historischen Selbstbewusstseins der polnischen 
Gesellschaft, das Schlusswort ihrer patriotischen, nationalen 
und gesellschaftlichen Anschauungen, die für uns desto inter¬ 
essanter sind, als sie infolge des gewählten Themas vornehmlich 
auf Grund der polnisch-ukrainischen Beziehungen im 17. Jahr¬ 
hundert zum Ausdruck gelangen. 

Tatsächlich hat kein einziges Erzeugnis der polnischen 
Literatur im 19. Jahrhundert solches Verständnis und Mit¬ 
empfinden seitens seines Publikums genossen und ist keines 
der Gegenstand so vieler einstimmiger Ovationen gewesen. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



255 


als diese Erzählung Sienkiewicz’. Gleich nach dem Erscheinen 
der ersten Kapitel des Romans „Mit Feuer und Schwert“ im 
Feuilleton der Warschauer Zeitung „Slowo“ wurden sie von 
der Presse und von der allgemeinen Meinung als „ein nie 
dagewesenes, unübertroffen geniales Werk“ bezeichnet. Das 
Entzücken und die Lobpreisungen nahmen bei der dem pol¬ 
nischen Volke eigenen sanguinischen Heftigkeit einen gerade¬ 
zu hyperbolischen Umfang an. Der Professor der polnischen 
Literatur an der Krakauer Universität, Graf Tarnowski, 
widmete sogar der Erzählung Sienkiewicz’ eine Reihe öffent¬ 
licher Vorträge, in welchen er behauptete, dass das von ihm 
begutachtete Werk von Henryk Sienkiewicz durch seinen 
künstlerischen Wert alle Werke Shakespeares, Mil¬ 
tons, Dantes, Tassos, Goethes und aller anderen 
zusammengenommenweitindenSchattenstelle; 
die Zuhörer beantworteten diese Gasconade mit frenetischen 
Beifallskundgebungen und bald danach begann die aristokra¬ 
tische Krakauer Gesellschaft einzelne effektvollere Szenen aus 
der gefeierten Erzählung in lebhaften Bildern darzustellen. 

Die kritischen Stimmen selbst einiger besonnener pol¬ 
nischer Zeitschriften, dahingehend, dass, wenn schon ein Ver¬ 
gleich mit Werken ausländischer Verfasser am Platze sei, 
man eher die„DreiMusketiere“ von Dumas sen. als irgend¬ 
ein Werk von Goethe oder T^sso anführen könne und dass 
andererseits das Werk Sienkiewicz’ die Tendenz zeige, die Ideale 
des 17. Jahrhunderts wieder ins Leben zu rufen, die das natio¬ 
nale polnische Leben schon damals so überaus schädigten 
und heute unbedingt zu verwerfen sind, wurden überschrieen 
und blieben alle derartigen Ausführungen nur eine Predigt 
für taube Ohren. 

Wir wollen versuchen die publizistischen Grund¬ 
züge des Verfassers in Kürze zu skizzieren, mit welchen er 
auch mehr als durch den künstlerischen Wert seiner Erzäh¬ 
lung die öffentliche Meinung für sich gewonnen und die 
grenzenlose Verhimmelung seitens des polnischen Publikums 
erobert hat — und danach wollen wir beurteilen, inwiefern 
diese Züge der historischen Wahrheit entsprechen und 
auf einige Formen der künstlerischen Schöpfung des 
Autors hinweisen — ausschliesslich vom Standpunkte ihrer 
historischen und ethnographischen Glaubwürdigkeit. 

Seiner Meinung nach hat Polen im 17. Jahrhundert nur 
deshalb ein mustergiltiges Königreich dargestellt, weil es die 
Gleichberechtigung der Bürger nicht anerkannte und ihrer 
Mission, den nationalen Charakter des ukrainischen Volkes 
umzubilden und das letztere in die absolute Abhängigkeit 
der privilegierte Stände zu bringen, nachstrebte. Als nun 
das polnische Königreich auf sozialen und nationalen Wider¬ 
stand stiess, war es nach der Meinung Sienkiewicz’gar nicht 
verpflichtet, die falsche Richtung seiner inneren Politik ein- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



256 


Zusehen. Seine Ideen vertritt der Hauptheld des Werkes Fürst 
Jeremias Wiszniowiecki. Dieser anerkennt die Ver¬ 
pflichtung, die Aufständischen „rücksichtslos und 
und ohne Mitleid zu bestrafen“ und meint, dass 
„die Würde der Republik“ ihm die Verpflichtung auf¬ 
erlege, die Kosaken mit „Stumpf und Stiel auszu¬ 
rotten“ (co do nogi — ein Lieblingsausdruck des Ver¬ 
fassers), sie zu spiessen und ihre Abgesandten zu ent¬ 
haupten, er schwört, die Bauernaufstände im B 1 u t z u 
ersäufen und indem er im entscheidenden Augenblick 
seiner Führerrolle gedenkt, zeichnet er in knappen Umrissen 
den Plan seiner Handlungsweise: Das Kosakenlager 
zertreten, einen Ozean von Blut vergiessen, alles 
biegen und brechen, vernichten, zermalmen und 
dann die Missbräuche beseitigen, „den Aufstand fre s s e n 
und sich an seinem Körper sättigen“, er träumt 
weiter „von einem Feld, bedeckt mithunderttausend 
Leichen“ usw. Wenn einem gebildeten Leser der Jetztzeit diese 
leidenschaftlichen kannibalischen Exklamationen vor Augen 
kommen, regen sich in ihm unwillkürlich Zweifel und Be¬ 
denken: Wie konnten solch blutrünstige Begierden die Brust 
eines Schriftstellers des 19. Jahrhunderts durchwogen, die 
den Freunden Neros oder den Gesellen des Dschingis-Chan 
angemessen sind, nicht aber einem Denker und Dichter 
unserer Zeit. Fürst Wiszniowiecki ist als ein Ideal regie¬ 
render Weisheit und bürgerlicher Tugenden dargestellt, 
als ein Verfechter der Wahrheit und Gerechtigkeit. Der Ver¬ 
fasser ist von seinem Helden derart bezaubert, dass er in 
seinen Aussprüchen über denselben geradezu lächerlich wird. 
So nennt er jede abfällige Bemerkung über Wiszniowiecki 
„eine Gotteslästerung“ (sic! „bluznierstwo“), er verleiht ihm 
eine sozusagen überirdische Macht, die ihn mit einem Glorien¬ 
schein umgibt und welche zur Folge hat, dass Tausende von 
Kosaken, die Bewohner ganzer Ländereien in panischem 
Schrecken flüchten, sobald nur der Name „Jarema“ genannt 
wird. — Beim Ansturm der Kosaken gegen Zbaraz z. B. zeigt 
sich der Fürst inmitten seiner Fahnen und Fackeln und ein Er¬ 
zittern geht durch die Reihen der Kosaken bei seinem Anblick 
und die Waffen entfallen ihren kraftlos gewordenen Händen... 
Es ist ja möglich, dass wir uns irren, und doch: die Farben 
dieses effektvollen Bildes sind dem VI. Bande des „Ver¬ 
lorenen Paradieses“ von M i 11 o n entlehnt. 

Wenn wir auch gerne bereit sind, den richtigen Aus¬ 
gangspunkt der der Wahrheit vollkommen entsprechenden 
Entwickelung des monarchischen Prinzips durch den Verfasser 
des Romans „Mit Feuer und Schwert“ anzuerkennen — auch 
trotz mancher entstellenden Einzelheiten — so muss doch 
andererseits festgestellt werden, dass die andere Anschauung 
des Verfassers, Polen sei im 17. Jahrhundert der Inbe- 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



griff der Zivilisation, die Ukraine dagegen die 
Repräsentantin von Wildheit und Unkultur gewesen, 
vollkommen falsch ist, sowohl in ihrer Voraussetzung als 
auch in ihren Folgerungen. Bei beiden Nationen gab es ge¬ 
mäss ihren ethnographischen Eigenheiten und ihrer historischen 
Entwickelung verschiedene kulturelle Typen; möglich ist ja, 
dass im gegebenen historischen Moment der Zivilisations¬ 
anteil des einen Volkes vielleicht etwas grösser war, als der 
des anderen, 'aber auch dies alles angenommen ist noch lange 
kein Grund zu der Behauptung vorhanden, dass der im 
17. Jahrhundert entbrannte Kampf eine Kulturbestrebung von 
der einen und ein Auflehnen dagegen von der anderen 
Seite war. 

Sienkiewicz sucht, nachdem er schon einmal von dem Ge¬ 
danken besessen ist, die ukrainischen Kosaken und Bauern 
als Wilde hinzustellen, diese Meinung auf alle und jede Art auf¬ 
rechtzuerhalten, welche Bemühungen manchmal weit über die 
Grenzen des literarischen Anstandes hinausgehen. In seinem 
Werke sprechen, antworten, schreien und singen die Kosaken 
nicht — sie johlen, gröhlen, brüllen und heulen. 
Die ganzen Vorgänge drehen sich um die unedle, ausgelassene 
Bevölkerung der Ukraine, bei jeder Gelegenheit wird ihrer 
mit derartigen Epithelen Erwähnung getan, wie „das wilde, 
zügellose Bauernpack“, „daswilde Räubervolk“, 
„das Diebsgesindel“, „Bestien, die sich von der 
Kette reissen“, „der nach Blut lechzende Pöbel“ usw. 
Bei der Schilderung eines Scharmützels, während dessen ein 
Schlachzize einem Kosaken einen Schlag versetzt, drückt sich 
Herr Sienkiewicz folgendermassen aus: „er schlug dem Ban¬ 
diten mit dem Säbel ins Gefriess.“ Derartige stili¬ 
stische Blüten und Blütchen Hessen sich in der Erzählung 
ganze Säcke voll pflücken — aber wir denken, es genügen 
schon die wenigen Beispiele, um zu zeigen, mit welchen 
Mitteln der Verfasser operiert, um den Lesern die Überzeugung 
von der Wildheit des ukrainischen Volkes beizubringen. Natür¬ 
lich sind die Kosaken und Bauern nach der Behauptung 
Sienkiewicz, aller bürgerlichen Tugenden bar, sie streben 
nach wilder Freiheit und vernichten die Früchte jahrelanger 
Bemühungen der Schlachzizen. „ln den Kosakenaufstän¬ 
den fehlten gänzlich jegliche religiöse Motive, Chmelnytz- 
kyj nur hat es verstanden, die räuberischen Instinkte diplo¬ 
matisch mit der religiösen Maske zu verdecken und sich den 
Anschein zu geben, als ob er für den Glauben eintrete. Tat¬ 
sächlich gelang es ihm, den religiösen Fanatismus zu ent¬ 
fachen bis zu dieser Zeit aber hatten die Zaporoher 
Kosaken die Kirchen geplündert und mit den geraubten 
kirchlichen Gegenständen auf dem Markte in der „Sitsch“ 
Handel getrieben; alles, was über die religiöse Gemütsver¬ 
fassung der Zaporoher erzählt wird, ist aus der Luft ge- 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



258 


griffen“(!) Die Zaporoher sind ein Auswurf der Mensch¬ 
heit, „der mit Lumpen bedeckt, halbnackt, 
wild und rauchgeschwärzt, von dem Kot und 
Blut besudelt war, das die Seuche ausschied“ usw. 
Bei den Ratsversammlungen in der Sitsch rollten sie 
die Branntweinfässer hinaus und die Beratung kam nur da¬ 
durch einigermassen zustande, weil die Oberen mit Stock¬ 
prügeln einige Ordnung schafften, indem solche sehr reich¬ 
lich ausgeteilt wurden. Sie sparten auch nicht von der Pistole 
Gebrauch zu machen und überantworteteten die verdächtigten 
Kameraden sofort ihrer Strafe, indem sie dieselben gleich 
während der Ratsversammlung in Stücke rissen usw. 

Nach der Meinung Sienkiewicz’ also herrschte bei der 
Bevölkerung der Ukraine bis zum Erscheinen der Schlachta 
das Räuberunwesen, sie hatte keinen blauen Dunst vom 
Ackerbau, wenn sie auch wünschte, dass das Land den Land¬ 
leuten gehören solle. Neben dem offenbaren Widerspruch dieser 
Ansicht birgt sich darin auch eine in die Augen fallende histo¬ 
rische Unwahrheit. Alle geschichtlichen Quellen von 
Herodots Zeiten her bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, in 
welchem die polnische Schlachta in der Ukraine auftaucht, 
weisen auf den Ackerbau als vornehmliche Beschäftigung 
der Ukrainer hin. Es genügt, auf die Ackerbaugeräte und Ge¬ 
treidekörner zu verweisen, die während der heidnischen 
Epoche in den Erdhöhlen der Nordbewohner oder Urein¬ 
wohner gefunden wurden; erinnern wir uns an den „smerd“ 
(Leibeigener) und dessen Beschäftigung, von der uns die 
Chronik (Wladimir Monomach, J. 1103) meldet; ferner an die 
ganzen Ländereien, die sich im 12. Jahrhundert den Mongolen 
verpflichteten, Tribut an Weizen zu entrichten, denken wil 
an das Getreide, mit welchem die Ukraine Konstantinopel 
im 15. Jahrhundert durch den hohen Chadschi-bej (das 
heutige Odessa) versorgte — und wir müssen zur Überzeugung 
gelangen, dass die Mitteilungen Sienkiewicz’ über die Unlust 
zum Ackerbau und Mangel an diesem, sowie das Räuberun¬ 
wesen seitens der Bevölkerung nur tendenziöse Aus¬ 
fälle sind. Dass der Grund zu den Kosakenaufständen unter 
Chmelnytzkyj in keiner Hinsicht religiöser Natur war, ist auch 
eine historische Unwahrheit. Man könnte dafür zwanzig Be¬ 
lege zitieren, doch genügt der Hinweis, dass das Zaporoher 
Lager 30 Jahre vor Chmelnytzkyj den Sahajdatschnyj hervor¬ 
brachte, der durch die Wiedereinsetzung der griechisch-orien¬ 
talischen Hierarchie den für das Volk so schädlichen Druck 
der unierten Intrigue beseitigte. 

(Schluss folgt.) 


□ igitized by Google 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



259 


€ine nicht gestellte Anfrage an den Präsidenten des 
österreichischen Abgeordnetenhauses. 

Vom Abg. W. Budzynowskyj. 

Herr Präsident! Sie scheinen nach dem Grundsätze zu handeln: 
kleine Diebe hängt man und grosse lässt man laufen. Der Herr Ab¬ 
geordnete Bielohlawek, welcher dem ehrwürdigen russischen Schrift¬ 
steller Tolstoj einen Fusstritt gegeben hat, wurde von Ihnen gerügt. 
Dem Herrn Abgeordneten Hlebowitzkij aber, welcher diesem Giganten 
der neueren Literatur — verzeihen Sie, Herr Präsident — ins Gesicht 
spuckte, wurde nicht einmal ein Ordnungsruf erteilt. Denn Abgeord¬ 
neter Hlebowitzkij hat Tolstoj viel ärger beleidigt, als der gerügte 
Bielohlawek, indem er ihn auf eine Stufe mit dem anderen Giganten 
der neueren Literatur, Sienkiewicz, gestellt hat. Wer ist Tolstoj? 
Tolstoj ist Apostel der Liebe, Anwalt der armen, ungebildeten, arg 
bedrückten Bauernschaft und deswegen hat die Auslassung des Ab¬ 
geordneten Bielohlawek eine solche Entrüstung in der gebildeten Welt 
hervorgerufen. Das Urteil über seine sogenannten wissenschaftlichen 
und sozialpolitischen Theorien lautet nicht mehr so einstimmig zu 
seinen Gunsten und das könnte für Herrn Bielohlawek als Milderungs¬ 
umstand gelten. 

Und nun komme ich zu Sienkiewicz. Dieser Mann ist auch ein 
Gigant und Riese der neueren Literatur, wie das Abgeordneter Hlebo¬ 
witzkij behauptet. Seinen Ruf als solcher heimste er in Europa zuerst 
ein als Verfasser des geschichtlichen Romans „Mit Feuer und Schwert“, 
welcher ein Kriegsmanifest gegen das ruthenische Volk und Talmud 
der Allpolen ist. In demselben apotheosiert Sienkiewicz den Aus¬ 
rottungskrieg gegen die Ruthenen, er predigt die Vernichtung mit Feuer 
und Schwert gegen dieses Volk, dessen Sohn und Vertreter der Ab¬ 
geordnete Hlebowitzkij ist, wobei es ganz einerlei ist, ob dieses Volk 
eine selbständige oder nur einen Teil der russischen Nation bildet. Ein 
Hauptheld in diesem Romane ruft, als er den ruthenischen Bauern Met 
trinken sieht, entrüstet aus: „Und Du, Herrgott, siehst dies und 
donnerst nicht!“ 

Diesen Apostel des Hasses und der Verachtung untersteht sich 
Herr Hlebowitzkij auf die gleiche Stufe mit dem russischen Apostel 
der Liebe als eine Leuchte für die Menschheit zu stellen. Kann es 
denn eine grössere Beleidigung geben? 

Ich stelle daher an den Herrn Präsidenten die Anfrage, ob er 
geneigt sei, gegenüber dem Abgeordneten Hlebowitzkij für diese un¬ 
erhörte Beleidigung eines Mannes, wie Tolstoj, wenigstens seinem Be¬ 
dauern Ausdruck zu geben? 

Die Radel. 

(Eine Potocki-Geschichte). 

Von Oleksa Storoienko. 

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Wilhelm Horoszowski. 

In früheren Zeiten lebten einst in der Ukraine Leute, die 
über sich gar keine Macht anerkannten. Ein jeder von ihnen 
hielt nur seinesgleichen für einen Menschen, denn in dieser 
Gleichheit achtete er sich selber, seine eigene Selbständig- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



260 


keit, Geringere hingegen hielt er für Vieh, Staub, Mist. Alles 
was der Herr mit verschwenderischer Hand über die Welt 
gestreut, alles das sahen sie in ihren Palästen, um diese 
Paläste aber ringsherum ungedeckte Hütten und abgeschlissenes, 
hungerndes, frierendes Volk. Alles gute und liebe, womit der 
Herr den Menschen segnet, indem er ihm Herz und Seele 
gibt, alles das füllte bei ihnen der Schlamm der Grosstuerei, 
der Schmach und der Gier. Und wie wunderlich das bei 
ihnen zusammentraf und ausartete: Sie predigten Freiheit, 
Unabhängigkeit und peitschten indessen ihre eigenen Unter¬ 
tanen. Sie brannten Dörfer nieder, mordeten zu Tausenden 
das Volk hin und weinten über dessen Unglück. Klöster und 
Kirchen schmückten sie aus und verloren die Seelen in 
schweren Sünden. Zu ihrem Vergnügen erschossen, ver¬ 
brannten und hängten sie Menschen; sie straften ohne Ver¬ 
schulden und belohnten ohne Verdienst; zu ihrem Nutzen 
trieben sie Tränen von Menschen und deren Mühe, Schweiss 
und Blut durch den Destilierkolben, um aus dem Gefäss 
wenigsten einen Tropfen Gold zu gewinnen. Und sollte 
sich die ganze Welt umkehren! Wenn es nur ihnen gut war, 
wenn nur alles nach ihrem Willen geschah, wie es ihnen 
beliebte. Weit und breit, auf alles erstreckte sich dieser 
Wille; und hätte er sich erheben können, er würde wahr¬ 
scheinlich ans Himmelsgewölbe herangereicht haben . . . Und 
wisst ihr, ihr guten Leute, wie man diese Leute hiess? Pol¬ 
nische Magnaten .. . . ! 

Ich will euch einiges von einem aus diesem Magnaten¬ 
kreis erzählen, von Potocki, der einst in Tultschyn gelebt. 
Vielleicht hörtet ihr, was er in seinem Leben getrieben? Un¬ 
barmherzig war er seinem Volke gegenüber, am ärgsten aber 
gegen die Juden. Was er mit ihnen nicht getrieben zu seinem 
Vergnügen . . . . ! 

So malte er mit Kohle ein Teufelchen an die Wand, 
ähnlich einer schwarzen Katze, und zwang einen Juden, mit 
im Ofen erhitzten Steinchen auf diese Katze zu zielen. Der 
Jude hatte kaum diese Steinchen berührt, da schrie er auch 
schon: „Waj, waj!“ — Der Arme hatte sich die Finger ver¬ 
brüht — jener aber mit dem Kautschuk auf ihn: „Ziele, 
Teufelssohn, wenn nicht, dann peitsche ich dich zu Tode!“ 
— Nichts zu machen, er nimmt ein Steinchen, wirfts; trifft 
er nicht, so wird er geschlagen, weil er gefehlt; hat er ge¬ 
troffen, dann peitscht ihn Potocki auch: „Warum schlägst 
du die schwarze Katze?“ 

So spielte er mit ihm wie die Katze mit der Maus, bis 
er den Armen halbtot gemartert. 

Einmal erschoss er einen Juden — nicht einen eigenen, 
sondern den eines anderen Herrn, gleichfalls eines solchen 
Magnaten wie er selbst es war. Und auf welche Art er ihn 
erschossen! Er gab dem Juden einen Dukaten und sprach: 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





261 


„Klettre einmal auf die Weide und rufe „kuckuck“. Der Jude 
kletterte hinauf und hatte kaum ein-, zweimal „kuckuck“ ge¬ 
rufen, da legte Potocki an und drückte los; der Arme stürzte 
zu Boden und hier holte ihn der Teufel. 

„Sieh her“, sprach Potocki, „kuckuck ruft er auf der 
Weide, da dachte ich, es wäre ein Kuckuck und schoss.“ 

Darob wurde der Herr dieses Juden böse auf Potocki. 

„Wie,“ sprach er, „konntest du es wagen, meinen Juden 
zu erschiessen? Hast du denn zu wenig eigene?“ 

Schaut her, er nahm sich eines Menschen an! . . . 

Da Hess Potocki eine Fuhre mit Juden voll laden, be¬ 
festigte diese noch obenauf mit einem Heubaum, wie die 
Garben, und schickte sie jenem Herrn, dem schrieb er: „Sei 
nicht böse, mein Täubchen, da schicke ich Dir für einen ein 
ganzes Schock“. 

Auch traf es sich, dass er zuweilen, wenn er in einer 
herbstlichen Nacht Von der Jagd zurückkehrte, ein ganzes 
Dorf anzündete, um sich den zu seinem Palast führenden 
Weg zu beleuchten. 

Einmal fand Potocki Gefallen an einer sehr schönen 
jungen Frau, die aber ergab sich ihm nicht, trotzdem er ihr 
gar vieles anbot, trotzdem er sich so sehr um sie bemühte. 
Des Magnaten Herz hatte der Teufel in Besitz genommen. 
Er berief zu sich einen sinnreichen italienischen Maler und 
liess ihn ein Porträt dieser Kosakin malen. 

Wie zwei Schwestern stehen sie vor ihm. Beide, gleich 
schön und traurig, sehen ihn mit dem nämlichen stolzen 
Blick an. 

Lange betrachtete Potocki das Porträt, dann blickte er 
finster die Kosakin an und sprach: 

„Siehst Du, wie ich Deine Schönheit schätze! Noch die 
Enkel werden es sehen, wie schön Du gewesen; dafür aber, 
weil Dein Herz meiner Liebe nicht nachgegeben, sollst Du 
sterben; wenn nicht ich, so soll auch kein anderer Dich be¬ 
kommen! .. .“ 

Er riss aus dem Gurt eine Pistole hervor und schoss 
die Arme nieder ... 

So wacker war dieser Potocki! . . . 

Und hört ihr erst die Geschichte von der Nadel, so 
wird sie euch gewiss nicht als Lüge erscheinen. 

So hört denn. 

Einige Meilen von Tultschyn, neben einem Gute Potockis, 
lebte mit Weib und Kind ein Schlachziz, Herr Kondratowicz. 
Er hatte einige Morgen Feld, ein Vorwerk, arbeitete fleissig, 
und hatte es nicht nötig, irgendwen um Brot zu bitten. Da 
wurde der Ökonom dieses Gutes, Herr Tridurski, wegen irgend 
etwas böse über ihn (jeder Ökonom spielte sich seinerseits 
auch auf einen Potocki heraus) und vertrieb den armen 
Schlachzizen samt Weib und Kind aus dessen eigenem Hause. 


Digitized by 


Go gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



262 


Was soll so ein armer Schlachziz machen? Er kann doch 
nicht einen Magnaten gerichtlich belangen! So sattelte er 
denn sein Pferd und machte sich auf nach Tultschyn, zu 
Potocki selber, sich der Gnade und Gerechtigkeit Seiner 
Hochwohlgeboren anzuvertrauen. 

Kondratowicz war noch keine Meile gegen Tultschyn 
zugefahren, als er aus der Ferne Potockis Kutsche gewahr 
wurde. Dieser selbst fuhr voran, ihm folgte eine ganze Es¬ 
kadron Soldaten, Jagdaufseher, Reitknechte und Hundewärter 
mit Jagdhunden und Windspielen. 

Kondratowicz war sehr erfreut, als er Potocki gewahr 
wurde. Der Herr selber schickt ihn mir zu, dachte er sich, 
vielleicht hört er mich gnädig an und lässt mir das geraubte 
Eigentum zurückgeben. 

Er hielt das Pferd an, zog die Mütze und so stand er 
da: er wagte es nicht, sich von selbst dem Hetinan zu nähern. 
Bis Potocki selbst seinem Pferde die Sporen gab und auf 
Kondratowicz zugesprengt kam. 

„Wer bist Du?“ fragte Potocki. 

„Ein Schlachziz, hochwohlgeborener Herr!“ entgegnete 
Kondratowicz, sich tief verbeugend. 

„Und hast Du eine Nadel?“ fragte wiederum Potocki. 

Kondratowicz riss die Augen auf, stierte ihn an und 
wusste nicht was zu antworten. 

„Hast Du eine Nadel, Hundsfott, Lump?“ donnerte Po¬ 
tocki, die Brauen düster zusammenziehend und rot werdend: 
er war bereits zornig. So schnell hatte der Teufel von seinem 
Herzen Besitz ergriffen. 

„Nein, hochwohlgeborener Herr . . erwiderte Kondra¬ 
towicz. 

„Nein?“ schrie Potocki, mit den Zähnen knirschend. — 
„Schau her“, sprach er, auf eine im Ärmel versteckt gewesene 
und wie bei Schneidern mit Zwirn umwickelte Nadel weisend 
— „schau her: ich, Graf Potocki, Kronhetman, ein Herr über 
Herren, habe hundert Burgen — ich habe eine Nadel, um, 
wenn etwas reisst, es zuzunähen, und Du Hallunke, Hosen¬ 
loser, Du hast keine? . . .“ 

„A hu, Jungens, gärbt ihm das Fell!“ 

Die teuflischen Schinder Hessen den Verblüfften kein 
Wort reden; sie zogen den Diener Gottes vom Pferd herunter 
und bearbeiteten ihn mit den Kantschuks. 

Potocki aber sah dem zu und erklärte: 

„So belehrt man Dummköpfe und bringt sie zu Verstand! 
So belehre auch Du sie und hau sie mit eigener Hand! 

Vielleicht hätte der Arme noch mehr Hiebe abgekriegt, 
allein zu seinem Glück war ein Hase aufgetaucht. Nun Hess 
Potocki den Kondratowicz los und verfolgte den Hasen. 

Der arme Kondratowicz konnte es sich nicht erklären, 
wofür über ihn dieses Unglück gekommen. Denn er, wisst 









263 


ihr, dachte an Ehren, an ein gerechtes Urteil, und nun traf 
ihn für nichts und wieder nichts eine grausame Strafe. 

„Also das ist herrschaftliche Gerechtigkeit“, dachte er. 
„Nun kannst du den Magnaten vor Gottes Gericht be¬ 
langen! . . .“ 

Er brach in Tränen aus und fuhr nach Tultschyn zu 
seinem Verwandten, der bei Potocki als Stallmeister diente. 
Dort angelangt, erzählte er diesem alles, was sich zugetragen, 
wie ihn Trydurski beraubt und Potocki ihn durchgepeitscht. 

„Was gedenkst du nun jetzt zu tun?“ fragte der Ver¬ 
wandte. 

„Was denn?“ sagte Kondratowicz. „An mein Grundstück 
kann ich ja jetzt nicht mehr denken — hol’s der Teufel; 
Frau und Kinder überlasse ich Gottes Willen, ich selber aber, 
und wenn ich zugrunde gehen müsste, werde es ihm schon 
vergelten, diesem Teufelssohn!“ 

Nichts zu sagen, Kondratowicz war eben so verbissen 
— nicht etwa einer von der Sorte, die ihren Rücken mit 
fremden Dukaten heilen. 

War er doch noch, unberufen, gesund und konnte mit 
einer Hand drei solche wie Potocki niederwerfen. 

„Kränke Dich nicht,“ sprach der Verwandte, „Du wirst 
es ihm vergelten, wenn Dich schon gar so sehr danach ge¬ 
lüstet, ich will Dir einen Rat geben. Kennst Du die Kapelle 
dort am Ende des Parks?“ 

„Wie sollte ich sie nicht kennen?“ erwiderte Kondra¬ 
towicz, vor Freude zitternd. 

„Also in diese Kapelle,“ erzählte der Verwandte, „geht 
Potocki, als Bettler verkleidet, jeden Samstag die Sünden 
von der ganzen Woche der Potchaiwer Muttergottes zu 
beichten. Morgen ist Samstag; und wenn Du frühmorgens 
aufstehst, kannst Du ihn dorten ausklopfen, wie Einen im 
Erbsenfeld und mit ihm machen, was Deiner Seele belieben 
wird.“ 

Als Kondratowicz dies vernommen, war er wie neu¬ 
geboren. Und hatte auch schon ausgedacht, was zu tun sei. 

Dem Menschen ist es eine grosse Freude, einem Feinde 
beizustehen, den eine böse Stunde betroffen — eine noch 
grössere aber, sich an einem starken Feinde zu rächen. 
Man glaubt, ihn nicht für sich allein, sondern für alle und 
für all das Leid, das er den Menschen zugefügt, zu strafen. 

Die Teufel hatten einander noch nicht mit den Fäusten 
bearbeitet, als Kondratowicz eine gute Peitsche aussuchte 
und sich in den Park begab, zur Kapelle. Ungefähr einen 
halben Acker weit von ihr schlug er sich ins Gebüsch, um 
Potocki aufzulauern, wie die Katze der Maus. Es begann 
kaum ein wenig lichter zu werden, als Kondratowicz ein 
Rascheln vernahm. Siehe — da kommt ja Potocki, abgerissen 
und abgeschlissen: in einem groben Bauernkittel und einen 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



264 


Bettelsack umgehängt. Kondratowicz hielt den Atem an, zuckte 
mit keiner Wimper. Er sah, wie Potocki in die Kapelle trat 
und zu beten anfing. Bald streckte er sich zu Boden, bald 
schlug er sich mit den Fäusten in die Brust, bald hob er 
die Hände in die Höhe — als wollte er schon bei Lebzeiten 
in den Himmel hinauf. 

Kondratowicz erhob sich — bebend — so sehr gelüstete 
es ihn, seine Rache zu trinken. Er liess Potocki ein wenig 
beten, dann trat er in die Kapelle, machte einige Bücklinge 
und begann laut zu beten. 

„Heilige Mutter“, sagte er und dachte dabei was anderes, 
lass allezeit Glückseligkeit, Gesundheit, Wohlergehen und 
ein langes Leben über unseren Gutsbesitzer, Seine Hochwohl¬ 
geboren Herrn Potocki kommen dafür, dass er uns Dumm¬ 
köpfe belehrt und zu Verstand bringt! Mögen er und seine 
Kinder über uns herrschen bis zum Untergang der Welt!“ 

Potocki drückte sich in einen Winkel, lauschte und 
schmatzte; wie Butter strich ihm dies Gebet über die Seele. 

Er hatte es sofort gemerkt, dass das der nämliche Schlachziz x 
war, den er gestern so übel zugerichtet. Nach beendetem 
Gebet wandte sich Kondratowicz zu Potocki und fragte: 

„Und was machst Du hier, Alter?“ 

„Gebetet habe ich, wohlgeborener Herr,“ erwiderte Po¬ 
tocki, sich tief verneigend und mit dem Bettelsack sich ver¬ 
stellend, damit ihn der Schlachziz nicht erkennen sollte. 

„Und hast Du eine Nadel?“ 

Schau her, wie verständig! dachte Potocki. Wahrschein¬ 
lich hat er schon eine Nadel. 

„Hast Du eine Nadel, Hundsfott, Lump?“ donnerte Kon¬ 
dratowicz, über Potocki wie ein wildes Tier ergrimmt. 

„Nein, wohlgeborener Herr,“ entgegnete Potocki und 
will schnell zur Tür und denkt: Da habe ich zu meinem 
Unheil einen Menschen belehrt! Dass er mich nur nicht so 
züchtigt, wie ich gestern ihn. 

„Nein?“ schrie Kondratowicz, ihn zurückhaltend. „Sieh 
her,“ sprach er, „ich als ehrenwerter Schlachziz, habe einige 
Morgen Grund, zwei Pferde, eine Kuh, vier Schweine — 
und ich, ich habe eine Nadel, um nicht abgerissen umher¬ 
zugehen und Du, Schlingel, Lump, Hosenloser, Du hast 
keine! ?“ 

Sprachs und packte ihn am Schopf. Er raufte ihn tüchtig 
an den Haaren, dann nahm er seinen Kopf zwischen die 
Knie und peitschte drauf los, was das Zeug hielt. 

Er peitschte und peitschte, während er sprach: 

„So hiess uns unser Väterchen Potocki die Dummköpfe 
belehren und sie zu Verstand bringen! Nicht ich schlage 
Dich, sondern seine eigene Hand schlägt Dich!“ 

Und er schlug mit dem Riemen auf ihn ein, bis er ohn¬ 
mächtig wurde. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



265 


Als Kondratowicz Herz und Seele befriedigt, spuckte er 
noch Potocki an und kehrte zu seinem Verwandten zurück. 

„Also was?“ fragte der Verwandte, als er Kondratowicz 
erblickte. 

„Tüchtige Prügel habe ich ihm gegeben,“ sagte Kon¬ 
dratowicz lächelnd, „er wird noch nach Wochen an diese 
Nadel denken!“ 

„So mach Dich schnell auf und davon, dass er Dich 
nicht auf dem Galgen durchlüftet!“ 

„Wofür? . . . Hat er mir nicht selbst befohlen, die 
Dummköpfe zu belehren! Und ich habe ja nicht ihn ge¬ 
prügelt, sondern einen Bettler und dies mit seiner eigenen 
Hand. Übrigens, wohin sich flüchten vor einem Potocki? 
Es sei denn ins Jenseits, denn in dieser Welt kann man sich 
nicht vor ihm verstecken!“ 

„So ist es ja, aber schau her: Du selber weisst, dass bei 
diesen Magnaten die Gerechtigkeit so aussieht, wie beim 
Zigeuner das Hemd: es ist kurz, es ist geflickt. Und die 
Gerechtigkeit bei ihnen ist wie ein Stock in der Hand: mit 
welchem Ende man will, mit dem haut man.“ 

So sprachen sie sich aus und warteten, was für ein 
Gerücht wohl in Umlauf kommen würde über Potocki. 

Da kam just vom Herrenhof eine Magd zum Verwandten, 
die erzählte, der Hetman habe sich gestern auf der Jagd 
verkühlt und liege nun schwerkrank darnieder. 

Tags darauf, sie waren kaum aus der Kirche zurück¬ 
gekehrt, kam ein Kosak gelaufen. 

„Hält sich hier Herr Kondratowicz auf?“ fragte er. 

„Hier,“ erwiderte der Verwandte, „und wozu braucht 
Ihr ihn?“ 

„Der Hetman ruft ihn zu sich; er solle schnell 

kommen!“ 

Mutig ging Kondratowicz zu Potocki. 

Was kommen wird, wird kommen; und kommen wird das, 
was Gott bescheert — dachte er. 

Potocki hatte ihn kaum erblickt, da schrie er auch 

schon: 

„Also was, hast Du jetzt eine Nadel?“ 

Nur dass er jetzt nicht wie damals fragte, sondern 

gnädig, lächelnd. 

„Ja, hochwohlgeborener Herr,“ erwiderte Kondratowicz 
und zeigte eine Nadel. 

Potocki sah sie an, als hätte er noch nie eine gesehen 
und doch hatten nicht nur seine Aug6n, sondern auch sein 
Rücken diese Nadel bereits gesehen. 

„Und hast Du keine Gelegenheit gehabt, irgendeinen 
Dummkopf zu belehren?“ fragte der Hetman, indem er Kon¬ 
dratowicz fest ins Auge fasste. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



2Ö6 


„Wie das keine Gelegenheit, hochwohlgeborener Herr!“ 
erwiderte mutig Kondratowicz, „gestern traf ich in der Kapelle 
einen Bettler, den prügelte ich tüchtig durch — er wird 
lange an diese Nadel denken.“ 

Und nun fragte ihn Potocki aus, woher und wozu er 
hieher gekommen sei. 

Kondratowicz erzählte ihm alles. 

Der Hetman hörte ihn gnädig an, nahm einen Bogen 
Papier, den beschrieb er und sprach: 

„Nimm diesen Befehl hier und übergib ihn dem ersten 
Ökonom und alles wird so kommen, wie Du es nicht einmal 
geträumt!“ 

Kondratowicz dankte dem Hetman, küsste den Schoss 
seines Kontusch’ und begab sich ins Kompfoir. Der Ökonom 
hatte kaum den Brief zu Ende gelesen, als er die Augen 
aufriss und schrie: 

„Einige Jahre diene ich seiner Hochwohlgeboren, und 
er hat mir nicht einmal den zehnten Teil dieser Summe ge¬ 
schenkt, und nun weiss des Teufels Vater, wem und warum er 
Geld und Boden schenkt!“ 

„Das ist ja mein Boden,“ sagte Kondratowicz, noch 
vom Vater her. Er gibt ja nicht eigenen, sondern den, 
welchen mir Herr Trydurski geraubt!“ 

Lass hören . . . nicht eigenen! . . . Potocki hat be¬ 
fohlen, Dir zu Deinem Boden noch dreimal soviel zu geben 
und ausserdem noch zweihundert Dukaten, also was!“ 

„So sehr dauert Dich fremder Boden, ein fremder Rücken 
aber nicht? Vorgestern hat mir Potocki zweihundert Kant- 
schus abgezählt, heute zweihundert Dukaten: koste einmal 
vorerst die Kantschus, dann missgönne mir meinetwegen die 
Gnade Seiner Hochwohlgeboren.“ 

Als Kontratowicz das Geld hatte und den Befehl an 
Herrn Trydurski, dankte er dem Verwandten für den Rat und 
fuhr nach Hause, fröhlich und glücklich. 

War auch der Rücken noch nicht verheilt, so waren 
doch Herz und Sinn nicht mehr ängstlich. 

Keine Woche war noch um, seit Kondratowicz wegge¬ 
fahren, als Herr Trydurski zu Potocki gelaufen kam und sich 
ihm zu Füssen warf. 

„Erbarme Dich, hochwohlgeborener Herr“, Hess er sich 
vernehmen, „psia krew, der Hundsfott Kondratowicz hat mich 
ums Leben gebracht, halbtot gepeitscht hat er mich, hat mir 
beinahe den Kopf samt Schopf abgedreht.“ 

„Wofür denn?“ fragte Potocki. 

„Weiss der Teufel seinen Vater, wofür! Er begegnete 
mir allein im Wald und fragte: Hast Du eine Nadel? Nein, 
entgegnete ich. Er aber schrie: Ach, Du Lump, sieh her, sagte 
er, indem er auf eine im Ärmel versteckt gewesene Nadel wies, 
ich, ein Bürger von Herrn Potockis Gnaden, und Du, ein 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



267 


Knecht, ein Hergelaufener, Du hast keine? Er packte mich 
am Schopf, zog mich vom Pferd herunter und prügelte mich. 
Und dabei sagte er noch: So befahl unser Väterchen Potocki 
die Dummköpfe zu belehren und zu Verstand zu bringen! 
Nicht ich schlage Dich, sondern seine eigene Hand schlägt 
Dich!“ 

Herr Trydurski glaubte, Potocki würde, sobald er das 
erfahren, zornig werden und Kondratowicz hängen lassen, 
Potocki aber war das gleichgiltig. Er lachte, dass er sich 
den Bauch hielt. 

Um sein Mitleid zu erregen, erzählte Trydurski, was für 
eine schwere Hand Kondratowicz habe. Da lachte Potocki 
noch mehr, schlenkerte mit den Beinen und schmunzelte . . . 

Wie auch sollte er nicht wissen, was für eine Hand 
Kondratowicz habe! 

Als er sich satt gelacht, fragte er Herrn Trydurski: 

„Und in was für einer Schule hast Du gelernt?“ 

„In Mynschyriz, bei den Piaristen, hochwohlgeborener 
Herr,“ sagte Herr Trydurski. 

„Und wenn Du gut gelernt hast und Deinen Lehrern 
gegenüber gehorsam gewesen bist, bist Du dann dafür ent¬ 
lohnt worden?“ 

„Wie sonst! Die Patres hängten mir kupferne Amulette 
an ein Kettchen, und die Mutter fütterte mich mit Marzipan 
und Mandeln.“ 

„Nu, wenn Du aufs Gut zurückkehrst, dann überreiche 
sofort dem Kondratowicz hundert Dukaten dafür, weil er ein 
guter Schüler ist.“ 

Herr Trydurski wollte etwas einwenden, aber wozu denn! 

Einen Potocki überzeugt man nicht: wie er einmal ge¬ 
sagt, so bleibt es auch. Sein Wille ist allen Gesetz, auch er 
selber verneigt sich vor ihm, wie der Bauer vor dem Herrn. 

Lange erfreuten sich die Leute dieser Nadel. Gar man¬ 
cher bekam sie zu spüren, gar manchen stichelte sie. Wollte 
sich einer an seinem Feinde rächen, so fiel er diesen an: 
„Hast du eine Nadel?“ Hatte er keine, wurde er geschlagen, 
mit Füssen getreten. Ja, bei Potocki Klage führenn: Er lacht und 
gibt noch Geld demjenigen, der geschlagen hatte. Wie vor 
dem Teufel mit dem Kreuz, so schützte man sich vor einem 
Hergelaufenen oder irgend einem Landstreicher mit dieser 
Nadel. Wenn einer wo hinfuhr, so nahm er vielleicht kein 
Brot auf den Weg mit, aber eine Nadel versteckte er bestimmt 
im Ärmel. 



Digitized by 


Gck igle 


Ä 

Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



— 2«8 — 


ZehMng$$tinmen über das Jffttenidt $icxp$kyj$. 

Allgemeine Zeitung, München: 

Wir stehen vor einem Attentat; es ist ein Mord aus rein poli¬ 
tischen Beweggründen, eine Teils-Tat, und will als solche beurteilt 
sein. Wir müssen sie verurteilen, aber nach allem Vorangegangenen 
(Schilderung der Lage der Ruthenen in Galizien. D. R.) werden wir 
sie begreifen. Die Person des Opfers scheidet dabei aus. Ob ein 
Besserer oder ein Schlimmerer, als es Graf Potocki war, fiel, er fiel 
als Vertreter eines Systems, das sich mit Morden bei den Wahlen, 
mit Zertretung Gleichberechtigter im Sattel hält. Gewalt gebar Gewalt. 

Der Ruthene Siczynski, das muss gesagt sein, war mehr als 
Teil, der den Landvogt aus dem Hinterhalt erschoss und entweichen 
konnte. Der Ruthene wusste, es gab kein Entweichen für ihn und er 
opferte sich mit dem Gleichmut des Fanatikers. Seine Nation wird ihn 
stets als Rächer ehren; ob sie ihn als Befreier wird feiern dürfen, 
erscheint zweifelhaft. Mit einer verwerflichen Mordtat gibt man dem 
Geist der Vergewaltigung nur neue Nahrung und die Reaktion be¬ 
ginnt, wie die Geschichte lehrt, doppelt zu wüten. Die Geschichte 
zwingt uns aber auch, bei derartigen Anlässen den Ursachen nachzu¬ 
gehen, die solche Schrecknisse hervorrufen und hier fällt jede Larve 
und die Frage drängt sich gebieterisch jedem Politiker auf: Wie weit 
muss es gekommen sein, dass der Appell an den Revolver der letzte 
Protest erschien? Wir haben vjele zwecklose Attentate erlebt und 
beklagt, viele Fanatiker für ihre Überzeugung das Schafott besteigen 
und für immer im Kerker verschwinden sehen, aber hier, wo der 
Statthalter von Galizien auf der Bahre liegt, scheint es Pflicht für die 
berufene Instanz zu sein, nachzuforschen, welche Umstände diese ent¬ 
setzliche Saat aufgehen Hessen. Mit dem Standrecht lässt sie sich 
nicht mehr niederwalzen. 

Das ?RiC Wort, Frankfurt a. M. „Die Ruthenen und 
Polen in Galizien“ von Richard Charmatz aus Wien. 
Wir geben den Artikel auszugsweise wieder: 

„Im Jahre 1849 spendete die geistige Beherrscherin Österreichs, 
Erzherzogin Sophie, den Ruthenen, die dem bedrängten Kaiserhause 
zur Hilfe gegen die rebellischen Magyaren geeilt waren, eine Fahne 
mit der Aufschrift: „Eure Treue führt zum Siege!“ Am 12. April 1908 
fiel in Lemberg der Statthalter von Galizien, Graf Potocki, einem 
Attentate zum Opfer, das der ruthenische Student Siczynskyj verübte, 
um für die schwere Bedrückung seines Volkes Rache zu nehmen. 

„Es hat eine Zeit gegeben — und viereinhalb Jahrzehnte trennen 
uns erst von ihr — da waren die „Tiroler des Ostens“, die Ruthenen, 
Schosskinder des Wiener Hofes. Aber die revolutionäre Zuckung, die 
in den Sechzigerjahren auch bei den österreichischen Polen bemerkbar 
wurde, blieb auf die Wiener Hofkreise nicht ohne Rückwirkung. Man 
suchte die glaubensverwandten Polen fester an Kaiser und Reich zu 
ketten; zu diesem Behufe zog man nicht die Volksmassen heran, 
sondern die Schlachzizen, die sozial näher standen. Zu diesem Fehler 
der Hofpolitik gesellten sich gleich schwere Missgriffe der Regierungs¬ 
politik, die in den entscheidenden Jahren von den wenig voraus¬ 
blickenden altliberalen Deutschen gelenkt wurde. Um ihre Herrschaft 
zu festigen, brauchten sie Bundesgenossen. Wohl hatte die deutsch¬ 
liberale Verfassungspartei mit den Ruthenen unter Bischof Litwinowytsch 
Führung gelegentlich Zeltgenossenschaft gehalten, aber von den Klein¬ 
russen war weniger zu erwarten als von den polnischen Granden. 
Deutsche „Treue“ gab die Ruthenen preis. Was nun die Liberalen 1867 
und 1868 geübt und getan, das halten merkwürdigerweise die Klerikal- 
Konservativen jetzt noch aufrecht.“ • 

Auf das Attentat Siczynskyj übergehend sagt der Verfasser: „Da 
der Mensch im allgemeinen von seinem Milieu abhängt, darf es nicht 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



269 


überraschen, wenn einmal eine schwache Person der auf sie ein¬ 
wirkenden Umgebung unterliegt. Wir halten Siczynskyjs Tat für fluch¬ 
würdig und selbst für politisch höchst unklug. Doch ir einem Lande, 
in dem die hohe Obrigkeit eine grossrussische Bewegung begünstigt, 
blos um das zerissene ruthenische Volk leichter unter die Fuchtel zu 
bekommen, muss man schliesslich darauf gefasst sein, dass ein exal¬ 
tierter Mensch einmal „russich“ kommt. Graf Potocki war nicht der 
schlechteste Statthalter Galiziens, und alles, was an seinem Tun und 
Lassen verdammenswert schien, hing mit dem Milieu zusammen. Aber 
nicht nur Graf Potocki, auch sein Mörder ist ein Opfer der galizischen 
Rechtsanschauungen und Moralbegriffe geworden. Den Sumpf, dessen 
Ausdünstung so gefährlich scheint, auszutrocknen, wäre jetzt die erste, 
heiligste Pflicht aller verständigen und einflussreichen Männer in 
Österreich.“ 

Zu der ruthenischen Politik bemerkt der Verfasser: Ein so kleines 
Volk — für die österreische Politik kommen blos 3'/ 2 Millionen 
Ruthenen in Betracht — darf sich den Luxus der Zersplitterung nicht 
leisten. Die persönlichen Rivalitäten, die um nichts besser werden, 
wenn man sie programmatische Differenzen' nennt, sind deplaziert. 
Nur Einigkeit bringt ans Ziel. Vor allem aber mögen die Russophilen 
bedenken, welch unheilvolles Werk sie zu verrichten im Begriffe sind. 
Selbst wenn diese Politiker im guten Glauben vorgingen, wären sie 
übel beraten und verdammenswert, denn für ihr Volk handelt es sich 
nicht darum, die polnische Rute mit der russischen Knute zu ver¬ 
tauschen, sondern frei, mündig zu werden. Je geschlossener die Ru¬ 
thenen darauf hinarbeiten, desto rascher können sie ihre Emanzipation 
vollbringen. Der russophile österreichische Abgeordnete Dr. Markow 
hat jüngst in einer Broschüre für die „russische Idee in Österreich“ 
Stimmung gemacht und sich als eine Art Luther hingestellt. Wenn die 
Russophilen so schlecht und unaufrichtig wie die Schrift*) wären, dann 
würde es wahrlich traurig sein. ... 

Nicht weniger nachteilig kann für die Entwickelung des ruthe¬ 
nischen Volkes die starke Beeinflussung der Politik durch Studenten 
werden. 

„Unsere Helden sind tot, unser unvergesslicher Ruhm ist begraben, 
aber noch lebt etwas Unvergleichliches in unserer Mitte: Unser Unglück.“ 
Diese Worte eines ruthenischen Gelehrten, die Carl Emil Franzos in 
seinem Buche über „Halb-Asien“ in Erinnerung ruft, sind jetzt noch 
wahr. Aus der Nacht des Unglücks zum Lichte des Glücks ist ein 
schwerer Weg. Mögen die Ruthenen ihn bald zurücklegen, ohne dass 
ihnen ein neuer Siczynskyj ersteht oder erstehen muss. Je mehr das 
kulturell entwickeltere Österreich den Befreiungsprozess des bedrückten 
Volkes beschleunigt, um so geringer wird die Schuld werden, die es 
durch die Verkümmerung der Rechte der Ruthenen auf sich geladen hat. 

Der tag bringt folgenden Artikel von Richard Nord¬ 
hausen: 

Die Worte, die der galizische Reichsratspole Stapinski gegen 
„preussische Barbarei“ zu schleudern wagte, waren kaum verhallt, 
als in Lemberg die Schüsse Miroslaw Siczynskyjs knallten und den 
kaiserlichen Statthalter Grafen Potocki niederwarfen. Dass in dem vom 
Polenklub beherrschten unglücklichen Lande bald russisch gesprochen 
werden würde, hatten ruthenische Abgeordnete wiederholt angekündigt. 
Man mag die Tat Siczynskis noch so ehrlich bedauern und für eine 
noch so verhängnisvolle Dummheit erklären — kommen mussten diese 
Revolverschüsse. Wenn die Zeitungen heute bereits melden, dass die 
polnischen Studenten in Lemberg beschlossen haben, keinen Ruthenen 
mehr an der Universität zu dulden und jede ruthenische Vorlesung 


*) Dr. Dmitrij Markow. Die russische und ukrainische Idee in Österreich, Wien 
1908 , C. W. Stern. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


4 

Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



270 


mit Gewalt zu verhindern, so beleuchtet dieser seltsame Racheschwur 
grell den nationalen Terror, der Siczynskyj die Browningpistole in die 
Hand gedrückt hat. Man lässt es lieber auf weitere Opfer ankommen, 
treibt die Unterjochten immer weiter in wütende Verzweiflung hinein, 
als dass man ihnen ihr Recht gäbe. Die Geschichte des ruthenischen 
Volkes in Galizien ist mit Blut geschrieben. Diese ganz russisch ge¬ 
arteten, bescheidenen und viel duldenden Leute haben jahrhunderte¬ 
lang wüste und gewissenlose Tyrannei ertragen, ohne auch nur zu 
mucken. Erst in neuerer Zeit ist es ihren Führern gelungen, wenigstens 
die Jugend des Landes wachzurufen. Romanczuk und Sembratowycz 
haben sich dann im Wiener Reichsrate wie in einer kleinen, aber auf¬ 
regend interessanten Monatsschrift an die gerechten Menschen in 
Österreich und in Europa gewandt. Es war schwer, ihre schlicht ge¬ 
schriebenen Aufsätze über satanische Wahlmissbräuche, über die 
brutale Unterdrückung und Verfolgung aller ruthenisch gesinnten 
Ruthenen in Galizien zu lesen, ohne in Grimm und Abscheu die Faust 
zu ballen. Ungarns Regierungen haben sich den slowakischen Wählern 
gegenüber viel geleistet, aber elende Stümper sind die Banffy und 
Genossen im Vergleich mit den Badeni und Potocki gewesen. Es 
scheint, dass die Ruthenen sich jetzt keinen anderen Ausweg mehr 
wissen als die Beantwortung des Terrors mit dem Terror. Europa darf 
nicht dulden, dass derlei spezifisch östliche Gepflogenheiten immer 
weiter westwärts dringen, lind so ungern es sich in die inneren An¬ 
gelegenheiten eines Staates einmischt, so ungern besonders Deutsch¬ 
land dem befreundeten Österreich Verdriesslichkeiten bereitet, so 
wichtig ist es doch, dass die zivilisierte Welt den Lembergern 
endlich Halt gebietet. Wien ist ja leider zu schwach dazu. Ohne 
freundlich gesinnte, das heisst gesättigte Polenbänke vermag niemand 
am Franzensring zu regieren. Dafür, dass sie die Staatsnotwendigkeiten 
immer pünktlich bewilligt und sich alleweil als frömmste Ministerpartei 
bewährt haben, gerade dafür ist den Schlachzizen ja Galizien ausge¬ 
liefert worden. Gerade deshalb hat man die Ruthenen an Händen und 
Füssen geknebelt und im neuen Reichsrats-Wahlgesetze überschlaue 
Sorge für ihre dauernde Entrechtung getragen. 

Von all den Schändlichkeiten der letzten Monate, der systema¬ 
tischen Quälerei ruthenischer Studenten, ihrer widerrechtlich langen 
Einkerkerung, dem folgenden Hungerstreik; von der Ermordung des 
ruthenischen Bauern Kahanetz, der die Fälschung der Wählerlisten 
zu tadeln wagte und alsobald durch die Bajonette zweier Gendarmen 
fiel, von alledem ist der Westen hinlänglich unterrichtet worden. Ohne 
recht darauf zu hören. Graf Potocki hat ungestört sein Bestes tun 
können, die in Galizien landesübliche Methode auszubauen, und ohne 
die Revolverschüsse vom Sonntag hätte sich auch in der Zukunft 
niemand um das Wirken der Schlachta gekümmert. Zumal wir in 
Deutschland hatten ja alle Hände voll damit zu tun, den § 7 a des 
neuen Sprachengesetzes zu verdammen und unsere Regierung wie die 
Blockparteien mit beinahe Stapinskischer Wucht der Barbarei zu be¬ 
zichtigen. Von den Ruthenen ist im Reichstage kaum gesprochen 
worden. Kein Redner hat hervorgehoben, dass die preussischen Polen ihre 
Kultur, ihren Wohlstand ausschliesslich der liebevoll um sie besorgten 
Regierung in Berlin verdanken, während die Ruthenen von der pol¬ 
nischen Verwaltung ausgepresst und in schmutziger Unbildung erhalten 
werden. Hätte Lemberg auch nur den vierten Teil dessen, was Preussen 
für Posen getan hat, für das ruthenische Volk getan, dann gäb’ es 
längst keine ruthenische Frage mehr. 

Wenn der Schuss von Lemberg die Wiener Regierung zur Be¬ 
sinnung bringt uud unsre einheimischen Polenschwärmer desselbigen- 
gleichen, dann wird die Bluttat des unseligen Hitzkopfes, wird dem 
Fluch doch einiger Segen entspriessen. 


Difitized 


bv Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



271 


tirAf Andreas Potocki als Catidwirf»*) 

Einer der letzten Nummern des bereits unterdrückten 
„Ukrajinskij Wjestnik“, welcher sich in einem Artikel mit der 
Kulturträgerei der polnischen Schlachta in der Ukraine be¬ 
fasst, entnehmen wir den Wortlaut eines zwischen der Ver¬ 
waltung eines Gutes des ermordeten Grafen Potocki und 
einer' Bäuerin abgeschlossenen Vertrages: 

„Ich, Bäuerin, wohnhaft in dem unten genannten Dorfe, 
werde für die landwirtschaftlichen Arbeiten auf dem Gutshofe 
des Grafen Andreas Potocki, welcher Art die Arbeiten auch 
sein mögen, gemietet; im ganzen sind es 144 Arbeitstage, 
die ich abzuarbeiten schuldig bin, wofür ich, mich selbst 
verköstigend, im ganzen 34 Rubel, die 10 Rubel Vorschuss 
inbegriffen, zu bekommen habe. Dabei verpflichte ich mich: 

1. Mit Sonnenaufgang aufs Feld zu gehen und bis 
Sonnenuntergang zu arbeiten. 

2. Sollte ich ohne eine gesetzliche Ursache die Arbeit 
verlassen, so verpflichte ich mich, den Vorschuss doppelt 
zurückzuzahlen, ohne für die bereits verrichtete Arbeit eine 
Entlohnung zu fordern. 

3. Zur Arbeit soll ich zu jeder Zeit ausgehen, wann 
immer ich gerufen werde. 

4. Wenn ich am Sonntag oder Feiertag zur Arbeit ge¬ 
rufen werde, habe ich kein Recht, mich zu widersetzen. 

5. Wenn ich ohne Erlaubnis der Verwaltung am Feier¬ 
oder Wochentag mich entferne, so muss ich für diese Zeit 
doppelt so lang arbeiten. 

6. Sollte ich erkranken oder sterben, so muss für mich 
meine Familie abarbeiten. 

7. In keinem anderen Falle darf ich die Arbeit verlassen. 
— Dieser Vertrag ist mir bekannt, was ich mit meiner Unter¬ 
schrift bestätige.“ 

Also da haben wir ein Stück Leibeigenschaft, welche 
in den Gütern des Grafen Andreas Potocki im XX. Jahrhundert 
ungeniert kultiviert wird. Ein Taglohn von 23% Kopejken für 
18 stündigen Arbeitstag an Wochen- und Feiertagen und die 
Verpflichtung bis über den Tod hinaus! 


*) Der Titel 
mit den Vorzügen 


eines Artikels im „Dziennik polski“, welcher sich 
des Grafen Andreas Potocki als Landwirt befasst. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



272 


Die Selbständige der k. k. Staatsanwaltschaft in Ceftberg. 

Das in polnischer Sprache erscheinende Lemberger Amtsblatt 
„Qazeta lwowska“*) bringt in der Nummer vom 12. d. M. fol¬ 
gendes amtliche Communiqu6 der k. k. Staatsanwaltschaft in Lemberg: 

„Nach dem gegen die Person des weiland Andreas Grafen 
Potocki verübten Attentat erschien in manchen „ukrainischen“ 
Zeitungen eine ganze Reihe von Artikeln, in welchen das Attentat 
selbst nicht nur nicht verdammt, sondern, was noch ärger ist, für das¬ 
selbe die galizischen Behörden und die ganze polnische Gesellschaft 
verantwortlich gemacht werden. Daher wurde im Interesse der Öffent¬ 
lichkeit die Beschlagnahme der betreffenden Artikel angeordnet. Da¬ 
gegen verdammten die polnischen Blätter einhellig die verruchte Tat 
der angeblichen Abwehr jenes Teiles der ukrainischen Partei, welcher 
der Vollstrecker des Attentats angehört hat und führte als Beweis 
der feindlichen Stimmung mancher ukrainischer Blätter gegen die pol¬ 
nische Gesellschaft die in Rede stehenden Artikel an. So wurden 
von vier polnischen Ortsblättern acht in den ukrai¬ 
nischen Blättern konfiszierteArtikel nachgedruckt. 

„So wurde aber der Zweck derKonfiskation ganz 
verfehlt, nachdem die Leser, denen die Gelegenheit benommen 
wurde, sich mit dem Inhalt der erwähnten Artikel in den ukrainischen 
Zeitungen bekannt zu machen, denselben aus polnischen Blättern er¬ 
fahren konnten. Es ist möglich, dass in einem oder dem anderen 
Fall die verantwortlichen Organe der polnischen Blätter nicht imstande 
waren, rechtzeitig von der angeordneten Konfiszierung zu erfahren, 
doch muss ich bemerken, dass manche dieser Nachdrucke erst in 
zwei oder drei Tagen nach erfolgter Beschlagnahme erschienen waren. 
Daher appelliere ich an die polnischen Blätter, sie mögen im 
öffentlichen Interesse, sei es bei der Polizeidirektion, sei es bei dem 
Pressbureau der Staatsanwaltschaft in jedem Falle im vorhinein an- 
fragen, ob der für den Nachdruck bestimmte Artikel nicht der Beschlag¬ 
nahme erlegen sei, umsomehr, als nach dem §28 des Pressge¬ 
setzes die Strafbarkeit des Inhaltes des gegebenen Artikels durch 
die Erklärung, dass die nachdruckende Zeitschrift sich mit dem In¬ 
halte nicht solidarisch erklärt, beziehungsweise denselben verurteilt, 
nicht aufgehoben wird. Lemberg, am Mai 10. 1908. K. k. Staatsan¬ 
walt Barth.“ 

Die Presszustände in Galizien beleuchtet das angeführte amt¬ 
liche Communiquö genauer, als wir dies auf Grund von zahlreichen 
Daten tun könnten. Da haben wir zuerst das Bekenntnis, dass die 
k. k. Staatsanwaltschaft in Lemberg, dank deren Diensteifer kein Tag 
vergeht, wo wenigstens eine ruthenische Zeitschrift unversehrt das 
Tageslicht erblickt, ungeniert Artikel in der polnischen Presse 
passieren lässt, welche in den ruthenischen Zeitungen beschlagnahmt 
wurden. Der Herr Staatsanwalt, selbst weiss von acht solchen Artikeln 
zu berichten, obgleich es richtiger wäre, wenn diese Zahl durch sich 

*) Das sichtbare Zeichen der „Gleichberechtigung“ der ruthenischen Sprache in 
Galizien ist die Tatsache, dass die offizielle Landeszeitung nur in polnischer 
Sp ache erscheint. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 2?3 


selbst multipliziert wäre. Das Pressgesetz verlangt ausdrücklich, dass 
der Nachdruck eines konfiszierten Artikels unbedingt konfisziert 
werden muss, aber die Lemberger k. k. Staatsanwaltschaft geberdet 
sich als Protektorin der polnischen Presse, sie belehrt die verant¬ 
wortlichen Organe der polnischen Presse und bittet dieselben, statt 
sie gleich den ruthenischen zur Verantwortung zu ziehen, für die Zu¬ 
kunft mehr auf die Paragraphen des Pressgesetzes zu achten. Die 
k. k. Staatsanwaltschaft in Lemberg gibt ganz offenkundig zu, dass 
durch den Nachdruck eines konfiszierten Artikels in einer anderen 
Zeitschrift, auch wenn der Inhalt desselben verurteilt wird, der Zweck 
der Beschlagnahme verfehlt wird. Warum hat denn die k. k. Staats¬ 
anwaltschaft in Lemberg die betreffenden polnischen Blätter nicht 
konfisziert? Oder hat es sich bei der Beschlagnahme der ruthenischen 
Blätter nur darum gehandelt, dass die ruthenische Presse schikaniert 
wird und den konfiszierten Blättern daraus ein Schaden erwächst, 
während es ihr um die polnischen leid war? Lässt sich aber dieses 
Vorgehen mit den Gesetzen nicht in Einklang bringen, so muss die 
Tatsache, dass sich der Herr k. k. Staatsanwalt in Lemberg die Frei¬ 
heit nimmt, das Wort „ukrainisch“ mit den Gänsefüsschen zu ver¬ 
zieren, als etwas bezeichnet werden, was sich höchstens ein frecher 
allpolnischer Journalist, keineswegs aber ein k. k. Staatsanwalt er¬ 
lauben darf. 


GeKtsanittliiiigei! für polnische Zwecke in galixiscben 
Hintern. 

Gegen solche wäre ja nichts einzuwenden, wenn die polnischen 
k. k. Beamten Gelder für polnische Zwecke bei ihren polnischen 
Kollegen und Untergebenen sammeln würden. Aber diese polnisch¬ 
patriotische Aktion gestaltet sich zu einer Schikanierung der ruthe¬ 
nischen Beamtenschaft, indem die letzteren g e z w u n g e n 
werden für antiruthenische Zwecke ihr schwer verdientes 
Geld herzugeben. So wurde schon sehr viel Geld erpresst von 
ruthenischen Beamten für solche Zwecke wie die Restaurierung des 
Schlosses der polnischen Könige in Krakau, für den polnischen 
„Ostmarkenverein“ in Ostgalizien, für die Errichtung einer römisch- 
katholischen Kirche zu Ehren des Kaisers in Lemberg, wodurch die 
Polen ihrer Anhänglichkeit an die kaiserliche Familie Ausdruck geben 
wollen u. s. w. Es kommt vor, dass einem ruthenischen Beamten, von 
dem man nicht voraussetzt, dass er freiwillig Geld hergibt, bei: der 
Staatskasse, wo er sich monatlich sein Gehalt abholt, ein festgesetzter 
Betrag einfach abgezogen wird. Am 1. Mai d. J. wurde in allen 
galizischen Ämtern für das polnische Studentenheim zu Ehren Potockis 
und für die polnische Kampforganisation „Volksschulverein“ gesammelt. 
Dabei wurden die Rutbenen auf die Weise terrorisiert, dass derjenige, 
der den verlangten Beitrag nicht liefern wollte, als Komplize 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



274 


Digitized by 


Siczynskyjs bezeichnet wurde. Zu bemerken ist, dass in den 
meisten Ämtern ruthenische Beamten von ihren polnischen Kollegen 
boykottiert, aber zum Qeldhergeben doch gezwungen werden. 
Wir führen keine Ortsnamen und keine speziellen Daten an, weil wir 
sonst das ganze Verzeichnis von ostgalizischen Ämtern nachdrucken 
müssten. 




BüdiereiMlauf. 

Das neue Österreich. Eine politische Rundfrage veran¬ 
staltet von Carl M. Danzer. Wien 1908. Verlagsbuchhandlung 
Carl Conegen (Ernst Stülpnagel). 

Historische Lieder des ukrainischen Volkes. Gesammelt 
und erläutert von Myroslaw Siczynskyj. Verlag der „Billigen 
Bibliothek“ Lemberg 1908. 

Die Heimat. Drama in 4 Aufzügen. Von Hermann S u d e r- 
m a n n. Übersetzt von M. Sahirnia. Verlag B. Hrintschenko, K i j e w 
1908, Preis 30 Kop. (ukrainisch). 

Fuhrmann Henschel, Drama in 5 Aufzügen. Von Ger¬ 
hard Hauptmann. Übersetzt von M. Sahirnia. Verlag B. Hrintschenko, 
K i j e w 1908, Preis 30 Kop. (ukrainisch). 

Nora. Drama in 3 Aufzügen. Von Henrik Ibsen. Übersetzt 
von M. Sahirnia. Verlag B. Hrintschenko, K ij ew 1908. Preis 30 Kop. 
(ukrainisch). 

Hedda Gabler. Drama in 4 Aufzügen. Von Henrik Ibsen. 
Übersetzt von M. Sahirnia. Verlag B. Hrintschenko, Kijew 1908, 
Preis 30 Kop. (ukrainisch). 

Über d i e E rf i n d un g d e r B u c h d r u c k e r ku n s t. Von 
Borys Hrintschenko. Herausgabe des „Ukrainischen Lehrers“, Kijew 
1908, Preis 10 Kop. (ukrainisch). 

Die Staatsverfassung in Athen. Von M. Sahirnia. 
Herausgabe des „Ukrainischen Lehrers“, Kijew 1908, Preis 10 Kop. 
(ukrainisch). 

Lieder für eine Stimme. Komp, von J. Lopatynskyj: 
1) W nedilenku w ranci (J. Fedkowytsch); 2) Moja dumo (J. Hawrylnk). 
Verlagsanstalt Torban in Lemberg. 1908. Preis je 60 Heller. 


Gck igle 



Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



275 


HAUSDRUCKEREI. Jedermann sein eigener Drucker! 

Mit meinen Kautschuktypen-Druckapparaten kann 
jeder sofort drucken : Visit- oder Adreßkarten, Avisos, 
Zirkulare, amtliche Vorladungen etc. Eine ein¬ 
malige Zusammenstellung ermöglicht 
tausende Abdrücke. Preise mit allem Zubehör: 

65 Tvpen Kl.- 90 Typen K 1.40 

120 .2.- 140 * , 2.40 

211 , . 4.- 255 „ B 4 80 

54 . b 6.- 468 „ „ 7.20 

650 . b 10.- 809 „ b 12.- 

Auch ln russischer Sprache erhältlich. 

Für 3 K eine geschmackvoll ausgeführte Gummistampiglie, bis 4 Zeilen Text, 
von unbegrenzter Haltbarkeit, in eleganter Kassette, mit immerwährendem 
Preisliste gratis. Stempelkissen. Vertreter gesucht. 

J. LEWINS0N, Wien, I., Adlergasse 12, Filiale Odessa (Russland). 

Stampiglienfabrikation und Gummitypengießerei. 


Tn gegenwärtiger Zeit, wo die Uerkebrswbältnisse ganz besonders 
bobe Anforderungen an Spracbkenntnisse stellen, dürfen Unterrid>tsblätter mit 
leid)tfa$$lid)er ITletbode einer günstigen Aufnahme sicher sein. Als derartige äussersf 
belehrende Zeitschriften erweisen sich die im Uerlage von Rosenbaum 8 < Bart 
in Berlin $ W. 4$ erscheinenden Journale „Ce R^p&ifeur“ und „Che Repeafer“ 
in hohem IDasse. Eine äusserst glückliche Rletbode erleichtert das Eindringen in 
die fremde Sprache ; jedes ausländische UJort enthält unter sieb das entsprechende 
deutsche, wodurch unbekannte Ausdrücke sofort auffallen und bei der Wiederholung 
in Erinnerung gebracht werden, was den Wortschatz stetig vergrössert. Der Inhalt 
ist unterhaltend und belehrend, dabei stets von angenehmer Hlannigfaltigkeit; Au$= 
Sprachebezeichnung, Bindungs* und Betonungszeichen, sowie Tussnoten sind bestimmt, 
den Inhalt richtig zu lehren. Tür fortgeschrittene enthalten diese 14 tägig erscheinenden 
Blätter allmonatlich eine Beilage mit nur fremdsprachlichem Cexf, dem Anmerkungen 
beigefügt sind. Es dürften daher diese äusserst praktischen $prad)*Zeitscbriften Dielen 
umso willkommener sein, als der Abonnementsbetrag pro Quartal nur je 120 Blark 
beträgt. Abonnements werden zu jeder Zeit bei allen Postanstalten und Bucbband» 
lungen en gegengenommen Probenummern liefert der Derlag gratis und franko 



Zcitungs-ßacbricbten« 

in Original-Ausschnitten 


über Industrie, Handel, Kunst, Politik, Wissenschaft, Lite¬ 
ratur, sowie über alle sonstigen Themata liefert zu 
- - massigen Preisen das - - 


naduictnta-BuKaii $chu$tcrinantf 

BERLIN SO., Rungestrasse 25/27. 

- Illustrierte Broschüre, Referenzen gratis und franko. - 




Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 

















276 





r . 

An die Kunstfreunde! 

Das ukrainische Volk besitzt keine grossartigen Handels- 
magazine und blüht auch bei ihm keine Weltindustrie, 
aber es ist fähig Sachen zu erzeugen, die infolge ihrer 
hübschen und geschmackvollen Ausführung und künst¬ 
lerischen Form die schönsten Fabrikate überragen. 

TTAlr/nrr/aiurtiicfia beschlagen mit verschiedenfarbigen 
JlUIAttlAUUglllSbU Korallchen in Dessins, wie: 

Teller im Preise von 10—100 K 
Rahmen verschiedener Grösse von 10—120 K 
Spazierstöoke, axtförmig, von 10-100 K 
Lineale von 5 K aufwärts 

Federstiele von 1—20 K 
Papiermesser von 1*50—3 K 
Fässchen zu 30 und 40 K u. a. 

Korallchenerzeugnisse, ver8chiedenfl ^ I b e i ^ diniert, 

Uhrketten für Herren von 2—5 K, für Damen zu 6 K 
Gürtel von 10 bis 100 K 

Haar- and Halsbänder zu 2, 3 u. 5 K. 

Tnnnmnnmiicca (Majolika in verschiedenen Dessins, Volks- 
XUIH3I Zeugnisse tümliehe Motive): 

Blamenvasen von 5—100 K 
Wandteller von 2—30 K 

Asohenbecher and Wasehbeoken zu verschiedenen Preisen. 

Stofferzeugnisse 

Gestiokte Hemden von 12—30 K 
„ Kravatten zu 4 und 5 K 
,, Handtücher von 6 K aufwärts 
,, Tischdecken von 30 K aufwärts 

Huzulensohürzen von 6—20 K 
Hnznlisohe Teppiche von 30—50 K 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pro Stück. 

Zu beschaffen durch die Firma 

„SokilskyJ Bazar«, 

Gesellschaft für Handel und Industrie in LEMBERG 

Ruskagasse Nr. 20 (Galizien, Österreich). 



Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 


Ukrainische 

Rundschau. 

Fjerausgeber und Redakteur: CU. Kuscbnir. 

Ul. Jahrgang. 1Q0S. Hummer 6/7. 

(Hachdruck sämtlicher Artikel mit genauer Quellenangabe gestattet.) 


Der Ueopanslanismus. 

Von Wladimir Kuschnir.*) 

T. Der neue Rurs im Panslawismus. 

Die Pläne zur neuen panslavistischen Aktion zeigten sich 
bereits im Jahre 1906 an, seit welcher Zeit immer neue Publikationen 
mit Entwürfen von Programmen für einen Panslavismus erscheinen, 
welcher von dessen Predigern selbst als Neu-Panslavismus zum Unter¬ 
schied von dem alten, berüchtigten Angedenkens bezeichnet wird. 

Gewiss hat sich der alte Panslavismus, dessen Schlagworte: 
Selbstherrschaft, Orthodoxie und Nationalität (n. b. 
russische) waren, überlebt und kompromittiert, so dass jetzt zu neuen 
Losungen gegriffen werden musste, um die abwendig gemachten Ele¬ 
mente wieder für sich zu gewinnen. So verkündigen auch jetzt die 
Neopanslavisten, der Protektor des alten Panslavismus, der Despotis¬ 
mus, habe angeblich mit dem Manifest vom 30. Oktober 1905 zu 
bestehen aufgehört und der Hauptgrundsatz des angestrebten Slaven- 
bundes sei die Freiheit der Konfession und der natio¬ 
nalen Entwickelung, was wir übrigens erst neulich wieder aus 
dem Munde der drei slavischen Petersburg-Pilger gehört haben. 
Wir werden jedoch den Versuch unternehmen, zu beweisen, dass 
das lauter schöne Worte und leere Phrasen sind, hinter welchen 
dieselbe nationale Intoleranz und Brutalität lauert, wie sie den 
alten Panslavismus kennzeichnete, in dessen Namen die berüch¬ 
tigten Sprachverbotsukase gegen die Ukrainer erlassen und die Polen 
jahrzehntelang drangsaliert worden waren. 

Nun muss es einem jeden auffallen, dass gerade die bisher vielleicht 
erklärtesten Feinde des Panslavismus, die Polen, eine Achse zu bilden 


*) Auszug aus der im Verlage von C. W. Stern (Wien und Leipzig) erschienenen 
Broschüre unter dem Titel «Der Ne opanslavismus”. 


1 


Digitized by Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 





VI 


— 278 - 

scheinen, um welche sich das ganze Werk des Panslavismus dreht. 
In einem panslavistischen Programm, dessen Schöpfer ein 
S1 o v e n e ist (Der Panslavismus. Eine nationalpolitische Betrachtung. 
Cilli 1906), heisst es: „Die grösste slavische Tat, eine Tat, welche 
die uralten Feinde des Slaventums als eine Katastrophe für sich halten 
müssten, welche der bei Qrunwald erlittenen nicht nachstünde, würde 
beruhen in der Gewährung der möglichst grössten Selbstver¬ 
waltung und Bewegungsfreiheit in anderen Provinzen 
Russlands (lies: in der Ukraine. Anm. d. Verf.) an die Polen. 
Dies würde jede Gefahr eines deutschen Dranges von Russland ferne¬ 
halten und Russland könnte sich mit der ganzen Freiheit weiter ent¬ 
wickeln und organisieren, und die Slavenwelt würde eine kräftige 
Stütze finden. — Die möglichst weitgehende Autonomie des König¬ 
reiches Polen sollte die Grundlage zur polnisch-russischen 
Annäherung werden. Die Schaffung eines autonomen Polen, welches 
zu Russland etwa in dem Verhältnis bleiben würde, wie Bayern zu 
Preussen, liegt im Interesse Russlands und der gesamten Slavenwelt, 
und dies muss der Ausgangspunkt der allgemeinslavischen 
Politik sein.“ Die liberale Petersburger „R u s j“ hört ihrerseits nicht 
auf, der russischen Gesellschaft in den Kopf zu setzen, dass das Heil 
Russlands im Panslavismus, dessen Lösung aber in der Gewährung der 
Autonomie für die Polen liege. Dieses Blatt schrieb anlässlich der Schilde¬ 
rung der Notwendigkeit einen Slavenbund zu schaffen: „Die russisch¬ 
polnische Annäherung soll der Grundstein des sla- 
vischen Programms sein, sie soll zum Dogma des Slaven- 
bundes werden.“ 

Solchen Ansichten über die Polenfrage begegnen wir in sämt¬ 
lichen Organen der Panslavisten, auch in der in Paris in französischer 
Sprache erscheinenden „Revue s 1 a v e" *), welcher wir einige Stellen 


*) Zur Bekanntmachung mit der Tendenz der, nach den Namen der Herausgeber 
zu schliessen, von französischer Seite herausgegebenen Zeitschrift führen wir einige 
Auszüge aus dem einleitenden Artikel der im April 1906 erschienenen ersten Nummer 

an : «.Wenn die Einheit Deutschlands und Italiens, errungen um den Preis von 

soviel Blut, den notwendigen und unabweislichen Prinzipien des modernen Rechtes 
entsprechen, warum sollte nicht in der Folge auf Grund derselben Prinzipien und des¬ 
selben Rechtes die Einheit der slavischen Rasse geschaffen werden? Die zeit¬ 
weise Schwächung der älteren Schwester der slavischen Familie wirkte auch auf die 
slavischen Völker ein; das europäische Gleichgewicht wurde erschüttert und dem euro¬ 
päischen Frieden droht Gefahr. Von allen Seiten der alten und neuen Welt strecken sich 
freundliche Hände Russland entgegen, von dessen politischer, militärischer und sozialer 
Umformung erwartet man Ordnung und Sicherheit, seine erneuerte Kraft wird 
unerschütterlich sein, sobald das ganze slavische Element, geeint unter seinem 
moralischen Schutz, ein entschiedener Gegner der ganzen Brutalitätspolitik wird.« 
Weiters wird in dem Artikel erzählt, dass die Einigung der Slaven viel leichter 
zu erzielen sei, als angenommen wird, dass bisher nur die bösen Nachbarn die Streitig¬ 
keiten unter den slavischen Brüdern genährt hätten, und dass bei einigem guten Willen 
die Leidenschaften gemildert werden können. »Dieses Werk — heisst es — hat schon 
begonnen, denn siehe, in seinem Edelmut vergisst Polen das Vergangene und reicht 
Russland freundlich die Hand, und die Serben, Bulgaren und Montenegriner verbrüdern 
sich, andererseits die Tschechen, Kroaten, Dalmatiner (?) und Magyaren (!). Slaven und 
Nichtslaven verbinden sich nach soviel Streit mit starken Banden. Die slavische Rasse 
ist jung, sie will ihr eigenes Leben führen (?), ihre Aufgabe erfüllen, an dem allgemeinen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 





279 


aus dem Programmartikel des Russen Svatkowskij, unter dem Titel 
„L’Union slave“ entnehmen, weil in demselben die neupanslavistische 
Richtung ziemlich getreu charakterisiert wird. Der Verfasser widmet mehr 
als ein Drittel des Artikels der „unglückseligen polnischen Frage", welche 
er als „la pierre d’achoppement“ aller panslavistischen Bestrebungen 
betrachtet, welche jedoch, wie aus gewissen Anzeichen zu ersehen 
sei, bald zugunsten der Polen gelöst werden solle, und führt weiters 
aus: „Die Idee einer weiten nationalen Autonomie der nichtrussischen 
Nation (der polnischen. D. Verf.), in den Grenzen des gemeinsamen 
Staates gewährt, wie nicht minder die Idee der Föderation oder der 
Zollunion, welche den Mitgliedern des Bundes alle Vorteile des grossen 
und reichen russischen Handels sichert, wird in der Zukunft nicht allein 
die Sympathien der mitteleuropäischen und der Balkan¬ 
slave n, sondern auch noch manche nichtslavische, mit uns geogra¬ 
phisch und wirtschaftlich verbundene Völker für sich gewinnen, 
wie: Magyaren, Rumänen, Griechen ündvielleichtmit 
der Zeit die österreichischen Deutschen. Alle diese 
Völker hätten davon zweifellos viel mehr Nutzen als von einer Zoll¬ 
union mit Deutschland. Die Vereinigung und Annäherung der slavischen 
Rasse und deren Nachbarn soll vor allem frei sein von allen Eigen¬ 
schaften des Erobems und Raubens. Nichts soll an pangermanische 
Ansprüche, ebensowenig im Ziel als in der Methode erinnern.“ 

Wir haben uns bemüht, nur solche kennzeichnende Stellen aus 
den Programmen anzuführen, welche selbst Kommentare für sich sind, 
und erlauben uns nur bezüglich der letzteren die Bemerkung, dass, 
als idealen Gegensatz zu „pangermanischen Ansprüchen“ einen Slaven- 
bund zu stellen, welchem Magyaren, Griechen etc. angehören sollten, 
ein Wagestück und für die panslavistischen Gelüste sehr charak¬ 
teristisch ist. 

Dieselben Ideen, nur in den dem Blatte eigenen Schranken des 
Wirklichen und Sachmässigen, nicht über das Ziel Hinausschiessenden, 
kolportiert auch das „Nowoje Wremja“, welches von Rüstungen 
gegen Österreich spricht, die den österreichischen Slaven Erlösung 
bringen sollen. An einer Stelle lässt sich das bedächtige Suworinsche 
Blatt sogar zu der Unvorsichtigkeit hinreissen, von einem Krieg gegen 
Österreich zu sprechen, „den wir nicht schon heute zu er¬ 
klären brauchen"... Die erste Kriegsbeute sollte das „russische“ Ost¬ 
galizien sein. Dies erfolge nämlich aus den Rechten der russischen 
Herrscherdynastie auf die Länder der Krone des heil. Wladimir .... 
Interessante Anschauungen äussert dieses Blatt über die praktische 
Seite der panslavistischen Bewegung anlässlich des Besuches der 
österreichisch-slavischen Abgeordneten in Petersburg: „ ... Ausser¬ 
halb der Grenzen des Imperiums, bei unseren nächsten Nachbarn, 
haben wir gleichsam die Bevölkerung eines grossen Staates, welche 
mit uns sympathisiert. Ausser der uns günstigen Atmosphäre des rasch 


Fortschritt und Glück teilnehmen, sie ist stark und geduldig, sie hat mit unsFranzosen 
gemeinsame Sympathien und gemeinsame Feinde . . . Und fürwahr, es 
ist nicht nur ein politisches Werk, sondern noch mehr ein französisches, diese Bewegung 
zu unterstützen, deren Bedeutung doch jedem offenen Kopf klar ist« usw. 

1 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



280 


zunehmenden slavischen Patriotismus haben wir in der Bevölkerung der 
kleinen slavischen Länder gleichsam bewaffnete Avantgarden 
im Süden und Zentrum Europas. Jetzt besteht für Russland 
kein Bedürfnis, seihe Armee über die Donau zu setzen, weil dort für 
den Kriegsfall bereits eine wunderbare, 300.000 Mani; starke 
Armee der Bulgaren Wache hält. Wie schwach auch Serbien 
sein mag, so sind doch einige serbische Armeekorps samt dem Mon¬ 
tenegrokorps immerhin etwas wert. DieHälfte der riesigen 
ö s t e r r e i c h i s c h - u n g a r i s c h e n Monarchie sind — 
S1 a v e n .. . Die Tschechen haben leider keine Kriegsarmee, 
aber ihre Sokol- und Schützenarmee tritt vor einer regulären 
nicht zurück“ ... 

Das bisher Gesagte resümierend, können wir getrost behaupten, 
dass der Panslavismus von heute wohl formell in mancher Beziehung 
von dem alten Panslavismus berüchtigten Angedenkens abweicht, der 
Inhalt desselben jedoch der nämliche geblieben ist. 

Wir werden auch den Beweis zu erbringen versuchen, dass für 
uns Ruthenen dieser Panslavismus noch grössere Gefahren in sich 
birgt, als es bei dem früheren der Fall war. 


TI. Der römische Pansuoisniis. 

Im vorigen Kapitel wurde über den neuen Kurs im Panslavismus 
ausgeführt und auf dessen formale Verschiedenheiten vom alten Pan¬ 
slavismus hingewiesen, deren hauptsächlichste der Umstand bedeutet, 
dass diesmal auch die bisher als unversöhnliche Gegner des Panslavismus 
bekannten Polen bei dem Treiben mithelfen. Zwar hat es seinerzeit auch 
bei den Polen Anläufe zu einem eigenartigen polnischen, aristokratischen 
Panslavismus gegeben, dessen Repräsentant Mickiewicz war. Diesem 
zufolge hat die slavische Welt zwei Seiten, eine negative 
und eine positive. Vertreter der ersteren seien die Russen, 
solche der letzteren die Polen, denen auch der erste Platz in der 
slavischen Völkerfamilie gebühre. Aber für einen solchen, dem russi¬ 
schen analogen polnischen Panslavismus gab es keine Verwendung. 
Dazu waren die Polen selbst zu schwach. Der russische Panslavismus 
kehrte sich aber mit aller Strenge gegen die Polen, im Namen des Pan¬ 
slavismus wurden die um ihre Freiheit kämpfenden Polen hingerichtet 
und. verbannt und nationaler und politischer Verfolgung ausgesetzt. 

Indessen machten die Polen auch hinsichtlich des Panslavismus 
eine erstaunliche Evolution durch, welche sie sowohl die aristokratischen 
Grillen teilweise in sich unterdrücken, als auch ihren Hass gegen den 
Panslavismus vergessen liess. Heute stehen die Polen im Vordergründe 
einer grossangelegten panslavistischen Aktion. 

Für den Vertreter der polnischen Panslavisten in der Presse 
halten wir die Monatsschrift „Slowianski swiat“ (Die slavische 
Welt) in Krakau, welche Stadt auch der Sitz einer polnisch-slavo- 
philen Gesellschaft ist. Der „Slowianski swiat“ war die erste polnische 
Zeitschrift, welche sich die slavische Sache angelegen sein liess und 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 281 - 


ihren Ideen seit der Gründung im Jahre 1906 konsequent dient, obzwar 
die Zahl ihrer Adhärenten immer sehr gering war und erst seit den 
preussischen Enteignungsgesetzen die polnische Gesellschaft in allen 
drei Anteilen für sich gewann. Das Organ der polnischen Panslavisten 
geht von dem Standpunkte aus, dass ein gesunder Panslavismus nur 
auf nationaler Basis bestehen könne ; demzufolge könne der Ausgangs¬ 
punkt des polnischen Panslavismus nur die Wahrung der national¬ 
polnischen Interessen sein. Jeder Gefühlspanslavismus ist dem polni¬ 
schen Repräsentanten der panslavistischen Idee fremd. Jedes slavische 
Volk möge trachten, unter der Beihilfe anderer slavischer Brüder die 
möglichst grössten Vorteile für sich zu gewinnen. Ein solcher Pan¬ 
slavismus sei schon durch die angebliche Gemeinsamkeit der Interessen 
der slavischen Völker begünstigt. Einen Beleg für diese Auffassung 
der Dinge liefert der „Slowianski swiat“ in der Lösung der Frage der 
nationalen und Länderautonomie in Österreich. Nach der Feststellung, 
dass es in Österreich slavische Völker gebe, die auf dem Stand¬ 
punkte der Länderautonomie stehen, wie die Polen und Tschechen 
und solche, die die nationale Autonomie anstr^ben, wie Slovenen und 
Ruthenen, behauptet er, dass „die Diskussion darüber, was für die 
slavische Allgemeinheit vorteilhafter sei, der Nutzen der Tschechen 
oder der Slovenen, oder, was einen geringeren Schaden bedeutet, der 
Nachteil des einen oder des anderen dieser Völker, vollkommen fruchtlos 
sei, weil Politik keine Mathematik ist. Das Einmaleins muss in Prag 
und Laibach dasselbe, die Autonomie kann verschieden sein“ . .. 
Auf Grund dieses Rezeptes sollten eben die österreichischen Slaven 
die Länderautonomie zugunsten der Polen und Tschechen zu erhalten 
suchen und die Gewährung der nationalen Autonomie für die Slovenen an¬ 
streben .. . („Zwei Bedingungen der slavischen Solidarität“, Juli 1906). 
Die Ruthenen aber müssen, anscheinend im Interesse der slavischen 
Allgemeinheit, ihrer Forderung zugunsten der Polen entsagen ... 

^em Panslavismus selbst erkennt das Organ der polnischen 
Panslavisten eine entscheidende Bedeutung für das Polentum zu: 
„Wenn wir den Slavophilismus von uns werfen, wird das Polentum 
auf das ethnographische Gebiet beschränkt. Der sehr geringe Umfang 
unseres ethnographischen Gebietes und der Mangel an natürlichen 
Grenzen sind die Ursachen, dass wir mehr als andere Völker ein Be¬ 
dürfnis nach einer grossen politischen Idee haben, 
und zwar einer solchen, welche nicht ausschliesslich pol¬ 
nisch wäre. Polen hatte in Europa nur deswegen Be¬ 
deutung, weil das Polentum ausserhalb Polens 
reichte, weil es ausserhalb des ethnographischen Gebietes Einfluss 
hatte. Wer an Polentum jenseits des Bug und Dnipro denkt (in den 
ruthenischen Landen. Anm. d. Verf.), der muss die polnische politische 
Idee so ausdehnen (!), dass darin nicht nur das, was polnisch ist, 
Platz haben kann“. (Der Slavophilismus ohne Konzessionen, Juni 
1907). An anderer Stelle ist die Rede von einem ethnographischen 
Polen. Es heisst da: „Der Gedanke allein an ein solches Polen ist 
beschämend!“ Selbstverständlich bildet auch für die polnischen Pan¬ 
slavisten die Grundvoraussetzung für den Panslavismus die polnisch- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



282 


russische Annäherung: „Jeder wird zugeben, dass ein Ausgleich 
Polens mit Russland den Anfang einer neuen Ära für das gesamte 
Slaventum und die in den slavischen Ländern wirkenden Staaten be¬ 
deuten würde. Die polnisch-russische Verständigung ist eine europäi¬ 
sche Notwendigkeit solcher Art, dass sie zuletzt zustande kommen 
muss — sie ist auch für Russland eine Notwendigkeit („öl ins Feuer“, 
August 1906). „Die Pläne Deutschlands reichen weiter (über das Kon¬ 
gresspolen), nachdem sie auch noch die „ukrainische Repu¬ 
blik“ und das „Fürstentum Litauen" umfassen. Neudeutsch¬ 
land soll bis Uber den Dnipro reichen, soweit soll die preussische 
Armee gelangen und die deutschen Handelstarife verpflichten.“ („Das 
Problem des Ausgleiches mit Russland.“ Oktober 1907.) Je weiter, desto 
aufrichtiger sind die Ergüsse: „Die Umstände haben eine solche 
Wendung genommen, dass heute für die Polen der Weg nach Polen 
durch Russland führt. Sogar Puryschkewitsch und Genossen 
können uns dienlich sein, wenn wir ihre Arbeit auszunützen verstehen 
und das Wasser auf unsere Mühlen laufen lassen. Der Untergang 
Russlands ist auch unser Untergang. Der Tag der Ausführung des 
russischen Heeres aus Warschau ist ein Tag vom Ende Polens.“ (Die 
slavische Verteidigung Grosspolens, Jänner 1908.) Dem polnischen 
Panslavismus hat erst neulich zur Zeit des Petersburger Besuches der 
drei slavischen Politiker aus Österreich der Obmann des polnischen 
Dumaklubs, Dmowski, die Weihe gegeben, indem er erklärte, dass 
es im vitalsten Interesse des Polentums liege, sich dem Panslavismus 
vorbehaltlos anzuschliessen. ln einem Interview äusserte er sich 
zu dieser Frage folgendermassen: „Wir können offen und ganz auf¬ 
richtig sagen, dass die Sache des Slaventums — natürlich in deren 
richtiger Auffassung — auch unsere Sache ist.“ — Wie diese vom 
polnischen Standpunkt richtige Auffassung aussieht, haben wir gerade 
bemerken können. 

Dass der Panslavismus diesmal bei den Polen auf einen so 
fruchtbaren Boden fiel, dafür findet sich die Erklärung in folgenden 
zwei Gründen: Der erste, mehr formaler Natur, ist die Lage der Polen 
in Preussen, welche den Polen die Absolution von ihrer bisherigen 
feindlichen Stellung gegenüber dem Panslavismus erteilt. Die preussen- 
feindliche Demonstration der slavischen Abgeordneten im österreichi¬ 
schen Parlament bekräftigte sie in dieser Richtung. Gewiss aber bildete 
den hauptsächlichen Stimulus zur Abkehr der Polen auf den slavischen 
Weg nicht der Bund mit den Slaven zum Zwecke eines unproduktiven 
und ganz aussichtslosen Kampfes gegen die Preussen, sondern die 
Gewinnung von Freunden zum historischen Kampfe gegen die Ukrainer. 
Eine polnisch-russische Verständigung öffnet den Polen, welche in¬ 
folge der russisch-preussischen Unterdrückung bereits alle Hoffnung 
auf Verwirklichung ihrer historischen Ideale zu verlieren anfingen, 
wieder Aussichten auf das historische Polen. Die durch die pansla- 
vistischen Freunde sanktionierte Überlassung von Ostgalizien und der 
ukrainischen Teile Kongresspolens an die Polen, die auch manche 
Russen anzuerkennen gewillt sind, und die Bewegungsfreiheit in 
anderen russischen Provinzen (lies: in der Ukraine), das ist eben das- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



283 


jenige, was die Polen, auch bevor sie sich noch zum Panslavismus 
bekehrt hatten, immer wünschten. 

Dass der polnisch-russische Ausgleich am allerwenigsten auf 
Gefühlen aufgebaut ist, ist evident. Sein Ziel ist ein gemeinsamer 
Kampf gegen den Ukrainismus, welchen die Polen und Russen seit 
Jahrhunderten jeder auf eigene Faust führen. Die Kosten der polnisch¬ 
russischen Annäherung, jener Vorbedingung des Panslavismus, sollen 
an den Ukrainern liquidiert werden. 

(Schluss folgt.) 


Die nkralitUcfte Scbtile in polafscfreN Jod>. 

IV. Gewerbe-, Handels- nnd andere Fachschulen 
in Galizien. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 

Es gibt an und für sich sehr wenig Gewerbe-, Handels¬ 
und andere Fachschulen in Galizien und von den bestehen¬ 
den hat die ruthenische Mehrheit dieses Landes gar keinen 
Nutzen. Sie existieren für die Ruthenen nur insoferne, als sie 
von den ruthenischen Steuerträgern erhalten werden. 

Es gibt in Galizien zwei Hochschulen für Boden¬ 
kultur: die eine ist die fünfte Fakultät der Krakauer Uni¬ 
versität, die zweite (selbständige Hochschule) befindet sich 
in Dublany. Weiters sind hier zwei landwirtschaft¬ 
liche Schulen höheren Typus — eine Landesschule 
für Landwirtschaft in Czernichow bei Krakau und eine Forst¬ 
schule in Lemberg. An landwirtschaftlichen Schulen 
niederen Typus haben wir sechs und zwar in Jaholnycia, 
Bereznycia, Suchodil, Kobierniki, Horodenka und Dublany, und 
eine in Niewiarow, an welcher nur im Winter unterrichtet wird. 
In Bolechiw ist eine Forstschule niederen Typus, in Rze- 
szow eine Fachschule fürVerwertung vonMilch- 
produkten; ausserdem bestehen in Galizien vier Schulen 
für Hopfen-, Obst- und Gemüsegartenbau 
in Lemberg, Tarnow, Zalistschyky und Stare selo, zu welchen 
noch eine Fachschulefür Branntweinbrenner 
in Dublany hinzuzufügen wäre. 

Nicht eine dieser landwirtschaftlichen 
Schulen hat das Ruthenische zur Vortrags¬ 
sprache. Die Hochschule in Dublany, die landwirtschaft¬ 
liche Fakultät in Krakau und die landwirtschaftliche Schule 

Digitized by Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



2S4 


in Czernichow bestehen augenscheinlich überhauptnicht 
für die Galizianer, weil in allen diesen Anstalten die 
Mehrheit der Studierenden aus Russisch-Polen stammt. Die 
galizischen Ruthenen dürfen anscheinend nur zu dem Zwecke 
die Steuern für Erhaltung dieser Schulen zahlen, damit An¬ 
gehörige fremder Staaten davon profitieren. Wir haben un¬ 
längst in den Zeitungen gelesen, dass die deutschen Univer¬ 
sitäten, falls für eigene Hochschüler kein Platz mehr ist, 
keine fremden aus fremden Staaten aufnehmen. Im polni¬ 
schen Piemont in Galizien geht das anders. 

In den niederen landwirtschaftlichen Schulen wird den 
ruthenischen Schülern sogar die private Korrespondenz 
in ruthenischer Sprache verboten. Über ähn¬ 
liche Zustände in der landwirtschaftlichen Schule in Berez- 
nycia berichtete seinerzeit das „Dilo“. Eine solche barbarische 
Behandlung wird den polnischen Kindern in Preussen kaum 
zuteil werden. 


Es soll noch erwähnt werden, dass der landwirtschaft¬ 
liche Unterricht nicht auf mittleren oder kleinen Wirtschaften, 
sondern auf Latifundien veranschaulicht wird. 

Die letzteren sind aber in Galizien sämtlich in polni¬ 
schen Händen. Vom ruthenischen Steuerzahler nimmt man 
den letzten Kreuzer, um für polnische galizische Grossgrund¬ 
besitzer die nötige Anzahl von Schreibern, Verwaltern und 
Branntweinbrennern auszubilden. Infolgedessen schicken die 
ruthenischen Bauern ihre Kinder ungerne in diese fremden 
Schulen. Was für Nutzen hätten sie denn davon? 


In der Bukowina gibt es eine ruthenische landwirt¬ 
schaftliche Schule in Kotzmann, es sind zwei slovenische 
Schulen für Landwirtschaft in Krain, und im Küstenland zwei 
italienische, eine tschechische Hochschule für Bodenkultur, 
14 tschechische Mittelschulen und 43 tschechische landwirt¬ 
schaftliche Schulen mit Wintersemestern, ferner 10 tsche¬ 
chische Fachschulen für Verwertung von Milchprodukten, für 
Obst- und Gemüsegartenbau, neben zwei tschechisch-deut¬ 
schen, auch die Rumänen haben eine rumänisch-deutsche 
Schule für Landwirtschaft, nur die Ruthenen in Galizien 
haben keine einzige, weder eine rein ruthenische noch eine 
utraquistische und gibt es nicht einmal eine Schule für Land¬ 
wirtschaft, in der die ruthenische Sprache als Lehrgegenstand 
berücksichtigt wird. 

Auf diesen anormalen Zustand lenkte seine Aufmerksam¬ 
keit der Aufklärungsverein „Proswita“ in Lemberg. Er hat 
auch seinerzeit um Subvention aus dem Landesfonds für die 
Erhaltung eines Wanderlehrers angesucht, der Vorträge 
über die Landwirtschaft im Lande veranstalten und sich mit 
dem Volke in dessen Muttersprache verständigen könnte. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



285 


Aber die polnische Mehrheit hat auch dieses über¬ 
bescheidene Gesuch abschlägig erledigt! 

Die polnische Maffia begnügt sich somit nicht damit, 
dass durch die allgemeine Herabdrückung der Aufklärung des 
ruthenischen Volkes auch das wirtschaftliche Leben desselben 
geschädigt wird, sie arbeitet vielmehr gleichsam darauf hin, 
dieses Volk in wirtschaftlicher Rückständigkeit zu erhalten. 
Im Zusammenhang damit steht aber der wirtschaftliche Verfall 
der ruthenischen Bauernbevölkerung und dessen Folgeer¬ 
scheinung, die massenhafte Auswanderung nach Amerika. 
In den Vereinigten Staaten, in Kanada, Argentinien und 
Brasilien sind ihrer schon beiläufig eine Million. Ist es nicht 
eine Schande, dass aus Deutschland, wo auf einen Quadrat¬ 
kilometer durchschnittlich 104 Einwohner entfallen, die Aus¬ 
wanderung verhältnismässig geringer ist als vom ruthenischen 
Teile Galiziens, wo auf einen Quadratkilometer 88 Einwohner 
kommen? Diese Einwände gewinnen noch mehr an Bedeutung, 
wenn man berücksichtigt, dass Ostgalizien eine der frucht¬ 
barsten Bodenflächen Europas ist. Und was hat das ruthenische 
Volk von der polnischen Kultur gewonnen? Es ist Tatsache, 
dass das polnische Volk in Preussen seine ganze Wohlhaben¬ 
heit der deutschen Kultur verdankt. Seine unfruchtbaren Sand¬ 
flächen wurden in fruchtbare Äcker verwandelt und stehen 
auch heute die preussischen Polen in bezug auf die wirt¬ 
schaftliche Produktion ihren preussischen Lehrern nicht nach. 
Der meterhohe schwarze Boden Podoliens ist aber weniger 
ertragreich, als der Sandboden in Posen. Das ist der Profit 
der ruthenischen Bevölkerung von der polnischen Kultur!... 

Es gibt in Galizien zwei öffentliche Handelsschulen 
— eine in Lemberg und eine in Krakau — ausserdem eine 
private in Sambor, an denen die Vortragssprache das 
Polnische, das Ruthenische aber nur an der Lemberger 
nichtobligater Gegenstand ist. Man hätte das 
Recht zu erwarten, dass, wenn in Mähren vier höhere und 
vier niedere Handelsschulen bestehen, es in Galizien deren 
im Verhältnisse 25 geben sollte. Aber Galizien hat, abgesehen 
von Defraudanten und blutarmen Emigranten, gar keinen 
heimischen Export und, was den Import anbelangt, so wünschen 
jetzt die Polen, und entfalten auch in der Richtung eine leb¬ 
hafte Agitation, dass alles, sogar die berühmten Wahlurnen 
mit Doppelboden, ein „Landeserzeugnis“ sei. 

Gewerbeschulen gibt es zwei Arten, eigentliche 
Gewerbeschulen und Fortbildungsschulen. Es gibt der ersteren 
25 im polnischen Teile Galiziens mit seinen 2,501.769 Ein¬ 
wohnern und nur 18 im ruthenischen Teile Galiziens, wo 
4,812.171 Leute wohnen. Nach Recht und Gerechtigkeit sollte 
Ostgalizien 48 Gewerbeschulen haben. 

Gewerbe-Fortbildungsschulen gab es in Galizien im 
Jahre 1905/6 im ganzen 54, und zwar 25 in Westgalizien und 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



•286 


29 in Ostgalizien. Diese gewerblichen Fortbildungs¬ 
schulen müssen die in der Lehre sich befindenden Lehrlinge 
nach absolvierter vierklassiger Volksschule besuchen. Keine 
einzige von diesen eigentlichen gewerblichen Fortbildungs¬ 
schulen ist für die ruthenische Bevölkerung bestimmt. Alle 
haben die polnische Vortragssprache und die ruthenische 
Sprache wird nicht einmal als nichtobligater 
Gegenstand gelehrt. Einige Jahre wurde die ruthenische 
Sprache in Berezany vorgetragen, aber die polnischen Behörden 
haben auch das verboten. 

Einst gab es eine hochentwickelte ruthenische 
Hausindustrie, weltbekannt sind die huzulischen Erzeug¬ 
nisse — und was haben die polnischen Machthaber Gutes 
für diese Industrie geleistet? Sie haben es nur verstanden, 
allerlei Chikanen für die Künstler zu erdenken, die ihre Kunst 
zuhause als Autodidakten erlernt haben und sich gelegentlich 
mit einer künstlerischen Arbeit beschäftigen. Der Steuer¬ 
inspektor und der Gendarm, das sind die Förderer der 
ruthenischen Hausindustrie in Galizien! 

Böser Wille und Hass gehen so weit, dass sogar Neu¬ 
geborene Opfer der Pseudokultur des slavischen Bruders 
werden. In ganz Galizien sind nur zwei Hebammenschulen, 
in Krakau und Lemberg. In beiden wird kein Gegenstand 
in ruthenischer Sprache vorgetragen; auch wird die 
ruthenische Sprache nicht einmal als nichtobligater 
Gegenstand gelehrt; hunderttausende Wöchnerinnen suchen 
lieber den Rat bei den Quacksalberinnen, Kurpfuscherinnen 
und gewöhnlichen, unaufgeklärten, abergläubischen alten 
Frauen, als bei den Hebammen, welche ihnen durch ihre 
Abstammung fremd sind und ihre Sprache nicht verstehen. 
Die Sterblichkeit der ruthenischen Neugeborenen und Wöch¬ 
nerinnen in Galizien ist sehr gross, aber das entspricht den 
Wünschen derer, welche in Posen über die Bedrückung bis 
zum Platzen schreien. 


nach der Uenmtilmg. 

Vom Reichsratsabgeordneten Jacko Ostapczuk. 


Die Tat Siczynskyjs hat die öffentliche Meinung sowohl 
bei den Ruthenen als auch bei den Polen zur ßekennung ver¬ 
halten, wie sie sich zu dieser Tat stellt. Dies geschah auch 
sogleich, kaum dass der Schuss der Revolverkugel, die den Statt¬ 
halter Potocki traf, verhallt war. 

Wir wissen es genau, was für eine Sprache die Öffentliche 
Meinung bei den Polen führte. Wir wissen, dass der überwiegende 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



287 


Teil der polnischen Gesellschaft, selbstredend die arbeitende 
Schichte ausgenommen, insbesondere aber diejenigen, die unter 
dem Einflüsse der allpolnischen Presse stehen, die Tat nicht nur 
sehr streng beurteilten, sondern ihr sogar den politischen Charakter 
nahmen und Siczynskvj selbst als einen Mordgesellen darstellten, 
für welchen sogar die Todesstrafe zu mild, zu unzureichend ist. 




Und auffallend genug war, dass, während diejenigen, die 
Siczynskyj von vornherein zum Tode verurteilten, dies unbehelligt 
tun durften, während diejenigen, die seine Tat zu rechtfertigen, 
als Folge der seit Jahren dauernden ungesunden Verhältnisse in 
unserem Lande begreiflich zu machen suchten, den Mund ge¬ 
knebelt ha.tten. — Aber wir wissen auch so, wie die ganze ukrainische 
Gesellschaft, vielleicht mit winzigen Ausnahmen und alle die¬ 
jenigen im Lande, die leiden und dulden, diese Tat aufgenommen 
haben. Und die schweren Strafen, die den Brechern des Schweig¬ 
verbotes für die Rechtfertigung der Tat Siczynskyjs auferlegt 


Digitized by 


Gok igle 


2 

Original from 

INDIANA UNIVERSUM 




288 


wurden, waren für Viele eine Weisung, dass sie denken mögen, 
was ihnen beliebt, keineswegs aber ihre Gedanken äussern 
dürften ... 

Bei dem Vorherrschen einer solchen Stimmung nahte der 
Tag des Gerichtes über denjenigen, zu welchem die einen mit 
einer gewissen Bewunderung schauten, den aber die anderen dem 
Tode weihten. Es war taktvoll und vernünftig, dass Bemühungen 
gemacht wurden, das Gericht nicht in den Landesgrenzen und 
nicht von den Leuten walten zu lassen, die in dem Falle so nahe 
interessiert waren. Die Bemühungen waren jedoch erfolglos, 
Siczynskyj wurde in Lemberg vor Gericht gestellt. Noch mehr. 
Es wurde für eine Geschwornenbank gesorgt, für welche, wie dies 
dann zum Vorschein kam, das Beweisverfahren ein unnötiger 
Ballast war. Die Richter waren lauter Polen, kein einziger Ukrainer 
durfte dabei sein, obzwar die Stadt Lemberg allein 1 / 6 Ruthenen 
zählt, in dem Lemberger Gerichtsbezirke aber fast 2 / 3 (zwei 
Drittel) Ruthenen wohnen! 

Ein Fremder wäre in Anbetracht der von der polnischen 
öffentlichen Meinung diktierten Verfügungen bald geneigt anzu¬ 
nehmen, dass Siczynskyj sich auf der Jagd nach seinem Opfer 
in einen echt polnischen Landwinkel verrannt hätte, wo es schwer 
war, andere Leute und auch andere Richter ausfindig zu machen. 
— Aber, wenn den Herren schon so viel daran lag, den polnischen 
Charakter Lembergs und Umgebung zu demonstrieren, so möge 
man eine Erklärung für die vielen Vorsichtsmassregeln geben, 
unter welchen die Verhandlung vor sich ging. Im Saale, wo die 
Verhandlung stattfand, sammelte sich ein zahlreiches Publikum 
an, zwei- bis dreihundert Leute befanden sich im Zuschauerraume. 
Darunter nur gegen dreissig Ruthenen und dies noch dazu 
Familienangehörige und Verwandte des Angeklagten, nachdem 
der Gerichtspräsident, der noch zwei Wochen vorher die Eintritts¬ 
karten an die Beamten und anderes polnisches Publikum verausgabte, 
sich gegenüber den ruthenischen Petenten von allem Anfang auf 
Raummangel berief. Während der Verhandlung selbst hielten 
zwei Kompagnien Soldaten Bereitschaft. Im Gerichtsgebäude und 
ausserhalb desselben schlenderten ganze Rotten von Gendarmen, 
Polizisten und Polizeiagenten herum . . . Wem galt das ? Sollte 
sich etwa darin jener nichtpolitische Charakter der gerichteten Tat 
offenbaren ? 

Der Gang der Verhandlung war ein äusserst ruhiger. Alles 
tat sich so zusammen, um es so sein zu lassen. Und unwillkürlich 
ward man in dem Momente erinnert an die ruhige, niedergedrückte 
Sinnesart des ukrainischen Volkes. Siczynskyj selbst offenbarte an 
dem Tage seine ungewöhnlich anspruchslose, fast kindliche Denk¬ 
art, wie sie einem jedem, der mit ihm früher im Verkehr stand, 
bekannt war. In einfachen Worten, ruhig, klar und genau erzählte 
er gegenüber der Themis mit den verbundenen Augen über die 
Ursachen, die ihn zur Vollbringung des Attentates trieben. Ent¬ 
schlossen und ohne darauf zu achten, durch die eigenen Worte 
die Blutgier des anwesenden feindlichen Publikums und haupt- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



289 


sächlich seiner Richter zu erneuern und zu befestigen, sagte er 
kein Wort und tat keinen Blick, um deren Herzen für sich zu 
gewinnen. Als ob er nicht für sie und für niemanden überhaupt, 
sondern für sich selbst, zur letzten Abrechnung mit sich selbst, 
mit seinem eigenen Gewissen seine in der Form schlichten, ge- 
danken- und inhaltschweren Bekenntnisse niederlegte. 

Die Ausführungen Siczynskyjs, das waren mutige und 
wuchtige Anklagen gegen die bei uns herrschende Ordnung. 
Indem er dieselbe schilderte, führte er gleichsam im Kaleidoskop 
vor den Augen der Richter und des anwesenden Publikums eine 
ganze Galerie von bekannten galizischen Bildern vor. Da haben 
wir einmal die Verfolgungen der Bauern für die Organisierung 
der Streiks, wobei „silberhaarige Greise wie Verbrecher in Ketten 
geschlagen wurden“. Dann die Wahlreformbewegung und die 
Hebung des Geistes im Volke, welcher Potocki mit den vielen, ihm 
zu Gebote stehenden Mitteln entgegenarbeitete. Es fielen die 
Leichen von Ladske. Dem folgte die Verfolgung ruthenischer 
Studenten, deren Verhaftung, der Hungerstreik. „Wenn nicht 
diese Haft, so wäre ich nachher nicht zur Agitation gefahren, 
hätte nicht dies alles aus eigenem Augenschein kennen gelernt 
und würde wahrscheinlich auch nicht heute hier vor dem Gericht 
stehen“ ... Unwillkürlich wird man dabei an die Äusserung Oskar 
Wildes erinnert: „je mehr Strafen auferlegt werden, desto mehr 
neue Verbrechen kommen zur Welt.“ Es kamen die Wahlen in 
den Reichsrat auf Grund des neuen Wahlrechtes — und wiederum 
dieselben Missbräuche, Schwindeleien, Stimmendiebstähle. Und 
wiederum floss das Bauernblut in Horutzko. Da kam das neue 
Parlament, das „Volks“-Haus und brachte für das Volk — eine 
neue Enttäuschung. „Es zeigte sich — sagte Siczynskyj — dass 
die galizische Administration so stark ist, dass sie im parlamen¬ 
tarischen Wege nicht gebessert werden kann.“ — Bald folgten die 
Landtagswahlen — und wiederum dieselben Gewalttaten, ebenso 
unerhört und frech, wie zu den alten Zeiten, so dass sogar die 
polnische Nationaldemokratie die Verantwortung dafür ablehnte. 
Und alle machten verantwortlich „nicht das blinde Schwert, 
.sondern die führende Hand . . .“ Am heftigsten erschütterte den 
jungen Myroslaw die Ermordung des Bauern Kahanetz, welcher 
von den Gendarmen in bestialischer Weise erstochen wurde. In 
diesen Moment fällt der Entschluss zum Vollführen des beabsich¬ 
tigten Attentates. Seit nun hörte der Gedanke, Potocki zu strafen, 
nicht auf ihn zu quälen. Er vermochte ihn nicht zu überwinden. 

Das Beweisverfahren förderte nichts Neues zu Tage. Der 
Polizeikommissär bestätigte, dass für Siczynskyj nach Verübung 
des Attentates die Möglichkeit vorhanden war, zu entkommen, 
auf welche Möglichkeit er jedoch verzichtete. Ein Zeuge beschrieb 
ausführlich wie Homer den Tod des Statthalters, worauf sich der 
Vorsitzende zum Angeklagten mit der Frage wandte, was für eine 
Wirkung diese Schilderung auf ihn gemacht habe. Der Angeklagte 
bat, man möge ihn mit solchen Fragen verschonen .. . Die Geschwor- 
nen interessierten sich für den Gang der Verhandlung wenig und 

Digitized by Go< igle 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 








mm* 




t» 




— 290 — 



stellten auch fast keine Fragen. Die Verkündigung des von der 
polnischen Presse lang vorher diktierten Todesurteils nahte sich 
raschen Schrittes. Siczynskyj nahm die Verurteilung ruhig und 
gefasst entgegen. Und als er hierauf aus dem Saale geführt wurde, 
da grüsste er die Angehörigen und Bekannten mit demselben 
kindlichen Lächeln, welches ihm eigen war, als das „Verbrechen“ 
noch nicht auf seinem Gewissen lastete. 

Huiiderte von Leuten, die sich am Abend vor dem Gerichts¬ 
gebäude angesammelt hatten und dann weiter für das Absingen 
des polnisch-revolutionären Liedes „Rote Standart“ zurück¬ 
gedrängt wurden, um hier gespannt bis spät in die Nacht auf 
die Verkündigung des Urteils zu warten, scharten sich nun um 
die Familie des Angeklagten, ihr das Geleite gebend. Voll Ruhe 
bewegte sich der Zug, bestehend aus den Studenten und Arbeitern 
vorwärts, nur als er bei dem Statthaltereigebäude vorbeizog, da 
entlud sich aus vielen hunderten von Brüsten manch bitteres 
Wort . . . 


Polnische Rechtspflege. 

Von G. Prosoroff. (Der Tag, Berlin.) 

Man weiss, wie sehr die Polen mit zweierlei Mass zu messen 
gewohnt sind; wie sie in Galizien, wo sie die Macht haben, rück¬ 
sichtslos fremdes Volkstum niedertreten, in Russland und Deutschland 
jedoch, wo ihren Machtgelüsten das Rahmenwerk eines fremden Staats¬ 
wesens entgegensteht, die Rolle des armen Lazarus spielen. Immerhin 
wird man dies verstehen können, solange es sich um rein politische 
Dinge handelt. Denn Politik bleibt doch in letzter Linie der Inbegriff 
der Mittel zur Willensdurchsetzung, und dass ein grosser Volksstamm 
mit reicher Geschichte einem selbständigen Dasein zustrebt, das wird 
jedem historisch Denkenden begreiflich sein. 

Schlimmer ist, dass die Polen auch dort, wo der Wille durch 
die verbindlichen Normen eines, alle Bürger gleichmässig schützenden 
Rechtes gebunden ist, in der Rechtsprechung nämlich, sich bis heute 
noch nicht zum Standpunkt wahren Staatsbürgertums erheben können 
— ein Übelstand, an dem einst ihr eigenes Reich zugrunde gehen 
musste. Dieses Erbübel, der Hang zu unbezähmbarem Subjektivismus, 
lebt heute noch im Polentum fort und bedroht überall dort, wo dieses 
bis zur Heftigkeit lebhafte Volk staatliche Funktionen auszuüben be¬ 
rufen ist, das Staatswesen mit offener Anarchie. 

ln den letzten Monaten haben wir eine Anzahl Fälle polnischer 
Rechtsprechung in Galizien erlebt, die verdienen, niederer gehängt zu 
werden. Es mögen die zahlreichen geringen Fälle unerwähnt bleiben, 
wo die Zentralgewalt, um überhaupt einer Verhöhnung des Rechtes 
vorzubeugen, die Prozesse nach Wien verlegen musste. So in der 
Sache der Lemberger Studentenunruhen (wobei dennoch die polni- 



V 

Digitized by 


Gok igle 


Original frcm 

INDIANA UNIVER 




291 


sehen Landesbehörden es verstanden, während der Untersuchungshaft 
ihr Mütchen an den Ruthenen zu kühlen und sie halb zu Tode zu 
martern). Oder der Prozess des ruthenischen Abgeordneten Dr. Try- 
lowskyj, der wegen „Aufreizung“ in Kolomea zu sechswöchentlicher 
Haft verurteilt ward, dessen Prozess dann vom Justizminister an die 
Staatsanwaltschaft zurückverwiesen wurde zur Prüfung dringender Be¬ 
denken bezüglich Überschreitung der Machtbefugnisse von seiten 
polnischer Gerichte. 

Das sind Lappalien im Vergleich zu dem Kulminationspunkt, zu 
dem sich polnische Justiz neuerdings verstiegen hat.* Die Gegenüber¬ 
stellung zweier Urteile zeigt, wie es mit polnischer Rechtsauffassung 
bestellt ist. 

Erster Fall: die Frauensperson polnischen Stammes, die in 
Warschau Bomben auf den General Skalon schleuderte, dann über die 
Grenze flüchtete, und — eine zweite Rosa Luxemburg — schleunigst 
durch Heirat die österreichische Untertanenschaft erwarb und sich der¬ 
gestalt gegen Auslieferung immun machte — sie ward in Krakau als 
Nationalheldin gefeiert und unter allgemeinem Jubel freigesprochen. 

Zweiter Fall: der Mörder des Grafen Potocki, ein ruthenischer 
Student, ist zum Tode verurteilt worden. 

Es spricht aus diesen beiden Urteilen die ganze „legal insanity“, 
an der Polen seit jeher krankte, und die es unfähig machte und macht 
zur Aufrechterhaltung eines rechtlich geordneten Staatswesens. Der 
erste Fall ist um so schwerwiegender, als für die Geschworenen durch¬ 
aus nicht die tragische Alternative bestand, wegen Mordes die Todes¬ 
strafe zu verhängen, oder das Recht in so schreiender Weise zu beugen. 
Da nur ein missglückter Mordversuch ihrem Wahrspruch unterstand, 
so war der Ausweg gegeben, das Mordweib schonend zu behandeln 
und trotzdem dem heiligen Recht Genüge zu tun. So aber wurde der 
„Wahrspruch“ zum politischen Schwindel unter den Händen polnischer 
Richter! Es ist klipp und klar: der Meuchelmord bleibt ein nationales 
Befreiungsmittel gegen Nichtpolen; von Fremden jedoch an Polen ver¬ 
übt, wird er blutig geahndet. — Die Tragik hätte übrigens auch gar 
nicht bestanden, wenn der Mord geschehen wäre. Für polnische Ge¬ 
schworene nicht! Weil ihnen der Begriff „Recht“ und das Verständnis 
für dessen Hoheit abgeht. In ihnen lebt nur die nationale ... Willkür. 
Und es ist nicht abzusehen, dass diese jemals anders werde. Wem 
dies schwer begreiflich erscheint, der lese die polnische Geschichte 
nach; jenes Unikum einer Entwicklung ä rebours. Denn während der¬ 
selben Jahrhunderte, die den westeuropäischen Staaten die Bildung 
und die Erstarkung grosser Staaten und Rechtsgebiete brachten, ging 
das grosse, einheitliche und geordnete altpolnische Reich in die 
Anarchie völliger Zersetzung über. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



292 


Der minister für Cattdeswreidigting und die Bauern* 
morde in Galixien. 

Der Abgeordnete Wityk hat den Minister für Landesverteidigung 
mit Unrecht als einen Dichter bezeichnet. Dichter sein, heisst etwas 
schöpfen. Das braucht ein Minister, wenn es sich ums Reinwaschen 
von galizischem Schmutz handelt, nicht. Ihm wird ein erdichteter Be¬ 
richt diktiert und er tritt dann nur auf in der Eigenschaft eines 
Schülers, der das „Gedicht“ vorrezitiert. 

Als wir das letztemal den Herrn v. Georgi sprechen hörten, war 
uns wirklich um den allseits als hochachtbar geschilderten Herrn 
leid. Es standen ruthenische Dringlichkeitsanträge betreffend die Er¬ 
mordung des ruthenischen Bauern Kahanetz, die in der Rede des 
Abgeordneten Lewickyj (Seite 296) ausführlich geschildert wird, ferner 
die Metzelei der ruthenischen Bauern in Czernychiw, Bezirk Tarnopol, 
wobei fünf Leute von den Gendarmen totgeschossen, eine Menge aber 
verwundet wurden und zuletzt die Tötung des Bauern Bortnyk in 
Felsztyn auf der Tagesordnung. Der erste Fall war politischer Natur, 
nachdem es sich um Bestrafung eines Bauernführers handelte, der sich 
die Wahlschwindel nicht hat gefallen lassen und gegen dieselben an 
höhere Instanzen protestierte; der zweite Fall war sozialer Natur — es 
handelte sich um das Fischereirecht, welches die Bauern seit undenk¬ 
lichen Zeiten ausübten, infolge „inkorrekter“ Haltung bei den Wahlen 
aber nicht mehr ausüben durften und nicht einmal ungeachtet des 
höheren Offerts gegen das vom Gutsherrn Grafen Korytowski ange¬ 
botene, überlassen erhielten; im dritten Falle handelte sichs wiederum 
um eine einfache Schlägerei, die auf die Art zustande kam, dass ein 
ruthenischer Bursche einem polnischen, der seine nationalen Gefühle 
durch das Lied „Noch ist Polen nicht verloren, noch muss der Ruthene 
dem Polen Stiefelputzerdienste leisten“, beleidigte, eine Ohrfeige gab. 
— Nun hielt es der Minister für Landesverteidigung für angezeigt, 
die schuldigen Organe in allen drei Fällen in Schutz zu nehmen. Er 
tat dies in einer Weise, die im besten Falle geeignet ist, das Gefühl 
der Lächerlichkeit auszulösen. Der Ausgang der Abstimmung, dem¬ 
zufolge den ruthenischen Dringlichkeitsanträgen zwar nicht die quali¬ 
fizierte Stimmenanzahl zuerkannt wurde, die jedoch immerhin die 
Mehrheit des Abgeordnetenhauses für sich gewannen, war auch eine 
Blamage für die im Schlepptau des Polenklubs schreitende Regierung 
und für den Herrn Georgi. 

Die ganze Verteidigung des Landesverteidigungsministers war aus 
lauter Widersprüchen zusammengesetzt. Fangen wir mit dem letzten 
Falle an. Ein 19jähriger Bursche, allerdings vom Herrn Minister als 
gewalttätiges Individuum bezeichnet, soll von einem Gendarmen (wir 
sehen davon ab, ob mit Recht oder Unrecht, und berufen uns nicht 
auf die Ausführungen der ruthenischen Antragsteller, sondern folgen 
dem Gedankengang der Ministerrede) verhaftet werden. Der Gendarm 
begibt sich nachts in seine Wohnung und erklärt den Burschen für 
verhaftet. Dieser will davon nichts hören, sondern legt sich auf die 
Bank und beginnt nach Kinderart mit den Füssen zu strampfen, „in- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



293 


dem er die Oberschenkel gegen die Brust heraufzog und die Füsse 
mit aller Kraft gegen Lepski (den Gendarmen) vorschnellte“ ... Der 
Gendarm soll nun — wir glauben dem Herrn Minister aufs Wort — 
dem Gymnastiker mit Waffengebrauch gedroht haben, aber dieser 
strampfte unbekümmert darum weiter. Nun „machte Lepski, um jede 
weitere Renitenz zu brechen, einen Bajonettausfall gegen den rechten 
hochgehobenen Oberschenkel des Renitenten, traf ihn aber, da 
Bortnyk plötzlich eine Wendung nach rechts ausführte, auf die der 
Gendarm nicht gefasst sein konnte, in die Magengrube“!... Tableau 1 
— Nun erst wird der „Renitent“ rabiat. „Bortnyk sprang auf, stiess 
den Gendarmen mit aller Gewalt zurück und lief aus dem Hause auf 
das angrenzende Feld, wo er zusammenbrach“. Tableau 1... 

Nun wollen wir uns in eine Erörterung dessen nicht einlassen, 
dass der Gendarm mit einem angeheiterten jungen Mann zu tun ge¬ 
habt hat, dass es für ihn gegenüber dem „die Oberschenkel gegen 
die Brust heraufziehenden und die Füsse mit aller Kraft vorschpellenden 
Renitenten“ keine Zwangslage gab, um so weniger, als sich der 
Gendarm in der Gesellschaft eines Gemeinderates befand, mit dessen 
Hilfe der Renitent trotz seiner drohenden, allerdings liegenden, Position 
gewiss überwältigt werden konnte. 

Interessant ist, dass der Herr Minister sämtliche in Rede 
stehende Morde als Zufälligkeiten hinstellt. In Felsztyn zielt der 
Gendarm in die hochgehobenen Oberschenkel und trifft ln die Magen¬ 
grube. In Koropetz „führte er (der Gendarm Jablczy'nski) einen Ba¬ 
jonettstich gegen den Arm des Kahanetz, traf aber dessen linke Brust¬ 
seite !“ . .. Und ferner „machte der ebenfalls schwer bedrängte Gen¬ 
darm Tokarski, ohne den Waffengebrauch des Wachtmeisters wahr¬ 
genommen zu haben, einen Bajonettausfall und traf unglücklicherweise 
den Kahanetz ebenfalls in den Leib!“ . . . Wie diese unglücklicher¬ 
weisen Zufälligkeiten in Wirklichkeit ausschauten, darüber siehe in 
der Rede Dr. Lewickyjs. 

Was die Czernychower Bauernmetzelei anbelangt, so erscheint es 
dem Herrn Landesverteidigungsminister als konstatiert, dass die Gen¬ 
darmen bestrebt waren, auf die unteren Extremitäten zu schiessen, 
„doch war es mit Rücksicht darauf, dass die Gendarmen höher als die 
Menge standen und es finster war, unvermeidlich (sic), dass einige 
Schüsse die Oberkörper, beziehungsweise die Köpfe der Angreifer 
trafen.“... Nur hat der Herr Verteidiger vergessen anzugeben, 
dass es unter den Toten und Verwundeten solche gab, die an den 
untersten und obersten Körperextremitäten von rückwärts getroffen 
wurden. 

Der Verteidiger der Werkzeuge der polnischen Schlachta hat 
seine Klienten schlecht vertreten und wäre er selbst Verfasser der 
Verteidigungsrede gewesen, dann hätte man ihn wohl einen Dichter, 
aber einen schlechten nennen können. —r. 


Digitized by 


Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNtVERSITY 



294 


K*banm. 

(Ein Volkslied, aufgeschrieben im Dorfe Koropetz, Galizien, wenige 
Wochen nach der Ermordung des Bauern Marko Kahanetz in Koro¬ 
petz anlässlich der Landtagswahlen in Galizien im Jahre 1908.J 

Im berühmten Dorf Koropetz da gab’s Schmach und Schande, 

Denn dort ward ein Mann erstochen durch Verräterbande. 

Brachten schweres Geld, die Herren, er liess sich nicht beirren, 
Wollt’ nicht gegen Recht und Wahrheit sein Dörflein verführen. 

Die Verräter sich verschworen ihn zugrund zu richten, 

„Denn der Mann, der ist verständig, lässt uns nichts verrichten, 

Und er ist uns gar zu weise, kennt die Paragraphen, 

Macht uns noch in unsrer Sache gar zu viel zu schaffen. 

Bei geringstem Anlass tut er alles nach Wien melden 
Einem, der uns beugt die Nacken, und er kennt den Helden. 

Nun, wir wollen, Teufelssöhnchen, dies nicht mehr erlauben, 

Denn wir sind nun fest entschlossen, dein Leben dir zu rauben.“ 

Und von Mittwoch auf Donnerstag gar schrecklich er träumte, 

Stand auf morgens — seine Stirne Traurigkeit umsäumte. 

Sein Weib fragt ihn: „Weshalb, Marko, bist, traurig, erzähle, 

Was beschwert dich, welcher Kummer bedrückt deine Seele?“ 

„Hatte einen Traum, so schrecklich, kann es gar nicht sagen, 

Und ich weiss nicht, was ich heute fürchte zu ertragen.“ 

Zog den Pelz an, eine Zeitlang stand er auf der Schwelle, 

Dacht’ nicht, dass er sterben werde an der Strassenstelle. 

Durch den Hof schritt er bedächtig, könnt’ sein Herz nicht zähmen, 
Denn er ahnte, dass ihm werde bald das Blut entströmen. 

Und er traf Wassyl, den Wächter, dieser wollt’ ihn warnen: 

Ist nicht nötig dir jetzt, Marko, in das Dorf zu wandern, 

Doch erwiderte ihm Marko: „Ich wüsst’ nicht weswegen, 

Dort kann niemand wohl im Sinne für mich Arges hegen.“ 

Und er schritt des Weges weiter, trat ins Amtsgebäude, 

Dort war alles vorbereitet schon zu seinem Leide. 

Und er wollte von Rechtswegen etwas dort erlangen, 

Die Gendarmen, dreie waren’s, wollten ihn belangen. 

Ach! Rudzinski, der Verräter gab ihm einen Schlag — 

Wirst du Marko wohl gedenken an deinen letzten Tag. 

Da rief Marko: „Rettet, helfet mir, ihr guten Leut’, 

Denn ich sehe, dass ich hier bin dem Tode geweiht!“ 

Stürzte auf ihn zu die Schwester und der Bruder mit ihr, 
Händeringend rief sein Weib: „Was tun sie mit dir?“ 

Und sie zogen ihn nun heimwärts um sein Leben bittend, 

Doch es waren die Gendarmen über dies ganz wütend. 

Der Wachtmeister, der lief voraus, knirschend voller Zorn, 

Und versucht in dem Momente Marko zu durchbohr’n. 

Und es haben wie die Raben ihn die drei umringt, 

Marko schützten Weiberhände — doch der Mord gelingt. 

Und an Marko Postenführer Tokarski nun sprang, 

Und sofort die scharfe Waffe Markos Brust durcbdrang. 

Zog heraus das Bajonett dann — war von Blut ganz rot — 

Markos junges Weib fiel nieder zu Boden halb tot. 

Der Wachtmeister fragt spöttisch: „Hat’s Farbe gemacht?“ 

Und betastete die Waffe, sah nach, ob’s vollbracht; 

Markos Leute führ’n ihn weiter, ohnmächtig, auf den Händen, 

Und der Wachtmeister hinter ihm drein, ob er noch nicht ende. 

Dann schrie dieser auf: „Du, Bauer, bist du noch am Leben?“ 

Und die Waffe drang ins Herze .... „Hab’ den Rest gegeben!“ 
Ach, am Donnerstag am Morgen um die neunte Stunde 
Grüsste Marko seine Lieben, sprach mit blassem Munde: 

„Meine lieben, trauten Freunde, lasst euch nicht beirren, 

Lasst euch nicht von diesen Polen an der Nase führen!“ 


Digitized by 


Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



295 


Diese letzten Worte sprach er, seufzt dann auf gar schwer, 

„Lebet wohl!“ — erhob die Hände und war dann nicht mehr. 

Und als tot vor sich nun sahen Marko seine Lieben, 

Weinten alle, ungeriihret war kein Herz geblieben. 

Als sie ihn ermordet hatten, floss sein Blut in Strömen, 

Liefen alle hin zum Marko von ihm Abschied nehmen. 

Sie verständigten den Dechant, dass er kommen möge, 

Nun jung Marko zu versehen auf dem letzten Wege. 

Doch als dieser angekommen zu der Beichtvernehmung, 

Da war schon die Seel’ entflohen ohne Sündvergebung, 

Weint’ auch, dass er so unschuldig sein Leben musste lassen, 

Dass er seine Ukraine auf ewig verlassen. 

Nun lag tot der arme Marko im Blut auf der Strassen, 

Eilt das Volk herbei, denn niemand könnt’ das Unglück fassen. 
Markos Bruder konnte sich nicht von der Erd’ erheben, 

Könnt’ nicht sehen, schrie verzweifelt: „wie soll man denn leben?“ 
Die Gendarmen, die umkreisten den Ort wie die Raben, 

Passten auf, ob sie nicht könnten wohl noch einen haben. 

Um die Zeit da traten Leute ^us dem Gottesdienste 
Und sie konnten nun beschauen der Verräter Dienste. 

Auf der Erde lag nun Marko, niemand dürft’ ihn rühren, 

Aber jemand musste dennoch ihn nach Hause führen. 

Und man brachte ihn nach Hause; von dem Trauerfalle 
Liess das arme Vieh auch hängen seine Köpf’ im Stalle. 

Traurig wieherten die Pferde und der Hund, der heulte, 

Weil der Hausherr nicht mehr lebend unter ihnen weilte. 

Marko lag in Alltagskleidern — das Blut mocht’ sie zieren, 

Nach dem morgendlichen Frühstück könnt’ sich nimmer rühren; 

Hat zum Frühstück drei Bajonette in den Leib erhalten. 

Werden wir ihn nimmer sehen unter uns nun walten. 

Nach dem Tode ward gevierteilt er zu uns’rem Schrecken, 

Denn man wollte etwas finden, den Verrat zu decken. 

Protokolle wusst* man täglich wieder zu verfassen. 

Und vor Freuden die Verräter konnten sich kaum fassen. 

Und die Schlachta tobte, schwenkte ihre Mützen, 

Jubelt, dass die armen Bauern keinen Führer mehr besitzen. 

Freut euch nicht, ihr blut’gen Feinde, ihr habt nichts gewonnen, 
Tausend steh’n an dessen Stelle, den ihr uns genommen. 

O, ihr dachtet, wenn ihr einmal diesen Mann getötet, 

Dass ihr dann das ganze Dorf auch ans Verderben kettet. 

Denket nicht, ihr argen Polen, dass wir nichts bedeuten, 

Wollen ihn mit Prunk und Ehren zu Grabe geleiten. 

Herrgott, helfe den Ruthenen in den schweren Tagen, 

Denn wir arme Bauern dürfen nicht die Wahrheit sagen, 

Wie für unser Recht und Freiheit der Marko gestritten 
Und dafür von drei Gendarmen schweren Tod erlitten. 

Übersetzt von Iryna K. M. B u d z. 



Digitized by 


Gck igle 


3 

Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



296 


KaNnm. 

Die Rede des Abgeordneten Dr. Eugen Lewickyj, gehalten im. 
Reichsrat zur Begründung seines Dringlichkeitsantrages betreffend 
die Ermordung des Bauern Marko Kahanetz in Koropetz durch die 
Gendarmen anlässlich der Landtagswahlen in Galizien. *) 

Hohes Haus! Es wurde schon bei der Begründung des 
Antrages des Abgeordneten Petruszewycz nachgewiesen, 
dass bei den jüngsten Landtagswahlen in Ostgalizien unge¬ 
heure Wahlmissbräuche vorgekommen sind und es wurde 
auch dargestellt, auf welche Weise das ruthenische Volk in 
einem so hochwichtigen Momente, wo es sich um die Land¬ 
tagswahlreform handelt, um seine Vertretungsrechte gebracht 
wurde. Ich muss aber auch sofort konstatieren, dass es in 
dieser Wahlkampagne bei den gewöhnlichen Wahlmiss¬ 
bräuchen nicht geblieben ist, sondern dass vielmehr wie 
im Jahre 1897 während der sogenannten Badeni-Wahlen 
auch Blut geflossen ist. Der Fall Kahanetz, den ich hier 
näher besprechen werde,.wird das nachweisen. 

Die Zeitungen vom 6. und 7. Februar haben nur eine 
ganz kurze Notiz gebracht, es wurde nämlich berichtet, dass 
ein Bauer, namens Kahanetz, bei Buczacz in Koropetz von 
einem Gendarmen getötet wurde. Es sind seit dieser Zeit 
fast vier Monate verstrichen und diese abscheuliche, greuliche 
Tat ist bis auf den heutigen Tag ausserhalb Galiziens fast 
gänzlich unbekannt. Das Telegraphenkorrespondenzbureau 
in Lemberg, das sich in den Händen der polnischen Statt¬ 
halterei befindet, hat alles mögliche getan, damit diese Tat 
nicht weit und breit bekannt werde und die polnische Presse 
hat ihrerseits dafür Sorge getragen, dass die ganze Ange- 


*) Die Rede des Abgeordneten Lewickyj behandelt die bekannte 
Wahlmordaffaire Kahanetz. Nachdem die Ermordung Kahanetz ein 
ausgesprochen politischer, auf Grund eines pol¬ 
nischen Todesurteiles erfolgter Mord war und die 
Rede des Abgeordneten Lewickyj einen genauen, auf Grund einer an 
Ort und Stelle vorgenommenen Untersuchung und auf zahlreichen 
Zeugenaussagen begründeten Bericht darüber enthält, erachten wir 
es für angezeigt, dieselbe zur Illustrierung der galizischen Verhält¬ 
nisse im Allgemeinen und der Willkür der galizischen Exekutivorgane 
gegenüber den ruthenischen Bauern im Besonderen in der Gänze an¬ 
zuführen. Es ist zu bemerken, dass dieser Mord mit der Ermordung 
Potockis im Zusammenhang steht, nachdem er für den Vollstrecker 
des letzteren unmittelbarer Anlass war. Der Dringlichkeitsantrag des 
Abgeordneten Lewickyj, von ihm in einen gewöhnlichen Antrag um¬ 
gewandelt, wurde dem Wehrausschusse zugewiesen und soll über die 
Ergebnisse der Untersuchung dem Abgeordnetenhause ein Bericht er¬ 
stattet werden. — Wir halten es für unsere Pflicht, die Angelegenheit 
nicht aus den Augen zu verlieren, sowie es gewiss unsere Pflicht ist, 
derartige Vorkommnisse mit aller Genauigkeit zu verfolgen und sie als 
Dokumente polnischer Herrschaft und Kulturträgerei in Galizien aufzu¬ 
zeichnen. 

Die Redaktion. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



297 


legenheit womöglich vertuscht werde und insoferne darüber 
geschrieben werden musste, dass die Öffentlichkeit über den 
wahren Sachverhalt womöglich irregeführt werde. Schon im 
ersten Momente wurden ganz widersprechende Kommuniques 
durch die Presse lanciert. In einem Kommunique wurde ge¬ 
sagt, dass es zwischen den Ruthenen selbst zu einem Streite 
gekommen sei, wobei Marko Kahanetz seinen Tod fand, und 
im zweiten wurde schon berichtet, dass Kahanetz von einem 
Gendarmen wegen eines tätlichen Angriffes erstochen wurde. 
So hat man, meine Herren, zwei Momente in Verbindung 
gebracht, welche, wie wir uns überzeugen werden, nichts 
miteinander zu tun haben, um einerseits den ganzen Vorfall 
in ein zweifelhaftes Licht zu stellen und andererseits die 
Verantwortung für die Bluttat vom 12. Februar dem Kahanetz 
selbst oder sogar den Ruthenen überhaupt zuzuschieben. Ich 
bedaure sehr, meine Herren, dass ich zuletzt mit meinem 
Anträge gekommen bin. Aber ich muss auch erklären, warum 
wir den Fall Kahanetz zum Gegenstände eines besonderen 
Dringlichkeitsantrages gemacht haben. Wir Ruthenen kommen 
nach jeder Wahlkampagne mit unseren Beschwerden, und 
darin ist die Erklärung der Tatsache zu suchen, dass unseren 
Beschwerden von diesem hohen Hause weniger Aufmerksam¬ 
keit geschenkt wird, als diese Beschwerden tatsächlich ver¬ 
dienen. 

Nun glaube ich, meine Herren, dass in einem Falle, wo 
es sich um das Leben eines Menschen handelt, nicht leichten 
Herzens vorbeigegangen werden darf. Die Parteien können 
unsere Beschwerden über die Wahlmissbräuche in Galizien 
verschieden beurteilen, sie können sich bei dieser Beurteilung 
mehr oder weniger von ihren Sympathien oder Antipathien 
leiten lassen, aber dort, wo ein junger Mann um sein Leben 
gebracht wurde, und zwar auf eine solch verbrecherische 
Weise, wo ein junger Mann seiner Familie entrissen wurde, 
dort müssen alle Umstände genau erwogen werden, dort 
müssen auch die Schuldigen der verdienten Strafe zugeführt 
werden. (Zustimmung.) Das erheischt, meine Herren, einerseits 
das tief beleidigte Menschlichkeitsgefühl, andererseits die 
Gebote der sozialen und politischen Ordnung, damit wir 
durch unsere Stellung verhüten, dass auch anderen Ruthenen 
nicht dasselbe Schicksal zuteil werde, wie es den unschuldigen 
Kahanetz so unerwartet getroffen hat. (Beifall.) 

Meine Herren! Ich bin von meinem Klub sozusagen 
zum Berichterstatter über den blutigen Fall in Koropetz ge¬ 
wählt worden und werde trachten, meine Aufgabe nach meinen 
besten Kräften zu erfüllen. Ich muss aber im voraus sagen, 
ich will hier nicht agitatorisch auftreten. Der Fall ist dazu 
zu ernst, um in einer tendenziösen Weise behandelt zu wer¬ 
den. Ich werde daher ganz objektiv Vorgehen. Ich will nur 
dasjenige hier zur Darstellung bringen, wovon ich mich selbst 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 


j£ 



298 


überzeugt habe. Ich will nichts verschönern oder vertuschen, 
ich will, dass hier .die Wahrheit gesagt werde, damit die 
Schuldigen bestraft werden. Ich werde auch den politischen 
Hintergrund des Falles zur Darstellung bringen, damit Sie, 
meine Herren, selbst in den Stand versetzt werden, sich ein 
klares Bild zu verschaffen und zu einem gerechten Urteil 
selbständig gelangen können. 

Der Schauplatz dieser traurigen Begebenheiten ist die 
Gemeinde Koropetz. Die Gemeinde Koropetz liegt im 
Buczaczer politischen Bezirke in Ostgalizien und zählt nicht 
weniger als 5080 Einwohner. Darunter sind 3852 Ruthenen, 
978 Polen und 248 Juden. Im ganzen Bezirke Buczacz sind 
auf zirka 52.000 Einwohner 38.000 Ruthenen. Diese Zahlen 
habe ich angeführt, damit Sie, meine Herren, begreifen, dass 
dieser Bezirk zu den ruthenischen Bezirken gehört, dass er 
eine ausgesprochen ruthenische Majorität hat, damit Sie auch 
begreifen, wie schwer es sein muss, in einem solchen Be¬ 
zirke einen polnischen Kandidaten durchzusetzen. Ausserdem 
muss man noch in Betracht ziehen, dass vor allem in der 
letzten Zeit das nationale Bewusstsein in der ruthenischen 
Bevölkerung überaus stark zugenommen hat und zur Illustrie¬ 
rung dessen möge dienen, dass zum Beispiel der Abgeord¬ 
nete Budzynowskyj, welcher in demselben Buczaczer Wahl¬ 
kreise zum Reichsratsabgeordneten gewählt wurde, nicht 
weniger als 19.897 Stimmen auf sich vereinigte, während der 
polnisch-schlachzizische Kandidat blos 608 Stimmen be¬ 
kommen hat. (Hört! Hört!) Und doch hat die herrschende 
polnische Partei es gewagt, im Bezirke Buczacz einen pol¬ 
nischen Kandidaten aufzustellen, und zwar in der Person 
des Grafen Heinrich Stanislaus Baden i, des sogenannten 
Badeni junior und die Rada narodowa, das ist die Zentral¬ 
wahlorganisation der Polen in Galizien, hat es schon im 
voraus, noch vor den Wahlmännerwahlen, durch die Gazeta 
narodowa, ihr Parteiorgan, verkünden lassen, dass dieser 
Badeni unbedingt gewählt werden muss und dass seine Wahl 
bereits gesichert ist. 

Meine Herren! Damit Sie begreifen, auf welche Weise 
bei uns polnische Kandidaten in ruthenischen Wahlkreisen 
durchgesetzt werden, muss ich auch ein Wort über das in 
Galizien herrschende Wahlsystem sagen. Selbstverständlich 
haben dies auch schon die Herren Abgeordneten Petruszewycz 
und Cegliriskyj getan, ich werde mich also nur ganz kurz 
fassen. Meine Herren! Früher, zum Beispiel zur Zeit des 
Grafen Kasimir Badeni, welcher noch allgemein in Erinnerung 
ist, hat man in der ganzen Wahlkampagne sozusagen system¬ 
los geschwindelt, indem bei der Wahl des Kandidaten selbst 
entweder das Stimmenverhältnis gefälscht oder die opposi¬ 
tionellen ruthenischen Wähler nicht zur Abstimmung zuge¬ 
lassen wurden (Zustimmung), oder indem man überhaupt 


Digitized by 


Gck igle 


Original fmm 

INDIANA UNtVERSITY 



299 


einen Stimmenraub begangen hat. Aber auf der Welt macht 
alles Fortschritte und so ist auch das Wahlschwindelsystem 
nicht auf demselben Niveau geblieben. Besonders seitdem 
der bekannte Graf Pininski die Verwaltung Galiziens über¬ 
nahm, hat man dieses System verbessert, indem man den 
Wahlschwindel auf die sogenannten Wahlmännerwahlen kon¬ 
zentriert hat, so dass man dann die eigentlichen Wahlen 
selbst schon ohne besonderes Kunststück auf relativ legale 
Weise durchführen konnte. Es ist also jetzt Sache eines 
jeden — wie man bei uns sagt — energischen Bezirkshaupt¬ 
mannes, dafür Sorge zu tragen, dass schon bei den soge¬ 
nannten Wahlmännerwahlen die Anhänger des schlachzizischen 
Kandidaten die Majorität erhalten und es werden da nun 
alle möglichen Mittel angewendet, um dem polnischen Kan¬ 
didaten zur Majorität zu verhelfen. Wenn es bei diesen Wahl¬ 
männerwahlen im ersten Wahlgang nicht gelingt, diese Ma¬ 
jorität zu erreichen, dann werden die Wahlen insbesondere 
in den grösseren Ortschaften so lange korrigiert, bis man 
die Majorität erlangt hat. Nun, meine Herren, auf die eben 
geschilderte Weise wurde auch Graf Heinrich Stanislaus 
Badeni im Buczaczer Wahlkreis gewählt. Speziell der Bezirks¬ 
hauptmann von Buczacz hat sich alle Mühe gegeben, um 
für den Grafen Badeni in den grösseren Ortschaften insbe¬ 
sondere die Majorität zu gewinnen. 

Ich habe Ihnen, meine Herren, schon angeführt, dass 
Koropetz über 5000 Einwohner zählt; das war also eine 
Position, welche für den Grafen Badeni um jeden Preis ge¬ 
nommen werden musste. (Abgeordneter Petrydcyj: 12 Wahl¬ 
männer!) Ja. Es war aber insofern schwer, als diese Gemeinde 
schon zu nationalem Bewusstsein gelangt ist. Es ist dies das 
Verdienst des Marko Kahanetz, welcher am 6. Februar von 
den Gendarmen getötet wurde. Dieser Bauer hat es im Ver¬ 
laufe von zwei oder drei Jahren dahin gebracht, dass die 
Gemeinde, welche sich im tiefsten Verfall befunden hat, jetzt 
zwei ruthenische Lesevereine besitzt, dass sie auch einen 
Kreditverein und schliesslich — was bei uns in Galizien sehr 
selten vorkommt — eine Vereinigung zur Hebung der Land¬ 
wirtschaft und des Gewerbes hat. Und alle diese Organi¬ 
sationen verdanken ihre Entwicklung und teilweise auch ihre 
Entstehung dem genannten Marko Kahanetz. Diese patriotische 
Tätigkeit des armen ruthenischen Bauern hatte schon früher 
die Aufmerksamkeit - der polnischen geheimen Organisation 
auf sich gelenkt und es wurde schon im vorigen Jahre 
während der allgemeinen Reichsratswahlen dem Kahanetz von 
der polnischen geheimen Organisation ein Todesurteil 
zugestellt. (Hört! Hört!) Meine Herren! Das Todesurteil habe 
ich im Original hier in meinen Händen und das sollen auch 
die Herren Matachowski und Stapihski, welche uns gestern 
verschiedene Vorwürfe gemacht haben, zur Kenntnis nehmen. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 




Dieses Todesurteil lautet in der polnischen Sprache: „Odst^p 
od wybröw, inaczej znajdziemy ci§ nawet pod ziemi^“ Auf 

ODST^P OD WYBORÖW,]NACZEJ ZNAJDZIEMY 

V- V \ ( ’ . I , I 

CIE NAWET PODZ IEMI^-*<H- 
KOMITET B0..0R..P0L.. 

W STAN1S1AW0WIE 
27.5* 1307. 


deutsch heisst das: „Du sollst von den Wahlen zurücktreten, 
sonst werden wir dich auch unter der Erde finden.“ Unter¬ 
zeichnet ist: Das Komitee der polnischen Kampf¬ 
organisation in Stanislau“, polnisch: Komitet 
bojowej organizacyi polskiej w Stanislawowie. Das Datum 
ist: „27. Mai 1907.“ Ein gleichlautendes Urteil wurde ausser 
dem Kahanetz noch seinem besten Freunde und Mitarbeiter, 
dem Bauern Mykyta Wasylyk aus Koropetz und einem gewissen 
Johann Proskurnickyj, einem absolvierten Juristen und Sohn 
des griechisch-katholischen Ortspfarrers zugestellt. (Zwischen¬ 
rufe seitens des Abgeordneten Staruch.) 

Ich komme nun zu den Wahlmännerwahlen selbst. Ich 
habe schon gesagt, dass die Gemeinde Koropetz um jeden 
Preis für Herrn Grafen Heinrich Stanislaus Badeni genommen 
werden sollte. Wie hat man nun diese Aktion eingeleitet? Sie wurde 
in der Weise eingeleitet, dass vor allem andern eine ver¬ 
fälschte Wählerliste zusammengestellt und aufgelegt wurde. 
In diese Liste wurden vier Tote aufgenommen, ausserdem 
15 Wähler, die schon längst nach Amerika ausgewandert 
waren, und überdies wurden zirka hundert wahlberechtigte 
Ruthenen überhaupt übergangen. (Ruf: Mehrere Hundert!) 
Sogar mehrere Hundert. Zirka hundert Reklamationen wurden 
aber eingebracht. Es war selbstverständlich die Pflicht 
des Marko Kahanetz, seine Gemeinde vor diesen Wahl¬ 
schwindeleien zu schützen und er hat tatsächlich seine Pflicht 
erfüllt. Er selbst hat nicht weniger als 75 Reklamationen ein¬ 
gebracht und ausserdem verlangte er die Bildung einer so¬ 
genannten Reklamationskommission. Als ihm diese von der 
Gemeindevorstehung verweigert wurde, wandte sich Kahanetz 
am 5. Februar telegraphisch an die Bezirkshauptmannschaft 
in Buczacz mit der Bitte, in dieser Angelegenheit eine Ent- 


Digitized by 


Google 


Original fro-rn* , 

INDIANA UNlVERSl 


301 


Scheidung zu treffen. Dieses Telegramm wurde, wie gesagt, 
am 5. Februar nachmittags aufgegeben, das ist einen Tag 
vor dem kritischen Tage, an dem Kahanetz getötet wurde. 
(Abgeordneter Starudi: Gemordet wurde!) Ja, dazu werden wir 
noch kommen. Einstweilen wurde er getötet. — Jetzt komme 
ich zu den kritischen Begebenheiten des 6. Februar, an dem, 
wie ich sagte, Marko Kahanetz den Tod gefunden hat. Ich 
werde mich bei der Schilderung dieser Begebenheiten eines 
Berichtes bedienen, welcher mir von einem Augenzeugen vier 
Tage später zugeschickt worden ist. Dieser Bericht lautet: 
„Die Tötung des Marko Kahanetz erfolgte am 6. Februar 1. J. 
zirka 9 Uhr vormittags. Die Ereignisse dieses Tages hatten 
folgenden Verlauf: Kurz nach 7 Uhr früh entstand in der 
grossen Dorfschenke, genannt „Kassino“,welche am Ringplatz 
gelegen ist eine Schlägerei, die jedoch bald ihr Ende nahm. 
An der Schlägerei, welche, nebenbei gesagt, ganz zufällig 
entstanden ist, beteiligten sich blos fünf Bauern, welche 
ohne irgendwelche Verabredung im Wirtshause zusammen¬ 
gekommen sind. Während eines Wortwechsels zwischen dem 
Bauern Iwan Melnyk und Simeon Maryasz, beide aus Koropetz, 
entspann sich ein Streit, welcher dann in Tätlichkeiten aus¬ 
artete. Iwan Melnyk ist im Dorfe allgemein verhasst. Den un¬ 
mittelbaren Anlass zum Streite gab der Umstand, dass Iwan 
Melnyk als Agitator des Grafen Badeni, des Eigentümers von 
Koropetz, tags zuvor, das ist am Abende des 5. Februar in 
demselben Wirtshause der patriotischen Familie Maryasz mit 
einem Revolver drohte, um die Mitglieder dieser Familie 
wie auch andere Bauern zugunsten des polnischen Kandidaten 
einzuschüchtern. Nach Angaben seiner Frau Nastasia Melnyk, 
geborne Kazubasz, wollte Melnyk in der Nacht das Haus 
verlassen, um gegen das Fenster seines Bruders Mykyta 
Melnyk einen Revolverschuss abzufeuern. Mykyta Melnyk ist 
nämlich als guter ruthenischer Patriot im Dorfe allgemein 
bekannt. Iwan Melnyk hat nur deshalb den Plan aufgegeben, 
weil seine Frau, die bereits genannte Nastasia Melnyk, 
ihm den Revolver abgenommen hat. Diese gefährliche 
Drohung war auch der hauptsächlichste Grund des zwischen 
Iwan Melnyk und Semen Maryasz in der Früh entstandenen 
Wortwechsels und der darauffolgenden Schlägerei, an der 
sich ausser beiden Genannten nur noch vier Bauern beteiligten. 
Unbedeutende Verletzungen haben blos Iwan Melnyk, Stach 
Wojtköw und Mykyta Muczkodan davongetragen, drei andere: 
Semen Maryasz, Iwan Maryasz und Danyil Hnatiuk blieben 
unverletzt, weshalb sie auch als Schuldtragende bezeichnet 
werden. Marko Kahanetz war bei der Schlägerei überhaupt 
nicht zugegen und hat sich an derselben — wie es seine 
Frau nach seiner Angabe aussagt — nicht beteiligt.“ 

Aus diesem Berichte kann man also entnehmen: erstens, 
dass in der Früh eine Schlägerei entstanden ist, aber nur 

Digitized by Google 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



302 


unter fünf Bauern, ferner, dass diese Schlägerei der polnische 
Agitator, ein gewisser Iwan Melnyk, durch Drohungen herbei¬ 
geführt hat, weiters, dass nur zwei oder drei Bauern leichte 
Verletzungen davongetragen haben und zum Schlüsse — was 
das wichtigste ist — dass Marko Kahanetz an dieser Schlägerei 
sich überhaupt nicht beteiligt hat. Und nun, meine Herren, 
komme ich zur Verlesung des weiteren Teiles des Berichtes: 

„Nach 8 Uhr, nach dem Frühstückessen, verliess Marko 
Kahanetz das Haus, um im Gemeindeamte über die Antwort 
der Bezirkshauptmannschaft nähere Auskunft einzuholen.“ (Ich 
habe ja erzählt, dass er ein Telegramm aufgegeben hatte.) 
„Marko Kahanetz wollte sich nämlich erkundigen, wie seine 
am Vortage an die Bezirkshauptmannschaft aufgegebene tele¬ 
graphische Depesche erledigt wurde. Marko Kahanetz er¬ 
zählte auch seiner Frau von der Drohung des Iwan Melnyk 
mit dem Revolver und dies dürfte der Grund gewesen sein, 
weshalb ihn die Frau nicht allein lassen wollte und ihn bei 
seinem Ausgange bis zu seinem Tode begleitete. Ihnen ge¬ 
sellten sich unterwegs sein Bruder Iwan Kahanetz und seine 
Schwester Justine Sadowska, geborene Kahanetz, und noch 
einige Bauern zu, lauter solche, welche sich gleichfalls wegen 
eingebrachter Reklamationen für die Entscheidung der Be¬ 
zirkshauptmannschaft interessierten. Die Bauern gingen den 
Hauptweg“ — ich bitte, meine Herren, da ist ein Situations¬ 
plan, damit Sie sich, wenn Sie sich dafür interessieren, die 
Situation besser veranschaulichen können. Hier sehen Sie den 
Hauptweg, welcher mitten durch das Dorf führt. Auf der einen 
Seite des Weges befindet sich das Wirtshaus und der Ring¬ 
platz, von wo die Bauern^zu ihren Häusern gelangen konnten; 
in der Mitte steht die Brücke, welche den Fluss Koropczyk 
überbrückt und wo Kahanetz bei der Kapelle St. Johannes 
getötet wurde. Auf der entgegengesetzten Seite vom Ringplatz 
steht das Gemeindehaus mit einem von einer Barriere ge¬ 
teilten Zugang, schliesslich die Kirche, welche auf der anderen 
Seite der Strasse etwas abwärts steht. Auf beiden Seiten der 
Strasse befinden sich die Barrieren. In dem Bericht heisst es 
weiter: 

„Die Bauern gingen den Hauptweg, welcher in das Dorf 
führt, und es waren ihrer nicht mehr als 10 bis 15 Personen. 
Alle anderen Bauern befanden sich zu der Zeit in der grie¬ 
chisch-katholischen Kirche, welche an der Hauptstrasse liegt 
und wo eben die Messe gelesen und besondere Festlichkeiten 
zu Ehren des visitierenden Dechants veranstaltet wurden.“ 
Hier ist die Kirche und dort das Gemeindehaus. „Den ge¬ 
nannten Weg durchschneidet ein kleines, mit einer Holzbrücke 
überbrücktes Flüsschen Koropczyk und auf der einen Seite 
der Brücke steht die Kapelle des heiligen Johannes, etwas 
weiter hinter der Brücke, ungefähr 100 bis 120 Schritte, fast un¬ 
mittelbar bei der Strasse, das Gemeindehaus, vis-ä-vis ungefähr 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



Gemeindehaus 


303 



Digitized by Gougle 


4 

Original fro-m 

INDIANA UNtVERSITY 


m n — Der Weg, den die Gendarmen benützten. 

A ß K F ^ Zugang zum Gemeindehause. 

C D -- Barriere, welche den Zugang teilt und welche die Gendarmen übersprangen, um Kahanetz zu verfolgen. 








304 


200 Schritte abwärts die bereits genannte Kirche, wo — wie 
gesagt — die Bauern zur gottesdienstlichen Handlung ver¬ 
sammelt waren. Die Strasse ist mit dem Qemeindeamte durch 
einen kleinen, ganz schmalen Zugang, welcher mit einer 
Barriere in zwei Teile geteilt ist, verbunden.“ Die Barriere 
ist mit C—D bezeichnet. „Auf beiden Seiten der Strasse be¬ 
finden sich gleichfalls starke Barrieren. Als nun Marko Ka- 
hanetz und einige Bauern mit ihm die Strasse passierten und 
sich dem Zugänge zum Gemeindeamte näherten, sprangen 
plötzlich aus demselben der Gendarmeriepostenführer 
Jablczynski und der Wachtmeister Tokarski hervor, hielten 
den Semen Maryasz und Marko Kahanetz an und forderten 
beide wörtlich auf: „Im Namen des Gesetzes, du Maryasz, 
gehe mit mir ins Gemeindeamt, ebenso du, Kahanetz.“ 
Maryasz fügte sich mit den Worten: „Ich gehe!“ Kahanetz 
gleichfalls und betraten den zum Gemeindehause führenden 
Weg. Ihnen folgten auch die andern Bauern.“ Wir befinden 
uns also schon bei A-D-B. „Knapp vor dem Zugang ins Ge¬ 
meindeamt machten die Gendarmen, denen sich der vom Ge¬ 
meindeamte kommende Gendarm Rudzinski gesellte“ — sie 
haben also auf den dritten gewartet, das ist ja ganz klar — 
„Front gegen die beiden genannten Verhafteten, richteten gegen 
dieselben und die sie begleitenden Bauern ihre aufgepflanzten 
Gewehre und forderten dieselben „im Namen des Gesetzes“ 
auf, auseinanderzugehen, widrigenfalls sie — wörtlich — 
„Waffengewalt anwenden werden.“ Auf diese Aufforderung 
hin machten die beiden Verhafteten sowie die sie begleiten¬ 
den Bauern eine Kehrt-Wendung, um den in ihre Häuser 
führenden Weg zu betreten; das ist der Hauptweg, auf dessen 
anderer Seite sich die Bauernwohnungen befinden. Auf ein¬ 
mal führte der Gendarm Rudzinski grundlos einen 
starken Schlag mit dem Gewehrkolben auf den Kopf des 
Kahanetz aus (Hört!), was zur Folge hatte, dass Kahanetz, 
vom Schmerze gebeugt, unwillkürlich ausrief: „Rettet, wir 
werden geschlagen, stark geschlagen!“ Dieser Vorgang — 
der Schlag des Gendarmen — rief eine Panik hervor, so dass 
die Bauern aus Furcht zu schreien begannen. Die Bauern 
begaben sich nunmehr auf den in das Dorf führenden Haupt¬ 
weg, um über die Brücke zu dem dort befindlichen Ringplatz 
und von dort nach Hause zu gelangen. Unter den Bauern 
befand sich in der vordersten Reihe Marko Kahanetz, den 
sein Bruder Iwan Kahanetz beim Hals von rückwärts ergriffen 
hatte, um ihn vor weiteren Schlägen zu schützen. Zu beiden 
Seiten beschützten Kahanetz dessen Schwester und Frau. 
Auf das erwähnte Geschrei hin strömten mehrere Besucher 
der Kirche aus derselben heraus und traten in die Menge, 
ohne zu wissen, um was es sich handelte. Diese Bauern ver¬ 
mengten sich nun mit den übrigen und das so angewachsene 
Volk bewegte sich nunmehr unter Geschrei langsamen Schrittes 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



305 


vorwärts. Man merkte nun aber gar nicht, dass die Gendarmen“ 
— das ist das wichtigste — „zu gleicher Zeit die Barriere, 
welche den Zugang zu der Kanzlei teilt, übersprungen haben, 
um mit aufgepflanzten Bajonetten, den freien Durchgang auf 
der rechten Seite des Weges benützend, in die vordersten 
Reihen der Menge zu gelangen. Als die Bauern dieses Ma¬ 
növer bemerkten, befanden sich die Gendarmen bereits an 
der Spitze der Menge, wo sich auch Marko Kahanetz befand, 
und stellten sich der Menge mit aufgepflanzten Bajonetten 
entgegen. Warum die Gendarmen an die besprochene Stelle 
gelangen wollten, ist unerklärlich, umsomehr als sie eben da¬ 
durch den Bauern den Weg versperrten, so dass die Menge, 
durch die Barriere eingeengt, sich nunmehr nicht weiter be¬ 
wegen konnte.“ (Abgeordneter Dr. Baczynskyj: „Es war eine 
Jagd!) Ja, ja, das werde ich schon erklären. „Aber jetzt kommt 
das Hauptmoment. Aus Leibeskräften trachten die Gendarmen 
den Marko Kahanetz mit aufgepflanzten Bajonetten zu treffen. 
Seine Frau, darauf aufmerksam gemacht, umfasst ihren Mann 
mit ihren Händen um die Brust von der rechten Seite und 
schützt ihn mit ihrem Körper gegen die drohende Gefahr. 
Gleichen Schutz trachtet dem Bedrohten seine Schwester von 
der linken Seite angedeihen zu lassen. Während dessen 
drängte die Menge unwillkürlich nach vorwärts und die Gen¬ 
darmen trachten unausgesetzt mit aller Gewalt Marko Kaha¬ 
netz mit ihren Bajonetten an den Leib zu rücken. Durch Zu¬ 
fall entblösst sich der rechte Teil des Körpers des Unglück¬ 
lichen und diesen Moment benützt der Gendarm Tokarski, 
um dem Marko Kahanetz den ersten Todesstoss in die 
rechte Brustseite zu versetzen.“ (Hört! Hört! — Abge¬ 
ordneter Skaret: Unglaublich!) Ja! „Er zieht dann das Bajonett 
aus dem Körper des Kahanetz heraus und da es blutüber¬ 
strömt war, wischt er es mit dem Taschentuch aus. Posten¬ 
führer Jablczyriski“ — das ist der zweite Gendarm — „wech¬ 
selt nun einige Worte mit Tokarski und führt mit der ganzen 
Wucht einen weiterenBajonettstoss gegen den Marko 
Kahanetz in die Bauchgegend (Hört!), ausrufend: „Psiakrew!“ 
(Hundeseele!) Bald darauf versetzt er dem Marko Kahanetz 
den dritten Bajonettstich in die linke Brustseite“ (Hört! Hört! 
— Abgeordneter Malik: Das war der dritte?) Ja, der dritte! Es 
waren drei, einer nach dem andern! .... „und Marko Ka¬ 
hanetz fällt mit den Worten: „Brüder, von mir rinnt das Blut!“ 
tot zu Boden.“ (Zwischenrufe.) 

Der Eindruck dieser blutigen Tat war furchtbar. Die 
Leute blieben wie versteinert. Einige von ihnen neigten sich 
zum Körper des Kahanetz, um seine Leiche nach Hause zu 
tragen. Von den Gendarmen verblieb auf dem Tatorte ledig¬ 
lich der Postenführer Jablczyriski, derselbe schrie aber fort¬ 
während den Leuten zu: „Tretet ab, rühret nicht den Leich¬ 
nam an!“ Dank diesem Umstande blieb Kahanetz noch fünf 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



306 


Stunden auf dem Tatorte liegen, Tief erschüttert von diesem 
Vorfälle verliessen die Leute nur langsamen Schrittes den 
Tatort und begaben sich schliesslich nach Hause. Unter den 
Bauern — und das ist sehr interessant — die zuletzt aus 
der Kirche herbeieilten, befand sich auch Mykyta Wasylyk. 
Das ist jener, der auch das Todesurteil bekommen hat. „Als 
seiner der Gendarm Jablczyriski ansichtig wurde, postierte er 
sich ihm gegenüber und rief ihm zu: „Komm auch Du hieher!“ 
(Hört! Hört!) Gleichzeitig machte er Anstalten, gegen Mykyta 
Wasylyk zu feuern. Als dies einige Frauen und Bauern be¬ 
merkten, umstellten sie den Wasylyk, um ihn auf diese Weise 
zu schützen. Unterdessen bedeutete der Gendarm Jablczyriski 
durch Hin- und Herhantieren mit dem Gewehre der Menge 
auseinanderzugehen. Er wollte selbstverständlich Platz haben, 
um den Wasylyk treffen zu können. Wasylyk bemerkte aber 
die ihm drohende Gefahr, ergriff die Flucht und nur dem 
letzteren Umstande hat er zu verdanken, dass ihm nicht das 
gleiche Schicksal wie dem Kahanetz zuteil ward. Zeugen des 
letzten Vorfalles wird Mykyta Wasylyk selbst anführen.“ 

Jetzt noch einige Erklärungen, was die Personen anbe¬ 
langt. „Iwan Melnyk, Stach Wojtköw und Mykyta Muczkodan 
kamen von der morgens stattgefundenen Schlägerei nur mit 
leichten Verletzungen davon.“ (Abgeordneter Ceglinski: Von 
der Schlägerei im Wirtshaus!) Ja, Ja! Trotzdem machte die 
Gendarmerie Anstalten, um diese leichten Verletzungen zu 
schweren zu stempeln. Über ihre Anzeige, dass die Ver¬ 
letzungen schwerer Natur wären, kam eine Gerichtskommission 
nach Koropetz, um den Sachbestand zu konstatieren. Cha¬ 
rakteristisch ist, dass die angeblich schwer Verletzten zur 
Zeit des Eintreffens der Kommission nicht einmal zu Hause 
waren und der Gendarm Tokarski sie erst aufsuchen und 
anweisen musste, sich sofort ins Bett zu legen (Hört! Hört!) 
und im bettlägerigen Zustande die Kommission zu erwarten. 

„Marko Kahanetz starb kinderlos und hinterliess eine 
Witwe im schwangeren Zustande, welche jetzt gerade vor 
der Entbindung steht. Sein ganzes Vermögen belief sich 
blos auf zwei Joch Feld und ein Stückchen Garten. Dieses 
Vermögen ist mit einem Darlehen von K 500 belastet. In¬ 
folgedessen ist die materielle Lage seiner Frau und des 
präsumtiven Nachkommens die denkbar schlechteste. 

„Vor einigen Tagen — das berichtet mir noch mein 
Gewährsmann — hat in Koropetz das Verhör der Gendarmen 
stattgefunden (Abgeordneter Wityk: Der Mörder!), wobei auch 
einige Zeugen einvernommen wurden. Die Zeugen fürchteten 
sich, die volle Wahrheit zu sagen, weil man sie merkwürdiger¬ 
weise in der Gegenwart der Gendarmen Jablczyriski, Tokarski 
und Rudziriski aussagen liess. Die Gendarmen sind auch 
bis nunzu nicht nur nicht arretiert, sondern verblieben auf 
ihren Posten in Koropetz (Hört! Hört!), was eine wahre und 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



307 


ganz wohl begründete Entrüstung unter der Bevölkerung 
hervorruft. Die Gendarmen benützen nun die Zeit, um für sich 
die Beweise vorzubereiten.“ 

Das ist der Bericht, der mir zugekommen ist. Zwei 
Tage nachher, am 8 . Februar, kam die Gerichtskommission 
nach Koropetz, um die Obduktion der Leiche vorzunehmen. 
Dieser ärztliche Befund hat drei Stichwunden an dem 
Leibe des Kahanetz konstatiert. Die eine Stichwunde in die 
rechte Brustseite liegt zwischen der dritten und vierten Rippe 
und ist 2 Zentimeter breit, 8 V 2 Zentimeter lang; die zweite 
Stichwunde unter dem Nabel war 2 Zentimeter breit und die 
dritte Stichwunde in die linke Brustseite unter der sechsten 
Rippe ist IV 2 Zentimeter breit und 6 Zentimeter lang. Als 
diejenige Stichwunde, welche den Tod herbeiführte, wurde 
die erste Stichwunde in die rechte Brustseite angegeben. 
Dieser Befund sagt aber nichts davon, ob vielleicht auch 
die anderen Stichwunden nicht denselben Erfolg gehabt hätten 
und noch bezeichnender ist, dass in diesem ärztlichen Parere 
steht, dass alle Stichwunden angeblich mit Anwendung 
„nicht allzustarker Kraft“ — wie man sich diplo¬ 
matisch ausdrückt — versetzt wurden. Man muss aber in 
Betracht ziehen, dass Marko Kahanetz eben im kritischen 
Moment sehr gut - gekleidet war. Er hatte nicht nur sein 
Leibchen an, das die Bauern gewöhnlich zu tragen pflegen, 
sondern auch einen Bauernpelz und ausserdem einen Leder¬ 
riemen. Da kann man nicht sagen, dass die Stiche nicht mit 
allzu starker Kraft versetzt wurden, wenn trotz all dieser 
Kleidungsstücke die Stichwunden doch sehr tief waren. 

Ich will den Herren Sachverständigen selbstverständlich 
nicht nahetreten, aber ich will nur sagen, dass aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach die Gendarmen diese diplomatische Form 
des Pareres ausnützen werden, um sich der eventuellen Be¬ 
strafung zu entziehen. (Abgeordneter Malik: An den Sachver¬ 
ständigen sollte man solche Stösse probieren! — Lebhafte 
Heiterkeit.) Und, meine Herren, es ist weiter sehr bezeichnend, 
dass man sich im Gegenteil gründlich darüber ausschweigt, 
dass alle diese Stösse in die gefährlichsten Körperteile ver¬ 
setzt wurden, was eben nach der Gendarmeninstruktion für 
die Beurteilung der Schuld massgebend ist. Es wurden weiter 
in diesem ärztlichen Parere noch zwei Hautabkratzungen am 
Zeigefinger des Kahanetz konstatiert; aber auch hier wird 
nicht angeführt, wie diese Hautabkratzungen ausgeschaut 
haben und wann sie entstanden sind. Wir haben aber Zeugen: 
Eustachij Sadowskyj, Hrycj Sadowskyj und Iwan Maryasz 
aus Koropetz, welche bestätigen werden, dass Kahanetz sich 
diese Hautverletzungen schon früher zugezogen hat. (Abge¬ 
ordneter Ceglinskyj: Möglicherweise hat er sich gewehrt!) Ja, das 
habe ich absichtlich angeführt, denn ich werde noch darauf 
zu sprechen kommen. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



308 


Meine Herren! Ich habe mich selbstverständlich mit 
dem Berichte nicht begnügt, sondern ich habe es für meine 
Pflicht erachtet, mich nach Koropetz zu begeben, um dort 
den Tatbestand zu eruieren und festzustellen. Ich war am 
23. Februar in Koropetz und habe alle Personen zu mir 
rufen lassen und einvernommen, welche sich im kritischen 
Momente in der nächsten Nähe des Kahanetz befunden haben, 
so dass die Aussagen dieser Zeugen ausschlaggebend sein 
müssen. Ich habe diese Protokolle hier, meine Herren, und 
werde sie auch verlesen. Ich muss nur noch hervorheben, 
dass ich das, was diese Leute ausgesagt haben, selbstver¬ 
ständlich ganz genau niedergeschrieben habe und alle diese 
Zeugen sich auch bereit erklärten, wenn es zu einer gericht¬ 
lichen Einvernahme kommen sollte, wörtlich dasselbe noch 
einmal mit ihrem Eid zu bekräftigen. Ich habe im ganzen 
zwölf Personen einvernommen. Mir scheint, das ist 
eine hinreichende Zahl von Zeugen, um nachzuweisen, wie 
sich die Sache tatsächlich zutrug. Also zuerst die Frau des 
Unglücklichen, Euphrosyne Kahanetz, welche folgendes depo¬ 
nierte: „Euphrosyne Kahanetz, geborene Melnyk, 19 Jahre 
alt, zuständig nach Koropetz, Witwe nach dem Verstorbenen, 
deponiert: 

Am kritischen Tage ging ich mit meinem Manne und 
der Schwester desselben, Justine Kahanetz, verehelichte 
Sadowska, aus, um ihm das Geleite zum Gemeindeamte zu 
geben. Zu uns gesellte sich der Bruder des Kahanetz, 
Iwan Kahanetz. Beim Wirtshause angelangt — das ist vor 
dem Hauptwege — verlangsamten wir unsere Schritte, ich 
und seine Schwester blieben rückwärts, während mein Mann 
Marko Kahanetz sich in das Gemeindeamt begab. Ihm ge¬ 
sellten sfch auch einige Dorfinsassen, ungefähr 10 bis 15 zu. 
Auf einmal merkte ich, dass meinem Manne Gendarm Tokarski, 
Jablczyriski und der Gutsverwalter des Grafen Badeni — 
der musste auch dabei sein — Pelech, aus dem Gemeinde¬ 
amte entgegenkamen. Mein Mann und die ihn beglei¬ 
tenden Leute verhielten sich vollkommen ruhig. Es währte 
nicht lange und ich bemerkte zu meinem Entsetzen, wie die 
Gendarmen mit aufgesetzten Bajonetten meinem Manne ent¬ 
gegentraten und derselbe bald darauf ausrief: „Brüder, man 
schlägt mich!“ Als ich dies merkte, lief ich zum Manne, 
welcher inzwischen von seinem Bruder um den Hals um¬ 
schlungen sich mit den um ihn versammelten Bauern in der 
Richtung gegen das Dorf bewegte. Die Bauern, die in seiner 
Nähe waren, waren offenbar vom Vorgehen der Gendarmerie 
betroffen, schrien „Rettet!“ und liefen in der Richtung des Haupt¬ 
weges. Währenddessen übersprangen die Gendarmen die am 
Zugang aufgestellten Barrieren“ — das wird also alles so be¬ 
stätigt, wie es im zitierten Berichte steht — „durchquerten den 
Weg auf der rechten Seite, machten Halt bei der Kapelle 


Digitized by 


Go», igle 


Original fro-rri 

SNDIANA UNIVERSITY 



309 


St. Johannes und stellten sich meinem Manne mit aufge¬ 
pflanztem Bajonette entgegen. Ich merkte die Gefahr, um¬ 
schlang meinen Mann und schützte ihn mit meinem Leib von 
der rechten Seite, die Schwester des Mannes umschlang ihn 
gleichzeitig um die Brust von der linken Seite. Ich war mit 
dem Rücken gegen die Gendarmen gekehrt, auf einmal ver¬ 
setzte der Gendarm, es war soviel ich bemerken konnte, 
Tokarski, meinem Manne einen Stich in die rechte Brust, 
nach einer Weile, unmittelbar darauf der Gendarm Jablczyriski 
in die Bauchgegend und bald nachher der Gendarm Rudziriski 
in die linke Brust. Der Bajonettstoss des Gendarmen 
Jablczyriski war besonders stark, Jablczyriski hat sogar zwei¬ 
mal Bajonettstiche ausgeteilt, um sicherer und tiefer zu treffen. 
— Ober mein Befragen bedeutete mein Mann, in das Ge¬ 
meindeamt zu gehen, um sich die Antwort der Bezirkshaupt¬ 
mannschaft auf seine Depesche, betreffend die Wahlreklama¬ 
tionen, zu holen. Ich begleitete ihn deshalb, weil die Gen¬ 
darmen es schon seit längerer Zeit auf ihn abgesehen 
hatten und ich vernommen habe, dass bereits früh morgens 
eine Schlägerei stattgefunden hat. Mein Mann sagte mir aus¬ 
drücklich, dass unter Maryaszen Schlägereien stattfanden, 
er aber an denselben keinen Anteil genommen hat. Im 
kritischen Moment hatte mein Mann ausser dem Hemd und 
dem Leibchen noch einen Pelz an. Das Hemd war umgürtet 
von einem starken Lederriemen. Im Riemen befand sich eine 
Nummer der Zeitschrift „Swoboda“, die er sich unterwegs 
von der Post abgeholt hatte. Zur Zeit der Führung der Stösse 
gegen ihn konnte er mit der rechten Hand nicht hantieren, 
weil ich ihn auf der rechten Seite umschlungen hielt. Die 
linke Hand hielt er hinter dem Riemen, woselbst er die Zeitung 
aufbewahrt hatte. In dieser Position hat ihn auch der Tod 
ereilt. Über Befragen fügt die Zeugin hinzu, dass sich die 
Bauern, als sie sich dem Gemeindeamte näherten, ganz 
ruhig benommen haben. 

Jetzt kommt der zweite Zeuge: Justine Sadowska, 
geb. Kahanetz, 30 Jahre alt, nach Koropetz zuständig, 
deponiert: Wir haben alle drei, das heisst ich, mein Bruder 
Marko Kahanetz und dessen Frau zusammen das Haus ver¬ 
lassen, weil wir den Getöteten allein nicht lassen wollten. 
Dass Marko bei den Gendarmen und den Polen überhaupt 
verhasst war, war allgemein bekannt und wir befürchteten, 
dass er nach der Schlägerei von jemandem insultiert werden 
könnte. Am Platze vor dem Wirtshause angelangt, blieben 
ich und die Frau des Kahanetz etwas zurück, während Marko 
in Gesellschaft einiger ruthenischer Bauern sich in das Ge¬ 
meindehaus begab, um dort über die Antwort des Bezirks¬ 
hauptmannes auf sein Telegramm Auskunft einzuholen. Die 
Leute verhielten sich ganz ruhig und niemand konnte ahnen, 
was bald erfolgen sollte. Plötzlich bemerkte ich, dass 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



310 


zwei Gendarmen, als Marko Kahanetz sich dem Zugänge 
näherte, das Gemeindelokal verliessen und sich den Bauern 
entgegenstellten. Was zwischen ihnen vorgegangen ist, konnte 
ich nicht wahrnehmen, denn ich war zu weit entfernt, um 
alles sehen und hören zu können. Es dauerte aber kaum 
einige Minuten, als Marko Kahanetz und andere zu schreien 
begannen: „Rettet, es wird geschlagen.“ Ich sah dabei, wie 
einer der Gendarmen dem Getöteten einen Schlag mit dem 
Gewehrkolben auf den Kopf versetzte. Ich begab mich nun 
eiligen Schrittes und umarmte den Geschlagenen, der Bruder 
um den Kopf, ich und die Frau des Kahanetz von beiden 
Seiten. Wir gingen in der Richtung zur Brücke unter all¬ 
gemeiner Unruhe. Die Bauern, denen sich inzwischen die aus 
der Kirche heraustretenden zugesellten, schrien aus Furcht, 
zumal alle die Überzeugung hatten, es werde ohne Pardon 
seitens der Gendarmen noch weiter gehauen. Inzwischen über¬ 
sprangen die Gendarmen die Barrieren und übersetzten mit 
aufgepflanzten Bajonetten die Strasse in der Richtung gegen 
die Brücke, woselbst weniger Leute angesammelt waren. 
Marko Kahanetz befand sich damals in den ersten Reihen 
und hielt die rechte Hand im Gürtelriemen, woselbst sich 
seine Papiere befanden, und die linke Hand Hess er vom 
Schlage betäubt nach unten fallen. Von der rechten Seite 
schützte den Kahanetz dessen Frau, die ihn um den Hals 
umschlungen hielt, ich umarmte ihn um die Brust von der 
linken Seite. Plötzlich versetzte Tokarski, während wir die 
Brust des Kahanetz schützten, demselben einen Bajonettstich 
in die rechte Brustseite und bald darauf versetzte ihm einen 
zweiten Stich der Wachtmeister Jablczyriski in die Bauch¬ 
gegend. Der Wachtmeister wiederholte seine Stiche, indem 
er zweimal sein Bajonett aus dem Körper des Kahanetz 
herauszog und dasselbe mit aller Wucht wieder hineinstiess. 
Nicht genug daran — es versetzte ihm auch noch der dritte 
Gendarm Rudziriski einen Stich in die linke Brustseite. 

Iwan Kahanetz, Bruder des Getöteten, 33 Jahre alt, 
zuständig nach Koropetz, sagte aus: In der Gesellschaft des 
Marko Kahanetz befand auch ich mich. Vor dem Wirtshause 
angekommen, verliessen wir die Frauen und begaben uns 
beide in der Richtung des Gemeindehauses. Wir wollten uns 
erkundigen, wie die Antwort der Bezirkshauptmannschaft aus¬ 
gefallen ist. Unmittelbar vor dem Zugänge ins Gemeindeamt 
kamen uns aus dem Gemeindamte zwei Gendarmen, Tokarski 
und Jablczyriski, sowie der Gutsverwalter des Grafen Badeni, 
Pelech, entgegen. In der ersten Reihe befanden sich unter den 
Bauern, 10 bis 15 an der Zahl, Marko Kahanetz, ich und 
Semen Maryasz, welcher sich unterwegs zugesellt hatte, um 
auch über die Antwort der Bezirkshauptmannschaft Erkundi¬ 
gungen einzuholen. Die Bauern verhielten sich ganz ruhig. 
Jablczyriski trat zum Kahanetz und Maryasz und sagte in 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



311 


polnischer Sprache: „Im Namen des Gesetzes, du Maryasz, 
bist verhaftet, gehst mit mir, Kahanetz gleichfalls.“ Wir 
wollten nun alle zusammen uns ins Gemeindehaus begeben 
und betraten zu dem Zwecke den Zugang. Inzwischen machte 
sich Pelech aus dem Staube und aus dem Gemeindehause 
kam derdritte Gendarm Rudzinski, welcher sich seinenKameraden 
zugesellte. Plötzlich machten die Gendarmen Frontund Jablczyris- 
kisagte: „Im Namen des Gesetzes wollen Sie auseinandergehen, 
widrigenfalls ich von der Schusswaffe Gebrauch machen werde“. 
Angesichts dessen sagte ich: „Bei dieser Sachlage gehen wir 
nach Hause.“ Wir machten „Kehrteuch“ und begaben uns 
auf den Hauptweg. Plötzlich versetzte der Gendarm Rudzinski 
dem Marko einen heftigen Schlag mit dem Gewehrkolben auf 
den Kopf, so dass dieser laut aufschrie: „Es wird geschlagen.“ 
Die Menge bewegte sich nunmehr unter lautem Geschrei nach 
vorwärts. Unterdessen bemerkte ich, wie einer von den Gen¬ 
darmen die Barriere übersetzte und alle drei erschienen bald 
in den vordersten Reihen der Menge, wo sie sich der Volks¬ 
masse, gerade dort, wo sich Marko Kahanetz befand, mit 
aufgepflanzten Bajonetten entgegenstellten.lch hieltschon damals 
seit längerer Zeit Marko Kahanetz, um ihn vor den weiteren 
Schlägen seitens der Gendarmen zu schützen. Auf einmal 
hörte ich, wie Marko Kahanetz aufschrie: „Brüder, von mir 
rinnt schon das Blut!“ worauf er zu Boden fiel. Da ich rück¬ 
wärts stand, konnte ich nicht genau beobachten, welcher von 
den Gendarmen die Stösse versetzt hatte. Ich kann unter Eid 
aussagen, dass sich die Bauern vor der Arretierung und vor 
dem Schlage mit dem Gewehrkolben ganz ruhig benommen 
hatten und auch später hat man nur aus Furcht geschrieen: 
„Es wird geschlagen!“ 

Martha Lukaszewicz, geborene Kwiecieri, römisch- 
katholisch, eine Polin, 32 Jahre alt, deponiert: Ich ging auf 
die Post, um mir einen Brief, welcher von meinem Manne 
aus Preussen kommen sollte und tatsächlich gekommen ist, 
abzuholen. Plötzlich bemerkte ich den Marko Kahanetz, wie 
er durch die Strasse ging und etwas las. Ich sagte zu anderen 
Frauen, welche bei dem Postgebäude standen, sie sollen mit 
mir gehen, denn Marko Kahanetz wird uns vielleicht etwas 
neues zur Kenntnis bringen. Plötzlich vernahm ich ein lautes 
Geschrei und alle Bauern wendeten sich in der Richtung der 
Brücke zu. Ich lehnte mich an die Barriere und betrachtete 
genau, was weiter vorging. Ich sah wie die Gendarmen mit 
aufgepflanzten Bajonetten laufend den Zug passierten und wie 
sie sich plötzlich der Menge an der Stelle, wo sich Marko 
Kahanetz befand, mit Bajonetten entgegenstellten. Kahanetz 
benahm sich ganz ruhig, er konnte auch mit den Händen 
nicht hantieren, weil er von seiner Frau und Schwester um¬ 
schlungen war. Die Bajonette der Gendarmen waren ganz 
frei und niemand hatte sie angerührt. Auf einmal bemerkte 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



812 


ich, wie der Wachtmeister Jablczyriski sein Bajonett in den 
Körper des Kahanetz stiess und wie sich dieser sofort ohn¬ 
mächtig hinneigte. In einigen Sekunden war Kahanetz tot. Die 
Menge hat sich während des Zuges keiner Ausschreitung 
schuldig gemacht, die Bauern haben nur geschrien, was offen¬ 
bar auf die allgemeine Verwirrung zurückzuführen ist. 

Der fünfte Zeuge, Roman Basystiuk, 45 Jahre alt, 
nach Koropetz zuständig, gibt an: Ich habe bemerkt, wie 
Marko Kahanetz mit einigen Bauern durch die Hauptstrasse 
ging und habe mich aus Neugierde dem Zug angeschlossen. 
Es waren damals insgesamt nicht mehr als 10 bis 20 Personen. 
Wir näherten uns schliesslich dem Zugänge zum Gemeinde¬ 
amte und ich selbst stand auf der linken Seite des Zugangs, 
vor mir waren Marko Kahanetz, sein Bruder Iwan Kahanetz. 
Iwan Maryasz, der Sohn Michael des älteren und Semen 
Maryasz, Sohn Michaels. Bald darauf erschienen aus dem 
Gemeindeamte zwei Gendarmen, dann der dritte, stellten sich 
unerwartet uns mit aufgepflanzten Bajonetten entgegen und 
einer von ihnen, der Wachtmeister Jablzyriski sagte: „Im 
Namen des Gesetzes! — Du Maryasz gehst mit mir, Kahanetz 
gleichfalls.“ Wir wollten nun alle ins Gemeindehaus und in 
der vordersten Reihe standen beide Maryasz und Marko Ka¬ 
hanetz. Wir benahmen uns ganz ruhig. Plötzlich bemerkte ich 
wie die Gendarmen die mittlere Barriere des Zuganges über¬ 
sprangen und Marko Kahanetz laut äufschrie: „Brüder, es 
wird geschlagen.“ Nun machten wir alle eine Kehrtwendung 
und begaben uns auf die Hauptstrasse, um nach Hause zu 
gehen. Unter den Bauern entstand eine allgemeine Panik, 
lautes Geschrei erhob sich. Als sich der Zug in der Richtung 
gegen die Brücke bewegte, bemerkte ich, wie die Gendarmen 
den Zug passierten und sich der Menge mit aufgepflanzten 
Bajonetten entgegenstellten. Auf der rechten Seite stand 
Tokarski, in der Mitte Jablczynski und zu seiner Linken stand 
etwas abseits Rudziriski. Plötzlich versetzte Tokarski dem Marko 
Kahanetz den ersten Bajonettstoss in die rechte Brustseite. 
Unterdessen drangen die Bauern, welche sich über das Ge¬ 
schehene offenbar nicht orientieren konnten, nach vorwärts. 
Es wurden noch zwei bis vier Schritte getan, als plötzlich 
der Wachtmeister Jablczynski mit aller Wut herbeisprang und 
dem Marko Kahanetz den zweiten Stoss in den Bauch ver¬ 
setzte, den er dann noch wiederholte. In diesem Moment war 
Marko Kahanetz bereits ein toter Mann. Ob auch der dritte 
Gendarm einen Stoss gegen Kahanetz führte, konnte ich nicht 
bemerken. Die Menge blieb auf einmal wie versteinert stehen 
und ich kann gewissenhaft bezeugen, dass während des ganzen 
Aufzuges keine Ausschreitungen vorgekommen sind. Bis zur 
blutigen Tat haben die Leute geschrieen, dann vernahm ich, 
wie viele von den Versammelten, insbesondere die Weiber, 
laut zu schluchzen begannen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



313 


Oleksa Wowk, 32 Jahre alt, aus Koropetz, gibt an: 
Ich war dabei, wie die Gendarmen den Marko Kahanetz und 
den Iwan Maryasz arretierten und wie sie dann uns alle auf¬ 
forderten, auseinander zu gehen. Ich befand mich in der 
nächsten Nähe des Kahanetz und sah auch, wie der Gendarm 
Rudziriski mit dem Gewehrkolben dem Marko Kahanetz einen 
starken Schlag auf den Kopf versetzte. Sein Bruder Iwan 
umarmte ihn von rückwärts, um ihn vor weiteren Misshand¬ 
lungen zu schützen. Wir begaben uns alle auf den Hauptweg 
und begannen zu schreien, weil wir befürchteten, dass noch 
weiter geschlagen werden wird. Als ich dann in die vorder¬ 
sten Reihen drang, sah ich schon, wie Tokarski vis-ä-vis 
des Marko Kahanetz stand und sein Bajonett, welches blut¬ 
überströmt war, mit einem Taschentuch ab wischte. Marko 
Kahanetz war bereits ohnmächtig. Die Leute benahmen sich 
sonst ganz korrekt — zwischen den Gendarmen und der 
Menge ist es nicht einmal zu einem Wortwechsel ge¬ 
kommen. 

Iwan Maryasz, 42 Jahre alt, aus Koropetz, gibt an: 
Ich befand mich eben in der Gesellschaft des Marko Kaha¬ 
netz, als Jablczyriski und Tokarski uns im Namen des Ge¬ 
setzes aufforderten, auf das Gemeindeamt zu gehen. Wir 
schickten uns an, dieser Aufforderung Folge zu leisten, als 
plötzlich noch der dritte Gendarm Rudzinski aus dem Ge¬ 
meindehause herbeieilte und alle drei sich uns mit aufge¬ 
pflanzten Bajonetten entgegenstellten. Wir wurden aufgefordert, 
auseinander zu gehen. Wir machten nun eine Kehrtwendung, 
als plötzlich Rudzinski dem Kahanetz einen starken Schlag 
auf den Kopf versetzte. Jemand sagte: „Brüder, gehen wir 
alle nach Hause.“ Was weiter geschehen, weiss ich nicht, 
denn ich blieb zurück und habe nur gehört, wie die Leute 
aus Furcht vor Schlägereien geschrien haben. 

Iwan K u ry 1 a k, Sohn Daniels, 22 Jahre alt, aus Koropetz, 
gibt an: Ich befand mich gerade bei dem Wirtshause, als ich 
bemerkte, wie Marko Kahanetz mit 8 bis 10 Bauern sich dem Ge¬ 
meindehause näherte. Die Bauern benahmen sich ganz ruhig, 
und was dort vorgekommen ist, konnte ich nicht sehen. Plötz¬ 
lich vernahm ich ein lautes Geschrei und bemerkte, wie sich 
die Leute der Hauptstrasse und dann der Brücke zuwendeten. 
Aus Neugierde begab ich mich nun auf den Hauptweg, um 
zu den Versammelten zu gelangen, und sah, wie die Gen¬ 
darmen laufend, mit aufgepflanzten Bajonetten, den Zug 
passierten und sich der Menge entgegenstellten. 

Ich befand mich damals rückwärts von den Gendarmen 
und sah, wie sie alle drei auf Marko Kahanetz losgingen. 
Wer den ersten Stoss versetzte, weiss ich nicht; ich sah nur 
wie Jablczyriski mit aller Kraft dem Kahanetz den Stoss in 
den Bauch versetzte und wie dieser niedersank. Die Leute 
benahmen sich, das Geschrei ausgenommen, sonst ganz ruhig, 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



314 


und von irgend welchen Ausschreitungen der Menge kann 
keine Rede sein. 

Jacko Kurylak, Sohn des Ihnatij Kurylak, aus 
Koropetz, 33 Jahre alt, war unmittelbar vor der Tötung 
des Kahanetz in der anliegenden Gemischtwarenhandlung und 
im kritischen Momente aus Neugierde bei der Kapelle des 
St. Johannes, hat daher alles ganz genau beobachten können. 
Im kritischen Momente, sagt er aus, habe ich gesehen, wie 
die Gendarmen sich bereits auf der Brücke der schreienden 
Menge mit aufgepflanzten Bajonetten entgegenstellten. Zum 
Auseinandergehen wurde absolut nicht aufgefordert. Die Gen¬ 
darmen haben überhaupt kein Wort gesprochen; ich sah nur, 
wie sie mit den Bajonetten hantierten, um dem Kahanetz an 
den Leib zu rücken. Auf der linken Seite der Brücke befand 
sich der überwiegende Teil der Menge und in der Mitte der¬ 
selben Marko Kahanetz, welcher von seiner Frau und Schwester 
gedeckt war. Die Frau war mit dem Rücken gegen die Gen¬ 
darmen gekehrt und umarmte ihren Mann um den Hals. Der 
Bruder Iwan schützte den Marko Kahanetz von der Seite der 
Menge. Die Gendarmen, alle drei, manipulierten längere Zeit 
mit den Bajonetten, um den Marko Kahanetz zu treffen, aber 
es war offenbar nicht möglich. Marko Kahanetz benahm sich 
damals ganz ruhig und es ist nicht wahr, als ob er sich der 
Bajonette — wie jetzt von den Gendarmen behauptet wird 
— bemächtigen wollte. Plötzlich, unter dem Andrange der 
Menge, entblösste sich der Körper des Kahanetz und ich sah, 
wie in diesem Momente Tokarski den Kahanetz den ersten 
Stoss in die rechte Brustseite versetzte und bald darauf 
Jablczyriski in die Bauchgegend. Irgend welche Ausschreitungen 
seitens der Menge sind nicht vorgekommen. 

Dmytro H1 a d k y j, 28 Jahre alt, aus Koropetz, befand 
sich zuerst beim Wirtshause, dann aus Neugierde in der 
nächsten Nähe des Tatortes, hat daher alles genau beobachtet 
und gibt Über den entscheidenden Moment des Vorfalles 
folgendes an: Als die Menge sich auf den Hauptweg begab, 
bemerkte ich, wie die Gendarmen den freien Durchgang zur 
linken Seite des Weges benutzten, um an die Spitze des Zuges 
gelangen zu können. Bald darauf stellten sie sich der Menge 
mit aufgepflanzten Bajonetten entgegen. In der Mitte der vor¬ 
dersten Reihe befand sich Kahanetz, von seiner Frau und 
seiner Schwester umarmt, und war offenbar bemüht, den Zug 
mit seinem Körper aufzuhalten. Die Gendarmen manipulierten 
unterdessen mit den Gewehren, um ihn zu treffen. Irgendwelche 
Herausforderung seitens der Menge oder des Kahanetz hat 
nicht stattgefunden. Am meisten hantierte mit dem Gewehre 
der Postenführer Tokarski, was auch längere Zeit in Anspruch 
nahm, bis es ihm plötzlich gelang, dem Kahanetz einen Stoss 
in die rechte Brustseite zu versetzen. Er zog das Bajonett 
aus dem Leibe und wischte es mit dem Taschentuch ab. 


Digitized by 


Gck igle 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 



315 


Unterdessen wechselte er einige Worte mit dem Wachtmeister 
Jablczyriski und bald darauf versetzte dem Kahanetz Jablczyriski 
selbst, die Worte ausstossend „Psia krew“ (Hundeseele), einen 
zweiten Stoss in die Bauchgegend mit so gewaltiger Kraft, 
dass Marko Kahanetz sofort ganz machtlos niedersank. Nach 
dieser Tat traten alle drei Gendarmen wie auf ein gegebenes 
Zeichen zurück und Marko Kahanetz fiel tot zu Boden. Übei 
Befragen gibt der Zeuge an: Es ist nicht wahr, dass Marko 
Kahanetz im kritischen Momente sich der Bajonette der Gen¬ 
darmen bemächtigen wollte, Ausschreitungen der Menge sind 
auch nicht vorgekommen. Die Leute haben nur geschrieen, was 
mich auch bewogen hat, der Menge näher zu treten. 

Iwan Wintoniak, Sohn Wasils, 36 Jahre alt, aus 
Koropetz, gibt an: Ich habe bemerkt, dass Marko Kahanetz 
in der Richtung zum Gemeindeamte ging und ich habe mich 
auch demselben angeschlossen. Marko Kahanetz sagte mir 
damals ausdrücklich, dass er ins Gemeindeamt gehe, um sich 
zu erkundigen, wie seine Depesche an die k. k. Bezirks¬ 
hauptmannschaft in Buczacz in Sachen der Reklamation er¬ 
widert wurde. Da ich gleichfalls eine Reklamation eingebracht 
habe, so war ich neugierig, wie die Antwort der Bezirks¬ 
hauptmannschaft ausgefallen ist. Wir waren insgesamt nicht 
viel mehr als zehn Personen und haben uns auch ganz ruhig 
benommen. Nach der Arretierung des Kahanetz und Iwan 
Maryasz wollten wir alle ins Gemeindeamt gehen, aber die 
Gendarmen machten Front gegen uns und forderten uns auf, 
auseinanderzugehen. Wir haben auch dieser Aufforderung 
Folge geleistet und begaben uns auf den Weg; was aber weiter 
geschehen, weiss ich nicht, denn ich bin dann zurückgeblieben. 

Die Zeugen Andrij Soroczan, Sohn des Lucj Soroczan, 
und Jakim Tymkiw, 40 Jahre, beide aus Koropetz, befanden 
sich in weiterer Entfernung, können aber bestätigen, dass vor 
dem Gemeindeamte nur zirka 10 bis 15 Bauern anwesend 
waren, dass sich dieselben ganz ruhig benahmen und dass 
die Menge sich auch später irgendwelcher Ausschreitungen 
nicht schuldig gemacht hat. 

Das sind alles die Zeugenaussagen derjenigen Personen, 
welche sich, wie ich schon gesagt habe, im kritischen Mo¬ 
mente in der nächsten Nähe des Kahanetz befunden haben 
und deren Aussagen daher massgebend sind. Diese Aussagen 
sind — wie die Herren sich überzeugen können und was das 
wichtigste ist — übereinstimmend und so klar, dass man sich 
ein ganz genaues Bild von dem Vorgänge machen kann. 
Man kann daraus auch ersehen, dass wir es hier mit einer 
Tat zu tun haben, vor welcher einen jeden, der sich in die 
Situation hineinzudenken vermag, ein Schauder erfassen muss. 
Denn, meine Herren, einen Mann in der Umarmung 
seiner Frau zu töten, ihm drei tötliche 
Stösse nacheinander zu versetzen — und das 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



316 


alles tun drei Gendarmen! — um ihn dann 
noch fünf Stunden wie einen erschossenen 
Hund auf der Strasse liegen zu lassen, das 
ist eine Tat, die mit dem Worte „Verbrechen“ 
noch viel zu gelinde bezeichnet ist, das ist 
eine Tat, welche nur ein ganz rohes Individuum, das jedes 
menschlichen Gefühles bar ist, zu verüben fähig ist. (Zu¬ 
stimmung). 

Ich werde mich selbstverständlich in eine Betrachtung 
dieser Tat vom menschlichen und ethischen 
Standpunkt nicht einlassen, die Tat spricht ja für sich selbst, 
ich werde das Benehmen der Gendarmerie nur vom juri¬ 
stischen, gesetzlichen Standpunkt einer Kritik 
unterziehen. Denn mag auch unsere Entrüstung noch so stark 
und begründet sein, man wird diese Gendarmen jedenfalls 
nur vom gesetzlichen Standpunkte aus verurteilen können. 
Nun muss aber das Benehmen der Gendarmen selbst vom 
Standpunkte des Gesetzes, nach der Gendarmerieinstruktion 
vom Jahre 1895, welche, wie bekannt, den Gendarmen eine 
zu weitgehende Gewalt über das Leben der Menschen ein¬ 
räumt, unbedingt verurteilt werden. 

Meine Herren! Ich will bei der Besprechung dieses 
Falles von dem Moment anfangen, wo Marko Kahanetz arre¬ 
tiert wurde. Schon diese Arretierung war absolut unbegründet. 
Im § 8 des Staatsgrundgesetzes vom 27. Dezember 1867 über 
die allgemeinen Rechte der Bürger steht, dass die Freiheit 
der Person gewährleistet ist, und im § 2 des Gesetzes, be¬ 
treffend die Sicherung der persönlichen Freiheit vom 27. Ok¬ 
tober 1862, wird gesagt, dass eine Arretierung nur auf Grund 
eines richterlichen Befehls erfolgen kann. Von dieser allge¬ 
meinen Regel hat die Strafprozessordnung in den §§ 177, 
181 und 452 und die Gendarmerieinstruktion vom Jahre 1895 
in den §§ 49 bis 51 Ausnahmen eingeführt, jedenfalls, aber 
sind das blos Ausnahmsbestimmungen von der allgemeinen 
Regel, sie dürfen daher in der praktischen Anwendung selbst¬ 
verständlich nicht erweitert werden und es kann eine Arre¬ 
tierung nur dann ohne richterlichen Befehl stattfinden, wenn 
eine derartige Massnahme vom Standpunkte des Gesetzes 
gerechtfertigt werden kann. Nun, meine Herren, nach § 59 
der Gendarmerieinstruktion ist eine Arretierung von seiten 
der Gendarmen ohne richterlichen Befehl nur unter zwei Vor¬ 
aussetzungen zulässig: erstens wenn es sich um ein Verbrechen 
oder Vergehen handelt, und zweitens, wenn der Schuldige 
auf frischer Tat betreten wurde oder wenn auf die Person des 
Schuldigen die Voraussetzungen des § 175 der Strafprozess¬ 
ordnung zutreffen. Dann nach § 50 kann eine Arretierung 
auch dann stattfinden, wenn es sich um das Verbrechen der 
öffentlichen Gewalttätigkeit handelt, um das Verbrechen des 
Aufruhrs oder des Aufstandes und es nicht möglich ist, so- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 33 7 — 

fort im ersten. Moment die Schuldigen zu ermitteln. In Über¬ 
tretungsfällen ist es nach § 51 überhaupt nicht statthaft, eine 
Arretierung ohne richterlichen Befehl vorzunehmen, höchstens 
wenn die betreffende Person auf frischer Tat betreten wurde 
und fluchtverdächtig ist oder wenn der Betreffende auf die 
Zeugen einwirkt. Das sagt also sogar die Gendarmerieinstruk¬ 
tion und das Gendarmeriegesetz. Und wenn wir, meine Herren, 
jetzt zum Falle Kahanetz zurückkommen, so werden wir sehen, 
dass die Arretierung des Kahanetz ganz unbegründet war, dass 
sie ein Missbrauch vonseiten der Gendarmerie war. Es han¬ 
delte sich, wie ich schon auseinandergesetzt habe, um kein 
Verbrechen, um kein Vergehen; es war nur eine Schlägerei, 
also eine Übertretung nach § 411, wo sich sogar ein Unter¬ 
suchungsrichter nicht erlauben würde, mit Untersuchungshaft 
vorzugehen. Aber wir haben gehört, dass dieser Kahanetz nicht 
einmal dabei beteiligt war und nicht auf frischer Tat betreten 
wurde. Er war auch nicht fiuchtverdächtig und konnte nicht 

* als fluchtverdächtig behandelt werden. Kurz, es ist kein Mo^- 
ment vorhanden, wodurch man diese Arretierung überhaupt 
auf irgend eine Weise rechtfertigen könnte. Aber es war da 
aller Wahrscheinlichkeit nach ein anderer Zweck. Man wollte 
Kahanetz, wie man sagt, in die Hände bekommen. Man wollte 
sich an ihm rächen, man wollte auch die Bauernschaft da¬ 
durch zugunsten der polnischen Kandidaten terrorisieren. 

Nun, meine Herren, kommen wir zum zweiten Moment, 
wo die Bauern erklärten, sie wollten in das Gemeindeamt 
gehen. Der Marko Kahanetz hat sich also bereit erklärt, der 
Aufforderung der Gendarmerie Folge zu leisten. Was machen 
aber jetzt die Gendarmen? Wir wissen es ja aus den Zeugen¬ 
aussagen. Als der dritte Gendarm, der Tokarski, gekommen 
war, als sie schon alle drei zusammen waren, haben sich 
plötzlich die Gendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten ge¬ 
wendet und die Bauern aufgefordert, auseinanderzugehen. Die 
Zeugen bestätigen, dass diese Bauern sich ganz ruhig be¬ 
nommen haben. Es waren blos 10 bis 15 Personen. Sie 
wollten in das Gemeindeamt gehen, um sich zu überzeugen, 
wie die Reklamationen erledigt wurden, beziehungsweise, wie 
die Bezirkshauptmannschaft die Depesche, die Beschwerde 
des Marko Kahanetz erledigt hat. Nun, da sehen wir wiederum, 
dass es den Gendarmen darum zu tun war, jedenfalls zu 
einem Konflikt mit der Menge zu gelangen, um die Gelegen¬ 
heit dazu zu benützen, dem Marko Kahanetz an den Leib zu 
rücken. 

Meine Herren! Kommen wir nun zum dritten Moment. 
Nach den Zeugenaussagen haben die Bauern gesagt: „Also 
gut, gehen wir zurück! Begeben wir uns auf den Hauptweg! 
Wir wollen nach Hause gehen!“ Und was tun jetzt die Gen¬ 
darmen? Sie überspringen die Barriere, wie ich schon aus¬ 
einandergesetzt habe, benützen den Durchgang — es waren 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



318 


ja weniger Leute hier auf dieser Seite — und laufen dorthin, 
wo sich die vorderste Reihe befindet und stellen sich alle 
drei den Bauern entgegen. Nun, ob man das auf irgend eine 
Weise erklären kann, weiss ich nicht, ich kann mir wenigstens 
den Schritt der Gendarmen auf eine vernünftige Weise nicht 
erklären. Die Menge wollte ja auseinandergehen (Abgeordneter 
Ceglinskyj: Sie ist auch auseinandergegangen!), ja, sie haben 
eben die Strasse benützt, um auf den Ringplatz zu gelangen 
und nach Hause zu gehen. Warum jetzt die Gendarmen plötz¬ 
lich den Weg versperrten, so dass die Menge nicht ausein¬ 
andergehen konnte, das werden die Gendarmen unter keiner 
Bedingung auf irgend eine Weise entschuldigen können. Das 
ist nun wieder ein Beweis dafür, dass es sich den Gendarmen 
darum handelte, es unbedingt zu einer Katastrophe zu bringen, 
um gegen den Marko Kahanetz mit dem Bajonett Vorgehen 
zu können. 

Was das letzte Moment anbelangt, wo sich die Gen¬ 
darmen schon im Punkte n des Planes aufstellten, das ist im 
Punkte, wo die Tat verübt wurde, so kann hier überhaupt 
von einer Entschuldigung dieses Vorgehens auf Grund der 
Gendarmerieinstruktion keine Rede sein. Das Vorgehen der 
Gendarmerie am kritischen Orte verstösst überhaupt gegen 
das Gesetz, gegen den § 65 der Gendarmerieinstruktion, wenn 
man schon nicht dieses Vorgehen nach den allgemeinen Be¬ 
stimmungen des Strafgesetzbuches beurteilen soll. Das alles 
werde ich aber noch weiter in meinen Ausführungen näher 
besprechen. 

Meine Herren! Was sagen nun die Gendarmen zu ihrer 
Entschuldigung? Sie sagen, dass sich Marko Kahanetz im 
kritischen Momente des Bajonettes eines Gendarmen be¬ 
mächtigen wollte und zweitens behaupten sie auch, dass die 
Menge eine drohende Stellung einnahm. Ich habe, meine 
Herren, die Zeugenaussagen angeführt. Diese Zeugen werden 
ihre Aussagen auch vor Gericht bestätigen und es unterliegt 
für mich wenigstens keinem Zweifel, dass sie die volle Wahr¬ 
heit ausgesagt haben. Es wird erstens von diesen Zeugen in Ab¬ 
rede gestellt, als ob Marko Kahanetz einen Angriff gegen die 
Gendarmen ausgeführt hätte und zweitens wird von allen 
Zeugen bestätigt, dass die Menge, ausser dass sie aus Furcht 
geschrien, sich sonst ganz ruhig benommen hat. Ich werde 
aber Ihnen, meine Herren, die tatsächlichsten Umstände an¬ 
führen, woraus man ersehen wird, dass die Behauptungen 
der Gendarmen überhaupt keinen Glauben verdienen. Zuerst 
der Angriff. Was den Angriff anbelangt, so ist es nicht mög¬ 
lich, dass Marko Kahanetz einen solchen ausgeführt hätte. 
Kahanetz war ein intelligenter Bauer, er war sogar Mitglied 
des Nationalkomitees der nationalruthenischen Partei; er 
diente ferner beim Militär und musste daher wissen, was für 
Folgen ein derartiger Angriff nach sich ziehen musste. Weiters 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



319 


miiss die Frage gestellt werden, wann dieser Angriff erfolgte. 
Hätte Marko Kahanetz die Absicht gehabt, den Gendarmen 
zu entwaffnen, so hätte er dies schon vor dem Gemeindeamt 
ausgeführt, wo er nur zwei Gendarmen mit nicht aufgepflanz¬ 
tem Bajonett* gegenüberstand, aber nicht in dem kritischen 
Moment, wo die Gendarmen ihn schon mit dem Bajonett 
treffen wollten. Auch wissen wir aus allen Zeugenaussagen, 
dass Kahanetz mit einer Hand überhaupt nicht hantieren 
konnte, weil er von seiner Frau und seiner Schwester um¬ 
armt war und eine Hand gar nicht bewegen konnte und dass 
er mit der anderen Hand hinter dem Lederriemen Zeitungen 
hielt. Es wurde auch konstatiert, dass in dieser Position ihn 
auch der Tod fand. Es ist daher überhaupt nicht möglich, 
dass Kahanetz im kritischen Momente das, was man ihm vor¬ 
wirft, getan haben konnte. Selbst wenn man aber annimmt, 
dass Kahanetz tatsächlich eine zweifelhafte Bewegung mit der 
Hand machte, so kann man in einer solchen Bewegung noch 
nicht den Angriff im Sinne des § 65 erblicken. Wenn man 
mich mit dem aufgepflanzten Bajonett verfolgt, so werde ich 
selbstverständlich unwillkürlich aus Selbsterhaltungstrieb das 
abzuwehren suchen, um dem Stiche zu entgehen. Dass man 
aber das schon als Angriff im Sinne des §75 betrachtet und 
dadurch der Gendarm schon berechtigt wäre, von der Waffe 
Gebrauch zu machen, das ist absolut nicht richtig. 

Der § 12 des Gendarmeriegesetzes vom 25. Dezember 1894 
sagt: „Der im Dienste stehende Gendarm darf unter den ge¬ 
botenen Vorsichten von der Waffe Gebrauch machen: 1. Im 
Falle der Notwehr zur Abwendung eines gegen seine Person 
gerichteten oder eines das Leben anderer Personen gefähr¬ 
denden tätlichen Angriffes; 2. zur Bezwingung eines auf die 
Vereitlung seiner Dienstesverrichtung abzielenden Wider¬ 
standes; 4. zur Vereitlung von Fluchtversuchen gefährlicher 
Verbrecher.“ usw. Nach diesem § 12 — und dasselbe ist 
dann noch im § 65 nur noch genauer ausgeführt — muss 
sich der Gendarm, welcher von der Waffe Gebrauch machen 
will, im Zustande der Notwehr befinden, das ist, es müssen 
die tatsächlichen Umstände derart beschaffen sein, dass die 
Absicht, sich an dem Gendarmen zu vergreifen evident ist, 
zweitens, es müssen die Umstände derart sein, dass man an¬ 
nehmen kann, dass der beabsichtigte Angriff tatsächlich aus¬ 
geführt werden kann. Es heisst ja ausdrücklich im Gesetze 
„zur Abwendung eines gegen seine Person gerichteten, ge¬ 
fährdenden, tätlichen Angriffes“. Nun wissen die Herren aber 
aus den Umständen, die ich angeführt habe, erstens, dass 
die Gendarmen sich nicht zu fürchten brauchten, denn Marko 
Kahanetz hatte überhaupt nichts in der Hand, er war ja nicht 
bewaffnet und er konnte sich nicht einmal frei bewegen, so 
dass man hier von einem Zustand der Notwehr überhaupt 
nicht sprechen kann. Zweitens waren alle drei Gendarmen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



320 








Ml' 1 * JJ ^ 


mit Bajonetten bewaffnet und sie haben schon längere Zeit 
vorher mit diesen Bajonetten manipuliert, es ist daher geradezu 
lächerlich zu behaupten, dass die Gendarmen sich vor einem 
Angriff zu verteidigen hatten. Es ist gewiss nur eine Ausrede, 
welche nicht ernst genommen werden kann. 

Und jetzt noch die gefährliche Stellung der Menge! 
Was die drohende Stellung der Menge anbetrifft, so ist nach 
unserer Überzeugung eine gefahrdrohende Haltung der Menge 
überall dort vorhanden, wo unschuldige Bauern oder Arbeiter 
von Gendarmen oder vom Militär niedergeschossen oder 
niedergemetzelt werden. (Beifall.) Man führt da immer eine 
gefährliche Haltung der Menge herbei. Nun habe ich aber 
ausgeführt, dass im ersten Moment blos 10 bis 15 Personen 
zugegen waren und dass sie sich ganz ruhig benommen haben, 
dass schliesslich sogar dann später, als die anderen Bauern 
aus der Kirche herbeikamen, nur aus Furcht geschrieen wurde, 
die Gendarmen aber nicht einmal wörtlich beleidigt wurden; 
es ist sogar, wie einzelne der Zeugen aussagen, nicht ein¬ 
mal zu einem Wortwechsel zwischen den Gendarmen und 
der Menge gekommen. Diese Zeugenaussagen beweisen am 
besten, dass alle diese Behauptungen erfunden sind. Dann 
sagt der § 72 des Exerzierreglements — wenn zum Beispiel 
Militär requiriert wird, um Ordnung zu machen —, dass das 
Militär selbst dann, wenn es beleidigt wird, von der Waffe 
nicht Gebrauch machen darf. Es muss zu einer Tätlichkeit 
kommen, zu einem tätlichen Angriff, um eine derartige Mass- 
regel zu rechtfertigen. Es muss also kurz und gut auch diese 
Ausrede unbedingt abgelehnt werden, schon abgesehen davon, 
dass, wenn die Stellung der Menge zum Waffengebrauch ge¬ 
führt hätte, die Gendarmen auch jemanden von der Menge, 
nicht nur Kahanetz allein, mit den Bajonetten verfolgt hätten 
und auch andere Personen verletzen mussten. |ü|j f* 

Zuletzt, meine Herren, kommt noch eines: Sogar wenn 
man annimmt, dass sich Marko Kahanetz tatsächlich des 
Bajonetts bemächtigen und den Gendarmen entwaffnen wollte 
. . . . (Abgeordneter Ceglinskyj: Was ich ganz natürlich finde!) 
Gewiss, das war aber nicht der Fall; aber gesetzt den Fall, 
dass das richtig ist und wenn man sogar annimmt, dass die 
Menge gefährliche Drohungen ausstiess und überhaupt Wider¬ 
stand leistete, kann man trotz alledem die Gendarmen nicht 
entschuldigen, denn nach dem schon mehrmals zitierten § 65 
stellt sich heraus, dass, wenn die Gendarmerie sogar berech¬ 
tigt war, von der Waffe Gebrauch zu machen, sie diese Waffe 
missbrauchte, um den Mord auszuführen. Im § 65 heisst es: 
„Bei Widersetzlichkeit oder einem Anfall gegen den Gendar¬ 
men muss seine Absicht vorerst darauf gerichtet sein, die be¬ 
treffende Person zum Widerstand, beziehungsweise zur Flucht 
unfähig zu machen“ — also blos unfähig zu machen, nicht zu 
töten!— „Hiernach ist durch den Gebrauch und die Richtung der 


Difitized by Google 


Original fram 

INDIANA UNtVERSITY 



321 


Waffe möglichst zu berechnen, um das Leben des Menschen tun¬ 
lichst zu schonen und das anderer Personen nicht zu gefährden. 
Für jede diese Berechtigung überschreitende Anwendung der 
Waffengewalt ist der Gendarm verantwortlich.“ Dann heisst 
es weiter: „Der Gendarm darf, wie früher bemerkt“ — also 
zum zweiten Male — „nur unter gebotenen Vorsichten, das 
ist mit tunlichster Schonung und erst dann von der Waffe 
Gebrauch machen, wenn gelindere Mittel fruchtlos angewendet 
wurden. Diese Mittel sind; 1. Bei der Widersetzlichkeit: a) Die 
im befehlenden Tone gehaltene Abmahnung“ — wir wissen, 
dass keine Abmahnung erfolgte —, „b) die Arretierung und c) die 
Anlegung der Schliessketten...“ Unter tunlichster Schonung 
wird verstanden, dass bei einem Überfall oder bei einer Wider¬ 
setzlichkeit die Absicht des Gendarmen nur darauf gerichtet sein 
darf, dem Angreifer den Widerstand, bei Fluchtversuchen aber 
dem gefährlichen Verbrecher die Flucht unmöglich zu machen. 

Es wird also, meine Herren, nochmals in der Gendar¬ 
merieinstruktion hervorgehoben, dass beim Gebrauch der 
Waffen vorerst die Abmahnung erfolgen muss; es müssen 
überhaupt erst gelindere Mittel angewendet werden und erst 
wenn das nichts genützt hat und wenn schon von der Waffe 
Gebrauch gemacht werden muss, hat die Gendarmerie dafür zu 
sorgen, dass der Mann nicht getötet wird, sondern dass man 
nur seinen Widerstand unmöglich mache. Wenn es aber da¬ 
zu kommt, müssen zuerst gelindere Mittel angewendet werden. 
(Abgeordneter Dr. Baczynskyj: Es erfolgte keine Abmahnung!) 
Nein, im Gegenteil, man ist sofort mit dem Gebrauch der 
Waffe vorgegangen und alle die Stiche waren gegen die 
gefährlichsten Körperteile gerichtet, gegen den Bauch und die 
Brust. Es war also schon im voraus dafür gesorgt, den Ka- 
hanetz nicht widerstandslos zu machen, sondern es hat sich 
darum gehandelt, wie es sich aus den Zeugenaussagen her¬ 
ausstellt, den Kahanetz womöglich aus der Welt zu schaffen. 

Ich habe, meine Herren, bereits erwähnt, wie man die 
armen Bauern, insbesondere die ruthenischen Bauern, bei uns 
in Galizien behandelt. 

Denn sogar nach dieser abscheulichen Tat hat man die 
Gendarmen nicht einmal verhaftet — aber das ist zu wenig ge¬ 
sagt — sie wurden dort in Koropetz auf demselben Posten 
belassen, damit sie die^Leute noch mehr drangsalieren, damit 
die Leute in Furcht versetzt werden und nicht wagen, gegen 
die Gendarmen auszusagen. Bis heute wurden die Gendar¬ 
men überhaupt nicht bestraft, erst nach drei Wochen hat man 
einen von den Gendarmen versetzt, um vielleicht sagen zu 
können: der Mann ist schon bestraft worden, es ist einer 
versetzt worden; — wahrscheinlich hat man ihm noch das 
Geld für die Reise gegeben. 

Was nun, meine Herren, das ruthenische Volk anbelangt, 
so muss ich sagen — ich will selbst den Resultaten der 

* 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



322 


Untersuchung nicht vorgreifen — das ruthenische Volk hat 
sich sein Urteil über das Geschehene bereits geschaffen: Das 
ist erstens die Überzeugung, dass wir es hier in diesem Falle 
mit einem wohldurchdachten, planmässig ausgeführten poli¬ 
tischen Racheackte zu tun haben (Zustimmung) und zweitens 
die Überzeugung, dass man diese drei Gendarmen nicht nur 
deshalb dazu verwendete, weil sie als allpolnische Chauvinisten 
bekannt waren, sondern auch deshalb, weil es ihnen am 
leichtesten war, die Gelegenheit herbeizuführen, um einen 
solchen Plan auszuführen und — was besonders wichtig 
ist — sich mit Rücksicht auf die Bestimmungen der Gen¬ 
darmerieinstruktion im Wege der breitesten Auslegung der¬ 
selben jeder Bestrafung zu entziehen. 

Meine Herren! Es ist nicht das erstemal, dass ein Ru- 
thene und überhaupt ruthenische Bauern aus politischen 
Rücksichten im politischen Kampfe von der Gendarmerie oder 
vom Militär um ihr Leben gebracht worden sind. Insbesondere 
in den letzten Zeiten häufen sich solche blutige Fälle immer 
mehr und es kommen in der letzten Zeit keine Wahlen vor, 
es gibt keine, nicht einmal die legalste Bewegung des schwer 
um seine Existenz kämpfenden ruthenischen Volkes, wo nicht 
ruthenisches Blut vergossen würde. Man kann mit Recht sagen: 
über die Leichen der Ruthenen rollt der Triumphwagen der 
polnischen Herrschaft in Galizien unter der österreichischen 
Flagge. 

Es hat im Jahre 1897 angefangen, während der soge¬ 
nannten blutigen Badeni-Wahlen. Damals fiel Petro Stasiuk 
aus Czernijiw bei Stanislau. Ich werde kurz erzählen, wie es 
dazu gekommen ist. Es wurde bei den Wahlmännerwahlen 
geschwindelt und die Bauern waren selbstverständlich so auf¬ 
geregt, dass sie den Hauptschwindler, einen gewissen Mar- 
gulies durchprügelten. Nun, meine Herren, es hat sich später 
bei der Verhandlung in Stanislau herausgestellt, dass dieser 
Margulies nur eine ganz kleine und leichte Hautverletzung 
davongetragen hat, aber die Staatsanwaltschaft hat daraus 
das Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit gemacht und 
es wurden Gendarmen in die Ortschaft geschickt, um dort 
die Bauern zu arretieren. 

Als die Gendarmen in Czernijiw erschienen sind, kamen 
selbstverständlich von allen Seiten Bauern, weil sie nicht 
wussten, worum es sich handelt, und sie haben, weil es im 
Februar war — es war ein Frosttag — die Gendarmen gebeten, 
die Arretierten freizulassen; denn sie werden sich dem Ge¬ 
richte freiwillig zur Verfügung stellen. Meine Herren! Man 
hat daraus einen förmlichen Widerstand konstruiert, es wurde 
von der Waffe Gebrauch gemacht und eben dieser Petro 
Stasiuk wurde bei dieser Gelegenheit getötet. Dann hat man 
diese Arretierten 7 Kilometer zu Fuss in Fesseln wie die ge¬ 
meinsten Verbrecher nach Stanislau abgeführt. 

Digitized by Gougle 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 



323 


Meine Herren! Während dieser Wahl im Jahre 1897 
wurden acht Personen getötet, eine Menge schwer verletzt 
und über 700 Personen in Haft genommen. 

Während der Streikbewegung im Jahre 1902 wurde ein 
gewisser Skoczylis, ein Bauer im Peremyschlanyer Bezirke, 
während einer Husarenschlacht getötet. 

Vor zwei Jahren, im Jahre 1905, wurde in Nyzniw bei 
Tlumacz eine ruthenische Versammlung nur deshalb aufge¬ 
löst, weil der Vorsitzende einen gewissen Bogdanowicz, 
welcher als Ruthenenfresser dort in der Umgebung bekannt 
ist, nicht zum Worte kommen lassen wollte. Der Kommissär 
hat dann noch eine weitere Taktlosigkeit begangen, indem 
er die Menge noch auf der Strasse provozierte. Das hat zur 
Folge gehabt, dass jüngere Burschen mit Steinen geworfen 
haben, wie es ja oft bei solchen Gelegenheiten Vorkommen 
kann. Es wurde niemand — das ist auch festgestellt worden 
— von diesem angeblichen Steinbombardement verletzt, aber 
trotz alledem schickte man zwei Tage später eine Gendar¬ 
merieabteilung nach Ladzkie im Buczaczer Bezirk. Die Ein¬ 
wohner von Ladzkie waren daran gar nicht beteiligt, sie 
wohnen in einem anderen Bezirke. Trotzdem hat man eine 
Gendarmerieabteilung dorthin geschickt, und zwar sogleich, 
im vorhinein mit Militärassistenz. Ein Bauer wurde in provo¬ 
katorischer Weise schon in der Nacht und 14 in der Früh 
arretiert, so dass sie förmlich aus dem Bette herausgerissen 
wurden. Als dann die Bauern auf den Platz kamen, wo sich die 
Arretierten befanden, da begann eine Bäuerin namens Derkacz, 
als sie ihren Sohn umarmte, zu schluchzen und wollte ihn 
nicht freilassen. Es dauerte nur kurze Zeit, es wurde wieder von 
der Waffe Gebrauch gemacht und fünf Personen getötet, neun 
Personen schwer verletzt. (Abgeordneter Ceglinskyj: Darunter 
eine Frau!) Ja, eine schwangere Frau war auch darunter! 
Man hat zur Entschuldigung dieser blutigen Tat später an¬ 
geführt, dass die Menge angeblich eine drohende Haltung an¬ 
genommen hatte. Aber wissen Sie, wie es tatsächlich war? 
Alle diese fünf Personen wurden von rückwärts getötet. (Hört! 
Hört!) So schaut diese gefährliche Menge tatsächlich aus. 

Der Fall in Horucko bei der letzten Kampagne der Reichs¬ 
ratswahlen ist noch in aller Erinnerung, ich werde mich des¬ 
halb nicht länger dabei aufhalten. Zur Mittagsstunde wurde 
die Abstimmung unterbrochen und als dann später das Wahl¬ 
resultat verkündet wurde, haben die Bauern bemerkt, dass 
das verkündete Resultat mit ihren Berechnungen nicht über¬ 
einstimmt. Sie verlangten in ihrer selbstverständlichen Auf¬ 
regung die sofortige Vornahme einer neuen Wahl. Als die 
Bauern von ihrer Forderung nicht zurücktreten wollten, hat 
man eine Verstärkung der Gendarmerie herbeiholen lassen. 
Es wurde auf die Bauern geschossen und hierbei vier Per¬ 
sonen getötet. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



324 


Meine Herren! Allen diesen Fällen liegt eine und die¬ 
selbe Ursache zugrunde, es ist das in Galizien herrschende 
Wahlschwindelsystem, es sind eben die Missbräuche der Amts¬ 
gewalt, welche in Galizien von den Verwaltungsbehörden und 
Verwaltungsbeamten systematisch verübt werden. 

Nun will ich, meine Herren, zum Schlüsse meiner Aus¬ 
führungen sagen, was wir in unserem Anträge verlangen und 
an wen wir unsere Forderung gerichtet haben. Wir verlangen 
in unserem Anträge das Gerechteste, was es gibt, näm¬ 
lich: 1. Die Untersuchung gegen die Gendarmen und die 
Bestrafung derselben und 2. verlangen wir, dass der hinter- 
bliebenen Familie, das ist der Witwe und dem eventuellen 
Nachkommen eine Unterstützung beziehungsweise eine Rente 
aus Staatsmitteln zuerkannt werde. Wir richten selbstverständ¬ 
lich diese Forderung an die Regierung, denn es ist die Pflicht 
der Regierung, ihre schuldigen Organe zur Verantwortung zu 
ziehen und den von diesen Organen zugefügten Schaden wo¬ 
möglich gut zu machen. Ich werde nun aber, meine Herren, 
die Befürchtung aussprechen, dass die Regierung diese ihre 
Pflicht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erfüllen wird, und 
zwar nicht nur deshalb, weil wie wir sehen, die Gendarmen 
bis nun nicht einmal verhaftet worden sind, sondern auch 
deshalb, weil auf der Ministerbank diejenigen sitzen, welche 
die Schandwirtschaft in Galizien, diese Greueltaten, welche 
dort verübt werden, in erster Linie verschuldet haben. (Zu¬ 
stimmung.) 

Wir Ruthenen kommen seit vielen Jahren mit unseren 
tausenden und tausenden Beschwerden, wir liefern tausende 
und abertausende Beweise und alles nützt nichts, alles bleibt 
ohne Erfolg. Was tut eigentlich die Regierung mit allen un¬ 
seren Beschwerden? Sie hat jedesmal, als wir mit unseren 
Beschwerden an dieses Haus und die Regierung gekommen 
sind, eine lächerliche Komödie aufgeführt, eine Komödie, 
welche eines geordneten Rechts- und Kulturstaates, für wel¬ 
chen Österreich gelten möchte, geradezu unwürdig ist. Meine 
Herren! Man hat alle unsere Beschwerden jedesmal an den 
galizischen Statthalter abgetreten, also an denjenigen Mann, 
welcher als der oberste Leiter dieses Schwindelsystems in 
Galizien angesehen werden muss. Und was hat man weiter 
getan? Diese Beschwerden hat man entweder den Schuldigen 
selbst überlassen oder selbstverständlich ihren guten Kollegen, 
das ist solchen, die sich schon selbst durch ihre Gesetz¬ 
widrigkeiten auszeichneten und welche für die zielbewusste 
Durchführung der Untersuchung ihrem Chef, das ist dem 
galizischen Statthalter verantwortlich sind. Eben in diesem 
Moment muss ich aber unterbrechen und Ihnen ein Telegramm 
des „Wiek Nowy“ mitteilen, welches sagt, dass in der Gegend 
von Tarnopol sechs Bauern wegen widerrechtlichen Fisch¬ 
fanges getötet wurden. (Hört!) Da können Sie, meine Herren, 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



325 


am besten sehen, auf welche Weise bei uns gegen die Leute 
vorgegangen wird. 

Bei diesem Vorgehen der Regierung kann es niemanden 
wundernehmen, wenn diese Obeistände in Galizien immer 
mehr um sich greifen, wenn man die Bauern auf offener 
Strasse niederschiesst und die gemeinsten Verbrecher auf den 
verantwortlichsten Stellen der Verwaltung in Galizien gross¬ 
gezogen werden. 

Meine Herren! Ich habe keinen Beamten in Galizien 
gesehen, welcher wegen seiner Gesetzwidrigkeiten tatsächlich 
bestraft worden wäre, aber ich kenne eine Menge galizischer 
Beamten, welche für die am ruthenischen Volke verübten 
Verbrechen nicht nur nicht bestraft, sondern sogar mit Avan¬ 
cement und kaiserlichen Ordenszeichen belohnt wurden. 

Ich komme nun dazu, was wir von der jetzigen Re¬ 
gierung in dieser Hinsicht zu erwarten haben. Was wir, meine 
Herren, von der Regierung des Baron Beck zu erwarten haben, 
beweisen die Reden, welche der Minister des Innern Freiherr 
v. Bienerth vor einigen Tagen und auch gestern bei der 
Verhandlung über unsere Dringlichkeitsanträge gehalten hat. 
Der Minister stellt vor allem in Abrede, dass es sich um ein 
System in Galizien handelt: er sagt, es ist kein System, es 
sind nur einzelne Übergriffe einzelner gegen einzelne, wie sie 
sonst überall Vorkommen. Ich bitte nur die stenographischen 
Protokolle seit vielen Jahren durchzusehen und Sie werden 
eine Menge von krassen Fällen von uns dort angeführt finden. 
Ein jedes Kind in Galizien weiss auch schon, dass alle 
diese Gesetzwidrigkeiten einen und denselben Zweck ver¬ 
folgen, nur der Minister weiss dies noch immer nicht und 
sagt, es ist kein System, es ist nur ein vereinzelter Fall. 

Meine Herren! Der Minister hat sich auf seine eigene 
Zeugenschaft berufen, er sagt, er war in Galizien und könne 
bezeugen, dass alles dort in Ordnung ist. 

Meine Herren! Der Umstand, dass Se. Exzellenz einige- 
male vielleicht mit einem polnischen Grafen gespeist hat, 
macht ihn noch nicht zum Sachverständigen über die Zu¬ 
stände in Galizien und er hat insbesondere kein Recht, uns 
vorzuwerfen, dass unsere Behauptungen unrichtig sind. (Zu¬ 
stimmung.) Solange die Regierung sich nicht überzeugt hat, 
inwiefern unsere Beschwerden unrichtig sind, solange die Re¬ 
gierung durch ihre Delegierten und durch Beamte aus dem 
Ministerium sich selbst nicht überzeugt hat, wer Recht hat: 
die Verwaltung in Galizien oder die ruthenischen Volksver¬ 
treter, solange hat die Regierung auch keine moralische Be¬ 
rechtigung, unsere Behauptungen in Zweifel zu ziehen. (Zu- 
stimmungT) Das ist eine Beleidigung der ruthenischen Volks¬ 
vertretung und wir müssen eine derartige Beleidigung mit 
aller Entschiedenheit zurückweisen. (Lebhafter Beifall.) 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



326 


Meine Herren! Der Minister hat uns weiter versprochen, 
die Beamtenstellen in Galizien zu vermehren. Er sagt, dass, 
wenn schon diese Verwaltungsmaschine nicht ganz regelrecht 
funktioniert, man auf diese Weise helfen wird, dass man 
dorthin mehr Beamte schickt. Der Minister ahnt nicht einmal, 
dass er in dieser Beziehung nur eine Forderung des Polen¬ 
klubs vertritt, welche eben gegen die Ruthenen gerichtet ist. 
Denn in den letzten 10 Jahren hat man nicht weniger als zirka 
20 Mittelschulen, »Gymnasien im polnischen Landesteile er¬ 
richtet, damit dann dieser Nachwuchs an Intelligenz nach Ost¬ 
galizien kommt. 

Es handelt sich jetzt darum, diesen Nachwuchs in Ost¬ 
galizien unterzubringen und dazu braucht man diese Posten, 
nicht nur um die den Ruthenen feindliche'Armee der polni¬ 
schen Intelligenz zu stärken, sondern auch damit diese polni¬ 
schen Beamten, diese polnischen Chauvinisten im öster¬ 
reichischen Gewände jede, auch die geringste Regung im 
ruthenischen Volke um so genauer beobachten können und 
in den Stand versetzt werden, jede oppositionelle Regung, 
jedes Streben des ruthenischen Volkes nach Freiheit und Un¬ 
abhängigkeit zu unterdrücken. 

Meine Herren! Der Herr Minister hat gestern abermals 
gesprochen und versucht, diesmal auch andere Saiten aufzu¬ 
ziehen. Wir müssen, was die russische Partei, die russische 
Propaganda in Galizien anbelangt, seinen Standpunkt an¬ 
erkennen, müssen aber zugleich auch erklären, dass wir mit 
dem, was der Vertreter der Regierung sonst gesagt und als 
sein Programm für die nächste Zukunft aufgestellt hat, absolut 
nicht einverstanden sind. Der Herr Minister hat es gewagt 
und sich unterstanden, mit Drohungen hervorzutreten, wogegen 
bereits Herr Abgeordneter Masaryk, welcher abseits steht 
und nur als Beobachter betrachtet werden muss, protestiert 
hat und was er als eine Taktlosigkeit seitens der Regierung 
ganz richtig gerügt hat. 

Meine Herren! Es handelt sich aber noch um etwas 
anderes. Der Herr Minister hat gesagt, er werde jetzt mit 
aller Gewalt gegen die radikale ruthenische Strömung Vor¬ 
gehen, um angeblich die Beruhigung im Lande zu schaffen. 
Ich fürchte, dass das nicht das Programm der Zentralregierung, 
sondern des jetzigen Statthalters Bobrzyhski und eigentlich 
des Polenklubs ist! (Zustimmung.) Und wie wird dieses Vor¬ 
gehen gegen den ruthenischen Radikalismus in der polnischen 
Praxis, in der polnischen Interpretation faktisch ausschauen? 
Man wird unter diesen Radikalismus die ganze ruthenisch- 
nationale Bewegung stellen (Zustimmung), um unter dem 
Deckmantel, dass man gegen den Radikalismus vorgehe, die 
ganze ruthenische Bewegung, die ganze oppositionelle ruthe¬ 
nische Strömung mundtot zu machen. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



327 


Meine Herren! Wir wissen, auf welche Weise in Galizien 
die Beruhigung herbeigeführt werden kann; das ist, dem 
ruthenischen Volke die geraubten Rechte wiederzugeben. 
(Lebhafter Beifall.) Und so lange sich die Regierung nicht 
auf diesen Standpunkt stellt, so lange wir Ruthenen nicht zu 
unseren Rechten zugelassen werden, so lange wird man uns 
nicht spalten und gegeneinander ausspielen können, sondern 
wir werden alle zusammen als eine Armee Vorgehen und den 
uns aufgezwungenen Kampf weiterführen (Lebhafter Beifall 
und Händeklatschen), bis es uns gelingt, das in Galizien gegen 
uns praktizierte System endgiltig zu Falle zu bringen. 

Meine Herren! Auch der Polenklub hat gestern in die 
Debatte eingegriffen und ich weiss, um was es sich handelte. 
Es handelte sich darum, dass die polnischen Redner das von 
der Regierung aufgestellte Programm durch ihre Reden unter- 
stützen, und wir haben gehört, was hier der Herr Mala- 
chowski — dem Herrn Stapiriski werde ich.nicht die Ehre 
erweisen, über seine Ausführungen zu reden — vorgebracht 
hat. Er hat dem ruthenischen Volke anarchistische und staats¬ 
feindliche Tendenzen vorgeworfen. Das soll jedenfalls die 
Unterstützung dafür sein, dass das Programm, welches Seine 
Exzellenz aufgestellt hat, begründet ist. 

Was den Anarchismus anbelangt, so ist derselbe aller¬ 
dings schon in Galizien zu finden. Wir kennen die galizischen 
Anarchisten; es sind diejenigen, welche die Verwaltung 
Galiziens führen. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) Das 
sind diejenigen, welche das Gesetz mit Füssen treten, welche 
die Beamten belehrt haben, dass sie auf das Gesetz keine 
Rücksicht zu nehmen haben und die es dazu gebracht haben, 
dass das Zutrauen zu der Verwaltung in den breitesten 
Schichten des Volkes gänzlich untergraben worden ist. Ich 
glaube, dass es auch die höchste Zeit ist, das unglückliche 
Land im Interesse der gesamten, also auch der polnischen 
und jüdischen Bevölkerung, von diesem Anarchismus zu 
heilen. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) 

Herr Malachowski hat uns auch staatsfeindliche 
Tendenzen vorgeworfen und hat gleichzeitig mit der öster¬ 
reichischen Gesinnung der Polen geprahlt. Er hat als ihr 
Programm aufgestellt die Worte: „Bei Dir stehen wir und 
wollen wir stehen.“ Das erinnert mich an den Ausspruch 
eines ausgezeichneten französischen Publizisten, der das Ver¬ 
hältnis mancher Parteien zum Staat und zur Dynastie in 
Österreich mit dem Verhältnisse zwischen Stiefkindern und 
ihrer Stiefmutter verglichen hat. Die Stiefkinder beteuern 
immer, dass sie die Stiefmutter sehr lieben, sie benützen aber 
jede Gelegenheit, um diese Mama gründlich durchzuprügeln. 

Wir haben uns schon öfter überzeugt, dass die polnische 
Politik ein Janusgesicht hat und sie hat dieses Janusgesicht 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



328 


schon öfters gezeigt. Wir wissen, dass die Polen zwar ihre 
Loyalität nach allen Seiten beteuern, dass sie aber gleich¬ 
zeitig die allpolnische Bewegung in allen drei Reichen mit 
allen Kräften unterstützen. Ich glaube, dass man nach diesen 
Erfahrungen die neuesten Versicherungen des Herrn MaJa- 
chowski nicht gar zu ernst nehmen wird. Wenn man aber 
uns Ruthenen staatsfeindliche Tendenzen vorwirft, so muss 
ich sagen: Wir sind ein einfaches, aufrichtiges Bauernvolk 
und ebenso aufrichtig sind unsere Gesinnungen. Wir sind keine 
geschworenen Feinde des Staates, wir sind vielmehr bereit, 
unsere Kräfte in den Dienst des Staates zu stellen, aber nicht 
des Staates der internationalen Unterdrückung, nicht des 
Staates, in dem die Nationen in zwei Kategorien geteilt sind, 
sondern in den Dienst des Staates, der allen Nationen volle 
Gleichberechtigung gewährt, damit auch wir in diesem Staate 
einen Zufluchtsort finden, wo wir uns als gleichberechtigte 
Nation nach allen Richtungen frei entwickeln können. (Leb¬ 
hafter Beifall und Händeklatschen.) 

Das ist, meine Herren, unser Programm, und das beweist 
auch am besten, dass wir nur deshalb so auftreten, weil wir 
von diesem Staate als gleichwertiger Faktor nicht anerkannt 
werden. (Beifall.) 

Ich komme nun zum Schlüsse. Wir haben in diesem 
Hause drei Dringlichkeitsanträge eingebracht, die sich auf 
das Verwaltungssystem und auf die Missbräuche beziehen, 
welche bei uns verübt worden sind. Von diesen Dringlichkeits¬ 
anträgen haben zwei die qualifizierte Majorität, also Zwei¬ 
drittelmajorität nicht erlangt. Wir sind daher zu der Über¬ 
zeugung gekommen, die wir auch schon längst gehabt haben, 
dass man in diesem sogenannten Volkshause selbst die ge¬ 
rechtesten Forderungen nicht durchsetzen kann, wenn sie 
eben nicht den Abmachungen entsprechen, welche hinter den 
Kulissen getroffen werden. 

Wenn der Polenklub verlangen würde, man solle dafür 
stimmen, dass zwei und zwei fünf ist, werden sich die Parteien 
finden, welche dafür stimmen, weil diese Polen mit den be¬ 
treffenden Parteien in Verbindung stehen. Ich will mit meinem 
Anträge, den ich soeben begründet habe, nicht die gleiche 
Erfahrung machen. Ich muss sagen, dass ich mir, und zwar 
nicht als Ruthene, nicht als Politiker, sondern als Mensch 
die Aufgabe gestellt habe, jedenfalls das durchzusetzen, dass 
die schuldigen Gendarmen bestraft werden und die Familie 
des Ermordeten eine Unterstützung bekomme. Ich will daher 
jetzt keine Abstimmung provozieren, da man vielleicht auch 
diesen so gerechten Antrag ablehnen könnte, was aber der 
Sache selbstverständlich nur schaden würde. Ich habe infolge¬ 
dessen gestern nach der Abstimmung, weil ich gesehen habe, 
welche Nervosität sich mancher Parteien bemächtigt hat. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



329 


meine Absicht geändert; ich will nur, dass mein Antrag dem 
Wehrausschusse zugewiesen werde, damit man ihn dort nicht 
vom politischen, sondern vom sachlichen Standpunkte prüfe 
und dann den Bericht an das Haus erstatte. Wenn dies dann 
geschehen wird, werden alle dem Anträge bei dem Ausschuss¬ 
berichte zustimmen müssen. 

Ich bitte also, meinen Antrag als einen gewöhnlichen 
zu behandeln und dem Wehrausschusse zuzuweisen. 

Ich muss auch sofort hervorheben, dass ich, wenn man 
die Sache vielleicht im Wehrausschusse auf die lange Bank 
schieben oder die Regierung ihre Pflicht nicht erfüllen würde, 
die Gendarmen sofort verhaften und eine Untersuchung durch¬ 
führen zu lassen, in kürzester Zeit meinen Antrag als Dring¬ 
lichkeitsantrag wieder hier im Hause einbringen würde. Ich 
habe geschlossen. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) 



Marko Kahanetz. 


r 


□ igitized by Google 


Original frorri 

INDIANA UNIVERSITY 


330 


Anklagerede 

wider den, der Verhöhnung des Hungerstreiks der ruthenischen Stu¬ 
denten angeklagten Dichter Henryk Sienkiewicz, gehalten am 18. Mai 
1908 vor dem Schwurgerichte Wien. 

Von Dr. Walther Rode. 

Es ist mehr als blinder Zufall, dass sich im Streite ge¬ 
genüberstehen arme ruthenische Studenten und der gefeierteste 
polnische Dichter der Gegenwart. Der Angeklagte Sienkiewicz 
ist, wie Ihnen bekannt ist, meine Herren Geschworenen, ein 
polnischer Dichter von sogenanntem Weltruhm. Seine Lands¬ 
leute haben ihn bei seinem Auftreten enthusiastisch begrüsst 
und der Präsident der Krakauer Akademie der Wissenschaften 
Graf Tarnowski hat von ihm gesagt, der künstlerische Wert 
seiner Werke sei grösser als der Wert der Werke Shakespeares, 
Miltons und Dantes zusammengenommen. Darüber will ich 
mit dem Grafen Tarnowski nicht rechten. Eines jedoch ist 
gewiss: Sienkiewicz ist der Verherrlicher der polnisch-schlach- 
zizischen Freiheit, d. h. der schrankenlosen Ungebundenheit 
der polnischen Herren und Überwinder, er ist der Verkünder 
und Glorifikator des Glanzes der polnischen Magnaten und 
Pane, der Anwalt jenes Unterdrückungssystemes und jener 
Völkerknechtung, wie sie geübt wurde in der zu Grunde ge¬ 
gangenen sarmatischen Schlachzizenrepublik, und ohne die 
ein fürstliches Leben nach polnischer Auffassung, ein Leben 
im Glanze der Arbeitslosigkeit und sinnlosen Verschwendung, 
unmöglich gewesen wäre. Ich sage, meine Herren, es ist 
kein Zufall, dass gerade Herr Sienkiewicz von den Söhnen 
des ruthenischen Volkes in Anklagezustand versetzt wurde 
und kein Zufall ist es, dass er sich dieser Anklage nicht ent¬ 
zogen hat und nicht entziehen konnte. Er hat keineswegs die 
Pflicht gehabt unseren Ladungen Folge zu leisten und unsere 
Anklage zu akzeptieren, es hat für ihn, als einen Ausländer, 
ein Einlassungszwang in diesen Prozess nicht bestanden. Je¬ 
doch wir haben ihn gepackt an seiner Eitelkeit, es war ihm 
gerade recht, sich auf einer höchst ungefährlichen Anklage¬ 
bank feiern zu lassen und nun muss er die Rolle eines An¬ 
geklagten durchführen, ob er will oder nicht. Auf unsere 
Aufforderung, sich zum Streite zu stellen, hat er sofort das 
Schwert gezogen und nun kann er nicht mehr zurück. Das 
Bild, welches die Kläger gegenüber dem Angeklagten bieten, 
ist voll symbolischer Bedeutsamkeit: Gegen den glänzendsten 
Repräsentanten des glänzenden polnischen Volkes erscheint 
als Ankläger vor dem Forum von Europa — das hungernde 
ruthenische Volk. 

In den letzten Wochen sind im Lande Galizien, aus 
dessen Bezirken die Kläger hieher gekommen sind, schwere 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



331 


Taten geschehen, und jedermann scheint es, dass Verant¬ 
wortlichkeit hiefür auch die Kläger behaftet. Denn ihre Em¬ 
pörung, ihr Ingrimm hat sich entladen und der Einzelne, den 
das Schicksal erwählt hat zum Schlage, ist Geist von ihrem 
Geiste und Blut von ihrem Blut. Nichtsdestoweniger sind die 
jungen Ruthenen nach Wien gekommen als Kläger, und dies 
allein beweist von vornherein, dass noch ein ungeheurer Teil 
des ihrem Volke zugefügten Unrechtes ungetilgt aushaftet, 
ungesühnt durch jeden denkbaren Ausbruch von Vergeltung. 

Die hier vor Ihnen als Kläger erscheinen — hervorheben 
muss ich das, wenngleich wir seit anderthalb Jahrhunderten 
mit den Ruthenen in einem Reichsverband leben, herausschreien 
muss ich es in alle Welt, weil die Völker Österreichs so wenig 
Herz und Verständnis haben für Schicksal und Leiden ihrer 
österreichischen Mitvölker — die Ankläger von Sienkiewicz 
sind die Söhne eines der ärmsten, zu Boden gedrücktesten 
und bis vor kurzem ungenanntesten Bauernvölker Europas. 

Das ruthenische Volk kämpft einen verzweifelten, einen 
ungebärdigen Kampf zu seiner Erhebung aus menschenun¬ 
würdiger Armut, aus politischer und nationaler Niederhaltung. 
Der ruthenische Bauer, das sind 93 Prozent des ruthenischen 
Volkes, ist seines heimatlichen Bodens, seines ihm durch 
tausendjährigen Besitz zugehörigen Waldes, seiner Weide be¬ 
raubt, er muss um einen Hungerlohn in fremden Diensten 
frohnen, er findet nirgends sein Recht, ist täglich ausgesetzt 
der behördlichen Schikane und Gewalttat. Doch der Bauer 
erhebt sich, der nationale Geist hat dieses Volk ergriffen wie 
Sturmeswehen. Nach jahrhundertelanger tiefer Bedrückung steht 
der Bauer auf gegen polnisch-asiatische Despotie. Die Ru¬ 
thenen in Galizien, über drei Millionen Menschen, sind zur 
Besinnung, zum Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit und ihrer 
Kraft gekommen und keine Macht der Erde wird es verhin¬ 
dern können, dass dieses Volk das polnische Joch abschüttelt 
und zu Freiheit und Wohlstand gelangt. 

Und Ihr Standpunkt, meine Herren, zur Sache der Ru¬ 
thenen und zu unserem Streite, die wir eintreten für den nor¬ 
wegischen Dichter Björnson, welcher die Polen als Unter¬ 
drücker gebrandmarkt hat, darf kein ablehnender sein. Sie 
dürfen sich nicht sagen, was da jenseits der schlesischen 
Grenze sich abgespielt hat im finsteren Lande Galizien, was 
geht das uns an! Was sich abspielt im Lande Galizien, geht 
nicht nur die Betroffenen an, das geht uns alle an, und es 
ist mir eine Genugtuung sondergleichen, es den Herren Polen 
gründlich hereinsagen zu können. Wir haben es geradezu als 
eine glückliche Fügung des Schicksals anzusehen, dass von 
Zeit zu Zeit das Dunkel gelüftet wird, welches die galizischen 
Machthaber über ihr Land zu breiten verstehen, um dort 
schrankenlos und ohne jede Kontrolle herrschen zu dürfen, 
wie sie dies getan haben im historischen Königreiche Polen. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



332 


Vergessen Sie aber ausserdem nicht, dass dieses Land Galizien, 
dessen Geschehnisse uns heute beschäftigt haben, ein Land 
ist, welches im Laufe der Jahrzehnte aus unseren Steuer¬ 
geldern erhalten wurde, dass man aus diesem Lande unsere 
Beamten davongejagt hat, dass dafür aber Galizien, Gott sei’s 
geklagt, ein Beamten exportierendes Land geworden ist, dass 
es ein Land ist, welches uns so reichlich Minister schenkt 
und in welchem unsere Armee das Privileg besitzt, sich an 
den Wahlen zu beteiligen. Wenn wir also einmal mitreden 
dürfen in polnischen Sachen, verabsäumen wir dies ja nicht. 
Auf der Tagesordnung stehen galizische Dinge: Der Hunger¬ 
streik der ruthenischen Studenten. 

Meine Herren Geschworenen! Am 23. Jänner 1907 hat 
auf der Lemberger Universität ein ruthenischer Studentenauf¬ 
stand stattgefunden. 

Hiebei sind einige Mobilien des Hauses arg zu Schaden 
gekommen. Die Sache ist so schaudervoll nicht und nicht so 
bejammernswert. Seien wir froh, dass unsere Bürgerkriege 
auf den Universitäten zum Ausbruch kommen und dass Studenten 
sie bestreiten. Am 23. Jänner also war der Ausbruch und dann 
war eine Woche lang nichts. Die gekränkte polnische Nation 
hielt noch an sich, sie begnügte sich damit, in ihrer Presse 
die ruthenischen Jünglinge Haidamaken, Erbenkel der karpa- 
thischen Waldstrolche, Seeräuber vom Schwarzen Meer zu 
nennen und sich ansonsten schmeichelhaft über die ruthe- 
nische Jugend zu äussern. Der geplante Streich hing noch in 
der Luft, denn noch war der Reichsrat in Wien versammelt. 
Am 30. Jänner aber da wurde dieser Reichsrat geschlossen 
und jetzt war der Weg frei für nationale Rache. Es erfolgte 
jene Massenverhaftung der ruthenischen Studenten, welche 
beispiellos ist in der Geschichte von Österreich und ihres¬ 
gleichen nur hat in jenen Gefangenentransporten, in jenen 
Einkerkungen ganzer Ortschaften und Stände, mit welchen 
das russische Gewaltregiment die unterworfenen Völker in 
stetem Schrecken erhält. Um 4 Uhr früh erschien vor dem 
ruthenischen Studentenheim in der Supinskigasse eine grosse 
Polizeiabteilung bestehend aus 60 Mann, 15 Agenten, 6 Kom¬ 
missären, riss die schlafenden Studenten aus ihren Betten 
und verhaftete, was Menschenantlitz trug. Gleichzeitig wurden 
weitere ruthenische Studenten in ihren Privatwohnungen um¬ 
stellt und verhaftet. Endlich wurden Studenten, die in der 
Provinz bei ihren Eltern waren, von der Gendarmerie er¬ 
griffen und mit aufgepflanztem Bajonett durchs Land geführt. 
An die Gendarmeriepostenkommandos in ganz Ostgalizien 
wurde der folgende Befehl hinausgegeben: „Das Posten¬ 
kommando wird hiemit aufgefordert, den wegen Verbrechens 
der öffentlichen Gewalttätigkeit nach § 76 verfolgten N. N. 
sofort zu verhaften und dem gefertigten Gerichte zuzustellen.“ 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



333 


Der Verhaftung der ruthenischen Studenten war ausser 
den Verhetzungen der blindwütigen allpolnischen Presse, die 
an wahnwitzigem, gelbem Chauvinismus alles überbietet, was 
in dieser Richtung an Unbesonnenheit irgend geleistet werden 
kann, mancherlei vorausgegangen. Unmittelbar vor der Ver¬ 
haftung war eine Deputation polnischer Universitätspro¬ 
fessoren, jener Professoren, welche nicht nur Lehrer, sondern 
auch Führer ihrer Studentenhorden bei allerlei nationalen 
Exzessen sind, bei dem in Gott ruhenden Statthalter Grafen 
Potocki erschienen und hatte seinen Schutz gegen die ruthe¬ 
nischen Studenten angerufen. Graf Potocki, der allmächtige 
Satrap und Vizekönig von Galizien, welcher mit gleicher 
Schrankenlosigkeit über die politische Verwaltung, wie über 
die Justiz des seiner Herrschaft anvertrauten Landes dis¬ 
ponierte, hat den polnischen Patrioten seinen mächtigen 
Schutz nicht versagt und der Staatsanwalt trat in die Aktion. 

Die ruthenischen Studenten wurden also, 85 an der 
Zahl, in Haft genommen, obgleich nicht ein einziger der im 
Gesetze für eine Haftnahme geforderten Gründe im Falle der 
ruthenischen Studenten zutraf. Kein Mensch durfte behaupten, 
dass die Gefahr bestand, die ruthenischen Studenten würden 
die Flucht ergreifen, denn sonst hätten die Studenten in der 
Zeit vom 23. Jänner bis 1. Februar Gelegenheit und Frist 
genug gehabt in die weiteste Weite zu entkommen. Ausser¬ 
dem sind Studenten nicht landfremdes fluchtverdächtiges 
Volk, sondern vielmehr Leute, die stark gebunden sind an 
jene Orte, wo ihre Meldungsbücher geführt werden. 

Ebensowenig lag gegen die Studenten vor der Haft¬ 
grund der Verabredungsgefahr, da die Verhaftung eine ganze 
Woche nach vollbrachter Tat vollzogen wurde und somit 
reichlich Gelegenheit da war, ein vollkommenes Einver¬ 
ständnis aller Teilnehmer zu erzielen. Ebensowenig kam in 
Betracht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr, da es bei 
Massenverbrechen eine Wiederholungsgefahr, der Natur der 
Sache nach nicht gibt, weil das, was in einem Augenblicke 
der Empörung geschehen ist, vernünftigerweise nicht gleich 
gestellt werden kann einem Verhalten, das aus der bösartigen 
Veranlagung eines Charakters entspringt. 

Die in Haft genommenen Studenten wurden in finsteren, 
dumpfen, blos für fünf bis sechs Häftlinge bestimmten Ge¬ 
fängniszellen zu elf und auch zu zwölf zusammengepfercht. 
Es wurden ihnen schmutzige Lagerstätten angewiesen, die 
Gefangenen wurden von Ungeziefer geplagt, in den Zellen 
herrschte Stickluft. 

In dieser so gearteten Untersuchungshaft hatten sich 
die Gefangenen durch drei Wochen befunden, und obwohl 
die Strafprozessordnung vorschreibt, dass sämtliche im Straf¬ 
verfahren tätigen Behörden verpflichtet sind auf die möglichste 
Abkürzung der Untersuchungshaft hinzuarbeiten, ist während 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



334 


dieser drei Wochen der Haft die Untersuchung um keinen 
Schritt vorwärts gekommen. Trotzdem es möglich gewesen 
wäre, innerhalb 48 Stunden den Sachverhalt vollständig auf¬ 
zuklären, da die polnischen Zeugen der Vorgänge sich um 
die Zeugenschaft geradezu rissen, trotzdem die wichtigsten 
Belastungszeugen Universitätsprofessoren waren, Zeugen also, 
die sofort zur Hand waren, ist während dieser drei Wochen 
nichts zur Erhebung des Tatbestandes geschehen. Die ganze 
polnische Welt in Lemberg war bemüht und bereit, den 
Untersuchungsrichter bei seiner Arbeit zu unterstützen und 
Schuldbeweise gegen die Gefangenen zu sammeln, dennoch 
ist in der Untersuchung drei Wochen lang nicht das mindeste 
geschehen. Zahllose Denunziationen aus polnischen Univer¬ 
sitätskreisen sind dem Untersuchungsrichter zugegangen und 
dennoch machte die Untersuchung keine Fortschritte. Hin¬ 
gegen wurden den Gefangenen allerlei Beschränkungen auf¬ 
erlegt. Ein Telegramm an einen der Inhaftierten des Inhaltes, 
dass seine Mutter im Sterben liege, wurde vom Untersuchungs¬ 
richter mit einer blödsinnigen Begründung, Amtsvermerk ge¬ 
nannt, dem Adressaten nicht zugestellt. Die Erbitterung unter den 
Gefangenen war umso grösser, als sich unter ihnen solche 
Übeltäter befanden, die an den Demonstrationen unmöglich 
hätten teilnehmen können, da sie zur Zeit derselben über¬ 
haupt nicht in Lemberg waren. In das Gefängnis war die 
Nachricht gedrungen, dass die Absicht bestehe, die Studenten 
bis nach Vornahme der Reichsratswahlen, also bis Ende 
Mai, in Haft zu behalten. Da also ein Ende der ungerechten 
Haft nicht abzusehen war, entschlossen sich die Gefangenen 
zu einem Schritt, der ebenso ausserordentlich war, wie die 
Massregel der Masseneinkerkerung. Die Gefangenen traten 
ein, meine Herren, in jenen denkwürdigen Hungerstreik, 
welcher statthatte in der Zeit vom 20. bis 24. Februar 1907, 
auf welchen Hungerstreik die Augen von ganz Europa ge¬ 
richtet waren und dessen Wirkung, die Aufhebung der un¬ 
gesetzlichen Haft, Sie, meine Herren, gewaltig befördert haben, 
indem Sie sich organisierten zu jener öffentlichen Meinung 
Wiens, welche damals mit grosser Wucht sich erhob gegen 
polnische Niedertracht und polnische Unterdrückung. Ihre 
Empörung. über die brutale Einkerkerung, die damals ver¬ 
hängt worden war über die heutigen Kläger und ihre Leidens¬ 
genossen hat es vermittels der Presse zu Wege gebracht, 
dass sich die Kerkertore in Lemberg aufgetan haben, dass 
die Herren Polen wutschnaubend sich dazu entschlossen 
mussten, innezuhalten in der Vergewaltigung ihrer nationalen 
Widersacher. 

Die ruthenischen Studenten, welche den Hungerstreik 
vom Februar 1907 ins Werk setzten, haben ihren Feinden 
die Maske vom Gesicht herabgerissen, indem sie die Ver¬ 
nichtungsabsichten ihrer Unterdrücker an den Tag gebracht 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



335 


haben in ihrer äussersten Konsequenz. Der Heroismus im 
Dulden, wie er entwickelt wurde seitens der ukrainischen 
Studenten hat die Aufmerksamkeit der ganzen Erde auf die 
Vorgänge in Lemberg gelenkt und -das gibt dem Hunger¬ 
streik seine historische Bedeutung. Wenn sonst in Ostgalizien, 
wie dies täglich geschieht, ruthenische Bauern unter dem 
Scheine gerechter Züchtigung gefesselt und eingekerkert 
werden, da erhebt sich keine Klage über eine solche dem 
Bauern angetane Unbill, er muss sich in sein Schicksal fügen 
mit der Resignation des völlig Schutzlosen. Er unterwirft 
sich, denn: „Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit.“ 

„Ringsumher Lüge und Sklaverei und das geknechtete 
Volk schweigt.“ 

In dieser Lage voll Hoffnungslosigkeit befanden sich je¬ 
doch die gefangenen Studenten nicht. Dessen sind sich die 
Lemberger Machthaber erst bewusst geworden, als es zu spät 
war. Mag sein, dass die Gefangenen schwarz gesehen haben, 
dass sie die Rettungslosigkeit und Unerbittlichkeit ihrer 
Lage überschätzt haben, dass es überspannt war, das letzte 
und heroischeste Mittel ins Treffen zu führen, sicher jedoch 
ist, dass in den jungen Ruthenen, ehe sie den Beschluss 
fassten, durch ihren Hungerstreik ihre Bedrücker ad absurdum 
zu führen vor den Augen der Welt, lebendig geworden ist die 
Erinnerung an die jahrhundertelange Sklaverei, in welcher ihr 
Volk durch die polnischen Herren gehalten wird, dass sie bei 
ihren Gegnern, von denen sie wohl wissen aus Leben und 
Geschichte, dass sie fürchterlichen Ernst machen können, die 
Entschlossenheit erkannt haben, keineswegs nachzugeben und 
Nachsicht zu üben, sondern das Werk, den hervorgetretenen 
Widerstand mit aller Härte zu brechen, zu Ende zu führen. 
Und daher beschlossen sie den angebotenen Kampf aufzu¬ 
nehmen und ihren Standpunkt zu verfechten auf Leben und 
Tod. Und die Wirkung dieser Methode war wundervoll. 

Der Hungerstreik meiner Klienten hat 80 Stunden ge¬ 
dauert. Sie haben Mittwoch den 20. Februar abends zum letzten¬ 
mal Nahrung zu sich genommen und von Donnerstag den 
21. Februar angefangen die Nahrungsaufnahme verweigert. Unter 
den in Haft befindlichen Studenten befanden sich nicht nur 
gesunde, sondern auch kranke Leute, darunter Brustkranke 
und auch sie haben den Hungerstreik mit grosser Hartnäckig¬ 
keit und Zähigkeit und ohne dem Hunger nachzugeben, mit¬ 
gemacht. Trotz alles Zuredens des Aufsichtspersonales, trotz 
aller Lockungen der Nahrung, die den Studenten bei der Nach¬ 
richt vom Ausbruch des Hungerstreikes aus ganz Ostgalizien 
zukamen, haben sie im Hunger verharrt. Sie sind auch nicht 
zurückgewichen, als den meisten unter ihnen die Freiheit An¬ 
geboten wurde; mit dem Weiterhungern haben sie die Frei¬ 
lassung aller durchgecetzt. 

Digitized by Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



336 


Der Hungerstreik, das war die offene Drohung mit dem 
Massengrab, und wenn auch die galizische Verwaltung oft 
und gerne Leichen macht, eine Konzentration von 80 Leichen, 
das wäre lästig gewesen. Deshalb hat der Hungerstreik stark 
gewirkt und die Autorität der polnischen Behörde ist gewaltig 
ins Wanken geraten. Sofort nach Ausbruch des Hungerstreikes 
kam es zur ersten entscheidenden Untersuchungshandlung, 
zur Konfrontation aller Gefangenen mit den Belastungszeugen. 
Nach dieser Konfrontation beschloss der Untersuchungsrichter 
16 der Verhafteten zu enthaften. Diese 16 Freizulassenden er¬ 
klärten jedoch, dass sie sich weigern die Gefängnisse zu ver¬ 
lassen. Die freigelassene Gruppe hielt daran fest, dass sie nur 
gemeinsam mit allen übrigen auf freien Fuss gesetzt werden 
wolle und dass sie im Hungerstreik ausharre. 

Durch einen weiteren Beschluss der Ratskammer des 
Landesgerichtes sollten ausser den ersten 16 auch noch 40 Stu¬ 
denten gegen Kaution enthaftet werden, aber auch diese 40 er¬ 
klärten, dass sie das Gefängnis nicht verlassen,- sondern dass 
sie es vorziehen, bis zur Freilassung aller Gefangenen in Haft 
zu verbleiben. Als später die Ratskammer alle bis auf fünf 
und zwar ohne jede Kaution enthaften zu wollen erklärte, be¬ 
schlossen auch dieser Entscheidung gegenüber die Gefangenen 
im Hungerstreik auszuharren, bis sämtliche ihrer Genossen 
enthaftet seien. Nach mehr als 80stündiger Dauer endete Sonn¬ 
tag den 24. Februar nachmittags um 3 Uhr der Hungerstreik mit 
der Enthaftung sämtlicher Studenten. Der Hungerstreik also 
war es, welcher eine ungeheure Verplötzlichung der Unter¬ 
suchung herbeiführte und schliesslich die solenne Aufhebung 
der Haft. 

Mir als dem Vertreter der siegreichen Dulder steht es 
nicht an, ihre Tat zu preisen und zu verherrlichen. Ich sage 
nur das eine: Der Hungerstreik war eine wackere Tat! und 
ich teile Ihnen mit, dass diese Tat in den breiten Massen des 
ruthenischen Volkes einen ungeheuren Wiederhall gefunden 
hat. Als die Nachricht von der Enthaftung der Studenten ins 
Land drang, haben sich die Bauern auf dem Felde umarmt. Jeder 
Ruthene hat sich gesagt „Sie haben für uns gehungert“. Und 
wahrlich, die Studenten haben die Kraft ihres Volkes im Dul¬ 
den, in der Selbstverleugnung, in der Entschlossenheit für 
eine gerechte Sache das Leben wegzuwerfen, durch ihre 
denkwürdige Ausdauer bewährt. Und diese Tat meiner Klienten, 
die zu einer heiligen Erinnerung der ganzen Nation geworden 
ist, hat der Angeklagte Sienkiewicz verunglimpft, wohlwissend, 
dass er die Unwahrheit sprach und dass er mit seinen Worten 
die Kläger und ihren ganzen nationalen Anhang ins Herz treffe. 

Der Angeklagte hat zu seiner Verantwortung in Krakau 
gesagt, er habe die Kläger nicht beleidigen wollen, er habe 
an die Wahrheit der Beschuldigung, die Kläger hätten mit 
ihrem Hungerstreik eine Komödie aufgeführt, geglaubt. Das 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



337 


aber ist unwahr. Er konnte nicht daran glauben, und er war 
sich wohl bewusst, mit seiner Bemerkung über den Hunger¬ 
streik einen wohlgezielten Partherpfeil gegen die Kläger ab¬ 
geschossen zu haben. Ich kann dies aussprechen, weil ich 
es auch beweisen kann, denn der vorliegende Artikel des 
Herrn Sienkiewicz sagt deutlich darüber aus, wie es mit seiner 
Gutgläubigkeit beschaffen war. Dieser Artikel ist eine Muster¬ 
kollektion von bewussten Unwahrheiten, Verdrehungen und 
Falschheiten. Wir haben es mit einem jener Artikel zu tun, 
mit denen das Polentum sich vor dem Auslande schön macht, 
sich Qualitäten beilegt, die es niemals besessen hat, einem 
jener Artikel, dazu bestimmt, die traditionellen falschen Vor¬ 
stellungen Europas über den wahren Charakter polnischer 
Vergangenheit und Gegenwart lebendig zu erhalten. Wenn die 
Polen ihr Land Fremden vorzeigen, fremden Dichtern oder 
fremden Staatsmännern, so sind es immer Potemkinsche 
Dörfer, die der Irregeführte zu sehen bekommt. Land und 
Leute werden unterdrückt für das Auge des Beschauers, die 
breite Reversseite wird verborgen gehalten und was die cha¬ 
rakteristischen Bilder des Landes und der im Lande herr¬ 
schenden Ordnung darstellen sollen, ist daher bare Lüge. So 
ist es mit dem Artikel des Herrn Sienkiewicz. 

Erfunden ist, was er dort über die Passivität des Polen- 
tums gegen das Erstehen nationaler Bewegungen im Bereiche 
des ehemaligen Königreiches Polen sagt, erfunden ist, was 
er da erzählt über polnische Liebe, erfunden ist, was er sagt 
über die Lage des polnischen Bauerntums. Unrichtig ist, was 
er über Bannrechte erzählt. Unrichtig und erfunden ist alles, 
was er über die Lemberger Universitätsfrage zum Besten gibt. 

Sienkiewicz sagt, die Polen lassen die Litauer erstarken, 
sie sehen zu ohne sich dagegen zu stemmen, wie die ruthe- 
nische Nation wächst und zu nationalem Bewusstsein gelangt. 
Das ist nicht etwa blos ein Irrtum des Dichters. Der Dichter 
muss wissen, dass genau das Gegenteil davon der Fall ist, 
denn er selbst ist einer der Hauptwortführer und Apostel jener 
Ideen und Bestrebungen, mit welchen die Negierung, Ver¬ 
nichtung und Niedermetzelung, um in seiner Sprache zu reden, 
jener Völker verbunden ist, die im Bereich des einstigen Polen 
an die Machthaber dieses sogenannten Staates ihre frühere 
staatliche Selbständigkeit verloren haben. Er ist der ge¬ 
feierteste Wiedererwecker der polnisch-nationalen Phantasien, 
welchen die sogenannte jagellonische Idee entstammt, die da 
zum Inhalte hat, die Wiederaufrichtung eines Polen vom 
Schwarzen bis zum Baltischen Meere, die Wiedererrichtung 
des „durch die Rampen der Befehder“ geteilten Vaterlandes. 
Mit dieser Idee ist untrennbar und zugestandenermassen ver¬ 
bunden die Nichtanerkennung jener Völkermassen, welche 
auf dem Boden des ephemeren Polenstaates das Hauptkon- 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



338 


tingent an Bewohnerschaft ausmachen. Herr Sienkiewicz sagt, 
die Polen in Galizien hätten sich nie gegen das nationale 
Aufkommen und die nationale Gleichberechtigung des ruthe- 
nischen Volkes gesträubt! Ja hat denn Herr Sienkiewicz nie¬ 
mals etwas von galizischen Wahlen gehört, niemals davon 
gehört, dass die ruthenischen Bauern in Ostgalizien es sich 
gefallen lassen müssen durch polnische Grossgrundbesitzer 
im Landtage und im Reichsrate vertreten zu sein, niemals 
gehört, dass es den Ruthenen durch Bajonette und Gewehr¬ 
kolben unmöglich gemacht wird, ihre Wahlrechte auszuüben, 
dass sie durch niedrige Kniffe, durch Diebstahl aus den Wahl¬ 
urnen, durch Fälschung der Wahlresultate in verbrecherischer 
Weise um ihre nationale Vertreterschaft gebracht werden? 
Hat Sienkiewicz nichts gehört von der blutigen Niederkäm- 
pfung der grossen Wahlreformbewegung, welche das ruthe- 
nische Volk in Ostgalizien im Jahre 1906 ergriffen hat, als 
dies Volk mit einer Lebhaftigkeit, wie kein anderes Volk in 
der Monarchie nach dem ihm seine Befreiung aus dem pol¬ 
nischen Joche scheinbar verbürgenden allgemeinen Wahlrechte 
gegriffen hat? Hat er nichts davon gehört, wie mit allen 
Mitteln der Gewalt, der ungeschminktesten Brutalität, der Ein¬ 
kerkerung, der blutigsten Sekkaturen diese Wahlrechtsbewe¬ 
gung im Lande Ostgalizien unterdrückt worden ist? Hat Herr 
Sienkiewicz nichts gehört von den grossen galizischen Feld¬ 
arbeiterstreiks, die in den letzten Jahren das ruthenische Volk 
erschüttert haben? Von jener mächtigen Bewegung unter der 
ruthenischen Landarbeiterschaft, durch welche hunderttausende 
ruthenischer Landleute ihre Befreiung aus dem Frohndienst 
auf den Latifundien der ostgalizischen Grossgrundbesitzer an¬ 
strebten? Hat er auch nichts gehört von all jenen Greuel¬ 
taten, mittels welcher dieser Sklavenaufstand mit Unterstützung 
der österreichischen Armee niedergekämpft wurde? 

Herr Sienkiewicz spricht von polnischer Liebe. Er 
phantasiert davon, dass der Vertrag zwischen Polen und 
Litauen klingt wie ein Evangelium. Ja weiss denn Herr 
Sienkiewicz nicht, dass Liebe sprechen und an den Tag 
legen zweierlei sind, weiss er nicht, dass eine der Haupt¬ 
beschwerden gegen seine Landsleute gerade die ist, dass sie 
auf ihren Lippen haben der Liebe Honig, dass sie zu allen 
Zeiten trieften von gleissnerischer Höflichkeit und dass auf 
ihrem Herzensgründe lauert — die Falschheit? 

Der ruthenische Bauer, welcher um 40 Heller auf den 
Gründen seines polnischen Herrn arbeiten muss, welchem 
bei den, unter der Passivität und auch der Assistenz der 
österreichischen Behörden vollzogenen Auseinandersetzungen 
zwischen Herrn und Gemeinden seine Wälder und Wiesen 
durch schmähliche Ränke geraubt wurden, der weiss wenig 
von polnischer Liebe zu erzählen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



339 


Was Sienkiewicz über die Behandlung der Bauern durch 
die polnischen Herren erzählt, auch das muss ihm zur Zeit der 
Niederschrift als der historischen Wahrheit stracks zuwider¬ 
laufend bekannt gewesen sein. Sienkiewicz meint, den Bauern 
in Polen sei es nicht schlechter ergangen in den Jahr¬ 
hunderten als den Bauern in Europa überhaupt. Kein Fall 
von Bauernverkauf und Bauerntötung sei der polnischen 
Geschichte bekannt. Ja hat Herr Sienkiewicz nicht gelesen, 
was der berühmte Polenreisende, der Engländer Coxe über 
den polnischen Bauern des 18. Jahrhunderts geschrieben 
hat? Weiss er nicht, was der Pole Staszic darüber schreibt? 
Hat er nicht die Memoiren des Grafen Starzenski gelesen? 
Weiss er nicht, dass Staszic ausruft: „Wenn ich an den 
polnischen Bauern denke, so stehen vor meinen Augen 5 /e des 
polnischen Volkes, ich sehe Millionen unglücklicher Menschen, 
halbnackt, bedeckt mit Fellen aus rauhem Tuch, von Schmutz 
und Rauch entstellt, mit tiefliegenden Augen, mürrisch, ver¬ 
dummt. Sie haben mehr das Aussehen von Tieren als von 
Menschen, ihre gewöhnliche Speise ist Brot mit Spreu ge¬ 
mischt, ein Viertteil des Jahres aber nur Kräuter, sie trinken 
Branntwein, wohnen in Erdhütten, wohin keine Sonne durch¬ 
dringt. Erschöpft von der Tagesarbeit schläft dort der Haus¬ 
vater mit seinen nackten Kindern auf faulem Stroh, auf dem¬ 
selben Lager, auf dem seine Kuh mit ihrem Kalbe steht und 
das Schwein mit ihren Ferkeln liegt.“ 

Der polnische Bauer wurde von seinem Herren nicht 
getötet noch verkauft! Ja hat Herr Sienkiewicz, der Autor 
von „Mit Feuer und Schwert“ keine Ahnung davon, wie 
die polnischen Herren in Friedenszeiten, noch zu Anfang des 
verflossenen Jahrhunderts in der Ukraine mit ihren ruthe- 
nischen Untertanen verfahren sind? Weiss er nicht, wie der 
Herr seine Bauern erbarmungslos gepeitscht hat, hat er nie¬ 
mals von jenem Nikolaus Potocki, genannt Herr Kaniowskyj, 
gehört, der die alten Weiber auf Bäume steigen Hess, um 
sie von dort herabzuschiessen? 

Ich sage, der Artikel des Herrn Sienkiewicz strotzt von 
bewussten Unwahrheiten. Oder sollte Herrn Sienkiewicz 
vielleicht unbekannt sein, dass alles das, was in seinem 
Artikel über den Schnaps in Galizien steht, über die Bann¬ 
rechte der Herren, total erfunden ist? Weiss er nicht, dass 
das sogenannte Propinationsrecht in Galizien bis auf den 
heutigen Tag besteht, dass der ausschliessliche Ausschank 
dieses diabolischen Getränkes, von welchem Björnson sagt, 
die polnischen Herren bereiten es ihren Bauern nach Satans 
intimstem Rezept, heute trotz Ablösung, trotzdem das arme 
galizische Volk seinen Herren für die Aufgabe dieses Rechtes 
nicht weniger als 66 Millionen Gulden bezahlt hat, nach wie 

Digitized by Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



340 


vor im Wege der Propinationsersteigerungen von den pol¬ 
nischen Grafen ausgenützt wird? Weiss er nicht, welche 
unglückselige Rolle dieses Recht noch heute im Lande 
Galizien spielt, wo die Bevölkerung zum Schnapskonsum 
geradezu angehalten wird, weil das Gros der Landesbedürf¬ 
nisse aus dem Ertrage der indirekten Schnapsabgabe be¬ 
stritten werden muss? Weiss er nicht, dass grosse polni¬ 
sche Magnaten wie zum Beispiel der ehemalige österreichische 
Ministerpräsident Graf Kasimir Badeni Propinationsrechte 
pachten, also noch immer partizipieren an dem auf das Land 
übergegangenen ausschliesslichen Schankrecht? Der Träger 
des Bannrechtes hat seinen Namen gewechselt. Es ist. nicht 
mehr der einzelne Herr, sondern es ist der in der Verwaltung 
der polnischen Magnaten stehende Propinationsfond, der 
dieses Bannrecht ausübt. An der Spitze des Propinations- 
fondes aber steht der Statthalter von Galizien, der Statthalter 
des Propinationsfondes auf Erden. 

Und ebenso ist unrichtig, was Herr Sienkiewicz über 
die polnischen Kriege und Revolutionen sagt, unrichtig, was 
er an Daten über die Lemberger Universitätsfrage beige¬ 
bracht hat. Damit jedoch will ich Sie nicht langweilen. Un¬ 
richtig ist alles, was Herr Sienkiewicz in der Nachbarschaft 
und im Zuge jenes Satzes sagt, den wir unter Anklage ge¬ 
stellt haben. Es ist unrichtig, dass die Studenten nur auf 
einige Tage ins Gefängnis gesteckt wurden, unrichtig ist, 
dass sie bei Wein und Beefsteaks einen Hungerstreik zele¬ 
brierten — nehmen doch diese armen Bauernsöhne Wein 
und Beefsteaks nicht einmal in ihren besten Zeiten zu sich 
— unrichtig ist, dass sie die Universität überfallen haben in 
Abwesenheit der polnischen Studenten, und einen schutzlosen 
polnischen Professor überfielen. Wahr ist vielmehr, dass die 
polnischen Studenten dem Überfall keinerlei Widerstand ent¬ 
gegengesetzt haben, wahr ist, dass der geprügelte Professor 
von einem Kollegen, einem polnischen Professor, der neben 
ihm stand, während er misshandelt wurde, keinerlei Schutz 
erhielt, von einem Kollegen, welcher ein Riese von Gestalt 
war. In dem Prozesse gegen die ruthenischen Studenten 
haben wir diesen hilfreichen Kollegen als Zeugen hier gehabt. 
Der Mann ist von dem Äussern eines polnischen Heidenaus 
den Romanen von Sienkiewicz, eines jener Helden, angesichts 
welcher, wie Herr Sienkiewicz dies immer so meisterhaft zu 
schildern weiss, ganze Kosakenbanderien sich auflösen. 

Ich sage also, kein Glauben ist beizumessen der Ver- 
anwortung des Angeklagten, er habe nicht beleidigen wollen, 
er habe an die Wahrheit seines Vorbringens geglaubt, denn 
er nimmt es mit der Wahrheit überhaupt nicht genau, er 
phantasiert, er entstellt die Wahrheit für seine Zwecke. Ich 
sage weiter, was die Kläger mit ihrem Hungerstreik voll- 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

SNDIANA UNIVERSITY 



341 




bracht haben, ist ein Sanktuarium ihrer Nation geworden, 
und sie verdienen es, in diesem, unter Entbehrungen er¬ 
worbenen Charakter, geschützt zu werden gegen frivole Ver¬ 
unglimpfung. 

Ich bitte Sie daher meine Herren Geschworenen die an 
Sie gestellte Schuldfrage einstimmig zu bejahen und ich bitte 
Sie darum auch npch aus einem ganz besonderen Grunde. 

Als nach der Teilung Polens ein Teil des ruthenischen 
Volkes unter österreichische Herrschaft und Verwaltung ge¬ 
kommen ist, da hat dieses Volk aufgeatmet und grosse 
Hoffnungen sind aufgestiegen in dieser entrechteten Bauern¬ 
masse. Wie eine Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Ordnung 
und Recht ist es über sie gekommen. Die Verwaltung, welche 
die damalige österreichische Zentralregierung nach Galizien 
verlegt hat, hat wirklich gegenüber dem polnischen Regi¬ 
ment, das bis dahin diese Länder umstrickt hielt, Ordnung, 
Rechtssicherheit und Schutz für den Bedrückten gebracht. 
Die ruthenische Bevölkerung hat grosses Zutrauen, blinde 
Zuversicht zu diesen Trägern der Ordnung und Gesetzlich¬ 
keit gefasst. Doch das Regime in Galizien hat gewechselt. 
Zwischen den polnischen Magnaten und den massgebenden 
Faktoren in Österreich ist ein unseliger Ausgleich geschlossen 
worden. Der Einfluss der österreichischen Regierung in Ga¬ 
lizien wurde immer geringer, bis es die Polen durch die 
Verschacherung ihrer Stimmen an die jeweilige Regierung 
verstanden haben, das Land vollständig in ihre Gewalt zu 
bekommen, und die deutschen und tschechischen Beamten, 
welche das bischen Kultur, das Galizien heute hat, mitge¬ 
bracht haben, davon zu jagen. 

Trotz dieser veränderten Lage lebte bis vor Kurzem in 
den durch diese Vorgänge der polnischen Herrschaft ausge¬ 
lieferten Ruthenen noch immer der Glaube an eine aus Wien 
■ zu erwartende Hilfe; sie glaubten noch immer, dass Wien eine 
Instanz sei gegen die tolle Willkürlichkeit der polnischen 
Verwaltung. In letzter Zeit jedoch, da ist eine Wandlung der 
ruthenischen Volksstimmung eingetreten. Das Volk glaubt sich 
von Österreich verlassen, es verzweifelt daran, irgend welche 
Bundesgenossen in den. österreichischen Ländern zu haben 
und es muss zur Selbsthilfe greifen, um jenes Mindestmass 
von Ordnung und Gesetzlichkeit zu gewinnen, ohne welches 
ein menschenwürdiges Leben unmöglich ist. 

Aber wenn auch die ruthenischen Bauern an die Ge¬ 
rechtigkeit und Hilfe der österreichischen Zentralbehörden, 
an ihr Eintreten für die Befolgung der im Staate geltenden 
Gesetze zu glauben verlernt haben, so glauben sie noch 
immer an das unerschütterliche Rechtsgefühl des deutschen 
Volkes in Österreich. Und dieses Vertrauen, meine Herren, 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 





ifty , 






— 342 - 




ist von ungeheurer verpflichtender Kraft. Sie dürfen das in 
Sie von einem fernen Volksstamme gesetzte Vertrauen nicht 
täuschen, Sie müssen den jungen Ruthenen beweisen, dass 
das deutsche Volk in Österreich allzeit die Sache des Rechtes 
ergreift, dass es nichts gemein haben will mit Willkür und 
asiatischer Völkerknechtung. Verschaffen Sie den Klägern die 
verdiente Satisfaktion und sprechen Sie den Angeklagten 
schuldig. 



Soeben erschien 

im Verlage von C. W. Stern eine Broschüre unter dem Titel: 

Der Neopanslavismus. 

Von Wladimir Kuschnir. 

Inhalt: I. Vom alten zum neuen Kurs im Panslavismus. 
II. Der polnische Panslavismus. III. Der russisch-polnische 
Ausgleich. IV. Schlussbetrachtung. Anhang: Der Kampf 
gegen das Ukrainertum. 

== Preis 50 Heller. ===== 

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen sowie in der Administration 
der Ukrainischen Rundschau — in letzterer auch gegen Einsendung 

von Briefmarken. 


Bgitjzed by 


Google 


• Original fro-m 

INDIANA UNIVEF 



Lemberg, Rus- 
kagasse 


Eigenes Haus. 


„Dnisier 


ii 


Die einzige ruthenische Versicherungsgesellschaft. 
= Gegründet 1892. 11 ■ 


Versichert Gebäude, Mobilien, Getreide, Futter gegen Brandschaden, 
sehr mässige Prämien; verteilt den Reingewinn unter die Mitglieder als 
Rückzahlung; in den letzten drei Jahren betrug diese Rückzahlung 8°/«. 


Die Entschädigungen werden sehr prompt ausgezahlt. In den letzten zehn 
Jahren hat die Gesellschaft in 6064 Fällen im Ganzen 3,187.258 Kronen 

gezahlt. 

Bei Anleihen werden die Polizzen des »Dnister« von der Landesbank 
und von den Sparkassen akzeptiert. 


„Dnister“ 


vermittelt die Lebensversicherung bei der 
Krakauer Lebensversicherungsgesellschaft und 
tritt einen Teil der Provision für die ruthe- 
nischen Wohltätigkeitszwecke ab. 




Zcitungs-nacbrichtcn« 

in Original-Ausschnitten 

über Industrie, Handel, Kunst, Politik, Wissenschaft, Lite¬ 
ratur, sowie über alle sonstigen Themata liefert zu 
- - massigen Preisen das - - 

xiMm-tonn jidolf Scbustcrmann 

BERLIN SO., Rungestrasse 25/27. 

- Illustrierte Broschüre, Beferem« gratis und franko. - 



Digitized by 


Gck igle 


Original frurn 

INDIANA UNfVERSITY 



344 



An die Kunstfreunde! 

Das ukrainische Volk besitzt keine grossartigen Handels¬ 
magazine und blüht auch bei ihm keine Weltindustrie, 
aber es ist fähig Sachen zu erzeugen, die infolge ihrer 
hübschen und geschmackvollen Ausführung und künst¬ 
lerischen Form die schönsten Fabrikate überragen. 

TT/ilr7/v««r7svntfvnic!Q/\ beschlagen mit verschiedenfarbigen 

Korallehen in Dessins, wies 

Teller im Preise von 10—100 K 
Rahmen verschiedener Grösse von 10—120 K 
Spazierstöcke, axtförmig, von 10—100 K 
Lineale von 5 K aufwärts 

Federstiele von 1—20 K 
Papiermesser von 150—3 K 
Fässchen zu 80 und 40 K u.a. 

Korallchenerzeugnisse, < ‘ e “ i, ‘ ier ‘’ 

Uhrketten für Herren von 2—5 K, für Damen zu 6 K 
Gürtel von 10 bis 100 K 

Haar- und Halsbänder zu 2, 3 u. 5 K. 

TAnarTnmvnicQc (Majolika in verschiedenen Dessins, volbs- 
A Ullül /HJUglllSM; tfimliche Motive): 

Blumenvasen von 5—100 K 
Wandteller von 2—30 K 

ÄSOhenbecher und Wasohbeoken zu verschiedenen Preisen.. 

Stofferzeugnisse 

Oestickte Hemden von 12—30 K 
,, Kravatten zu 4 und 5 K 

,, Handtücher von 6 K aufwärts 

„ Tischdecken von 30 K aufwärts 

Huznlensohürzen von 6—20 K 
Huzulische Teppiche von 30—50 K. 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pro Stücke 

Zu beschaffen durch die Firma 

„Sokilskyj Bazar“, 

Gesellschaft für Handel und Industrie in LEMBERG 

Ruskagasse Nr. 20 (Galizien, Österreich). 



Digitized by 


Gck igle 


QTQTQTQTQTQTQTQTQI 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 


Ukrainische 

Rundschau. 

Herausgeber und Redakteur: (U. Kuschnir. 

Ul. 3abrgang. 190$. Dummer $. 

(Flachdruck sämtlicher Artikel mit genauer Quellenangabe gestattet.) 


Eilt freundeswort an die Rutbenen. 

Vom Reichsratsabgeordneten E. Pernerstorfer. 

Die zentrale Frage Österreichs ist das Nationalitäten¬ 
problem. Seine Lösung ist kaum angebahnt. Das allgemeine, 
gleiche Wahlrecht hat nur erst eine, und zwar die wichtigste 
Vorbedingung geschaffen, um überhaupt die Möglichkeit her¬ 
zustellen, das Problem deutlich zu sehen. Man kann wohl 
sagen, erst im neuen Parlamente haben die Nationalitäten 
Österreichs eine sie vollständig darstellende Vertretung ge¬ 
funden. Ohne Bevorzugungen und Ungerechtigkeiten ist es 
dabei freilich nicht abgegangen. Davon wissen die Ruthenen 
ein trauriges Lied zu singen. Trotzdem haben auch sie alle 
Ursache, den heutigen parlamentarischen Zustand dem 
früheren vorzuziehen. Im Wesen gilt aber für sie auch heute, 
was von ihnen durch Jahrzehnte gegolten hat: sie sind von 
allen Nationen Österreichs die am meisten unterdrückte. Aber 
immerhin sind sie durch ihre parlamentarische Vertretung in 
die Lage versetzt, nunmehr den Kampf für ihr Volk mit ungleich 
besseren Waffen führen zu können, als vorher, wo sie, un¬ 
beachtet und verfolgt, schütz- und waffenlos, in einem Zu¬ 
stande politischer und sozialer Rechtlosigkeit fast nichts 
vermochten, als die Luft mit rührenden Klagen zu erfüllen. 
Mit Klagen, die man im In- und Auslande nicht hörte oder 
nicht hören wollte. Das ist jetzt doch anders geworden. 
Heute tönt ihre Stimme, die früher verhallte. Heute weiss 
Österreich und fängt das Ausland an zu wissen, dass im 
Osten Galiziens ein Volk lebt, das nach Luft und Atem ringt. 
Ein Volk, zwar in Armut lebend, aber nicht minder begabt, als 
irgend ein anderes der Völker in Österreich. Ein Volk, das, 
soviel ich urteilen kann, manche Potenzen in sich birgt, die 
sich betätigen wollen und sollen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 






346 


Darf ein Mann, der, wie ich, schon vor Jahren seiner 
tiefen Sympathie mit den Ruthenen im Privilegienparlamente 
Ausdruck gegeben hat, vielleicht auch ein Wort zum gegen¬ 
wärtigen Stande der ruthenischen Frage sagen? Ich täte es 
nicht, wenn ich nicht von der Redaktion der „Ukrainischen 
Rundschau“ dazu aufgefordert worden wäre. Ich tue es nur, 
weil ich überzeugt bin, dass die Ruthenen in mir einen auf¬ 
richtigen Freund ihres Volkes sehen, der ihrer nationalen und 
kulturellen Entwicklung mit dem grössten Interesse und mit 
innerer Anteilnahme folgt. 

Missmutig sehen die Ruthenen auf das erste Jahr des 
neuen Parlamentes zurück. Sie können die bittere Empfindung 
nicht los werden, dass sie noch immer nicht als Gleich¬ 
berechtigte gewertet werden, dass sie auch heute noch das 
Aschenbrödel unter den österreichischen Nationen sind. Die 
Zentralregierung hat nicht aufgehört, auf Seite der galizischen 
Schlachta zu stehen. Insbesondere hat sie die Haltung der 
galizischen Landesregierung gelegentlich der Landtagswahlen 
erbittert. Jedenfalls war es ein starkes Stück des Statthalters 
Potocki und seiner Parteigenossen, bei. den Wahlen die 
Russophilen zu unterstützen. Und das mit der Genehmigung 
oder doch unter stillschweigender Zulassung der Zentral¬ 
regierung! Ein Schauspiel von überwältigender Komik, wenn 
es nicht so dumm, verräterisch und beschämend gewesen 
wäre. Dabei die alte Behandlung der ruthenischen Bevöl¬ 
kerung, gleichgiltig, ob sie panrussisch oder ukrainisch ge¬ 
sinnt war. Wenn die Sache nicht so traurig wäre, könnte 
man sagen, dass das einzige versöhnende Moment darin ge¬ 
legen war, dass dieselbe Behandlung den polnischen Bauern 
zuteil wurde. Den Abschluss dieser abscheulichen Phase 
bildete die Ermordung des Grafen Potocki. Ein Jüngling, 
dessen Herz zusammenkrampfte beim Anblick des Leidens 
seines Volkes, greift zur Waffe. Es genügt nicht, die Tat zu 
verurteilen. Es ist mindestens ebenso wichtig, sie zu ver¬ 
stehen. Manche Anzeichen sind vorhanden, dass auch die 
Machthaber einzusehen scheinen, dass die Tat Siczynskis 
keiner gemeinen Gesinnung entsprungen ist und so ist zu 
hoffen, dass ihm das Schicksal Sands erspart bleiben wird. 
Seine Hinrichtung wäre schrecklich. 

Trotz alledem und alledem — die Ruthenen, die alles 
erduldet haben durch Jahrzehnte hindurch, haben jetzt 
weniger als je das Recht, zum Terrorismus zu greifen. Sie 
haben die Tribüne des Parlamentes und diese Tribüne ist 
nicht nur eine österreichische, sie ist eine europäische 
Tribüne. Hier müssen sie mit Würde und nie ermüdendem 
Eifer für ihr Volk kämpfen. Sie dürfen sich nicht entmutigen 
lassen, wenn die Erfolge langsam und in geringem Masse 
kommen. Sie mögen doch bedenken, wie die österreichische 
Arbeiterschaft, die die grosse soziale Bewegung der Gegen- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



347 


wart repräsentiert, seit 1868 gekämpft und gelitten hat. Auch 
sie hat ihre inneren Krisen gehabt, wie eine solche auch 
heute bei den Ruthenen zu bestehen scheint. Sie hat schwere 
Zeiten durchlebt und sich schliesslich doch durchgerungen. 
Der Terrorismus ist die Verzweiflung. So viel auch die 
Ruthenen ein Recht zur Klage haben — noch ist kein Grund 
zur sinnlosen Verzweiflung da. Wenn sie im Parlamente 
für die gerechte Sache ihres Volkes kämpfen, werden sie 
immer die Sozialdemokratie an ihrer Seite haben. Wie wert¬ 
voll diese Hilfe für sie ist,, das haben sie selbst bekundet 
bei der jüngsten Rede des Abgeordneten Daszynski über die 
ruthenische Frage. 

Vielleicht hätten die Ruthenen mehr erreichen können, 
wenn sie sich der Regierung bedingungslos zur Verfügung 
gestellt hätten. Sie konnten es nicht, weil die Regierung be¬ 
dingungslos mit der galizischen Schlachta gegangen ist und 
geht. Es wäre aber auf jeden Fall ein verhängnisvoller 
Fehler, wenn die Vertreter eines aufstrebenden Volkes sich 
irgend einer österreichischen Regierung, wie wir sie auf 
Jahre hinaus haben werden, dienstfertig anbieten würden. Nur 
im Kampfe für die Freiheit und nur durch die Freiheit kann 
ein Volk stark und mächtig werden. Die Freiheit kann in 
Österreich aber nur im Kampfe gegen die Regierung ertrotzt 
werden. Es muss konstatiert werden, dass die Ruthenen im 
österreichischen Parlamente bisher allen reaktionären Strömun¬ 
gen gegenüber sich tapfer gehalten haben. Sie haben nichts 
von der Gunst der Mächtigen und alles von ihrer eigenen 
demokratischen Rechtschaffenheit; ihrer Entschlossenheit und 
Energie zu erhoffen. So können sie ein wertvolles Instrument 
im österreichischen Völkerkonzert werden. 

Ich hasse keine Nation, aber ich liebe ganz besonders 
die Ruthenen, dieses Volk mit dem merkwürdigen Gemisch 
von Kraft, Weichheit und Versonnenheit und gerne möchte 
ich es erleben, dass auch ihnen endlich eine mildere Sonne 
leuchte. 


Der ncopatttlwismtu. 

Von Wladimir Kuschnir. 

(Schluss). 

ITT. Der rus$jed)>polHi$che Ausgleich. 


Die Präliminarien des russisch-polnischen Ausgleiches sind 
während des Besuches der slavischen Politiker aus Österreich in 
Petersburg unterschrieben worden. Aber die Vorbereitungen dazu 
waren schon von langer Hand getroffen worden. War doch auch vor 
allem die von den Polen forzierte Wahl von Russophilen in den Wiener 

1 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



348 


Reichsrat eine Angabe für den Ausgleich. Der „russisch-nationale" 
Petersburg-Pilger, Abgeordneter Hlebowickij, der sich nicht scheute, 
im österreichischen Parlamente die galizischen Wahlmissbräuche rein¬ 
zuwaschen, erschien in der Residenz des weissen Zaren im Charakter 
des Vertreters (der „galizischen Kleinrussen“ und als improvisierter 
Vermittler zwischen den Russen und Polen, und war seine erste Rede 
während der dortigen slavischen Tage der Frage der russisch-polnischen 
Annäherung gewidmet. Als er nebenbei gegen die das Polentum in 
Ostgalizien bekämpfenden Nationalruthenen losging und die Unter¬ 
drückung der Ruthenen durch die Polen in Abrede stellte, wurde ihm 
freilich von russischer Seite selbst gründliche Abfuhr zuteil. 

Nichtsdestoweniger bedeuten Hlebowickij und Genossen das 
teure Pfand der russisch-polnischen Verständigung. 
Dieselbe soll im Zeichen des Kampfes gegen den gemeinsamen Feind 
zuwege gebracht werden. Dieser gemeinsame Feind sind die Ukrainer. 
Der Kampf, welcher von den beiden Gegnern des Ukrainertums seit 
Jahrhunderten geführt wird, erlebte nun bei den Polen seine neueste 
Phase in der Unterstützung der russophilen, beziehungsweise russisch¬ 
nationalen Partei in Galizien gegen das Nationalruthenentum, Ukrai- 
nertum. Die Unterstützung des Russophilismus bedeutet für die Polen 
einen Nutzen deswegen, weil sie eine Spaltung im Ruthenentum, 
wenigstens pro foro externo (in Wirklichkeit Hesse sich diese Spaltung 
bei den Ruthenen infolge verschwindenden Anhanges der Partei nicht 
verspüren) hervorrufen; aber das Geschäft lassen sich diese 'Herren 
doppelt bezahlen, indem sie auch der russischen Regierung eine 
Rechnung vorlegen. Wird ja russischerseits als die erste Bedingung 
des Vertrages die Anerkennung und Förderung der russischen Nationalität 
gegen ruthenische Separatisten genannt. Tagtäglich können wir dies¬ 
bezügliche Ergüsse in russischen Blättern lesen. So ruft der Bruder 
des Ministerpräsidenten, der Publizist Stolypin, die Brüder-Polen 
auf, „sich in eine kulturelle Gemeinde mit den Russen zu vereinigen“, 
um mit gemeinsamen Kräften „die in ihrer Entwickelung zurückge¬ 
bliebenen Ukrainer, welche eine Brut der Anarchie und 
Zersetzung vorstellen,“ zu vernichten. 

Denselben Ton schlägt der polnische Panslavistenführer Professor 
Zdziechowski aus Krakau in der russischen Zeitschrift „Moskowskij 
Jezeniedielnik“ an, indem er schreibt, das Ukrainertum sei durch¬ 
drungen von einem „revolutionär-terroristischen Natio- 
n a 1 i s m u s, welcher für die polnische Kultur und den polnischen 
Besitzstand gleich gefährlich ist, wie für den russischen Staat.“ Mit 
Rücksicht darauf ruft der Krakauer Professor die Russen zur Eintracht 
und Annäherung an die Polen auf der Basis des Kampfes gegen den 
gemeinsamen Feind an. Das erste Entgegenkommen solle auf 
galizischem Boden bezeigt werden. Für die Unterstützung des 
Russismus in Ostgalizien möge man russischerseits auf die von der 
Regierung geplante Abtrennung der ukrainischen Teile Kongresspolens 
verzichten 1 . . . 

Entsprechend den polnischen Wünschen meint der „progressive“ 
Panslavist, Professor P o g o d i n, die erste Pflicht der Polen und 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



349 


Russen sei es, im Interesse des Panslavismus die Ukrainer zu be¬ 
kämpfen, wofür er seinen Landsleuten zurät, von der Absonderung 
der ukrainischen Provinzen Kongresspolens vorläufig abzusehen. . . . 
Das »Nowoje Wremja*, welches zwar gar nicht gewillt ist, auf 
die ukrainischen Teile Kongresspolens zu verzichten, plaidiert dafür 
umso eindringlicher für die russisch-polnische Verständigung auf der 
Grundlage des Panslavismus, aber mit dem Vorbehalt, wenn die Polen 
es zu ihrer Pflicht machen, das Ukrainertum, welches das „Haupt¬ 
hindernis der russisch-polnischen Verständigung" 
bildet, zu vernichten. Damit stehen die folgenden Äusserungen des 
Blattes anlässlich der Ernennung des neuen Statthalters für Galizien 
im Zusammenhang: „Wie der neue Statthalter das Werk führen wird, 
das wird die nächste Zukunft zeigen. In diesem Augenblick kann gesagt 
werden, dass diese Frage keineswegs nur eine lokale Bedeutung hat, 
sondern dass sie vielmehr mit der Grundfrage der russisch-polnischen 
Beziehungen eng verknüpft ist. Ob die Polen die Einheitlich¬ 
keit des russischen Volkes anzuerkennen gewillt 
sind, wird vor allem die Tätigkeit des neuen galizi- 
schen Statthalters zeigen. Ohne Zweifel wird diese Tätigkeit 
nicht ohne Einfluss auf den weiteren Gang der russisch-polnischen 
Beziehungen bleiben" . . . 

Wie aus den angeführten Äusserungen von beiden Seiten klar 
hervorgeht, soll der russisch-polnische Ausgleich, anerkanntermassen 
die Grundbedingung der neuen panslavistischen Aktion, auf Kosten 
der Ukrainer geschehen. Zum erstenmale vereinigen sich die bisher 
verbissenen Gegner gegen den ukrainischen Feind, den bis jetzt immer 
jeder auf eigene Faust bekriegte, um ihn nun endgiltig zu vernichten. 
Die Russen im Namen der Einheitlichkeit des allgemeinrussischen 
•Volkes, die Polen im Namen des historischen Polen. 

Bei Betrachtung des Zustandekommens des russisch-polnischen 
Ausgleiches wird man an die bekannten Reden der polnischen Ver¬ 
treter in den österreichischen Delegationen erinnert, in denen sich 
dieselben für die Anlehnung Österreichs an Frankreich äusserten. Dies 
rief damals allgemein grosse Verwunderung hervor, und die Wiener 
Presse beeilte sich, den Herren Polen eine Lehre zu erteilen, dass 
ja hinter Frankreich jener Staat stehe, welcher für die Polen eine 
hundert Jahre lange nationale Leidensgeschichte bedeute. Die Herren 
Dzieduszycki und Glombinski hatten damals allen Grund, sich ins 
Fäustchen zu lachen über das prächtige Schnippchen, welches sie da 
gediegenen Politikern schlugen. 


TU. $<Dl«$sbctrad)f«»0. 

Worin liegen nun für die einzelnen slavischen Völker die Gründe, 
welche für ihr Mittun an der panslavistischen Aktion eine Erklärung 
abgeben können ? Bei den Russen braucht man nicht lange nach ihnen 
zu suchen, da liegen sie klar genug auf der Hand, für sie ist der 
Panslavismus die Bürge für die Einheitlichkeit aller Reussen und stellt 
weitgehende Eroberungspläne in Aussicht. Ein auf das gesamte Slaven- 

Digitized by Gougle 


Original fram 

INDIANA UNfVERSITY 



tum gestütztes Russland sichert noch mehr seine Position gegenüber 
Deutschland. Die Sympathien aller Slaven sind ihm auch für die ge¬ 
wünschte Lösung der Balkanfrage mit Ausserachtlassung Österreichs 
und Deutschlands notwendig und wäre ein Krieg Russlands, welcher 
die Sympathien aller slavischen Völker auf seiner Seite hätte, gegen 
Österreich eine Spielerei. In den von uns zitierten Ausführungen er¬ 
örtert dies ja das „Nowoje Wremja“ mit lobenswerter Aufrichtigkeit. 

— Die Tschechen und Slovenen, denen es nie im Traume einfällt, 
unter die Obhut Russlands gelangen zu wollen, wo es ihnen jedenfalls 
schlimmer ginge, als in Österreich, halten den Panslavismus für einen 
Schreckpopanz gegenüber den Deutschen, und das Anwachsen der 
panslavistischen Idefe, besonders bei den Tschechen, findet in dem 
fortwährenden Kampfe mit ihren deutschen Gegnern leicht eine Er¬ 
klärung. Die beiden Völker sind Anhänger der austroslavischen Rich¬ 
tung im Panslavismus, als dessen Sinnbild der Toast auf den öster¬ 
reichischen Kaiser während der Petersburger Tage zu betrachten ist. 

— Bei den slavischen Staaten am Balkan sind wiederum die Sachen 
im allgemeinen anders gestaltet, nachdem hier die offiziellen Beziehungen 
den Ausschlag geben. Ein antigermanischer Panslavismus kommt hier 
weniger in Betracht. 

Ganz eigenartig ist die Lage bei den Polen, welche auf der 
einen Seite einer deutschen, auf der anderen einer russischen Gefahr 
ausgesetzt sind. Noch ist es nicht lange her, dass die Polen bestrebt 
waren, einen Ausgleich mit Preussen zu machen, der sich nach der Natur 
der Dinge gegen Russland hätte kehren sollen. Wie wenig slaven- 
freundlich die Polen gesinnt sind, möge auch daraus erhellen, dass 
sie in Österreich noch vor etwa zwei Jahren, nach Durchführung der 
neuen Wahlreform, als durch die Zeitungen die Märe von einem 
slavischen und einem deutsch-romanischen Block ging, ganz ernste 
Bemühungen zur Schaffung einer deutsch-polnischen Majorität machten 
(vergl. die diesbezügliche Enquete in der „Polnischen Post“, an der 
eine Reihe deutscher Abgeordneter, jetzt Mitglieder des deutsch¬ 
nationalen Verbandes, teilgenommen hat), welche Berechnungen der 
Ausgang der Wahlen, übrigens nicht zu Ungunsten der Polen, um¬ 
warf. Nun mussten sich die Polen, als der Preusse, statt ihnen freund¬ 
lich die Hand zu bieten, die Ellenbogen zeigte, zum Panslavismus be¬ 
kehren, der bei der bekannten Schlauheit der polnischen Politiker dem 
Polentum Vorteile bringen kann. 

Nun bleiben noch die Ruthenen, deren Stellung gegenüber dem 
Panslavismus eine exzeptionelle ist. Eine deutsche Gefahr besteht für 
die Ruthenen nirgends. Der Hinweis auf die angeblich bevorstehende 
Überschwemmung Osteuropas durch das Germanentum ist trotz seines 
schweren Inhaltes zu schwach als ein Argument. Wenn wir alle mög¬ 
lichen Argumente pro und kontra Revue passieren lassen, so können 
wir beim besten Willen und bei allen Sympathien, die wir den einzelnen 
slavischen Völkern entgegenbringen, nicht auch nur irgend einen Grund 
oder nur eine Rechtfertigung finden, warum wir an dem Werke des 
Panslavismus mittätig sein sollten. Unsere Teilnahme am Pansla- 

by CjOOglc 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



351 


vismus wäre dann verständlich und möglich, wenn derselbe uns 
nützlich wäre, was ja bekanntlich nicht der Fall ist. Und vom Gefühls- 
panslavismus, wie er das Programm der ukrainischen Nationalisten in 
den Vierziger Jahren in Kijew gebildet hat, einem Panslavismus, von 
welchem Schewtschenko sang, „dass alle Slaven gute Brüder werden,“ 
haben uns die slavischen Brüder selbst bekehrt. Und wir sehen absolut 
keine Anzeichen, dass in dieser Richtung bei den für uns in Betracht 
kommenden slavischen Brüdern, den Russen und Polen, welche eine 
antigermanische Fahne ausgehängt haben, dabei aber einen Kampf 
gegen das Ukrainertum führen, eine Wendung zum Besseren eintrete. 


Das Hindernis, welches einer Konsolidierung des Slaventums 
im Wege liegt, besteht sowohl im Mangel an einem sprachlichen 
Bindeglied, an historischer Tradition und an gemeinsamen Interessen, 
als auch vor allem in den vielen innerslavischen Konflikten, deren 
man bald ein Dutzend zählt. Es gehören hieher ausser dem ukrai¬ 
nisch-polnischen und ukrainisch-russischen noch der Konflikt zwischen 
den Bulgaren und Serben, Serben und Kroaten, Montenegrinern und 
Serben, Polen und Russen, Polen und Tschechen usw., kurz überall, 
wo sich zwei slavische Völker territorial berühren. Der grösste inner- 
slavische Konflikt ist aber gewiss der zwischen den Ukrainern und 
Russen einerseits und den Polen andererseits, ein Konflikt, der 
die drei grössten slavischen Völker in Mitleidenschaft zieht. Stellen 
wir das ziffernmässig dar, so ergibt sich, wenn wir die 33 Mil¬ 
lionen Ukrainer beiseite lassen, dass das gesamte Slaventum in mehr 
als 70% aus den Russen (58 Millionen) und Polen (18 Millionen), 
also unseren Unterdrückern besteht. Es wird demnach klar, dass ein 
Ukrainer, der sich über die Entwickelung und die Fortschritte der 
tschechischen Nation freut, der mit den um ihre Rechte kämpfenden 
Slovaken sympathisiert, kein Panslavist sein kann, nachdem jedenfalls 
mehr als zwei Drittel Slaven auf dessen Slavenliebe nicht reflektieren 
können. Als Ruthene Panslavist zu sein, mit der panslavistischen Idee 
zu gehen, wie sie jetzt beschaffen ist und wie sie kaum anders sein 
kann, hiesse sich selbst nicht achten. In dieser unserer Abneigung 
gegen die verschiedenen panslavistischen Machenschaften haben uns 
erst neulich wieder die Initiatoren der angeblich kulturelle Ziele ver¬ 
folgenden neuesten panslavistischen Aktion, welche in den Petersburger 
slavischen Beratungen ihren Anfang nahm, bestärkt, indem sie zur Teil¬ 
nahme an dem Prager Panslavistentag zwei Ruthenen, darunter einen 
Russophilen, welcher eigentlich niemanden repräsentierte, zuliessen, 
jedoch unter der Bedingung, dass beide in eine gemeinsame russische 
Gruppe eintreten sollen. Nun, auf diese Anmassung antworten wir den 
Herren mit den Worten Palackys: Wenn wir den slavischen Brüdern 
zuliebe aufhören sollten, Ruthenen zu sein, dann ist es uns egal, Russen 
oder Deutsche zu werden. — Dieser Vorgang genügt, um uns von allen 
etwaigen Illusionen über die Ziele der neuesten panslavistischen Aktion 
zu heilen. Mögen die Herren der Welt Sand in die Augen streuen über 
die „kulturellen“ Ziele derselben, wir glauben ihnen nicht. Wer bei den 
Vertretern der Politik der Schwarzen Hundertschaften antichambriert, 
wer sich von dem höchsten Vertreter derselben, dem Zaren, die Türe 


Digitized by 


Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



852 


weisen lässt und dann von den ausschliesslich kulturellen Zielen seiner 
Aktion spricht, der straft sich selber Lügen. 

Unsere Stellung gegenüber dem Panslavismus kann vielleicht 
manchen aufrichtigen Anhänger der slavischen Gemeinbürgschaft aus 
der Mitte jener slavischen Völker, welche mit der Bedrückung unseres 
Volkes nichts Gemeinsames haben, unangenehm berühren. Doch können 
wir leider auch gegenüber diesen anderen Völkern keine Slavophilen 
ohne Vorbehalt sein. Sind doch die eifrigsten Vorkämpfer des Pan¬ 
slavismus, die Tschechen, während der ganzen Geschichte des öster¬ 
reichischen Parlamentslebens, seitdem sie an demselben teilnehmen, 
immer auf der Seite unserer polnischen Unterdrücker gestanden. Wir 
können unseren slavischen Verwandten nicht vergessen, dass immer in 
dem Moment, wo die Vertreter des ruthenischen Volkes sich an die Ver¬ 
treter österreichischer Völker um Hilfe für ihr Volk wandten, sie immdr 
die ersten waren, die uns den Rücken zeigten. Und erst neulich sahen 
wir, dass durch ihre Stellung gegenüber den im dringlichen Wege be¬ 
handelten galizischen Debatten im Wiener Reichsrat die slavischen 
Abgeordneten die ruthenischen Klagen zur Freude unserer Gegner 
Lügen straften. Dann erst fuhren ihre Delegierten in die Residenz des 
weissen Zaren, um slavische Liebe zu predigen — die wahre Liebe 
war das nicht. 

Aus der Zusammenfassung unserer Ansichten ergibt sich unsere 
Stellung gegenüber dem Panslavismus: sie ist einfach eine ab¬ 
lehnende. Wir sind der Ansicht, dass, einmal bankrottiert, sich der 
Panslavismus nicht mehr als ein Faktor erheben wird, welcher auf die 
Geschicke der Nationen positiv einwirken kann. Wir können einer 
gekünstelten Organisation, wie es der Panslavismus ist, nur die Eigen¬ 
schaften einer negativen Tätigkeit zumuten, wie er sie im Dienste des 
Zarismus jahrzehntelang entfaltet hat, und wie sie, nach gewissen An¬ 
zeichen zu schliessen, auch weiterhin entfaltet werden soll. — Das heisst 
gewiss nicht, dass wir, wie uns von panslavistischer Seite insinuiert 
wird, in blindem Eifer diese unsere Abneigung gegenüber dem Pan¬ 
slavismus auch auf einzelne slavische Völker erstrecken. Wir wollen 
mit allen slavischen Völkern in Eintracht und Freundschaft leben, wir 
wünschen uns mehr als irgendetwas, dass wir den Zustand erreichen, 
um auch mit unseren slavischen Gegnern einen Ausgleich machen zu 
können, welchen Moment jedoch der Panslavismus, statt ihn näher zu 
rücken, eher entfernt, — aber eine offizielle Slavenliebe, an der wir 
selbst zugrunde gingen, lassen wir uns nicht aufreden. 



Die ukrainische Schule in polnischen 3och. 

V. Die Gründung von Mittelschulen in Galizien. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 

Die Polen prahlen gern, wie gerecht sich der galizische 
Landtag und der galizische Landesschulrat den Forderungen 
des ukrainischen Volkes gegenüber angeblich verhalten. Wie 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



353 


viel Heuchelei dahinter steckt, zeigt am besten ihr Verhalten 
in der Angelegenheit der Gründung neuer Mittelschulen in 
Galizien, in welcher Beziehung sie sich uneingeschränkter 
Freiheit im Handeln erfreuen. Das Landesgesetz vom Jahre 
1867, die Landesschulratsgesetze von 1904 und 1907 liefern 
das ganze galizische Volksschulwesen samt den Lehrer¬ 
bildungsanstalten und alle Mittelschulen der Gewalt des Land¬ 
tages und des Landesschulrates aus. Dem galizischen Land¬ 
tag steht das ausschliessliche Recht zu, über die Gründung 
von ukrainischen Schulen zu entscheiden.*) Der galizische 
Landesschulrat ernennt Professoren aller Rangsklassen, von 
den untersten bis zu den obersten, welches Recht kein 
Schulrat in anderen Kronländern Österreichs besitzt. Wie 
sich aber die beiden Behörden dem ukrainischen Schul¬ 
wesen gegenüber verhalten, wolle man aus den nachstehend 
erörterten Ergebnissen ihrer Tätigkeit auf dem Gebiete dieses 
Schulwesens ersehen. 

Im Jahre 1867 erhalten die Polen die polnische Vor¬ 
tragssprache in folgenden 18 galizischen Mittelschulen: in 
Krakau zwei Gymnasien, je ein Gymnasium in Neu-Sandez, 
Tarnow, Rzeszow, Peremyschl, Sambir, Stanislau, Berezany, 
Tarnopol, Kolomea, Drohobycz, Lemberg (III. Gymnasium), 
je ein Untergymnasium in Bochnia, Wadowice und Buczacz 
und die Realschule in Lemberg; ausserdem wurde in allen 
oberen Klassen des I. Gymnasiums in Lemberg die polni¬ 
sche Vortragssprache eingeführt. Den Ruthenen wurde gleich¬ 
zeitig ein Brosame in Form der ukrainischen Vortragssprache 
in den unteren Klassen des ersten, sogenannten akademi¬ 
schen Gymnasiums in Lemberg hingeschmissen. 

Im Jahre 1870 erhalten die Polen die Ergänzung des 
Gymnasiums in Wadowice, 1872 eine Realschule in Krakau, 
1873 ein Untergymnasium in Zolocziw, 1874 eine Realschule 
in Stanislau, 1875 ein Gymnasium in Jaslo. — Während 
dieser ganzen Zeit erlangen die Ruthenen eine allmähliche 
Ruthenisierung des I. Gymnasiums in Lemberg — ganz 
ruthenisch wird es erst im Jahre 1879. 

Im Jahre 1879 bekommen die Polen ein neues, IV. Gym¬ 
nasium in Lemberg, die Ergänzung des Gymnasiums in Zo¬ 
locziw, ein Gymnasium in Sanik, ein Untergymnasium in 
Stryj, 1883 eine neues, III. Gymnasium in Krakau, 1884 ein 
Gymnasium in Jaroslau, 1885 eine Realschule in Tarnopol, 
und 1888 die Ergänzung der Untergymnasien in Bochnia und 
Stryj in volle Mittelschulen. — Während dieser ganzen Zeit 


*) Man möge sich vor Augen halten, dass trotz der gleichen 
Anzahl der ruthenischen Bevölkerung mit der polnischen in Galizien 
in der verflossenen Kadenz im galizischen Landtage 16 Ruthenen 
gegen 145 Polen sassen und der galizische Landesschulrat aus 
6 Ruthenen und 29 Polen besteht. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



354 


erlangen die Ruthenen nur ukrainische Parallelklassen bei 
dem polnischen Gymnasium in Peremyschl. 

Im Jahre 1901 erhalten die Polen eine Filiale des 

III. Gymnasiums in Lemberg, 1892 des V. Gymnasiums in 
Lemberg und ein Gymnasium in Podgorze. — Während 
dieser Zeit erhalten die Ruthenen unter dem Drucke der 
Zentralbehörden im Jahre 1892 parallele Klassen bei dem 
polnischen Gymnasium in Kolomea. 

1893 übernimmt die Regierung das vom Basilianerorden 
erhaltene Gymnasium in Buczacz, natürlich mit polnischer 
Vortragssprache, auf Staatskosten, 1897 erhalten die Polen 
eine Realschule in Tarnow, Filialen des IV. Gymnasiums 
in Lemberg und des I. Gymnasiums in Krakau, 1898 eine 
Realschule in Jaroslau, 1899 Filialen der Realschulen in 
Lemberg und Krakau und 1900 ein Gymnasium in Dembica 
und eine Realschule in Krosno. — Während der ganzen 
Zeit erlangten die Ruthenen die Umwandlung der Parallel¬ 
klassen in besondere Gymnasien in Peremyschl 1895 und Kolo¬ 
mea 1900, überdies die gegen den Willen des Landtages im 
Wege einer Verordnung der Zentralregierung durchgesetzte Er¬ 
öffnung des ukrainischen Gymnasiums in Tarnopol 1897. 

Im Jahre 1901 erhalten die Polen Filialen des Gymna¬ 
siums in Tarnow, des V. Gymnasiums in Lemberg und des 

IV. in Krakau, 1902 des VI. Gymnasiums in Lemberg, die 
II. Reaschule in Krakau, eine Filiale des III. Gymnasiums 
in Krakau, 1903 die II. Realschule in Lemberg, das 
II. Gymnasium in Tarnow und eine Realschule in Sniatyn, 
1904 eine Realschule in Saybusch und ein Gymnasium 
in Nowy Targ, 1905 das VII. Gymnasium in Lemberg, 
ein Gymnasium in Mielec, Filialen des V. Gymnasiums in 
Lemberg und das IV. in Krakau, 1906 Gymnasien in Gorlice, 
Sokal, das V. in Krakau, Filialen der Gymnasien in Tar¬ 
nopol, Stanislau und Neu-Sandez, 1907 ein Gymnasium in 
Terebowla, ein zweites in Peremyschl und ein zweites in 
Stanislau, 1908 ein sechstes, das VIII. Gymnasium in Lemberg, 
ein zweites in Tarnopol und ein zweites in Neu-Sandez. — 
Während dessen (1901 —1908) erhalten die Ruthenen ein 
Gymnasium in Stanislau 1905, eine Filiale des I. Gymnasiums 
in Lemberg und provisorische utraquistische Parallel¬ 
klassen I—II im polnischen Gymnasium in Berezany 1906. 

Im Resultat ergibt sich, dass die Polen in Galizien 
40 selbständige Gymnasien und 6 Filialen, die 
Ruthenen dagegen nur 5 selbständige und 1 Filiale 
haben. Realschulen haben die Polen 11, die Ru¬ 
thenen : 0.*) 


*) In dem nächsten Schuljahre 1908/9 werden die Filialen der 
polnischen Gymnasien in Neu-Sandez und Tarnopol selbständig, ausser¬ 
dem sollen drei neue polnische Gymnasien, in Zowkwa, Kolbuszowa 
und Tarnobrzeg hinzukommen. Die Ruthenen erhalten dagegen nichts. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



355 


Wem die Geduld reichte, alle angeführten Daten durch¬ 
zulesen, wird überzeugt sein, dass die Worte des Landes¬ 
schulinspektors und allpolnischen Abgeordneten, gesprochen. 
im Wiener Reichsrat, dass „die Polen immer die gerechten 
Forderungen der Ruthenen unterstützen“, einfach ein Hohn 
auf jegliche Ethik sind. 

Unter was für Vorsichtsmassregeln diese Brosamen den 
Ruthenen hingeschmissen werden! Wenn es sich um die 
Gründung einer neuen ukrainischen Mittelschule handelt, 
dann werden gleich in der polnischen Presse, im galizischen 
Landtag und im Landesschulrat riesige Debatten geführt, ob 
eine solche Schule Überhaupt dem Bedürfnis der Bevölkerung 
entspricht, ob sie eine Frequentation gesichert hat (nach 
alledem trägt man bei Gründung von polnischen Schulen gar 
nicht), obzwar erfahrungsgemäss bewiesen wurde, dass jede 
der bisher gegründeten ukrainischen Mittelschulen trotz der 
lieblichen Fürsorge der galizischen Schulbehörden betreffs 
der Wahl der möglichst schlechten Schulgebäude nicht nur 
genügend frequentiert wird, sondern in der Regel an Über¬ 
füllung leidet. So beherbergte das ukrainische Gymnasium 
in Lemberg im Jahre 1906/7 705 und dessen Filiale 357 
Schüler, das ukrainische Gymnasium in Peremyschl zählte 
784, das in Kolomea 660, das Tarnopoler 670, und die zwei 
ersten Klassen des ukrainischen Gymnasiums in Stanislau 
251 Schüler. 

Nirgend in ganz Österreich wird die Gründung einer 
neuen Mittelschule von dem Umstande abhängig gemacht, 
ob denn in der betreffenden Ortschaft bereits eine Mittel¬ 
schule mit einer anderen Vortragssprache besteht. Nur die 
polnischen Herren im galizischen Landtag und Landesschul¬ 
rat haben das Prinzip aufgestellt, dass ein ukrainisches 
Gymnasium in einer Ortschaft nicht errichtet werden kann, 
sobald es dort kein polnisches gibt. Dabei wird ein drei¬ 
faches Ziel verfolgt — und erreicht. Es hätten beispielsweise in 
Sokal, Terebowla oder Sniatyn gemäss den gegebenen Ver¬ 
hältnissen, mit Rücksicht auf die Bevölkerung etc. ukraini¬ 
sche Mittelschulen gegründet werden sollen, was jedoch 
deswegen absolut nicht geschehen konnte, weil in den ge¬ 
nannten Ortschaften noch keine polnischen Mittelschulen 
waren. Es ist nämlich evident, dass ukrainische Schulen 
eine grosse Frequentation aufweisen würden, sobald aber — 
schliessen die Herren — dort einmal polnische Schulen er¬ 
richtet werden, kann die Frequentation der ukrainischen 
Jugend infolge der fremden Vortragssprache und Sekkaturen 
nicht leicht so anwachsen, dass das Bedürfnis zur Eröffnung 
eines zweiten, ukrainischen Gymnasiums akut wird. Das 
wäre das Hauptziel. Das andere besteht darin, dass ukrai¬ 
nische Schulen nicht auch von Juden, Polen und röm.-kath. 
Ruthenen, die als Polen gelten, frequentiert werden, was ja 


Digitized by 


Gck igle 


2 

Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



356 


selbstverständlich in einer Ortschaft mit nur ukrainischer 
Schule der Fall sein müsste. Ein Ruthene muss in die pol¬ 
nische Schule gehen, darin sieht man nichts schlechtes, aber 
ein grosser nationaler Schaden wird darin erblickt, wenn 
ein Pole oder ein Jude die ukrainische Schule besucht. Das. 
dritte Ziel wird dadurch erreicht, dass ukrainische Schulen, 
wenn dem schon nicht ausgewichen werden kann, neben 
polnischen in grösseren Städten gegründet werden, weil in¬ 
folge der grösseren Erhaltungskosten im Vergleiche mit 
den kleineren Städten die Bauern von der Sendung ihrer 
Kinder in die Schule abgehalten werden. 

Nicht minder ungerecht ist das Vorgehen der galizischen 
Schulbehörden inbetreff der Gründung von Filialen bei 
überfüllten Gymnasien. Vorerst muss bemerkt werden, dass 
es die Sorge dieser Behörden ist, durch unhygienische 
Unterbringung der ukrainischen Gymnasien mit ganz unge¬ 
nügender Anzahl von Räumlichkeiten und auch Lehrkräften 
die Frequenz dieser Schule zu hemmen, und die Frage der 
Errichtung von Filialen an diesen Schulen überhaupt aus 
der Welt zu schaffen. Freilich wächst die Zahl der Schüler 
an den ukrainischen Gymnasien nichtsdestoweniger rasch 
an und übersteigt in den meisten Fällen die Anzahl der 
Schüler an polnischen Anstalten, bei welchen infolge Über¬ 
füllung Filialen errichtet wurden. So wurde auf Grund der 
Verordnung vom 20. Juni 1898 im Jahre 1899 eine Filiale 
des III. (polnischen) Gymnasiums in Lemberg gegründet, 
weil es im Jahre 1897/8 687 Schüler zählte. Auf Grund 
der Verordnung derselben Behörde vom 5. August 1902 er¬ 
hielt das II. Gymnasium in Krakau mit 504 Schülern eine 
Filiale, 1906 das IV. Gymnasium in Krakau mit 627 Schülern 
ebenfalls. 

Die Eröffnung einer Filiale erfolgt durch das Unter¬ 
richtsministerium auf Antrag des Landesschulrates. Wie be¬ 
handelt nun die letztgenannte Behörde die ukrainischen 
Gymnasien: Das ukrainische Gymnasium in Lemberg hatte 
schon im Jahre 1892 522 Schüler, in den folgenden Jahren 
stieg diese Zahl auf 557, 679, 752, 872, 928. Eine Filiale er¬ 
hielt dieses Gymnasium erst auf Grund der zuletzt angege¬ 
benen Frequenz vom Jahre 1906. Das ukrainische Gym¬ 
nasium in Peremyschl weist seit 1902 folgende Frequenz auf: 
518, 579, 641, 711, 784, die Eröffnung einer Filiale erlebte 
aber diese Schule bis heute noch nicht. Das ukrainische 
Gymnasium in Kolomea hatte im Jahre 1904 540 Schüler, in 
den folgenden 624, 660, eine Filiale wurde ihm aber nicht 
bewilligt. Das ukrainische Gymnasium in Tarnopol hatte im 
Jahre 1904 551 Schüler, dann 662, 670, aber eine Filiale hat 
es nicht. Würde den ukrainischen Gymnasien eine gleiche 
Behandlung mit den polnischen zuteil, dann hätten bis jetzt 
schon alle ukrainischen Gymnasien eine Filiale. Freilich wäre 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



357 


es vernünftiger, neue ukrainische Gymnasien in solchen Be¬ 
zirken zu eröffnen, aus welchen die meisten Schüler in den 
überfüllten Anstalten herstammen. Aber dies würde, wie wir 
ausgeführt haben, dem galizischen Landtag und dem galizi- 
schen Landesschulrat noch weniger passen, als die Eröffnung 
von Filialen. Werden ja der „einzige polnische Landtag“, 
wie der galizische Landtag von den Polen genannt wird und 
die „polnische Edukationskommission“, wie die höchste polni¬ 
sche Aufklärungsbehörde zur Zeit des Unterganges Polens 
hiess und welche Benennung nun auf den galizischen Landes¬ 
schulrat übertragen wurde, nicht umsonst als die höchsten 
autonomen Instanzen zur politischen und kulturellen Ver¬ 
gewaltigung des ukrainischen Volkes bezeichnet. 


Die KooperatiOMSbewegmig in der Ukraine. 

Von W. Domanitzkyj. 

Die Kooperationsbewegung machte in der letzten Zeit 
in der Ukraine kolossale Fortschritte und es wird gewiss 
nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, bis sie das ganze von 
dem ukrainischen Volke bewohnte Territorium mit ihrem 
Netze umgarnt haben wird. — Bis vor einigen Jahren hatte 
die Kooperationsbewegung im russischen Reiche im Allge¬ 
meinen und in der Ukraine im Besonderen nur in grossen 
Städten, in Fabriken und Grossbetrieben Platz. Hauptsächlich 
kamen hier Kredit- und Sparvereine sowie Konsumgenossen¬ 
schaften in Betracht. Aufs flache Land griff die Bewegung 
lange Zeit nicht über, nachdem sich ihr der Mangel an Auf¬ 
klärung (82% Analphabeten!) entgegenstellte. Eine Aktion 
vermittels der Presse, noch dazu der fremden russischen, 
war in Anbetracht dessen nicht recht möglich und so blieb 
nur einzig der Weg einer Agitation durch das gute Beispiel, 
der Anschauungsunterricht übrig, welcher übrigens auch bei 
der Entwicklung des Ackerbaues in der Ukraine eine wichtige 
Rolle spielte. Tatsache ist nämlich, dass, wenn in der Land¬ 
wirtschaft in der Ukraine Änderungen zum Besseren einge¬ 
treten sind, wenn statt hölzerner durchwegs eiserne Pflüge 
eingeführt wurden, wenn zur Zeit in jedem Dorfe eine Menge 
landwirtschaftlicher Maschinen sich befinden und die Bauern 
einen besseren Haustierestand haben, das einerseits dem 
Einflüsse der grösseren, herrschaftlichen Wirtschaften mit 
ihrer höheren Kultur und andererseits dem guten Beispiele der 
deutschen und tschechischen Kolonisten zu verdanken ist. 

Der Beginn der Kooperationsbewegung in der Ukraine 
kann mit dem Zeiträume von 1894 bis 1897 datiert werden, 
als im Chersoner und teilweise auch im angrenzenden Kijewer 
Gouvernement <ler auch in Europa bereits bekannte Mykola 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



352 


Lewitzkyj die Gründung von landwirtschaftlichen Genossen¬ 
schaften (artil) unternahm, deren Zahl binnen vier Jahren 
auf 119 stieg; aber die so nützliche Idee der soliden gemein¬ 
schaftlichen Wirtschaftsweise, und zwar nicht nur im Felde, 
sondern auch zu Hause, war für den ukrainischen Bauern 
zu fremd, sie wurde auf einen unvorbereiteten Grund verpflanzt 
— und so konnten sich auch die Artils nicht behaupten. 

Dagegen werden bald, zu Anfang des XX. Jahrhunderts, 
Konsumvereine und Krämerladen, System Rochdale, die 
verbreitetste Kooperationsform. Aber bis zum Jahre 1905 
zählte man deren nur sehr wenig, erst in diesem Jahre, als 
mit der Befreiungsbewegung einerseits neue Ideen dem Volke 
vermittelt und andererseits deren Popularisierung durch das 
teilweise von seinen Ketten befreite ukrainische Wort er¬ 
möglicht wurde, wurde die Idee der Kooperation, vornehm¬ 
lich in der für die Bauernmassen am meisten verständlichen, 
einfachen Form der Konsumvereine praktisch veran¬ 
schaulicht. Das Dorf spürt am empfindlichsten die Handels¬ 
vermittlung und Teuerung der Artikel für den landwirtschaft¬ 
lichen Bedarf und bei der wirtschaftlichen Unbeholfenheit 
des Bauernstandes hat auch eine minimale Preiserniedrigung 
dieser Waren für den ukrainischen Bauern, dessen jährliches 
Budget 500 bis 600 Kronen nicht übersteigt, eine grosse 
Bedeutung. 

So wuchsen Genossenschaftsläden, vornehmlich in den 
Gegenden, wo einer probeweise gegründet wurde und die 
Leute ein Muster vor sich hatten, sehr rasch in die Zahl. 
Während es beispielsweise im Kijewer Gouvernement im 
Jahre 1904 nur einen einzigen bäuerlichen Konsumwaren¬ 
verkauf gab, und zwar in Kolodyste, Bezirk Zwenyhorod, 
woselbst unter Leitung des Unterfertigten binnen zwei Jahren 
des Bestandes des Vereines ein hübsches zweistöckiges 
Haus samt Kellereien, Getreidespeicher und anderen Neben¬ 
bauten errichtet wurde, so waren in demselben Gouvernement 
drei Jahre nachher, im Frühling 1907, bereits 70 Verkaufsstellen 
für Konsumwaren, zu Anfang 1908 gab es deren aber schon 
280! Wenn man nun beachtet, dass es im Kijewer Gouver¬ 
nement im ganzen 1500 bevölkerte Ortschaften gibt, so er¬ 
gibt sich, dass bereits 18*5% davon ihre Konsumvereine 
haben, wovon 75% binnen einem Jahre entstanden sind. 
Diese Erscheinung findet ihre Erklärung hauptsächlich in 
dem gutem Beispiele des Dorfes Kolodyste, umsomehr, als 
auf Grund der hier geernteten Erfahrung von dem Verfasser 
des vorliegenden Aufsatzes eine Broschüre über Gründung 
und Einrichtung von ländlichen Konsumvereinen heraus¬ 
gegeben wurde, deren Auflage, 10.000 Exemplare, vollständig 
vergriffen wurde; es sei hieraberauch zugegeben, dass der 
landwirtschaftliche Ausschuss des Kijewer Gouvernements- 
semstwo zur Förderung der Sache nicht unerheblich beigo- 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



tragen hat, indem er unentgeltlich Weisungen erteilte und 
Statuten und Broschüren verschickte. — Gut steht die Sache 
mit den Konsumvereinen auch im Poltawaer Gouver¬ 
nement, wo es deren zu Anfang 1908 bereits 135 gab. Dort 
propagieren dieselben das Gouvernements-und Bezirkssemstwo 
sowie zwei landwirtschaftliche Zeitschriften: „Chutorjanin“ und 
„Gazeta hadiatskoho zemstwa“ — beide, leider, in russischer 
Sprache gedruckt. Die dritte Stelle nimmt das Gouvernement 
P o d o 1 i e n mit seinen 80 Konsumvereinen ein, um deren 
Errichtung sich insbesondere die ukrainische Wochenschrift 
„Switowa zirnycia“ in Mohyliw pod. durch die Widmung 
eines grossen Raumes für die Idee der Kooperation, durch 
Erteilung von Ratschlägen und Verteilung von Büchern ver¬ 
dient gemacht hat. In anderen ukrainischen Gouvernements, 
wie das Charkower und Tschernyhower, geht die Bewegung 
auch bereits vor sich und gibt es in jedem von denselben 
eine grössere Anzahl Konsumvereine. In Charkow dient die 
Wochenschrift „Chliborob“ und in Tschernihow der „Selanin“, 
beide herausgegeben von den Gouvernementssemstwos, 
selbstverständlich in russischer Sprache, dieser Angelegen¬ 
heit. Über andere ukrainische Gouvernements (Wolhynien, 
Cherson, Jekaterinoslaw, Taurien u. a.) fehlen uns die 
Daten, aber aus sjDoradischen Meldungen ist zu ersehen, 
dass diese Bewegung auch dort, wenn auch weniger intensiv, 
vor sich geht. Es ist hervorzuheben, dass von den 1200 im 
Jahre 1907 in ganz Russland ins Leben gerufenen Konsum¬ 
vereinen die Mehrzahl auf die Ukraine entfällt.*) 

Den zweiten Platz unter den Kooperationsformen nehmen 
die Kreditgenossenschaften, gegründet auf vom 
Finanzministerium ausgearbeiteten Statuten als Spar- und 
Vorschussvereine, ein. Ausser diesen gibt es noch Kredit¬ 
vereine, gegründet nach dem Muster der deutschen Schulze- 
Delitsch- und Raiffeisenvereine. Seit einigen Jahren mehren 
sich diese Vereine verhältnismässig stark und gab es deren 
zu Anfang 1908 im Kijewer Gouvernement über 100, i m 
P o 11 a w ae r 64 neben 250 „Spar-und Unterstützungs 
kassen“, in Podolien 41, im Charkower Gouvernement 63, 
im Tschernyhower gegen 100 usw. Aber ausser diesen nach 
europäischem Muster gegründeten Vereinen gibt es in der 
Ukraine noch eine grosse Anzahl „D o rfk a s s e n“, im Gou¬ 
vernement Podolien allein über 500. Aber diese taugen nicht 
viel, nachdem sie einer jeden Kontrolle ermangeln und über 
sie gewöhnlich nur der Gemeindeschreiber waltet, und es 
wäre demnach erwünscht, dass diese „Kassen“ aufgehoben 
und durch Raiffeisenvereine ersetzt werden. 


*) Sämtliche Ziffern beleuchten den Stand der Dinge von Anfang 
1908. Zur Zeit sind die meisten derselben anderthalbmal höher zu ver¬ 
anschlagen. So stieg beispielweise die Anzahl der Konsumveine im 
Kijewer Gouvernement von 280 auf fast 500. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



360 


Ausser den Konsum- und Kreditvereinen ist in der 
Ukraine noch die Form der wirtschaftlichen Organisation in 
„Landwirtschaftliche Genossenschaften“ 
ziemlich üblich. Diese haben anfänglich in Städten, haupt¬ 
sächlich unter den Grossgrundbesitzern, Semstwomitgliedern, 
Anhang gefunden und nachdem in den Semstwos bis zum 
Jahre 1906, der Zeit der Reaktion in Russland, die Liberalen 
herrschten, so hatten auch ihre wirtschaftlichen Organisationen 
einen fortschrittlichen Charakter, sie haben auch ein breites 
Programm betreffend die landwirtschaftliche Kultur, die Ver¬ 
breitung der Fachkenntnisse, den Kredit, Vermittlung u. dgl., mit 
einem Wort, es fällt ihnen die Rolle der französischen oder bel¬ 
gischen Syndikate zu. Bei diesen Genossenschaften bestehen 
Niederlagen von landwirtschaftlichen Maschinen 
und Samen, manche von ihnen erhalten landwirtschaftliche 
Musterhöfe, Landwirtschaftslehrer und verschiedene Spezia¬ 
listen in der Landwirtschaft oder geben auch Fachzeitschriften 
heraus (z. B. der erwähnte „Chutorjanin“). Solcher Genossen¬ 
schaften gibt es in der Ukraine verhältnismässig noch wenig 
— die meisten bestehen im Poltawaer Gouvernement, wo es 
deren 75 gibt, während in anderen viel weniger (Gouver¬ 
nement Charkow 22, Podolien bis 10) oder gar keine sind, wie 
z. B. in dem betreffs anderer Kooperationsformen voran¬ 
schreitenden Gouvernement Kijew. 

Es gibt noch viele andere Kooperationsformen, wie die 
oberwähnten landwirtschaftlichen Artils Lewitzkyjs, Arbeiter- 
produktivgenossenschaften, Schneider-, 
Schuhmacher-, Tischlergenossenschaften 
u. a.; in Odessa besteht ejne Fabriksniederlage 
landwirtschaftlicher Maschinen als koopera¬ 
tives Arbeiterunternehmen, geleitet von dem genannten Herrn 
Lewitzkyj. Im grossen und ganzen steht aber die koopera¬ 
tive Produktion an letzter Stelle in der Reihe anderer 
Kooperationsformen in Russland. Auf schwachen Füssen 
stehen noch die Absatzkooperativen der landwirt¬ 
schaftlichen Produkte, wie Brot, Getreide, Milch u. a. Die 
Vermittlung zwischen den Produzenten und dem Markt über¬ 
nahmen manche Semstwos, doch beschränkt sich diese oft 
nur auf telegraphische Meldungen über die Getreidepreise. 
Der unaufgeklärte Bauer bleibt weiter das Opfer der Handels¬ 
vermittler, von denen er fürchterlich ausgebeutet wird. 

Das Umsichgreifen der kooperativen Tätigkeit führte 
auf den Gedanken, deren Organisierung nach Rayons durch¬ 
zuführen, um dadurch eine Planmässigkeit und Einheitlichkeit 
der Arbeit zu ermöglichen. Die Schwierigkeiten seitens der 
Verwaltungsbehörde (Gesuche um die Erlaubnis zur Gründung 
eines Vereines oder einer Verkaufsstelle liegen bei der Po¬ 
lizei oft ein Jahr und länger unberücksichtigt, wodurch den 
Leuten die Lust zum Unternehmen benommen wird) und die 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



361 


Planlosigkeit in der Tätigkeit stehen einer erspriesslichen 
Aktion im Wege. Daran schliessen sich noch viele andere 
Fragen praktischen, theoretischen und rechtlichen Inhalts, die 
eine Lösung erheischen. Dem sollen kooperative Genossen¬ 
schaftstage, veranstaltet mach den Gouvernements, zustatten 
kommen. Solche Genossenschaftstage wurden im Jahre 1907 ab¬ 
gehalten in den Gouvernements Kijew, Tschernyhiw und Podo- 
lien, heuer wiederum fand einer im Poltawaer Gouvernement 
statt. Auf dem Kijewer Tage wurden u. a. die Statuten eines 
Gouvernementsverbandes der Konsumvereine angenommen. 
Aber es ist seither bereits mehr als ein Jahr vergangen, ohne 
dass die Regierung die Erlaubnis dazu erteilt hätte, der 
beste Beweis, wie sie sich zu dem brennenden Bedürfnis 
der Bevölkerung stellt. In ganz Russland ist nur ein einziger 
„Verband der Konsumvereine“ in Moskau und 
zwei „Verbände der Kreditvereine“ für das Kijewer und 
Taurier Gouvernement in der Ukraine. Das Gesuch um die 
Erlaubnis, einen „Verband der Kreditvereine“ für das Kijewer 
Gouvernement ins Leben zu rufen, lag im Ministerium drei 
Jahre unerledigt. So sorgt die russische Regierung für das 
Wohlsein der Bevölkerung. .. . 

Ende April und Anfang Mai d. J. fand in Moskau der 
erste allgemeinrussische Kooperationstag, 
einberufen von dem Moskauer Verband der Konsumvereine 
statt, an welchem Vertreter der Ukrainer, darunter einer aus 
Österreich als Vertreter des Verbandes der ruthenischen 
landwirtschaftlichen Genossenschaften „Selanska Kassa“ in 
der Bukowina teilnahmen. Anwesend waren über tausend 
Delegierte, darunter die besten Kenner und Führer der 
Kooperationsbewegung. Es wurden eine grosse Anzahl Re¬ 
solutionen angenommen, deren Verwirklichung jedoch von 
dem Willen der Regierung abhängt.' Wie sich aber diese zu 
der Angelegenheit stellt, erhellt am besten aus dem Umstand, 
dass in der letzten Generalversammlung des Kooperations¬ 
tages sogar die Verlesung der Sektionsbeschlüsse von dem 
Vertreter der Regierung verboten wurde, nicht zu erwähnen, 
dass überhaupt die Konstituierung mancher Sektionen nicht 
zugelassen wurde. Aber ganz ohne gute Folgen wird der 
Kongress doch nicht sein, die Leute aus den verschiedensten 
Winkeln des Reiches lernten einander kennen und alle 
konnten sich überzeugen, wie sehr die Idee der Kooperation 
in den letzten Jahren im Bewusstsein der Völker der russi¬ 
schen Reiches und in praktischer Verwertung fortgeschritten ist. 

Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Kooperations¬ 
bewegung in der Ukraine recht intensiv ist und in die Tiefe 
geht. Nichtsdestoweniger erreichte sie quantitativ nur den 
Stand der Kooperationsbewegung in Deutschland in den 
80 er Jahren. Was übrigens nicht bedeutet, dass 25 Jahre 
nötig sind, um den Stand in Deutschland von heute zu er- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



362 


reichen. Das durch die Wirtschaftspolitik der russischen 
Regierung wirtschaftlich ruinierte ukrainische Volk verstand 
die Tragweite der kooperativen Selbsthilfe und legte in dieser 
Beziehung eine Energie an den Tag, die beispielsweise bei 
den Russen nicht zu finden ist und könnte, wenn nur die 
Regierung der Bewegung keine Steine in den Weg rollen 
möchte, von etwaiger Untersttizung ganz abgesehen, in 
kürzester Zeit grosse Erfolge zeitigen. 

* * 

♦ 

Bei dieser Gelegenheit wollen wir einen Blick auf die 
diesbezüglichen Verhältnisse bei dem ukrainischen Volke in 
Galizien und der Bukowina werfen. Die Kooperations¬ 
bewegung ist hier gewiss stärker, nachdem sich hier nicht der 
schlechte Wille der Regierung hemmend in den Weg stellt, 
obzwar eine Ungleichmässigkeit, hervorgerufen durch die 
verschiedenen sozialpolitischen Verhältnisse in den beiden 
Ländern, hier gleich in die Augen springt. In Galizien herrscht 
die polnische bürgerliche Klasse, welche die von den beiden 
Völkern Galiziens einbezogenen Gelder fast ausschliesslich für 
die Bedürfnisse des polnischen Volkes allein verwendet. Sämt¬ 
liche Unterstützungen für die Verbesserung der Landwirtschaft 
behalten die Polen für sich, wofür sie ihre Stallungen etc. 
vervollkommnen.*) So ruht die Kooperationsbewegung unter 
der ukrainischen Bevölkerung auch in Galizien in den 
Händen der Bevölkerung selbst, ohne jegliches Mittun des 
Landtages. Am 1. Jänner 1908 zählte der im Jahre 1904 ge¬ 
gründete „Landesrevisionsverband“ in Lemberg 104 
Kredit- und 30 andere Vereine mit insgesamt 360.000 
Mitgliedern; der Verband der Konsumvereine „Norodna 
Torhowla" hatte zur selben Zeit 19 Zentralnieder¬ 
lagen und 1777 Verkaufsstellen im Lande, ausserdem 
sind auf Grund der Statuten des Lemberger ukrainischen 
Vereines „Proswita“ mit 1910 Lesehallen im Lande 450 
Krämerläden und 250 Getreidespeicher errichtet 
worden. So gibt es in Galizien im ganzen 2200 Verkaufs¬ 
läden auf kooperativer Grundlage. Dann haben die galizi- 
schen Ukrainer einen Verband der Milchgenossen¬ 
schaften in Stryj. Im Jahre 1907 gab es deren 21, sie 
haben während dieses Jahres 1,157.446 Liter Milch verarbeitet, 
gegen 80.000 Kronen für Rahm ausgezahlt und mehr als 50.000 
Kilogramm Butter erzeugt. Der Landesrevisionsver¬ 
band gibt seit fünf Jahren sein Organ „Ekonomist“ 
heraus, welches wertvolle Artikel über die Kooperations¬ 
angelegenheiten in Europa und in ukrainischen Ländern bringt. 

Viel besser stehen übrigens die Sachen in der Bu¬ 
kowina, wo die Verhältnisse für das ukrainische Volk 


*) Interessante Daten hiefür sind zu finden in der Broschüre von 
Jan Biedron „Zielony sztandar“, Krakau 1908. 

Digitized by Gougle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



363 


günstiger sind. In diesem kleinen Ländchen gab es Ende 1906 
bereits 135 Raiffeisenkassen. Deir erste Kreditverein 
wurde im Jahre 1896 gegründet und 1903 schritt man schon 
zur Gründung des Verbandes der Vereine „Selanska 
Kassa“ in der Bukowina. Allmählich entstehen in der Bu¬ 
kowina Konsum-, Viehwei de-, Milch-, Fassbirider- 
geno ssenschafte n u. a. Die „Selanska Kassa“ gibt ein 
im volkstümlichen Geiste geschickt redigiertes Organ, das 
„Narodne bohatstwo“ (Volksreichtum) heraus. Ausserdem er¬ 
scheint in der Bukowina noch ein von dem Landesausschusse 
unterstütztes Organ „Chliborob“, welches sich auch die 
kooperative Idee angelegen sein lässt, 

Die kleine Bukowina hat in der Angelegenheit der wirt¬ 
schaftlichen Emanzipation des ukrainischen Volkes auf den 
Grundlagen der Kooperation unter allen ukrainischen Ländern 
die erste Stelle inne. Sie ist ein Beispiel, was das Volk 
selbst leisten kann, wenn sich weder die Zentral- noch die 
Hausregierung seinen wirtschaftlichen und kulturellen Be¬ 
strebungen in die Quere legt. 

Henryk Slenkiewicz als Romanschriftsteller. 

(Auf Grund seines Romans „Mit Feuer und Schwert“*). 
Von Prof. Wladimir Antonowytsch. 

(Fortsetzung). 

Kein Haar besser als das Zaporoher Kosakenlager 
kommt in der Schilderung Sienkiewicz’ die Bevölkerung der 
Ukraine weg. Der Verfasser versucht die Beschreibung der 
verschiedenen Bevölkerungsschichten und man weiss nicht: 
soll man mehr über seine Tendenziösität oder über seine Un¬ 
wissenheit erstaunt sein. Da sind, nach seinen Worten zu 
schliessen, folgende Gruppen, in welche die ukrainische Be¬ 
völkerung des 17. Jahrhunderts zerfiel: Tschumaky (Bauern, die 
den Handelsverkehr mit der Krim vermittelten und unterhielten; 
ihr Name stammt von „Dschuma“, welche Krankheit sie oft in 
die Ukraine verschleppten. Anm. d. Red.), Bienenzüchter in 
der Steppe und in den Wäldern, Wachsschläger, Pechsieder, 
Pferdeknechte, Meier, Jäger, „siromachy“ (Erkl. unten), 
Fischer, Schafhirten (Tschabany) und gewöhnliche Bauern. 

Nach dem Urteil des Verfassers sind die aufgezählten 
Kategorien nicht nur infolge ihrer Beschäftigung mit dem 
betreffenden Handwerk entstanden, sondern sie sind ganz 


*) In der Wiedergabe der Arbeit des Verfassers, welche zuerst 
in russischer Sprache, in der „Kijewskaja Starina“, erschienen war, 
beschränken wir uns auf grössere Auszüge. Die Red. 


Digitized by 


Go gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



3f>4 


besondere Kasten, jede einzelne gleich einem Volke für 
sich und jede sich durch originelle Züge besonderer Wild¬ 
heit von den anderen unterscheidend. Zum Beispiel wie 
charakterisiert er die Schafhirten, die ihm aus irgend 
einem Grunde besonders unangenehm sind: „Die Schafhirten,, 
das sind solche, die ihr ganzes Leben in Steppen und Wild¬ 
nissen verbringen; sie leben vollkommen wild dahin und 
haben keine Religion; statt eines Gesanges lassen sie ein 
halbtierisches, düsteresGeheul ertönen; als sie sich 
dem Aufstande Chmelnytzkyj’s anschlossen, waren sie ausser- 
stande, die Befehlshaber zu unterscheiden und anerkannten 
denjenigen als Herrn, der sie schlug und tötete; natürlich 
hatten sie keinen Begriff von Völkerrechten (sic) und waren 
ebenso selbstverständlich von einer wilden Blut- und 
Habgier beherrscht“. 

Wenn man diesen blühenden Unsinn liest, traut man kaum 
seinen eigenen Sinnen und zweifelt, ob der Verfasser seine 
Kenntnisse den leichtsinnigen Aufzeichnungen irgend eines 
Australien- oder Afrikareisenden entnommen hat oder ob alles 
seine eigenen, wenn auch nicht besonders scharfsinnigen 
Erfindungen sind. Wir wollen dem allen gegenüber nur fest¬ 
stellen, dass die Tschabany keineswegs ein in sich abge¬ 
schlossener wilder Volksstamm waren, sondern dieselben 
ukrainischen Landleute gewesen sind, welche die Genossen¬ 
schaften der Schäfer gründeten, und dass sich diese Ge¬ 
nossenschaften nicht aus Wilden zusammensetzten, sondern 
aus Leuten bestanden, die imstande waren, dem Arbeitsverein 
auch die gesetzmässige Kraft zu geben, mit der Wahl des 
Oberen (Ataman), mit genauer Zuteilung der verschiedenen 
Erwerbszweige für die Genossenschaftsmitglieder, regelrecht 
vorher festgesetzten Bestimmungen der Gewinnste usw. — 
Nicht besser als den Schafhirten ergeht es in der Erzählung; 
Sienkiewicz’ den Fischern: „Das waren wilde Men¬ 
schen, mit rohen Sitten und hausten wie die 
Schlangen im Schilf des Dniproufers“ usw. Noch 
origineller fällt die Charakteristik der „siromachy“ aus: 
in der Erzählung bedeutet dieses Wort an manchen Stellen 
Wölfe, an anderen wieder eine Volksklasse, welche folgen- 
dermassen geschildert wird: „Die „Siromachy“ waren Gott 
weiss was für Leute, Landstreicher, Vagabunden, die 
vom Ende der Welt hingeraten“ (sic). Wir nehmen an, dass 
die angeführten Beispiele genügen, um dem Leser eine Idee 
von den historisch-ethnographischen Behelfen des Herrn Ver¬ 
fassers zu verschaffen. 

Sienkiewicz beschränkt sich jedoch keineswegs auf die 
Charakterisierung besonderer Gruppen, er behauptet auch, 
dass die ganze Bevölkerung der Ukraine überall die gleichen 
Züge unbezähmbarer, angeborener Wildheit trug, durch welche 
sie sich sofort von anderen Nationen unterscheiden Hess, 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



365 


sogar von solchen, die auf derselben Kulturstufe sich be¬ 
fanden. Zum Beispiel lautet die Parallele zwischen 
den polnischen und ukrainischen Bauern 
von Sienkiewicz wörtlich wie folgt: „Das seiner Natur nach 
wilde Volk gesellte sich bereitwilligst dem Aufstande unter 
Chmelnytzkyj zu; während zu jener Zeit der Bauer von 
Mazovien und Grosspolen ohne Murren das Joch der Unter¬ 
drückung trug, welches in ganz Europa den Nachkommen 
Chams*) auferlegt worden war, atmete der Ukrainer mit 
der Steppenluft schon die- Liebe zur Freiheit ein, zu einer 

gleich wilden und grenzenlosen wie die der Steppe. 

Natürlich zog er es infolgedessen vor, lieber Händel zu 
suchen und unter Chmelnytzkyj die grossen Herren zu er¬ 
morden, als den stolzen Nacken unter die Peitsche des Un¬ 
terstarosten zu beugen.“ 


*) Bezüglich der Nachkommen Chams in ganz Europa im 
XVII. Jahrhundert wiederholt Herr Sienkiewicz mit Vorliebe die Lieb¬ 
lingsaussprüche der polnischen Publizisten, welche die bedrückte Lage 
der Leibeigenen in Polen mit dem sogenannten, damals herrschenden 
„Zeitgeist“ zu erklären suchen, das heisst sie weisen auf den Umstand 
hin, dass zu jener Zeit angeblich in ganz Europa die Bauern sich in 
derselben Lage befanden, wie im polnischen Königreiche. Wir wissen, 
dass diese vage Behauptung der polnischen Publizisten jeder Grundlage 
entbehrt und auch, wenn wir uns an eine beliebige Geschichte der Bauern¬ 
klasse in Europa halten, werden wir keine einzige, diese historischen 
Tatsachen begründende Behauptung finden. Hier einige Beispiele, die 
wir dem Werke Sugenheims (Geschichte der Aufhebung der Leib¬ 
eigenschaft und Hörigkeit in Europa, 1861) entnehmen: 

ln England bestanden schon im XI. Jahrhundert zahlreiche 
Verbindungen kleinerer Grundbesitzer (liberi homines); eine an Mit¬ 
gliedern noch zahlreichere Gruppe (ceorls) ist den Edelleuten nur 
tributpflichtig, besitzt aber die persönliche Freiheit; im XIII. Jahr¬ 
hundert ersetzt Heinrich 111. die Leibeigenschaft durch Zehente. Im 
XIV. Jahrhundert unter Eduard III. gibt es in England überhaupt keine 
Leibeigenen mehr und die ganze ackerbautreibende Bevölkerung be¬ 
steht aus freien Arbeitern (Seite 273, 274, 289, 291). 

In Frankreich sind die Bestrebungen der-Regierung immer 
darauf gerichtet, die Lage der Leibeigenen zu erleichtern und sie 
bietet ihnen eine ganze Menge von Garantien gegen die Übergriffe 
der Edelleute. Im Jahre 1407 schafft Karl VI. die von den Edelleuten 
willkürlich auferlegten Abgaben ab (droit de prise). Im Jahre 1479 hebt 
Ludwig XI. die Wachtpflicht auf. Im XV—XVII. Jahrhundert beauftragen 
die Könige das Parlament, für den Schutz der Leibeigenen Sorge zu 
tragen und ernennen spezielle Kommissionen zur Untersuchung der 
von den Edelleuten begangenen Missbräuche (Grands jours d’ Auvergne). 
Diese Kommissionen nehmen sich energisch der Angelegenheit an und 
fällen während einer einzigen Session 53 Todesurteile über die schul¬ 
digen Edelleute (S. 116, 140, 141, 145). 

In Italien begann die Aufhebung der Leibeigenschaft, dem 
Beispiele Florenz’ und anderer Städte folgend, schon im XII. Jahr¬ 
hundert und verbreitete sich rasch über das ganze Land. 

In Deutschland bestand die Mehrheit der Leibeigenen aus 
erblichen, persönlich freien Pächtern, in Holland und Belgien 
war im XV. Jahrhundert von Gesetzen der I eibeigenschaft keine Spur 
mehr übriggeblieben (S. 351—358, 539). 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 




366 


Dieser die Ukrainer vollkommen beherrschende, rohe 
Instinkt war ihrer wilden Natur derart eigen, dass das ganze 
Volk sich von ihm hinreissen liess; alle schlossen sich 
Chmelnytzkyj an, sogar die Weiber; es blieben in den 
Dörfern blos die Greisinnen und Kinder zurück; im allge¬ 
meinen Aufruhr begannen die Bauern alle Dörfer und Städte 
niederzubrennen; sie plünderten alle Scheunen, Wälder und 
Gärten, mordeten Alles, was ihnen in den Weg kam und 
nährten sich dabei von Baumrinde u. dgl. Alle diese Bilder, 
auf welche Sienkiewicz immer wieder zurückkommt, sind 
gänzlich unverständlich: alle Bauern haben sich empört und 
dem Aufstande Chmelnytzkyjs angeschlossen, alle Dörfer 
sind verödet und verwüstet; da wissen wir ja gar nicht, wen 
die Aufständischen ermordet und ausgeplündert haben, da 
begreifen wir einfach nicht, weshalb sie die Städte und Dörfer 
einäscherten, d. h. ihre eigenen Wohnsitze, weshalb sie die 
Vorräte an Lebensmitteln vernichteten, um sich selbst mit 
Baumrinde zu ernähren! Kurz und gut jedes Wort ist ein 
unlösliches Rätsel. So kann man z. B. aus den Aussprüchen 
Sienkiewicz’ unmöglich herausbringen, wer und wozu Korsun 
niedergebrannt hat zu einer Zeit, in welcher in der Umgebung 
dieser Stadt gerade der bekannte Kampf Chmelnytzkyjs mit 
den Polen wütete. Seiner Meinung nach hatten nicht alle 
Bauern an dem Aufstande teilgenommen, ein Teil war in 
Korsun zurückgeblieben, um diese, übrigens von den Kosaken 
bereits eingenommene Stadt zu zerstören. Wir könnten auch 
nicht erraten, zu welchem Zwecke diese Zerstörung vollbracht 
wurde, wenn wir nicht aus zeitgenössischen Quellen wüssten, 
dass Korsun ebenso wie Tscherkasy, Stebliw und die um¬ 
liegenden Dörfer gar nicht von den Bauern niedergebrannt 
wurden, sondern vom zurückweichenden, polnischen Militär 
auf Befehl des Hetmans Potocki (Jerlicz 64). 

Den Aussagen Sienkiewicz’ nach errichteten die Kosaken 
— ähnlich den mongolischen Eroberern — ganze Pyrami¬ 
den von abgehackten Köpfen, zündeten wie Nero 
die lebendigen Leiber als Fackeln an, zerrten 
wie die Azteken das Eingeweide der ermordeten 
Opfer heraus usw. usw. Um die von Sienkiewicz geschil¬ 
derten Gräuelszenen mit historischen Tatsachen zu ver- 


In Schweden wurde die Leibeigenschaft durch die Verordnung 
des Königs Magnus Erithson (1335) aufgehoben; in Norwegen ver¬ 
schwand jede Spur der Leibeigenschaftsgesetze im XIII. und XIV. Jahr¬ 
hundert (S. 502, 539) usw. 

Man könnte Hunderte ähnlicher Fälle aus der Geschichte der Leib¬ 
eigenschaft in Europa aufzählen. Und da wagt man zu behaupten, dass 
das „die Nachfolger Chams im XVII. Jahrhundert in Polen bedrückende 
Joch ein Resultat des in ganz Europa herrschenden Zeitgeistes ge¬ 
wesen ist“ und dass „die Auflehnung des Volkes gegen die Leibeigen¬ 
schaft in der Ukraine blos das Ergebnis seiner Wildheit und des 
Mangels an europäischer Kultur war“! 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



367 


gleichen, nehmen wir ein ganz beliebiges, konkretes Vor¬ 
kommnis. Da ist z. B. in einer zeitgenössischen Geschichts¬ 
quelle vom Tode des Barabasch die Kunde. Ein Zeitgenosse, 
ein Pole, berichtet darüber: „Die registrierten Kosaken . . . 
flüchteten zu Chmelnytzkyj, nachdem sie ihre Vorgesetzten, 
die Obersten Hasch und Barabasch, die sich um die polnische 
Republik besonderer Verdienste rühmen konnten, ermordet 
hatten.“ (Michalowski, Ksi^ga pami^tnicza, 33.) Diesen Daten 
folgend zeichnet Sienkiewicz folgendes Bild: „Barabasch zog 
es vor, lieber zu sterben, als seiner Fahne untreu zu 
werden . . . Sein Boot wurde von allen Seiten umringt und 
im Nu war das Verdeck von den Leichen seiner getreuen 
Kosaken bedeckt, die durchstochen, zersäbelt und 
mit blossen Händen zerstückelt wurden; aber 
der Greis kämpfte weiter mit dem Säbel in der Hand; 
unglücklicherweise gleitet er auf dem blutbesudelten Boden 
aus und fällt hin. Augenblicks durchbohren ihn mehrere 
Säbel und als Leiche noch wird er weiter miss¬ 
handelt, zerstückelt und sein abgehauenes 
Haupt gleich einem Spielball von einer Barke 
zur anderen geworfen, bis es zufällig ins Wasser fällt.“ 
Ähnliche Parallelen könnte man in,allen jenen Fällen ziehen, 
wo der Verfasser bildlich die Barbarei und Grausamkeit der 
Kosaken darzustellen sucht. Wenn man sich solcher Mittel 
bedient, kann man natürlich in jedem kriegerischen Schar¬ 
mützel die einen in edle Ritter, die anderen, die Gegner, in 
Kannibalen umwandeln. 

Aber verfolgen wir die weitere Entwicklung der Anti¬ 
these des H. Sienkiewicz: Nachdem sich die Kosaken, wie 
gesagt, durch besondere Grausamkeit auszeichneten, könnte 
man folglich erwarten, dass die Repräsentanten der Kultur 
sich humaner und sanfter erweisen. H. Sienkiewicz fühlt auch 
die unumgängliche Notwendigkeit der Darstellung dieses 
Gegensatzes heraus und behauptet hie und da — übrigens 
in ganz unklaren Phrasen — dass die Republik sich der 
Kosaken öfter tief erbarmte, aber er hat in der Geschichte 
keine Tatsachen zur Bestätigung dessen vorgefunden, und 
bezieht sich darauf, dass Nalywajko (einer der Kosaken¬ 
führer) angeblich anfangs begnadigt werden sollte (sic). Da¬ 
gegen traten eine Menge Tatsachen zutage, die betreffs der 
Barmherzigkeit das Gegenteil bewiesen, so dass der vom 
Künstlertum hingerissene Verfasser sich ihrer Darstellung nicht 
enthalten konnte. 

Nach seinen Worten werden alle Kosaken von den 
polnischen Soldaten niedergeschlagen, auch wenn sie die 
Waffen fortgeworfen und um Gnade gefleht hatten. Den Weg 
des Wiszniewiecki kennzeichnen „zerstörte Dörfer, Marktflecken 
und Städtchen, statt ihrer erheben sich blutige Pfähle und 
Galgen.“ Dieser Fürst stürmt Pohrebystsche und seine Be- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



völkerung wurde gänzlich niedergemetzelt. „700 Gefangene 
wurden gehenkt und 300 auf Pfähle gespiesst“, wobei der 
Fürst den Befehl erteilt: „bestrafet sie derart, dass sie fühlen 
sollen wie sie sterben“. Auf dem Durchzug in den Wäldern 
„verzierte er die Tannen mit den Leibern erhenkter Ge¬ 
fangener“ usw. Unermüdlich und mehrere Tage hintereinander 
brennen die Helden des H. Sienkiewicz die Dörfer nieder 
und schlagen die Köpfe ab bis zur Übermüdung; den in der 
Schlacht durch Blutverlust erschöpften Obersten Kretschewskyj 
nehmen sie gefangen und spiessen ihn auf einen Pfahl. 
Überhaupt werden die Gefangenen der Folter unterworfen, 
mit Feuer gesengt, auch wenn sie mit Wunden bedeckt sind. 
Sie schmeicheln sich in das Vertrauen einer Frau ein, indem 
sie sich als Freunde stellen und sie wird von ihnen samt 
ihrem verkrüppelten Diener kaltblütig hingemordet, weil man 
eine Hexe in ihr vermutet usw. Wenn die feindlichen Parteien 
in der Schlacht sich derartige unmenschliche Grausamkeiten 
zuschulden kommen Hessen, da kann man beide Teile ob 
ihrer schwachen Entwicklung bedauern, aber es können un¬ 
möglich die damaligen Vorgänge dem einen Teil zum Vor¬ 
wurf und dem anderen zum Ruhme gereichen. 

(Schluss folgt.) 



Über die €imvicklung*bedingutigen der ukrainischen 
Literatur. 

Von Mykola Dmytriew. *) 

In normalen Verhältnissen, bei Völkern, welche sich 
frei entwickeln dürfen, begründet und stützt sich die Literatur 
auf Leuten, welche derselben ihre Kräfte und ihr ganzes 
Leben widmen dürfen, nachdem ihnen die literarische Tätig¬ 
keit gemeinhin den Lebensunterhalt sichert. Die Erziehung 
solcher literarischen Kräfte ist kein Leichtes; da muss der 
Staat und die Gesellschaft mittätig sein, um die Auslese der 
Intelligenz der betreffenden Nation für den Dienst der gei¬ 
stigen Seite des nationalen Lebens heranzuziehen. Die natio¬ 
nale Schule, Zeitschriften, literarische und wissenschaftliche 
Gesellschaften, Theater, Museen, literarische Fonds und ma¬ 
terielle Unterstützungen seitens der beiden obgenannten 
Faktoren, das sind die treibenden Kräfte einer normalen 
literarischen Entwicklung. Unter solchen Bedingungen wachsen 


*) Der Artikel war gedacht als Anfang eines Zyklus, welcher 
jedoch infolge des tragischen Endes des Verfassers, über welches 
wir an anderer Stelle berichten, nicht fortgesetzt werden kann. Im 
Übrigen bildet der vorliegende Aufsatz ein abgeschlossenes Ganzes 
für sich. Die Red. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



literarische Kräfte heran, entsteht die Literatur. So stehen 
die Sachen bei den Franzosen, Deutschen, Italienern, 
Tschechen, Polen und Russen, kurz bei allen Völkern, 
deren normale Entwicklung nicht durch nationale, politische 
und wirtschaftliche Unterdrückung gehemmt wird. Anders 
verhält es sich aber leider bei den Ukrainern in Russland, 
bei denen die Russifizierungspolitik Jahrzehnte und Jahr¬ 
hunderte lang wahre Orgien feierte und in dem berüchtigten 
Ukas von 1876, demzufolge die ukrainische Literatur, be¬ 
ziehungsweise der Gebrauch der ukrainischen Sprache zu 
literarischen Zwecken einfach absolut verboten wurde, ihren 
Kulminationspunkt erreicht hatte. Selbstverständlich wurde 
die ukrainische Sprache aus sämtlichen Schulen eliminiert, 
so dass der jüngeren Generation sogar die Gelegenheit be¬ 
nommen wurde, sich die Kenntnis der ukrainischen Recht¬ 
schreibung anzueignen, vom Studium der Sprache und der 
Literaturgeschichte ganz zu schweigen. Von einer regel¬ 
rechten literarischen Tätigkeit, mit deren Produktion sich 
die Produzenten ins Ausland flüchten mussten (die Klausel 
im Sprachverbotsukase, welche gewisse belletristische Er¬ 
zeugnisse zuliess, wurde dank der Zensur illusorisch!), 
konnte natürlich keine Rede sein. Schriftsteller, welche in 
ukrainischer Sprache schrieben, mussten auf den moralischen 
Erfolg, gelesen zu werden, ebenso wie auf materielle Erfolge 
verzichten. Ukrainische Schriftsteller waren wahre Märtyrer 
ihrer literarischen Tätigkeit und durften dieselbe nur als 
eine Nebenbeschäftigung betrachten. Unter solchen Um¬ 
ständen bildet die Entwicklungsgeschichte eines jeden ukrai¬ 
nischen Schriftstellers im XIX. Jahrhundert eine Tragödie 
verlorenen Talentes, eines durch schwerste Daseinsverhält¬ 
nisse vernichteten Lebens, worunter naturgemäss die 
geistige Entwicklung des ganzen Volkes schwer litt. 

Einen regelrechten Schriftstellerstand von Beruf gab es 
bei den Ukrainern nicht. Erst in letzter Zeit, als die Ketten, 
welche das ukrainische Wort fesselten, teilweise gesprengt 
wurden, ersteht auch bei uns eine Schar von literarischen 
Arbeitern, denen die ukrainische Gesellschaft die Möglichkeit 
bietet, sich ausschliesslich auf literarischem Gebiete zu be¬ 
tätigen. 

Erst wenn wir alle diese erschwerenden Umstände ins 
Auge fassen, werden wir uns ein richtiges Urteil über die 
Fortschritte des ukrainischen Volkes auf dem Gebiete der 
literarischen Entwicklung in den letzten 20 bis 30 Jahren 
bilden können. Nur mit Kenntnis des Gesagten wird man 
imstande sein, die neuen literarischen Kräfte, welche sich in der 
letzten Zeit um die zahlreich aufgetauchten ukrainischen Ver¬ 
lagsfirmen und Zeitschriften gruppiert haben, deren Namen 
man in verschiedenen literarischen Sammlungen, Anthologien, 
Almanachen etc. begegnet, richtig zu beurteilen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



370 


Es lässt sich in der Ukraine bei der ukraini¬ 
schen Gesellschaft eine beachtenswerte Bewegung zur 
Hebung und Pflege der ukrainischen Literatur und Heran¬ 
ziehung und Organisatipn von neuen literarischen Kräften 
merken. Ich brauche nur auf die Gründung der Schewtschenko- 
Gesellschaft der Wissenschaft in Kijew hinzuweisen. Das 
Erfreulichste aber ist, dass der Leserkreis für ukrainische 
Bücher konstant wächst und infolgedessen der ukrainische 
Büchermarkt von immer neuen literarischen Erzeugnissen 
überschüttet wird. 


flu die Gegner der nationalen Selbständigkeit der 
Ukrainer» 

(Aus der Rede des Reichsratsabgeordneten Prof. Alexander Kolessa, 
gehalten am 11. Juni 1908 im österreichischen Abgeordnetenhause.) 

Das zentralistische altbewährte Prinzip: „Divide et impera“ 
haben in letzter Zeit nicht nur Regierungsorgane, sondern auch manche 
polnische Politiker den Ruthenen gegenüber angewendet. Sie haben 
die künstlich geschaffenen galizischen Pseudorussen gegen die Ru¬ 
thenen ins Treffen geschickt. Die schönen Seelen haben sich neben¬ 
einander gefunden, denn sowohl die Allpolen wie auch die Allrussen 
möchten ganz einfach die ukrainische oder ruthenische Nation aus 
der Welt schaffen. Es war alles, wie Goethe sagt: 

Wohl erfunden, klug ersonnen, 

Schön gebildet, zart vollbracht. (Sehr gut!) 

Am 25. Mai haben wir die „Bekenntnisse einer schönen Seele“ 
hier gehört. Doktor Juris hat sich hier als politischer Philolog präsen¬ 
tiert. Mit einem Konversationslexikon in der Hand hat er nachweisen 
wollen, dass die ruthenische Sprache nur ein Dialekt der russischen 
Sprache, dass die galizischen Ruthenen nur ein Bestandteil der ge¬ 
samten russischen Nation seien, dass also die russische Nationalität 
in Österreich mit allen Konsequenzen anerkannt werden soll. Der 
pseudorussische Redner sollte aber nicht ausser acht lassen, dass man 
auch, um im Konversationslexikon das Richtige zu finden, die Sache 
verstehen muss, geschweige denn in einem Fachorgan, wie es das 
„Archiv für slawische Philologie“ ist. 

Entschuldigen Sie, meine hochverehrten Herren, dass ich auch 
einige philologische und historische Fragen zur Erörterung bringe, 
damit mittels philologischer Trugschlüsse keine uns feindlichen poli¬ 
tischen Tendenzen hier propagiert werden. Man hat hier die Worte 
des hochverehrten Professors Jagi6 zitiert, dass alle russischen Dialekte 
gegenüber den übrigen slawischen Sprachen ein mit vielen merkwür¬ 
digen Zügen innerer Einheit, ausgestattetes Ganzes bilden. Um die 
Worte Jagid’ zu verstehen, muss ich einige Bemerkungen voraus¬ 
schicken. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



Der Hauptteil des ruthenischen oder ukrainischen Volkes, 
welches in der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht volle 4 Mil¬ 
lionen zählt, bewohnt die südrussischen Provinzen in der Zahl von 
über 26 Millionen. Als ein selbständiges Ganzes wird es auf allen 
ethnographischen Karten bezeichnet. 

Hier haben wir zum Beispiel eine ethnographische Karte, verfasst 
von Petermann, einem der hervorragendsten europäischen Fachmänner 
und herausgegeben vom Geographischen Institut (eine Karte vorweisend ); 
eine andere ist von Welyczko. ln dieser Karte werden auch die Ru- 
thenen gegenüber den Russen als ein abgesondertes Ganzes darge¬ 
stellt. Auch die ukrainisch-ruthenische Sprache besteht aus mehreren 
Dialekten und Mundarten, welche auf den dialektologischen Karten 
ganz genau ersichtlich sind. Da haben wir eine dialektologische Karte 
(der Redner weist eine Karte vor), verfasst von Tschubinskyj und Mychal- 
czuk, in Russland herausgegeben, wo alle ukrainischen Dialekte als 
ein Ganzes dargestellt werden, obwohl sie im Rahmen des klein¬ 
russischen oder ukrainischen Gebietes sich auch voneinander 
unterscheiden. Die hervorragendsten Zentra des politischen und kultu¬ 
rellen Lebens der Ruthenen befanden sich in der am Dniprflusse 
liegenden Ukraine, deren südlicher, schöner und typischer Dialekt 
zur Literatursprache erhoben wurde. Das Land Ukraine hat seinen 
Namen der gesamten Nation verliehen. 

Weiter muss bemerkt werden, dass der slawische Zweig der 
indoeuropäischen Sprachen in drei Gruppen geteilt wird. Als mass¬ 
gebend kann hier auch das Werk eines der hervorragendsten russischen 
Sprachforscher, Professors und Akademikers Fortunatow, betrachtet 
werden: „Vergleichende Sprachwissenschaft“. Der slawische Zweig 
zerfällt in drei Gruppen: 1. die südslawische Sprachengruppe (bul¬ 
garische, serbokroatische, slowenische Sprache), 2. westslawische 
Sprachengruppe (polnische, tschechoslowakische und kaschubische 
Sprache), 3. russische oder ostslawische Sprachengruppe. Die letztere 
umfasst: a) die grossrussisch-weissrussische Sprache, b) die klein¬ 
russische (ukrainische, ruthenische) Sprache. Ein Ganzes bildet diese 
ostslawische Gruppe nicht gegenüber einer jeden slawischen Sprache, 
sondern gegenüber der südslawischen Sprachengruppe einerseits und 
gegenüber der westslawischen Sprachengruppe andrerseits, wobei sie 
mit manchen inneren Merkmalen enger verbunden ist. 

Innerhalb der ostslawischen oder russischen Sprachengruppe 
zeichnet sich die ukrainische (ruthenische, kleinrussische) Sprache mit 
vielen schon in den ältesten Denkmälern hervortretenden selbständigen 
Zügen aus, welche sich im historischen Entwicklungsgänge der Sprache 
immer origineller und reichlicher gestalten. — Gerade Herr Professor 
Jagid hat dazu wesentlich beigetragen, viele von denjenigen sprach¬ 
lichen Merkmalen, welche die ruthenische (ukrainische, kleinrussische) 
Sprache von der grossrussischen absondern, in ihrer historischen Ent¬ 
wicklung zu erforschen, indem er diese Frage eingehend in mehreren 
seiner Werke bespricht, wie „Vier kritisch-paläographische Abhand¬ 
lungen“ (Petersburg 1884) oder „Kritische Bemerkungen zur Geschichte 
der russischen Sprache“, Petersburg 1889. Dass dieser hervorragendste 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



372 


slawische Philolog kein Gegner der selbständigen Entwicklung des 
ruthenischen (ukrainischen) Volkes, der ruthenischen Sprache und 
Literatur ist, darüber bin ich als Schüler des hochverehrten Professors 
Jagil, dem ich sehr viel verdanke und der auch meine sprachhisto- 
rische Abhandlung im Archiv für slawische Philologie veröffentlichte, 
darüber bin ich persönlich vortrefflich unterrichtet, ebenso wie der 
bekannte ruthenische Schriftsteller Dr. Iwan Franko, welcher längere 
Zeit mit Hofrat Professor JagiC persönlich bekannt war. 

Im XX. Band des Archivs für slawische Philologie, Seite 624 
bis 638, schreibt Professor Jagid: „Für die Erforschung der klein¬ 
russischen Sprache, Literatur und Ethnographie ist in Russland selbst 
der Boden unter gegenwärtigen Verhältnissen nicht günstig! Man 
perhorresziert jede Manifestation in diesen Richtungen als einen an¬ 
geblich nicht ungefährlichen Separatismus, wobei man ausseracht 
lässt, dass gerade durch die gewaltsame Unterdrückung jeder freien 
Regung des kleinrussischen Volkstums, das nun einmal nicht weg¬ 
geleugnet werden kann, zunächst Unzufriedenheit und dann auch Se¬ 
paratismus grossgezogen werden kann." Indem Professor Jagi6 weiter 
die rege Tätigkeit der ruthenischen Schewtschenko-Gesellschaft der 
Wissenschaften warm bespricht und der Hoffnung Ausdruck gibt, dass 
sie sich mit der Zeit in eine Akademie der Wissenschaften entwickeln 
kann, bemerkt er: „Jeder echte Freund des kulturellen Fortschrittes 
kann sich darüber nur freuen; ich habe nie begreifen können, wie 
manche Slawisten (hier hat er den Kijewer Professor Florinskij ge¬ 
meint) zum Beispiel über die Fortschritte der Slowaken ordentlich in 
Entzückung geraten, den Ruthenen dagegen nicht das geringste gönnen." 

Ich werde die Geduld des hohen Hauses nicht auf die Probe 
stellen und werde mich nicht auf alle diejenigen wissenschaftlichen 
Autoritäten berufen, welche die ruthenische (ukrainische) Sprache als 
eine entwicklungsfähige, selbständige Kultursprache betrachten. Ich 
nenne hier nur die berühmten Werke des Miklosich, eines der Gründer 
der slawischen Philologie; dann die Werke des Potebnja, welchen 
Jagid als den tiefsinnigsten slawischen Philologen bezeichnet; weiter 
die Abhandlungen des Zyteckyj, Ohonowskyj, besonders aber die Werke ' 
des vortrefflichen russischen Sprachforschers Akademikers Schachmatow. 
Ausschlaggebend ist in dieser Richtung seine ausgezeichnete Abhand¬ 
lung „Zur Entstehungsfrage der russischen Sprachen und russischen 
Nationalitäten“, herausgegeben in Petersburg im Jahre 1889. Schon der 
Titel selbst dieser Abhandlung zeigt deutlich, dass es sich um keine 
einheitliche russische Sprache und Nationalität handelt. Was die letz¬ 
tere anbelangt, so hat der bekannte Historiker Kostomarov in seiner 
Monographie „Zwei russische Nationalitäten“ die kulturhistorischen 
Unterschiede zwischen den Ruthenen (Ukrainern) und Grossrussen 
hervorgehoben. Nicht unbedeutend waren in dieser Hinsicht die ver¬ 
schiedenartigsten Kulturquellen und verschiedenartige fremde Einflüsse, 
unter welchen sich die Ruthenen (Ukrainer) einerseits und die Gross¬ 
russen andrerseits entwickelten. 

In Galizien waren die Ruthenen seit dem XIV., in den übrigen 
Ländern seit dem XVI. Jahrhundert den westeuropäischen Einflüssen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



373 


ausgesetzt, während die Grossrussen unmittelbar auf orientalische 
Einflüsse angewiesen waren, westeuropäische Einflüsse aber bis zur 
Zeit Peters des Grossen hauptsächlich den ruthenischen (ukrainischen) 
Gelehrten, Schriftstellern und Geistlichen zu verdanken haben. 

Dieser Unterschied verschiedenartiger und verschiedengradiger 
kultureller Einflüsse tritt klar in der Literatur und Kunst dieser beiden 
Völker zum Vorschein. Ein kleines anschauliches Beispiel kann der 
Vergleich der beiden Arten der Ornamentik ersichtlich machen. Hier 
(eine Tafel vorweisend) haben wir die Ornamentik eines der ältesten 
südrussischen, das ist altukrainischen Denkmäler Sbornyk Swjatoslawa 
vom Jahre 1073 und hier ist die Ornamentik des Ostromirs-Evange- 
liums vom Jahre 1056, eines nordrussischen Denkmals. Während die 
letztere Ornamentik mehr an den byzantinischen Vorbildern festhält, 
hat sich in dieser Zeit auf Grund der byzantinischen Vorlage in Süd¬ 
russland eine originelle Ornamentik herausgebildet, eine Ornamentik, 
die auch auf den Fresken der Kiewer Sophien-Kirche ersichtlich 
ist. Aus dem XIV. und XV. Jahrhundert habe ich hier auch einige Or¬ 
namente, welche in den alten Handschriften überliefert worden sind. 
(Redner weist solche vor.) Hier sind ruthenische und hier russische Or¬ 
namente. Die ersteren sind auf Grundlage der byzantinischen Orna¬ 
mentik gewissermassen unter westeuropäischem Einfluss entstanden, 
die letzteren unter orientalischem Einflüsse und der Unterschied ist 
hier so gross, dass jeder Laie ihn auf den ersten Blick erkennen 
muss. Hier ist das teratologische Element mit orientalischen Motiven 
stark entwickelt und in dieser Ornamentik kommen zum Beispiel die 
Fassaden der russischen Kirchen zum Vorschein, während hier wieder 
in geometrischen Figuren solche Ornamentmotive sich zeigen, welche 
wir mehr in westeuropäischen Quellen vorfinden können. 

Die ethnologischen Unterschiede zwischen diesen beiden 
Völkern haben unter anderen Bogdanow und Anuczin auf Grund der 
anthropologischen Forschungen nachgewiesen. 

Eine entscheidende moralische Niederlage hat allen Gegnern der 
selbständigen Entwicklung der ukrainischen Nation die Petersburger 
Akademie der Wissenschaften bereitet. Sie eröffnete ihre Pforten den 
in ukrainischer Sprache verfassten wissenschaftlichen Abhandlungen 
und hat* im Jahre 1905 ein offizielles Memorandum veröffentlicht, unter 
dem Titel: »Die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften über die Auf¬ 
hebung der Einschränkungen, betreffend die kleinrussischen Druck¬ 
schriften.“ Diese Publikation ist gegen den Ukas vom Jahre 1876 ge¬ 
richtet, mit welchem die ukrainische Sprache und Literatur in Russ¬ 
land proskribiert wurde. Dieses massgebende Memorandum war das 
Resultat der Beratungen einer besonderen Kommission, in welcher 
aolche Fachmänner wie Fortunatow, Korsch, Famincyn, Lapo-Dani- 
lewskij, Oldenburg tätig waren. Als Hauptreferent galt der Akademiker 
Schachmatow, einer der besten Kenner der russischen Philologie. 
Indem die Verfasser den Entwicklungsgang der ukrainischen Sprache 
und Literatur seit dem XI. Jahrhundert in den Grundzügen schildern, 
treten sie gegen jene auf, welche der ukrainischen Nation die gross¬ 
russische Sprache als angeblich »allgemein russische“ aufoktroyieren 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



374 


möchten. Ich erlaube mir eine Stelle dieses Memorandums anzu¬ 
führen (liest): „Haben wir denn das Recht von einer „allgemein¬ 
russischen“ Sprache zu sprechen? Es unterliegt keinem Zweifel, dasa 
die Vorfahren der Russen einst eine gemeinsame Sprache besassen. Diese 
in schriftlichen Denkmälern uns nicht überlieferte und nur hypothetisch 
neu geschaffene Sprache bekam in der Wissenschaft die Benennung r 
„allgemeinrussisch“. Noch in der vorhistorischen Epoche wies die 
„allgemeinrussische“ Sprache verschiedene dialektische Besonder¬ 
heiten auf, welcher Umstand auf das Bestehen von drei Gruppen des¬ 
russischen Stammes schliessen lässt: die nordrussische, die mittel¬ 
russische und die südrussische. Die südrussischen Denkmäler unserer 
alten Literatur des XI. und XII. Jahrhunderts, wie es zum erstenmal 
unser ehrwürdiges Mitglied, der Akademiker A- J. Sobolewskij nach¬ 
gewiesen hat, weisen eine Reihe von typischen Merkmalen der ukrai¬ 
nischen Sprache auf: sie lassen keinen Zweifel mehr übrig, dass die 
südrussischen (kleinrussischen) Dialekte bereits in der vortartarischen 
Periode sowohl von den mittelrussischen wie auch von den nord¬ 
russischen vielfach abwichen. Diese Unterschiede konnten nicht ein¬ 
mal durch die politische Vereinigung der russischen Stämme im X- 
und XI. Jahrhundert verwischt werden. „Auf diese Weise bewirkten 
die historischen Bedingungen eine vollständige Absonderung Süd¬ 
westrusslands (Kleinrusslands) und des von den Grossrussen be¬ 
wohnten Territoriums, daher die faktischen Unterschiede in der Sprache 
der beiden Nationalitäten, der gross- und kleinrussischen. Das histo¬ 
rische Leben schuf für sie keine gemeinsame Sprache, es machte viel¬ 
mehr jene dialektischen Besonderheiten noch deutlicher, durch welche 
sich die Vorfahren der Kleinrussen einerseits und die der Grossrussen- 
andrerseits in den Anfängen unserer Geschichte auszeichnen. Es ist 
evident, dass die lebendige grossrussische Sprache, wie sie in Mos¬ 
kau, Rjazan, Jaroslau, Archangelsk und Nowgorod gesprochen wird, 
im Gegensatz zu der ukrainischen Sprache in Poltawa, Kiew und 
Lemberg, unter keiner Bedingung „allgemeinrussisch“ genannt werden 
kann. Das Resultat war ein solches, dass einerseits die grossrussische 
Schriftsprache mit der Alltagssprache der Grossrussen gleich, andrer¬ 
seits wiederum die Alltagssprache der Ukrainer zur Sprache der neuen 
ukrainischen Literatur wurde.“ 

Um dieses Zitat verständlicher zu machen, sei es mir gestattet 
hinzuzufügen, dass die historische Periode im Entwicklungsgänge 
unserer Sprache vom XI. Jahrhundert an gerechnet wird, aus 
welchem wir die ältesten Sprachdenkmäler haben. Schon in dieser 
Zeit war die russische Sprache nicht einheitlich. Im Laufe des XI. bis 
XIV. Jahrhunderts sind alle diejenigen wesentlichen Merkmale zum 
Durchbruch gekommen, welche gegenwärtig die grossrussische Sprache 
einerseits und die ruthenische (ukrainische, kleinrussische) Sprache 
andrerseits kennzeichnen. Die Originale dieser ältesten Denkmäler be¬ 
finden sich hauptsächlich in den Bibliotheken Russlands. Zum Bei¬ 
spiel: Sbornyk Swjatoslawa vom Jahre 1073 in Moskau, vom Jahre 
1076 in der Kaiserlichen Bibliothek Petersburg. — Andere in Kiew, 
Wilna und anderen Städten. Nur wenige von ihnen befinden sich in 


Digitized by 


Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



Österreich, zum Beispiel: Apostel von Kristinopel, XII. Jahrhundert, in 
Lemberg; Kodex Hankensteinianus, XIII. Jahrhundert, in der Hofburg¬ 
bibliothek in Wien. Glücklicherweise kann ich einen solchen alt- 
ruthenischen Kodex hier demonstrieren. (Der Redner weist hier einen 
Pergamentkodex vor.) Es ist das Evangelium aus Horodyszcze, Sokaler 
Bezirk, in Galizien aus dem XII. oder XIII. Jahrhundert. Obwohl er 
sechs bis sieben Jahrhunderte hinter sich hat, so kann man schon in 
ihm viele von diesen Eigentümlichkeiten finden, welche die gegen¬ 
wärtige ruthenische Sprache im Gegensätze zu der grossrussischen 
kennzeichnen. Der ganze Text dieser Pergamenthandschrift ist aus 
dem XII. oder XIII. Jahrhundert, nur eine Glosse ist aus dem XIV. 
oder XV. Jahrhundert. Die Zeit kann man nicht ganz genau bestimmen, 
man kann sich aber höchstens um ein Jahrhundert irren, wenn man 
mit der Akribie rechnen muss. Aber jedenfalls ist dieser Kodex nicht 
jünger, als aus dem XIII. Jahrhundert. 

Also ich glaube, auf Grund solcher und anderer Quellen und 
anderer wissenschaftlichen Mittel kann man über die Geschichte der 
ruthenischen Sprache reden, und nicht auf Grund eines Konversations¬ 
lexikons. (Zustimmung.) 

So äussert sich über die Frage der ruthenischen Sprache, 
Literatur und Nationalität die Philologie und die Wissenschaft über¬ 
haupt. Mehr hat aber das Leben selbst gesprochen und bewiesen. 
Schon der verehrte Herr Professor Masaryk hat bemerkt, dass für 
ein Volk nicht die Sprache selbst und nicht die Philologie, sondern die 
politische Konzentration, historische Tradition und das Nationalgefühl 
ausschlaggebend sind. Der bekannte französische Gelehrte Ernst Renan 
zieht diejenigen Elemente in Erwägung, welche für den Begriff einer 
Nation entscheidend sind, wie Rasse, Sprache, Religion, politische 
Einheit, physisches und ethnographisches Territorium usw. und kommt 
zur Folgerung, dass keines von diesen Elementen an und für sich 
massgebend ist. „Eine Nation“, sagt Renan, „ist eine moralische Ver¬ 
bindung von Interessen des Herzens und Geistes durchdrungen, ein 
moralisches Ganzes der Menschen, welche gemeinsame historische 
Tradition, gemeinsame Opferwilligkeit, gemeinsame Helden, gemein¬ 
same ruhmumwundene historische Leiden und Freuden, und gemein¬ 
sames Streben zu einem Zukunftsideal an den Tag legen.“ Alle diese 
Elemente, welche für eine Nation entscheidend sind, treten im histori¬ 
schen Leben und Streben der Ruthenen mit voller Klarheit hervor. 
„Und was ein Volk zusammen sich gesammelt, soll ewiges Gesetz für 
Herz und Seele sein“, sagt Goethe. 

Sowohl in der Zeit der starken politischen Expansion und Kon¬ 
zentration des ruthenischen Volkes, zur Zeit des Fürsten Jaroslaw des 
Weisen und auch während der inneren Kämpfe und Kriege um die 
politische Selbständigkeit hat unser Volk sein Nationalgefühl in seinen 
literarischen Werken, in Chroniken, Predigten, epischen und lyrischen 
Gedichten, Dramen, besonders aber in seiner reichhaltigen historischen 
Volkspoesie zum Vorschein gebracht, wo seine Selbständigkeit und 
Absonderung einerseits von den Polen, andererseits von den Gross¬ 
russen zum Durchbruch gelangt. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSUM 



376 


Trotz des politischen Verfalles haben die Ruthenen eine reich¬ 
haltige schöne Literatur gebildet, in welcher, besonders aber in 
Gedichten Schewtschenkos, ihre nationalen Zukunftsideale durch- 
schimmern. Die Ruthenen haben auch auf dem Gebiete der wissen¬ 
schaftlichen Literatur in ihrer Muttersprache Erhebliches geleistet. Sie 
haben die schwersten Momente der nationalen Unterdrückung in Russ¬ 
land, vor dem japanischen Kriege, überstanden und haben sich dort 
manche Lebensbedingungen erworben. Mit einem Worte, wir fühlen 
und denken als eine selbständige Nation, wollen als solche bleiben, 
und glauben an unsere bessere Zukunft. (Lebhafter Beifall.) 

Meine Herren! Es gibt keine ukrainische Partei — es gibt nur 
eine ukrainische Nation, aber mehrere ukrainische Parteien — und alle 
Kriegserklärungen unserer Gegner, welche gegen die angebliche ukrai¬ 
nische Partei gerichtet sind, gelten dem gesamten ukrainischen Volke 
in Österreich. (So ist es!) 

Um jedem Missverständnisse vorzubeugen, erklären wir, dass 
wir keine Gegner des russischen Volkes sind. Im Gegenteil, wir sind 
Anhänger der russischen Literatur und der russischen Kulturerrungen¬ 
schaften. Wir haben gar nichts dagegen, dass die wohlklingende, 
reiche und schöne russische Sprache, in welcher weltberühmte belle¬ 
tristische und ausgezeichnete wissenschaftliche Werke verfasst sind, 
an den österreichischen Hochschulen ihre Lehrkanzel hat. Wir müssten 
nur dagegen protestieren, dass man mit dieser Sprache in Mittel- und 
Volksschulen an unserem Volke Experimente macht. (Zustimmung.) Wir 
müssten gegen solche Experimente entschiedenst Stellung nehmen, 
auch dann, wenn wir manche grosszügige Pläne mancher polnischer 
Politiker damit durchkreuzen sollten. 

4 


Rtutdscbau. 

+ Mykola Dmytriew. In dieser Nummer bringen wir einen 
Aufsatz von dem auf eine tragische Art verstorbenen Führer der Polta- 
waer Ukrainer. Ihn ereilte der Tod in den Wellen des Flusses Pslo, 
in welchen er sich gestürzt hat, um sein in den Wirbelstrom gefallenes 
Dienstmädchen zu retten. Beide wurden als Leichen herausgezogen. 
Das Unglück geschah nach einem kaum halbwöchentlichen Aufenhalt 
im Dorfe Jaresky, wohin sich der Verstorbene zur Erholung begeben 
hatte. Ein angesehener Advokat in Poltawa, war Dmytriew die Seele 
der dortigen ukrainischen Bewegung, er war Gründer und Herausgeber 
des nach der Reihe als zweite ukrainische Zeitschrift erschienenen 
„Ridnyj Kraj“ bis zu dessen Verbot und der infolgedessen einge¬ 
tretenen Überführung nach Kijew. Vor allem zeichnete er sich aus als 
unerschrockener Verteidiger in den verschiedensten politischen Pro¬ 
zessen. Die Ukrainische Rundschau zählte den Verstorbenen seit einigen 
Jahren zu ihren Mitarbeitern. Ehre seinem Angedenken! 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



377 


Der Kampf gegen den ukrainischen Gesetzentwurf in 
der Duma. Der von 37 Abgeordneten aus der Ukraine eingebrachte Antrag 
auf Einführung der ukrainischen Vortragssprache in den Volksschulen 
in der Ukraine lässt die echtrussischen Patrioten nicht ruhig schlafen. 
Das Gespenst des nationalen Separatismus der Ukrainer tauchte in 
der Duma wieder auf, ungeachtet dessen, dass ihm durch die be¬ 
rühmte Wahlreform Stolypins der Weg ins russische Parlament ge¬ 
schlossen zu sein schien. Das nationale Gefühl regte sich nämlich auch 
in den Seelen der aus der Ukraine in die Duma geschickten Anhänger 
der rechten russischen Parteien, und dies macht die Herren noch mehr 
verlegen, als der 47 Mann starke Ukrainerklub in der zweiten Duma 
mit dessen Proprammpunkt, betreffend die Autonomie der Ukraine. — 
Neulich trat der zum Zwecke des Kampfes gegen das Ukrainertum ins 
Leben gerufene „Klub der russischen Nationalisten" in Kijew zu¬ 
sammen, um „das Projekt der 37 Dumamitglieder einer allseitigen 
Kritik zu unterziehen". Die Teilnehmer der Beratung stellten in einer 
Resolution fest, „dass die Kleinrussen die russische Sprache ausge¬ 
zeichnet verstehen, und der Unterricht in dieser Sprache den Klein¬ 
russen keine Schwierigkeiten bereitet"... In einer zweiten Resolution 
wird festgestellt, dass der Gesetzentwurf „keineswegs päda¬ 
gogische, vielmehr ausschliesslich politische Ziele 
verfolgt, und als solcher nur eine Konsequenz des Programmes der 
ukrainischen Separatisten ist, welch letztere nur den Feinden des 
russischen Volkes und des gesamten Slaventums in die Hände ar¬ 
beiten“ ... 

Das Organ der russischen Nationalisten, „Kijewlanin", der 
Prediger des Kampfes gegen die ukrainische nationale Bewegung, 
schreibt aus diesem Grunde: „Wie sonderbar es auch erscheinen mag, 
so steht es fest, dass die ukrainophile Bewegung in unserer ver¬ 
rückten Zeit wächst und sich unter unserer Intelligenz und Halb¬ 
intelligenz immer mehr Anhänger erwirbt. Wir müssen zugeben, dass 
wir die ukrainische Bewegung verpasst haben. Statt dagegen an¬ 
zukämpfen, haben wir dieselbe verspottet, ohne ihr eine ernste Be¬ 
deutung zuzumuten. Jetzt erstarkte der Ukrainophilismus derart, dass 
wir mit ihm rechnen und gegen ihn kämpfen müssen." 

Freilich ist dieser Erguss nur eine Selbsttäuschung. Zweieinhalb 
Jahrhunderte politischer und nationaler Sklaverei, das Verbot der 
ukrainischen Sprache, welches auf der Ukraine seit 1876 vierzig Jahre 
lang lastete und auch jetzt noch nur teilweise ausser Kraft getreten 
ist, das ist doch nichts weniger als ein Beweis dafür, dass die Russen 
die ukrainische Bewegung „verpasst" hätten. Oder glaubt das russisch¬ 
nationale Blatt, dass noch barbarischere Massregeln gegen das ukrai¬ 
nische Volk möglich und nötig sind? 

Ein kurioser Prozess. In einer Kundgebung des „Ukraini¬ 
schen Lehrerbundes" in Kijew heisst es, dass die Mitglieder 
eine besondere Aufmerksamkeit den Erzeugnissen der „schönen 
Literatur" widmen sollen, also ein ganz loyales Ansinnen. Des¬ 
wegen mussten sich aber die in dem Bunde vereinigten Lehrer vor 
dem Kijewer Gericht verantworten. Ukrainisch heisst nämlich „schöne 




378 


Literatur“ — „Kraßne pysmenstwo“. Nun bedeutet das im Ukrainischen 
den Begriff des Schönen bezeichnende Wort russisch — rot, folglich 
schlossen die Herren, erklärte sich der ukrainische Lehrerbund als 
Förderer der „roten“, also „revolutionären“ Literatur, und dafür führt 
der Weg ins Gericht. Er führte auch die ukrainischen Lehrer dorthin. 
Vergeblich waren die Bemühungen des Verteidigers der Angeklagten, 
Michnowskyj, der statt mit juristischen Paragraphen zu operieren, den 
russischen Richtern einen philologischen Vortrag hielt. Es ist noch 
als ein besonderes Glück für die Angeklagten zu betrachten, dass 
das Gericht sich entschlossen hat, sich an die historisch-philologische 
Fakultät um einen Sachverständigen zu wenden... — Allerdings hat 
der Prozess seine Seitenstücke in Galizien, wo die Unkenntnis der 
ruthenischen Sprache seitens polnischer Richter bereits zu wieder- 
holtenmalen falsche Urteile zur Folge hatte. 

Zwei Allslaventage in Prag. Vom 25. bis 30. Juni tagte der 
allslavische Studententag in Prag, vom 13. bis 20. Juli weilten in 
derselben Stadt die verantwortlichen Vertreter der verschiedenen slavi¬ 
schen Völker. Wie sonderbar es auch klingen mag, beide Allslaventage 
waren eine Manifestation gegen die slavische Solidarität. Der allsla¬ 
vische Studententag wurde von Vertretern der fortschrittlichen Studenten 
aller slavischen Völker beschickt, auch die Ukrainer aus Russland 
und Österreich nahmen daran teil. Auch die Weissrussen waren ver¬ 
treten. Sowohl die Ukrainer, als auch die Weissrussen benützten die 
Gelegenheit, um gegen die Unterdrückung von Slaven durch Slaven 
zu protestieren. Von den Debatten über die slavische Solidarität 
zogen sich die beiden Gruppen zurück. Zu Anfang der Beratungen 
hob der Redner der Ukrainer hervor, sie seien dem Rufe der Veran¬ 
stalter des slavischen Studententages gefolgt, um vor den studen¬ 
tischen Vertretern sämtlicher Slavenvölker das Bild der Leiden des 
ukrainischen Volkes, welche ihm von seinen slavischen Brüdern, den 
Russen und Polen zugefügt werden, aufzurollen. „Es gelang — schreibt 
der Teilnehmer und Berichterstatter über den allslavischen Studenten¬ 
tag, Student Nazaruk — dem Sprecher der Ukrainer wohl leicht zu 
beweisen, dass der polnische und russische Druck schwerer ist, als 
der türkische oder germanische, gegen welchen sich die anderen Redner 
wandten“ ... 

Es ist hervorzuheben, dass die ukrainischen Studenten nicht nur 
an dem Kongresse teilnahmen, sondern sogar die stärkste Teilnehmer¬ 
gruppe waren. Die ukrainischen Studenten aus K i j e w und Lem¬ 
berg, Charkow und Odessa, Czernowitz und Dorpat, 
Petersburg und Wien manifestierten hier für die ukrainische 
Nationalität. 

• * * 

Die zur Besprechung der k u 11 u r e 11 e n Einigkeit der slavi¬ 
schen Völker einberufene Konferenz slavischer Politiker nach 
Prag war eine Manifestation der slavischen Solidaritätslosigkeit. Ein 
ganzes Volk, die Weissrussen, welche für sich die nationale Selbst¬ 
ständigkeit reklamieren, war zur Teilnahme überhaupt nicht einge¬ 
laden, ein anderes, das zweitgrösste slavische Volk, die Ukrainer 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



lehnten die Einladung ab. Die Begründung der ablehnenden Haltung 
der Ukrainer finden wir in der „Ukrainischen Rundschau“ Nr. 6—8 in 
der Artikelserie „Der Neopanslavismus“. Es wurden in der Konferenz 
Resolutionen, betreffend die Veranstaltung einer allslavischen Aus¬ 
stellung in Moskau, Gründung einer allslavischen Bank, Einrichtung 
eines allslavischen Pressbureaus, Organisierung des slavischen Buch¬ 
handels, Pflege der slavischen Touristik etc. angenommen. Den Kern 
der Konferenz bildete die Einleitung einer russisch-polnischen An¬ 
näherung, über welche in den zitierten Artikeln ebenfalls genauer be¬ 
richtet wird. 

Allrussische Provokatoren. Einige russische Teilnehmer der 
Prager Konferenz versuchten einen Punkt des allslavischen Pro¬ 
grammes, betreffend die „slavische Touristik“, in die Praxis um¬ 
zusetzen. Sie unternahmen eine Tour durch Galizien, besuchten 
einige Ortschaften, die Karpathen etc. Sie stiegen selbstverständ¬ 
lich auch in Lemberg ab, wo sie sich von den Polen und den 
Gesinnungsgenossen Hlebowitzkijs empfangen Hessen, und den ‘ 
russisch-polnischen Ausgleich mit Champagner begossen. Die Wirkung 
des Weines blieb nicht aus. Die Zungen lösten sich, .und was 
da die russischen Touristen zusammentraschten, dem passten die 
polnischen Zeitungsleute auf und gaben es emsig in ihren Blättern 
wieder. Der Graf Bobrinskij meinte, die Ukrainer seien eigentlich 
kein selbständiges Volk, die ukrainische nationale Bewe¬ 
gung sei „eine Krankheit“, die Ukrainer bilden eine 
„Gefahr für denBestand desösterreichischenStaates“ 
(sic) etc. Die ukrainischen Studenten meinten wiederum, dass dem 
russischen Grafen und seinen Genossen die Frechheit, welche sie sich 
auf ukrainischem Boden gegenüber dem ukrainischen Volke heraus- 
nahmen, vergolten werden müsse, sie arrangierten gegen die russi¬ 
schen Provokatoren zum Abschied eine Demonstration, wobei seitens 
einzelner Demonstranten übelriechende Gegenstände den Gästen an 
die Köpfe flogen. 

Ein neues ukrainisch-deutsches Gymnasium in der , 
Bukowina wird errichtet in Wyznycia zu Anfang des nahenden Schul¬ 
jahres. Es wird dies die dritte ukrainisch-deutsche Mittelschule in der 
Bukowina sein. Zu bemerken ist, dass die galizischen Ruthenen, deren 
es z w ö 1 f m a 1 soviel als der Bukpwinaer gibt, bisher kaum 5 Mittel¬ 
schulen gegen 55 polnische besitzen 1 



Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



380 



An die Kunstfreunde! 

Das ukrainische Volk besitzt keine grossartigen Handels¬ 
magazine nnd blüht auch bei ihm keine Weltindnstrie, 
aber es betreibt eine Hausindustrie, deren Erzeugnisse in¬ 
folge ihrer hübschen und geschmackvollen Ausführung und 
künstlerischen Form die schönsten Fabrikate überragen. 

1I A 1 r/Ai*r/Aii ««icrjA beschlagen mit verschiedenfarbigen 
-n.UlZ.t31/it5UgUlSM5 Korallchen in Dessins, wies 

Teller im Preise von 10—100 K 
Rahmen verschiedener Grösse von 10—120 K 
Spazierstöoke, axtförmig, von 10—100 K 
Lineale von 5 K aufwärts 

Federstiele von 1—20 K 
Papiermesser von 150—3 K 

Fässchen zu 30 und 40 K u. a. 

Korallchenerzeugnisse, rer8Chiedenf ^ i b e i f’ de88lniert > 

Uhrketten für Herren von 2—5 K, für Damen zu 6 K 
(Hirtel von 10 bis 100 K 

Haar* und Halsbänder zu 2, 3 u. 5 K. 

AH,, A iifyin iqq/\ (Majolika in verschiedenen Dessins, volks* 
J. UUU1 Zt5UgUlSM3 tümliche Motive) s 

Blnmenvasen von 5—100 K 
Wandteller von 2—30 K 

Asohenbecher nnd Wasohbeoken zu verschiedenen Preisen. 

Stofferzeugnisse 

Oestiokte Hemden von 12—30 K 
„ Kravatten zu 4 und 5 K 

,, Handtücher von 6 K aufwärts 

,, Tischdecken von 30 K aufwärts 

Hnznlensohürzen von 6—20 K 
Huznlisohe Tepplohe von 30—50 K. 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pro Stück. 

Zu beschaffen durch die Firma 

„SokilskyJ Bazar“, 

Gesellschaft für Handel und Industrie in LEMBERG 

Ruskagasse Nr. 20 (Galizien, Österreich). 



Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 


Ukrainische 

Rundschau. 

Herausgeber und Redakteur: (U. Kuscbnir. 

UI. Jahrgang. 190$. Dummer 9. 


(Hacbdruck sämtlicher Artikel mit genauer Quellenangabe gestattet.) 


Galizien oor i$6$. 

Von R. Le Mang (Dresden). 


Die Auseinandersetzung mit dem Polentum unserer Ost¬ 
mark hat die Aufmerksamkeit auch auf die polnischen 
Treibereien gelenkt, die sich ausserhalb unserer Grenzen und 
besonders in Galizien abspielen, wo die Polen nach ihrem 
Wunsche das Heft in die Hand bekommen haben. Die Ent¬ 
wicklung, die dort das Polentum seit 1869 durch österreichi¬ 
sche Beihilfe nehmen konnte, hat in hervorragender Weise 
dazu beigetragen, unsere eigenen Polen zum angriffsweisen 
Vorgehen gegen das Deutschtum zu bestimmen. Eine ge¬ 
nügende Kenntnis der galizischen Verhältnisse würde dem 
jedenfalls vorgebeugt und uns viel Lehrgeld erspart haben. 
Aber wer kannte und kennt auch jetzt noch Galizien? Wenn 
vor 50 Jahren einer unserer grössten Geographen erklärte: „Ga¬ 
lizien ist uns eigentlich fast noch ebenso unbekannt wie ge¬ 
wisse dunkle Partien Afrikas,“ so gilt das, Zeit und Verhält¬ 
nissen entsprechend, auch noch heute. Das zweitgrösste 
Kronland der österreichischen Monarchie, reichlich fünfmal 
so gross wie das Königreich Sachsen, ist für uns und den 
Westeuropäer ein noch recht fremdes Land, obwohl es sich 
unmittelbar an der Schwelle unseres Reiches hinzieht. Auch 
dem Deutschösterreicher ist Galizien im allgemeinen noch 
sehr unbekannt, nur gezwungen geht er in diese „traurige“ 
Provinz und kennt die dortigen Verhältnisse eigentlich nur 
durch die Debatten im Reichstage, wo die Schlachzizenklique, 
die Stanczyken (so benannt nach dem Namen eines früheren 
polnischen Hofnarren), die schweren Anklagen des ruthe- 
nischen Volkes mit Komödiantenmiene zurückweist, denn zwei 
Drittel des Landes, der östliche Teil, ist ruthenischer Boden 


□ igitized by 


Gok igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



382 


und der nichtgebirgige Teil ist fast durchweg sehr frucht¬ 
bares Land. Trotzdem befindet sich die Landbevölkerung, 
das heisst über 80% der Bewohnerschaft, in einer so elenden 
Lage, wie sie nirgends in Europa mehr angetroffen wird, und 
nicht genug damit, werden die Ruthenen — die grössere 
Hälfte der Bevölkerung — von der herrschenden Polenklique 
bis aufs Blut geplagt, um sie entweder politisch mundtot oder 
zu Polaken zu machen. 

Ein reichliches Menschenalter lang und bis zum Jahre 
1868 war Galizien ein auf rein österreichische Weise.regiertes 
und verwaltetes Land gewesen. Deutsch war Amtssprache, 
war die Sprache der Beamten und die Sprache des Verkehres, 
sowie die Unterrichtssprache in den Mittelschulen und war 
allen Gebildeten geläufig. Diese deutsch-österreichische Ver¬ 
waltung hatte natürlich, und besonders bis 1848, dieselben 
grossen Mängel an sich, die dem vormärzlichen Regime 
Oesterreichs anhingen, war aber trotzdem noch zehnmal besser 
als die frühere polnische Wirtschaft, wo der Bauer voll¬ 
ständig rechtlos war; denn die Emanzipation des Bauern¬ 
standes, eingeleitet von Josef II., dem kräftigen Hasser 
des polnischen Adels, hatte von da ab grosse Fortschritte 
gemacht und wurde besonders durch die sogenannten Bauern¬ 
anwälte gefördert. Sie bildeten mit den Kreisgerichten ver¬ 
bundene Instanzen, die alle aus dem Abhängigkeitsverhält¬ 
nisse der bäuerlichen Bevölkerung sich ergebenden Streitig¬ 
keiten kostenlos zu untersuchen hatten und sich durch ihre 
Tätigkeit das vollste Vertrauen der galizischen Bauernschaft 
erwarben. Die Treue und Begeisterung, mit der dieser Stand 
dann dem österreichischen Staate und seiner Dynastie anhing 
und besonders die Ruthenen zu den „Tirolern des Ostens“ 
machte, ist zum grössten Teil auf diese Bauernanwälte zu¬ 
rückzuführen. Das Metternichsche Regiment hatte deshalb 
auch gar keine Mühe, die widerspenstige Schlachta Galiziens 
im Zaume zu halten. 

Als im Jahre 1845 die polnische Schlachta wieder ein¬ 
mal revoltierte und den Versuch unternahm, von Galizien 
aus nach Russisch-Polen vorzudringen, führte das zu einem 
furchtbaren Bauernaufstände. In wenigen Tagen verbluteten 
unter den Sensen und Dreschflegeln der Bauern einige Tau¬ 
send Mitglieder der galizischen Schlachta; Tausende wurden 
ausserdem furchtbar zerfetzt und Tote und Lebendige, Männer, 
Frauen, Kinder im grausigen Gemisch auf Wagen und 
Schlitten übereinandergepackt als Empörer den Kreisgerichten 
abgeliefert. Die wütenden Bauern schlugen aber nicht blos 
die adeligen Verschwörer nieder, sie warfen gleichzeitig 
auch das im damaligen Freistaate Krakau von der Schlachta 
gebildete, mehrere tausend Mann starke, gut bewaffnete In¬ 
surgentenheer im wilden Ansturm über den Haufen und 
trieben es über die preussische Grenze, wo seine Reste die 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



383 


Waffen streckten. Es war der nationalpolnische Bauer, der 
Masur, der dieses Blutgericht abhielt. Im Osten des Landes, 
auf ruthenischem Boden, verlief der Bauernaufstand, dem 
ruthenischen Volkstum entsprechend, ziemlich unblutig. Die 
Bauernschaft beschränkte sich im allgemeinen darauf, alle 
verdächtig gewordenen Edelleute nebst deren Familien fest¬ 
zunehmen, durchzuprügeln und gut geknebelt den Gerichten 
abzuliefern. Die schon erwähnte Unkenntnis galizischer Ver¬ 
hältnisse führte indes dazu, dass selbst unsere besten Histo¬ 
riker berichten, wie damals gerade der empörte Ruthene 
an seinen polnischen Unterdrückern blutige Rache genommen 
habe. Hätte der ruthenische Bauer in den von ihm bewohnten 
zwei Dritteln des Landes ebenso zugeschlagen wie sein ma¬ 
surischer Nachbar und hätte er eine entsprechende Vergel¬ 
tung geübt, dann wären die Aufgaben der österreichischen Re¬ 
gierung und auch des Deutschtums in Österreich sehr ver¬ 
einfacht worden und die Ruthenen Galiziens hätten jetzt 
bessere Zeiten zu durchleben. 

Die revolutionären Neigungen des polnischen Adels, 
seine Beteiligung am ungarischen Aufstande der Jahre 1848/49 
machten ihn der scharf einsetzenden österreichischen Reak¬ 
tion verdächtig, er sah sich ausgeschaltet, kaltgestellt und 
hielt sich grollend abseits. Die österreichische Verwaltung 
Galiziens konnte darum ruhig weiter arbeiten und der Bauern¬ 
stand hatte keine Ursache, darüber unzufrieden zu sein. Er 
besass zwar auch nach 1849 noch keine vollständig freie 
Verfügung über seinen Besitz, hatte aber auch keine Hypo¬ 
thekenschulden und konnte bis zum Jahre 1868 von seinem 
Besitze nur schwer vertrieben werden. Die grösstenteils 
deutsche, zumal deutschböhmische Beamtenschaft Galiziens 
erhielt von aussen zwar wenig Ersatz, ergänzte sich zumeist 
aus sich selbst, war aber dadurch seit fast zwei Menschen¬ 
altern mit den Landesbewohnern verwachsen, mit deren 
Sitten und Sprache vertraut und konnte sich mit der polni¬ 
schen und ruthenischen Bevölkerung in wünschenswerter 
Weise verständigen. 

Die ruthenische Intelligenz hatte ausserdem an der bis 
1868 deutschen Universität Lemberg (in Lemberg war da¬ 
mals die deutsche Sprache in einzelnen grossen Stadtteilen 
vorherrschend), an der es nicht an ruthenischen Lehrstühlen 
fehlte, sowie an den Mittelschulen reichlich Gelegenheit, sich 
mit deutscher Wissenschaft und Literatur bekannt zu machen. 
Da Ruthenen und Deutsche in ihrem Wesen sehr viel Über¬ 
einstimmendes haben, entwickelte sich zwischen beiden sehr 
bald und ganz von selbst ein verständnisvolles Einvernehmen. 
Die Aufgabe der Regierung: „zur Kräftigung der Monarchie 
ein wirklich österreichisches Staatsgefühl grosszuziehen“, 
war deshalb gerade in Galizien um so leichter zu erreichen, 
als auch die dortige Judenschaft nicht polnisch, sondern 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



384 


österreichisch gesinnt war und sich auch im Familienleben 
nur des Deutschen oder einer jüdisch-deutschen Mundart 
bediente. Die Schlachta Galiziens, mit ihren ungefähr 30.000 
Edelleuten, bildete eine Art Fronde, aber reichliche Dreiviertel 
waren armer Bundschuhadel und bestanden teils aus Pächtern, 
teils aus dem zahlreichen Gehilfenstabe des Hochadels, oder 
mussten sich als kleine freie Landsleute und als Schuster und 
Schneider mühselig durchschlagen. Auch gerieten die galizi- 
schen Grossgrundbesitzer nach 1849 in eine schwierige Lage, 
weil ihnen, nach Aufhebung der Robot oder der Fronen, 
keine Arbeiter und Gespanne kostenlos mehr zur Verfügung 
standen und ihre Produkte, aus Mangel an Verkehrswegen, 
nur schwer und zu ungenügenden Preisen Absatz fanden. 

Dabei kam das Jahr 1854 heran und der Krimkrieg, wo 
Österreich, durch Aufstellung einer starken Armee in Galizien, 
gegen Russland demonstrierte und sich dadurch mit diesem 
verfeindete. Russland vergalt dies durch Begünstigung Italiens 
und Frankreichs im Jahre 1859 und Österreich antwortete 
hierauf durch eine höchst laxe Bewachung der galizisch- 
russischen Grenze während des im Jahre 1863 in Russisch- 
Polen ausgebrochenen Aufstandes. Einzig auf dem Wege 
über Galizien wurden damals die polnischen Insurgenten mit 
Waffen, Munition und Freiwilligen kräftig unterstützt; eine 
Tatsache, die bei aufrichtiger Neutralität gar.nicht möglich 
gewesen wäre. Denn das österreichische Regiment hatte bis 
dahin in Galizien schon ein solches Gefüge angenommen, 
dass es die Schlachta vollständig im Zaume halten konnte. 
Auch stand dieser die Bauernschaft unversöhnt gegenüber 
und der Ausspruch: „Der Bauer wacht!“ wurde von allen 
Schlachzizen als bittere Wahrheit verspürt. 

Die Gesinnung des über die Haltung der österreichischen 
Regierung erbitterten Petersburger Kabinets wusste nachher 
Bismarck als Einschlag in das Gewebe seiner deutschen 
Politik zu benutzen, wie man auch im Band 1, S. 306 flg. 
seiner Gedanken und Erinnerungen nachlesen kann. 

Der galizische Adel empfand die schwere Niederlage 
seiner Standesgenossen jenseits der Grenze besonders hart, 
denn bis zur Erschöpfung hatte er Blut und Gut für die na¬ 
tionale Sache geopfert, musste auch noch mehreren tausend 
Flüchtlingen aus Russland Unterschlupf gewähren und war 
darum auf ein weiteres humanes Augenzudrücken der öster¬ 
reichischen Behörden angewiesen. Eine tiefe Verzweiflung er¬ 
fasste die von materiellen Nöten und Sorgen bedrängte 
Schlachta, und die Vorstellungen einsichtiger polnischer Pa¬ 
trioten, namentlich dieeindringlichenMahnungen Goluchowskis: 
„sich zur Rettung der gefährdeten Nationalität dem öster¬ 
reichischen Staatswesen loyal einzufügen“, fanden Beachtung. 
Der Not gehorchend, schlängelte man sich an die Staats¬ 
krippen. In dieser Zeit büsste jedoch Österreich bei König- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



385 


grätz seine Vormachtstellung in Deutschland ein und der 
nunmehr das österreichische Staatsruder ergreifende ehemalige 
sächsische Minister v. Beust beeilte sich, die Politik des 
Dualismus, in etwas verdünnter Form, auch auf Galizien aus¬ 
zudehnen. Es geschah das nicht ohne eifrige Mithilfe der 
mit am Ruder befindlichen deutschen Partei, die unser grosser 
Staatsmann nach dem Namen ihres Führers als „Herbstzeit¬ 
lose“ stigmatisierte und der das beliebte Fortwursteln be¬ 
quemer war, als die Errichtung praktisch eingerichteter länd¬ 
licher Kreditanstalten in Galizien. 

Die grosse, gut österreichisch gewordene Provinz 
Galizien und 300.000 Deutsche, 3 Millionen Ruthenen, 
600.000 Juden, sowie die ganze schwarz-gelb gesinnte polni¬ 
sche Bauernschaft wurden auf diese Weise 1868 einer kleinen 
vornehmen Klique und ihrem jesuitischen Anhänge ausge¬ 
liefert, einer Partei, die durch ihre bisherigen Misserfolge 
und Niederlagen völlig gelähmt, schier entkräftet, an die 
Wand gedrückt, ganz auf die Gnade der Regierung ange¬ 
wiesen war. Denn dass die Schlachta durch die Galizien 
gewährte Sonderstellung das Heft in die Hand bekommen 
musste, war unvermeidlich. War die Schlachta auch in einer 
üblen materiellen Lage, so war sie doch, der durchweg armen 
Landbevölkerung gegenüber, der reichere und mächtigere 
Teil und besass in einem Lande, das 70 bis 80% Analpha¬ 
beten zählt, die meisten Intelligenzen. Durch vielfache Ver¬ 
schwörungen eng miteinander verknüpft, vermochte sie sich, 
noch dazu mit Unterstützung der Behörden, viel schneller zu 
organisieren, als die übrige Bevölkerung, und die Tiroler des 
Ostens wurden nunmehr sehr bald und nachdrücklich an 
jenen Ausspruch unseres Schiller erinnert, den er in Wallen¬ 
steins Tod dem Oberst Buttler im sechsten Auftritte des 
zweiten Aktes in den Mund legt. Die Führer der Deutschen 
aber sind seitdem oftmals genötigt gewesen, sich den von 
den Polen gestreuten Sand wieder aus den Augen zu reiben. 


Der Kampf gegen das Ukraitiernmi. 


Wenn wir einen Blick auf die Geschichte des ukrainischen 
Volkes werfen, so überzeugen wir uns, dass es hauptsächlich zwei 
Gegner waren, gegen welche sich das Ukrainertum zu wehren 
hatte. Diese Gegner sind bis auf den heutigen Tag als solche 
geblieben. Es sind dies der polnische und russische Nationalismus. 
Die Kämpfe, die auf dem Territorium der Ukraine in den letzten 
Jahrhunderten geführt wurden, drehten sich aber vornehmlich um 
den Besitz der Länder der ukrainischen Zunge. Sowohl für die Polen als 


Digitized by 


Go^ 'gle 


1 

Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



386 


auch für die Russen bedeutete deren Besitz eine Machtfrage. Hat doch 
erst die Gewinnung ukrainischer Provinzen durch die Polen*) ihren 
Staat zu einer Grossmacht erhoben und deren Verlust Polen zu einem 
Staatsgebilde dritten Ranges herabgedrückt, während das junge 
Fürstentum Moskau, welches sich kaum von der tartarischen Ober¬ 
herrschaft emanzipiert hatte, nach Anschluss der Ukraine mit einem 
Schlag zu einer europäischen Macht wird. Erst die Erwerbung der 
Ukraine durch Moskovien, welch erstere sich dem letzteren nach den 
jahrelangen Freiheitskriegen gegen Polen im Jahre 1654 unter 
Vorbehalt der Selbstverwaltung als Gleicher dem Gleichen an¬ 
schloss, legte die Grundlagen zu den später krystallisierten grossen 
Plänen der russischen Politik, wonach Konstantinopel zur zweiten 
Hauptstadt der russischen Monarchie werden soll. 

Das von den Polen angestrebte, aber nicht erreichte Ziel der 
nationalen Fusionierung der Ukrainer mit den Polen, an welcher 
die Jesuiten- und Schlachzizenrepublik selbst zu Grunde gegangen 
isr, schien hier viel leichter durchführbar zu sein, schon deshalb, 
weil die Ukrainer einen Glauben mit den Russen hatten. Dieses 
Werk wird auch besonders seit den Zeiten Peters des Grossen 
mit beschleunigtem Tempo gefördert. Dieser Herrscher, welcher 
wohlweislich seinen Stützpunkt in den entlegenen Norden 
verlegte, indem er die Hauptstadt des russischen Reiches von 
Moskau an die Newa verlegte, dabei aber sein Augenmerk bis zu 
den äussersten Ausläufern Südeuropas richtete, verstand es, das 
Russifizierungswerk um ein Ansehnliches vorwärts zu schieben, trotz¬ 
dem gerade zu seiner Zeit die autonomistischen Bestrebungen der 
Ukrainer, deren abgeklärtester Repräsentant neben Chmel ny tzky j, 
Wyhowskyj, Doroschenko und ahderen der zurZeit Peters des 
Grossen wirkende Hetman Iwan Masepa war, den Höhepunkt er¬ 
reichten. Die Versuche der ukrainischen Hetmane, mit bewaffneter 
Hand die von dem moskovitischen Zaren mit Füssen getretene 
Freiheit wiederzuerlangen, wurden vereitelt; die Niederlage des 
mit dem schwedischen König Karl XII. verbundenen Masepa bei 
Poltawa besiegelte das Schicksal der Ukraine. Der Ukraine wird 
der ihr wildfremde Name Kleinrussland beigelegt, Moskovien 
aber als Grossrussland umgetauft und so wurde mit einem 


*) Als erstes ruthenisches Land gerät unter die Herrschaft der Polen das 
heutige Ostgalizien, damals Königreich Halytsch, nach dem Aussterben der ruthe- 
nischen Herrscherdynastie in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts. Die 
anderen ruthenischen Länder werden um diese Zeit Bestandteile des litauisch- 
ruthenischen Staates und gehen im Jahre 1569 nach erfolgter Union zwischen 
Polen und Litauen in den polnischen Besitz über Jedoch bereits nach einem 
Vierteljahrhundert erhoben die Ukrainer, welche im litauisch-ruthenischen Staate 
das tonangebende Element waren (die ruthenische Sprache war Hof- und 
Kanzleisprache an den Höfen der litauischen Fürsten und wurde unter den 
Litauern das Christentum nach griechischem Ritus von den Ruthenen eingeführt), 
eine Reihe von Aufständen, welche mit der Lostrennung der ukrainischen Pro¬ 
vinzen (mit Ausnahme von Galizien, welches durch volle vier Jahrhunderte das 
polnische Joch trug) im Jahre 1654 ur| h deren freiwilligen Anschluss an Russland 
enden. Ein Teil der ukrainischen Provinzen ging nach der im Jahre 1681 
vorgenommenen Teilung der Ukraine zwischen Russland, der Türkei und Polen 
an das letztere für ein Jahrhundert, das ist bis zur Teilung Polens, über. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



387 


Schlag die nationale Einheitlichkeit der Gross- und Kleinrussen 
geschaffen. Das Russifizierungswerk wurde dann im Laufe der 
Jahrzehnte mit Wucht fortgesetzt, die autonome Verwaltung nach 
Unterdrückung deT Aufstände nach und nach gänzlich aufgehoben, 
die ukrainische Volksmiliz, die Kosaken, welche das Land von 
der polnischen Herrschaft befreit hatten, zur Zeit der grossen 
Katharina vernichtet und als Bauern an den Pflug gespannt. Elf 
Jahrzehnte nach Anschluss der Ukraine an Russland war der 
Russifizierungsprozess nach aussenhin perfekt. Noch im Jahre 1767, 
anlässlich der sogenannten Einrichtungskommission, kommen separa¬ 
tistische Tendenzen der Ukrainer grell zum Vorschein, nachdem 
sich die ukrainischen Deputierten, sowohl vom Adel als auch von 
den Kosaken und den Städten für die Zurückerstattung der 
Freiheiten einsetzen, „auf Grund deren der Hetman Bohdan 
Chmelnytzkyj sich dem russischen Staate angeschlossen hat.“ 
Noch im Jahre 1791 begab sich der Delegierte des autonomistischen 
ukrainischen Adels, namens Kapnist, nach Berlin, wo er am 
preussischen Hof um Hilfe gegen die „russische Tyrannei“, selbst¬ 
redend erfolglos, ansuchte. Aber das war nur mehr das letzte 
Aufflackern des politischen und nationalen Bewusstseins im 
Volke, vor welchem der russischen Regierung nicht mehr bange 
zu sein brauchte. Die Russifizierung griff ins Volk ein und ihre 
Werkzeuge waren Kirche und Schule. Schon Peter I. erliess die * 
Parole, dafür zu sorgen, „dass sich das kleinrussische Volk mit 
dem grossrussischen eins fühle“ und Katharina II. verwaltete 
in der Ukraine in dem Geiste, um aus den Ukrainern „die laster¬ 
hafte Meinung, demzufolge sie sich für ein von dem russischen 
verschiedenes Volk betrachten“ und „den inneren Hass gegen 
das Grossrussische“ auszurotten. Als eines der besten Mittelhieltsiege- 
mischte Ehen zwischen den Russen und Ukrainern. Zur Zeit Peter I. 
wiederum war es, dass das ukrainische Idiom aus den Kirchen¬ 
büchern verbannt wurde (die erste russische Zensur!). Trotz 
heftiger Proteste seitens der Ukrainer wurde an den ukrainischen 
Schulen, auch an der Kiewer Hochschule die russische Unter¬ 
richtssprache eingeführt. Die Identität der Ukrainer mit den 
Russen wurde in der Schule durch Fälschung der Geschichte und 
in der Kirche durch Bannfluch von ukrainischen Freiheitskämpfern*) 


*) ln den sogenannten Stauropigien und grossen Klöstern wird am ersten 
Sonntage der grossen Fastenzeit nebst Arius und anderen Sektierern der Hetman 
Masepa feierlich verflucht. Fin Ukrainer beschreibt die Exkommunikationsfeier, 
wie sie vor zehn Jahren im St. Mytrophanius-Kloster stattgefunden, wie 
folgt: Die Exkommunikation wird feierlich und schreckenerregend verkündet. 
Tausende von Leuten, versammelt in der grossen Kirche, erwarten mit grösster 
Spannung, wie die geächteten Sünder, die sich gegen den heiligen Geist ver¬ 
gangen, im Chor verflucht werden Zu dieser Feier kommen auch solche Mönche, 
die eines hohen Alters oder besonderer Verdienste wegen in ihren Klausen 
einsam zu Gott beten. Mitten in der Andacht beginnt der Bischof selbst all diese 
Verbrecher bei ihren Namen zu nennen; „Masepa. Anathema \ u . . . Dann wieder¬ 
holen es mindere Orden, zuletzt erschallt der Chor . . . Der Eindruck ist ein 
kolossaler. Das Volk betet laut. Die Weiber schreien: „Gott bewahre uns vor 
der Todsünde!“ ... Es entsteht ein Konzert der menschlichen Verzweiflung, 
welches die Haare zu Berge steigen lässt. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



388 


erzielt. — Die philologischen Argumente mussten verstummen 
vor der Nagajka, mit welcher das ukrainische Wort seit dem 
XVIII. Jahrhunderte verfolgt wurde, bis dasselbe mit den be¬ 
rüchtigten Ukasen von 1863 und 1876 aus' dem öffentlichen 
Leben, aus Kirche und Schule, Literatur und Wissenschaft und, 
soweit es ging, aus dem Familiönleben der intelligenten Volks¬ 
schichten proskribiert wurde. 

Anscheinend wurde das Ziel der russischen Regierung auch 
erreicht. Die gebildeten Volksschichten wurden teils russifiziei t, 
teils national indifferent, die besseren Elemente widmeten aber 
ihre Kräfte dem allgemeinrussischen Freiheitskampfe und füllten 
dicht die Reihen der russischen Revolutionäre aus, die nationalen 
Schwärmer aber hatten den Mund geknebelt oder sie durften 
ihre Ideen, die nur einen geringen Zugang zu ihrem Publikum 
hatten, im Auslande propagieren.*) 

Die russische Revolution lockerte die Fesseln, in welche 
das ukrainische Volk geschlagen war, und dieses Volk durfte 
nun auch ein Wort reden. Die beiden ersten russischen Parlamente 
mussten wider Erwarten Aller die Tore für ansehnliche Ver¬ 
tretungen des ukrainischen Volkes öffnen, der Ukrainerklub in 
der zweiten Duma zählte 47 Mitglieder und dieser Klub hatte 
in sein Programm die Autonomie der Ukraine aufgenommen. — 
Das war gewiss für die russische Regierung zuviel des Guten. 
Das Bestehen einer derart grossen nationalukrainischen Vertretung, 
welche überdies noch „separatistische“ Tendenzen an den Tag 
legte, strafte die Fabel von dem einheitlichen russischen Volk 
Lügen. Dem musste sobald als möglich ein Ende bereitet werden. 
So wurde auch die neuoktroyierte Wahlreform für die Ukraine 
derart zurechtgeschnitten, dass kein einziger Kandidat, der 
auf das Programm einer der ukrainischen Parteien kandidierte, 
gewählt wurde. Doch siehe: Aus der Mitte der Popen, bäuerlichen 
Analphabeten und Gutsherrn, mit denen die Ukraine diesmal am 
dichtesten die Reihen der Rechten in der Duma ausfüllte, finden 
sich 37 Männer, welche sich als Ukrainer fühlen und indem sie 
freilich separatistische Gedanken weit von sich weisen, einen Gesetz¬ 
entwurf über die Einführung der ukrainischen Vortragssprache in 
der Ukraine einbringen. Wie sich die Duma und die Regierung 
zu diesem Gesetzentwurf stellen werden, werden wir erst sehen, 
bis derselbe zur Verhandlung kommt. Es ist aber immerhin vor¬ 
auszusetzen, dass der Erfolg eher ein negativer sein wird. 

Bemerkenswert ist, dass die russische Regierung immer auf 
die ukrainische Bewegung in Galizien ihr Augenmerk gerichtet 
hielt. Schon in den 30 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts 


*) Die meisten ukrainischen .Schriftsteller verpflanzen ihre literarische 
Tätigkeit nach Galizien, wo die meisten ukrainischen Zeitschriften von Arbeiten 
der Ukrainer aus Russland ausgefüllt sind. — Für das Geld der Ukrainer aus 
Russland wird eine Gesellschaft zur Pflege der ukrainischen Literatur, heute die 
Schewtschenkogesellschaft der Wissenschaften, gegründet. —In Galizien wirkt der 
aus Russland ausgewiesene Professor Drahomanow, welcher hier eine politische 
fortschrittliche Partei (die radikale ukrainische Partei) gründet. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



389 


kommt nach Galizien der bekannte panslavistische Agitator Professor 
Pogodin, welcher hier den Anstoss zur Bildung einer russo- 
philen Partei unter den damals national indifferenten Ruthenen 
gibt. Seither dauern die gemeinsamen Beziehungen zwischen den 
galizischen Russophilen und den russischen Panslavisten, respektive 
Panrussisten fort, bis in dieselben auch die offiziellen russischen 
Kreise einbezogen werden, bei welch letzteren der Gedanke ent¬ 
stand, die Russophilen gegen die ukrainische Bewegung auszu¬ 
spielen. Kaiser Alexander II. nimmt an diesen Bemühungen 
regen Anteil. Uber seinen Auftrag wird eine Kommission, bestehend 
aus den Ministern des Innern und für Volksaufklärung und anderen 
Würdenträgern, eingesetzt, welche Mittel zur Bekämpfung, der 
ukrainischen Idee ausfindig machen soll. Die Kommission findet 
als das wirksamste Mittel, durch Geldunterstützungen die russo- 
phile Partei in Galizien zu stärken, mit welcher Mission der 
Kaiser seinen Gendarmeriechef betraute. In der Folge riss eine 
furchtbare Demoralisation im russophilen Lager ein, welch letzteres 
jedoch dann bald in die Kraft wuchs, indem es die zahlreichen national 
indifferenten Elemente in sich vereinigte. Es sei hier zum Beispiel 
der Millionenspende für die Kreierung einer Agrarbank in Lemberg 
gedacht, welche freilich in den Taschen der Russophilenführer 
verschwand. 

Diese Richtung wurde nun zum Trumpf im Kampfe gegen 
das Ukrainertum und zwar nicht nur von russischer, sondern auch 
von polnischer Seite. 

Die Betrachtung der Beziehungen des Pole nt ums zum 
Ukrainertum muss von der Feststellung ausgehen, dass die Polen 
ihren Träumen auf das historische Polen bis heute nicht entsagt 
haben. So wie es die Russen unternommen haben, durch Auf- 
zwingung ihres Namens den Ukrainern dem Denationalisierüngs- 
werk die Sanktion zu verleihen, so taten Ähnliches die Polen 
durch Aufstellung einer Theorie von der nationalen Einigkeit der 
Ukrainer mit den Polen (gente rutheni, natione poloni), welcher 
sogar die österreichische Regierung jahrzehntelang huldigte, die 
jedoch begreiflicherweise ein Fiasko erlitt. Die Tatsache, dass die 
Polen ihr wiederherzustellendes Vaterland nur einschliesslich der 
ukrainischen Länder sehen wollen, ist auch Ursache davon, dass 
die Angelegenheit der russisch-polnischen Annäherung sich nur 
im Schneckenschritt vorwärtsbewegt. Beide Parteien vermeinen 
nämlich das gleiche Recht auf die ukrainischen Provinzen zu 
haben. Hier liegt der historische Streit zwischen Russen und 
Polen. Dieser Streit erlebte auch solche Episoden, wie die Teilung 
der Ukraine zwischen Russland und Polen im Jahre 1681. Die 
Ukraine links des Dnipro geriet an Russland, die zum rechten 
Ufer dieses Flusses an Polen (ein Teil davon geriet an die Türken. 
Die Teilung Polens entschied den Streit zugunsten Russlands. 
Nichtsdestoweniger verzichteten die Polen auf ihre ehemaligen 
ukrainischen Provinzen bis heute nicht. Die wiederholten polnischen 
Aufstände wurden erhoben nicht im Namen der Länder der pol¬ 
nischen Zunge, sondern im Namen des historischen Polen, welches 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



390 


mehr Ukrainer als Polen zählte und spielten sich polnische Be¬ 
freiungskriege vielfach auf ukrainischem Territorium ab. 

Von den ukrainischen Ländern sind zur Zeit den Polen nur 
Ostgalizien und die ukrainischen Provinzen des Kongresspolen 
ausgeliefert, dort besorgen die Polen die Interessen des historischen 
Polen ganz nach ihrem freien Ermessen. Aber interessant ist, dass 
sie die Polonisierungstätigkeit auch in die russische Ukraine,, 
hauptsächlich in die Städte verpflanzen, so dass tatsächlich in 
manchen ukrainischen Städten sich die beiden Einflüsse reiben. 

Jetzt trat der von beiden Seiten geführte Kampf gegen die 
ukrainische nationale Bewegung in die Phase, dass sich die beiden 
Gegner die Hände zur gemeinsamen Bekämpfung des gemeinsamen 
Feindes reichten. Eigentlich waren wir auch schon früher Zeugen 
solcher Erscheinungen. Es war zur Zeit der Vorbereitungen zum 
polnischen Aufstande, als die Polen, die nicht imstande waren, 
die Ukrainer zum Kampfe für das historische Polen zu animieren, 
einen Versuch unternommen hatten, das Ukrainertum, welches 
sich ihren Plänen in den Weg stellte, mit Hilfe der russischen 
Regierung zu vernichten. Sie zeigten die Ukrainer als für den 
Bestand des Staates gefährliche Terroristen an und gingen in der 
Hinsicht so weit, dass sie anrieten, das Grab Schewtschenkos als 
Mekka der ukrainischen Terroristen zu vernichten. (Jugozapadnyj 
kraj, 1858.) Desgleichen wurden ukrainische Bücher als Agitations¬ 
werke des Sozialismus angezeigt, und diese polnischen Bemühungen 
waren mit ein Grund mehr zu den berüchtigten Sprachverbots- 
ukasen gegen die Ukrainer. 

Nun soll der Kampf gemeinsam und systematisch geführt 
werden. Als Werkzeug dienen demselben die von den beiden 
Gegnern der Ukrainer zu dem Zwecke grossgezüchteten Russo¬ 
philen. Die Russophilen haben den Polen auch bereits grosse 
Dienste geleistet. Eine zeitlang hindurch hatten es die galizischen 
Polen verstanden, die österreichische Regierung durch den Hinweis 
auf die angebliche Gravitierung der Ruthenen nach Russland an 
der Nase zu führen. Man berief sich damals eben auf die von 
den Russophilen für den Staat drohende Gefahr. Die national¬ 
ukrainische Bewegung erstickte die ungesunde Strömung im Volke, 
der Russophilismus wurde ausgerottet, er besass bis auf die 
reichen und fortwährend von Russland aus unterstützten russo¬ 
philen Institutionen keine Anhänger im Volke. Die Ruthenen 
waren auf dem besten Wege, zur Geltung zu kommen. Die in 
die Massen getragene politische Aufklärung drohte den pol¬ 
nischen Machthabern den Garaus zu machen. Diese begannen 
sich nun nach Verbündeten gegen das Ukrainertum umzuschauen 
und sie brauchten nicht lange zu suchen, sie fanden solche in den 
Russophilen. Die Reichsratswahlen gaben das erste handgreifliche 
Exempel der polnisch-russophilen Allianz. Doch angesichts des 
allgemeinen Wahlrechtes und der politischen und nationalen Auf¬ 
klärung erwies sich dieselbe als zu schwach. Auf 33 für die 
Ruthenen bestimmte Mandate vermochten die Polen nur fünf für 
die Russophilen und eines für sich den Ruthenen atzugewinnen. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



Die auf Grund des Kurialsystems vorgenommenen Landtagswahlen 
aber, bei denen die Wähler machtlos, der Statthalter Potocki, 
Protektor der Russophilen aber allmächtig war, verschafften 
9 Russophilen den Eintritt in den galizischen Landtag auf die 
21 für die Ruthenen bestimmten Mandate. Freilich verliert die 
Tatsache an Bedeutung und birgt sie keine Gefahr für die nationale 
Entwickelung der Ruthenen, wenn wir bedenken, dass die national- 
ruthenischen (ukrainischen) Parteien 381.000, die Russophilen aber 
nur 178.000 Stimmen bekamen, darunter mehr als die Hälfte 
polnische und jüdische, der Rest national noch nicht gut be¬ 
wusste Elemente. Aber gewiss bedeutet es eine ernste Gefahr 
für den Staat, dass es überhaupt geschehen konnte, dass in 
den Österreichischen Reichsrat und in den Landtag einer öster¬ 
reichischen Provinz Vertreter einer in Österreich, wenn wir von 
den wenigen Tausenden Russen in der Bukowina absehen. nicht 
existierenden Nation gewählt wurden. Die österreichische Regierung 
hatte vor Jahren zur Verhütung der russischen Gefahr die Macht 
über das Land Galizien den Polen in die Hände gespielt und 
nun lässt sie sich versichern, dass es ja für den Staat ein Glück 
bedeutet, wenn gegen die rebellischen Ukrainer gemässigte Alt- 
ruthenen ausgespielt werden. . . 

So feilschen die Polen um die ukrainische Haut. Um den 
ihnen nichts kostenden Preis der Förderung des russisch-nationalen 
Gedankens in Ostgalizien sollten ihnen als Entgelt die ukrainischen 
Gebiete des Kongresspolen erhalten bleiben. Tatsächlich rechnen 
sie aber damit, dass ihnen auch das durch das Grosszüchten des 
Russophilismus geschwächte Ostgalizien, welches sie ja schon 
jetzt teilweise polonisiert haben, ganz in den Schoss fiele. Aber 
auch das würde nichts weniger als ihre Gelüste nach dem 
historischen Polen zufriedenstellen. 

Der Kampf der Russen und Polen gegen die Ukrainer, der 
tatsächlich auch ein Kampf zwischen den Russen und Polen ist, 
wird noch interessante Erscheinungen hervorbringen. 


Die Bedeutung der nationalen Autonomie für die innere 
und innere Politik ö$terreicft$. 

Von Dr. H. K a d i s c h. 

Es ist eine charakteristische Erscheinung, dass die aus¬ 
wärtige Politik des Donaureiches nicht von unseren parla¬ 
mentarischen Vertretungskörpern beeinflusst wird, sondern 
dass umgekehrt die äussere Politik bestimmend auf die Ge¬ 
staltung der innerösterreichischen Verhältnisse wirkt. Der 
unglückselige Dualismus ist das Produkt des preussisch- 
österreichischen Krieges, die Depossedierung der deutsch- 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



392 


liberalen Partei vorwiegend eine Folge ihrer ablehnenden 
Haltung gegen die Okkupation von Bosnien-Herzegowina ge¬ 
wesen. — Die Annexion der okkupierten Provinzen wieder dürfte 
der Anlass zu einer neuen Umgestaltung der staatsrechtlichen 
Struktur des österreichischen Gesamtreiches werden, da ja 
jetzt bereits als Konsequenz der wiederhergestellten türkischen 
Verfassung der Ruf nach Verfassungseinrichtungen auch für 
Bosnien-Herzegowina sich immer lauter erhebt. 

Die bosnische, sowie die in ein ernstes Stadium 
tretende kroatische Frage, das innerungarische Na¬ 
tionalitätenproblem, wie die immer von neuem hervortretende 
deutsch-tschechische und p o 1 n i s c h - r u t h e- 
nische F r a g e können jedoch nicht stückweise, 
sondern nur durch einen radikalen Systemwechsel im Sinne 
einer national-autonomistischen Reichsverfassungs¬ 
revision gelöst werden. 

Die seit 41 Jahren beliebte Methode, das österreichische 
Problem zu lösen, hat Schiffbruch gelitten. 

1867 wurde zum Schaden des Reiches und aller Völker, 
zum alleinigen Nutzen der magyarischen Oligarchie 
und der polnischen Schlachta jenes dualistische 
System geschaffen, welches gleichmässig nach aussen wie 
innen das Reich hindert, ein Hort der Freiheit, der nationalen 
und sozialen Gerechtigkeit für alle seine Bewohner zu sein 
und auf Grund national-autonomistischer, demokratischer 
Einrichtungen auch ein Attraktionszentrum für die stamm¬ 
verwandten Balkanvölker zu werden. Die Etablierung des 
Dualismus, die Sanktionierung des ungarischen Staatsrechtes, 
musste naturgemäss alle analogen Bestrebungen nach einem 
böhmischen und kroatischen Staatsrecht, sowie nach einer 
Sonderstellung Galiziens neu beleben, sie war der erste für 
die Monarchie und alle Nationalitäten verhängnisvolle Versuch, 
durch tote Staatsrechte lebende Völker zu erdrosseln. 

Nicht ohne Grund schwärmen gerade jene Parteien, 
welche nach dem Vorbilde der magyarischen Schlachta 
andere Völker auf „ihre m“ Territorium beherrschen und 
entnationalisieren wollen, für den Dualismus oder die Per¬ 
sonalunion, „den verrückt gewordenen Dualismus.“ Es sind 
dies diejenigen Parteien, welche weder eine wahrhafte Reichs¬ 
einheit noch eine wirkliche Autonomie aller Reichsvölker 
wollen und in deren Munde die Begriffe „Zentralismus“ und 
„Föderalismus“ leere Phrasen geworden sind, ein Schicksal, 
das sie ja mit den meisten Parteiprogrammen teilen. Unter 
diesem Gesichtspunkt schrieb ich bereits vor drei Jahren in 
meiner Broschüre „Alt- und Neuösterreich“: 

„Man hat allzulange als Ursache aller nationalen Wirren 
den Zentralismus hingestellt und auch gegenwärtig wird noch 
für jedwede nationale Unterdrückung in beiden Reichs¬ 
hälften schlechtweg „Österreich“ verantwortlich gemacht. 

Digitized by Gougle 


Original f m 

INDIANA UNIVERSITY 



393 


Ist dies aber wirklich richtig? Es soll keineswegs eine Lanze 
eingelegt werden für den alten Zentralismus, weder für den 
klerikalgermanisatorischen noch für den Scheinliberalen. Aber 
diejenigen, welche in Prag, Lemberg und besonders in 
Budapest am lautesten gegen den Wiener Zentralismus 
donnern sind im eigenen Lande die extremsten Zen¬ 
tralsten und Gegner jeder nationalen Auto¬ 
nomie.“ 


Wenn im ungarischen Reichstage die magyarische 
Oligarchie alle nicht magyarischen Nationalitäten vergewaltigt, 
die grossen Massen des magyarischen Volkes wirtschaftlich 
ausbeutet, die ungarische Gesetzgebung keine Zeit findet für 
soziale Reformen, zum Ausbaue der Gesetze im freiheitlichen 
Sinne, weil sie nur ein Ziel kennt, die Magyarisierung der 
Nichtmagyaren und den selbständigen magyari¬ 
schen Nationalstaat, dann wird für alle Schandtaten 
und Unterlassungssünden der ungarischen Parlamentarier von 
den magyarischen Chauvinisten als Sündenbock Wien stig¬ 
matisiert. 

Wenn in Galizien die polnische Schlachta die grossen 
Massen des polnischen Volkes politisch entrechtet, wirt¬ 
schaftlich explodiert, überdies noch die Ruthenen und die 
Juden vergewaltigt, dann ist der Schuldige wieder „Wien“, 
der Zentralismus. Also jenes Wien, jener Zentralismus wird 
für die Schandtaten am ungarischen Globus und in Galizien 
verantwortlich gemacht, der in diesen Ländern machtlos ist, 
da ja Ungarn und Galizien sich einer weitgehenden Auto¬ 
nomie erfreuen, einer Autonomie, welche die herrschenden 
Klassen des magyarischen und polnischen Volkes dazu be¬ 
nützen, nicht nur um alle anderen Nationalitäten, sondern 
auch die breiten Schichten des eigenen Volkes zu verge¬ 
waltigen. Natürlich würde an diesen Zuständen in Ungarn 
und Galizien nichts geändert werden, sondern diese würden 
sich stabilisieren und wahrscheinlich verschlechtern, wenn 
die Personalunion mit Ungarn und eine Sonderstellung 
Galiziens platzgreifen würde. Die in diesen Ländern 
herrschenden traurigen Verhältnisse würden sich bald auch 
in den anderen Teilen der Monarchie fühlbar machen, wenn 
die Länderautonomie ohne Berücksichtigung der Autonomie 
der Nationen die Grundlage einer neuen Reichsverfassung 
bilden würde. 

Die Erfahrungen in Galizien und in Ungarn haben eben 
gelehrt, dass die Dezentralisierung des Reiches nicht unter 
allen Umständen identisch ist mit der Autonomie der Nationen 
und dass nicht jeder Föderalismus zur Gleichberechtigung 
der Nationen führt. Die Autonomie und Gleichberechtigung 
müssten Selbstzweck einer neuen Reichsverfassung sein 
und diese wieder kann nicht in einer Reichshälfte allein, 


Digitized by 


Gck igle 


2 

Original fro-rri 

INDIANA UNtVERSITY 



394 


sondern sie muss in Zis- und Transleithanien gleichzeitig 
proklamiert werden. 

Allein vom Standpunkte der Realpolitik darf man sich 
der Tatsache nicht verschliessen, dass auch das national- 
autonomistische Prinzip nicht Aussicht hat, ohne Konzessionen 
zur ausschliesslichen Geltung im gesamten Donaureiche zu 
gelangen. 

Es wird eben auch eine neue Reichsverfassung unter dem 
Zwange der Verhältnisse auf einem Kompromisse basieren 
müssen zwischen denVertretern der nationalen 
Autonomie, der Länderautonomie und der 
Reichseinheit. Dieses Kompromiss wird darum nicht 
auf unüberwindliche Schwierigkeiten stossen, da einerseits 
der reine Zentralismus sowie der dualistische Doppelzentra¬ 
lismus sich nicht bewährt haben und andererseits der länder- 
autonomistische Föderalismus ohne Berücksichtigung der 
nationalen Minoritäten in den gemischtsprachigen Gebieten 
sich nicht durchführen lässt. Es ist daher eine solche 
bundesstaatlicheVerfassung für die gesamte 
Monarchie zu erstreben, welche einerseits den faktisch 
gemeinsamen Angelegenheiten des ganzen Reiches, Äusseres, 
Finanzen, Handel, Heeresangelegenheiten, Bosnien-Herzego¬ 
wina durch ein gemeinsames Reichsparlament auf 
demokratischer Basis Rechnung trägt, aber andererseits das 
Reich ethnisch möglichst abgrenzt, unter tunlichster Schonung 
der Länderindividualitäten (? Die Red.), bei Kombination des 
Territorial- und Personalitätsprinzipes und der Gewährung 
weitgehendster Autonomie für die spezifischen Interessen 
der einzelnen Nationalitäten und Kronländer. 

Vor kurzem hat sich ein Verein „Nationale Auto¬ 
nomie“ mit der Zentrale in Wien gebildet, bestehend aus 
Angehörigen verschiedener Nationalitäten, dessen Tätigkeit 
jedenfalls im Herbste beginnen wird. Möge er sich zur Auf¬ 
gabe setzen, in Wort und Schrift die Massen über die Not¬ 
wendigkeit einer national-autonomistischen Reichsverfassungs¬ 
revision aufzuklären, ohne welche die Herstellung einer na¬ 
tionalen Ordnung, ein wirklicher, politischer und sozialer 
Fortschritt in Österreich ausgeschlossen ist, wie ja die 
politische Lage in beiden Reichshälften deutlich zeigt. 



Die ukrainische Schule im polnischen 3och. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 


VI. Die Anzahl und die Verteilung der Mittel¬ 
schulen in Galizien. 


Im September 1908/9 wird der Stand der Mittelschulen 
in Galizien (falls keine neuen errichtet werden), folgender 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



395 


sein. In Westgalizien: Realschulen zwei in Krakau, je 
eine in Tarnow, Krosno und Saybusch; Gymnasien fünf in 
Krakau mit zwei Filialen, je zwei in Tarnow, Rzeszow und 
Neu-Sandez, je eine in Nowy Targ, Gorlice, Bochnia, Wa- 
dowice, Dembica, Mielec, Podgörze, Jaslo und Myslenice. 
Zusammen wird Westgalizien fünf Realschulen und 20 Gym¬ 
nasien mit zwei selbständigen Filialen, mit anderen Worten 
27 Mittelschulen*) haben. — In Ostgalizien: Real¬ 
schulen zwei in Lemberg, je eine in Jaroslaw.. Tarnopol, 
Stanislau und Sniatyn; Gymnasien acht in Lemberg mit drei 
Filialen, je drei in Peremyschl, Stanislau und Tarnopol, zwei 
in Kolomea, je eine in Sokal, Terebowla, Brody, Buczacz, 
Berezany, Zolocziw, Jaroslaw, Stryj, samt Filiale, Drohobycz, 
Sambir, Sanok und 2owkwa — zusammen sechs Realschulen, 
31 Gymnasien nebst vier Filialen oder zusammen 41 Mittel¬ 
schulen. 

Von allen diesen Schulen ist nur eine in Lemberg 
deutsch (das ehemalige deutsche Gymnasium in Brody wird 
sukzessive in ein polnisches umgewandelt) und je eine in Stanis¬ 
lau,Tarnopol, Kolomea, Peremyschl und Lemberg, das letztere 
samt Filiale, ukrainisch. Von den 68 galizischen Mittel¬ 
schulen haben die Polen 61, die Ruthenen sechs und die 
Deutschen eine. 

Die Ausstattung einzelner Kronländer Zisleithaniens 
mit Mittelschulen stellte sich im Jahre 1906/7 dar, wie folgt 
(wir zählen nur die auf Staats-, Landes- oder städtische 
Kosten erhaltenen Schulen auf, während wir die Privatschulen, 
gleich so wie wir es bei Galizien taten, bei Seite lassen. 
Filialen werden als separate Anstalten gezählt): 


Kronland 

Die auf eine Mittel- 

Anzahl sämtlicher schule entfallende Ein _ 
Mittelschulen wohnerzahl 

Niederösterreich 

49 

64.000 

Oberösterreich 

8 

100.000 

Salzburg 

2 

97.000 

Steiermark 

14 

97.000 

Kärnten 

4 

92.000 

Krain 

8 

64.000 

Küstenland 

11 

69.000 

Tirol samt Vorarlberg 

13 

76.000 

Böhmen 

102 

62.000 

Mähren 

58 

42.000 

Schlesien 

11 

62.000 

Galizien 

68 

107.900 

Bukowina 

10 

73.000 

Dalmatien 

7 

85.000 

*) Lehrerbildungsanstalten haben wir in 
behandelt. 

früheren Artikeln separat 
’ D. V. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



396 


In der Reihe der Beeinträchtigten steht selbstverständ¬ 
lich an erster Stelle Galizien. Am vorteilhaftesten ausgestattet 
ist Mähren. Hier haben es aber auch die beiden Nationali¬ 
täten am ehesten verstanden, einen modus vivendi zu finden. 

Die Ausstattung einzelner Nationen mit Mittelschulen 
stellt sich dar, wie folgt (hier zählen wir, wohlgemerkt, utra- 
quistische Anstalten zu Gunsten der beeinträchtigten Na- 


tionen, Slovenen, Ruthenen, Rumänen): 

Nationalität Anzahl 

der Mittelschulen 

Die auf eine Mittel¬ 
schule entfallende Ein 
wohneranzahl 

Deutsche 

191 

48.000 

Tschechen 

80 

75.000 

Polen 

62 

69.000 

Ruthenen 

8 

425.000 

Rumänien 

2 

114.000 

Italiener 

9 

83.000 

Slovenen 

7 

215.000 

Serbo-Kroaten 

6 

? 


Demnach sind am vorteilhaftesten ausgestattet mit Mittel¬ 
schulen die Deutschen, dann kommen aber gleich die Polen. 
Am ärgsten haben abgeschnitten „unter einem Dache“ mit 
dem slavischen Bruder die Ruthenen. Nun halte man sich 
vor Augen, dass die Bukowinaer Ruthenen, die sich freilich 
der polnischen Vormundschaft nicht erfreuen, weit besser 
situiert sind, als ihre galizischen Mitnationalen. Während 
nämlich in der Bukowina eine ukrainische Mittelschule auf 
150.000 ukrainische Einwohner kommt, kommt in Galizien 
eine ukrainische Mittelschule erst auf 512.000 Köpfe ukrai¬ 
nischer Bevölkerung, dagegen eine polnische auf 64.000 pol¬ 
nischer!! — Würden die Ruthenen gleich den Polen be¬ 
handelt, dann müssten sie, selbst der von den polnischen 
Behörden gefälschten Statistik zufolge, 47 Mittelschulen haben. 

Noch schlauer gehen die Polen vor mit der Auswahl 
der Ortschaften für die Mittelschulen. In Westgalizien werden 
Mittelschulen sogar in ganz kleinen Städtchen gegründet, 
während die Anhäufung einer grösseren Anzahl von Mittel¬ 
schulen in einer Stadt, zumindest in letzter Zeit, vermieden 
wird. In Ostgalizien befolgt man in dieser Beziehung eine ganz 
andere Politik, es werden nämlich für Mittelschulen grössere 
Städte ausersehen und dort je einige Mittelschulen gegründet. 
So hat Westgalizien 15, das mehr als zweimal so grosse Ost¬ 
galizien aber nur 18 Städte mit Mittelschulen. Infolge dessen 
sind in Westgalizien Mittelschulen je 20—30 Kilometer 
anzutreffen, so dass ein jeder leicht daraus Nutzen ziehen 
kann. Während in Westgalizien auf der 145 Kilometer langen 
Linie Krakau—Rzeszow zwei Gymnasien in Tarnow, je eines 
in Podgorze, Bochnia, Dembica, ausserdem aber eine Real¬ 
schule und eine Lehrerbildungsanstalt in Tarnow, zusammen 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



397 


sieben Mittelschulen sich befinden, gibt es in Ostgalizien 
auf der 115 Kilometer langen Linie Lemberg—Stanislau keine 
einzige Schule. Die gewöhnliche Entfernung zwischen den 
Städten mit Mittelschulen in Ostgalizien ist 50—60 Kilometer. 

Die neuere Pädagogik erfordert, dass als Sitz der Mittel¬ 
schulen, wenn möglich, kleine Ortschaften gewählt werden. 
Indessen häuft die polnische Administration in Galizien 
Mittelschulen in Ostgalizien nur in grösseren Städten an. 
Während z. B. in Wien eine Mittelschule auf 51.000 Ein¬ 
wohner entfällt, so entfallen in Stanislau und Tarnopol eine 
Mittelschule auf 8000, in Lemberg auf 19.000 Einwohner. 
Darauf, dass in grösseren Städten die Gesundheitsverhält¬ 
nisse ungünstiger sind, dass eine grössere Stadt mehr Ge¬ 
legenheit zur Demoralisierung für die Jugend bietet, dass 
die Erhaltungskosten höher sind wie in kleinen Städten, wird 
nicht geachtet. Und so begegnen wir der Tatsache, dass um 
Lemberg, Stanislau und Tarnopol im Radius von 60 Kilo¬ 
meter keine einzige Mittelschule sich befindet. Das Ziel da¬ 
von ist klar. Die auf dem Territorium Ostgaliziens zerstreuten 
Schulen, auch wenn sie polnische Vortragssprache haben, 
bieten doch einige Gelegenheit, die ruthenische Intelligenz 
zu produzieren — und das fürchten die Polen. In eine grosse 
Stadt kann der ruthenische Bauer seinen Sohn wegen der 
zu grossen Kosten nur schwer schicken, umsoweniger, als 
die Entfernung oft eine kolossale ist. Dagegen machen 
sich diese Schulen die importierten Elemente aus West- 
galizien, wie Beamte, Lehrer, Staatsdiener u. a. zu Nutze. 
Man sieht, sogar in der Verteilung der Schulen in Galizien 
hat das polnische politische Interesse die entscheidende 
Stimme. 

VII. Die Unterbringung der ukrainischen Gym¬ 
nasien. 

Die Geringschätzung der lächerlich kleinen Anzahl 
ukrainischer Gymnasien kommt sogar in der Wahl der für 
sie bestimmten Gebäude, Säle und allem damit im Zusammen¬ 
hänge Stehenden zum Vorschein. Typisch in dieser Be¬ 
ziehung ist das Gebäude des ruthenischen Gymnasiums in 
Tarnopol. Irgend eine nachjesuitische Baracke mit engen 
Zellen dient als Unterkunft für die ukrainische, lernbegierige 
Jugend; diese Zellen, welche für einzelne Mönche bestimmt 
waren, sollen jetzt ganze Klassen beherbergen. Das Ge¬ 
bäude selbst ist derart baufällig, dass es schon längst die 
Pflicht der Behörden gewesen wäre, es niederreissen zu lassen. 
Die ruthenischen Zeitschriften haben schon oftmals be¬ 
richtet, dass einem oder dem anderen Schüler durch herab¬ 
fallende Steine aus den zerbröckelnden Mauern erhebliche 
Verletzungen beigebracht wurden. Aber nicht nur physische 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



308 


Leiden bedrohen die Lehrer und die lernende Jugend des 
Tarnopoler Gymnasiums; man bedenke, dass gegenüber 
demselben ein Gefangenhaus steht. Durch die Gitterfenster 
des Gefangenhauses schallen unzüchtige Lieder in Begleitung 
von sexual-pathologischen Bewegungen der Eingekerkerten 
zum Gymnasium herüber, was keinesfalls von günstigem 
moralischem Einflüsse auf die Schüler ist. 

Das ukrainische Gymnasium in Peremyschl wird nicht 
besser behandelt. In dieser Stadt wurde ein Gebäude für 
ein polnisches und ein ukrainisches Gymnasium eingerichtet, je¬ 
doch so, dass gleich der grössere Teil der Räume für die pol¬ 
nische Schule verwendet wurde. In Anbetracht dessen herrscht 
im ukrainischen Gymnaium zu Peremyschl seit Jahren ein un¬ 
beschreiblicher Raummangel. So hatte die Vorbereitungsklasse 
im Jahre 1906/7 mit 46 Schülern einen m langen, 372 m 
breiten und 3 m hohen Saal; folglich entfiel auf einen Schüler 
— den durch Bänke, Tische und Ofen ausgefüllten Raum 
mitinbegriffen — 0*42 m 2 Fläche oder 1‘25 m 3 Raum. Die 
Entfernung des Tisches von der Wand beträgt 28 cm. — 
Für Schweine hat man auf den Bahnen bessere Unterkunft 
als für die ukrainische Jugend unter der Vormundschaft des 
slavischen Bruders in Galizien. 

Der galizische Landesschulrat geht aber in dieser Hin¬ 
sicht noch weiter, weil er nicht nur zu wenige oder zu kleine 
Säle zur Verfügung stellt, sondern auch die Teilung der 
Klassen mit einer grossen Schüleranzahl nicht zulässt. Ab¬ 
teilungen mit 60—70 Schülern sind im ukrainischen Gymna¬ 
sium etwas ganz gewöhnliches. — Im Jahre 1905/6 zählte 
die V. Klasse des Peremyschler ukrainischen Gymnasiums 
80 Schüler in einer Abteilung, die zwei ersten Klassen zu 
Beginn des Jahres 1906/7 je 77 Schüler, die II. a 62, II. b 64, 
III. a 63, III. b 65, VII. 58, VIII. 53. — Im Jahre 1907/8 die 
II. a 70, II. b 64, III. a 63 Schüler usw. — Dieser Umstand 
ist wichtig, deshalb, weil durch die Überfüllung der Unter¬ 
richt erschwert ist und die ukrainische Jugend gezwungen 
ist, die Schule noch im Laufe des Jahres wegen Platzmangels 
zu verlassen. So ist festzustellen, dass, während in ukrai¬ 
nischen Gymnasien im Laufe des Jahres 1901/2 8’1 %> 
1902/3 7*137o, 1903/4 10*15%, 1904/5 9*18%, 1905/6 9*13% 
Schüler den Unterricht aufgeben mussten, in polnischen 
Gymnasien dieser Prozentsatz in denselben Jahren sich wie 
folgt, darstellt: 5*8%, 5’9%, 5*5% und 5*4 0 / p . 

Die Folge dieser Überfüllung ist weiter der Umstand, 
dass dadurch das Anwachsen der Frequenz an ukrainischen 
Gymnasien gehemmt wird. Trotz dieser argen Hindernisse 
sind die ukrainischen Gymnasien so stark besucht, dass sie 
schon längst hätten geteilt werden sollen. — So wurde im 
Jahre 1904 für das polnische Gymnasium in Peremyschl eine 
Filiale errichtet — die 1907 in ein selbständiges Gymnasium 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



399 


umgewandelt wurde — weil es damals 857 Schüler zählte; für 
das ukrainische Gymnasium in derselben Stadt wurde bisher 
keine Filiale eingerichtet, obzwar es 1907/8 von 869 Schülern 
besucht wurde, welche Zahl sich gewiss verdreifacht hätte, 
wenn die Frequenz nicht durch allerlei künstliche Hinder¬ 
nisse gehemmt würde. 

Derselben Erscheinung begegnen wir auch in allen 
anderen ukrainischen Gymnasien. Im Jahre 1904/5 waren im 
ukrainischen Gymnasium in Kolomea auf 130 Schüler der I. Klasse 
nur zwei Abteilungen, während für 130 Schüler der I. Klasse 
des polnischen Gymnasiums in der gleichen Stadt drei Ab¬ 
teilungen eingerichtet wurden. 1905/6 hatte die I. Klasse des 
ukrainischen Gymnasiums dort sogar 145 Schüler in zwei 
Abteilungen. Das ukrainische Gymnasium in Lemberg hatte 
1903/4 für 136 Schüler der III. Klasse nur zwei Abteilungen, 
während im III. (polnischen) Gymnasium in Lemberg 
129 Schüler derselben Klasse in drei Abteilungen unterge¬ 
bracht wurden. 1904/5 waren im erwähnten ukrainischen 
Gymnasium auf 237 Schüler der I. Klasse vier Abteilungen 
und in der I. Klasse des genannten polnischen Gymnasiums 
auf 178 Schüler ebenfalls vier Abteilungen. Im Jahre 1905/6 
hatte die II. Klasse des ukrainischen Gymnasiums in Lem¬ 
berg drei Abteilungen für 177 Schüler, die I. Klasse vier 
Abteilungen für 237 und die I. Klasse des VII. (polnischen) 
Gymnasiums in dieser Stadt vier Abteilungen auf 171 Schüler, 
die II. Klasse drei Abteilungen für 136 Schüler und so in 
infinitum. 

Diese wenigen ukrainischen Gymnasien hätten sich, 
würde man sie so wie die polnischen in Filialen und deren 
Klassen in Abteilungen geteilt, schon längst ins vierfache, ja 
fünffache angewachsen; aber die Ziele unserer polnisch- 
slavischen Brüder gehen dahin, das ukrainische Volk vom 
Lichte des Unterrichtes ferne zu halten, keineswegs aber, die 
Aufklärung im Volke zu fördern. 



fitnryk SlenRiewi« als Rontansdiriftsteller. 

(Auf Grund seines Romans „Mit Feuer und Schwert“). 

Von Prof. Wladimir Antonowytsch. 

(Schluss.) 

Ausser in Grausamkeit, Hang zur Plünderei und Räuberei, 
äussert sich die Wildheit der Kosaken nach der Ansicht Sien- 
kiewicz’ auch hauptsächlich in ihrer leidenschaftlichen 
Trunksucht. Dies bei den Publizisten bekannter Sorte 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



400 


so beliebte Thema nützt Sienkiewicz mit schlecht ange¬ 
brachtem, überflüssigem Eifer aus. So behauptet er an einer 
Stelle, dass die Vorgesetzten den Kosaken das Zechen 
während des Feldzuges untersagen und dieses Laster mit 
dem Tode bestrafen; gleich darnach vergisst er diesen Aus¬ 
spruch und erzählt, wie Bohun, ein Kosakenoberer, die Ko¬ 
saken sich vollsaufen lässt vor dem Feldzug und wie diese nur 
deshalb mutig zum Angriff vorrücken, weil sie mit Brannt¬ 
wein getränkt worden waren. Sienkiewicz ist empört über 
die Trunksucht der Kosaken, während seine Helden selten 
ihre Gespräche ohne Trinkbecher führen; einer von ihnen 
gerät sogar mit der ganzen Abteilung, die seiner Führung 
anvertraut war, in Gefangenschaft, weil sie sich bis zur Be¬ 
wusstlosigkeit angetrunken hatten. Der ganze Unterschied 
zwischen der zivilisierten und gegenteiligen Trunksucht be¬ 
steht darin, dass die Schlachzizen Wein, Met, Liköre und 
destillierten Branntwein trinken, die Bauern sich aber mit 
undestilliertem, säuerlich riechendem Schnaps begnügen. Na¬ 
türlich ein ernster Umstand in gastronomischer Hinsicht, nur 
ist uns seine Bedeutung in kultureller Beziehung nicht ein¬ 
leuchtend genug. 

Die Edelleute — behauptet Sienkiewicz — hatten im 
Gefolge die bürgerlichen Sitten und suchten ihnen in der 
Ukraine Eingang zu verschaffen und zwar begannen sie dies 
damit, dass sie den Boden und das Eigentumsrecht an sich 
brachten und das bis zu jener Zeit freie Volk zu ihrem Vor¬ 
teil ins Joch der Leibeigenschaft spannten — aber dafür 
überhäuften sie das Land mit Wohltaten, indem sie es vor 
den Überfällen der Tartaren schützten, Ordnung einführten 
und einige Provinzen bevölkerten. — Wir bezweifeln sehr 
stark diese Verdienste des polnischen Adels vom XVII. Jahr¬ 
hundert und sind fest davon überzeugt, dass dies allgemeine, 
leere Phrasen sind, welche die das Land bedeutend weniger 
wohltätig beeinflussende reale Wirklichkeit verstecken sollen, 
die uns sofort in ihrer ganzen Nacktheit entgegentritt, sobald 
wir uns den historischen Tatsachen zuwenden. Die Sicher¬ 
heit des Landes vor T a r t a r e n ü b e rf ä 11 e n be¬ 
stand schon viel früher, lange vor dem Auftreten der pol¬ 
nischen Schlachta und zwar verdankte das Land diese 
Sicherheit den Bestrebungen des am Ende des XV. Jahr¬ 
hunderts entstandenen Kosakentums und dessen litauisch¬ 
ukrainischen Anführern, den Starosten; Wir führen nur die 
kriegerischen Erfolge des Eustafij Daschkowytsch, Dmytro 
Wyschnewetzkyj, des Fürsten Konstantin Ostroskyj an 
und diese beweisen, dass die Ukraine sich allein Manns ge¬ 
nug war, um die Angriffe der Tartaren zurückzuschlagen. 
Und die Ordnung im Reiche war schon unter Witold 
eine musterhafte. Freilich war es keine Schlachzizenordnung, 
die so aussah, dass sich die Schlachzizen den Land- und 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



401 


Bodenbesitz widerrechtlich aneigneten und die wirkliche 
Ordnung nach der Union von Lublin umstürzten. 

Merkwürdig, dass Sienkiewicz den Glanz der Vorkomm¬ 
nisse in seinem Roman vom Gesichtspunkt der militärischen 
Disziplin, Strategie und Taktik hervorzuheben sucht und 
dabei denjenigen Zeitpunkt wählt, in welchem die polnische 
Armee die grössten Niederlagen erlitten; der schlechtge¬ 
wählte Moment versetztfden Verfasser offenbar in eine schwie¬ 
rige Lage, aus welcher er sich zu befreien bemüht, indem er 
sich dabei der vollsten Freiheit, die in solchem Falle einem Belle¬ 
tristen zusteht, zu seinem Vorteil bedient. Indem er die Ereig¬ 
nisse während der Schlacht nach den Eindrücken eines der 
fingierten Helden seiner Erzählung schildert, überlässt er ihn 
wohlweislich seinem Gram und tiefem Bedauern während der 
Schlacht an den Zowti wody ob derselben, hält ihn abseits 
vom Kriegsschauplatz in Gefangenschaft während des Schlacht¬ 
getümmels bei Korsun und schickt ihn, wohlbedacht, auf eine 
entferntere Rekognoszierung zu derZeit, in welcher bei Pylawci 
das polnische Heer aufs Haupt geschlagen wird. Dafür bauscht 
. er die kleinen Scharmützel bei Machniw, Rossolowetz zu erst¬ 
klassigen Schlachten auf und sucht sie durch eine Menge von 
Episoden, Einzelkämpfen und dergleichen Beiwerk herauszu¬ 
putzen, zu welchem Zwecke er ziemlich ungeniert Homers 
„Iliade“ ausbeutet. Seine Phantasie entflammt sich derart, 
dass er in einer dieser Hauptschlachten 14 Oberste der 
Kosaken töten lässt, während Chmelnytzkyj im Ganzen nur 
20 Regimenter besass! Seine Helden sind so offenbar den 
Halbgöttern Homers nachgebildet, dass sie unserer Meinung 
nach kein sckmeichelhaftes Zeugnis über die künstlerischen 
Eigenschaften des Sienkiewicz ausstellen: alle sind mit einer 
ungewöhnlichen körperlichen Kraft ausgestattet. Einer von 
ihnen, Podbipienta, zertrümmert Türme mit Steinwürfen, der 
zweite (Wolodyowski-Diomedes) besiegt jeden Gegner im 
Zweikampf, der dritte (Zagloba — der schlaue Odysseus, Fal¬ 
staff) verfügt über einen ganzen Vorrat von naiven kriegeri¬ 
schen Einfällen usw. Freilich verliert die physische Kraft der 
einzelnen Helden im Homer neben den Schusswaffen ihre 
Bedeutung, aber Sienkiewicz hat es verstanden, auch dieses 
Hindernis möglichst zu beseitigen. Die Feinde seiner Helden 
sind so wild, unzivilisiert und dumm, dass sie, überfallen, 
nicht eher schiessen oder einen Pfeil entsenden, bis diese 
Helden nicht einige Hunderte von ihnen im Handgemenge 
umgebracht haben. 

Aber gesetzt den Fall, dass die Schlachzizen des XVII. 
Jahrhunderts tatsächlich so unglaublich stark und tapfer waren 
(wenn es auch sonderbar erscheint, in Anbetracht der Panik 
bei Pylawci diese Eigenschaft zu rühmen), das alles beweist 
unserer Meinung nach noch nicht ihre hochentwickelte Zivili¬ 
sation und Kultur. Einen glänzenden Beweis hiefür liefert 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



402 


Sienkiewicz selbst, indem er die Kosaken und Bauern als 
Repräsentanten der Wildheit, dabei aber tapfer darstellt, dass 
sie zu Hunderten unter den Hieben seiner Helden fallen und 
doch die Flucht nicht ergreifen. Natürlich ist die Tapfer¬ 
keit im Kriege eine achtbare Eigenschaft und. man kann den 
tapferen Sinn und die besonderen Fähigkeiten in der Krieg¬ 
führung weder des Attila noch Tschingischan in 
Abrede stellen. Dessenungeachtet sind wir der Meinung, 
dass die kriegerischen Eigenschaften und Fähigkeiten noch 
keinen Beweis der besonderen Kulturentwicklung des betreffen¬ 
den Volkes liefern. Wenn wir solchermassen die Grundzüge 
der zivilisierten Schlachta und der rohen Bauern zusammen¬ 
fassen, finden wir die unterscheidenden Merkmale nur in den 
willkürlichen Epithetas, mit welchen der Verfasser beide Teile 
bedenkt. So wundert sich einer seiner Helden, .als er dem ihm 
bis dahin nicht bekannten Chmelnytzkyj begegnet, über den 
Ausdruck der Entschlossenheit und dass sich ein solcher im Ge¬ 
sicht eines Menschen unbekannter Abstammung aus¬ 
prägen kann. Wahrhaftig, er erinnerte — meint er — an den 
Gesichtsausdruck des Fürsten Wiszniewiecki, doch in diesem 
stellte er sich dar als ein von der Natur verliehener Zug, 
der seiner hohen Abstammung gebührte. . . Die Heldin des 
Romans ist natürlich mit besonderer Schönheit und einer 
Energie ausgestattet, die dem Fürstenblut der Kurcewicz 
eigen war. Dafür ist ihre Tante, die Fürstin Kurcewicz, 
schroff, zudringlich im Benehmen und selbstsüchtig, weil sie 
einer Familie „zweifelhafter Abstammung“ ent¬ 
sprossen. Der Oberst Bohun ist vom Verfasser nur deshalb 
mit besonderer Körperkraft und Tapferkeit ausgestattet, damit 
der unbezwingliche Heroismus seiner Helden ihm gegenüber 
destomehr zur Geltung kommt und scheint zu diesen Eigen¬ 
schaften nur auf die Weise gekommen zu sein, dass seine 
Mutter ein ungesetzliches Verhältnis mit einem Schlach- 
zizen unterhalten haben soll, aber diese dadurch erhaltenen 
guten Eigenschaften werden derart von der Wildheit über¬ 
wuchert, dass die Augen des Obersten nächtlicherweile wie 
bei einem Wolfe glühen usw. 

Wir konstatieren nur diese Theorie „des blauen 
B 1 u t e s“ in den Grundsätzen Sienkiewicz’, sie richtig zu stellen, 
scheint uns natürlich überflüssig. Natürlich steht bei Sien¬ 
kiewicz im Vordergründe die bei den polnischen Geschichts¬ 
forschern und Publizisten so beliebte, vom geschichtlichen 
Standpunkt aus aber falsche Annahme, dass Chmelnytzkyjs 
Motive persönliche Rache für die ihm von Czaplinski 
angetane Beleidigung war. Immer wieder kommt der Ver¬ 
fasser darauf zurück, offenbar in der Überzeugung, dass 
Wiederholungen die Annahme glaubwürdiger erscheinen lassen 
werden. Natürlich bestreiten wir es nicht, dass Chmelnytzkyj 
persönlich beleidigt worden war, umsoweniger, da wir wissen, 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



403 


dass Czaplinski nicht nur sein Gut an sich brachte und ihn 
in betrunkenem Zustande beschimpft, sondern ihm auch sein 
Weib entführt und seinen Sohn getötet hatte und gegen ihn 
selbst ein Todesurteil erwirkte, vor dessen Vollstreckung sich 
Bohdan Chmelnytzkyj nur durch die Flucht rettete. Aber wenn 
diese Schmach ausschliesslich persönlichen Charakters ge¬ 
wesen wäre und nicht die Kundgebung der allgemeinen 
Unterdrückung, die sich über das ganze Volk der Ukraine 
erstreckte, dann hätte natürlich kein Aufstand erfolgen können. 
Das weiss der Verfasser selbst, sowie es ihm auch nicht 
fremd ist, wie sich das Volk Chmelnytzkyj gegenüber verhielt: 
er schildert ja den Geschichtsquellen treu den Einzug dieses 
Hetmans in Kijew nach seiner Rückkehr von Zamostje und 
dessen pompösen Empfang seitens der Geistlichkeit und des 
Volkes, mit Fahnen und Begrüssungsreden seitens der 
Deputation der Kijewer Akademie, von welchen er ein «von 
Gott gesandter Beschützer, Erretter und«Er¬ 
löser des Volkes von der polnischen Sklaverei“ 
genannt wird. 

Sienkiewicz beschränkt sich nicht darauf, eine allge¬ 
meine Charakteristik Chmelnytzkyjs zu entwerfen, er versucht 
auch dessen allgemeine Ansichten und dessen Gesichtspunkt 
zu bestimmen und führt diesen Versuch in Form einer Unter¬ 
haltung durch, die einer seiner fiktiven Helden mit Chmel¬ 
nytzkyj in der Sitsch anfängt. Der betreffende Held, eigentlich 
Sienkiewicz selbst, liest dem Hetman eine strenge Epistel (die 
sonst nirgends gedruckt ist). Der arme Chmelnytzkyj weiss sich 
nicht zu helfen, kann nichts darauf entgegnen und greift entweder 
nach dem Messer oder trinkt einen Becher Schnaps. Er ver¬ 
sucht freilich, übrigens in ganz unklaren Ausdrücken, die 
Unterdrückung der Bauern und des ganzen ukrainischen 
Volkes durch die Schlachta ins Treffen zu führen, aber diese 
Andeutung widerlegt Sienkiewicz sogleich siegreich mit fol¬ 
genden Gründen: „Wenn wir dir auch recht geben wollten, 
steht dir das Recht und die Entscheidung zu? Dich be¬ 
herrscht der Stolz und die Grausamkeit. Die Entscheidung 
und die Strafe überlass dem lieben Gott. Wenn auch alle 
Schlachzizen und Fürsten Ungeheuer wären, was übrigens 
nicht der Fall ist, so könnten sie doch nur vom Herrgott 
im Himmel und vom Reichstag aufErden abgeurteilt 
werden und nicht von dir, Hetman!“ Chmelnytzkyj leerte 
wiederum ein Glas Schnaps usw. 

Es bleibt uns noch einiges über eine der künstlerischen 
Annahmen des Werkes von Sienkiewicz zu sagen übrig. 
Indem er den künstlerischen Forderungen der Gegenwart 
Rechnung trägt, schien es dem Belletristen unumgänglich nötig, 
seinen Bildern eine realistische Färbung zu verleihen; infolge¬ 
dessen führt er eine Menge ethnographischer Einzelheiten 
vor, was zur Folge hat, dass es in seinem Werke von groben 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



404 


Fehlem und ethnographischen, wie auch linguistischen 
Verdrehungen wimmelt. Wir wollen einige Beispiele an¬ 
führen: Die Kosaken Chmelnytzkyjs werden zuweilen „Hayda- 
maken“ genannt, ein Wort, das erst im XVIII. Jahrhundert 
auftaucht und damals in der Ukraine gänzlich unbekannt war. 
Die Kosaken der herrschaftlichen Hofmiliz heissen immer 
„Semeny“, so aber wurden diejenigen Kosaken von den Türken 
benannt, die sich Ende des XVII. Jahrhunderts in Bessarabien 
angesiedelt hatten. Die Zaporoher Kosaken sind manchmal ganz 
nackt, manchmal in Uniform, wodurch sich die eine Abteilung 
von der anderen unterscheidet... In den Kosaken-Regimentern 
kommen immer ausser den Obersten noch „Unter-Oberste“ 
vor, die niemals existierten. Die Kirche des heiligen Nikolaus 
des Guten in Kijew ist ausschliesslich nur zu dem Zwecke 
in ein Nonnenkloster umgewandelt worden, damit die Kosaken 
dort alle Nonnen erdrosseln können ... In den Steppen des 
heutigen Poltawa soll so hohes Gras gewesen sein, dass die 
Reiter gänzlich darin verschwanden! An dem Ufer der Sul, 
Pslo und ihrer Nebenflüsse sollen unermessliche Urwälder 
sich hingezogen haben, wo unzählige Herden bärtiger Auer¬ 
ochsen lebten usw. 

Wir wollen noch zum Vergnügen der slawischen Phi¬ 
lologen als Beispiel der philologischen Kenntnisse des polni¬ 
schen Schriftstellers, welcher im ganzen Werke vielfach 
handelnde Personen vom ruthenischen Lager ruthenisch 
sprechen lässt, folgende angeblich ruthenische Stelle, ein 
Bruchstück der Rede des Obersten Krywonos, anführen: 
„Raz maty rodyfa. Wojna mnie ma£ i siostra! Wisniowecki 
rezet i ja budu! On wiszajet i ja budu! Tak i pujden zamkiw 
buduwaty, byty, rizaty, wiszaty. Na pobybil im bitoruczkim!‘ 
usw. Kein Slawist wird imstande sein, herauszubringen, in 
welcher Sprache diese Worte geschrieben sind. 

Mit diesen das Thema bei weitem nicht erschöpfenden 
Bemerkungen wollen wir die Untersuchung des Romans be¬ 
endigen. Wir glauben, dass die von allen Seiten beleuchtete 
Tendenziosität Sienkiewicz’, wie sie den nationalen Gefühlen 
auch schmeicheln und die polnische Gesellschaft berauschen 
mag, der zukünftigen Entwicklung oder der Befriedigung der 
gegenwärtigen Interessen derselben nicht förderlich ist. Selbst¬ 
überhebung, Eigensinn, trotziges Beharren bei den Fehlern, 
Hass und Unverträglichkeit als Grundlage einer weiteren 
höheren Entwicklung der Menschen ist undenkbar, auf solcher 
Grundlage kann kaum das geistige, sittliche und kulturelle 
Wohl so wenig einzelner Personen als auch der Allgemein¬ 
heit gedeihen. 

* 3 ^ 


Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



405 


ttier sind Kosaken? 

Von W. Domanitzkyj. 

Man kennt in Europa die Kosaken als Werkzeuge der 
russischen Regierung zur Erdrückung der freiheitlichen Be¬ 
strebungen der russischen Völker. Als solche werden die 
russischen Kosaken von heute vielfach mit den ukrainischen 
Kosaken von ehedem unter eine Richtschnur gebracht. Und 
nicht nur im Ausland ist dies der Fall. In Russland, in der 
dritten Duma, war es, wo ein Redner der Rechten, anlässlich 
der Debatte über die Verbesserung der Lage der Don-Kosaken, 
das Lob auf die jahrhundertelang bewährte Treue der 
Kosaken zum Throne sang und darunter die ukrainischen 
Kosaken meinte. 

Indessen besteht zwischen den ehemaligen ukrainischen 
Kosaken, denen die russische Regierung noch im Jahre 1775 
ihre Selbständigkeit genommen, deren Gebiete sie an sich 
gerissen und welche sie gezwungen hatte in die Türkei zu 
flüchten, und den jetzigen Don-Kosaken, welche die rechte 
Hand der russischen Regierung sind, nicht im geringsten 
etwas Gemeinsames. Auch kann da von keinerlei Erbver¬ 
hältnis die Rede sein, nachdem die ehemaligen ukrainischen 
Kosaken ein Teil des ukrainischen Volkes waren, die heutigen 
Don-Kosaken aber Russen sind. Die Don-Kosaken haben 
noch im XVI. Jahrhunderte begonnen, sich auf jenem Terri¬ 
torium anzusiedeln, wo sie jetzt wohnen und dienten als 
moskovitische Emigranten den moskovitischen Zaren und 
deren Politik. Sie wurden für die russische Regierung unent¬ 
behrlich als Verteidiger der südöstlichen Grenzen des Reiches 
und das war die Ursache, dass sie die russische Regierung 
nicht in die Leibeigenschaft zwang, wie sie es mit dem ganzen 
Volke Moskoviens zu Ende des XVI. Jahrhunderts tat, sondern 
sie mit den Privilegien eines Heeresvolkes ausstattete und 
sich ihrer zum Kampfe gegen die Ukrainer, Tartaren und 
die verschiedenen Stämme im Kaukasus bediente. Es kam 
zwar vor, dass die Don-Kosaken ihrem Zaren den Gehorsam 
kündigten und revoltierten, wie dies z. B. zu Anfang des XVII. 
und Ende des XVIII. Jahrhunderts der Fall war, aber sie taten 
dies nicht aus irgend welchen Ursachen ideeller Natur, sondern 
sie Hessen sich in der Regel missbrauchen von falschen 
Prätendenten auf den moskovitischen Thron, als welche sich, 
wie das zu wiederholtenmalen in der russischen Geschichte 
vorkam, gewisse Individuen ausgaben und vor allem die 
Don-Kosaken durch allerlei Versprechungen für sich zu ge¬ 
winnen verstanden. Als treue Diener des Zarismus bewährt, 
behielten die Don-Kosaken diese Stelle bis zum heutigen 
Tage, trotzdem ihre Rolle als der äusserste Kriegsposten, 
gerichtet gegen die Tartaren und Ukrainer, eigentlich bereits 
ausgespielt ist. Es wurde ihnen auch weiterhin eine gewisse 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



406 


Autonomie belassen, wie eigenes, anfangs frei gewähltes, dann 
von der Regierung ernanntes Kosakenregiment und Befreiung 
von Steuerabgaben, wofür sie verpflichtet sind, ein gewisses 
Kontingent berittenen Militärs zu stellen und aus eigenen 
Mitteln für dessen Erhaltung zu sorgen. Das wäre also das¬ 
jenige „Kosakentum“, welches sich eines derart traurigen 
Ruhmes im russischen Reiche selbst und insbesondere im 
Auslande erfreut, als Henker, als seelenlose Geschöpfe, 
welche die Leute mit ihren Pferden niederstampfen, mit Leder¬ 
peitschen, den berühmten Nagajkas, zu Tode prügeln, die 
friedliche, unschuldige Bevölkerung gleich wilden Tieren 
misshandeln. 

Und nun einige Worte über die ukrainischen Kosaken, 
von welchen nur ein glorreicher Kosakenruhm übriggeblieben 
ist, deren Nachkommen die zahlreiche Landbevölkerung links 
des Dnipro ist, welche nie leibeigen waren, immer die Frei¬ 
heit genossen und noch bis auf den heutigen Tag den stolzen 
Kosakentitel bewahrt haben. 

Ukrainische Kosaken lassen sich in der Geschichte bis 
ins XV. Jahrhundert verfolgen. Sie verdanken ihren Ursprung 
denselben Ursachen wie die Don-Kosaken, d.i. der Notwen¬ 
digkeit, den eigenen Besitz gegen die Tartaren zu verteidigen, 
welche unausgesetzt ukrainische Dörfer überfielen, plünderten 
und die Bevölkerung als Kriegsbeute entführten. Indessen 
wuchs gerade im XV. und XVI. Jahrhundert Polen in die 
Kraft, indem es die ehemaligen ukrainischen und litauischen 
Fürstentümer an sich riss und in denselben polnisch-schlach- 
zizische Einrichtungen einzuführen bemüht war, deren Probe¬ 
stücke noch heute, im XX. Jahrhundert, in dem vom ukrainischen 
• Volk bewohnten Ostgalizien zu beobachten sind. Vor diesen 
Einrichtungen, besonders aber vor der Leibeigenschaft, welche 
zuerst auf dem galizischen Boden, dann aber auch auf dem 
Kiewer und podolischem Territorium und in Wolhynien ein¬ 
geführt wurde, begannen die Leute massenweise in solche 
Winkel zu flüchten, wo sie von herrschaftlicher Hand nicht 
erreicht werden konnten. Solch ein sicheres Versteck bildete 
das Tal am unteren Dnipro, wo sie eine Zentralsiedelung, 
die „Sitsch“, gründeten und sich selbst „Sitschowyky“ 
(Sitschleute) oder „Saporoschci“ (sa porohamy = jenseits 
der Dnipro-Katarakte) nannten. Die Sitsch bestand schon im 
gut XVI. Jahrhundert und war Ende dieses Jahrhunderts bereits 
organisiert, besass einen ganzen, aus Wahlen hervorgehenden 
Verwaltungskörper, dessen Oberhaupt „Hetman“ hiess, besass 
eigene Artillerie und Flotte. In die Kosakengesellschaft wurden 
nur erprobte Männer aufgenommen und bestanden für sie 
äusserst strenge Vorschriften, z. B. das absolute Verbot des Zu¬ 
trittes in das Sitschlager für Weiber. W urde ein Kosak mit einem 
Weib in der „Sitsch“ erwischt, dann musste er dies mit 
seinem Leben bezahlen. Todesstrafe war auch für Diebstahl 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



407 


und andere unehrliche Handlungen festgesetzt. So wurde die 
Sitsch eine Kriegerschule, wohin sogar Söhne der polnischen 
Schlachta in die Lehre zogen. Bald wuchs der Kosakenruhm 
derart an, dass die Sitsch auch in Europa als ein wichtiger 
Faktor im Osten behandelt wurde und verschiedene europäische 
Regierungen zu ihr in Beziehungen traten. So rief sie zu Hilfe 
Rudolf II. Ende des XVI. Jahrhunderts, dann zu wiederholten- 
malen die schwedischen Könige; auch der Papst verhandelte 
mit ihnen und in der Mitte des XVII. Jahrhunderts die 
französische Regierung. Als zur Zeit der Revolution Bohdan 
Chmelnytzkyjs die Ukraine das polnische Joch von sich ge¬ 
schüttelt hatte, wurde die Kosakenordnung über das ganze 
Land erstreckt. Es erhielt eine vollständige, selbstgewählte Ver¬ 
waltung mit eigenen Gerichten, Finanzen und nationalem Auf¬ 
klärungswesen. Die Ukraine wurde in Regimenter (Departe¬ 
ments, jetzige Gouvernements) eingeteilt; diese in Hundert¬ 
schaften, (entsprechend Bezirken), diese wiederum in „Kureni“ 
{Lager). Die Anführer derselben wurden vom Volke selbst, 
mittelst allgemeiner, offenkundiger Abstimmung 
gewählt, ebenso wie Regimentsrichter und andere Funk¬ 
tionäre, Aus freier Wahl ging auch das höchste Ober¬ 
haupt der Ukraine, der Hetman hervor. Zu jener Zeit des 
autonomen Lebens in der Ukraine stand dort die Volks¬ 
aufklärung bedeutend höher, als heute im XX. 
Jahrhundert. 

Die unglückseligen Umstände drängten Chmelnytzkyj 
zum Anschluss der freien Ukraine an Russland unter der 
Hauptbedingung, dass der Ukraine ihre Selbstverwaltung 
erhalten bleibt und dass die russische Regierung die¬ 
selbe nicht antasten darf. Aber es ist nicht Sache der 
russischen Regierung auf Verträge und Abmachungen zu 
achten; im Laufe von 150 Jahren der Zugehörigkeit der 
Ukraine zu Russland verstand es dieses, die Selbstverwaltungs- 
rechte der Ukraine zunichte zu machen; es schaffte allmählich 
die Hetmanswürde und die anderen Kosakenämter ab, vernich¬ 
tete die Sitsch, die Hauptstütze des ukrainischen Kosakentums 
und machte die Russifizierung des Volkes seither zum Ziele 
ihrer Politik in der Ukraine. Ein Teil der ukrainischen Kosaken, 
-etwa 40.000, flüchtete nach der Vernichtung der Sitsch in die 
Türkei; andere waren an die Scholle gebunden. Die Ausge¬ 
wanderten blieben bis 1829 in der Türkei; in diesem Jahre 
kehrte ein Teil derselben nach Russland zurück und siedelte 
sich unweit vom Kaukasus an der Kubanj an, wo deren Nach¬ 
kommen bis heute als das Kubanjheer leben. Nur haben sie 
sich nach der Rückkehr das Privilegium ausbedungen, dass 
sie den Militärdienst bei sich, an der Kubanj, erfüllen dürfen 
und sich zu Zarenschergendiensten nicht hergeben müssen. 
Eine solche Rolle nehmen seit jeher die Don-Kosaken, welche 
in sich einen Hass gegen die Ukrainer nähren, auf sich (sie 


Digitized by 


Go- igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



408 


wurden auch zur Vernichtung der Sitsch verwendet) und des¬ 
halb soll man, wenn die Rede von Kosaken ist, gut zwischen 
den russischen Zarenschergen und den ukrainischen Kosaken 
unterscheiden, welche sich im ukrainischen Volke den unver¬ 
gesslichen Ruhm der Kämpfer für dessen Freiheit erworben 
haben. 



Pa«a$ Itiatiiucbenko. 

(Nachruf.) 

Von Michael Motschulskyj. 

Am 27. September 1905 geschah etwas Merkwürdiges, 
noch nicht Dagewesenes auf dem Panzerschiffe „Kniasj 
Potemkin Tauritscheskij“, welches bei Tendry vor Anker lag. 

Ein junger Ukrainer, dessen Waghalsigkeit schon an 
Übermut grenzte, der Matrose Panas Matiuschenko, inszeniert 
auf dem „Potemkin“ einen Aufstand, tötet die widerstreben¬ 
den Vorgesetzten, arretiert die Offiziere, hisst auf dem Maste 
die rote Flagge, setzt an die Spitze als Leitung des Panzer¬ 
schiffes einen von allen Matrosen gewählten Ausschuss ein 
und dampft gegen Odessa, um mit dem Volke zusammen für 
die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Völker zü 
kämpfen. 

Matiuschenko hat dabei einen weitgehenden Plan. Er 
träumt von der Befreiung aller Völker aus den harten Ketten 
des russischen Despotismus und ist bereit, für dieses Ideal 
seinen Kopf zu opfern; er ist in seinem Innern dessen gewiss, 
dass für sein Ideal nicht nur die schlichten Matrosen ein¬ 
stehen, sondern auch das ganze fortschrittliche Russland, 
oder wenigstens der Kaukasus, Finnland, Polen und seine 
geknechtete Ukraine mit ihm gemeinsame Sache machen 
werden; er schwärmt von einem republikanischen, föderativen, 
auf den Prinzipien der Selbstverwaltung der Völker gebauten 
Russland. 

Aber nicht bei allen Kameraden Matiuschenkos loderte 
das Ideal in so reiner, lebenskräftiger Flamme, wie bei ihm 
selbst. Der Dämon der Finsternis ruhte nicht; er löschte das 
Feuer in den Seelen der Gesinnungsgenossen Matiuschenkos, 
säete den Zweifel, weckte den Egoismus und unterschob den 
Gedanken, ob es nicht gescheiter wäre, nach Sebastopol zu 
fahren und sich den Behörden zu ergeben. 

Matiuschenko bemerkte die Arbeit des Dämons und war 
bestrebt, die Kleinmütigen wieder zu ermutigen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original fro-m 

INDIANA UNIVERSITY 



409 


Er sprach zu ihnen: „Es gibt unser beiläufig hundert 
aufgeklärter Revolutionäre auf dem Schiffe. Wir alle haben 
uns entschlossen in die Reihen des sich erhebenden Volkes 
zu treten und, wenns nottut, auch unsere Köpfe zu lassen. 
Wir beschwören euch, wie Brüder, für dieses ruhmvolle Werk 
mit uns einzutreten. Seid ihr nicht geneigt, unserem Rufe zu 
folgen und wollt ihr wirklich nach Sebastbpol fahren, um 
euch der Obrigkeit zu ergeben, so werden wir diese Schmach 
gewiss nicht miterleben. In diesem Falle stellen wir uns 
alle in Reih’ und Glied auf und ihr schiesset uns nieder. 
Fahrt dann zu eurer Obrigkeit. Die kommt euch mit Musik 
und Feierlichkeit entgegen, überschüttet euch mit Achtung, 
Wohlwollen und Dank dafür, dass ihr das heilige Werk der 
Volksbefreiung verkauft habt. Wählet also! Entweder mit 
uns zum Kampfe oder ohne uns nach Sebastopol!“ 

Die Worte taten ihre Wirkung. Schamröte trat auf die 
Wangen der Karrteraden Matiuschenkos und sie riefen mit 
erhobener Stimme wie ein Mann: „Wir fahren nicht mehr 
nach Sebastopol! Wir wollen alle das gleiche Schicksal 
teilen, zusammen leben oder sterben!“*) 

Zur Vereinigung der Potemkinschen Revolutionäre mit 
der Odessaer Bevölkerung kam es nicht. Der von den 
Bosjaken **) arrangierte Pogrom verdarb die Sache. Derselbe 
desorganisierte die Revolutionäre und trug zum Niederwerfen 
des Volksaufstandes durch die Truppen bei. Es wurde sofort 
der Kriegszustand proklamiert und alle Zugänge in die Stadt 
vom Militär abgesperrt. „Potemkin“ versuchte das Theater¬ 
gebäude, in welchem der Kriegsrat versammelt war, zu bom¬ 
bardieren, aber der Versuch misslang. Mittlerweile musste 
man das Augenmerk anderswo hinwenden. Trompeten- und 
Trommelsignale wurden laut, auf dem Meere erschien eine 
Eskadre, zusammengesetzt aus den Panzerschiffen „Tri Swia- 
titiela“, „Georgij Pobjedonosetz“ und „Dwjenatzat Apostolow“, 
einem Minenkreuzer und sechs Kontretorpedobooten. „Po¬ 
temkin“ wendet der Eskadre entgegen, diese weicht, ihn 
wahrnehmend, zurück. Nach einer geraumen Weile erscheint 
die Eskadre wieder auf der Oberfläche des Meeres. Beide 
Gegner rüsten die Geschütze zum Kampfe gegeneinander. 
Es scheint, dass in jeder Minute Blut fliessen wird. Auf 
einmal ertönen auf dem Verdeck des „Potemkin“ die Rufe: 
„Es lebe, die Freiheit! Hurrah!“ Als Antwort vernimmt man 
von allen drei Panzerschiffen dasselbe „Hurrah“ . . . 

Nach dieser Begrüssung weichen die Gegner zu beiden 
Seiten zurück, um bald wiederum aufeinander loszugehen. 


*) O. Kowalenko-Zurbenko: „Elf Tage auf dem Panzerschiffe 
„Kniasj Potemkin Tawritscheskij“ (Literaturno-Naukowyj Wistnyk, 1906. 
Seite 223.) 

**) Bosjak = Stadtstrolch. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



410 


Nach dem dritten Vorstoss macht „Georgij Pobjedonosetz“ 
Halt und ergibt sich dem „Potemkin.“ Matiuschenko nimmt 
den Offizieren die Waffe ab, erklärt sie für gefangen und 
setzt an die Spitze des Panzerschiffes eine aus gewählten 
Matrosen zusammengesetzte Kommission ein. 

„Das war # der Moment — schreibt Oleksa Kowalenko, 
einer von den Heroen des „Potemkin“ — wo die Begeisterung 
der Schiffsbemannung ihren Kulminationspunkt erreichte und 
der Glaube derselben an die eigene Kraft und die Hoffnung 
auf das erfolgreiche Ende des unternommenen Kampfes flösste 
allen den Mut zu den riskantesten und waghalsigsten Schritten 
ein. Die Idee enthüllte vor den Augen aller die glänzendsten 
Perspektiven; es schien die Zeit heranzunahen, wo das Volk 
selbst dem neuen Regime neue Gesetze diktieren und über 
die Tyrannen und Henker seine Gerechtigkeit walten lassen 
würde.“*) 

Aber die Sache fand nicht den Abschluss, wie sich ihn 
die Potemkinschen Revolutionäre vorstellten. Am nächsten 
Tag schon hatte „Georgij Pobjedonosetz“ die Potemkinschen 
Kameraden verraten und sich den Odessaer Militärbehörden 
ergeben. Die Besatzung „Potemkins“ verlor den Mut. Der 
Dämon der Finsternis begann wiederum Misstimmung und 
Zwietracht zu säen und es gelang ihm diesmal, das Feld zu 
behaupten. Man verspürte am Schiffe bereits Mangel an 
Nahrung. Aus Odessa konnte man nichts herbeischaffen. 
Matiuschenko musste der Mehrheit nachgeben und „Potemkin“ 
segelte nach Rumänien. Aber hier erwartete sie eine neue 
Enttäuschung. 

Der rumänische Ministerpräsident gestattete ihnen nicht, 
die Verproviantierung auf dem rumänischen Territorium vor¬ 
zunehmen, stellte ihnen nur den Antrag, sich und das Panzer¬ 
schiff den rumänischen Behörden zu übergeben und garan¬ 
tierte ihnen dafür die Unverletzbarkeit der Person und die 
Ausfolgung der Reisepässe. Darauf wollten die Revolutionäre 
nicht eingehen’und beschlossen nach Theodosia zu schiffen, 
in der Hoffnung, dass sie der revolutionäre Kaukasus 
mit offenen Händen aufnehmen und sich mit ihnen verbinden 
würde. Aber auch hier wartete ihrer schmerzlichste Ent¬ 
täuschung. Unterdessen nahm der Kohlenvorrat mit jeder 
Stunde ab, es mangelte an Trinkwasser, der Hunger Hess 
sich auch schon spüren, die Schiffsbemannung war entkräftet, 
einige begannen zu kränkeln. Der Augenblick war sehr 
kritisch. Matiuschenko musste nach Konstanza Kehrt machen 
und hier, es war der 7. Juli 1905, fanden die Ideen Ma- 
tiuschenkos ihr Grab. Das Torpedoboot samt der Besatzung 
begab sich nach Sebastopol. Matiuschenko und seine anderen 


*) Die obenzitierten Memoiren Kowalenkos, Seite 440. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



411 


Kameraden legten die Waffen nieder und begaben sich nach 
Bukarest. 

* * * 

Jetzt beginnt für Panas Matiuschenko ein zweijähriges 
Wanderleben. Durch diese ganze Zeit kann sein unruhiger, 
unternehmungslustiger Geist nicht den richtigen Platz finden; 
er wandert von einem Winkel der Erde zum anderen; aus 
Rumänien begibt sich der Heimlose in die Schweiz, von 
dorten nach Frankreich, von Frankreich nach Amerika, von 
Amerika nach London, dann nach Wien, Budapest, Lem¬ 
berg. *) 

Hier kam ich im Sommer 1907 mit ihm zufällig im 
Hause des ukrainischen Schriftstellers Hnat Chotkewytsch 
zusammen. 

Matiuschenko wurde im Dorfe Derkatsch bei Charkow 
als Sohn eines kleinen Grundbesitzers geboren. Nach Ab¬ 
solvierung der Volksschule lebte er einige Zeit in seinem 
Heimatsorte und wurde dann Matrose auf dem Schwarzen 
Meere.*) In den letzten Jahren wurde er von den Militär¬ 
behörden zum Minenmaschinenquartiermeister ernannt. Er 
war nicht viel über 30 Jahre alt, von mittlerer Grösse, stark 
gebaut; sein grosses Gesicht schmückte ein schütterer, kurzer, 
kastanienbrauner Bart und ein paar grosse, glänzende Augen. 
Er war grüblerisch veranlagt und aus seinem Gesicht konnte 
man die seelischen Qualen und dabei auch den Grimm lesen. 
Seine Bewegungen waren frei und energisch. Gerne sass er 
auf dem Fussboden und erzählte mit stiller Stimme. Sehr 
selten sah man seine Mundwinkel zum Lachen verzogen und 
wenn jemals auf seinem Gesichte das Lachen heraufbeschworen 
wurde, so verschwand es eben so schnell als es gekommen, 
wie die Blüte einer verspätet aufblühenden Rose vom Stoss des 
kühlen Herbstwindes weggeschüttelt. Am ersten Tage unserer 
Bekanntschaft wusste ich nicht einmal, dass ich es mit Ma¬ 
tiuschenko, dem berühmten Potemkinschen Rebellen zu tun 
habe. Er nannte seinen Namen etwas undeutlich und erzählte in 
russischer Sprache über- das Leben, über die Sitten und Ge¬ 
bräuche im Auslande. Erst am zweiten Tage sagte mir Chotke¬ 
wytsch, dass der Emigrant, mit dem ich mich gestern unterhielt, 
Panas Matiuschenko war und fügte hinzu, dass Panas am 
selben Tage mit dem Nachtzuge nach Russland zurück¬ 
zukehren gedenke. Die Worte Chotkewytsch setzten mich in 
Staunen und ich fragte ihn: „Wieso denn ? In Russland wird 
man ihn doch aufhängen!“ „Es ist schade um Worte — 
antwortete mir Chotkewytsch — ich habe ihm das auch 
schon gesagt.“ Nach einigen Minuten erschien Matiuschenko 
im Zimmer, er grüsste mich und war mehr frei im Be¬ 
nehmen. Später brachte ihm ein junger Emigrant einen 


*) „Na winok“, Hnat Chotkewytsch „Dilo“ 1907. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



412 


Browning und ein anderer einen Reisepass, welchen Ma¬ 
tiuschenko nicht benützen wollte; er bereitete sich zur 
Reise vor. 

Wir trugen den Tisch in den Garten, wo uns Frau 
Chotkewytsch zum Tee einlud. Bei Tische waren Matiuschenko, 
Chotkewytsch, ein junger russischer Student und ich. Es war 
ein herrlicher Abend. Über uns lachte der dunkelblaue 
Himmel mit seinen goldenen Sternen. Die Bäume im Garten 
rauschten leise. Die glühenden Johanniskäfer leuchteten ein¬ 
mal hier, einmal da im Dunkel auf und verliehen dem Abend 
einen eigenen poetischen Reiz. Matiuschenko erzählte uns 
Erlebnisse aus seinem zweijährigen Wanderleben und wir 
hörten ihm mit förmlicher Andacht zu. 

„Es gab eine Zeit — erzählte Matiuschenko — wo ich 
meinen Kameraden, den Matrosen, in bunten Farben das freie 
Leben im Auslande schilderte. Und sie hörten mir mit Ent¬ 
zücken zu. Jetzt sehe ich, dass ich sie betrogen habe. Ich 
erzählte ihnen das, was ich aus russischen Büchern heraus¬ 
gelesen hatte. Aber wie unendlich weit sind die Wege zu 
dieser idealen Welt, zu diesem verzauberten Lande, welches 
meiner Phantasie dank der Lektüre vorschwebte. Ich betrog 
mich selbst und sie. Denn was für eine Freiheit ist das! 
In der Schweiz kämpfen die hungrigen Arbeiter für ein Stück 
Brot und diese vielgepriesene freiheitliche Schweiz schiesst 
sie dafür wie Hunde nieder.“ 

Die Augen Matiuschenkos zuckten, ein grünlicher 
Schimmer überflog sie. 

„Oder was schreibt man nicht — setzte Matiuschenko 
fort — über die ausländischen Volksführer! Ich habe mir 
den berühmten Jaures zur Genüge angehört. Und was? 
Glauben sie, dass er mir imponiert? Nein! Der ist ein echter 
Harlekin! Wenn er gezwungen wäre ums tägliche Brot so 
arbeiten zu müssen, wie ich und wenn er sich das Arbeiter¬ 
leben besser angesehen hätte, so würde er ein anderes Lied 
singen. Aber so hört man aus seinen Reden nur Phrasen, 
Phrasen und sonst nichts; etwas Durchdachtes, Neues, auf 
der Not des arbeitenden Volkes Begründetes wird man bei 
ihm nicht finden. Er ist doch Herr, trägt einen modernen 
Rock, ist satt, sein Gesicht lächelnd, voll Zufriedenheit. Er, — 
und die Not der Massen!“ . . . 

Einige Minuten sass Matiuschenko vertieft in Gedanken 
und fuhr dann fort: 

„Ich habe auch Gelegenheit gehabt, der Unterlreppen- 
tätigkeit verschiedener Sozialisten- und Anarchistenkreise zu¬ 
zuschauen. Aber auch diese gewannen nicht mein Herz 
für sich. Wie wenig ist bei ihnen von Idealismus und einer 
echten Liebe zum Dürftigen, dagegen wie viel schmutziger 
Egoismus! Aber es ist schade viel Worte darüber zu ver¬ 
lieren. Einmal glaubte ich an Maxim Gorkij und mit Vorliebe 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



413 


las ich seine Werke. Aber auch dieser hat mich enttäuscht. 
Ich bin ihm in Amerika begegnet und wir hätten sogar zu¬ 
sammen nach Italien fahren sollen. Schon war ich reisefertig 
und in einigen Tagen sollten wir die Reise antreten. Eines 
Tages gehe ich auf der Strasse und kann kaum meinen 
Augen trauen. Dieser, mein Liebling, der Repräsentant des Pro¬ 
letariats fährt sorglos im Automobil und grüsst mich höflich. 
Dieses herrschaftliche Getue Gorkijs hat mich so geärgert, dass 
ich ihm nicht einmal den Gruss erwiderte, nur ballte ich meine 
Fäuste und verlor die Lust, ihn noch jemals zu sehen. Der 
einzige reine Mensch unter den Revolutionären ist der alte 
Peter Kropotkin. Ich bin mit ihm in London zusammenge¬ 
kommen und habe mich mit ihm über verschiedene Dinge 
unterhalten.“ 

Bei den letzten Worten lächelte Matiuschenko zufrieden, 
stand auf, ging auf und ab und setzte sich dann nach der 
Art der Matrosen auf dem Rasen nieder. 

„Und jetzt Hnat Martynowytsch“, sagte er, sich an den 
Hausherrn wendend, „habe ich eine Bitte an Sie, spielen Sie 
mir etwas zum Abschied auf Ihrer Bandura vor.“ 

Hnat Chotkewytsch, derselbe, welcher das halb ver¬ 
gessene Banduraspiel in der Ukraine wieder zu Ehren ge¬ 
bracht hat, holte sein geliebtes Instrument, stimmte es, schlug 
in die Saiten und sang ein Kosakenlied über das Schwarze 
Meer, auf welchem vor zwei Jahren Matiuschenko von der 
Befreiung der geknechteten Völker Russlands träumend, seine 
Idee verwirklichen wollte. 

Als die letzten Akkorde des Liedes verstummten, wischte 
Matiuschenko schnell die Träne weg, welche das Spiel des 
Banduravirtuosen seinen Augen entlockte, und lächelte me¬ 
lancholisch. 

„Es war einmal“, sagte er zu mir, „die alte, ruhmreiche 
Ukraine, aber nimmer wieder kommt sie. . .“ 

Indessen war es für mich Zeit geworden, nachhause zu 
gehen. Beim Abschiednehmen fragte ich Matiuschenko: 
„Werden wir uns noch einmal sehen?“ „Vielleicht ja“, ant¬ 
wortete er, meine Hand fest drückend, „aber möglich auch, 
dass ich auf dem Galgen hängen muss ..." 

* * * 

Einige Monate danach las ich in den Blättern, dass Matiu¬ 
schenko in Mykolajiw bei Odessa arretiert wurde und am 
2. November 1907 brachten die Telegramme die traurige 
Nachricht, in Sebastopol habe Kontreadmiral Wieren das 
Todesurteil über den Minenmaschinenquartiermeister Panas 
Matiuschenko, den Führer des Aufstandes auf dem Panzer¬ 
schiffe „Potemkin“, bestätigt und auszuführen befohlen. 

Wie bekannt, wurde am 3. November 1905 der aller¬ 
höchste Befehl dem Senate übermittelt, auf Grund dessen 
allen, die bis zum Manifest vom 30. Oktober 1905 politische 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



414 


Verbrechen verübt hatten, die Strafe um einen Grad gemildert 
wurde. Daraus folgt, dass, wenn auch Matiuschenko die 
Todesstrafe verdient hätte, er dem allerhöchsten Befehl ge¬ 
mäss, höchstens zum lebenslänglichen Kerker verurteilt werden 
sollte. Der oberwähnte kaiserliche Befehl fand auch auf alle 
politischen Verbrecher Anwendung, nur Matiuschenko wurde 

diese Gnade, respektive dieses Recht verweigert. 

* * 

* 

So stieg vorzeitig ein Mann von so enormer Energie 
ins Grab; man löschte das Feuer, welches dem Menschen 
keine Ruhe liess, der unter günstigen Umständen viel Gutes 
für sein Volk leisten und dessen wirkliche Zierde und Stolz 
hätte sein können! 


„flnalpMbetUmiis als Staatspriircip.“ 

Seit fast dreiviertel Jahren bemüht sich die in Wien erscheinende 
„Polnische Post“ in einer Artikelserie, ihre Leser über die ukrainische 
Frage aufzuklären. Wir haben bereits seinerzeit auf manche Aus¬ 
lassungen dieses Blattes reagiert und waren daraufhin der Meinung, 
unserer publizistischen Pflicht Genüge getan zu haben. Nun doch, wir 
gestehen, der Schluss war voreilig! Nr. 19 der genannten Zeitschrift 
bringt einen Artikel, unter dem Titel: „Das Wesen der ukraini¬ 
schen Nationalität“, in welchem neben einer Unmenge vagester 
Geschichtslügen folgendes zu lesen ist: 

„Es war dies (Es ist die Rede von Kosaken. D. Red.) eine räuberi¬ 
sche und anarchistische Organisation. Aber sie war gleichzeitig auch 
antisozial und antikulturell. Antisozial, weil es den Kosaken nicht er¬ 
laubt war zu heiraten, antikulturell, weil eine durch das ganze XVI. 
Jahrhundert und bis in die Mitte des XVII. streng befolgte Tradition 
es verbot, einen des Lesens und Schreibens kundigen Mann zum Gross- 
hetman zu wählen. Man befürchtete nämlich, dass ein dieser Kunst 
kundiger Hetman in geheime Verbindungen mit den benachbarten 
Staaten eingehen und die Freiheit der Kosaken schädigen könnte. 
Selbst der „grosse“ Chmielnicki, der in polnischen Schulen 
schreiben gelernt hatte, musste den Kosaken gegenüber vorgeben, 
dass er nicht schreiben und nicht lesen könne. Wir sehen hier also 
den AnalphabetismuszurWürdeeinesStaatsprinzi p s 
erhoben.“ 

Nun halten wir uns mit der Widerlegung der Behauptung, dass 
es den Kosaken angeblich nicht erlaubt war, zu heiraten, nicht erst 
lange auf, sondern stellen nur fest, dass die Kosaken ja heiraten 
durften und, wie nicht anders zu erwarten, es auch getan haben und Kinder 
zeugten, so dass es nicht selten vorkam, dass Vater und Sohn den 
Kosakendienst machten, und dass es in der Ukraine überhaupt viele 
alte Kosakengenerationen gab. Es war dagegen eine streng beobachtete 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



415 


Vorschrift, deren Übertretung sogar die Todesstrafe nach sich zog, 
dass kein Rosake ein Mädchen in das Sitschlager führen durfte, eine 
Verordnung, welche gewiss auch ihre guten Seiten hatte. 

Schwerwiegender als diese Behauptung ist diejenige, welche 
den angeblichen Abscheu der Kosaken gegen die Lese- und Schreib¬ 
kunde betrifft und den der polnische Publizist zum ukrainischen Staats¬ 
prinzip erhebt. Eine derartige Behauptung aufzustellen wäre sehr ge¬ 
wagt selbst dann, wenn der Verfasser selbst nicht vom Gegenteil über¬ 
zeugt wäre — und dies muss er sein, sobald er sich überhaupt ein¬ 
mal mit der Geschichte des ukrainischen Kosakentums befasst hat. 

Selbst nach den Zeugnissen fremder Reisender aus früheren 
Jahrhunderten zeichneten sich die Ukrainer, besonders aber die 
ukrainischen Kosaken, durch eine hervorragend grosse Lernlust 
aus. So hat z. B. der Archidiakon Paul, Sohn des Patriarchen 
Makarius von Antiochia, mit dem er im Jahre 1652 die Ukraine bereiste, 
seinem Erstaunen über das Streben des ukrainischen Volkes nach 
Aufklärung folgendermassen Ausdruck gegeben: „Von dieser Stadt 
{Raschkiw, im heutigen Podolien) angefangen haben wir auf dem 
ganzen von Kosaken bewohnten Territorium eine schöne Erscheinung, 
welche unser höchstes Erstaunen erweckte, wahrgenommen; sie alle, 
mit wenigen Ausnahmen, sogar die Mehrheit ihrer 
Frauen und Kinder, sind schriftkundig. Ausserdem be¬ 
lehren die Geistlichen die Waisen und lassen sie nicht unwissend auf 
den Strassen ihre Jugend verbringen. Der Kinder gibt es hier mehr 
wie Gras und alle können lesen, sogar die Waisen!“ („Reisen des 
antiochischen Patriarchen Makarius.“) Auch, im XVIII. Jahrhundert be- 
sass die Ukraine ein dichtes Netz von Volksschulen, wie dies aus der 
Beschreibung Südrusslands von Rumjanzew zu ersehen ist, wonach 
os beispielsweise auf dem Territorium des Tschernihower Regimentes 
143 Schulen auf 142 bewohnte Ortschaften gab, also ein¬ 
fach ein idealer Zustand gegenüber dem von heute, wo es auf dem¬ 
selben Territorium zur Zeit ganze 52 Schulen gibt! (Zur Zeit der 
autonomen Ukraine entfiel eine Volksschule auf 746 Einwohner, heute 
hingegen auf sage 6730!) Dass Galizien unter polnischer Herrschaft 
im XX. Jahrhundert einen solchen Zustand je erreichen wird, erscheint' 
ganz ausgeschlossen. 

Schon im XVI. Jahrhundert besass die Ukraine ein dichtes Netz 
von niederen Schulen, ausserdem gab es Kollegien in Kijew, 
Tschernihow, Ostroh und Lemberg, seit 1634 aber eine 
Akademie in Kijew, welche ihren Ursprung dem im Jahre 1622 
verstorbenen Kosakenhetman Sahajdatschnyj (einem gebürtigen 
Galizianer) verdankt. Dieser Hetman, welcher den grössten Teil seines 
Vermögens für Schulzwecke bestimmte, hinterliess ein Vermächtnis, 
welches uns einen Menschen zeigt, der die Interessen des Volkes 
für sein leitendes Ideal hielt und der Volksaufklärung die denk¬ 
bar grösste Bedeutung beimass, dieselbe, um sich des Terminus des 
polnischen Publizisten zu bedienen, zum S t a a t s p r i n z i p erhob. 

Ähnlich wie Sahajdatschnyj waren auch andere ukrainische Het- 
mane um die Volksaufklärung besorgt. In dem zwischen dem Kosaken- 

Digitized by Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



416 


hetman Wyho w skyj und dem polnischen Könige abgeschlossenen Ver¬ 
trage in Hadiatsch 1658, also gerade um die Hälfte des XVII. Jahr¬ 
hunderts, demzufolge die „Ukraine als ein gleichberechtigtes rutheni- 
sches Fürstentum“ dem polnisch-litauischen Reichsverbande beitrat,, 
stehen folgende, bewilligte, Forderungen: „Seine königliche Hoheit und 
die Kronstände geruhen, die Akademie in Kijew wieder herzustellen 
mit dem Genuss von Privilegien und Freiheiten, wie solcher die 
Krakauer Akademie teilhaftig ist... Eine zweite Akademie wird 
von Seiner Königlichen Hoheit und den Kronständen bewilligt werden 
in einer hiezu geeigneten Ortschaft... Gymnasien, Kollegien, 
Schulen und Buchdruckereien, soviel nötig sein werden, 
ohne Hindernisse errichtet, desgleichen die volle FreiheitderLehre 
und im Druck von allerlei Büchern gewahrt, sowie die 
Glaubensstreitigkeiten nicht geahndet, nur dass hiebei die 
Königliche Majestät nicht verletzt werde.“ (Annalen des Sam. Welytschko 
IV., 92.) Zeitgenosse Wyhowskyjs und sein Ratgeber war der Kosaken¬ 
oberst Nemyrytsch, welchen Prof. Antonowytsch zu den gebildetsten 
Männern seiner Zeit zählt. Er studierte im Auslande, trat der Anti- 
trinitariersekte bei und war bekannt durch seine theologischen Arbeiten 
und Dispute. 

Einige Jahre nach dem Hadiatscher Vertrag (1670) stellt der 
Kosakenhetman Doroschenko anlässlich eines neuen Vertrages 
mit Polen folgende Forderung auf: „In Kijew soll die Errichtung einer 
Akademie gestattet sein .. . Eine zweite Akademie im weiss¬ 
russischen Mohyliw oder hier in der Ukraine, wo ein passender Ort 
dazu ausersehen wird, beide aber sollen mit solchen Rechten und 
Freiheiten ausgestattet sein, wie die Krakauer Akademie . . . Auch 
Schulen und Buchdruckereien sollen in der nötigen Anzahl 
errichtet werden und soll es erlaubt sein, allerlei Bücher zu 
drucken.“ 

Zur Vervollkommung des Bildes des Aufklärungswesens in der 
Ukraine führen wir noch verschiedene Daten, die sich auf spätere 
Zeiten beziehen, an: 

Da kommt zunächst in Betracht Hetman M a z e p a, welcher eine 
grosse Anzahl von Schulen in der Ukraine gründete und die Kije- 
wer Akademie zur Bedeutung einer Universität erhob, 
sowie die Tschernihower Schule in ein Lyzeum umwandelte. Unter 
seinem Einfluss schicken die Kosakenoberen ihre Söhne in 
ausländische Schulen. Er stand in regem Briefverkehre 
mit vielen Gelehrten seiner Zeit und war bekannt als Pro¬ 
tektor der Buchdruckerkunst. Sein Zeitgenosse war der 
Führer der Sitsch-Kosaken, H o r d i j e n k o, ein hochgebildeter Mann, 
Verfasser einer Konstitution für die ukrainische Re¬ 
publik mit einem gewählten Hetman und gewähltem Rat (Parlament), 
worin neben vielen weitgehenden Programmpunkten sich auch solche 
befinden, wie: Vollständige Freiheit und Gleichstellung 
aller Einwohner der ukrainischen Republik, be¬ 
ziehungsweise Gewährung der Kosakenrechte an dieselben, Aufhebung 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



417 


ungerechter Steuerabgaben usw. — also ein politischer Akt, welcher 
damals in Europa seinesgleichen suchte. 

Weiter: ln dem Vertrage mit dem Schwedenkönig Karl XII. 
hebt der Kosakenführer O r 1 y k Forderungen, Schulen betreffend, 
hervor. Auch der letzte Hetman, Rasumowskyj, verlangt 1760 
die Errichtung einer Universität in Baturyn. Zur Zeit 
Katharina II. schrieb der Russe Schofonskij, dass in der Ukraine 
noch Schulen nach altem Muster bestünden und bemerkt hiezu: „Den 
Kleinrussen muss die Gerechtigkeit zuteil werden, dass sie den 
Schulunterricht gerne geniessen, so dass nicht nur die 
Kinder von Wohlhabenden, sondern ganz unbemittelte Städter- und 
Kosakenkinder aus freiem Antrieb die oberwähnten Schulen be¬ 
suchen, und Hunger und Kälte, überhaupt die ganzen Entbehrungen 
gerne ertragen, um sich zu ehrwürdigen Leuten im Geistlichen- und 
Laienstand emporzuarbeiten“. 

Nun glauben wir, durch die angeführten Zitate dem polnischen 
Publizisten (es ist dies, nebenbei bemerkt, niemand anderer, als der 
uns schon gut bekannte Abgeordnete Zamorski) genügend auf die 
Finger geklopft zu haben. Sollte er aber nicht genug damit haben, so 
warten wir zum Schlüsse mit noch Stärkerem auf. Es heisst bei ihm, 
der Hetman Chmelnytzkyj, der seinem Zugeständnis nach doch 
lesen und schreiben konnte (wir fügen nach Kostomarow und anderen 
Geschichtsschreibern hinzu: der ruthenisch, polnisch, aber auch 1 a- 
t e i n i s c h und italienisch korrekt schrieb und sprach), hätte vor 
den Kosaken die Unkenntnis der Lese- und Schreibkunde vorgeben 
müssen. Nun ist es gewiss dem polnischen Publizisten bekannt, wes¬ 
halb auch seine Behauptung einer bewussten Lüge gleicht, dass 
Chmelnytzkyj, bevor er von den Kosaken zum Hetman gewählt wurde, 
in der Kosakenarmee die Würde des „Schreibers“ (Kanzlers) inne¬ 
hatte, zu welcher Würde er von den Kosaken, die ihn also doch zumin¬ 
dest für einen der Schrift Kundigen halten mussten, gewählt wurde... 

So geht es weiter im Lügenkreise des polnischen Publizisten und 
seiner Genossen. Aus lauter Lügen ist die ganze polnische Publizistik, 
soweit sie von ruthenischen Angelegenheiten spricht, zusammengesetzt, 
es gilt da, Scheingründe für die Herrschaft über das ruthenische Volk 
zu sammeln. .Derselben Methode bedient sie sich selbstverständlich 
auch gegenüber dem Auslande. Die Ukrainer als Barbaren hinstellen 
(Vergl. Un danger pour l’Europe. Von Rawita-Gawronski, besprochen 
in der U. R. Nr. 10, 1906.) und sich dabei auf den in recht grellen 
Farben dargestellten, tatsächlich bestehenden Mangel an Aufklärung 
beim ukrainischen Volke, welche ihm erst von seinen slawischen Brüdern 
genommen wurde, als Argument zu berufen, das ist das Prinzip der 
polnischen Publizisten und Informatoren Europas über die polnische 
und ukrainische Frage. Die Lüge zur Würde des leitenden 
Prinzips der polnischen Publizistik erhoben! —r. 


Digitized by Google 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



418 


Biitter* und Reoueneinlauf. 


Georg Cleinow. Die Zukunft Polens. I. Bd.: Wirtschaft. 
Leipzig, Fr. Wilhelm Grünow, 1908. 

Josef Leute. Wahrmund vor Pilatus und dem k. k. Staats¬ 
anwalt. Illustration zum Falle Wahrmund aus dem Leben eines katholi¬ 
schen Seelsorgers. Frankfurt am Main 1908. Neuer Frankfurter Verlag. 

Mercator. Die Nationalitätenfrage und die ungarische Reichs¬ 
idee. Budapest, Moritz Räth, 1908. 

Stanislaus Zielinski. Die Ermordung des Statthalters 
Grafen Andreas Potocki. Herausg. vom Poln. Pressbureau in Lemberg. 
Im Buchhandel: C. W. Stern, Wien und Leipzig, 1908. 

österreichische Rundschau, Band XVI. Nr. 2 Wien, 1908. 

Sozialistische Monatshefte, Nr. 4, Berlin, 1908. 

Morgen, Wochenschrift für deutsche Kultur, Nr. 30, Berlin, 1908, 

Das freie Wort, Halbmonatsschrift, Nr. 16. Neuer Frankf. 
Verlag. Frankfurt a. M. 1908. 

Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 28/Verlag Stern 
und Steiner, Wien 1908. 

Le Monde Oriental, Archives pour 1’ histoire et 1’ ethno- 
graphie, les langues et litteratures, religions et traditions de P Europe 
orientale et de 1’ Asie (Tidskrift för Öst-Europas ock Asiens historia 
etc.) 1907—1908 Fase. 2. Leipzig, Upsala, St. Petersburg, Paris, 
London. 

La revue slave, Tome V, Nr. 2—3, Paris. 

Le Rep^titeur, The Repeater. Zeitschrift zum Studium 
der französischen und englischen Sprache, Nr. 13. Verlag Rosenbaum 
und Hart, Berlin 1908. 

Le Traducteur, The Translator. Le Traduttore. 
Zeitschriften zum Studium der französischen, englischen und italieni¬ 
schen Sprache. XVI. Jahrg., 1908. La Chaux-de-Fonds, Suisse. 

L’ Argus de Revues. Indicateur universel, XXIX. Jahrgang, 
Nr. 66 Paris. 

Italia al Estero, Nr. 28, Roma, 1908. 

Byloje (Sammlung von Beiträgen zur Geschichte der russi¬ 
schen freiheitlichen Bewegung). Paris 1908 (russisch). 

Slovansky Pfehled (Slawische Rundschau), Nr. 8—9, Prag 
1908 (tschechisch). 

Zenska Revue, Zeitschrift für die Frauenfrage, Nr. 7, Bern 
1908 (tschechisch). 

Swiat slowianski (Slavische Welt), Jahrg. IV, Bd. I, Juli- 
Augustnummer, Krakau 1908 (polnisch). 

Przedswit, Monatsschrift, Organ der rev. Fraktion der poln. 
soz. Partei, Nr. 5, Krakau (poln.). 

Mykola Porsch. Pro awtonomiju Ukrajiny (Über die Autonomie 
der Ukraine). Verlag „Znattia to syla“ (Wissen ist Kraft). Kijew 1908 
(ukrainisch). 

Ternowyj winok, eine liter. Sammlung, red. von Oleksa 
Kowalenko. Verlag Iw. Samonenko, Kijew 1908 (ukrainisch). 

Moloda Musa. Eine poetische Anthologie, Heft 1—4. Red. 
Oleksa Kowalenko. Kijew 1908 (ukr.). 

Literaturno-naukowyj wistnyk (Monatsschrift für 
Literatur und Wiss.) Nr. 8, Kijew und Lemberg 1908 (ukr.). 

Herausgaben des ukrainischen Aufklärungs¬ 
vereines „Proswita“ in Kijew: 1. B. Iwanytzkyj. Jak zbuty 
sia jariw ta piskiw; 2. M. Sahirnia. Jak wyzwolylys piwniczni 
amer. staty; 3. Iw. Franko. Lisy ta pasowyska; 4. D. Markowytsch. 
Na wowezomu chutori; 5. B. Hrintschenko. Pro hrim ta blys- 
kawku; 6. D. Markowytsch. Iwan z BudZaka; 7. P. Kapelhorodskyj. 


Digitized by 


Gck igle 


Original frnm 

INDIANA UNIVERSITY 



419 


Ukrainci na Kubani; 8. M. Lewitzkyj. Zabuw; 9. B. Hrintschenko. 
Bratstwa i proswitna sprawa na Ukrajini za polskoho panowania do 
B. Chmelnyckoho; 10. W. Koro low. Jak hoduwaty chudobu; 

11. B. Hrintschenko. Pro pustyni; 12. M. Sahirnia. Strasznyj 
woroh; 13. H r. Siohobocznij. Morski ohni; 14. D. Doroschenko. 
Opowidannia pro Irlandiju; 15. W. Lunkewitsch. Semja u zwiriw; 
16. Zwidomlennia tow.. Proswita za 1907 (ukrainisch). 

Herausgaben des ukrainischen Aufklärungs¬ 
vereines „Proswita“ in Lemberg: 1. J. K m i t. Piatdesiatlitne 
podruie; 2. W. Lunkewitsch. Sered wicznych snihiw i lediw; 
3. Z w i t za 1906 i 1907 (ukrainisch). 

LesjMedobirskyj. Witer wije. (Der Wind geht.) 1. Lied; 
II. Lied (in zwei Heften). Verlag „Zahalna drukarnia“, Lemberg 1908 
(ukrainisch). 

Ukrajinsko polska ;prawa w awstrijskim par- 
1 a m e n t i (Die ukr.-poln. Frage im österr. Parlament). Herausg. des 
„Tscherwonyj Prapor“, Lemberg 1908 (ukr.). 

PanPotockyj. Verlag der „Deschewa Biblioteka“ (Billige 
Bibi.). Lemberg 1908 (ukrainisch). 

J. Lopatynskyj. Lieder mit Klavierbegleitung. Serie I: Chmary 
(M. Woronyj). Musikverlag, Lemberg 1908 (ukr.). 




Die einzige ruthenische Versicherungsgesellschaft. 
============= : === Gegründet 1892. •- 

Versichert Gebäude, Mobilien, Getreide, Futter gegen^Brandschaden, 
sehr mässige Prämien; verteilt den Reingewinn unter die Mitglieder als 
Rückzahlung; in den letzten drei Jahren betrug diese Rückzahlung 8%. 

Die Entschädigungen werden sehr prompt ausgezahlt, ln den letzten zehn 
Jahren hat die Gesellschaft in 6064 Fällen imjjanzen 3,187.258 Kronen 

gezahlt. 

Bei Anleihen werden die Polizzen des »Dnister« von der Landesbank 
und von den Sparkassen akzeptiert. 

vermittelt die Lebensversicherung bei der 
Krakauer Lebensversicherungsgesellschaft und 
tritt einen Teil der Provision für die ruthe- 
nischen Wohltätigkeitszwecke ab. 


„Dnister 



Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 


420 



An die Kunstfreunde! 

Das ukrainische Volk besitzt keine grossartigen Handels- 
magazine und blüht auch bei ihm keine Weltindustrie, 
aber es betreibt eine Hausindustrie, deren Erzeugnisse in¬ 
folge ihrer hübschen und geschmackvollen Ausführung und 
künstlerischen Form die schönsten Fabrikate überragen. 

U /\1 rm £\~w%tw aii ryfi a bosdilftgoit mit verschiedenfarbigen 

JXUl/iülAÜUgUlSSt? Korallchen in Dessins, wie: 

Teller im Preise von 10—100 K 
Rahmen verschiedener Grösse von 10—120 K 
Spazierstöcke, axtförmig, von 10-100 K 
Lineale von 5 K aufwärts 

Federstiele von 1—20 K 
Papiermesser von 1*50—3 K 
Fässchen zu 30 und 40 K u. a. 

Korallchenerzeugnisse, verschiedenf ^ 1 b e?’ de88lniert > 

Uhrketten für Herren von 2—5 K, für Damen zu 6 K 
Gürtel von 10 bis 100 K 

Haar- und Halsbänder zu 2, 3 u. 5 K. 

fll/kyi Aurf aii /oti ic)Q a (Majolika iu verschiedenen Dossins, volks- 
XUlteiZeugnisse tümllclie Motive): 

Blnmenvasen von 5—100 K 
Wandteller von 2—30 K 

Asohenbeoher und Waschbecken zu verschiedenen Preisen. 

Stofferzeugnisse 

Gestiokte Hemden von 12—30 K 
„ Kravatten zu 4 und 5 K 

,, Handtücher von 6 K aufwärts 

„ Tlsohdeoken von 30 K aufwärts 

Huzulensohürzen von 6—20 K 
Huzullsohe Teppiche von 30—50 K. 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pro Stück 

Zu beschaffen durch die Firma 

»lokilskyj Bazar“, 

Gesellschaft für Handel und Industrie in LEMBERG 

Ruskagasse Nr. 20 (Galizien, Österreich). 



Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 


Ukrainische 

Rundschau. 

Herausgeber und Redakteur: Kl. Ruschnir. 

UT. 3ahrgang. 190$. nummer 10. 


(ttacbdniok sämtlicher Artikel mit genauer Quellenangabe gestattet.) 


Die österreichische Mission der Ruthenen. 

Von Richard Charmat z.*) 

Oesterreich wird nicht von Staatsmännern regiert, die 
Grosses und Bedeutungsvolles erstreben, sondern von Staats¬ 
beamten der obersten Rangsklasse, die ohne höheren Ehrgeiz 
und ohne weitreichende Ziele den Verwaltungsapparat für eine 
gewisse Zeit leiten und den glatten Gang der Parlamentsarbeit 
beaufsichtigen. Man kann für diese betrübende Erscheinung 
eine stattliche Anzahl von Erkiärungsgründen finden, aber da¬ 
mit wird die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, dass statt 
blühenden Gedeihens nur langsames Vegetieren Oesterreichs 
bitteres Los ist. Die massgebenden Faktoren haben weder 
den Willen, noch den Mut, die grossen Probleme des Staates 
herzhaft ins Auge zu fassen und ihrer Lösung zuzuführen ; 
sie sind im Gegenteile glücklich, wenn sie sich um sie herum¬ 
zudrücken vermögen. Schwer haben die Völker darunter zu 
leiden. Der Staat, der in seiner Organisation nur Länder und 
nicht Nationen kennt, wird nicht aut neuer Grundlage aufge¬ 
baut, weil den leitenden Persönlichkeiten die Kraft zu einer 
energievollen Tat fehlt. Sie belehrt die Geschichte, dass Graf 
Taaffe vierzehn Jahre mit dem Fortwursteln verbrachte und 
darnach, was in dieser Zeit aus dem Reiche wurde, wird nicht 
gefragt. So kommt es, dass die Regierung Beck — weit da¬ 
von entfernt, die nationale Organisation Oesterreichs zu be¬ 
gründen — ihr ganzes Sinnen und Trachten scheinbar auf 
den Völkerkampf in Böhmen konzentriert und angeblich seit 

*) Wir bringen in der Reihe fremder Stimmen den vorliegenden 
uns auf unser Ersuchen freundlichst zur Verfügung gestellten Artikel. 

Die Redaktion. 


□ igitized by Google 


Original fro-m 

SND1ANA UNtVERSITY 




— 4‘J‘J — 


Jahr und Tag an der Ausarbeitung eines Sprachengesetzes für 
dieses Kronland tätig ist. Aber die Monate vergehen, ohne 
dass selbst dieses halbe Werk zustande gebracht werden 
könnte. Wie der Ungar nach einem geflügelten Worte Strouss- 
bergs sein Vaterland verkauft ohne es zu liefern, so verspricht 
Freiherr von Beck das Sprachengesetz, ohne sein Wort zu 
halten. Im übrigen jedoch ist er damit beschäftigt, die kleinsten 
Steinchen aus dem Wege zu räumen, während er die grossen 
Steine liegen lässt. Er verhandelt und handelt nicht. 

Unter diesen Umständen ist nicht zu hoffen, dass Frei¬ 
herr von Beck die grosse Schicksalsfrage Oesterreichs auch 
nur um Schrittesbreite ihrer Lösung näher bringen werde. 
Das Problem der nationalen Autonomie liegt seinem Interessen¬ 
kreise ferne, denn sein Ehrgeiz umspannt nicht das Leben 
der Völker, sondern das Leben seines Ministeriums. Da ihm 
das begrüssenswerte Ziel der Völkerbefreiung nicht vorschwebt, 
so bedrücken ihn auch nicht Gedanken über die Völkerver¬ 
einigung, die aus der organisierten nationalen Autonomie 
heranwachsen soll und muss, wenn Oesterreich in verjüngter 
Kraft erstehen will. Heute leben die einzelnen Volksstämme 
lediglich gewohnheitsmässig nebeneinander und Oesterreich 
behauptet sich bloss, weil die Geschichte den Staat geschmiedet 
hat und die internationale Politik und die Wirtschaftsentwick¬ 
lung zur Notwendigkeit machen. Es besteht nicht deshalb, 
weil das freudvolle Zugehörigkeitsgefühl zum Staatsganzen 
und das Streben nach gemeinsamem Zusammenwirken unver- 
löschbar in der Volksseele lebt. Metternich hat Italien einmal 
einen geographischen Begriff genannt und siehe da: Italien 
ward zur politischen Macht. Oesterreich aber ist heute leider 
nur eine mechanische Notwendigkeit und das heisseste Be¬ 
mühen jedes um die Zukunft bedachten Staatsmannes müsste 
es sein, dieses Reich auch in den Mittelpunkt des Denkens 
und Fühlens zufriedener Bewohner zu rücken. Doch Völker 
fühlen sich nur dann glücklich, wenn sie ihr Kulturleben ganz 
nach eigenem Ermessen bestellen können und wenn sie eigenen 
Boden besitzen. Die volksgenossenschaftliche Organisation, 
um deren theoretische Durcharbeitung sich Dr. Karl Renner 
(Rudolf Springer) unvergängliche Verdienste erworben hat, würde 
das eine Ideal der Nationen verwirklichen und dem anderen 
brächte es die Neugestaltung Oesterreichs nach der Nationalitäten- 
karte näher, die einmal, sobald die Völker erst gelernt haben, 
nebeneinander glücklich zu leben und mit ihren Träumen in 
der Gegenwart zu weilen, gewiss in die Erscheinung treten 
wird. Durch die genossenschaftliche Zusammenfassung der 
Nationen zur territorialen Organisation der Völker: das ist die 
Entwicklungsbahn, die von den politischen Theoretikern in 
den letzten Jahren vorgezeichnet wurde. Sie führt zur unge¬ 
störten Entfaltung des überschäumenden Betätigungsdranges 
der Völker, sie lässt die sich jetzt noch bedrückt fühlenden 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 423 — 


% 

Stämme aller wirklichen und vermeinten Fesseln ledig werden 
und sie verkürzt auch vor allem nicht das mächtige deutsche 
Volk, das der ärgerlichen Beeinträchtigungen und störenden 
Angriffe ledig, in seiner ganzen, gewaltigen Energie für sich 
selbst zu leben, für sich selbst zu streben vermöchte. 

Indess, die nationale Autonomie an sich würde blos die 
Streitigkeiten zwischen den einzelnen Völkern beseitigen, 
allein sie müsste nicht notwendigerweise auch die feste 
Klammer, die die Nationen vereinigen soll, beistellen. Sie ist 
eine Vorbedingung für das Aufleuchten eines österreichischen 
Staatsgedankens; aber sie ist nicht gleichbedeutend mit diesem 
selbst. Völker, die zufrieden nebeneinander und miteinander 
arbeiten, leben notwendigerweise noch nicht für einander. Sie 
werden sich freien Gemütes leichter zusammenfinden, als wenn 
sie durch Sorgen verdüstert werden, sie können sich viel 
eher auf ein gemeinsames Ideal einigen, sobald alle Reibungs¬ 
flächen zwischen ihnen geschwunden sind, doch es bedarf 
immerhin noch einer Kraft, die die natürlichen Gefühlsver¬ 
schiedenheiten verständnisvoll zurückzudrängen und das 
Gemeinempfinden hervorzuheben imstande ist. Von den drei 
grossen Völkergruppen, die einst die Völkerbrandung auf den 
Boden des derzeitigen Oesterreichs geworfen hat, kommen 
in erster Linie die Deutschen und Slaven in Betracht. Wer 
vermöchte nun zu leugnen, dass, so vielgestaltig auch süd- 
und norddeutsches Wesen ist, die Eigenartverschiedenheiten 
im Kreise des deutschen Volkes viel geringer sind, als die 
Gemüts- und Charakterunterschiede zwischen den Deutschen 
und den Slaven, die ja wieder alle möglichen Nuancen auf¬ 
weisen. Otto Bauer hat in einem Kapitel seines interessanten 
Buches, dass er den Juden widmete, dargelegt, wie sehr jedes 
Individuum von den Geschichtserlebnissen seines Volkes beein¬ 
flusst werde, in welch hohem Masse es gleichsam im Banne 
der Vergangenheit stehe. Das Glück, dass den Nationen 
morgen zuteil werden soll, kann demnach die Spuren der 
herben Eindrücke von gestern und des Unmutes von heute 
durchaus nicht auslöschen. Innerlich fremd werden sich daher 
die Deutschen und die Slaven gegenüberstehen, denn zwischen 
dem offenen, genussfrohen, ganz der Gegenwart hingegebenen, 
modernen Deutschen und dem träumerischen, misstrauischen, 
verschlossenen Slaven klaffen Abgründe, die man nicht weg¬ 
zutäuschen und nicht leicht zu beseitigen vermag, sondern 
über die man die Brücke des Vertrauens schlagen muss. Wer 
wird nun berufen sein, diese schwierige Arbeit zu vollbringen? 
Der Deutsche, der mit den besten Absichten dem Slaven naht, 
dürfte immer einem letzten Rest von Vorurteil begegnen, es 
sind daher Mittler notwendig, die auf allen Seiten gleiches 
Vertrauen geniessen. Die Romanen kommen dafür aus ver¬ 
schiedenen Gründen nicht in Betracht und unter den Slaven 
erscheinen alle Völkergruppen bis auf eine Ausnahme, für das 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 424 — 


heikle Amt unverwendbar. Die eine Ausnahme jedoch betrifft 
die Ruthenen. 

Zwischen den Deutschen und den Ruthenen hat es 
niemals ernste Gegensätze, höchstens dann und wann Ver¬ 
stimmungen gegeben. Frühzeitig wandten sich die Kleinrussen 
den Deutschen zu und das Interesse des deutschen Volkes 
an dem Schicksale der Ukrainer ist nicht von gestern, wenn¬ 
gleich kein Lenau, kein Hartmann es besang. Zum Glücke 
haben die Ruthenen sich durch die Undankbarkeit der alten 
deutschliberalen Parteien nicht irre machen lassen und an einer 
Politik festgehalten, die ihnen tiefinnerstes Bedürfnis ist. Die 
Ruthenen müssen den Weg zu den Herzen der Deutschen 
nicht erst suchen, sie haben ihn schon gefunden. Auf der 
anderen Seite aber stehen sie ihren slavischen Brüdern so 
nahe, dass es ihnen nicht schwer fallen wird, den Ton an¬ 
zuschlagen, der auf das Gemüt der slavischen Nationen am 
tiefsten einwirkt. Die Ruthenen sind die geborenen Vermittler: 
die nationalen und internationalen Verhältnisse weisen ihnen 
diese Stellung zu. Der neue österreichische Gemeingeist in 
dem künftigen Oesterreich der Völker darf nicht nur aus dem 
Hirn herauswachsen, das von den wirtschaftlichen Erscheinungen 
beherrscht wird, er muss auch dem Herzen entkeimen. Die 
Völker müssen sich seelisch verstehen lernen und verbinden, 
ihre Gefühle müssen zusammenfliessen, so dass aus den Bächlein 
der Sonderinteressen ein Strom des Gesamtinteresses wird. 
Ohne Patriotismus im guten Sinne des Wortes — kann 
kein Staat erstarken und vor allem braucht das bunt zusammen¬ 
gewürfelte Oesterreich einen Vaterlandssinn, dessen Grund¬ 
lage nicht allein die Notwendigkeit des Vaterlandes, sondern 
auch die Liebe zu diesem und die Wünsche für dieses ab¬ 
geben. Die Einzelnen über ihre individuellen Bedürfnisse 
hinauszubringen und an dem Wohie ihres ganzen Volkstumes 
sich zu interessieren: das war der Kampf um die Erweckung 
der Nationen, die aus der Geschichtslosigkeit in die Geschichte 
einrücken sollten; die Nationen Oesterreichs über ihre eigenen 
egoistischen Zwecke hinaus zur Gemeinschaftswohlfahrt auf- 
blicken zu lehren: das ist die geistig und psychologisch ein¬ 
wirkende Arbeit, die zur Vollendung des österreichischen 
Staats-Neubaues unerlässlich erscheint. Und wie diese Tätig¬ 
keit unbedingt erforderlich erscheint, ebenso zeigt sich auch 
die führende Mitarbeit der Ruthenen als unentbehrlich. 

Ferne Ziele! wird vielleicht der Realpolitiker ausrufen, 
der real zu denken und politisch zu handeln vermeint, weil 
er über den Augenblick nicht hinaussieht. Bis zur Schaffung 
der nationalen Autonomie wird allerdings noch manches Jahr 
verrinnen, denn die Geschichte liebt die Umwege und die 
kürzeste Strasse wird selbst dann gemieden, wenn sie die 
Denker auch schon markiert haben. Ist also auch das grosse 
Zukunftswerk, das den Ruthenen zufallen wird, in absehbarer 

Digitized by Gougle 


Original fram 

INDIANA UNtVERSITY 



— 4ü5 — 


Zeit nicht zu verrichten, so kann doch nicht bestritten werden, 
dass auch schon in der Gegenwart und in der nächsten Zu¬ 
kunft gute Dienste geleistet werden könnten. Freilich, wer 
vermitteln will, muss Ansehen geniessen: Heloten sind dazu 
nicht geeignet. Hätten die österreichischen Regierungen ihre 
Aufgabe nur einigermassen erfasst, dann dürfte heute an dem 
ruthenischen Volke nicht mehr das Bleigewicht des grossen 
Analphabetenstandes hängen, dann wäre es nicht mehr das 
gehetzteste, das vergewaltigteste Volk im Staate. Wie so oft 
in den tausend Jahren österreichischer Geschichte, wurde die 
Logik der inneren Politik der äusseren Politik in den sechziger 
Jahren und zwar zu Ungunsten der Ruthenen zum Opfer ge¬ 
bracht ; wie stark auch die Meinungsverschiedenheiten zwischen 
Beust und Andrässy gewesen sind: darin, dass die Vormacht¬ 
stellung der Polen zu begründen sei, stimmten beide Staats¬ 
männer überein. Die Folgen blieben nicht aus. Vierzig Jahre 
sind für die Ruthenen, mithin für den Staat verloren gegangen 
und vieles deutet darauf hin, dass man noch weitere vierzig 
Jahre zu versäumen bereit wäre. Dass sich die österreichische 
Geschichte aus Versäumnissen zusammensetzt, weiss man, 
und man sollte meinen, die Erkenntnis eines Uebels würde 
zu dessen Beseitigung anregen. Ein Volk, das für Oesterreich 
soviel tun kann, wie die Ukrainer, muss in würdigen Ver¬ 
hältnissen zu leben vermögen, wenn die herrschenden Mächte 
nicht dokumentieren wollen, dass sie jede grosse Tat von 
vornherein zu vereiteln suchen. Nicht nur die Ruthenen haben 
in Oesterreich eine grosse Mission zu vollführen, auch der 
Staat hat ihnen gegenüber verantwortungsvolle Pflichten. 


Der Candtag von Galizien. 

Das „einzige polnische Parlament auf dem Territorium 
der polnischen Republik“ hat seine Beratungen begonnen. 
Die polnischen Deputierten, welche gegenüber den Vertretern 
des in zwei Drittel des Landes angesiedelten, der Zahl nach 
zumindest gleichen, ruthenischen Volksstammes das sechs¬ 
fache ausmachen, setzen das in den 60-er Jahren ange¬ 
fangene Werk der Sonderstellung Galiziens, unter dem 
Schlagworte „Erweiterung der Autonomie“, fort. Bezeichnend 
für den galizischen Landtag ist die Tatsache, dass die Zahl 
der Ruthenen in demselben seitdem Jahre 1861, in welchem 
Jahre sie in den Landtag über vierzig Abgeordnete geschickt 
haben und mit den Virilisten über ein Drittel desselben 
(49 Ruthenen gegen 101 Polen) verfügten, um mehr als die 
Hälfte (heute sitzen im Landtage 21 Ruthenen, mit den 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 426 


Virilisten 24) gesunken ist. Damals, in den 60-er Jahren, 
war Galizien ein von deutscher Beamtenschaft verwaltetes 
Land, und so wenig die Polen in Preussen etwas von 
Wahlschwindel und Diebstahl wissen, ebensowenig konnten 
die Rechte der Ruthenen verkürzt werden, trotz der verbis¬ 
senen polnischen Gegenagitation. Aber schon bei den nächst¬ 
folgenden Wahlen, als Galizien anfing, an Stelle des deut¬ 
schen den polnischen Charakter anzunehmen, als die deut¬ 
schen Beamten durch polnische ersetzt wurden, geschah es, dass 
die Ruthenen kaum 30 und einige Abgeordnete wählen konnten, 
von denen dann der Landtag noch vier infolge „ungesetz¬ 
licher“ Wahl ausschied. Dieser Ausscheidungsprozess ging 
soweit, dass die Zahl der gewählten ruthenischen Abgeord¬ 
neten auf 12 (sage zwölf) herabgedrückt wurde, bis sie sich 
nun — als Produkt der Vermittlung der Zentralregierung — 
auf 21. mit den Virilisten 24, hob. Ihr gegenüber sitzen 136 
Polen und besorgen die Landesgeschäfte willkürlich, über 
die Wünsche und Forderungen der Ruthenen hinweg; be- 
schliessen nationale Ausnahmsgesetze (Mittelschulgesetz und 
Gesetze wirtschaftlicher Natur, gerichtet gegen die rutheni- 
sche Bevölkerung, wie das Gesetz über die Landes-Arbeits¬ 
vermittlung, Rentengütergesetz u. a. m.) und steuern mit 
ihrer ganzen Politik dahin, dass die Autonomie des galizi- 
schen Landtages, die schon heute grösser ist als in allen 
anderen Ländern Oesterreichs, noch so erweitert wird, dass 
die Polen auf den Reichsrat überhaupt verzichten können 
und in diesen nur zur Erledigung gemeinsamer Angelegen¬ 
heiten kommen würden. 

Der galizische Landtag soll für Galizien eine allgemeine 
legislative Institution, ein wirkliches Parlament werden. 
Einen solchen Zweck verfolgte der während der Beratungen 
über die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes in dem 
Reichsrat vom Abgeordneten Starzynski gestellte Antrag auf 
Abänderung des § 12 St.-G.-G., im Sinne der Erweiterung 
der Landesautonomie, um auf diese Weise die Herrschaft 
der polnischen Schlachta in Galizien zu begründen. In 
gleichem Sinne stellte der jetzige Chef der polnischen Politik, 
Glombinski und seine Parteigenossen in der Landtagssession 
zu Beginn 1907 Anträge, welche damals nicht beschlossen 
werden konnten und nun in der laufenden Session von. 
neuem erwogen werden. Es sind dies: 1. Der Antrag des 
Abgeordneten Dr. Adam, betreffend die Erweiterung dev 
Kompetenz des galizischen Landtages, dahingehend, dass 
dem Landtage das Kontrollrecht über die Tä¬ 
tigkeit der Verwaltungsbehörden und deren- 
Organe überwiesen werde und der Statthalter, 
vor dem Landtage Galiziens wie Minister vor 
dem Parlament verantwortlich sei. 2. Antrag des 
Abgeordneten Dr. Tertil, dass die galizische Statt- 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 4U7 — 


■halterei mit den Rechten der höchsten Instanz 
in allen Verwaltungsangelegenheiten ausge¬ 
stattet werde. 3. Antrag des Abgeordneten Dr. Schätzei, 
betreffend die Abänderung der § 8, 17 und 22 der Landes¬ 
statuten in der Richtung, dass dem Landtage zumindest eine 
dreimonatliche Session im Jahre gesichert werde, dass 
die vom Landtage beschlossenen Gesetze vom 
Landmarschall nebst Statthalter und Minister 
für Galizien zur Sanktion vorgelegt werden 
und dass schliesslich dem Landtage, das Recht zu stehen 
solle, Landesmonopole einzuführen und selbständig, ohne 
kaiserliche Sanktion Steuerzulagen bis zur 
Höhe von 100 /„ zu beschliessen. YVenn wir dazu 
beachten, dass laut Antrag des Abgeordneten Sala in die 
Kompetenz des galizischen Landtages ausser Angelegen¬ 
heiten, die nicht ausdrücklich dem Reichsrat Vorbehalten sind, 
noch eine Anzahl spezieller Angelegenheiten, welche die 
Rechte des Reichsrates tangieren (solche wurden schon 
jetzt teilweise dem Parlament abgerungen, wie das oben 
genannte Mittelschulgesetz und andere) fallen sollen, dann 
entsteht das Gebilde eines sondergestellten Galizien, wodurch 
Sich dieses 'Land über andere österreichische Kronländer 
erhebt und gleichsam ein selbständiges Glied der Monarchie 
wird. Ein weiterer Antrag, gestellt vom Abg. Merunowicz, 
welcher verlangt, dass der Landesausschuss Schritte bei der 
Regierung um Abgabe der galizischen Salzbergwerke in 
Verwaltung oder Pacht des Landes unternehme, und dass 
eine ähnliche Aktion betreffend die Staats- und Fundations- 
güter in Galizien unternommen werden solle, ist charakte¬ 
ristisch durch die Motivierung, diese Güter seien einmal 
Besitztum der polnischen Republik gewesen, und 
sollten demnach dem Lande äls Nachfolger derselben zurück¬ 
gegeben werden. . . . 

Gewiss wird es die Sache der ruthenischen Abgeord¬ 
neten sein, gegen derlei Gelüste der polnischen Landtags¬ 
mehrheit, welche die Erweiterung der Rechte des Landtages 
in mancher Hinsicht sogar über die des Parlamentes und 
die formelle Ausstattung des galizischen Statthalters mit den 
Rechten eines Vizekönigs fordert, einen entschiedenen Kampf 
aufzunehmen. 

Der galizische Landtag ist seit Jahrzehnten der Schau¬ 
platz der nationalen und politischen Bestrebungen des 
ruthenischen Volkes, welches die polnische Mehrheit mit 
grösster Rücksichtslosigkeit zu unterdrücken sucht. Er ist 
die Reibungsfläche zweier politischer und nationaler Gegen¬ 
sätze : hie Sonderstellungsgelüste, hie Forderungen nach 
der Teilung des Landes; hie Schlagwort Landesautonomie, 
hie nationale Autonomie; dazu kommt noch die Wahlre¬ 
formfrage. Wie der Ausgang dieses Kampfes auch sein mag. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 428 


Digitized by 


eines ist sicher, dass das Regime der polnischen Republik, 
welches die Polen unter dem Vorwände der „erweiterten 
Autonomie“ einschmuggeln wollen, im ruthenischen Gali¬ 
zien um keinen Preis erstehen darf. 

Interessant ist, dass die polnischen Forderungen mit 
einer fast krankhaften Eile betrieben werden. Es handelt sich 
eben darum, dass die Sonderstellung des Landes noch im 
Kurienlandtage petrifiziert werden soll. Der galizische Land¬ 
tag ist gewählt worden unter der Losung „Wahlreform“, 
aber die Herren fühlen sich in dem Privilegienhause so 
wohl, dass sie den Wahlruf vergessen haben und ein ganzes 
Sexennium für Wahlreform verloren zu gehen droht. Der 
ruthenische Antrag Olesnickyj auf Einführung des allgemeinen 
und gleichen Wahlrechtes, welcher sich übrigens in ganz 
bescheidenen Grenzen bewegt, indem er keineswegs auf 
territoriale Ausbreitung der Ruthenen Rücksicht nimmt und 
sich sogar der tendenziösen offiziellen Statistik anpasst, 
somit nur 42 ruthenische Mandate schafft, wanderte wie 
schon viele Wahlreformprojekte dieses Abgeordneten in die 
Wahlreformkommission, d. h. in den Papierkorb. Der frühere 
galizische Landtag musste, da von Wien aus darauf ge¬ 
drungen wurde, sich um des Augenscheines willen mit der 
Wahlreform befassen. Damals tauchten gegen ein Dutzend 
Projekte von polnischer Seite auf, welche natürlich alle 
mehr oder weniger glücklich so konstruiert waren, dass die 
bisherigen beati possidentes nichts verlieren und diejenigen, 
die bisher keine Rechte hatten, wo möglich auch fürderhin 
keine bekommen sollten; es kamen aus der Mitte dieser 
Herrschaften Projekte, in denen die Zugeständnisse an die 
Ruthenen zwischen 7*74% bis 16% sämtlicher Mandate va¬ 
riierten ! . . . Ueber die letztere Zahl hob sich kein polni¬ 
sches Projekt. Nun ist es aber den Herren mit der Wahl¬ 
reform überhaupt nicht eilig ; der gewesene polnische Lands¬ 
mannminister, Graf Dzieduszycki hat vor einigen Jahren ein 
im galizischen Landtage ein gebrachtes Wahlreformprojekt 
mit folgenden Worten begrüsst: „So lange wir in diesem 
Hause sind und dieses Dach über uns haben, mag es 
draussen stürmen und wettern, hier sind wir sicher.“ . 

Den Herren dünkt es, dass dies Dach auch fürderhin 
wetterfest ist. . . . —r. 


Die ukrainische Schule im polnischen joch. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 

VIU. Die Aufnahme in die Mittelschulen. 

Vor 1867 war in den ostgalizischen Mittelschulen die 
Vortragssprache deutsch; erst in diesem Jahre wurde 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



sie in die polnische umgeändert. Die Polen prahlen gerne 
.mit ihrer slavischen Bruderliebe und trachten unter dem 
ukrainischen Volke den Hass gegen die Deutschen, als an¬ 
geblich gemeinsamen Feind des Slaventums, hervorzurufen. 
Nun wolle man aber folgende beredte Zahlen beachten: 

lm Jahre 1858 waren im Gymnasium zu Sambor 202 
ruthenische Schüler, 97 polnische und 34 deutsche; 
das war zu der Zeit, als an diesem Gymnasium die 
deutsche Vortragssprache gebraucht wurde. — lm 
Jahre 1905/06 aber waren in demselben Gymnasium, freilich 
bereits mit polnischer Vortragssprache, 240 Ru¬ 
then en und 514 Polen! in Stanislau waren im Jahre 1861 
im dortigen deutschen Gymnasium 220 Ruthenen, 122 
Polen; im Jahre 1905/06, als das Gymnasium schon lange 
polonisiert war, gab es dort 337 ruthenische und 788 
polnische Schüler. — Solche Beispiele der slavischen 
„Gegenseitigkeit“ könnte man auf dem Gebiete unseres Schul¬ 
wesens ganze Foliante schreiben — selbstverständlich alle auf 
Grund der polnischen offiziellen Quellen. 

Die angegebenen Ziffern erscheinen noch erschreckender, 
wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die näheren Begleit¬ 
umstände wenden. Vor 1867 bestand das ruthenische Volk in 
Galizien aus einer unaufgeklärten Bauernmasse und einer 
geringen Anzahl Geistlicher, weltliche Intelligenz gab es bei¬ 
nahe gar keine. In die Mittelschulen schickten von den Ruthenen 
höchstens nur die Geistlichen ihre Kinder, nur sehr selten die 
Bauern; nachdem aber damals in Galizien das deutsche Regime 
war, war auch die Vortragssprache in den Mittelschulen Ost- 
gaiiziens das Deutsche und es hatten sowohl die ukrainischen, 
als auch die polnischen Schüler die gleichen Schwierigkeiten 
im Unterrichte zu bewältigen. Ungeachtet dessen, dass damals 
die Polen durch Polonisierung des ruthenischen Adels, der 
Handwerkerwelt und eines Teiles der ruthenischen Geistlichkeit 
die Ruthenen an Zahl der Intelligenz übertrafen, somit mehr 
Möglichkeit hatten, ihre Kinder in den Schulen zu bilden, als 
die Ruthenen, hatten die letzteren zu der Zeit in den ost- 
galizischen Mittelschulen doch das Uebergewicht, indem sie 
60 und mehr Prozent aller Schüler ausmachten. 

Die Zeiten änderten sich; nach und nach gab es keine 
polnisch gesinnte griech. kath. Geistlichkeit mehr, an deren 
Stelle traten national bewusste Ruthenen; es kam noch eine 
Anzahl weltlicher Intelligenzen hinzu, welche noch vor 1867 in 
deutschen Schulen herangebildet worden waren. Sie alle 
begannen ihre Kinder massenhaft in die Schulen zu schicken 
und noch mit grösserem Eifer taten dies die Bauern, welche sich 
unter dem Einflüsse der in deutschen Schulen erzogenen 
Intelligenz national aufzuklären begannen. Es schien, dass 
jetzt, wo die deutsche Vortragssprache durch eine verständ¬ 
lichere, slavische ersetzt wurde, die Ruthenen in den polnischen 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 430 — 


Schulen nicht mehr wie früher zu den deutschen Zeiten 60%, 
sondern, entsprechend der Bevölkerungsanzahl 80—90% aus¬ 
machen würden. Aber es geschah etwas Unglaubliches, 
Schreckliches; es war keine Dschuma und keine Cholera, 
welche Ruthenenkinder aus den Schulen hinwegraffte, es 
war die Baschi - Bozuksherrschaft der polnischen Schlachta in 
der galizischen Schule, dank der die Anzahl der Ruthenen 
in den Mittelschulen Galiziens auf 18 — 20 % sank. Noch mehr 
herunterfallen konnte dieser Prozentsatz nicht; nicht deswegen, 
weil es den Herren an Lust mangelte, sondern weil Galizien 
doch noch gewissermassen zu Oesterreich gehört. 

Es lohnt sich, die Mittel und Wege kennen zu lernen, 
welche das schändliche polnische Herrschaftssystem einschlug, 
um jedes Anzeichen des nationalen ruthenischen Lebens in 
Galizien zu unterdrücken. Es wird doch gewiss keine so- 
naiven Gemüter geben, welche den Lügen der polnischen 
Presse und allerlei polnisch-nationaler Agenturen Glauben 
schenken möchten, dass die geringe Anzahl der Ruthenen in 
den galizischen Mittelschulen den Bevölkerungsverhältnissen 
entspreche, oder dass der ruthenische Bauer schon so dumm, 
apathisch und jeder Schule feindlich gesinnt sei. Nun, was 
das letztere anbelangt, mag es ja wahr sein, der ruthenische 
Bauer ist in Wirklichkeit der Schule, welche ihm die berüch¬ 
tigte polnische Wirtschaft errichtet hat, feindlich gesinnt. Die 
polnische Schule auf ruthenischem Boden ist keine pädagogische 
Institution, sie ist ein Schlachthaus! 

In erster Linie wird von den polnischen Machthabern 
dafür gesorgt, dass sich die Ruthenen für Mittelschulen nicht 
vorbereiten können. Das wird mit der ganzen Konsequenz 
durchgeführt. So wurden zunächst Volksschulen von zweierlei 
Typus geschaffen: städtische und Dorfschulen. Zeugnisse 
aus einer Volksschule letzteren Typus gewähren kein Recht, in 
die Mittelschule aufgenommen zu werden; dies geben nur 
Zeugnisse aus Schulen städtischer Art. Solche werden aber in 
erster Linie im polnischen Teile des Landes, in Westgalizien 
gegründet, und zwar nicht nur in Städten und Städtchen, 
sondern auch in grösseren Dörfern-; in Ostgalizien hingegen 
werden diese Schulen bedeutend seltener errichtet. 1905/06 
entfiel eine Schule städtischen Typus in Westgalizien auf 
9888 Einwohner, in Ostgalizien auf 12.500. — Ein zweites 
Mittel ist die Nichtzulassung der Gründung von Schulen 
städtischen Typus mit ruthenischer Vortragssprache. Auf 638 
aller solchen Schulen in Galizien im Jahre 1905/06 gab es 
ruthenische, recte utraquistische Schulen 
städtischen Typus nicht ganz 30! — Das dritte 
Mittel ist die Unterbringung von Schulen städtischen Typus 
in Ostgalizien nur in grösseren, polonisierten Zentren, und in 
den Dörfern fast überhaupt nicht. So hat der ruthenische 
Bezirk Drohobycz auf 79 Gemeinden in 13 überhaupt keine 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 431 


Schulen, nicht einmal solche von Dorf-Typus, während es in 
Drohobycz allein 6 Schulen städtischen Typus gibt, natürlich 
alle polnisch. In andern 64 ruthenischen Gemeinden sind 
lauter Dorfschulen, mit Ausnahme von ßoryslaw, wo eine 
Schule städtischen Typus, selbstverständlich polnisch, ist. Der 
ruthenische Bezirk Lisko hat in der Stadt Lisko allein 
2 polnische Schulen städtischer Art, dagegen sind in 55 Ge¬ 
meinden dieses Bezirkes lauter Dorfschulen und in 76 dortigen 
Gemeinden überhaupt keine 1 Das ruthenische Volk kann aus 
diesen Schulen städtischen Typus in Ostgalizien keinen Nutzen 
ziehen, u. zw. nicht nur wegen der fremden Vortragssprache, 
sondern auch deswegen, weil es ihrer sehr wenige gibt und 
die Entfernung oft eine ungeheure ist. Nutzen davon haben 
nur die Stadteinwohner, hauptsächlich die aus Westgalizien 
versetzten polnischen Beamten, Lehrer und die in ihrem Gefolge 
befindlichen Staats- und autonomischen Diener, dann noch 
Kaufleute und Industrielle. — Das vierte Mittel ist die Besetzung 
dieser äusserst wenigen ruthenischen Schulen städtischen Typus 
mit polnisch-chauvinistischen Lehrern. Diese betreiben den 
Unterricht derart, dass das ruthenische Kind nach Absolvierung 
einer solchen Schule die Aufnahmsprüfung in die Mittelschule 
nicht bestehen kann. So hat bisher noch kein Kind aus der 
Schule in Kuty die Aufnahmsprüfung in die Mittelschule 
gemacht! Und zu all’ diesen Mitteln und Mittelchen hat der 
polnische Landesschulrat noch ein neues erdacht. Im Jahre 
1906 verordnete er, dass städtische Schulen die Aufnahme 
von Dorfkindern verweigern können. Diese Verordnung 
bezieht sich nur auf Ruthenen, weil in westgalizischen 
Dörfern Schulen städtischen Typus bestehen und im allge¬ 
meinen dort solche Schulen ziemlich dicht gesät sind, so 
dass ihnen keine Ueberfüllung droht. Um jedoch den Ruhm 
der polnischen Extraminationspolitik zu vervollkommnen, 
erfand der galizische Landesschulrat noch ein anderes Mittel. 
Den Eltern wird verboten, ihre Kinder privat in die 
Mittelschule vorzubereiten; so wurde der jetzige 
Reichsratsabgeordnete Staruch von der Bezirkshauptmannschaft 
in Berezany für Einrichtung eines Privatunterrichtes in seinem 
Hause in SJoboda zolota bestraft. 

Aber mit den Folgen dieses Raubsystems begnügen sich 
die Herren nicht; es schmerzen sie noch die 18—20% 
ruthenischer Schüler in den Mittelschulen,' sie möchten um 
jeden Preis der Welt zeigen, dass Galizien ein polnisches 
Land sei und andererseits streben sie danach, dass sich aus 
der Mitte des Ruthenenvolkes kein Protestruf gegen diese 
berühmte slavische „Gegenseitigkeit“ erhebt. 

Enge mit diesem System der Nichtzulassung von Ruthenen 
in die Mittelschulen verknüpft ist die an ruthenischen Schul¬ 
kindern ausgeübte Praxis bei den Aufnah mspr üfungen in die Mittel¬ 
schulen, für welche wir einen besonderen Artikel reservieren. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 4'62 


IX. Die Auf nah msprüfungen in die Mittelschulen 

i n Gal i zi e n. 

Wir haben bereits im vorhergehenden Artikel über die 
Wolfsgruben berichtet, welche dem ruthenischen Elemente auf 
dem Wege in die Mittelschule von den polnischen herrschenden 
Kreisen gegraben werden. Die grösste Wolfsgrube aber ist die 
Aufnahmsprüfung. Schon bei der Anmeldung zu den Auf¬ 
nahmsprüfungen geschehen ungeheure Missbräuche; die Mittel¬ 
schuldirektoren in Ostgalizien wollen Knaben, welche das 
vierzehnte Lebensjahr beendet haben überhaupt nicht mehr 
aufnehmen, mit der "Begründung, dass ältere Knaben ihre 
jüngeren Kameraden ungünstig beeinflussen. Aber wir fragen: 
„Warum sollen dabei gerade ruthenische Schüler zum Opfer 
fallen?“ Dass sehr viele ruthenische Kinder nach beendetem 
vierzehnten Lebensjahre sich in die Mittelschule melden, ist 
für denjenigen kein Wunder, der unseren vorhergehenden 
Artikel gelesen hat. Um soviele Wolfsgruben und Stachelzäune 
zu übersetzen, braucht ein ruthenischer Schüler ganz natürlich 
mehr Zeit und kann sich daher gewöhnlich nur in höherem 
Alter in die Schule melden, als bei normalen Verhältnissen. 
Wir bemerken aber noch, dass in Westgalizien, unter den 
Polen, wo keine solchen Hindernisse bestehen, dessenunge¬ 
achtet viele Schulkinder im Alter über vierzehn Jahre sich in 
die Mittelschule melden. Hier machen aber die Direktoren 
keine Schwierigkeiten bei der Aufnahme, indem sie einen 
jeden Schüler, es kommt vor, mit 17—19 Jahren, aufnehmen. 
(Dieser Umstand wurde im Juli 1907 von dem Abgeordneten 
Budzynowskyj im Parlament gebrandmarkt!) Die polnischen 
Mittelschuldirektoren haben augenscheinlich einen Auftrag, 
ruthenische Schüler nur bis zu einer gewissen Anzahl aufzu¬ 
nehmen und wenden dort, wo sich eine grössere Menge 
meldet, ein strengeres Mass an. Zum Gymnasialdirektor in 
Drohobycz kam ein Volksschullehrer aus einer Ortschaft, 
wo es keine Schule städtischen Typus gibt, und führte ihm 
einige Bauernsöhne vor mit der Bemerkung, es werde ihn, 
als den Leiter der Anstalt, gewiss freuen, für das Gymnasium 
frisches und ausgesuchtes Material zur Verfügung zu gewinnen. 
Der Direktor aber fuhr ihn an, die Vollstopfung seiner 
Schule mit Bauern, (lies: Ruthenen, weil in diesem 
Bezirke lauter Ruthenen wohnen), bereite ihm nichts weniger 
als ein Vergnügen. Da hat man eine Blüte der polnischen 
Pädagogik, der polnischen Kultur und der slavischen Bruder¬ 
liebe in polnischer Ausgabe. Und wie soll es einen da 
Wunder nehmen, dass dieses Gymnasium, als hier noch 
die deutsche Vortragssprache war, im Jahre 1859 
90 % Ruthenen besuchten, im Jahre 1906 aber nur 
mehr 19 %. Dieses Gymnasium feierte heuer das vierzigjährige 
Jubiläum seines Bestandes; aus diesem Grunde wollen wir 
ihm mehr Aufmerksamkeit schenken. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



In das Drohobyczer Gymnasium gehen vornehmlich 
Schüler aus den Bezirken Drohobycz und Turka. Nachdem 
dies rein ruthenische Bezirke sind, haben von 79 Gemeinden 
des Bezirkes Drohobycz 13, von 74 des Bezirkes Turka 30 
keine Schule. Der ruthenische Charakter dieser Bezirke ist 
auch die Ursache, dass an Volksschulen städtischen Typus, welche 
das Recht des Eintrittes in die Mittelschulen gewähren, im 
Bezirke Turka nur eine und zwar in der Bezirksstadt selbst und 
im Bezirke Drohobycz sieben sind, davon aber 6 in der Stadt 
selbst und eine in Boryslaw, der bekannten Ortschaft mit den 
Naphtagruben. Alle acht Volksschulen befinden sich in den 
von importierten Polen bewohnten Ortschaften. Nun, wie wird 
bei der Aufnahmsprüfung in die erste Klasse des Drohobyczer 
Gymnasiums vorgegangen: 


Schuljahr 

Anzahl der zur 
Aufnahmsprüf. 
Gemeldeten 

Durchgefallen 


% 

1904/05 

174 

64 

36-07 

1905/06 

174 

35 

2000 

1906/07 

173 

53 

36.60 


Wir glauben, dass es jetzt verständlicher wird, wieso hier 
die Anzahl der Ruthenen von 90% auf 19% gesunken ist, umso¬ 
mehr, wenn wir dies mit den Aufnahmsprüfungen der polni¬ 
schen Gymnasien in Westgalizien, z. B. in Bochnia und Wa- 
dowice vergleichen: 



Anzahf der zur 
Aufnahmsprüfung 
Gemeldeten 

Durchgefallen 

Schuljahr 


0/ 

/o 


0/ 

/o 


Bochnia Wadowice 

Bochnia 

Wadowice 

1904/05 

138 112 

12 

OO 

! >0 

8-9 

1905/06 

128 113 

'8 

63 

6 

54 

1906/07 

148 108 

10 

6 7 

4 

3 ' ? 


Ebenso verdient erwähnt zu werden das Gymnasium in 
Buczacz, das einzige auf einem von Ruthenen bewohnten 
Territorium, wo es auf Entfernungen von 60 — 120 km keine 
andere Mittelschule gibt. 


Schuljahr 

Anzahl der zur 

1 Aufnahmsprüf. 
Gemeldeten 

D u r c h g 

e f a 11 e n 


% 

1904/05 

CJ3 

00 

44 

27-8 

1905/06 

162 

52 

320 

1906/07 

186 

57 

306 


I 


□ igitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 








— 434 — 


Diese Zahlen sprechen für sich; was aber wird noch 
alles bei den Aufnahmsprüfungen gemacht, um die verhassten 
Ruthenen von den Schulen abzuhalten I Es besteht eine Vor¬ 
schrift, dass, wenn der Schüler in dem Zeugnisse aus der 
vierten Volksschulklasse städtischen Typus die Note „gut“ 
hat, er bei der Aufnahmsprüfung in die Mittelschule aus diesem 
Gegenstände nicht mehr mündlich geprüft werde, wenn er 
die schriftliche Arbeit auch auf „gut“ gemacht hat. Diese Vor¬ 
schrift wurde auf Kosten der ruthenischen Schüler ignoriert, 
insoferne, als trotz der gewünschten Note im Zeugnisse und 
auf der schriftlichen Arbeit noch immer aus der deutschen 
Sprache mündlich geprüft wurde, wobei die ruthenische Jugend 
massakriert wurde. Dies dauerte durch Jahre, bis endlich der 
Landesschulrat nach langen und unzähligen Klagen diese 
Methode im Jahre 1904 verbot. 

Es besteht eine ministerielle Verordnung von 1886, welche 
die Aufnahmsprüfung insoweit regelt, dass der Schüler, welcher 
bei der Aufnahmsprüfung in die erste Klasse in einer Mittel¬ 
schule durchgefallen ist, die Prüfung an einer anderen Mittel¬ 
schule mit derselben Vortragssprache vor Ablauf eines Jahres 
nicht wiederholen darf, wobei jedoch nicht verboten ist, 
eine solche Prüfung, sei es auch schon am nächsten Tage, 
an einer Schule mit anderer Vortragssprache abzuiegen. Diese 
Verordnung konnte in Galizien nur den Ruthenen Nutzen 
bringen, weil nur diese beide Sprachen lernen müssen. Nirgends 
aber beachtete man diese Vorschrift; erst im Jahre 1906 sah 
sich der Landesschulrat veranlasst, sie in Erinnerung zu bringen, 
aber in einer derart unklaren Form, dass die.Direktoren weiter 
das Ihrige tun konnten. Erst durch den in der ruthenischen 
Presse erhobenen Lärm, die Belehrung der Bevölkerung von 
dieser Erleichterung durch wörtliche Anführung der Verordnung, 
sah sich der Landesschulrat genötigt, sein Kommentar im Juli d. J. 
kategorisch zur Beachtung zu empfehlen. 

Am ärgsten aber wird es bei der Aufnahmsprüfung 
aus der polnischen Sprache getrieben. Man verlangt nämlich 
von den Ruthenenkindern mit der absolvierten Volksschule 
ein ebenso gutes Polnisch, wie von den Polen, sonst darf das 
ruthenische Kind die Schwelle der polnischen Mittelschule 
nicht überschreiten. Auf den ruinierten Existenzen ruthenischer 
Kinder baut sich die polnische Schule auf. Und das geschieht 
in einem konstitutionellen Staate, in Oesterreich, wo das 
Ruthenenvolk dem polnischen „Brudervolke“ zur Exploi- 
tierung ausgeliefert wurde. 



Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 435 — 


Die Apostel der „aufrichtigen und gänzlichen Uer* 
brüderung“. 

Von Wassil Rüden skyj. 

An der Hand der Polemik der Herren Sienkiewicz und Paderewski 
gegen Björnson haben wir Gelegenheit gehabt, die Leser unserer Revue 
über die Methode der polnischen Publizisten bei der Behandlung histo¬ 
rischer Themen aufzuklären (siehe U. R. 1907, Nr. 6/8). Dass auch die 
polnischen Historiographen mit der historischen Treue nicht gewissen¬ 
hafter umzugehen pflegen, dafür lassen sich Belege in Hülle und Fülle 
Anführern Davon überzeugt uns u. a. auch das uns vorliegende Buch: 
„D ie Geschichte der Stadt Lemberg im Umris s“, heraus¬ 
gegeben im Jahre 1894 von Dr. Friedrich Pap6e, offenbar einem 
Franzosen oder Nachkommen einer polonisierten französischen Familie, 
im Auttrage und Verlage des Lemberger Stadtrates, welches ich auch 
zum Ausgangspunkt des jetzigen Artikels nehme. Laut Vorrede wurde 
das Buch gedacht als Lektüre für gebildete Bürger Lembergs, überdies 
als Leitfaden für Lehrer und als Schulgeschenk für die reifere Jugend 
in städtischen Schulen. Das Buch ist aus dem Grunde von Interesse, 
weil die ihm zu Grunde liegenden Ideen die ganze polnische Gesellschaft 
zu teilen scheint und sie auch laut Bestimmung sowohl der polnischen 
als auch der ruthenischen Jugend eitrigst eingeimpft werden. 

Ich werde mich vorzugsweise mit dem Teile des Werkes befassen, 
welcher die Geschichte von Lemberg seit 1340, in welchem Jahre es 
vom polnischen König Kasimir dem Grossen zum erstenmal erobert 
worden ist, behandelt. Die Entstehungsgeschichte von Lemberg liegt im 
Dunkel. Jedenfalls bestand es bereits in der ersten Hälfte des XIII. 
Jahrhunderts. Sein Gründer war der ruthenische Fürst Danylo 
(Daniel), welcher es seinem Sohne Lew (Leo) zu Ehren L w i w (im 
deutschen „Lemberg“) nannte. Daselbst wohnten Vertreter verschiedener 
Nationen: Ruthenen, Deutsche, Polen, Armenier, Rumänen, Italiener, 
Schotten, Juden, Griechen, Türken, Tataren u. a. Wie war das Schick¬ 
sal der Stadt unter polnischer Regierung ? „Glücklich waren — behauptet 
Dr. Pap6e — die Länder, die dem Szepter des Königs, des Wirtes 
unterlagen. Auch Ruthenien atmete endlich nach allerlei langen Um¬ 
wälzungen auf ... Es entstanden und erblühten bald frische Ansied¬ 
lungen. Kasimir wahrte heilig die Freiheit der Kirche und der Sitten, 
wie er es versprochen hatte. Reichlich verschenkte er leere Gebiete 
unter die Polen und in gleichem Masse (!) unter die Ruthenen, und 
wenn er neue lateinische Bistümer in Ruthenien ausstattete, tastete er 
dabei die Rechte der orthodoxen Kirche nicht im geringsten an, im 
Gegenteil liess er ihr den gleichen väterlichen Schutz zuteil werden 
Vor Kasimir dem Grossen gab es in diesem Lande kein einziges röm.- 
kath. Bistum, ja sogar — sagt Dr. Pap6e — in Lemberg keine 
einzige röm. - kath. Kirche, in welcher der König Gott für den 
errungenen Sieg sein Dankgebet darbringen könnte. Kasimir gründete 
drei Bistümer und ein Erzbistum“. Ueber die Beweggründe 
schweigt sich der Verfasser aus. Darüber berichten aber umso genauer 
ukrainische Geschichtsschreiber: „Laut dem Plane des Papstes (dessen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



436 


Ausführungsorgan der König von Polen war. D. V.) — heisst es bei 
Prof. Hruschewskyj — sollte eben die katholische 
Kirche die orthodoxe verdrängen und ersetzen; die 
letztere sollte zu bestehen aufhören, sobald die orthodoxen Katheder 
mit Katholiken besetzt sein würden. Es zeigte sich aber unmöglich,, 
diesen Plan in die Wirklichkeit zu übertragen. Man musste katholische 
Eparchien neben orthodoxen in ukrainischen Ländern gründen; die 
katholischen wurden mit (lütern, welche den ortho¬ 
doxen entrissen worden waren und anderen Schenkungen aus- 
gestattet.“*) Diese Tätigkeit Kasimir des Grossen nennt der polnische 
Gelehrte eine „Nichtantastung der Rechte der ruthenischen Kirche und 
einen väterlichen Schutz“ und seine Regierung eine „segensreiche“. . . 
Eine Bestätigung dieser Ansicht finden wir auch bei polnischen Ge¬ 
schichtsschreibern. So sagt der polnische Historiker Tato mir, der 
Weg nach den fruchtbaren ruthenischen Gebieten sei schon seit den 
Zeiten Boleslaws des Tapferen (992-1025) wohlbekannt gewesen. Mit 
der Eroberung Rutheniens durch Kasimir d. Gr. haben aber die pol¬ 
nischen Magnaten ungeheure Besitztümer ' an sich gerissen und ihnen 
folgten ganze Scharen des niederen Adels, der sich dann durch den 
ausgiebigen Ertrag des ruthenischen Bodens bereicherte; heute nennen 
die Polen diesen Raub des ruthenischen Landes euphemistisch „Er¬ 
oberung des polnischen Pfluges“ und erheben den Rufr 
„Kein Fuss breit vom polnischen (!) Grund und Boden darf in ruthenische 
Hände übergehen!“ . . . Die Juden aber „enteignen“ je länger je mehr 
die polnischen Schlachzizen. 

Unter dem polnischen Regimente wurde insbesondere die Haupt¬ 
stadt Lemberg der Polonisierung preisgegeben. Darüber breitet sich 
Doktor Papee aus und stellt im Triumphtone fest, dass sich das Polen- 
tum neben dem hier dominierenden Deutschtum allmählich immer mehr 
behauptet hat, so dass es schliesslich zu Beginn des XVI. Jahrhunderts 
ihm die Wage hielt, ja es sogar immer mehr verdrängte. Die deutsche 
Sprache machte in den Akten der lateinischen und in der Folge 
der polnischen Platz und fremdländische Immigranten polonisierte 
man schon in der zweiten Generation, indem man sie zwang, ihren 
Familiennamen ein polnisches Gepräge zu geben. So sei Lemberg eine 
recht tolerante Stadt gewesen, nur eines habe sie nicht dulden können, 
den Abfall von der katholischen Kirche. (Wie erinnerlich, gab es in 
Lemberg noch 1340 keine einzige katholische Kirche!). Lutheraner,. 
Kalvinisten und andere Anhänger der Reformation mussten entweder 
in den Schoss der alten Kirche zurückkehren oder die Stadt verlassen, 
welche sich gerne damit brüstete, „ein durch und durch katholisches 
Nest“ (catholicissima patria) zu sein; dagegen sei den Anhängern der 
orientalischen Bekenntnisse, den Armeniern und Ruthenen, welche seit 
jeher in Lemberg ihre gewährleisteten Rechte hatten, jede Freiheit be¬ 
lassen worden und seien alle etwaigen Gewalttaten der katholischen 
Bevölkerung gegen sie von den polnischen Königen geahndet worden. 
„Hier siegte jenes erhabene Prinzip der Union, der wahre 


*) Geschichte des ukrainischen Volkes, 1. Auflage, Seite 184 (russ.) Ä 

Digitized by Google 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



— 437 — 


Ruhm unserer Geschichte, welches gebot, nicht im Wege des Zwanges, 
sondern der freundschaftlichen Uebereinkunft nach Einheitlichkeit zu 
streben. Dasselbe Polen, welches zur Zeit der Königin Hedwig (1385 b. 
1399) unter Losung der brüderlichen Liebe (lies: mit diplomatischem 
Lug und Trug, in der Folgezeit auch mit offenkundiger Waffenge¬ 
walt) das grosse litauische (richtig: litauisch-ruthenische!) Reich mit 
sich zu vereinigen wusste, griff nachher unter Sigismund UL (1587 b. 
1632) zu ähnlichen Versuchen behufs Vereinigung entzweiter Be¬ 
kenntnisse. 

Zuerst gingen zur Union mit Rom die Armenier über und „d i e 
Kirchenunion war der mächtigste Hebel der Poloni- 
sierung der Armenier 44 — gesteht der polnische Gelehrte ganz 
aufrichtig ein. „Heute aber — triumphiert der Verfasser — ist die 
Hand voll Armenier sehr zusammengeschmolzen und die armenische 
Sprache ist ausser etwa in Kuty (Städtchen im südöstlichen Galizien) 
sonst nirgends zu hören und selbst in Kuty bedienen sich die Armenier 
zumeist der polnischen Sprache und unterscheiden sich im allgemeinen 
hier gar nicht von unserer Gesellschaft, mit der sich der armenische 
Volksstamm aufrichtig und gänzlich verbrüdert hat. 44 

Hier liegt die Quintessenz der polnischen politischen Weisheit, 
„das erhabene Prinzip der Union, der wahre Ruhm der polnischen Ge¬ 
schichte“ auf der Hand. Nach dem Dafürhalten des polnischen Gelehr¬ 
ten und seiner Vaterlandsgenossen ist die „aufrichtige und gänzliche 
Verbrüderung“ mit den Nachbarn gleichbedeutend mit deren natio¬ 
nalem Tode! Da die Polen in der Kirchenunion ein wundertätiges 
Werkzeug der Polonisierung gefunden zu haben glaubten, suchten sie 
auch die Ruthenen dafür zu gewinnen; die nachher erfolgte kirchliche 
Union der Ruthenen mit Rom habe auch den Weg zur Anknüpfung 
eines immer engeren Bandes zwischen den polnischen und den ruthe- 
nischen Elementen angebahnt, — behauptet der Verfassser und stellt 
sogar folgendes fest: „Die alten Lemberger Ruthenen zeigten keine 
Antipathie gegenüber der polnischen Sprache und bereits seit der Mitte 
des XVII. Jahrhunderts begannen sie selbe immer häufiger in Schrift 
und Sprache unter einander zu gebrauchen . . . Und (aufmerken !) das 
in christlicher Bruderliebe begonnene Werk wäre 
gereift, wenn ihm die Ereignisse und Zustände, 
welche auf dieTeilungvonPolen gefolgtwaren, nicht 
in denWeg getreten wären 44 . . . Hier haben wir einen neuen 
eklatanten Beleg für die polnische Auffassung der „aufrichtigen und 
vollständigen Verbrüderung“, anders ein r in christlicher Bruderliebe 
begonnenes Werk“ genannt, welches unter wahrheitsliebenden Leuten 
Entnationalisierung heisst! 

Lassen wir nun, parallel mit dem Polen, ruthenische Historiker 
zu Worte kommen: „Als Galizien unter die polnisch# Regierung kam, 
— schreibt Professor M. Hruschewskyj — war es ein üppiges, an 
Naturprodukten reiches, wohleingerichtetes Land, mit mächtiger, autoch- 
thoner Aristokratie, reichen Städten und regem Verkehr mit West-Europa 
und dem Orient. Wenn es in ökonomischer und kultureller Hinsicht 
dem zeitgenössischen Polen nicht überlegen war, so stand es ihm jeden- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 438 - 


falls nickt nach . * . Im Verlaufe von 500 Jahren erfüllten hier die 
Polen inmitten der autochthonen ruthenischen Bevölkerung „ihre 
historische Kulturmission“, von der die polnische Historiographie und 
Publizistik immer noch ganz im Ernst mit Begeisterung berichtet. Was 
wurde aus diesem „von Met und Milch fliessenden Lande 4 , welches mit 
seiner Pracht und seinem Reichtum die mittelalterlichen polnischen 
Historiker in Staunen setzte, in der Zeit dieser 500 Jahre der polnischen 
Bevormundung, der polnischen Kulturmission? Wie war die polnische 
Regierung beschaffen und was für Folgen hat sie gehabt?“ Diese Frage 
beantwortet ein namhafter Kenner der Geschichte unseres Landes, der 
Lembergs insbesondere, Iwan Krypiakewytsch, in seinem Studium 
„Die Lemberger Ruthenen in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts“*), 
welches auf reichlichem und kritisch gesichtetem Quellenmaterial basiert. 
Er sagt u. a.: „Schwere Wunden hat die polnische Regierung der gali- 
zischen Bevölkerung geschlagen . . . Das Bauerntum büsste in kurzem 
seinen Grund und Boden und seine Freiheit ein, es wurde der Leib¬ 
eigenschaft preisgegeben und der herrschaftlichen Gerichtsbarkeit unter¬ 
worfen; je länger, desto schlimmer wurde seine Lage, so dass es schliess¬ 
lich an die Scholle gefesselt, der Freizügigkeit and aller persönlichen 
Freiheit beraubt worden ist. Dadurch verlor es selbstverständlich die 
Stimme in allen allgemein nationalen Fragen . . . Aber um die Wende 
des XV. und XVI. Jahrhunderts bemerken wir eine rege Bewegung unter 
dem Bauerntum: es will dem Herrn nicht dienen, es erhebt viele Auf¬ 
stände und als alles sich fruchtlos erwies, ziehen die Bauern einzeln, in 
Zehnern, in Hunderten in die damals noch freien Steppen am Dnipro, 
um Material zu Kosakenaufständen zu sammeln. Anfangs konnten 
manche Glücklicheren sich durch die Flucht in die Städte vor der Leib¬ 
eigenschaft retten, aber seit dem Beginne des XVI. Jahrhunderts endete 
diese „Landflucht“. Das war offenbar die Folge der strengen Landtags¬ 
beschlüsse gegen das Bauerntum . . .**) Der zweite Teil der Bevölkerung 
— die Nachkommen der ruthenischen Bojaren (Adel) — behaupteten 
zwar ihre herkömmlichen Rechte, sie mussten aber ihren nationalen 
Charakter einbüssen, polnische Wappen annehmen, Familien Verbindungen 
mit dem polnischen Adel eingehen und immer tiefer im Fremdenmeer, 
das stets bedrohlicher gegen das ruthenische Land heranzog, versinken . . 
Auch die ruthenische Geistlichkeit verfiel . . . Die ruthenische Kirche 
war der lateinischen Staatskirche gegenüber rechtlos, die ruthenische 
Geistlichkeit war mit kränkenden Einschränkungen gefesselt, aller poli¬ 
tischen Bedeutung beraubt, missachtet . . . Der König Ladislaus 
Jagello liess z. B. 1412 die Ueberreste ruthenischer 
Toten aus demPeremyschlerKathedraldom hinaus¬ 
werfen, den Dom in einen katholischen verwan¬ 
deln und nach dem lateinischen Ritus einweihen, 
die orthodoxen Halitscher Domherren führte man an 
Stricken über den Dnister. Das neulich aus Halitsch nach 

*) Separatabdruck aus den „Mitteilungen der Schewtschenko-Gesell- 
schaft der Wissenschaften“ in Lemberg. 1907. (101 S. 8°.) 

**) Ueber die Leibeigenschaft in Polen s. u. a. „Ukr. R.“ 1907, 
Nr. 6-8, S. 220-224. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 439 — 


Lemberg verlegte lateinische Erzbistum bekam 1423 von 
Jagello das Vorrecht, die Orthodoxen wie die Ketzer 
zu strafen und den Katholizismus gewaltsam zu ver¬ 
breiten. Es wurde mit Städten und Dörfern des eingegangenen 
orthodoxen Halitscher Erzbistums ausgestattet.*) 

„Unter solchen Umständen litten am meisten die religiösen Bedürft 
nisse der Bevölkerung. In Halitsch gab es einige Jahrhunderte hin¬ 
durch keinen Metropoliten, es gab also niemanden, der die .Priester¬ 
weihe erteilen und die Kirchen weihen konnte. Die Kandidaten des 
geistlichen Standes bekamen die Weihe häufig in der entfernten Wallachei. 
Unter den Lemberger Ruthenen und wahrscheinlich auch ausserhalb 
ihrer Reihen erschienen „neophitae ex fide graeca“, welche sich zum 
römischen Ritus „umtauften“ und dabei — bezeichnenderweise — ihre 
Taufnamen änderten. Die Neuerrichtung des Lemberger Bistums wollte 
der dortige lateinische Erzbischof Bernardin nicht zulassen. „Ich 
werde es nicht zulassen — drohte er — solange ich lebe, die Ruthenen 
sind mir unterworfen!“ Und es war keine leere Drohung; das Leben 
in der Stadt wird gefährlich, es werden Attentate gegen den ge¬ 
wählten ruthenischen Bischof Tutschapskyj geplant. Als der neue Bischof 
die Reise nach Kijew an tritt, um die Weihe zu erhalten, begleitet ihn 
eine bewaffnete Wache bis an die Grenze über den Buh hinaus; sie 
bewachte — wie es in der zeitgenössischen Quelle heisst — die P r i v i- 
legienund die Kehle des Pater Makarij, indem sie befürchtete, 
dass der Erzbischof oder ein polnischer Herr ihn einhole und töten 
lasse“.**) Unter solchen Umständen, welche ein beredtes Zeugnis von 
der Liebe und Freundschaft des Brudervolkes und insbesondere von 
seiner bei jedem Anlass gefeierten religiösen Toleranz ablegen, ist das 
orthodoxe Bistum in Lemberg erneuert worden . . . Aber sein Bestehen 
war nicht gesichert. Polnische Bischöfe legten einen entschiedenen 
Protest gegen dieErneuerung desBistums und im all¬ 
gemeinen gegen die Tolerierung der ruthenischen 
Kirche ein ; das Bistum aufzuheben gelang freilich nicht, aber der 
nachherige polnische Erzbischof behielt sich das Recht 
vor, orthodoxe Bischöfe zu ernennen. Auch der polnische 
Adel liess es an Gewaltakten gegen das neue Bistum nicht fehlen: er 
hindert den Bischof an der Verrichtung des 'Gottes¬ 
dienstes, verbietet ihm die Geistlichen zu richten, raubt die Unter¬ 
tanen aus dessen Gütern . . . 

Auch die soziale Lage der Lemberger Ruthenen war eine 
sehr schwere. Sie wurden z. B. im Erwerben von Grund und 
Boden in der Stadt beeinträchtigt und mussten sich mit 
einigen Gassen begnügen. Alle Proteste und Klagen sind fruchtlos ge- 

*) Dr. Pap6e will davon gar nichts wissen. Er vergisst aber nicht, 
dass Lad. Jagiello die Privilegien von Lemberg bestätigte und »der 
glückliche (!) Brautring“ seiner Gemahlin die litauisch-ruthenischen 
und die polnischen Länder zu einer Grossmacht vereinigt hat . . . 

**) Um Tutschapskyj gegen die Machinationen Bernardins zu 
schützen, mussten diesem die Ruthenen dreihundert oder sogar 
mehr Ochsen liefern, welche er dem König Sigismund I. 
und der Königin schenken musste. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



440 — 


blieben. In den Handwerkerzünften waren sie nicht gleichbe¬ 
rechtigt, z. B. sie durften nicht Zechmeister werden, einigen Zünften 
konnten sie gar nicht angehören, ausserdem war es ihnen nicht gestattet, 
Ausschänke zu halten und Tuch auf Ellen zu verkaufen. Während der 
Kriegsgefahr mussten sie sich aber in gleicher Zahl wie die Katholiken 
auf die Mauern stellen, obwohl es ihrer in den Zünften bedeutend 
weniger waren. Sie mussten mit ihren Frauen an katholischen 
Gottesdiensten teilnehmen, mussten zum Einkauf von 
Kirchenlicht und Instandhalten von Kirchenbildem Beiträge liefern. 

Zur Zeit der deutschen Stadtregierung in Lemberg 
hatten die Ruthenen Zutritt zum Rate, zur Zeit der polni¬ 
schen nicht mehr; bereits 1520 verschwindet das Amt „des ruthe- 
n sehen Schreibers“ im Magistrate, das sich die ganze Zeit der 
deutschen Regierung hindurch behauptet hatte; noch im XV. Jahr¬ 
hundert durften die Ruthenen Häuser auf dem Ringplatze 
haben, im XVI. Jahrhundert ist es ihnen verboten worden; noch im 
XV. Jahrhundert gab es ruthenische Zunftobmänner, im XVI. nicht 
mehr“. 

Hier mögen noch einige Belege für polnische religiöse Toleranz 
folgen. Nach der Kalenderreform des Papstes Gregor XIII. verbot der 
polnische Lemberger Erzbischof Solikowski den Orthodoxen am Weih¬ 
nachtsabend 1583 den Gottesdienst nach altem Stil zu verrichten, schickte 
seinen Bruder mit den Priestern und einer Rotte bewaffneter 
Leute in orthodoxe Kirchen und diese verjagten 
die Geistlichen und die Gläubigen gewaltsam aus 
allen Lemberger orthodoxen Kirchen, versiegelten 
die Kirchen mit erzbischöflichem Siegel und verboten den Gottes¬ 
dienst darin zu verrichten. Derlei Gewaltakte wiederholten sich auch 
an anderen Orten. Die Klagen, welche die Orthodoxen an den König 
richteten, sind erfolglos geblieben. Unter religiösem Druck litt vor allem 
Galizien und insbesondere Lemberg. Die städtischen Aemter - heisst 
es in den Klagen der Orthodoxen vom Ende des XVI. Jahrhunderts — 
laden ihre Geistlichen vor ihr Gericht und falls sie nicht gehorchen, 
nehmen sie die Mitglieder der ruthenischen Kirchenbruderschaft in Haft. 
Sie befehlen den Geistlichen, ihnen Geschenke ins 
Haus zu bringen. Sie verbieten den Geistlichen über 
den Ringplatz mit heiligen Sakramenten im Kirchengewand 
und mit angezündeten Kerzen zu Kranken zu gehen. Sie gestatten 
nicht, die Toten über den Ringplatz prozessioneil 
nach dem Ritus des griechischen Glaubens zu fahren, 
an Feiertagen aus der Stadtkirche in die Vorstädte in Prozession mit 
Kerzen zu gehen. Den Kindern der griechischen Schule erlauben sie „keine 
Remissionen“, verbieten ihnen am Palmsonntag über den Ringplatz mit 
Blumen und unter Singen von „Hosanna“ zu gehen. Arme Bettel¬ 
st u d e n t e n s c h 1 a g e n sie auf den Strassen, schleppen 
sie in ihre Schulen und misshandeln sie daselbst. 
Unsere Bettler jagen sie aus ihren Häusern fort. Sie überfallen 
nachts die Kirche unserer Bruderschaft, welche im Bau 
begriffen ist, vernichten die Werkzeu ge, verrichten ihre 

Digitized by Google 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



— 441 — 


Notdurft selbst auf dem Altar. Sie nehmen die Orthodoxen 
zum Handwerk nicht an, erlauben ihnen nicht, selbständige Meister zu 
werden. Sie zwingen die Ruthenen, welche bei Katholiken 
dienen, die römische Kirche zu besuchen, stopfen ihnen 
zur Fastenzeit das Fleisch in den Mund, martern sie da¬ 
für, dass sie ihre eigene Kirche besuchen. Wollen diejenigen, die zum 
Katholizismus übergeführt werden, zu ihrem Glauben zurückkehren, 
so werden sie von den Katholiken gequält, gemartert und ins Gefäng¬ 
nis gestürzt. Die Katholiken nötigen die Orthodoxen, die Feiertage 
nach neuem Kalender zu feiern. An griechischen Feiertagen schleppen 
sie Landwirte und Gesinde zur Arbeit, belegen sie mit Strafen und 
stürzen sie ins Gefängnis. Von der Kathedralkanzel her und im Rat¬ 
hause nennen sie uns Heiden und lästern unsere 
Kirche n.*) 

Die Resultate der Staatskunst der polnischen Könige und des 
polnischen Adels sind bekannt: Die anarchische „Republik“ ist zur 
Beute der Nachbarmächte geworden . . . 

Der Zustand, in dem die österreichische Bureaukratie Galizien 
im Jahre 1772 übernahm, legt die Resultate der polnischen Regierung, 
der polnischen Kulturmission in diesem Lande klar an den Tag. Laut 
Memorandum des Grafen Anton Pergen, des ersten 
österreichischen Gouverneurs von Galizien) vom 
Zustande des Landes („Kwartalnik historyczny“ 1900 fand sie 
das Land äusserst arm und rückständig. Handel und 
Gewerbe lagen darnieder, die Städte waren mit hungrigen 
Juden angefüllt; das Bauerntum war verkümmert, nieder¬ 
gedrückt, zu Grunde gerichtet. Das autochthone Element machte die 
halbgebildete Geistlichkeit, — das polnische der freche, halbkultivierte 
Adel aus.**) In Lemberg — gesteht selbst Dr. Pap6e ein — war das 
Bürgertum beinahe nicht zu sehen. Nur die oberen Stände gelangten 
auf die Oberfläche des öffentlichen Lebens. Das Bürgertum lebte in 

Erniedrigung, Armut und Unwissenheit. Aut den 

Strassen und Plätzen lagen Haufen von Dünger und 
Kehricht, welche seit unvordenklichen Zeiten kein Besen angerührt 
hatte. Die Trottoirs sind beinahe in Kot zerflossen . . . Auf Wegen 
und Chausseen fanden die Reisenden ewigliche Pfützen und ausgefahrene 
Löcher, sodass neben jedem Wagen einige Hajduken gehen und ihn 
in einem fort bald von der einen, bald von der anderen Seite mit ihren 
Schultern stützen, bald aus dem Kot herausziehen mussten. Kurzum 
überall war Ruin und schrecklichste Verwahrlosung. (S. 145—146). In 
Lemberg, heisst es in einer Schilderung vom Jahre 1786, waren alle 
Kirchen, Strassen und Stadttore mit Bettlern besetzt. Man kann 

' m 

keine zehn Schritt machen, ohne einem Bettler oder Krüppel zu be¬ 
gegnen. Im Winter ist manchmal ein aus dem Düngerhaufen hervor- 

*) Prof. M. Hruschewskyj: „Die kulturelle und national 
Bewegung in der Ukraine in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts“ 
im „Literaturno naukowyj wistnyk“ 1908, VIII. S. 224—26. 

**) Zu den polnisch-ukrainischen Verhältnissen. Kijew 1906 
(russisch) Seite 9—10. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 




- 442 - 


ragender Kopf eines Bettlers zu sehen, welcher sich darin vergraben 
hat, um sich vor dem Erfrieren zu schützen. Welch eine grauenerregende 
Schilderung! (Pap6e 195). 

Die österreichische Regierung begann bald allerlei Reformen in 
dem durch polnische Anarchie an den Rand des Abgrundes gebrachten 
ruthenischen Lande durchzuführen. Dr. Pap6e, der es tür eine ganz 
natürliche, ja sogar christliche Sache erachtete, dass Ruthenen, Deutsche, 
Armenier u. a. unter polnischer Herrschaft sich polonisieren mussten, 
hebt mit Bedauern und Entrüstung hervor, dass es unter der 
neuen Regierung aufs bestimmteste als Regierungsprinzip beschlossen 
worden, dass die Einwohner von Galizien germanisiert (?) werden sollen. 

Obwohl der Verfasser ein verbissener Pole ist, kann er doch auch 
die guten Seiten der neuen Regierung nicht ganz ausseracht lassen. Es 
wäre ungerecht — sagt er — die neue Ordnung ganz zu verdammen. 
„U nter den Deutschen dar.f man nicht Mutwillen 
treiben . . . schrieb der damalige polnische Dichter Karpihski 
in seinen Memoiren, w r omit er selbstversändlich feststellte, dass es 
dem polnischen Adel unter den Polen gestattet war, Mutwillen 
zu treiben. „Man führte mehr Ordnung und Eile im Justizwesen 
ein, beschränkte die Anarchie der Magnaten, machte allerlei Erleichte¬ 
rungen im Frohndienst, hob die Städte usw.“ Darin sahen die Polen und 
ihr Historiker die „Unterdrückung aller Autonomie“ und das „offenbare 
Streben zur Entnationalisierung des Landes!“ Mithin dachten sie stets 
an Revolution und die Wiederherstellung des „Polenreiches von Meer 
zum Meer“ und der „goldenen Freiheit“, der „guten alten Zeit“ für die 
Schlachzizen. 

Besonders glaubten sie im Jahre 1848 nahe am Ziel zu sein. Als 
die Magyaren sich gegen Oesterreich auflehnten und es zu zertrümmern 
hofften, stellten sich die Väter der heutigen Leiter des „Reiches der 
Unwahrscheinlichkeiten“ in ihre Schlachtreihen. Aber die hochfliegende 
Hoffnung der sonderbaren „Freiheitshelden“ ist nicht in Erfüllung ge¬ 
gangen: Andere Völker der Monarchie und der „Vater der reaktionären 
Weltordnung“ wehrten den drohenden Schlag ab. Zu diesen Völkern, 
die tür die Monarchie der Habsburger ihr Blut verspritzten, gehörten 
auch die Ruthenen, welchen der kaiserliche Minister Graf Stadion 
die Hoffnung machte, dass er sie gegen das Polentum in Schutz nehmen 
werde. Dadurch zog er sich den ewigen Hass der Polen zu; sie klagten 
ihn höhnisch an, dass er die Ruthenen erfunden habe! Auch Dr. Papee 
hat ihn im Magen: „Es unterliegt keinem Zweifel — klagt er — dass 
Stadion zur Vertiefung der Kluft zwischen den Ruthenen und den 
Polen erheblich beigetragen hat. Es ist möglich, dass er mittlerweile 
irgendwelche .Hilfe gegen die damalige polnische Bewegung (eine sehr 
bescheidene Phrase!) erlangt habe, aber er hat nicht wie ein tiefsinniger 
Staatsmann gehandelt, der auch weitere Folgen voraussieht.“ . . . 

Der Verfasser versichert vollen Ernstes, dass der „aufrichtigen 
und gänzlichen Verbrüderung“ der Ruthenen mit den Polen „Ereignisse 
und Zustände“ in den Weg getreten sind, welche auf die Teilung Polens 
gefolgt waren. Folglich wäre es zu erwarten, dass er diese „Ereignisse 
und Zustände“ mit historischer Treue zur Darstellung bringen werde. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNtVERSITY 



Aber weit gefehlt! Der Verfasser schweigt sich darüber aufs Feierlichste 
aus! -Es ist ja doch allgemein bekannt, dass das ,,Reich der Unwahr- 
scheinlichkeiten“ die „Tiroler des Ostens“, wie der Monarch die Ruthenen 
zu benamsen geruht hatte, für ihre Treue und Opferwilligkeit damit 
belohnte, dass es Galizien seit dem Jahre 1867 systematisch in eine pol¬ 
nische Republik verwandelt, und es der Willkür der Schlachzizen total 
preisgibt! Der polnische Gelehrte wagte nicht, sich aufs Lügen zu ver¬ 
legen, darum gedachte er des Sprichwortes: „Schweigen ist Gold“ . . . 
Dagegen ergeht er sich in Lobeserhebungen über die neuen Statuten von 
Lemberg (1870) über die „langersehnte Autonomie“ der Hauptstadt, 
welche in vielfacher Beziehung weitgehender sei, als die des Landes; 
der Lemberger Bürger — sagt der Verfasser — ist stolz auf seine 
Statuten; er erachtet für den grössten Ruhm der autonomischen Ver¬ 
waltung die Entwicklung des Schulwesens .... Was hat denn der 
Stadtrat für die Ruthenen auf diesem Gebiete, auf dem er „ganz 
offenes Feld“ hat, geleistet? 

Der polnische Historiker genierte sich, solch eine heikle Frage 
auf zu werfen: Der Lemberger Stadtrat hat nämlich die 
Ruthenen gänzlich ignoriert. Erst nach langen Bemühungen 
ist es ihnen, und zwar nur mit Hilfe der Zentralregierung gelungen, eine 
einzige Volksschule zu erkämpfen. Der Lemberger Stadtrat hat 
selbe in einem äusserst obskuren Hause untergebracht . . . Auch dies 
war eine Leistung über seine Kraft ... In den meisten polnischen 
Lemberger Mädchenschulen wird der Unterricht in ruthenischer Sprache 
gar nicht erteilt . . Von Interesse wird es wohl sein einzusehen, 
wie Dr. Papöe die geschichtliche Mission von Lemberg aut dem Schul¬ 
gebiet auffasst. „Heatzutage — sagt er — ist Lemberg die 
am weitesten nach Osten vorgeschobene Wacht der 
polnischen Zivilisation, die letzte Stadt von West¬ 
europa. Schon jetzt verlangen von uns unsere Brüder in Wolhynien, 
Podolien und in der Ukraine (und im Königreich Polen ?) tüchtige Aerzte, 
wissenschaftlich gebildete Techniker und schicken ihre Söhne in die Hoch¬ 
schule für Bodenkultur in Dublany (in der Nähe von Lemberg). Vielleicht 
bereitet die Vorsehung auch für sie bessere Zeiten 
vor. in denen sie eine grössere Anzahl ausgebildeter 
nationaler Kräfte werden fördern können. Es wäre 
eineSchande für uns, wenn wir weiter nach Westen 
um Hilfe gehen müssten.“ Der Verfasser hat die Ziele der 
polnischen Schulpolitik gar unzweideutig dargelegt: Die galizischen 
Schulen, deren Kosten sowohl die Ruthenen, als die Polen bestreiten, 
haben zum Zweck, nicht nur den galizischen, sondern auch den russischen 
Polen die wissenschaftliche Bildung und die nationale Erziehung zu 
bieten. Und wirklich haben die Polen ein solches Ziel dem galizischen 
Schulwesen gesteckt, ohne darauf zu achten, dass beinahe zwei Drittel 
der christlichen Bevölkerung von Galizien Analpha¬ 
beten sind, dass dieses den polnischen Kulturverwüstern preisgegebene 
Land in kultureller Hinsicht eine der letzten Stellen unter den öster¬ 
reichischen Ländern einnimmt, dass selbst in Lemberg — wie der 
polnische Gelehrte unumwunden eingesteht — Tausende von Einwohnern 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 444 — 


weder schreiben, noch lesen können, dass selbst ein vermögender Lem- 
berger Bürger dem Patrizier der goldenen Zeit an Bildung nicht gleich¬ 
steht. (Wie Lemberg im XVIII. Jahrhundert ausgesehen hat, das hat 
Dr. Papde recht hübsch geschildert.) 

Gemäss den Plänen der polnischen Schulpolitik hat der galizische 
Landesschulrat, in dem die Ruthenen kaum den sechsten (!) Teil aus¬ 
machen, angeordnöt, dass die Dorfjugend (es handelt sich vor allem 
um die ruthenische!) nur in beschränktem Masse in die 
Stadtschulen auf genommen werde; diese hohe Behörde hat 
aber nichts dagegen einzuwenden, dass an galizischen Schulen 
Tausende von aussergalizischen Polen studieren. „Das 
ist etwas ganz Anderes! . . .“ Die aussergalizischen Polen sollen ja 
ebenso an der Wiederherstellung Polens arbeiten, wie die galizischen. 
Eine solche Aufgabe liegt in erster Linie der galizischen Hauptstadt ob: 
„Will Lemberg wirklich — schreibt Dr. Pap6e zum Schlüsse seiner 
kuriosen Geschichte — sich mit der Ehre brüsten, welche ihm einer 
unserer hervorragendsten Abgeordneten, Otto Hausner (solch ein Ur- 
und Allpole wie Dr. Papde) zuerkannt hat, und zwar, dass es ein 
Mehrer des Polentums sei (Fettdruck des Originals), so soll es sich 
derselben würdig erweisen. Und in diesem Sinne kann es sogar nach 
diesem Lorbeerkranze reichen, welches der höchste Ruhm seiner Ge¬ 
schichte ist und den es dafür bekommen hat, dass es ein Bollwerk 
von Polen und von ganz Westeuropa gewesen ist.“ Zu welcher 
„Blüte“ dieses „Bollwerk von Polen und von ganz Westeuropa“ unter 
polnischer Herrschaft gelangt ist, das hat der Allpole „in der Hitze des 
Gefechtes“ unerwähnt gelassen. 

Aber wahr und aufrichtig hat er sich geäussert: Lemberg war 
und ist tatsächlich ein „Mehrer des Polentums“. Worin dieses 
„M ehren des Polentums“ in „guten Z e i t e n w (so 
nennt sie Dr. Pap6e S. 63) der polnischen „Republik“ bestand, haben 
wir zur Genüge ersehen können, worin es heutzutage besteht, schildert 
in kernigen und leider nur allzu wahren Worten Prot. M. Hruschewskyj: 
„Ost-Galizien — schreibt dieser Gelehrte — ist jetzt das am 
meisten verwahrloste, das ärmste und dunkelste 
Land von West-Europa; ein Land ohne Handel und Industrie, 
ein in seiner Bilanz ganz passives Land; es ist ein Land, 
wo der Hungertyphus als ein ganz gewöhnlicher und regelmässig 
kommender Gast gilt, oin Land, wo der Taglohn eines erwachsenen 
Arbeiters bis auf die letzten Streiks, welche übrigens mit „eiserner 
Hand M der polnischen Bureaukratie niedergerungen wurden, zwischen 
30 und 40 Heller geschwankt hat; es ist ein Land, welches der Zahl 
der Analphabeten nach, einen förmlichen schwarzen Punkt aut 
der Karte von Europa bildet, dieses Land ist „berühmt“ wegen 
der Willkür seiner Administration und unerhörten „Raubmorde“ (rosboj“) 
bei den Wahlen, welche die Meisterhand dieser Administration verübt 
— kurzum: es ist ein wegen der Armut, der Epidemien und Rechts- 
losigkeit berühmtes Land, das in dieser Hinsicht bei näheren und fer¬ 
neren Nachbarn populär ist. Auf dem Boden des letzten Kreises 
dieses Talgrundes des Jammers und der Finsternis haben die alten 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



- 445 - 


Herren dieses Randes — die Ruthenen — ihren Platz gefunden. 

(1. Cr 10—11.)“. 

Ein seltsames Volk sind wohl die Polen. Vor der ganzen Welt 
jammern sie schamlos über die Denationalisierung, welche ihnen seitens 
des Deutschtums und des Russentums angeblich droht, in Galizien 
aber, wo sie dank der Gnade des „Reichs der Unwahrscheinlichkeiten“ 
die ganze Macht in ihren Händen haben, huldigen sie ebenso schamlos 
wie zu Zeiten der seligen „Republik“ dem Wahne des „erhabenen 
Prinzips der Union, des wahren Ruhmes ihrer Geschichte“, das dahin 
lautet, Lemberg solle seine Ehre darin suchen, ein „Mehrer des Polen- 
tums“ zu sein! Unter dem Banne der Polonisierungspolitik hegen sie 
die Hoffnung, dass das Dreissigmillionenvolk sich doch über kurz oder 
lang mit ihnen 9 aufrichtig und gänzlich verbrüdern“ werde. Aber eitel 
sind eure Hoffnungen, Herren Polen! Euren Zweck werdet ihr nie und 
nimmer erreichen, dass ihr aber den Abgrund, welcher euch und uns 
scheidet, in einemfort vertiefen werdet, das ist wohl über allen Zweifel 
erhaben! *) 



Der k. k. galfeUcbe CanUesscOulrat als Pfleger de$ — 
osterreicMschen — Patriotismus. 

Man pflegt bei jedem politischen Anlasse polnischerseits zu 
akzentuieren, die galizischen Polen seien eine dem Kaiserhause treu 
ergebene, staatserhaltende Partei. 

Für diese eminente Begabung empfangen die galizischen Polen 
auch eminenten beständigen Lohn. Zu den vielfachen Arten ihrer 
Löhnung gehört auch ein autonomer polnischer Landesschulrat, dem 
auch die ukrainischen Schulen samt ihrem ganzen Lehrkörper mit Leib 
und Seele überwiesen wurden: augenscheinlich um den Ruthenen die 
frühere Hundetreue für Oesterreich als eine „mangelhafte und staats¬ 
zersetzende“ auszuklopfen, und die nach polnischer Art zugestutzte ein¬ 
zupauken. 

Es wurde somit zur Tatsache: den galizischen Polen wurde tat¬ 
sächlich eine eminente Begabung zur Kaiser- und Staatstreue auf puren 
Glauben zuerkannt und dem zweiten galizischen Volksstamme, den 
galizischen Ruthenen, diesen weiland „Tirolern des Ostens“, die ihr Be¬ 
wusstsein schändende Zumutung auferlegt, sich und ihre Schuljugend 
durch einen k. k. polnischen Landesschulrat in der Kaiser- und Reichs¬ 
treue erziehen zu lassen. 


*) In der nächsten Nummer der »Ukrainischen Rundschau“ wird 
ein Artikel erscheinen, in welchem die Lage der Ruthenen in der Haupt¬ 
stadt Galiziens in der Jetztzeit geschildert wird. 


Digitizeit by 


Gck igle 


Original from 

[NDlANA UNfVERSITY 



Welch« Früchte diese Zumutung in nationaler Beziehung zeitigte, 
davon handelt eine Artikelserie unter dem Schlagworte: ' Ukrainische 
Schule im polnischen Joch. Dem Leser dieser Artikel dürfte es tagen, 
dass sogar dem langmütigen „Tiroler des Ostens“ derartiges Neryenspiel 
mit nationalem Zurückdrängen seiner Schulbedürfnisse als eine für ihn 
zu bunte „Staatsfürsorge“ erscheinen muss, t die eher alles, nur nicht 
den Dank herauf beschwört. 

Es ist bei den galizischen Ukrainern seit 1848 im Brauche, am 
16. Mai das Andenken an die Abschaffung der Frohne und 
Zurückgabe der Menschenrechte durch den Herrscher Oesterreichs, als 
ein ausgeprägtes Loyalitätsfest kirchlich bei voller Teilnahme der Ein¬ 
wohner zu begehen. Ohne irgendwelche Verordnung, aus eigenem 
Herzenstrielpe, verstand sich das Volk und dessen Geistlichkeit dazu, 
das Andenken an das Gute, das der Herrscher Oesterreichs dem Volke 
getan, den Nachkommen nicht vorenthalten zu dürfen, wenn auch dies 
ursprünglich Gute staatlich verpfuscht wurde. Das Volk und die 
Geistlichkeit glaubte, diese Feier des eigenen Herzensdranges wäre 
loyal genug, um auch Schulkinder daran teilnehmen zu sehen. Wird 
ja vom k. k. Landesschulrate die Teilnahme der Schul¬ 
jugend an patriotischen polnischen Feiern des November-, 
des Jänueraufstandes, der projektierten Konstitution 
v o m 3. M a i, und au vielen anderen polnischen chauvinistisch-patriotischen 
Feiern zu gelassen; in Lemberg selbst, unter eigensten Auspizien des 
k. k. Landesschulrates, sind massenhafte Strassenaufziige der polnischen 
Schuljugend mit chauvinistisch-patriotischem Charakter, begleitet von 
wildem Geheul und einer Gebarung, die ihr Gegenstück vielleicht bei 
besoffenen Rekruten findet, geduldet. Hiermit dürfte es scheinen, dass 
der k. k. Landesschulrat die Schulleitungen ostgalizischer Dörfer uud 
Städte aus eigenem Antriebe veranlassen werde, die Kinder am 16. Mai 
freizugeben, und mit ihnen in den ruthenischen Kirchen an öffentlichen 
Gebeten für den Bestand des Staates uud das Wohl seines Herrscher¬ 
hauses teilzunehmen. 

Nun ja, die galizischen Erzieher der Ruthenen zur Kaiser- und 
Reichstreue, die auf ihre eigene Loyalität höchsten Ortes Patent ge¬ 
nommen. sind anderer Meinung. Autorativ steht dafür die Verordnung 
des k. k- Landesschulrates in Lemberg vom 16. Juni 1908 Z. 26.047, 
hier angeführt in wortgetreuer Uebersetzung. 

„Rundschreiben an die Herren Vorstände aller k. k. Kreisschulräte. 

„Iu ostgalizischen (d. i. vornehmlich ruthenischen — sit venia 
verbo) Schulkreisen sind gr.-kath. Pfarrer (d. i. Ruthenen) gewohnt, 
jährlich am 16. Mai zum Andenken der Frohnabschaffung solennen 
Gottesdienst zu veranstalten. Der k. k. Landesschulrat hat in Erfahrung 
gebracht, dass die Schullehrer hie und dort an diesem Tage die Kinder 
vom Schulunterricht befreien, ja sogar (welch ein Verbrechen!) die- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 447 — 


selben, in die Kirehe führen. Es wird demnach der Herr Vorstand auf¬ 
gefordert, ehestens streng auszukundschaften, ob im dortigen 
Kreise derartige Unregelmässigkeiten seitens der Schulverweser vorge¬ 
kommen sind, und gegebenenfalls über jedes solche Vorkommnis unver¬ 
züglich dem k. k. Landesschulrate zu berichten.. — Für den Statthalter.] 
Dembowski m. p.“ 

Da sehen wir die galizischen Loyalitätspächter auf Glauben bei 
ihrer eigensten Arbeit. Wir sehen, wie der autonome polnische 
k. k. Landesschulrat, bestellt, die Ruthenen in Reichs- und Kaiser¬ 
treue zu dressieren, sich dieser Aufgabe eifrigst unterzieht Die Herren 
Vorstände,, durchwegs chauvinistische Polen, die nicht einmal ruthenisch 
lesen können, machen da strenge Miene auf die vermaledeiten Pfarrer,, die 
etwas unbedingt staatsgefährliches in ihren Kirchen vornehmen, wenn 
der Herr Dembowski in Vertretung des Statthalters sie auffordert, 
streng auszukundschaften, welche Lehrer in ihren Bezirken die Schul¬ 
kinder in die Kirchen am 16. Mai zu führen sich erkühnten, — ja 
befiehlt, diese Missetäter unverzüglich der obersten Schulbehörde zA 
denunzieren. Da wird der ganze Gendarmerieapparat in Bewegung 
gebracht, sie sind ja diesen Herren der beste Kundschafterapparat; 
unter der Hand macht Kundschafterdienste auch der Bezirksschul-: 
inspektor, ja der Hausjude des Herrn Vorstandes; und wehe den 
Lehrern, die gemeint haben, die Kirchenfeier vom 16. Mai sei eine 
österreichisch-patriotische Manifestation, bei der die Schule bisher nie 
gefehlt habe und nicht fehlen dürfe: wenn nicht Versetzung „aus 
Dienstesrücksichten“ nach Westgalizien, weg von eigener Kirche und 
eigenem Volke, so wenigstens eine schwarze Note in der Dienst- 
qualifikation. Auch de* Pfarrer kommt nicht trocken davon: der Vorstand 
belehrt, dass solenner Gottesdienst für Frobnabschaffung höheren Orts 
Lehrerverfolgungen zur Folge hat, berichtet über ihn bei eventueller 
Pfründe-Institution: nicht loyal, politisch gefährlich .... 

Ja, wir in Galizien werden durch polnische Loyalitätsmonopolisten 
dressiert.... zur Staats- und Kaisertreue? 

—co — 



Uon der Slaweitkonfercnz in Prag 

Von Wladimir Kuschn i r.*) 

Ein schlechterer Dienst als ihn die Prager Konferenz der slawi¬ 
schen Sache erwiesen hat, konnte ihr nicht erwiesen werden. Statt vor 


*) Der Artikel erschien zuerst im ersten Septemberhefte der Frank¬ 
furter Halbmonatsschrift „Das Freie Wort u . Die Redaktion. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



448 - 


der Welt die Einigkeit aller Slawenvölker zu demonstrieren, erwies 
sieh die Prager slawische Konferenz als eine grossartige Manifesta¬ 
tion gegen die slawische Solidarität. Ein ganzes Volk, die 
Weissrussen, welche einen besonderen Platz für ihr Volkstum in 
der slawischen Völkerfamilie beanspruchen, deren studentische Vertreter 
kaum eine Woche vorher in der Hauptstadt Böhmens an den Beratungen 
der fortschrittlichen slawischen Studenten als eine besondere nationale 
Gruppe teilnahmen, wurde überhaupt nicht eingeladen. Ein zweites, das 
zweitgrösste Slawenvolk, die ßuthenen, an deren Konflikt mit den 
russischen und polnischen Gegnern gut drei Viertel der gesamten 
Slawen weit mit interessiert sind, lehnte die Einladung ab. Von dem 
kleinsten slawischen Volke, den Slowenen, fuhren kaum die Repräsen¬ 
tanten einer Partei, und zwar der unbedeutendsten, nach Prag. Die 
durch die serbisch-antimontenegrinische Verschwörung hervorgerufene 
Episode vervollständigt das Bild der slawischen Uneinigkeit, wie sie 
auf der Prager Konferenz zum Vorscheine gekommen ist. Allerdings war 
dieses Bild keineswegs eine vollständige Abspielung der unzähligen, 
unter den einzelnen slawischen Völkern herrschenden Konflikte, welche 
ein solidarisches Vorgehen der Slawen unmöglich machen, denen zufolge 
aber auch die Prager slawische Konferenz sich nicht zu einer allslawi¬ 
schen gestalten konnte. 

Es wäre verfrüht, von den Ergebnissen der Prager Konferenz 
schon jetzt zu sprechen, wenn man nicht, von durch viele Erfahiungen 
gerechtfertigten Voraussetzungen ausgehend, es vorzieht, die Möglich¬ 
keit positiver Erfolge gleich in Abrede zu stellen. Freilich könnte die 
geplante Gründung einer slawischen Bank als eine positive Errungen¬ 
schaft betrachtet werden, die ja, als Vermittlerin des österreichischen 
Exportes nach Russland dargestellt, einzig und allein den Tschechen 
zugute kommen würde, aber wir bezweifeln stark deren Zustandekommen. 
So gar leicht wird auch die auf ihre Art panslawistische russische 
Regierung nicht dazu zu haben sein. In einem Artikel, betitelt „Die 
polnisch-russische Idylle“, meint das führende Oktobristenblatt, der 
„Golos Moskwy“, dass die Konferenz, über deren Nichteinmischung 
in politische Angelegenheiten die Arrangeure auf allen Kreuzwegen ge¬ 
blasen haben, sich als eine Mache zu politischen und teilweise banko¬ 
kratischen Zwecken erwiesen habe. Das Blatt verwahrt sich gegen die 
Ansprüche, Geld von Russland zu besorgen, und glaubt, dass „dieser 
schlaue Einfall mit voller Bestimmtheit als ein totgeborener hingestellt 
werden kann“ . . . 

Jedoch wichtiger als eine slawische Bank, wichtiger als ein 
slawisches Pressbnreau, die Pflege der slawischen Touristik und andere 
Resolutionen der Prager Slawenkonferenz erscheint uns die darin ein¬ 
geleitete Anbahnung einer russisch-polnischen Verständigung- 

Auch für einen Kenner der polnischen Volksseele war diese Tat- 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 449 — 


sache eine Ueberraschung und ein Zeugnis dafür, was für eine gross¬ 
artige Revolution sich in den Gemütern der polnischen Gesellschaft in 
den letzten Jahren, seit den misslungenen .Annäherungsversuchen an 
die russische Regierung in der ersten und zweiten Duma und der 
Durchführung der preussischen Enteignungsgesetze, vollzogen hat. Bis¬ 
her gab es keinen Polen, der sich Mitglied einer der bestehenden 
Parteien nannte und jemals oifen den Verzicht auf das historische 
Polen ausgesprochen hätte. Nun sollte uns die Ueberraschung bereitet 
werden, dass der Führer der Allpolen, also einer Partei, in deren 
Programm das historische Grosspolen ein Alpha und Omega ist, zugleich 
der Obmann des Polenklubs in der Duma, Herr Dmowski, in seiner 
Prager Kongressrede klipp und klar bekannte, dass „unser Volk auf 
der Grundlage der Zugehörigkeit zum russischen Reiche und Anerken¬ 
nung der allgemeinen Staatsnotwendigkeiten steht“; mit welchen Worten 
er die in seinem kürzlich erschienenen Werke: „Deutschland, 
Russland und die polnische Frage“ geäusserten Ansichten 
wiederholte, dass um den Preis des Verzichtes auf die ruthenischen 
und litauischen Länder ein russisch-polnischer Ausgleich zustande ge¬ 
bracht werden müsse. Diese Ansichten wurden in dem Zeiträume 
zwischen der Petersburger Fahrt Kramarsch’ und Genossen und der 
Prager Konferenz seitens mancher polnischer Auslassungen in der 
polnischen und russischen Presse noch dabin gedeutet,' dass um diesen 
Preis die russische Regierung von der von ihr geplanten Lostrennung 
der ukrainischen Gebiete von dem Zartume Polen absehen möge, wogegen 
die Polen sich jedoch verpflichten würden, in Galizien die russophile 
Bewegung zu unterstützen. Diese Verzichtleffetung auf die Idee 
eines unabhängigen Polen war um so auffallender, als dieselbe 
von den politischen Führern des polnischen Volkes gegenüber unver¬ 
antwortlichen und unbevollmächtigten Leuten, wie es Graf Bobrinskij 
und Genossen sind, erfolgte. Die Polen entsagten ihren nationalen Heilig¬ 
tümern, ohne die Gewähr zu haben, dass es dem zweiten Kontrahenten 
belieben werde, von dieser Kapitulation Kenntnis zu nehmen und in der 
polenfeindlichen Politik ein wenig nachzulassen. 

Darin, noch mehr aber in dem Umstande, dass dem in Prag ein¬ 
geleiteten russisch-polnischen Ausgleiche gegenüber sich das Gros der 
russischen Gesellschaft sämtlicher Lager mehr oder weniger ablehnend 
verhielt, liegt die ganze Tragik der polnischen Kapitulation. Ebenso 
wenig als die russische Regierung liess sich die russische Gesellschaft, 
das muss zugegeben werden, durch die von den Tschechen und Polen 
aufgestellte Devise des Kampfes gegen die Deutschen verleiten; selbst 
das als offiziös geltende Panslawistenorgan „St. Peterburgskija Wjedo- 
mosti“ schrieb anlässlich der Konferenz: „Man muss genau erwägen, 
wo unsere Freunde und wo unsere Feinde sind. Wir müssen mit den 
Slawen von Oesterreich und der Balkanhalbinsel brechen, dagegen das 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

[NDIANA UNfVERSITY 



— 450 — 


gute Verhältnis zu den Deutschen, welche in der Politik ebenso ehrlich 
und solid wie im Handel sind, befestigen.“ . ». Die Wirkung scheint 
also eine entgegengesetzte zu sein. Das Kijewer Organ der russischen 
Nationalen, der Gesinnungsgenossen des Grafen Bobrinskij, der „K i-* 
jewlanin“, behauptet, es sei für niemanden ein Geheimnis, dass die 
unlängst stattgehabte Fahrt Kramarsch’ und Genossen nach Petersburg 
von den Polen inszeniert worden sei, zum Zwecke eines 
polnisch-russischen Ausgleiches unter der Voraussetzung der Aner¬ 
kennung einer Autonomie für die Polen. Indem das Blatt die Vorwürfe 
über die Beeinflussung der Behandlung der Polen durch die Deutschen 
widerlegt, erklärt es, dass in den Achtzigerjahren, gerade zu der Zeit, 
als sich die russisch-deutschen Beziehungen kühler gestaltet hatten, die 
Politik Russlands gegenüber den Polen rücksichtsloser denn je gewesen 
sei; die Polen versprächen jetzt Russland ihre Hilfe gegen Deutschland, 
aber diese Hilfe imponiere Russland nicht; „behauptet doch“ — führt 
das Blatt aus — „Dmowski selbst, dass den Polen Germanisierung 
drohe, dass sie, weil den Deutschen näher als Russland, die anti¬ 
slawischen Tendenzen der Deutschen unmittelbar spüren. Daraus ist 
aber nur die logische Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Polen gegen 
die Germanisierung kämpfen sollen, wenn sie nicht germanisiert werden 
wollen. Keinesfalls folgt aber daraus, dass Russland den Polen gegen 
sein eigenes Interesse eine Autonomie gewähren soll.“ ... In Ergänzung 
dieser Aeusserungen lässt sich nun das Organ des Ministers Stolypin, 
die „Rossija“, dahin vernehmen, dass eine russisch-polnische Ver¬ 
ständigung keineswegs eine Voraussetzung der slawischen Gemeinbürg¬ 
schaft sei, da ja die Polen eigentlich überhaupt keine Slawen seien . . . 

Wir haben absichtlich einige Stimmen der die Interessen der 
rechtsstehenden russischen Parteien vertretenden Blätter angeführt, da 
ja die russischen Teilnehmer der Prager Konferenz, mit denen die 
Polen den Ausgleich einleiteten, durchwegs Anhänger der äussersten 
Rechten sind. 

Der russisch-polnische Ausgleich, wie sich ihn die Polen dachten, 
sollte auf Kosten des ukrainischen Volkes zustande kommen: 

Verzicht auf das historische Polen, d. h. die ukrainischen Länder 
und Litauen, Unterstützung der russophilen Bewegung in Galizien 
(wurde doch nach Prag ein mit Hilfe der Polen zum Abgeordneten 
gewählter Vertreter der russophilen Ruthenen mitgenommen), — 
russischerseits der Verzicht auf die geplante Lostrennung der ukrai¬ 
nischen Gebiete von Kongresspolen und die Belassung der Bewegungs¬ 
freiheit in den ukrainischen Ländern für die Polen — das war das 
wirklich minimalste polnische Angebot. Es wurde nicht akzeptiert. In 
der polnischen Gesellschaft blieb aber ein Katzenjammer und die pol¬ 
nische Presse schreibt im Katzenjammertone. Die Prager Konferenz war 
eine Niederlage für die Polen. Das Nachspiel waren die Demonstrationen 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



— 451 — 


welche gegen den Obmann des Petersburger Polenklubs von seioep 
Eonnationalen für den so leichtsinnigen Verkauf der allpolnischen Ideale 
veranstaltet wurden. 

Unter solchen Umständen von eminenten Erfolgen der Prager 
Konferenz zu sprechen, mit der polnisch-russischen Verständigung als 
deren Kulminationspunkt, wie dies der Abgeordnete Kramarsch in seinem 
letztbin in der „0 österreichischen Rundschau“ veröffent¬ 
lichten Artikel tut, ist mehr als gewagt. Unserer Ansicht nach erlitt 
die Prager Konferenz ein vollkommenes Fiasko. Indem wir unsere An¬ 
sichten über dieselbe zusaramenfassen, 'können wir nur die Worte der 
russischen fortschrittlichen „Kijewskaja Mysl“ wiederholen: 
„Aus den ganzen Bergen von schönen Worten, die während der Prager 
Konierenz in die Welt posaunt wurden, wird kaum ein lächerlich kleines 
Mäuschen zur Welt kommen.“ 



Die Ausländer Iber die Ukrainer. 

Von Dr. Zeno Kuziela. 

IV. 

Den Stimmen der Deutschen, Engländer und Franzosen 
über die Bevölkerung der Ukraine (vergl. meine gleich betitelten 
Artikel in der U. R. 1907 Nr. 6/8 und 11/12 und 1908 Nr. 1) 
schliessen wir nun Auszüge aus der Reisebeschreibung eines 
Russen durch die Ukraine an, welche zuerst im Jahre 1828 im 
Archiv Gregs und Buigarins in russischer Sprache in Form 
von Reisebriefen und dann im Jahre 1832 in deutscher Ueber- 
setzung als „Reisen eines Russen durch Weiss-, 
Klein- und Neurussland, durch die Donsche 
und Tschernomorskische Kosaken-Provinz, den 
Kaukasus und Georgien, unternommen im Jahre 
1827. Zerbst, G. A. Kummer, 1832“ erschienen waren. 
Die Ausführungen des russischen Schriftstellers sind haupt¬ 
sächlich deswegen interessant, weil hier ein Russe ausser der 
ethnischen Verschiedenheit der Gross- und Kleinrussen welche 
ihm übrigens angesichts der gegenteiligen in Grossrussland herr¬ 
schenden Meinung unerwartet kommt, noch mit besonderem Nach¬ 
druck die höheren geistigen Eigenschaften der Ukrainer als der 
Russen, den Reinlichkeitssinn der ersteren und ihren Antagonis¬ 
mus gegen die letzteren, besonders aber gegen die Renegaten, zu 
dessen Bezeichnung der Verfasser das Wort „Hass“ gebraucht, 
hervorhebt. Der Versuch des Verfassers, dieses Hassgefühl 
„zwischen zwei gleichstimmigen (?), zu einer Religion sich be¬ 
kennenden Volksstämmen“ durch die langjährige Herrschaft 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 45’2 - 


d er P o i c n über die Ukrainer zu erklären, kann keineswegs als 
glücklich bezeichnet werden, nachdem die Herrschaft der Polen 
nur gegen die letzteren ein Hassgefühl zur Folge haben könnte, 
keineswegs aber gegen die „gleichstimmigen, zu gleicher 
Religion sich bekennenden“ Nachbarn. Der Grund des von 
dem russischen Verfasser festgestellten Hasses wäre vielmehr 
in der langjährigen Herrschaft der Russen über die 
Ukrainer zu suchen. — Wir lassen nachstehend die Aus¬ 
führungen dieses Schriftstellers folgen (S. 17—21 und 23—25): 

Die Lebensart und Sitten der Kleinrüssen sind in den 
niederen Volksklassen (denn die höheren und gebildeten bleiben 
sich überall ziemlich gleich) von den Bewohnern Grossrusslands 
merklich unterschieden . . . Die hiesigen Frauen und Mädchen 
sind dem Mehrteile nach schön gebaut, sehr bescheiden und sitt¬ 
sam. Die Männer sind ohne Ausnahme Phlegmatiker; vielleicht 
ist dies eine Folge der Hantierung, die sie in der Gesellschaft 
ihrer plumpen, schwerfälligen Ochsen treiben. Das Innere ihrer 
Häuser halten sie rein und immer nett aufgeräumt. Letztere 
sind gewöhnlich aus Fachwerk, das Fundament aus Holz 
erbaut, die Wände mit Reisern umflochten, von beiden Seiten 
mit Lehm übertüncht nnd weiss angestrichen. An jedem grossen 
Jahresfeste lieben sie, ihren Häusern von innen und aussen einen 
neuen weissen Anstrich zu geben; dabei erhalten die Räume 
zwischen Türen, Fenstern und Oefen eine gefällige Garnierung. 
Jedes Bauernhaus hat seinen Ofen mit einem Rauchfange, seine 
Fenster mit mehreren, wenigstens mit einer grossen Glasscheibe. 
Den Schmutz und Rauch der grossrussischen 
Bauernhäuser, deren Bewohner nicht selten mit 
ihren Kälbern und Ferkeln eine gemeinschaftliche 
Stube bewohnen, findet man in ihnen nie. Ihre 
Nahrungsmittel lieben sie nie, gleich dem grossrussischen 
Bauern, mehreremal aufzuwärmen, sondern bereiten sich zu 
jedem Mittage und Abende frische. Ihr Brot ist gewöhnlich 
ungesäuert ; an vielen Orten Kleinrusslands isst man nur aus¬ 
schliesslich Weizenbrot. Ihr Lieblingsessen ist der Borsch, 
eine Suppe von roten Rüben, Rindfleisch und Schweinespeck 
und eine Art kleiner Pasteten, mit Käse gefüllt, welche sie mit 
beigegebener geschmolzener Butter und Schmant essen; die 
Frauen wissen den Männern diese ihre beiden Lieblingsgerichte 
mit besonderer Schmackhaftigkeit zuzubereiten... Der Trunk ist 
bei dem kleinrussischen Volke ein herrschendes Laster, dem 
sich Männer und Frauen (unter letzteren vorzüglich die 
bejahrten) heftig ergeben. Wesentlich influiert darauf die ausser¬ 
ordentliche Wohlfeilheit der Kornbranntweine und die über¬ 
mässige Anzahl von Branntweinfabriken, die man überall in 
Kleinrussland antrifft, welcher Industriezweig der Haupterwerb 
seiner Bewohner ist. Wegen Ueberflusses an Land und Triften 
ist die Viehzucht hier sehr in Aufnahme. Beide Gouvernements 
versehen ganz Russland, nächstdem noch einige Bezirke Polens 

Digitized by Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



mit ausgesucht starkem, grossem Hornvieh. Die grossen Pferde¬ 
gestüte der kleinrussischen Gutsbesitzer sind rühmlich im Reiche 
bekannt... Mit gleich gutem Erfolge gedeiht hier die Schafzucht. 
Viele hiesige Gutsbesitzer unterhalten Stammherden von den 
besseren schlesischen und spanischen Gattungen. Kleinrussland 
besitzt eine Menge Salpetersiedereien, die wegen der 
stark betriebenen Viehzucht in diesem Landstrich sehr gut 
gedeihen. Der Ackerbau ist im blühendsten Zustande und der 
Boden von Natur so ertragreich, dass er fast nie der Kultur 
bedarf . . . Die Kleinrussen (Malorossen) sind ein 
sehr ehrlicher, gutherziger Volksstamm, der 
gewiss jeden Fremden bei einer fortgesetzten 
Bekanntschaft an sich fesselt, ln den ersten Mo¬ 
menten des Zusammentreffens dünken sie einem freilich rauh 
und feindselig; ihre- Einsilbigkeit, ihr Lakonismus, ihre abge¬ 
brochenen Antworten nehmen den Unbekannten gegen sie 
ein; doch je länger man in ihrer Nähe lebt, desto lieber 
gewinnt man sie, desto mehr überzeugt man sich von ihrer 
unbestechlichen Redlichkeit, die ihnen selbst 
die Entwendung einerStecknadel vom Nächsten 
nichterlaubt. 


... Ich befinde mich jetzt an der Schwalle der neurussischen 
Provinzen, doch ehe ich aus den Grenzen Kleinrusslands scheide, 
sei es mir vom Leser vergönnt, noch einige Worte von den gut¬ 
herzigen, gradsinnigen Kleinrussen, die ich so lieb gewonnen, 
sagen zu dürfen. Es gibt hier zwei Klassen von Bauern: herrschaft¬ 
liche und Kronbauern. Die letzteren heissen gemeiniglich Kosaken, 
sind ihrem Zustande nach wohlhabend un d leben glücklich. Zu ihren 
Lieblingsbeschäftigungen gehören Reiten und Wettrennen. Sie 
werden sozusagen auf den Pferden geboren, die meisten von ihnen 
sind darum auch treffliche Kavalleristen, in der Infanterie dienen 
sie nur ungern; vor und während des denkwürdigen Krieges 
von 1812 formierte man aus ihrer Mitte einige Kavallerie¬ 
regimenter, die sich durch ihre Tapferkeit auszeichneten. Die 
Kleinrussen rasieren sich ohne Ausnahme, tragen aber dabei 
grosse Schnurrbärte, die bei ihnen in allgemeiner Achtung 
stehen. Das Haupthaar scheren sie entweder rings um den 
Kopf ab, oder rasieren sich’s auch nach alter Weise, auf dem 
Scheitel einen Schopf nachlassend; letztere Tracht kommt 
jedoch immer mehr unter ihnen ab und ist nur noch unter 
einigen Altvätern gebräuchlich, deren Stamm, die Saporeger 
genannt, in der Tschernomorskischen Provinz angesiedelt 
wurde. Die Volkstracht besteht bei den Männern in einem 
Leibrock und ausserordentlich breiten Hosen, die umso breiter 
bei ihnen sind, je wichtiger ein Festtag ist. Als Kopfbedeckung 
tragen sie beständig, Sommers und Winters, eine Pelzmütze 
von Schafsfell, Winters auch dergleichen Pelze. Die Frauen 
sind (wie ich schon oben andeutete) recht hübsch, doch 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




— 454 — 


werden sie durch ihre Kleidung sehr verunstaltet. Den ganzen 
unteren Teil des Körpers bis zu den Hüften hüllen sie in ein 
Stück buntes, gewöhnlich streifiges, wollenes Zeug ein, das 
sie sich gürtelförmig zubinden und das bei ihnen die Stelle 
des Unterrocks vertritt. Den Oberleib bedeckt ein tuchenes 
Korsett, dabei gehen sie beständig in Stiefeln. Die Mädchen 
tragen auch zuweilen über dem Kopfe einen durchsichtigen 
Schleier, der ihnen sehr gut lässt. Die Hauptzierde des Kopfes 
bei den letzteren ist aber eine Stirnbinde aus einem ganzen 
Bänder-Strausse formiert Eines Sonntags morgens war ich 
Zeuge von der Toilette eines Dorfmädchens, die eine Viertel¬ 
stunde währte und wo das ganze Geschäft die besagte Ver¬ 
zierung des Kopfes betraf. Sie hatte dazu eine Menge schmaler 
seidener Bänder von den verschiedensten Farben herbeigebracht. 
Nachdem eine Freundin ihr gehörig das Haar coiffiert hatte, 
band sie ihr das erste Bändchen ums Haupt, die Schleife nach 
hinten, dann auf gleiche Weise das zweite, doch so, dass von 
dem ersten nur ein schmaler Streifen sichtbar blieb, so ward 
es bis zum zwanzigsten fortgesetzt und formierte endlich vorne 
auf der Stirne eine niedliche Binde, die mit allen Farben eines 
Regenbogens geziert war, hinten aber ein grosses, buntfarbiges 
Bouquet. Also auch diese einfachen Landleute sind von der 
Prunksucht nicht frei. 

Ihre Sitten sind von denen der Russen auf¬ 
fallend verschiedenundmüsseneinem Fremden 
äusserst seltsam Vorkommen. So fand ich, um von 
vielen Belegen zu dieser Behauptung nur eines anzuführen, 
eines Sonntags morgens einen wohlhabenden Bauern vor der 
Pforte seines Hauses mit zusammengebogenen Knieen, den 
Kopf in beide Hände gestützt, sitzen. Er hatte sich ein Räuschchen 
getrunken und sang nun für sich ein Lied des traurigsten Inhalts, 
wobei er bitterlich weinte. Was mochte wohl die Ursache 
dieses sonderbaren Benehmens sein? dachte ich. Er weinte 
vor Freude. Der Branntwein bringt also bei diesen Leuten 
eine ganz entgegengesetzte Wirkung wie bei unseren Russen 
hervor; letztere werden durch einen Rausch froher gestimmt, 
erstere versetzt er aber in Melancholie. 

.. . Den phlegmatischen Charakter der Mallorassijaner be¬ 
seitigt, haben sie dennoch sehr schäkerhafte Volkstänze unter 
sich. Ihre Antworten sind vollkommen spartanisch, oder alle¬ 
gorisch, wie die der Scythen, die auch einst in diesen frucht¬ 
baren Ebenen gewohnt haben. Nicht selten antworten sie durch 
blosse Zeichen, durch eine blosse Verziehung der Mienen, ein 
Lächeln, ein Zusammenziehen der Augenbrauen, ein Streicheln 
des Schnurrbarts, ein Husten, oder durch einzelne Worte: 
gut — nein usw. Die Gesprächigkeit ist also keine ihrer 
Schwachheiten. Mgn will behaupten, dass einiger Grad 
von Bildung sie zu grossen Gaunern mache, dass ihre Ränke 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 455 


dann selbst die unserer verschmitztesten Themisdiener über¬ 
träfen. 

Dieses Volk scheint grössere Bildungs¬ 
fähigkeit als das unsere zu haben, wiewohl die 
Verschiedenheit der Stände wenig bemerkbar 
bei ihnen wird, die gering begüterten Edelleute unterscheiden 
sich fast durch nichts vom gemeinen Mann. Die Volks¬ 
klassen scheinen keine freundliche Stimmung 
für uns Russen zu haben, sie nennen uns in 
ihrer Sprache spottweise: die Moskalen 
(Moskowiter) und sind denjenigen ihrer Landsleute gar 
nicht hold, welche in ihrer Lebensweise und Sitten den Russen 
nachzuahmen streben. Dieser Hass zwischen zwei gleich¬ 
stimmigen, zu einer Religion sich bekennenden Volksstämmen 
muss seinen bestimmten Grund in der langjährigen Herrschaft 
haben, welche Polen über sie ausübte. 


Uerteidigtiitgsrtde 

gehalten am 2. September 1908 vor dem k. k. Kassationshof in Wien für den 
wegen Ermordung des Grafen Potocki, Statthalters von Galizien, von dem 
Schwurgerichte Lemberg zum Tode verurteilten Myroslaw Sitschynskyj. 

Von Dr Richard Pressburger. 

Die Gefahren, welche den Thron der Justiz ewig 
umbranden, steigern sich unheimlich, wenn eine politische 
Tat der Judikatur unterzogen wird, und sie türmen sich zu 
schwindelnder Höhe, wenn aus dem mit fanatischer Erbitte¬ 
rung geführten Streite zweier Brudervölker, denen das Ge¬ 
schick dieselbe Heimat anweist, ein politischer Mord heraus¬ 
flammt, über welchen Angehörige der Nation richten sollen. 

Der erste politische Mord in Oesterreichs Geschichte, 
begangen durch einen ruthenischen Jüngling an dem polni¬ 
schen Statthalter, dem Stellvertreter des Kaisers, wahrlich Vor¬ 
aussetzungen genug, um alle Vorsichten des Gewissens wach¬ 
zurufen, deren der Richter bedarf, um seiner ungeheueren 
Verantwortung zu entsprechen! Aber auch die anderen Fak¬ 
toren des Strafprozesses: Staatsanwalt und Verteidiger müssen, 
eingedenk dieser besonderen Verantwortung, sich wappnen 
und verschliessen gegen alle verwirrenden Einflüsse von 
aussen; die psychische Infektion, welcher der Angeklagte und 
mittelbar der polnische Statthalter zum Opfer gefallen sind, 
darf nicht auch den Parteienvertreter ergreifen und so werde 
ich den politischen Boden, auf welchem die Anklagetat reifte, 
nur soweit betreten, als es die technische und Wissenschaft- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 456 — 


liehe Behandlung der geltend zu machenden Nullitätsgründe 
unbedingt erfordert. 

Ob das aufstrebende, kräftige Volk der Ruthenen, das 
auf eine alte Kultur hinweisen kann, in den polnischen Mit¬ 
bürgern mit Recht seine Unterdrücker sieht, diese Frage 
bleibt unberührt. Von rechtlicher Bedeutung ist jedoch das 
subjektive Moment, dass die Ruthenen sich als Unterdrückte 
fühlen, dass dieses Gefühl, in Taten umgesetzt, ihr ganzes 
politisches Leben beherrscht und mit suggestiver Gewalt, die 
an die Motive der Kreuzzüge erinnert, die Jugend der Nation 
in ihren Bann reisst. Und damit bin ich schon bei Myroslaw 
Sitchynskyj angelangt, dessen Person bei Würdigung der 
Nullitätsbeschwerde im Vordergründe des menschlichen, aber 
auch des forensischen Interesses steht. 

Die zwei nüchternen Gesetzesparagraphen, welche die 
Nullitätsbeschwerde anruft, überheben den Verteidiger, die 
hohe Generalprokuratur und die hohen Richter nicht der 
Pflicht, sich mit der Tat und dem Täter in ihrem organischen 
Zusammenhänge zu befassen, sie begrenzen nur diese grosse 
Aufgabe, und ich werde dieser Grenzen nicht uneingedenk 
sein. Die Person des Täters wird vital tangiert durch den gel¬ 
tend gemachten Nullitätsgrund nach § 344, 355 St.-P.-O. be¬ 
treffend Ablehnung des Antrages der Verteidigung auf Erfor¬ 
schung des Vorlebens und aller anamnestischen Daten, sowie auf 
gerichtsärztlicher Untersuchung der Willensbeschaffenheit des 
Inkulpaten. Ich erblicke hierin den Kernpunkt der Beschwerde, 
mit dem ich mich allein zu befassen habe, während die Aus¬ 
führung der weiteren Nullitätsgründe meinem geschätzten 
Kollegen überlassen bleibt. Dieser Antrag der Verteidigung 
auf gerichtsärztliche Untersuchung des Angeklagten war nach 
meiner vollsten Rechtsüberzeugung in zwingender Weise fun¬ 
diert, die Ablehnung dieses Antrages und die Begründung 
dieser Ablehnung involvieren formell und materiell die kras¬ 
seste Gesetzesverletzung und ich gebe mich der zuversicht¬ 
lichen Hoffnung und dem unerschütterlichen Vertrauen hin, 
der hohe Kassationshof werde den aufiiegenden Rechtsirrtum 
der ersten Instanz gründlich sanieren. 

Die Voraussetzungen des Antrages, die aus dem politi¬ 
schen Milieu der Tat, aus der Person des Täters, aus seiner 
Verantwortung in der Voruntersuchung und bei der Haupt¬ 
verhandlung zu schöpfen sind und auch geschöpft wurden, 
sind folgende: Das ruthenische Volk war und ist von der — 
wenn man will, krankhaften — Massensuggestion ergriffen, 
dass es in seinen politischen Rechten und Freiheiten durch 
die im Lande herrschende Nation der Polen verkürzt werde, 
dass es als Unterdrückte einen Kampf auf Leben und Tod 
gegen die Unterdrücker zu führen habe, denn : ,,Nichtswürdig 
ist die Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre.“ — Die 
Anklageschrift selbst sagt ungefähr: „Die Strömung hat ihr 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 457 — 


gefügiges Werkzeug gefunden in dem empfänglichen Jüngling 
Sitschynskyj.“ Wer aber ist dieser Sitschynskyj, auf den seit 
dem zartesten Kindesalter die übermächtigen Eindrücke und 
Gewalten des nationalen Fanatismus einstürmen? Er ist der 
elfte, eigentlich dreizehnte Sohn einer nervenkranken Mutter, 
deren Psyche u. a. dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich 
des Verbrechens der Anstiftung zum Morde grundlos bezich¬ 
tigt hat. Auch bezeichnet Lombjoso excessive Fruchtbarkeit 
des Weibes als eine Entartungserscheinung. Ein leiblicher 
Bruder des Täters und drei Brüder der Mutter, Offiziere, haben 
alle vier im jugendlichen Alter und ohne äussere Nötigung 
durch Selbstmord geendet. Die gänzliche Verleugnung des 
sonst alle Lebewesen erfüllenden Willens zum Leben, die 
auch in dem Handeln Sitschynskyjs erkennbar ist, scheint also 
hereditär. Das eigene Vorleben Sitschynskyjs ist, ungeachtet 
des darauf zielenden Antrages des Verteidigers, leider uner¬ 
forscht geblieben. Aber nach den bekannten anamnestischen 
Daten regen sich Zweifel an der Unabhängigkeit, an der Frei¬ 
heit seines Wollens und Handelns, Zweifel, die auch der 
strengste Determinist nicht von der Hand weisen kann. Hiezu 
gesellt sich die ausserordentlich wichtige Erkenntnisquelle, die 
in der allerdings knappen persönlichen Verantwortung des 
Angeklagten liegt. 

Vor dem Untersuchungsrichter motiviert Sitschynskyj seine 
Tat folgendermassen: „Ich bekenne mich zu keiner Schuld, 
aber ich gestehe, dass ich Potocki erschossen habe und dass 
ich diese Absicht, ihn zu töten, gehabt habe. Ich bin der An¬ 
sicht, dass jeder Mensch das Recht hat, denjenigen Wegzu¬ 
schaffen, welcher nach seiner eigenen und der allgemeinen 
Ansicht für das allgemeine Wohl schädlich ist. Im Uebrigen 
bin ich ukrainischer Sozialist. Als einen solchen schädlichen 
Menschen habe ich Potocki angesehen, weil er seine Macht 
als Statthalter im Interesse der polnischen Schlachta und über¬ 
haupt der Polen mit Ausschluss der Arbeitspartei zum Nach¬ 
teile des ganzen ruthenischen Volkes und der polnischen 
Arbeiter missbrauchte. ..." — „Der erste Gedanke, Potocki 

mit Tod zu bestrafen entstand bei mir nach der Ermordung 
der Bauern in Ladskie, doch war der Gedanke damals noch 
nicht krystallisiert.“ — „Als ich dann Potocki nach diesem 
Morde in Wien gesehen habe, kam mir der Gedar.ke, dass 
dieser Mann sich unterhalte, während in Ladskie durch sein 
Verschulden gemordet wurde. Dieser Gedanke kehrte mir 
zurück, immer und immer, als ich dasjenige gelesen habe, 
was im politischen Leben vor sich geht. ..." — »Der Tod 
des Kahanez war für mich entscheidend. Ich habe dann im 
Februar 1Q08 den festen Entschluss gefasst, Potocki aus der 
Welt zu bringen. — Den Gedanken, Potocki auf der Strasse 
zu erschiessen, habe ich aufgegeben, um keinen zweiten zu 
treffen.“ — „Ich bereue nicht; behaupte, dass ich recht 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 458 — 


gehandelt habe. Nach dem Tode des Kahanez hat mich dieser 
Gedanke derart beherrscht, dass ich nicht imstande war, mich 
mit etwas anderem zu befassen, oder etwas anderes zu 
denken.“ 

In der Hauptverhandlung sagt Sitschynskyj: „Ich hatte 
keine Absicht zu töten, sondern ich wollte das System treffen; 
Der Tod Potockis ist mir gleichgiltig. Ich sagte wohl in der 
Voruntersuchung, dass meine Absicht auf den Tod Potockis ge¬ 
richtet war, aber als ich die Treppe hinauf ging, war mir das 
gleichgiltig. Ich wollte bloss das Attentat ausüben. Auf die 
Frage des Vorsitzenden: „Warum haben Sie sich als auser¬ 
lesen betrachtet, die Tat zu vollführen“ lautete die Antwort: 
„Weil bei mir alles, was in der Politik vorging, grösseren 
Resonanzboden fand, und nachdem die politischen Fragen in 
unserer Familie grösseren Widerhall fanden.“ Votant Landes¬ 
gerichtsrat Stefanowytsch fragt: „Sie sagen, dass der Gedanke 
Sie verfolgt hat, dass Sie gezwungen wurden von dem Ge¬ 
danken.“ Sitschynskyj: „Ja, ich fühlte, dass mich etwas zwingt. 
Ich fühlte, dass es meine Pflicht war, im Interesse der Ver¬ 
kürzten aufzutreten und mich ihrer anzunehmen.“ Dr. Oku- 
newskyj: „Haben Sie vor dem Attentate geschlafen ?“ Sitschyn¬ 
skyj : „Ja, als ich entschlossen war, habe ich schon geschlafen 
und in dieser Nacht erschien mir mein Bruder und hat mich 
zu diesem Attentate aufgefordert.“ 

Diese Verantwortung Sitschynskyjs im Vereine damit, dass 
die Selbstmordmanie in der Familie des Angeklagten bewiesen 
vorlag, veranlassten den Verteidiger Dr. Okunewskyj, den An¬ 
trag auf Untersuchung der seelischen Beschaffenheit Sitschyn¬ 
skyjs durch Aerzte und auf Erhebung der anamnestischen 
Daten und des Vorlebens des Angeklagten zu stellen. Und 
wenn wir nun alle diese Momente in uns durcharbeiten, wenn 
vor unserem geistigen Auge der mit sich kämpfende Sitschyn¬ 
skyj erscheint, wie angesichts geschichtlicher Vorfälle im Lande, 
parlamentarische Wahlen, die Bauernmorde in Ladskie, Tod 
des Kahanez u. s. w., der Gedanke, den Träger des politischen 
Systems in der Person des Statthalters zu beseitigen, lang¬ 
sam in ihm heranreift, Wurzel fasst, und schliesslich durch 
das Erscheinen des toten Bruders im Traume zur Tat ausge¬ 
löst wird, regen sich da nicht beängstigende Zweifel in un¬ 
serer Brust? Dämmert da nicht der Gedanke an Zwangsvor¬ 
stellungen, an Autosuggestion, an übersinnliche Gewalten, die 
des Richters spotten? 

Der Verteidiger erster Instanz hat seinen Antrag auf 
gerichtsärztliches Untersuchen der Willensbeschaffenheit, was, 
wie ich behaupte, identisch ist mit der Untersuchung des 
Geisteszustandes des Angeklagten, ausser mit den schon 
angeführten Tatsachen, damit begründet, dass nach der Ter¬ 
minologie des polnischen Professors Wachholz hier eine durch 
Nervenzerrüttung hervorgerufene sogenannte „degeneratio im- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 459 — 


pulsiva“ vorliegt, welche die Zurechnungsfähigkeit aufhebt. 
Ich brauche mich mit der Theorie des Professors Wachholz 
durchaus nicht zu identifizieren, zunächst, weil Wachholz den 
Angeklagten nicht untersucht hat, dann weil ich nicht in ähn¬ 
liche Fehler verfallen will, wie der Gerichtshof, der mit Um¬ 
gehung der Aerzt^ die ihm fehlende Qualität besonderer Sach¬ 
kunde sich anmasste. Verpflichtet bin ich aber, darauf hinzu¬ 
weisen, dass ein Symptomenbild vorliegt, welches von hervor¬ 
ragenden Vertretern der psychiatrischen Wissenschaft in eine 
klinische Kategorie gebracht worden ist. Kräppelin (Psychiatrie, 
Verlag Leipzig) spricht von einem Zwangsirresein, wo das 
Krankheitsbild durch Zwangsvorstellungen bei integrer Ver¬ 
standesbegabung charakterisiert ist. Gemütliche Verstimmung 
bildet den Boden, aus welchem Zwangserscheinungen sich 
entwickeln, die zu Impulsionen und Handlungen führen. Die 
endlose Wiederholung peinigender Gedankenreihen löst schliess¬ 
lich mit unwiderstehlicher Kraft verbrecherische Tat aus, wo¬ 
bei das Bewusstsein des unter Zwangsvorstellung Handelnden 
klar ist. Es liegt hier eine Willensstörung vor, die die Zu¬ 
rechnungsfähigkeit ausschliesst. Derselbe Schriftsteller nennt 
noch in dieser Kategorie das „impulsive Irresein“ und ver¬ 
weist darauf, dass in den Strafgesetzbüchern von Italien und 
Spanien die „forza irresistibile“, unwiderstehliche Gewalt, 
welche den Willen des Täters fortreisst, ein Strafausschliessungs- 
grund ist. Schmidtmann: Gerichtliche Medizin, 3. Band, spricht 
von dem „induzierten Irresein“, das er unter geistige Psychosen 
einreiht und erwähnt Zwangsvorstellungen aus Träumen. 
Maschka: Gerichtliche Medizin, erwähnt Zwangsgedanken als 
Impulse formaler Störungen des Vorstellens und erklärt dies 
als eine primäre konstitutionelle Erkrankung, die nicht durch 
Affekte, nicht durch motorische Entladungen ausgelöst wird, 
sondern aus der Tiefe des unbewussten Seelenlebens empor¬ 
steigt und auf dem Wege des Raisonnements zu aggressiven 
Taten führt. Die Erforschung des Vorlebens erklärt Maschka 
in einem solchen Falle als Pflicht der Gerichtsärzte. Das 
Handeln erfolgt nicht aus freiem Wollen, sondern mit Notwen¬ 
digkeit und unter Zwang. Es ist eine Geistesstörung, die 
einen Zwang auslöst. Speziell dieser Schriftsteller liefert den¬ 
jenigen wissenschaftlichen Beweis, welchen die Verteidigung 
braucht, um zu dem Schlüsse zu kommen, dass die Straf- 
ausschliessungsgründe, die unser Gesetzbuch sub § 2a und 
§ 2g normiert, einander nicht ausschliessen, sondern sich 
häufig decken. Das Symptomenbild, welches Maschka von 
den pathologischen Zwangsvorstellungen gibt, trifft mit grösster 
Exaktheit auf Sitschynskyj zu, der, stets bestrebt, an seiner Ver- 
antwortlickkeit für die Tat festzuhalten, doch zugeben muss, 
dass er sich zu seinem Handeln gezwungen fühlte und der, 
ohne es zu wollen, ein Bild entwirft, wie der Tötungsgedanke 
mit progressiver Kraft von seiner Seele Besitz ergreift, den 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 460 — 


Schlaf verscheucht, bis der endlich gefasste und durch die 
Traumerscheinung des Bruders ausgelöste Entschluss ihm die 
.Ruhe wiedergibt. 

Selbstverständlich bringe ich diese wissenschaftichen 
Zitate nicht mit der Prätension des Gelehrten vor, ich nehme 
nicht für mich in Anspruch, dass die Analogie der einen oder 
anderen der erwähnten Krankheitsformen mit dem Fall 
Sitschynskyj zweifellos ist. Für mich genügt es, Zweifel anzu¬ 
regen, oder besser gesagt, auf jene Zweifel hinzuweisen, die 
durch alle hier berührten und aus den Akten hervorgehenden 
Umstände des Falles so stark indiziert sind, dass die Igno¬ 
rierung dieser Zweifel durch die erste Instanz die Vernichtung 
des Urteiles notwendig zur Folge haben muss. Hier, wie so 
häufig, wurde übersehen, dass die Zurechnungsfähigkeit des 
Täters als erste Voraussetzung richterlicher Würdigung wohl 
präsumiert wird, dass diese Präsumption jedoch in dem Augen¬ 
blicke aufhört, wo auch nur der leiseste Zweifel in dieser 
Richtung auftaucht. 

Dies sagt ausser dem allgemeinen Beweisgrundsatze 
deutlich § 134 St.-P.-O., der mit den Worten beginnt: „Ent¬ 
stehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Gebrauch 
seiner Vernunft besitzt oder ob er an einer Geistesstörung 

leidet.so ist jederzeit die Untersuchung des 

Geistes- und Gemütszustandes durch zwei Aerzte zu veran¬ 
lassen.“ 

Das klingt kategorisch imperativ und dieses Gesetz ist 
krass verletzt worden. Seit einer Reihe von Jahren wird im 
Sprengel des Wiener Landesgerichtes kein Mörder vor seine 
Richter gestellt, den nicht vorher die Aerzte auf seine Geistes¬ 
beschaffenheit untersucht hätten. Und hier haben wir einen 
noch in seiner Verirrung edlen Jüngling, der aus durchaus 
altruistischen Motiven handelt, dessen Verbrechen ein guter 
Wahn ist, das 13. Kind einer pathologisch verdächtigen Mutter, 
auch in der Seitenlinie erblich belastet. - Wir sehen ihn mit 
fanatischer Konsequenz bemüht, seine Schuld nicht zu be¬ 
schönigen, sondern sie zu büssen. Und der Gerichtshof geht 
über den so zwingend fundierten Antrag der Verteidigung 
mit einer hohlen Formel hinweg. Keine Vertagung, kurzer 
Prozess und Todesurteil! Dieser Formel, mit welcher der 
Gerichtshof den Antrag auf Untersuchung des Angeklagten 
durch Aerzte zurückgewiesen hat, wollen wir nun zu Leibe 
gehen. 

Das Interlokut sagt: „Der unwiderstehliche Zwang nach 
§ 2 St.-G. erfordert eine Einwirkung von aussen, ausserhalb 
der Sphäre des Individuums, beispielsweise die Drohung einer 
dritten Person, Gewalt, welche von ihr ausgeübt wird, Ele¬ 
mentarereignisse, überhaupt das, was die Situation bringt, in 
welcher der Täter wählen muss zwischen Aufopferung eigenen 
Wohl es und Verletzung anderer Rechte. Die Verteidigung hat 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 




— 461 — 


keine Tatsache angeführt, welcher dieser Begriff des Zwanges 
entsprechen würde. Diese Anträge bezwecken, den Beweis zu 
führen, dass dem Angeklagten die Autonomie des Willens 
fehlte. Aber solche psychische Momente können nur dann von 
Belang sein, wenn es sich um Sinnesverwirrung, lit. a, oder 
vorübergehende Sinnesverwirrung, lit. b., handelt. Es folgt 
nun ein Passus, in welchem aktenwidrig behauptet wird, dass 
die Verteidigung sich gegen den psychopathischen Standpunkt 
verwahrt habe. Von einer solchen Verwahrung seitens der 
Verteidigung kommt im ganzen Akte nichts vor. Das Gegen¬ 
teil ist aus S. 54 des stenographischen Protokolls zu ent¬ 
nehmen. Die Verteidigung hat mit gutem Grunde die Frage der 
Geistesstörung im engeren Sinne offen gelassen, und es muss 
an dieser Stelle gegen eine solche Methode des Gerichtes 
energisch Verwahrung eingelegt werden 

Der Sinn des Interlokutes ist also nur der, dass unwider¬ 
stehlicher Zwang identisch sei mit Notstand, hervorgerufen 
durch äussere Gewalt, die von der Verteidigung nicht behauptet 
wurde. 

In dieser Begründung sind zwei Rechtsirrtümer zu unter¬ 
scheiden. Ein Augenblick ruhigen Nachdenkens genügt, um 
zu zeigen, dass jeder Zwang, der ein Handeln auslöst, nur 
durch das Medium der Psyche, durch das Hervorrufen eines 
inneren Zustandes, wirken kann. Der unwiderstehliche Zwang 
ist stets und unbedingt ein Seelenzustand, gleichviel ob die 
Veranlassung in der Aussenwelt, dem Makrokosmos, oder im 
Menschen selbst, dem Mikrokosmos liegt. Ein einfaches Bei¬ 
spiel macht dies vollkommen klar: Drückende Armut, die mich 
dem Hungertode preisgibt, erzeugt zweifellos einen Notstand, 
der im Sinne des § 2 g St.-G. auch von diesem hohen 
Kassationshof als strafausschliessend anerkannt worden ist. 
Allein wer vermag zu unterscheiden, ob der Hunger eine 
Gewalt von aussen oder von innen ist? Dass aber die Be¬ 
einflussung der Willenssphäre hier wie immer den Weg durch 
die Seele nimmt, ist sonnenklar. 

ln einer Zeit, in welcher die Lehre des Monismus, des 
einheitlichen Aufbaues der Welt in ihren organischen und 
anorganischen Elementen, des Zusammenhanges von Kraft 
und Stoff, von Geist und Materie, von Gott und Welt, die 
Köpfe aller Gebildeten beherrscht, ist überhaupt die Unter¬ 
scheidung zwischen äusserem und innerem Zwang eine über¬ 
holte Schulmeisterweisheit. Von äusserem Zwang im Sinne 
der angefochtenen Entscheidung könnte man nur dann sprechen, 
wenn der Mensch durch mechanische Gewalten als Werkzeug 
eines Verbrechens benützt wird, dann hört er aber auf, Subjekt 
des Verbrechens zu sein. 

Es macht den Eindruck, dass dem Lemberger Schwur¬ 
gericht die Judikatur des Kassationshofes vorgeschwebt hat, 
aber dies in missverständlicher Auffassung. Der hohe Kassa- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 462 — 


tionshof sagt in seiner Entscheidung, Sammlung Nr. 2138, es 
falle nicht unter den Gesichtspunkt des § 2 lit. g St.-G., 
sondern könne als Geltendmachung einer Geisteskrankheit zu 
beachten sein, wenn der Angeklagte für ausserordentlichen 
Zwang sich nicht auf von aussen kommende Nötigung, son¬ 
dern auf unwiderstehlichen, durch eine Wahnvorstellung ei- 
zeugten Krankheitstrieb beruft.“ Dieser Standpunkt ist ja ganz 
richtig in diesem Sinne, dass da, wo die Behauptung einer 
Geisteskrankheit klar ist, die Zitierung von 2a näher liegt, 
als 2g.; schliesst aber diese Entscheidung aus, dass Beein¬ 
flussungen des Willens ohne sichtbare äussere Veranlassungen 
nach § 2g qualifiziert werden können ? Dies folgt aus der 
gegenständlichen Entscheidung keinesfalls, wie aus deren 
näherer Betrachtung sich sofort ergeben wird, ln diesem Falle 
hatte sich ein der Veruntreuung Angeklagter darauf berufen, 
dass er zum Lottospiel verleitet worden sei durch die un¬ 
widerstehlich treibende Wahnvorstellung, dass er gewinnen 
müsse. Diese Anführung genügte, um die gerichtsärztliche 
Untersuchung zu veranlassen, welche, den Trieb auf Leichtsinn 
zurückführend, das Voi liegen einer die Willensfreiheit auf¬ 
hebenden Zwangsvorstellung verneinte und das Gericht lehnt 
nicht nur die Zusatzfrage, sondern auch den Antrag auf gerichts¬ 
ärztliche Untersuchung mit der Begründung ab, dass sich die 
Behauptung der Verteidigung mit dem Begriffe des unwider¬ 
stehlichen Zwanges nicht decke. 

Wenn nun der Kassationshof über die von dem Ver¬ 
teidiger wegen der Rechtsbelehrung des Vorsitzenden er¬ 
griffene Nichtigkeitsbeschwerde erklärt: „Nach der Art der 
von dem Angeklagten eingeschlagenen Verantwortung waren 
nur die Gerichtsärzte zur Untersuchung berufen, ob der vom 
Angeklagten behauptete Trieb sich als Geisteskrankheit erklären 
lässt und daher seine Willensfreiheit aufgehoben habe“, so 
steht dieser hohe Kassationshof gerade auf dem entgegen¬ 
gesetzten Standpunkt des Schwurgerichtshofes Lemberg. Die 
Verteidigung unterwirft sich vollständig der in der Entscheidung 
Nr. 2138 dargelegten Anschauung des Kassationshofes, dass 
eben zur Entscheidung der Frage die Gerichtsärzte berufen 
seien. Die Auffassung des Gerichtshofes, dass der indizierte 
Seelenzustand des Angeklagten eine Zwangslage nach § 2g 
St.-G. nicht involvieren könne, weil der Motor nicht von 
aussen kommt, ist somit rechtsirrtümlich. 

Allein es ist dies nur ein müssiger Schulstreit, wenn das 
Meritum des Antrages der Verteidigung ins Auge gefasst wird. 
Dr. Okunewskyj sagte: „Im Hinblicke auf die erbliche Be¬ 
lastung des Angeklagten, im Hinblicke darauf, dass derselbe 
selbst von einem Zwangsgedanken spricht, der ihn zu der 
Tat trieb, im Hinblicke auf die Traumerscheinung soll der 
Angeklagte durch Aerzte untersucht und sein Vorleben erforscht 
werden.“ Dass der Verteidiger seine persönliche Meinung 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



-v 


— 463 — 

dahin ausspricht, es liege der Verdacht mangelnder Willens¬ 
autonomie nach § 2g vor, rechtfertigt die Ablehnung des 
Antrages nicht, wenn auch der indizierte Seelenzustand nicht 
den Voraussetzungen des § 2g, sondern denen des 2a oder 
b entsprechen würde. 

Prinzipiell hat dies der hohe Kassationshof unter anderem 
in der Entscheidung Nr. 901 folgendermassen erklärt: „Der 
Gerichtshof hat den durch die Sachlage indizierten Strafaus- 
schliessungsgrund auch dann zu beachten, wenn der Beschul¬ 
digte sich nicht auf denselben beruft.*' Umsomehr muss dies 
gelten, wenn der Verteidiger sich auf einen solchen Strafaus- 
schliessungsgrund in motivierter Weise beruft und es m^cht 
hier keinen Unterschied, wenn dieser Strafausschliessungs- 
grund nach Anschauung des Gerichtshofes nicht die Willens¬ 
sphäre, sondern die des Intellektes betrifft. 

Es ist Sache des Gerichtes, die ihm richtig scheinende 
Qualifikation rechtlich relevanter Tatsachen vorzunehmen, und 
das Gesetz in diesem Sinne anzuwenden. Durch die Ablehnung 
des Antrages ist das Gesetz insbesondere im § 3 St.-P.-O. 
verletzt worden. Es kann aber von einem Irrtum der Ver¬ 
teidigung keine Rede sein. 

Wenn einmal der Antrag auf Untersuchung des Inkulpaten 
durch Gerichtsärzte gestellt wurde, ist zwischen Wille und 
Intellekt überhaupt nicht zu unterscheiden. Die Strafprozess¬ 
ordnung spricht im § 134 von Untersuchung des „Geistes¬ 
und Gemütszustandes“ und hat dabei selbstverständlich auch 
den Willen als Funktion der Seele im Auge. Deutlich geht 
dies hervor aus dem Gebote dieser Gesetzesstelle, dass die 
Aerzte sich über den Einfluss auszusprechen haben, welchen 
die Krankheit auf die „Vorstellungen“, „Triebe“ und „Hand¬ 
lungen“ des Beschuldigten geäussert hat. Vorstellungen und 
Triebe wirken auf den Willen des Menschen, wie auf seinen 
Intellekt und die atomistische Methode, welche die einzelnen 
Seelenfaktoren auseinanderlegt, ist ebenso unwissenschaftlich, 
wie im vorliegenden Falle gesetzwidrig. 

Die viel umstrittene Theorie von der Gehirnlokaiisation 
beweist nichts für die angefochtene Entscheidung, wäre weit 
eher für den Standpunkt der Verteidigung heranzuziehen. Die 
Zwischenentscheidung glaubt sich schliesslich zu salvieren mit 
einem: „Uebrigens sind überhaupt keine Voraussetzungen für 
eine Untersuchung des Inkulpaten gegeben.“ Dieses „übrigens“ 
sollte aus der Justiz verschwinden. Es stellt sich regelmässig 
ein, wo Gründe fehlen, und beweist nur die Unsicherheit, um 
nicht zu sagen, das schlechte Gewissen einer Entscheidung, die 
an sich selbst nicht glaubt. Der Beweis der Zurechnungsfähigkeit 
ist im vorliegenden Falle vom Staatsanwalte zu erbringen. Die auf¬ 
tauchenden Zweifel wurden nicht verscheucht und somit wurde 
ohne Recht und Gesetz über ein junges blühendes Leben die 
Vernichtung ausgesprochen. Man hat sich beeilt, einen jugend- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 464 - 


Eichen Schwärmer nach kurzer Verhandlung dem Tode zu 
weihen, obzwar die Vertagung der Verhandlung nicht nur nach 
dem Gesetze geboten, sondern auch durch die Klugheit geraten 
war. Nie wird der Zweifel aus der Bevölkerung schwinden, 
•dass die Justiz nicht vorsichtig genug war in einem Falle, der, 
von der Parteien Hass und Gunstverwirkt, zur Gewissensfrage 
der österreichischen Justiz geworden ist. 

Meine Herren vom hohen Kassationshof! Wir, die Juristen, 
sprechen in törichter Selbstüberhebung von Erforschung der 
„materiellen Wahrheit!“ Aber nach Wahrheit können wir nur 
streben, wir werden sie nie erreichen; denn die Wahrheit von 
heute ist nicht die Wahrheit von morgen. Aber eine Zynosur 
hat der Richter, die ihm ausser seinem Gewissen festen Halt 
bietet und in deren Spuren wandelnd, er niemals ausgleitet: 
Die gesetzlichen Formen des Verfahrens. Werden diese be¬ 
achtet, so triumphiert das Recht. Wo sie verletzt werden, tritt 
Willkür an die Stelle des Gesetzes. 

Durch das hier erörterte Zwischenerkenntnis des Schwur¬ 
gerichtshofes. aber auch durch das ganze Verfahren bei der 
Hauptverhandlung, insbesondere durch die Ablehnung der 
sonstigen Anträge der Verteidigung wurde das Gesetz viel¬ 
fach in krasser Weise verletzt. Der Fall, welcher weit über 
die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus die Aufmerksamkeit 
der gesamten Kulturwelt auf sich gezogen hat, ist nun an die 
Zentralstelle der österreichischen Justiz gelangt, von welcher, 
wie von unserem Kaiser, alle Völker und alle Parteien das 
gleiche Recht erwarten. Wenn es wahr ist, dass Sitschynskyj 
nach allen vorliegenden Umständen von einem deutschen Ge¬ 
richt ohne die bis jetzt fehlende Grundlage gerichtsärztlicher 
Expertise nicht abgeurteilt worden wäre — und dafür lege 
ich die Hand ins Feuer — dann durfte auch der polnische 
Gerichtshof diese gesetzliche Kautele nicht ignorieren. 

Schon warten die Vertreter der psychiatrischen Wissen¬ 
schaft ungeduldig darauf, die Galerie krimineller Geisteskranken 
zu bereichern durch das Bild des Jünglings Sitschynskyj. der, 
nach qualvollen inneren Kämpfen, vom Schlafe geflohen, 
nachtwandlerisch unwiderstehlich getrieben, auszog, eine innere 
Mission zu vollstrecken. Der Fall unterliegt der Kontrolle der 
Wissenschaft, der Weltgeschichte, die das Weltgericht ist. 

Schützen Sie sich meine Herren vom hohen Kassations¬ 
hof davor, dass das Weltgericht die Judikatur des österreichi¬ 
schen Kassationshofes korrigiere. Rechtfertigen Sie das Ver¬ 
trauen, welches heute von Millionen in Sie gesetzt wird und 
vernichten Sie ein Urteil, welches das Gesetz und das Rechts¬ 
gefühl in seinen Elementen verletzt hat. 

JO* 

tr 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



Rundschau. 


Hw de« galixUchcn Caidtage. 

Die Aktion der ruthenischen Abgeordneten wurde eingeleitet durch 
die Erklärung des Obmannes, Dr. Olesnitzkyj, die Vertreter- 
des ruthenischen Volkes betrachten den Landtag von Galizien in seiner 
jetzigen Zusammensetzung für eine Uebergangsinstitution, als welche 
er auch gedacht war, und welche als ein Anachronismus unfähig ist, 
die nationalen Bedürfnisse der Ruthenen zu befriedigen. Dessenunge¬ 
achtet verzichten die ruthenischen Abgeordneten nicht auf ihr Recht und 
ihre Pflicht, die ihnen gebührenden Rechte hier zu fordern. Im Sinne dieser 
Erklärung wurde der Antrag Dr. Olesnitzkyjs auf Einführung des all¬ 
gemeinen, gleichen Wahlrechtes für den Landtag gestellt. Ferner ist be¬ 
sonders hervorzuheben der Antrag des Abg. Dr. K. Lewitzkyj, 
betreffend die Regelung der Verhältnisse des ruthenischen Mit¬ 
te 1 s c h ul w e s e n s, welches jetzt mit dem Ausnahmsgesetze vom 
22. Juni 1867 dem Landtage ausgeliefert ist. Die neueinzuführenden 
Schulen sollten die Vortragssprache jener Bevölkerung haben, welche 
in dem betreffenden Bezirke mehr als 50°/ o beträgt. —Abgeordneter Dr. 
Makuch trat gegen die Beschränkung in der Aufklärung der Volks¬ 
massen auf, als welche die Teilung der Volksschulen in solche städti¬ 
schen und Dorftypus erscheint. — Drei Abgeordnete, Dr. Olesnitz¬ 
kyj, Kyweluk und Staruch stellten besondere Anträge auf Er¬ 
richtung ruthenischer Gymnasien in Stryj, Sambor und Bere- 
z a n y. Solche Anträge wurden bisher in der Regel abgeleimt. Inter¬ 
essant ist, wie sich der Landtag zu dem loyalen Anträge des Abg. Dr. 
Olesnitzkyj stellt, welcher die Gründung eines Kaiser-Jubiläums 

Gymnasiums in Stryj beantragt. Die anderen ruthenischen 

Anträge betreffen Angelegenheiten wirtschaftlicher Natur. 

Der Hrcbiologeakongress in Cscbernibow und die Ukrainer. 

Seit dem Jahre 189iJ geben die alle drei Jahre sich wiederholenden 
archäologischen Kongresse in Russland Anlass zu ukrainisch-nationalen 
Manifestationen. Im genannten Jahre fand der russische Archäologen¬ 
kongress in Kijew statt. Die Kijewer ukrainischen Gelehrten, denen 
es bekanntlich laut Ukas von 1876 in Russland verboten war, sich der 
ukrainischen Sprache zu wissenschaftlichen Zwecken zu bedienen, stellten 
die Forderung auf. man solle den ukrainischen Gelehrten aus Galizien, 
als „der russischen Sprache unkundig“, erlauben, ihre Referate in 
ukrainischer Sprache zu lesen. Dadurch sollte der Gelehrtenkongress 
gegen die Proskribierung der ukrainischen Sprache zu wissenschaftlichen 
Zwecken protestieren. Indessen wurde dem bescheidenen Verlangen der 
Ukrainer nicht stattgegeben und gleichsam zum Hohn beschlossen, 
ukrainische Referate nur in geheimen Sitzungen, an 
denen überdies nicht mehr als 25 Personen teilnehmen dürften, 
zuzulassen. In Anbetracht dessen zogen sich die ukrainischen Gelehrten 
von der Teilnahme am Kongress zurück. Zum nächsten, in Charkow, 
also abermals auf dem ukrainischen Territorium, abgehaltenen Kongress 
der Archäologen wurde die Repräsentantin der ukrainischen Wissen- 


Di gitizetl by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 466 ~ 


Digitized by 


Schaft, die Schewtschenko -Ge Seilschaft der Wissen, 
schäften“ überhaupt nicht eingeladen, infolgedessen auch die ein¬ 
geladenen ukrainischen Gelehrten ausblieben. An dem, 
wieder in der Ukraine, inJekaterinoslaw, stattgefundenen Archäo¬ 
logenkongress im Jahre 1905 nahm die ukrainische Frage eine sehr 
ernste Wendung. Die ukrainische Sprache wurde auch jetzt nicht zu¬ 
gelassen und zweihundertneunzig Personen blieben? 
nachdem sie einen schriftlichen Protest gegen die 
Ignorierung der ukrainischen Sprache eingelegt 
hatten, dem Kongress fern. Am Kongress nahmen bloss 
hundertsechs Personen teil. Auch von dem nächstfolgenden, heuer 
vom 14.— 28. Aug. stattgefundenen Archäologenkongress in Tschernihow 
sahen sich die ukrainischen Gelehrten veranlasst, sich zurückzuziehen. 
Zwar stand jetzt das nicht mehr verpflichtende Sprachverbot der 
ukrainischen Sprache nicht mehr im Wege, aber eine neue Provokation 
bedeutete die Nichteinladung der Ukrainischen Gesellschaft 
der Wissenschaften in Kijew. Als die zum Kongress ein - 
geladene ukrainische Schewtschenkogesellschaft der Wissenschaften ihr 
Verlangen dahin äusserte, dass auch die Kijewer ukrainische wissen¬ 
schaftliche Gesellschaft eingeladen werde, erhielt sie merkwürdigerweise 
zur Antwort, „dass der Tschernihower, sowie überhaupt alle archäo¬ 
logischen Kongresse in Russland sich ausschliesslch mit wissenschaft¬ 
lichen Arbeiten befassen sollen, dagegen eine Erörterung politi¬ 
scher Fragen nicht zugelassen werde!“ ... Die Folge davon war 
das Fernbleiben der Ukrainer auch von diesem Kongresse. 

Die nationalrussische Presse ist über die Abstinenz der ukraini- 
nischen Gelehrten äusserst empört. Das „N o w oj e W rem ja“ schreibt, 
dass ukrainische Referate angeblich schon auf früheren Kongressen 
gelesen worden seien, dass jedoch „die ukrainischen Gelehrten in 
wissenschaftliche Referate Tendenzen und Annahmen politischen 
Charakters hineinschmuggelten, die nichts mit der Wissenschaft 
zu tun haben“, und der „K i j e w 1 a n i n“ ärgert sich vor allem des¬ 
wegen, weil die Wahl des Ortes für den letzten Kongress nur Dank 
den Bemühungen der Ukrainer, welche auf dem Jekaterinoslawer Kongress 
die Mehrheit hatten, auf das ukrainische Tschernihow gefallen sei- 
Nun veranstalteten sie einen „Exodus“ und bereiten sich zu einem 
selbständigen Kongress vor. 

Der Prozm SiczynsKvi vor dem k. k. Kassatlonebof in Wien. 

Das Glück, welches die Polen in Wien nie verlassen hat, liess 
sie erst an der Schwelle des Wiener Gerichtes im Stich. Den fatalen 
Anfang machte die bekannte Verhaftung von 80 ruthenischen Studenten mit 
deren Folge, dem Hungerstreik der Verhafteten, welche dann über Befehl 
der obersten Justizbehörde in Wien sämtlich auf freien Fuss gesetzt 
während die Angelegenheit selbst dem Wiener Gerichte anver¬ 
traut wurde. Dieses verurteilte im ganzen fünf der Angeklagten zu 
je einem Monat Arrest - ein lächerlich geringes Strafausmass im Ver¬ 
gleich mit der Drohung der polnischen Justiz, die als Rädelsführer 
bezeichneten, welche, nebenbei bemerkt, sämtlich frei ausgingen, mit 
der Minde3tsrafe von fünf Jahren zu bestrafen und noch mehr mit den fünf 


Gck igle 


Original frorn 

INDIANA UNfVERSITY 



- 4457 


Jahren Untersuchungshaft, welche alle Verhafteten zusammengenommen 
absassen. — Die zweite Schlappe war die Verurteilung des polnischen 
Schriftstellers Henryk Sienkiewicz im Mai d. J. für die Verleumdung 
der obgenannten ruthenischen Studenten zu einem Monat Arrest. Dies 
war ein furchtbarer Schlag für die polnische Gesellschatt, in welcher 
H. Sienkiewicz den absolut ersten Platz einnimmt. Der polnische Lands¬ 
mannminister, an den seitens der Ankläger mit dem Vorschlag heran¬ 
getreten wurde, gegen eine Abbitte von der Anklage zurücktreten zu 
wollen, entgegnete lächelnd, es sei doch nicht anzunehmen, dass die 
Wiener Bürger den Verfasser von „Quo vadis“ verurteilen würden. Der 
polnische Minister hat nicht darauf geachtet, dass die Wiener Bürger 
nicht den Romanschriftsteller, sondern den Verleumder richten sollten. 

Die Aufhebung des von dem polnischen Schwurgerichte in Lem¬ 
berg gegen Siczynskyj gefällten Todesurteiles durch den k. k. Kassations¬ 
hof in Wien am 2. September 1908 war aber gewiss der wuchtigste 
Schlag für die polnische Justiz. Das Motiv zu dieser Entscheidung 
des k. k. Kassationshofes lag darin, dass das Lemberger Schwurgericht 
den Antrag der Verteidigung Siczynskyjs auf Untersuchung des Geistes¬ 
zustandes des Angeklagten durch Sachverständige abgelehnt hatte, wo¬ 
durch „Grundsätze des Verfahrens hintangesetzt und 
Rechte der Verteidigung beeinträchtigt wurden. u 

Die Verkündigung dieses Beschlusses erfolgte nach den aus¬ 
gezeichneten Verteidigungsreden der beiden Verteidiger Dr. Richard 
Pressburg er und Dr. Th. Okunewsk y j. Was immer für eine 
Wendung die neu stattzufindende Verhandlung nimmt, der Erfolg der 
Verhandlung vor dem Kassationshof bleibt ein kolossaler. 

t^lstoi und das ukrainische Cicd. 

Die Kiewer „Rada a bringt Erinnerungrn eines Theologen, Herrn 
W. S. an einen Besuch bei Tolstoj in Jasnaja Polana, denen wir folgende 
Zeilen entnehmen : 

„.Nach dem Nachtmahl gingen wir mit der Familie Tolstojs 

in das Empfangszimmer hinüber. Wahrscheinlich aus unserem stark 
gebrochenen Russisch schloss der Hausherr, dass wir aus der „gott¬ 
gesegneten“ Ukraine gebürtig sind und schlug vor, uns mit einem 
ukrainischen Liede erfreuen zu dürfen. Wir schmachteten schon lange 
nach den Heimatsklängen, weil wir doch mehr als zwei Jahre nicht in 
der Ukraine gewesen waren. Auf unsere Bitte trat eine Tochter oder 
Nichte Tolstojs herein und begann unter Klavierbegleitung Lieder über 
unsere heimatlichen Steppen und über die Kosakenfreiheit zu singen. 
Und je länger die Melodien unserer Lieder ertönten, desto mehr ver¬ 
klärte sich das Gesicht des Dichters, desto vertiefter wurde der Ausdruck 
seiner Augen. Die Klänge der Lieder ergossen sich freilich nicht so 
gefühlvoll, wie es bei einer Ukrainerin der Fall gewesen wäre, aber 
auch trotz der fehlerhaften Aussprache und der grossrussischen Ak¬ 
zentuierung konnte man den Sinn festhalten. Als die Sängerin ermüdet 
aufhnrte, erwachte Tolstoj gleichsam aus einem angenehmen Traum; 
er drückte uns stark die Hände und sprach: „Glücklich seid Ihr, 
dass Ihr einem Volke angehört, einem Volke mit einer 
so reichen Seele, welches seine Gedanken, seine 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




— 468 - 


Träume und Gefühle so herrlich ausdrücken kann; 
wer solche Lieder hat, dem braucht um seine Zukunft 
nicht bange zu sein; dessen Zeit ist nicht hinter den 
Bergen. Ihr könnt es glauben oder nicht, keines 
Volkes Lieder liebe ich sosehr, wie die Eueren. Bei 
ihren Klängen ruht meine Seele aus; soviel Schönheit 
und Grazie, soviel starkes, junges Gefühl, soviel 

Kraft ist in ihnen!“. Lange noch sprach er vom 

ukrainischen Lied. 



Bdchcreinlauf. 

Th. H. Pantenius. Geschichte Russlands von der Entstehung 
des russischen Reiches bis zur Gegenwart. (Mit einer Karte). R. Voigt- 
länders Verlag, Leipzig 1908. 

Scotus Viator. Politische Verfolgungen in Ungarn. C. W. Stern 
Verlag, Wien und Leipzig 1908. 

Deutsche Siedelungen in Galizien. Gezeichnet von 
Joset Schmidt. Masstab 1:1,200.000. Herausgegeben vom „Deutschen 
Volksblatt für Galizien“, Przemysl 1908. 

Lesj Medobirskyj. Pohasfo switto. Dumky. Drukamia UdiJowa, 
Lemberg 1908 (ukrainisch). 

Iwan Szpytkowskyj. Materiafy do kolijiwstschyny. Separat¬ 
abdruck aus den „Mitteilungen der Schewtschenko-Gesellschaft der 
Wissenschaften“ in Lemberg 1908 (ukrainisch). 

S o I o t o und andere Erzählungen. Herausgabe des Aufklärungs- 
Vereines „Proswita“, Lemberg 1908 (ukrainisch). 

Jaroslaw Lopatynskyj. „Posir!“ Galopp für Klavier. 
Musik-Verlag „Torban“, Lemberg 1908. 


* 


Heue mit der Ukrainischen Rundschau in tausclwer» 
kehr getretene Zeitschriften. 

Volnä Myslenka (Organ der tschechischen Freidenker), 
Monatsschrift, Jahrgang IV, Augustnummer. Red. Julius Myslik, Prag. 

Volnääkola (Freie Schule), Monatsschrift, Jahrgang IV, August¬ 
nummer. Red. Dr. Th. Bartoäek, Prag. 

Havlicek (volkstümliches Freidenkerorgan), Monatsschrift, 
I. Jahrgang, Nr. 2, Prag. 

Oesterreichische Wochenschrift (Dr. J. S. Blochs), 
Zentralor^an füT die gesamten Interessen des Judentums, Nr. 39, Wien. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




Ukrainische 

Rundschau. 

Herausgeber und Redakteur: UP. Ruschnir. 

UT. Dabrgang. 19©$. Rümmer 11. 

(llacMr«ck säütiicher Artikel mit aeiaeer Quelleuaugahe gestattet) 


Ula$ nun? 

Die nationalen Antagonismen wären in Oesterreich 
schon genug zugespitzt, auch wenn die Leichen in Berg¬ 
reichenstein und Laibach nicht gefallen wären. Galizien sollte 
die Ehre erspart bleiben, allein der Ort des Blutvergiessens 
zu sein. Und erst neulich wiederum machte sich der nationale 
Hass im böhmischen Landtage in Tätlichkeiten Luft. Hatte 
der Ruthene Batschynskyj im Reichsrat in sehr gerechtfertigter 
Erregung einen Pultdeckel zertrümmert und ein Stück Holz 
blind vor sich hingeworfen, so dass er den ahnungslosen 
Slovenen verwundete (das wurde damals von Berufenen und 
Unberufenen durch ziemlich abgeschmackte Hinweise auf 
kulturelle Unterschiede glossiert), so lagen sich im böhmischen 
Landesparlamente Deutsche und Tschechen tatsächlich in 
den Haaren und das geschleuderte Tintenfass und die aus¬ 
geholte Faust des tschechischen Abgeordneten trafen zweck¬ 
bewusst ihre Opfer. 

Recht sonderbar muss es berühren, dass, während unsere 
Monarchie gerade letzthin Kraft und Entschlossenheit nach 
aussen hin an den Tag gelegt hat, während von aussen Kriegs¬ 
getöse zu uns herüberschallt, im Innern des Reiches an allen 
Ecken und Enden der Bürgerkrieg losbricht. Recht ungesunde 
Verhältnisse. Und trauriger noch als -dies berührt es, dass 
dieser Zustand nicht erst von gestern datiert, dass unser 
Staat seit einer langen Reihe von Jahren von der auflösenden 
Krankheit verzehrt wird, ohne dass die Leiter des Reiches 
den Versuch wagen, eine radikale Kur vorzunehmen. Die 
Maxime: „Teile und herrsche!“ vermochte bisher der einzig 
gesunden Erkenntnis nicht Platz zu machen, dass das Wohl 
des Reiches nicht in der Züchtung der ewigen Unzufriedenheit 
unter den zusammengesperrten Nationen, sondern in der 
Aufhebung der die einzelnen Völker trennenden Grenzen 
liegt, wodurch die heutigen Völkerkäfige, historisch geheiligte 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 






— 470 


Digitized by 


Kronländer genannt, zu bestehen aufhören und die Teilung 
der Völker nach ihrer natürlichen Zusammengehörigkeit 
eintreten würde. Traurig genug, dass den Leitern des Reiches 
die Erkenntnis, welche noch der erste österreichische Reichstag 
vor 60 Jahren zum Beschlüsse erhob, welche sich des 
Reaktionären Bach bemächtigen konnte, ein unbeschriebenes 
Blatt zu sein scheint. 

Die Anzeichen mehren sich, dass das System des 
Fortfrettens doch sein Ende, dass die nationale Frage eine 
Lösung finden muss, wenn der allgemeinen Auflösung ge¬ 
steuert werden soll. Und so erscheint der Ruf nach nationaler 
Autonomie als das zeitgemässeste Schlagwort. 

Aber während die Anhänger der verschiedenen histo¬ 
rischen Staatsrechte und der Länderautonomie ihre Forderungen 
in der lärmendsten Form vertreten, begegnet man im Lager 
derjenigen, in deren Lebensinteresse die Durchführung der 
nationalen Selbstverwaltung liegt, einer Uneinigkeit, welche 
oft den Vorwurf des Partikularismus nicht ausschliessen 
lässt. Von diesem Gesichtspunkte erscheint uns das irn 
folgenden besprochene Buch „Das neue Oesterreich“ als 
Sammlung von Ansichten der Vertreter aller Völker Oester¬ 
reichs von besonderem Interesse. Die in gleichem Sinne 
gehaltenen Ansichtsäusserungen der Tschechen, die sich 
über alle Verstösse gegen die Logik und Gerechtigkeit, nicht 
aber über politische Vernunft und nationalen Egoismus hin¬ 
wegsetzen, flössen Respekt ein; der Lokalpatriotismus der 
deutschen Alpenländler, demzufolge sich „der Steirer, Kärntner, 
Deutschtiroler in erster Linie als solcher und erst in zweiter 
als Deutscher und Oesterreicher fühlt“ — ist höchstens 
rührend. Man fragt sich: würde denn dem Steirer und 
Deutschtiroler jemand verwehren, auch dann Steirer und 
Deutschtiroler zu bleiben und auf seine engere Heimat 
stolz zu sein, wenn der eine seine nationalen, kulturellen 
und wirtschaftlichen Geschäfte gesondert vom Slovenen, der 
andere vom Italiener erledigen wird ? Liegt denn überhaupt 
schon in der Bezeichnung Deutsch-Tiroler nicht die 
Richtschnur für die in Behandlung stehende Frage? 

Wohl erklärt sich sonst die erdrückende Mehrheit der 
deutschen Stimmen kategorisch für die einzig gesunde Auf¬ 
fassung der Dinge, aber es klingt anderseits in manchen 
der Aeusserungen ein unbegreiflicher Pessimismus heraus, 
welcher keineswegs die Zier eines Politikers genannt werden 
kann. Wer war vor nicht mehr als drei Jahren nicht Pessi¬ 
mist inbezug auf die Einführung des allgemeinen Wahl¬ 
rechtes in Oesterreich? Die eingetretenen Tatsachen machten 
den Pessimismus zuschanden. 

Die Schar der Anhänger der Reform im Sinne der 
nationalen Autonomie setzt sich aus der grossen Mehrheit 
der Völker Oesterreichs zusammen. Italiener, Slovenen, 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



Kroaten, Rumänen und vor allen anderen die Ruthenen 
wünschen eine solche herbei. Die Sozialdemokratie aller 
Völker Oesterreichs wies ihr einen Platz.in ihrem Programme 
zu; sie liegt aber gewiss auch im ausgesprochenen Interesse 
der Deutschen und so wollen wir hoffen, dass, wenn der 
richtige Moment kommen sollte, die grosse Idee das deutsche 
Volk wie einen Mann auf ihrer Seite finden wird. 

—r. 


Oie nationalen Uerbältnitte in Cemberg und anderen 
ostgaliniscben Städten« 

Von Wladimir Kuschnir. 

Dank dem Zuflusse der polnischen Bureaukratie in Ost¬ 
galizien, hauptsächlich aber dem Umstande, dass fast das 
ganze jüdisch-deutschen Jargon sprechende Judentum Gali¬ 
ziens (ca. 630.000 auf die Gesamtzahl von 811.183), welches 
hauptsächlich in den Städten wohnt, der polnischen Nation 
zugezählt wird, haben die meisten ostgalizischen Städte den 
äusserlich polnischen Charakter. Es ist aber festzustellen, dass, 
wenn die Zahl der Juden von jener der Polen abgerechnet wird, 
die letzteren kaum in einem Drittel der ostgalizischen Städte und 
Städtchen (69 gegen 195 sämtlicher) die relative Majorität d. h. 
über die Ruthenen allein haben ; eine absolute Majorität, d. h. 
über die Ruthenen und Juden haben sie ausser in der Haupt¬ 
stadt nur in Peremyschl, Jaroslau und Sambor, was dadurch 
zu erklären ist, dass Peremyschl und Jaroslau in den an 
das allpolnische Westgalizien angrenzenden Bezirken liegen, 
welche übrigens mehr als ein Viertel polnische Bevölkerung 
haben, Lemberg aber, als Landeshauptstadt und Zentrum 
der polnischen Bureaukratie schon vor Jahrhunderten zur 
Zeit des selbständigen Polen, mit den gewaltigsten Mitteln 
polonisiert wurde.*) Im Allgemeinen kann gesagt werden, 
dass die Polen eigentlich nur in denjenigen Städten und 
Märkten Ostgaliziens eine beträchtlichere Einwohnerzahl 
bilden, in denen sich Verwaltungsämter und Gerichte be¬ 
finden, wo sie auch durchschnittlich 25% der Bevölkerung 
ausmachen. Wenn wir die grössten, also solche Städte und 
Städchen Ostgaliziens in Berücksichtigung ziehen, die mehr 
als 10.000 Einwohner haben, in denen aber das polnische 
Element aus den genannten Gründen am stärksten ver¬ 
treten ist, so ergibt sich, dass die Polen ausser den vier 
genannten Städten, wo sie in absoluter Mehrheit sind, nur 
in der Stadt Horodok allein die relative Majorität über die 
Ruthenen und Juden im besonderen haben. In den Städten 
Stanislau, Kolomea, Brody, Stryj, Buczacz und Berezany 
überragen die Polen die Ruthenen an der Zahl, stehen aber 

*) Vergleiche Artikel: „Die Apostel der aufrichtigen und gänzlichen 
Verbrüderung 4 ' von Wassil Rudenskyj. Ukrainische Rundschau Nr. 10. 


Digitized by 


Go», gle 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 



- 472 - 


unter der Zahl der Juden ; dagegen gibt es mehr Ruthenen 
als Polen, weniger aber als Juden in Tarnopol, Drohobycz 
und Zolocziw; mehr Ruthenen als Polen und Juden im be¬ 
sonderen, also relative ruthenische Majorität in Sniatyn, 
mehr Ruthenen als Juden und Polen zusammengenommen, 
also absolute ruthenische Majorität inHorodenka Und Jaworiw. 

Der hohe Prozentsatz der Ruthenen in den letztgenannten 
drei Städten war auch die Ursache, dass sie in die durch 
die neue Wahlreform für den Reichsrat geschaffene Städte¬ 
kurie nicht aufgenommen wurden, wie überhaupt den 
Ruthenen kein städtisches Mandat zugewiesen wurde. Nach¬ 
stehende Tabellen geben das zahlenmässige und prozentuelle 
Verhältnis der ruthenischen Bevölkerung in den ostgalizischen 
Städten mit der Einwohnerschaft über 10.000 an. Die An¬ 
gaben betreffend die Angehörigen der griechisch-katholischen 
Kirche sind als Korrektur der Rubrik über die Umgangs¬ 
sprache zu betrachten, nachdem die Zugehörigkeit zur 
griech.-kath. Kirche sich durchaus mit der ruthenischen 
Nationalität deckt, ebenso wie die Zugehörigkeit zu der 
röm.-kath. Kirche in Galizien für die polnische Nationalität 
bestimmend ist. Die Differenz zwischen den Angaben über 
die ruthenische Umgangssprache und griech.-kath. Konfession 
in der Statistik ist vor allem auf Rechnung der tendenziös 
durchgeführten Volkszählung zu setzen. 


Bevölkerungsverhältnis nach Konfession.*) 


Stadt 

Ein¬ 

wohner¬ 

zahl 

Röm.- 

kath. 

Israel. 

Andere 

Konfess. 

Griech.- 

kath. 

absolut 

Griech. 

kath. 

proztl. 

Lemberg 

159.877 

82.597 

44.258 

3695 

29.327 

18% 

Peremyschl 

46.295 

21.320 

14.109 

446 

10.420 

23% 

Kolomea 

34.188 

9518 

16.568 

1449 

6653 

20% 

Tarnopol 

30.415 

8244 

13.493 

95 

8583 

28% 

Stanislau 

30.410 

9563 

14.106 

699 

5952 

20% 

Stryj 

23.205 

7628 

8647 

652 

6278 

27% 

Jaroslau 

22.660 

12.228 

5705 

270 

4457 

20% 

Drohobycz 

19.432 

5005 

8683 

69 

5675 

29% 

Brody 

17.361 

3ß17 

11.912 

40 

2092 

12% 

Sambor 

17.039 

8882 

4900 

39 

3218 

19% 

Horodok 

11.845 

4285 

3610 

24 

3926 

33°/« 

Zofocziw 

11.842 

3032 

5401 

53 

3356 

28% 

Buczacz 

11.756 

3078 

6730 

— 

1948 

16% 

Horodenka 

11.613 

1259 

4255 

43 

6056 

52% 

Sniatyn 

11.500 

1977 

4203 

424 

4896 

43% 

Berezany 

11.443 

4150 

4395 

293 

2605 

24% 

Jaworiw 

10.092 

1078 

2846 

8 

6160 

62% 


*) Die Daten der beiden Tabellen sind entnommen dem offiziellen 
„Gemeinde-Lexikon“ für Galizien über den Stand der Bevölkerung 
im Jahre 1!'()(). Die Daten über das prozentuelle Verhältnis -hat uns 
Dr. Wladimir Ochrymowytsch gütigst zur Verfügung gestellt. 


Digitizetf by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



Bevölkerungsverhältnis nach den Umgangssprachen.*) 


Stadt 

Ein¬ 

wohner¬ 

zahl 

Poln. 

Deutsch 

ändert 

Sprach. 

Ruth. 

absolut 

Ruth. 

pratL 

Lemberg 

159.877 

120.634 

20.409 

759 

15.15*.* 

9*/. 

Peremyschl 

46.295 

35.259 

2930 

873 

6688 

147. 

Kolomea 

34.188 

16.506 

9956 

100 

7419 

227. 

Tarnopol 

30.415 

18.808 

2877 

385 

7880 

267. 

Stanislau 

30.410 

23.319 

2265 

485 

4071 

137. 

Stryj 

23 205 

17.728 

695 

6 

4588 

207. 

Jaroslau 

22.660 

19.269 

893 

208 

1448 

67. 

Drohobycz 

19.432 

7205 

6705 

8 

5454 

287. 

Brody 

17.361 

6412 

8569 

1 

1721 

107. 

Sambor 

17.039 

13.494 

1267 

20 

2197 

13% 

Horodok 

11.845 

8306 

132 

14 

3379 

29% 

ZoJocziw 

11.842 

8392 

300 

18 

3077 

267. 

Buczacz 

11.756 

8948 

395 

— 

2391 

207. 

Horodenka 

11.613 

5657 

1 

— 

5932 

517. 

Sniatyn 

11.500 

1883 

4547 

7 

5036 

447. 

Berezany 

11.443 

8969 

242 

121 

2080 

19% 

Jaworiw 

10.092 

2051 

1927 

— 

6098 

617. 


Vor allem fällt hier der in mancher Stadt bedeutende 
Unterschied zwischen den Angaben über ruthenisch Sprechende 
und die Angehörigen der griechisch-katholischen Konfession 
auf, der sich in Lemberg gar zum unmöglichen Verhältnis 
wie l : 2 erhebt. Dies ist um so verwunderlicher, wenn wir 
dies Verhältnis an der Hand der Angaben über das Kon- 
fessions- und Sprachenverhältnis für das ganze Land prüfen. 
In Galizien gab es im Jahre 1900 7,315.939 Einwohner, da¬ 
von röm.-kath- 3,345.780, griech.-kath. 3,108.972, Israeliten 
811.183. Das Verhältnis nach den Umgangssprachen war 
folgendes: zur polnischen Umgangssprache**) bekannten sich 
3.982.033, zur ruthenischen 3,080.543, zur deutschen 212.327, 

*) ln dieser Tabelle entsprechen die Gesamtzahlen der Einwohner 
nicht den Summen der Angaben über die verschiedenen Umgangssprachen, 
nachdem bezüglich dessen nur die Einheimischen berücksichtigt werden; 
so weist die Rubrik über andere Sprachen tür Galizien Tschechen, 
Italiener und andere Angehörige der österreichischen Nationalitäten, 
nicht aber auch Franzosen, Engländer usw. auf. 

**) Von der Zahl der „polnisch Sprechenden“ (3,982.033) sind ab¬ 
zurechnen die 630.000 Juden, die in die Rubrik über die polnische Um¬ 
gangssprache aufgenommen wurden und tatsächlich einen deutsch¬ 
jüdischen Jargon sprechen und die über 200.000 zählenden Ruthenen 
römisch-katholischen Ritus, die von den Polen als Polonisierungsmaterial 
betrachtet werden und bei den Volkszählungen eigenmächtig als „polnisch 
sprechend“ bezeichnet werden. Hiezu gehörten auch die deutschen 
Kolonisten latein. Konfession, die im Volksmunde den bezeichnenden 
Namen „polnische Deutsche“, im Gegensatz zu „protestantischen 
Deutschen“ tragen und in der Regel zu den Polen gerechnet werden. 
Bei den Volkszählungen in Galizien genügt die Angabe über die latein. 
Konfession auch für die Umgangssprache, die dann notwendigerweise 
polnisch ist. Ich selbst war Zeuge davon, wie Ruthenen lateinischer 
Konfession bei der allgemeinen Volkszählung vom Jahre 1900, die nach 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 474 - 


zu anderen Sprachen 9800. Wenn man die Daten über die An¬ 
gehörigen der griech.-kath., in Galizien als „ruthenisch“ 
bezeichneten Konfession (8,108.972) mit derjenigen der sich 
zur ruthenischen Umgangssprache Bekennenden (3,080.543) 
vergleicht, so ergibt sich, dass schon nach Abrechnung der 
ungefähr 50.000 sich zur ruthenischen Umgangssprache 
bekennenden Juden*), hauptsäcfmchlich in den Dörfern, kaum 
jeder vierundvierzigsteGriechisc h-K atholische 
das Polnische als Muttersprache angegeben hat, 
während in Lemberg angeblich auf 100 Angehörige 
der griechisch-katholischen Konfession 50 
die polnische Sprache gebrauchen sollen! Das Ten¬ 
denziöse und Unmögliche eines solchen Verhältnisses liegt 
wohl klar auf der Hand. Man kann schon daran, als einem 
, Schulbeispiele, erkennen, wie zuverlässig die polnische Volks¬ 
zählung ist. Wir wüssten eine Erklärung für diese Er¬ 
scheinung: Es handelt sich den Herren darum, den polnischen 
Charakter der galizischen Landeshauptstadt zu erhalten. Zu 
dem Zwecke wird die ruthenische Dienstbotenklasse vou 
ihren polnischen Arbeitsgebern eigenmächtig als polnisch 
sprechend bei der Volkszählung angezeigt, und auch 
die ruthenische Amtsdienerschaft wird zur Angabe der pol¬ 
nischen Nationalität beeinflusst; es ist notorisch, das bei¬ 
spielsweise die ganze zahlreiche griechisch-katholische 
(ruthenische) Dienerschaft beim Lemberger Magistrat als 
polnisch gilt. Im täglichen Leben begegnet man aber solchen 
Individuen so gut wie überhaupt nicht. 

Abgesehen davon ist die Lage der Ruthenen in den 
grössten ostgalizischen Städten bei weitem nicht so un¬ 
günstig, wie dies, nach der Umgangssprache geurteilt, 
scheinen könnte. Noch weniger ungünstig stellt sich das 
Verhältnis dar, wenn wir sämtliche Städte und 
Städtchen Ostgaliziens, deren es im Jahre 1900 im Ganzen 
195 gab, in Berücksichtigung ziehen. Davon waren solche 
Städte und Märkte, in denen die Griechich-Katholischen 
(also Ruthenen) die absolute Majorität über die 
ganze Einwohnerzahl hatten, 51; solche, in denen sie unter 
der christlichen Bevölkerung die Mehrheit ausmachten, 75; 
zusammen 126 Städte und Märkte mit dem 
Uebergewichte der griechisch-katholischen (ruthe¬ 
nischen) Bevölkerung über die römisch-katholische 
(polnische). Solche Städte und Märkte, in welchen die 


Angabe ihrer kirchlichen Zugehörigkeit um die Umgangssprache nicht 
betragt, eine solche selbst angaben, mit der Bemerkung abgefertigt 
wurden, sie würden eben darum nicht gefragt . . . Dagegen werden An¬ 
gehörige griech.-kath. Kirche, sobald sie nur städtisch gekleidet waren, 
peinlichst befragt, ob sie nicht polnisch sprechen. Anm. d. Verf. 

*) Diese Zahl, sowie die der sich zur polnischen, bzw. deutschen Um¬ 
gangssprache bekennenden Juden wird erhalten durch Wahrscheinlich¬ 
keitsrechnung. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 475 - 


Römisch-Katholischen (die Protestanten mit inbegriffen) mehr 
zählten, als die Griechisch-Katholischen gab es 69*). 

Diese für die Ruthenen günstigen Verhältnisse werden 
erhalten, wenn der Zahl der Polen die der Juden abge¬ 
rechnet wird, aus welchem Grunde auch die Anerkennung 
der jüdischen Nationalität im Interesse der Ruthenen liegt. 

Des Zusammenhanges wegen geben wir folgende Tabelle, 
entlehnt Dr. Ochrymowytsch. mit Veranschaulichung der 
Zunahme des ruthenischen Elementes in den grössten ost- 
galizischen Städten wieder: 

der % der 

griech. kath. ruth. sprech.**) 


im Jahre 

1869 

1880 

1900 

1880 

1900 

Lemberg 

14 

16 

18 

6 

9 

Peremyschl 

18 

21 

23 

8 

14 

Kolomea 

16 

18 

20 

19 

22 

Tarnopol 

24 

24 

28 

23 

26 

Stanislau 

14 

15 

20 

9 

13 

Stryj (Abnahme) 

31 

31 

27 

31 

20 

Jaroslau 

20 

22 

20 

5 

6 

Drohobycz 

28 

26 

: 9 

21 

28 

Brody 

7 

7 

12 

5 

10 

Sambor 

12 

15 

19 

4 

13 

Horodok 

34 

30 

33 

7 

29 

Zolocziw 

21 

25 

28 

19 

26 

Buczacz (Abnahme) 

19 

18 

16 

26 

20 

Horodenka (Abnahme) 

53 

45 

52 

53 

51 

Sniatyn 

39 

54 

43 

38 

44 

Berezany 

20 

22 

24 

10 

19 

Jaworiw 

62 

63 

62 

52 

61 

* 



* 




* 

In der Hauptstadt Galiziens, Lemberg, bilden die Polen 
wie erwähnt, die absolute Majorität, d. h. sogar nach Ab¬ 
rechnung der Juden. Jedenfalls machen auch hier die Ruthenen 
eine nicht gering zu veranschlagende Minorität aus (über 
29.000 Einwohner, also 18% der Gesamtbevölkerung), welche 
jedoch die Polen gewaltsam majorisieren. Der äussere 
Charakter der Stadt, welche ihren Ursprung den ruthenischen 
Fürsten Daniel und Lew (Leo), daher Lwiw(Leopolis, Lemberg), 
verdankt, welche im ruthenischen Lande liegt und das 
Zentrum des kulturellen und politischen Lebens der Ruthenen 
ist, ist ganz polnisch. Die Gassen tragen nicht nur aus¬ 
schliesslich polnische Aufschriften, sondern sie sind auch 
durchwegs nach Namen aus der polnischen Geschichte und 
Literatur benannt, Wohl gibt es einige Gassen in Lemberg, 

*) Diese Daten wurden uns treundlichst von Dr. W. Ochry¬ 
mowytsch mitgeteilt. 

**) Bei der Volkszählung von 18b9 wurde die Umgangssprache 
nicht berücksichtigt. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



476 - 


welche ruthenische Namen tragen, diese sind aber in den 
entlegensten und schmutzigsten Partien der Stadt zu suchen* 
und dies eher zum Hohn und Spott als zu Ehren ihrer 
Träger. Zu „Ehren“ Schewtschenkos ist ein Nebengässchen 
bezeichnet worden, welches sich an der äussersten Peripherie 
der Stadt befindet, im ganzen einige Hausnummern zählt, 
kein Trottoir besitzt, gar nicht gepflastert wird und daher 
den Eindruck einer Mistablagerungsstätte macht. Es wurde vor 
einigen Jahren als ein Kuriosum in der literarwissenschaft- 
lichen Monatsschrift „Literaturno naukowyj Wistnyk“ pho¬ 
tographiert, als ein wertvolles Dokument für nachfolgende 
Generationen, als ein Beweis, wie die Polen die Genies des 
Brudervolkes in Ehren hielten. Ein noch grösseres Kuriosum 
ist das Seitengässchen, welches den Namen des Begründers 
der Stadt trägt. Es ist dies die Lwia-Gasse (Leo-Gasse) am 
Fusse des stolz über die Stadt hervorragenden Lew-Berges, 
wo das Schloss der ruthenischen Herrscher stand. Sie ist 
zweimal so gross wie die Schewtschenko-Gasse, in einem 
der schmutzigsten Stadtteile gelegen und bildet das Zentrum 
des Lemberger Prostituiertenviertels. Jede Hausnummer in 
dieser Gasse birgt ein öffentliches Haus. 

In seinem Chauvinismus geht der ausschliesslich 
polnische Gemeinderat soweit, dass er trotz alljährlich 
wiederholter Bitten um einen Platz für das Denkmal Schew¬ 
tschenkos diese bisher absolut nicht berücksichtigt hat. Ein 
ruthenisches Denkmal darf in Lemberg nicht erstehen. 
Polnische Denkmäler gibt es hier aber auf Schritt und 
Tritt, sie werden besonders in letzter Zeit fieberhaft errichtet, 
um so den polnischen Charakter der Stadt für immer zu 
assekurieren. Im vorigen Jahre aber wurde ein Denkmal 
Schewtschenkos, welches eventuell hätte auf einem für die 
Öffentlichkeit zugänglichen Privatgrund errichtet werden 
können, aus dem Keller des Hauses der Ruthenischen Pä¬ 
dagogischen Gesellschaft gestohlen und sollte in einen Teich 
geworfen werden. Glücklicherweise wurden die Täter bei 
ihrem Vorhaben überrascht. 

Den polnischen Charakter Lembergs bestimmt der 
Lemberger Gemeinderat. Er widersetzt sich allen Forderungen 
der Ruthenen inbezug auf die minimalsten Zugeständnisse 
nationaler und kultureller Natur. 

So widersetzte er sich vor 20 Jahren lange Zeit der 
Errichtung einer ruthenischen Volksschule in Lemberg, die 
erst im Wege des Rekurses an das Ministerium errungen 
wurde. Und als dann die ruthenische Schule gewährt 
werden musste, so wurde sie in einem alten, höchst 
ungesunden und schmutzigen Gebäude untergebracht. 
Ueberdies machte sie der Gemeinderat zu einer gemischten 
Schule (bestimmt für Knaben und Mädchen) — alles dies, 
um die ruthenische Schuljugend von der Schule abzu- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 477 — 


schrecken. Die weiteren Gesuche und Bestrebungen der 
ruthenischen Bevölkerung, nach Teilung dieser Schule in 
eine besondere Knaben- und Mädchenschule, sowie nach 
Errichtung neuer ruthenischer Volksschulen, wenigstens 
einer in jedem Stadtteile sind erfolglos geblieben. So müssen 
29.000 ruthenische Einwohner Lembergs mit einer einzigen 
Volksschule vorlieb nehmen, obzwar der Mangel an rutheni¬ 
schen Volksschulen auch von den Ruthenen aus der Provinz, 
die ihre Kinder gerne in eine Lemberger Schule schicken 
möchten, schwer empfunden wird. Dies alles in einer Stadt, 
wo abgesehen von einem öffentlichen ruthenischen Gymnasium 
ein weibliches ruthenisches Gymnasium, eine ruthenische 
Lehrerbildungsanstalt und eine ruthenische Bürgerschule 
bestehen und aus privaten Mitteln erhalten werden. 

Der Lemberger Gemeinderat besteht durchwegs aus 
Polen ; da kennen die Herren gar keine Kompromisse. Ein 
Ruthene darf natürlich nicht in ihre polnische Wirtschaft 
hineinschauen. In der letzten Kadenz gab es auf 100 Ge¬ 
meinderäte zwei ruthenische Strohmänner u. zw. Gewerbe¬ 
treibende aus Lemberg, mehr Katholiken griech. Ritus als 
National-Ruthenen, übrigens Mitglieder der polnischen Städte¬ 
partei. Aber die beiden hatten als ehrliche Leute den Mut, 
während der verflossenen Kadenz manche ihnen von ver¬ 
schiedenen ruthenischen Institutionen übermittelte Be¬ 
schwerden vorzubringen. Nun wurde daraufhin bei den 
letzten Gemeinderatswahlen die Parole ausgegeben, keinen 
Ruthenen, überhaupt kein „griechisch-katholisches“ Indivi¬ 
duum in den Gemeinderat zuzulassen. Bezeichnend für die 
polnische politische Moral ist folgende Geschichte. Die 
ruthenische Organisation hätte noch vor den Landtags¬ 
wahlen eiu Kompromiss mit der ausschlaggebenden pol¬ 
nischen Städtepartei geschlossen, demzufolge die Ruthenen 
die Landtagskandidaten dieser Partei, diese dagegen drei 
Kandidaten der ruthenischen Organisation in den Gemeinde¬ 
rat (nur soviel Stellen wurden von seiten der letzteren statt 
der den Ruthenen prozentuell zukommenden 18 beansprucht) 
unterstützen sollte. Nun, was geschah ? Die Ruthenen hielten 
ihr Wort, die Polen brachen es eben. In der letzten Zeit vor 
den Gemeinderats wählen wurde polnisch erseits die Parole 
ausgegeben, keinen einzigen Ruthenen in den Gemeinderat 
zuzulassen. Diese Parole wurde auch genau eingehalten: 
kein einziger Ruthene wurde in den Lemberger Gemeinderat 
zugelassen, nur lauter Polen und Juden. 

Gewiss wird ein solcher Zustand noch eine Zeitlang 
dauern, denn noch immer halten die Polen das Heft in der 
Hand, noch immer widersetzen sie sich der Schaffung der» 
Industrie im Lande, vor allem im östlichen Teile Galiziens, 
u. a. auch darum, dass das ruthenische Element in den 
Städten nicht etwa durch den Zufluss ruthenischer Land- 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



478 — 


bevölkerung gestärkt werde. Trotzdem ist diese Stärkung 
der ruthenischen Städtebevölkerung nicht zu hemmen. 

Noch mehr polnische Beamten können die Polen nicht 
mehr nach Ostgalizien importieren; die Versetzung der 
ruthenischen Beamten. Lehrer, Amtsdiener, Gendarmen, 
Finanzwachleute etc. erweist sich jetzt schon nicht mehr 
als ein Vorbeugungsmittel gegen die Ruthenisierung der 
ostgalizischen Städte. Die natürliche Zuströmung in die 
Städte, auch in die Hauptstadt, lässt sich nun einmal nicht 
aufhalten, ruthenische Institutionen, die das gesamte Leben 
der galizischen Ruthenen, das politische, kulturelle und 
wirtschaftliche in sich vereinigen und einen ständigen Ver¬ 
kehr zwischen Land und Stadt bedingen und eine immer 
grössere Anzahl von Arbeitskräften beschäftigen, tragen das 
ihrige dazu bei.*) Diese Institutionen sind ein Zeichen der 
allmählichen Ruthenisierung der ostgalizischen Städte und 
der Hauptstadt. Eine grosse Bedeutung hätte für Lemberg die 
Gründung einer ruthenischen Universität, welche die Polen 
mit allen Mitteln zu hintertreiben suchen.**) 

*) Diese Institutionen konzentrieren sich in Lemberg, welche 
Stadt folgende Vereine und Gesellschaften beherbergt: a) Kredit- 
V e r e i n e : Landes-Revisionsverband, reg. Gen. m. b. H.; Landes- 
Kreditverband; Kredit-Gesellschaft „Dnister“, reg. Gen. m. b. H. ; 
Landes-Kreditverein für Beamte und Geistliche, reg. Gen. m. b. H. ; 
b) Handels - und Gewerbevereine: „Narodna Torhowla“, reg. 
Gen. m. b. H.; Frauen-Gewerbeverein „Trud“, reg. Gen. m. b. H.; land¬ 
wirtschaftlicher Verein „Silskyj Hospodar“; Parzellierungsgesellschaft 
„Semla“, reg. Gen. m. b. H.; Gesellschaft für Handel- und Industrie 
„Sokilskyj Bazar“, reg. Gen. m. b. H.; Verein zur Pflege derruth. Kunst, 
reg. Gen. m. b. H.; „Narodna Hostynnycia, Hotel Genossenschaft m. 
b. H.; Ukrainische Verlagsgesellschaft, Gen. m. b. H.; c) Ver¬ 
sicherungsgesellschaften: „Dnister“, wechselseitige Ver¬ 
sicherungsgesellschaft. d) Auf klär ungs-, wissenschaftliche, 
Musik - und Wohltätigkeitgesell schalten: Aufklärungs¬ 
verein „Proswita“ ; Schewtschenko-Gesellschaft der Wissenschaften ;Ruth. 
pädagogische Gesellschaft; Ruth. Volksinstitut „Narodnyj-Dom“ ; Stauro- 
pigianisches Institut; Privat-Gymnasium für Mädchen mit Oeffentlich- 
keitsrecht; Mädcheninstitut der Basilianerinnen; Schul unterstützungs¬ 
vereine „Schkilna Pomitsch“ und „Ruslan“; mehrere ruth. Schülerheime 
und ein Studentenheim; ruth. Geselligkeitsverein „Ruska Besida“ (er¬ 
hält ein ruth. Wandertheater); „Kotlarewskyj-Verein zur Pflege der 
dramatischen Kunst“; Theater-Bau-Komitee; Verband der Gesangs-und 
Musikvereine, Höheres Musik-Institut; Gesangsvereine „Lwiwskyj Bojan“ 
und „Banduryst“ ; Turnverein „Sokil“ ; Rutheninnenklub zum Schutze 
der Dienstmädchen ; Verein für Kinder-Ferienkolonien ; Verein „Ruth. 
Kinderheim“ ; Ukrainerinnenverein für Selbstbildung ; „Osnowa“, Verein 
der Studenten der Polytechnik; Universitätsstudentenverein „Sitsch“ ; 
Ruth, akademischer Unterstützungsverein ; „Wilna Hromada“, 'Verein 
der ruth. sozialistischen Studenten; Handwerkerverein „Zorja“ ; „Narodna 
Litschnycia“ für ambulatorische Behandlung für arme Kranke; Gesell¬ 
schaft des heil. Petrus für Kirchenbau u. a. 

**) Um die Bewahrung des polnischen Charakters der Landes¬ 
hauptstadt besorgt, überhaupt Gegner der Gründung einer ruthenischen 
Universität, erklären sich die Polen bereit, den Ruthenen zur Ruthe¬ 
nisierung der deutschen Universität in Czernowitz zu helfen oder sie 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 479 - 


Wie aus einer der angeführten Tabellen ersichtlich, 
wächst das ruthenische Element, in den kleinen Städten dem 
polnischen weitaus überlegen, in den grösseren Städten Ost¬ 
galiziens zwar langsam, aber beständig an, so dass die 
vollständige Wiederruthenisierung derselben nur eine Frage 
der Zeit ist. Freilich präsentiert sich das Verhältnis in der 
Landeshauptstadt am wenigsten günstig; nichtsdestoweniger 
jedoch verlieren die Ruthenen die Hoffnung nicht, dass die 
galizische Hauptstadt dem Lose Prags nicht entrinnen 
wird. Dies kommt je rascher, je früher die Ruthenen in den 
Genuss der ihnen gebührenden Rechte auf ihrem Boden 
kommen. 


Die ukrainische Schule im polnischen üoch. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 

X. Der Unterricht in den galizischen Mittel¬ 
schulen. 

Ein erspriesslicher Unterricht setzt entsprechende Schul¬ 
bücher voraus; aber mit den ruthenischen Schulbüchern ist 
es sehr traurig bestellt. Es gibt im ganzen sechs ruthenische 
Mittelschulen in Galizien und für eine so geringe Anzahl 
zahlt es sich nicht aus, Schulbücher im eigenen Verlage 
herauszugeben. Da sollten Schulfonds und andere Subsidien 
zu Hilfe kommen, so wie dies überall geschieht, nur freilich 
nicht für die Ruthenen in Galizien. Diese erhalten weder eine 
Hilfe in Form von Geldunterstützungen, noch durch Urlaube 
für eventuelle Verfasser. Es melden sich ja viele ruthenische 
Lehrer mit fertig geschriebenen Handbüchern, doch will die 
polnische Behörde die selbständig verfassten ruthenischen 
Handbücher nicht approbieren und nimmt höchstens solche 
an, die als Uebersetzung aus polnischen Handbüchern vor¬ 
gelegt werden ; so geschieht es, dass es heute in ruthenischen 
Schulen keine Handbücher für folgende Gegenstände 
gibt: Physik für obere Klassen, Psychologie, altruthenische 
Chrestomathie, Wörterbücher für Latein und Griechisch, 
Zoologie für obere Klassen, Landesgeschichte für untere 
usw. . . . Von dem Werte der polnischen Schulbücher, welche 
den ruthenischen Schulen aufgezwungen werden, ist es schade 
viele Worte zu verlieren. Ueberall muss das Lob des 
historischen Polen gesungen werden. Die Handbücher 
für Mineralogie, Botanik, Zoologie oder Geologie, gebraucht 
in Kolomea und Sniatyn, an der Grenze der Bukowina. 

überlassen ihnen zum Zwecke der Gründung einer ruthenischen Uni¬ 
versität das am südöstlichen Zipfel Galiziens befindliche Städtchen 
Kolomea. Jedoch sind beide Projekte für die Ruthenen überhaupt nicht 
diskutierbar. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 480 — 


Digitized by 


befassen sich sehr viel mit Naturprodukten in Posen, 
Preussisch-Schlesien oder dem Warschauer Gebiete, enthalten 
aber nicht ein einziges Wort über die benachbarte Bukowina. 
Also sogar in solchen Handbüchern, welche die rein realen 
Gegenstände behandeln, wird der grosspolnische Staat „von 
Meer zu Meer“ verherrlicht. So werden auch die Schul¬ 
bibliotheken mit allerlei literarischem Schund vollgestopft, 
wenn nur der polnisch-chauvinistische Geist darin vor¬ 
herrscht, und die Jugend wird gezwungen, ihre Seele mit 
dieser schändlichen, angeblich privaten, in Wirklichkeit aber 
Zwangsliteratur zu vergiften. So müssen z. B. auch die 
ruthenischen Schulkinder die Werke eines Sienkiewicz, 
durchdrungen vom allpolnischen Hass gegen das Ruthenen- 
tum, in denen die ukrainische Vergangenheit in lügnerischer 
Weise dargestellt und entstellt wird,*) deren Verfasser von 
dem Wiener Gerichte als Verleumder gebrandmarkt wurde, 
lesen. 

Man benötigte ein eigenes Studium, um den Charakter 
der polnischen Literatur und der darauf begründeten Schul¬ 
bücher, hauptsächlich die der polnischen Sprache, genau 
kennen zu lernen; wir wollen uns hier aber nur sehr kurz 
fassen. Die Teilung Polens zu Ende des 18. Jahrhunderts 
war gewiss ein wuchtiger Schlag für die Polen, insbesondere 
für ihre Schlachta. Ebenso wie ein grosses Unglück den 
Menschen zur Verzweiflung bringt, so riefen diese 
politischen Schläge einen krankhaften Zustand bei der 
damaligen polnischen Schlachzizenklasse hervor; dieser 
krankhafte Zustand spiegelt sich grell in der polnischen 
Literatur ab. Die Mehrzahl der polnisch-literarischen Werke 
des 19. Jahrhunderts bewegen sich in der Bahn des so¬ 
genannten „Messianismus“; danach sei Polen der für die 
Sünden der Völker der ganzen Welt zu Tode 
gemarterte (lieber Leser, lache nicht!) Christus; 
ebenso, wie der zu Tode gemarterte und beerdigte Christus 
auferstanden ist, so werde auch einmal Polen auferstehen 
und eine Gottesherrschaft auf Erden einführen, nachdem es 
alle anderen Völker niedergerungen haben werde 1 . . . 

Das zweite Merkmal der polnischen Literatur ist der 
grenzenlose Chauvinismus; alle polnisch-literarischen 
Werke sind voll von revolutionären Phrasen und hohlen 
Racherufen gegen die feindlichen Teilungsmächte; zur Ver¬ 
teidigung des Vaterlandes sei alles gestattet, sogar der 
Verrat („Konrad Wallenrod“ von Mickiewicz) und ihr 
Chauvinismus trifft sogar den lieben Herrgott: „Rache dem 
Feind, Rache! Mit Gott oder ohne Gott!“ („Dziady“ von 
Mickiewicz.) Dies alles muss die ruthenische Jugend lernen 

*) Vergleiche den Artikel von Professor Antonowytsch „Henryk 
Sienkiewicz als Romanschriftsteller“ in der „Ukrainischen Rundschau“ 
Nr. 5, 8 und 9. 


Go^ 'gle 


Original from 

[INDIANA UNIVERSITY 



481 — 


und dass sie sich das auf ihre eigene Art auslegt, dafür 
haben wir Beweise aus der jüngsten Vergangenheit. Von 
der polnischen Jugend sollte man eigentlich lieber 
ganz schweigen. In keinem Lande Oesterreichsbegeht die Mittel¬ 
schuljugend soviel Exzesse, wie die polnische in Galizien. 
Wir erinnern nur an die polnische National-Gendarmerie, 
welche das Raubattentat auf den Grossgrundbesitzer Goetz 
Okocimski ausgeführt hat, an die Gassenkrawalle vor dem 
deutschen Konsulat in Lemberg nach der Wreschener 
Geschichte oder das Fenstereinschlagen an ruthenischen 
Häusern nach dem Attentate auf den Statthalter Potocki; 
bei all’ dem ging sie straflos aus. 

Den ärgsten chauvinistischen Geist sprühen aber die 
Handbücher für Geschichte; in den galizischen 
Mittelschulen besteht seit jeher der ausserobligate Gegenstand 
„Heimats-Geschichte“. Ausserobligat ist aber dieser Gegen¬ 
stand nur auf dem Papier; kein Schüler wagt es, diesen 
Gegenstand etwa nicht zu frequentieren, da er sonst aus der 
allgemeinen Geschichte absolut keine gute Note bekommen 
würde. Aus der Bezeichnung des Gegenstandes mit „Heimats¬ 
geschichte“ spricht aber Hohn; die Geschichte Galiziens 
sollte dem historischen Gange nach aus drei Perioden, der 
ruthenischen, polnischen und österreichischen bestehen. 
Tatsächlich ist das Handbuch aber so abgefasst, dass es 
eigentlich die Geschichte Polens darstellt; sogar in der 
österreichischen Periode wird viel von den polnischen Auf¬ 
ständen 1881 und 1863 erzählt. Nun wolle man aber beachten, 
dass auch in ruthenischen Gymnasien zum Unterrichte in 
der Heimatsgeschichte dasselbe Handbuch in ruthenischer 
Uebersetzung verwendet werden muss. Eine solche Behandlung 
der österreichischen Geschichte im österreichischen Staate 
führt dazu, dass sogar an Hof-Festtagen die polnischen 
Schüler in den Kirchen an Stelle der Volkshymne singen: 

Gott erhalte, Gott beschütze 

Unser Polen, unser Land. 

(Bo2e wspieraj, Boze ochron naszq Polsk§ i nasz kraj)*) 
Dies hindert ihre Väter allerdings nicht, in Wien in einem- 
fort zu beteuern: „Bei Dir, o Herr, stehen wir und wollen 
wir stehen !“ . . . 

Was die Didaktik selbst anbelangt, so bemerken wir, 
dass die Lehrpläne in Galizien überall gleich sind, deren 
Ausführung aber sehr verschieden. Schon zu Direktoren 
und Inspektoren werden für ruthenische Mittelschulen 
strengere Leute ernannt, als für diejenigen, welche von Polen 
allein frequentiert werden. Im polnischen Westgalizien war 

*) Dies war z. B. am 28. Juni 1902 in Tarnow und im Herbste 
desselben Jahres im polnischen Gymnasium zu Peremyschl der Fall; 
jetzt ist diese Sitte überall in Galizien ganz und gäbe, so dass die 
Zeitungen keine Notiz mehr davon nehmen. 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 482 — 


Digitized by 


längere Zeit der jetzige Abgeordnete German tätig; seine 
Schulvisitationen endigten gewöhnlich mit Unterhaltungen, 
an denen ausser dem Inspektor noch der Direktor und auch 
die. jüngsten Lehrer teilnah men. Solche Visitationen Hessen 
angenehme Erinnerungen nicht nur bei den Lehrern, sondern 
auch bei den Schülern zurück. Anders geht eine Visitation 
in Ostgalizien, sowohl in ruthenischen. als auch in polnischen 
Mittelschulen, welche auch von Ruthenen besucht sind, vor 
sich. Hier ruft ein Bes ;ch des Inspektors eine fieberhafte 
Angst, nicht nur in der Anstalt selbst, sondern auch in der 
Stadt hervor. Die Pflicht des Schulinspektors besteht hier in 
erster Reihe darin, zum Bezirkshauptmann und den „Ver¬ 
trauensmännern“ zu gehen und Informationen über das 
politische Gehaben des Direktors (falls dieser den Mut hat. 
sich zur ruthenischen Nation zu bekennen), des Lehrkörpers 
und der Schüler einzuholen; gleichzeitig nimmt er einen 
Berg Anzeigen an den Landesschulrat mit auf den Rückweg. 
Eine solche, angeblich pädagogisch-didaktische Visitation 
gleicht eher einer polizeilichen Untersuchung auf politischer 
Grundlage; der Schulinspektor in Ostgalizien ist mehr ein 
Polizeibeamter, als ein Pädagoge. Wie die Inspektoren, so 
sind auch die Direktoren und wenn es dann einmal vor¬ 
kommt, dass der Direktor ein gewissenhafter Pädagoge sein 
möchte, so muss ein solcher in höherem Aufträge seine ganze 
Energie aufbieten, um zu dokumentieren, dass weder er. noch 
die Lehrer, noch selbstverständlich die Schüler sich für 
„Politik“ interessieren. Hier ist natürlich die Rede von 
ruthenischer Politik, als welche schon jede rein kulturelle 
Bewegung ausgeschrien wird; aber mit polnischer Politik, 
d. h. der eigentlichen Politik darf man sich schon befassen 
und dies wird sogar von oben anbefohlen. Eine solche Ver¬ 
pflichtung derjenigen, welche den Unterricht und die 
Erziehung der Jugend beaufsichtigen sollten, schuf in den 
galizischen Mittelschulen anarchische Zustände. Obwohl die 
Unterrichtspläne gleich sind, erhält in Westgalizien schon 
der Lehrer einen Tadel, welcher viele schlechte Noten gibt, 
in Ostgalizien aber wird nur der getadelt, welcher zu wenig 
solcher austeilt. Die polnischen Lehrer, die den Rücken durch 
die Behörden gedeckt fühlen, machen sich da gewöhnlich 
wenig Skrupeln, wenn sie sich an den „Hajdamaken“ ihr 
Mütchen kühlen wollen. Kommt ein polnischer Lehrer in 
eine Stunde nacli einem polnischen Nationalfeste, so rächt 
er sicii an den ruthenischen Kindern, welche den patrio ti- 
schen polnischen Gassenumzügen, wie etwa am 
Jahrestage eines polnischen Aufstandes oder der projektierten, 
aber nie eingeführten polnischen Konstitution, nicht teil— 
nahmen. Dies war beispielsweise erst neulich im zweiten 
Semester 1907/08 am Gymnasium zu Buc-zacz der Fall. 

Seinerzeit setzte das allpolnische „Slowo Polskie“ das 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



Lügengerücht über den Ueberfail der Ruthenen auf die 
polnischen Sokolisten in Skole in die Welt und gleich am 
nächsten Tage begannen die allpolnischen Lehrer in Stryj 
<Blazek und Osiecki) die ruthenischen Schüler durch die 
Bank mit Fünfern zu beteilen. Was soll man sich da jedoch 
über Einzelheiten wundern, wenn der Landesschulrat selbst 
besondere Aufträge auf Massakrierung der ruthenischen 
Schüler erteilt. Im Sommer 1903 sangen die Schüler der 
VII. Klasse des Gymnasiums in Berezany während der Pause 
einige antirussophile Hymnen ; dafür wurden sie nicht nur 
mit schlechten Noten in Sitten für ungebührlichem Benehmen 
bestraft, sondern auch in anderen Gegenständen schlecht 
klassifiziert und zwar zufolge eines Auftrages von oben. 
Von 17 Ruthenen der VIT. Klasse gingen damals nur 3 in 
die VIII. über. Wie man für schlechtes Benehmen mit einer 
schlechten Fortschrittsnote aus den Lehrgegenständen strafen 
kann, das vermag nur die speziell polnische Pädagogik zu 
erklären. 

Infolge dieser Bestrebungen zur Vernichtung der Ruthenen 
sank das galizische Schulsystem so tief herab, dass es jetzt 
in einer Pfütze stecken geblieben ist. Der Chauvinismus des 
polnischen Landesschulrates, der Inspektoren, Direktoren 
und Professoren brachte das galizische Schulwesen so weit 
herunter, dass es heute der ganzen Welt als abschreckendes 
Beispiel dienen kann Von den ruthenischen Lehrern können 
hier nur solche vorrücken, welche auf die polnisch¬ 
jag eiionische Idee geschworen haben; von den 
polnischen aber sind nur solche zu höheren Stellen gelangt, 
welche sich durch die geschickte Vernichtung des ruthenischen 
Elementes ausgezeichnet haben. 

Ausserdem aber ist das galizische Schulwesen ver¬ 
seucht durch ein obskures Korruptions-System, gezeitigt durch 
die unter dem polnischen Joche in Galizien herrschende 
Anarchie-, darüber im nächsten Aufsatz. 

XI. Die Korruption im galizischeu Mittel¬ 
schulwesen. 

Die polnische Literatur strotzt von Szenen, in denen 
das Korruptionssystem in Russland gebrandmarkt wird. 
Leider kann man nicht sagen, dass Galizien unter der Ober¬ 
herrschaft der polnischen Plantatoren in dieser Beziehung 
hinter dem grossen russischen Reiche zurückbleibt, vielmehr, 
dass es dasselbe, wenn wir den 40jährigen Bestand der 
Konstitution berücksichtigen, noch übertrifft. Wir wollen auf 
•die Korruption in den verschiedenen Dikasterien nicht ein¬ 
geh en, nachdem dies mit unserem Artikel nicht im Zu¬ 
sammenhang steht, sondern wollen nur in grösseren Um¬ 
rissen das Bestechungswesen in der galizischen Schule, 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 484 — 


speziell der Mittelschule zeichnen. Heutzutage, wo die Polen 
von der Entwickelung der „Landesindustrie“ soviel Lärm 
machen, nimmt auch diese „Landesindustrie“ verschiedene 
Formen, entsprechend ihrer Evolution, an. 

Die anständigste Korruptionsform ist die Erteilung 
von Stunden für die Schüler; wenn ein solcher schlechte 
Fortschritte macht, suchen seine Eltern in erster Linie Rat 
bei jenem Lehrer, in dessen Gegenstand der Schüler nicht 
entspricht. Der Erfolg dieser Konferenz ist in vielen Fällen 
der, dass der betreffende Pädagoge sich verpflichtet, gegen 
ein bedeutendes Honorar, gewöhnlich 100 Kronen monatlich, 
dem Schüler Privatunterricht zu geben. Um aber nicht die 
allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses inkorrekte Vor¬ 
gehen zu lenken, tritt der Lehrer die Stunde einem Studenten 
um 20—30 Kronen oder auch einem Mittelschüler um 
10 - 20 Kronen ab, so dass ihm jedenfalls für seine „Mühe“ 
70—90 Kronen monatlich bleiben. Damit geben sich aber 
die Eltern zufrieden, weil der Sohn dann schon genügende 
Fortschritte macht . . . Häufiger kommt es vor, dass der 
Lehrer den Schüler zum Privatunterricht, gleichzeitig aber 
auch in Pension nimmt. Es besteht eine Vorschrift, dass 
Mittelschullehrer in Galizien keine Schüler aus der Schule, 
wo sie selbst vortragen, in Pension nehmen dürfen, ausser 
wenn sie eine besondere Erlaubnis vom Landesschulrate 
dazu haben. Dagegen können sie Schüler aus einer anderen 
Anstalt, an der sie selbst nicht beschäftigt sind, aufnehmen, 
was für viele ein schönes Nebeneinkommen bildet, haupt¬ 
sächlich an Orten, wo es mehrere Mittelschulen gibt. Dabei 
wird in der Regel so vorgegangen, dass Lehrer aus ver¬ 
schiedenen Mittelschulen ein Abkommen treffen, demzufolge 
sie tauschweise Schüler aus jener Anstalt, an der sie nicht 
unterrichten, in Kost und Quartier nehmen, und ebenfalls 
gegenseitig für gute Erfolge ihrer Zöglinge sorgen. Eine 
Hand wäscht eben die andere! Das Geschäft aber wird ganz 
im Einklänge mit den Gesetzen gemacht. — Andere Formen 
der Korruption sind Privatlehrstellen. Ein geschickter 
emeritierter oder zurückgestellter Pädagoge eröffnet eine 
solche Lehrstelle und kündigt in den Zeitungen an, auch die 
unfähigsten Schüler zu Prüfungen mit absolut sicherem 
Erfolge vorzubereiten. Den Unterricht an diesen Vorbereitungs¬ 
schulen aber erteilen Lehrer aus jener Staatsanstalt, in der 
die betreffenden Schüler dann die Prüfungen, natürlich gut, 
machen. — Im Gegensatz zu diesen pseudolegalen Mitteln 
Hessen sich hundert andere Fälle anführen, wo der Lehrer 
sich unmittelbar solche Sporteln auszahlen lässt 
oder in Besitz derselben durch Vermittlung seiner Frau 
kommt. Wir kennen Fälle, wo der Lehrer auf jedem Aufsatz 
die ungenügende Note mit einer Bemerkung wegen fehlenden 
Löschpapiers begleitete, obwohl dieses immer vorhanden war. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 485 — 


Die unangenehmen Noten und Anmerkungen verschwanden 
erst dann, als jemand dem Vater des Schülers angeraten 
hatte, in das Heft anstatt eines Löschblattes eine 
Zwanzigkronennote zu legen, und dieser den Rat auch 
befolgte. 

Der Supplent für die polnische Sprache X in der Stadt 
Y nahm Geld nicht nur für seinen Gegenstand, sondern auch 
auf Konto seiner Kollegen. Von einem Juden nahm 
er einen grösseren Betrag, indem er ihm versprach, seine 
Kollegen und Lehrer seines Sohnes vor der Klassifikation 
dafür zu bewirten. Der Supplent führte das auch durch, 
wovon der Jude sich selbst überzeugte, da er den ganzen 
Abend vor den Fenstern des betreffenden Restaurants auf 
und ab ging. Als jedoch sein Sohn ungeachtet dessen eine 
schlechte Note erhielt, rief der Jude einen solchen Skandal 
hervor, dass die Lehrer selbst den Direktor um Versetzung 
des Herrn X ersuchen mussten. 

Wohl die verbreitetste Form der galizischen Korruptions- 
industrie auf dem Gebiete des Schulwesens ist das Wechsel¬ 
system. Ein Mittelschullehrer wird 20—50 Kronen nicht 
annehmen, nachdem sich dies mit seiner „Würde“ nicht 
vereinbaren lässt; er zieht deswegen vor, den Vater eines 
nicht gutstehenden Schülers um Akzeptierung oder Effek- 
tuierung eines Wechsels von 100—500 Kronen zu ersuchen, 
welcher in der Regel nicht eingelöst wird. Die rentabelste 
Zeit ist die der Reifeprüfung. Hunderte von Schülern 
legen eine solche ab, nachdem sie früher die Fragen 
gekauft haben. Es gibt Gymnasialprofessoren, die von 
diesem Gelde ein Vermögen gemacht und sich Häuser gekauft 
haben oder aus diesen Einkünften über ihren Stand leben. 
Wir geben Namen die uns sehr gut bekannt sind, nicht an* 
weil viele von deren Trägern noch im aktiven Dienst stehen, 
und es nicht unsere Aufgabe ist. Denunzianten zu spielen, 
können jedoch manche konkrete Fakten, die bereits aus den 
Tagesblättern bekannt sind, anführen. Anfang 1906/7 hatten 
10 Lehrer am Stanislauer polnischen Gymnasium 
eine Disziplinaruntersuchung hauptsächlich wegen Korruption. 
Im Jahre 1907/8 war der Delegierte des Landesschulrates 
ganze drei Monate mit der Reinigung des polnischen 
Gymnasiums in Buczacz beschäftigt, und während der 
Reifeprüfung an demselben Gymnasium hielt er es für not¬ 
wendig, den Abiturienten, mit Rücksicht darauf, dass in dieser 
Stadt einige Professorenhäuser den Namen „M atura- 
häuser“ führen, eigene Fragen zu stellen. Viele von den 
wegen erwiesener Bestechung zurückgestellten Lehrern 
wurden dann von neuem angestellt, was wieder beweist, 
dass auch in den oberen Regionen nicht alles in tadelloser 
Ordnung ist. Hiezu ein kleines Beispiel. Während der 
Matura im polnischen Gymnasium zu Tarnopol 1906/7 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 486 — 


stellte es sich zufällig heraus, dass den Abiturienten Themen 
von manchen schriftlichen Aufgaben bekannt waren. Es 
wurde soviel Lärm geschlagen, dass der Inspektor zur 
Untersuchung kam und die Lehrer der betreffenden Gegen¬ 
stände in Disziplinaruntersuchung zog. Aber diese ergab, 
dass die Schüler die Themen nicht von den Lehrern, 
sondern direkt aus Lemberg, dem Sitze des Landes¬ 
schulrates, erhalten hatten. Noch vor der Matura wurde den 
Abiturienten des polnischen Gymnasiums in Tarnopol via 
Lemberg das Offert angeboten. (Der Lehrer legt drei Themen 
für die schriftlichen Aufgaben bei der Reifeprüfung dem 
Landesschulrate vor, welcher gewöhnlich eines davon 
bestätigt und nur selten ein eigenes gibt.) Das Offert wurde 
angenommen, und der Austausch der Themen gegen Entgelt 
fand in Lemberg statt, durch Vermittlung eines polnischen 
Industrieritters; aber diese Angelegenheit wurde bald ver¬ 
tuscht, indem man es verstand, die unschuldig verdächtigten 
Lehrer zum Schweigen zu bringen. Wenn es möglich wäre, 
ohne einzelne Personen zu nennen, könnten wir verschiedene, 
sehr interessante Geschichten erzählen. Wir wüssten z. ß. 
zu erzählen von einem gewesenen Landesschulinspektor, in 
dessen Rayon „zufällig“ nur reiche Lehrer die Qualifikation 
zu Direktorstellen erhielten. Dieser Inspektor hat sich dadurch 
nicht gehindert gefühlt, dass Schulvisitationen sich mit Auf¬ 
nahme von Anleihen beim Direktor der betreffenden Anstalt 
nicht gut vereinbaren lassen. 

Wir sind weit davon entfernt, die Angriffe wegen 
Korruption auf die ganze polnische Lehrerschaft auszu¬ 
dehnen — in ruthenischen Gymnasien hat man bisher von 
Bestechungsfällen noch nie etwas gehört; vielleicht hängt 
das eben mit der niedrigeren Kulturstufe zusammen ... — 
Aber das Bestehen des Korruptionssystems in polnischen 
Gymnasien liegt auf der Hand, wenn gegen ein Drittel 
der Lehrer an denselben die Disziplinaruntersuchung ange¬ 
strengt wird. Wir, müssen das brandmarken, nachdem dies 
System im ruthenischen Teile des Landes sich Jahre hin¬ 
durch behauptet und die polnischen Oberbehörden in der 
Ausrottungsjagd der ruthenischen Bewegung in dieser Be¬ 
ziehung blind sind. So eine Mittelschulstadt Buczacz, liegt 
auf dem ruthenischen Territorium (allerdings wurde hier ein 
Parlamentsmandat für die polnische Minorität herausge¬ 
schnitten, für welches freilich statt des polnischen Kandidaten 
der jüdisch-zionistische mit den Stimmen der ruthenischen 
Bauern gewählt wurde). Im Radius von 60—120 Kilometer 
dieser Stadt gibt es keine andere Mittelschule, ausser einer 
polnischen, in welcher seit vielen Jahren der Chauvi¬ 
nismus der polnischen Pädagogen sich betätigt (vide Artikel 
über die Aufnahmsprüfungen). Infolgedessen sank die Zahl 
der Ruthenen an diesem Gymnasium im Jahre 1905/6 auf 


Digitized by 


Go^ gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



162 Schüler herab, während die ganze Anstalt 574 Schüler 
zählte. So ist es auch kein Wunder, dass dieses Gymnasium 
bei der ruthenischen Bevölkerung den vulgären Namen 
„Galgen“ erhalten hat. Gleichzeitig geht dieses Gymnasium 
allen anderen in bezug auf Bestechlichkeit voran. Auf die 
Intervention eines Juden aus Podhajce, welcher für mehrere 
1000 Kronen Wechsel von Lehrern seines Sohnes am 
genannten Gymnasium vorgelegt hat, musste der Landes¬ 
schulrat einen Inspektor zur Untersuchung senden, um das 
korrupte Nest zu zerstören. Die einen Lehrer wurden 
suspendiert, die anderen zwangsweise pensioniert, andere 
wieder versetzt.. 

Die Korruption in den polnischen Schulen ist eine der 
üppigsten Sumplblüten der polnischen Kultur auf ukrainischem 
Boden. 


Die Ukrainer in antkropologi$cl)er Beleuchtung. 

Von Universitätsprofessor Dr. Fedir Wowk. 

Inbezug auf die Rasse stellen die Ukrainer, wie beinahe 
alle Völker der Erdkugel, keine einheitliche Rasse dar, sondern 
tragen in bedeutendem Masse Spuren von Mischungen ver¬ 
schiedener ethnischer Elemente an sich. Eigene Rassenmeik- 
male in voller Reinheit zu erhalten, vermochten nur die voll¬ 
ständig isolierten ethnischen Gruppen. Die Ukrainer aber be¬ 
fanden sich weder in historischen, noch wahrscheinlich auch 
in vorhistorischen Zeiten jemals im Zustande einer solchen 
Isoliertheit, und deswegen erscheint ihre Rassenuneinheitlich¬ 
keit vollkommen verständlich und natürlich. Um den ethnischen 
Charakter der grundbildenden Masse des ruthenischen Volkes 
und der in dessen Bestand aufgenommenen Mischungen zu 
bezeichnen, müssen wir die anthropologischen Merkmale ana¬ 
lysieren und dieselben mit entsprechenden Merkmalen der 
Nachbarvölker vergleichen. 

Die Erforschung dieser Merkmale bei verschiedenen 
Völkern begann verhältnismässig noch gar nicht lange und 
sie schritt auch noch nicht besonders weit vor, so dass 
sie z. B. in Europa weder das ganze Gebiet dieses Welt¬ 
teiles, noch alle seine Völker umfasst. Das empfindet man 
besonders bezüglich des östlichen Teiles von Europa, 
d. i. Russlands. Nichtsdestoweniger beweisen uns die ersten 
dahingehenden Versuche einer Zusammenstellung der bereits 
gewonnenen Erfolge der anthropologischen Forschung, aus¬ 
geführt von O. E. Deniker*) und für das russische Reich 


*) Deniker (j). Les races de l’Europe. Paris, 1899. 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 488 — 


teilweise von A. A. Iwanowskij*), dass manches Unklare auf¬ 
geklärt wurde und wir heute, ohne grobe Fehler zu begehen, 
von der anthropologischen Beschaffenheit Europas mit einer 
gewissen Sicherheit reden können. Was die Ukraine anbelangt, 
so denken wir, obzwar sich die Meinungen der beiden ge¬ 
nannten Forscher von dem Grade der Erforschung in eth¬ 
nischer Beziehung diametral gegenüber stehen, dass, unge¬ 
achtet der Unvollständigkeit diesbezüglicher Forschungen, die 
gegebenen Daten schon, wenn auch nur allgemeine Anhalts¬ 
punkte bringen. 

Inbezug auf den Wuchs stellen die Ukrainer einen 
mehr oder weniger grossen Menschenschlag dar (Mittelgrösse 
1670 mm)**). Den kleinsten Wuchs haben die Ukrainer des 
Woronescher Gouv. (1632 mm). Dann kommen die Charkower 
(1645 mm), die galizischen Bojken (1646 mm), Wolhynier 
(1657 mm). Die Ukrainer des Tschernihower Gouv. sind 
schon bedeutend über die Mittelgrösse (1666 mm), die gali¬ 
zischen Gebirgler, Huzulen, aber mit ihrem Durchschnitts¬ 
wuchs von 1693 mm und die Ukrainer des Kubanjgebietes 
(1701 mm) sind schon sehr gross. Diese Einteilung des 
Wuchses nach der geographischen Lage ist sehr interessant 
deswegen, weil sie uns zeigt, wie der im allgemeinen 
grosse Wuchs der Ukrainer (47% unter, 53% über 
mittel) in der Richtung gegen Nordost abnimmt 
und gegen Südwest bedeutend zunimmt, und 
so die grösste Entwicklung bei den Huzulen 
erreicht. Die Erklärung dieser Tatsachen ist darin zu 
suchen, dass die ukrainische Bevölkerung der Gouvernements 
Woronesch und Charkow sich unmittelbar mit der gross¬ 
russischen berührt (Mittelwuchs 1657 mm* dabei 51% unter, 
49% über Mittelhöhe), deren niederer Wuchs durch die in 
ihren Bestand aufgenommenen niedrig gewachsenen anders- 
stammigen Elemente (Mordwinen 1643 mm, Syrjanen 1628 mm, 
Tscheremissen 1615 mm) beeinflusst wird, während sie im 
Südwesten unmerklich in den noch höheren Wuchs der süd- 
slavischen Bevölkerung (Serbokroaten 1700 mm) übergeht. 
Der niedere Wuchs der Bojken und der hohe der Kubanj- 
Kosaken finden auch ihre Erklärung: Der Wuchs der ersteren 
hängt davon ab, dass sie, wenigstens im Norden, von den 
Polen (1654 mm, dabei 51% unter, 49% über dem Mittel¬ 
masse) beeinflusst wurden ; die Kubanj-Kosaken hingegen sind 
aus der Ukraine Obersiedelt und bestehen aus einem ausge- 


*) Iwanowskij (A. A.). Ob antropologitscheskom sostawie 

nasielenja Rossiji. (Trudy antrop. Otd. I. Ob. Lub. Jestestw. Antrop. i 
etnogr. Bd. XXII). Moskau 1904. 

**) Diese und die folgenden Ziffern entnehme ich dem oben zitierten 
Werke Iwanowskijs und ergänze sie bezüglich Ostgaliziens mit Zahlen 
Kopernickis und mit den von mir selbst bei meinen anthropologischen 
Exkursionen lt»03— 1905 gesammelten Studien. 

Digitized by Gougle 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



— 489 — 


suchten, physisch am besten entwickelten Menschenschläge, 
wobei sie sich mit den eingeborenen Weibern verschiedener 
Stämme (Osseten 1692 mm) vermischt haben. 

Ais ein sehr wichtiges ethnisches Merkmal erscheint das 
Verhältnis zwischen dem Längs- und dem Querdurchschnitte 
des Kopfes, ausgedrückt durch den sogenannten Index, d. h. 
eine Ziffer, welche die grösste Breite des Schädels im Ver¬ 
hältnis zu dessen grösster Länge, welche man mit 100 be¬ 
zeichnet, aufweist. Entsprechend diesem Anzeiger verteilen 
sich die ethnischen Gruppen in langköpfige (dolichokephale, 
mit dem Index bis 77,7), mittelköpfige (mesokephale, 77,7 bis 
80,0) und kurzköpfige (brachykephale. über 80,0). Inbezug 
auf diese Merkmale erscheinen die Ukrainer, wie überhaupt 
alle Slaven, kurzköpfig, aber der Grad ihrer Brachykephalie 
(nach unseren Berechnungen 83,2) bietet ein äusserst grosses 
Interesse. Wie fast bei allen ethnisch mehr oder weniger ge¬ 
mischten Völkern, ist der Index ziemlich bedeutenden Schwan¬ 
kungen unterworfen, doch sind dieselben, wie wir gleich 
sehen werden, nichts weniger als willkürlich. Den geringsten 
Index, folglich die kleinste Brachykephalie haben die Wolhynier 
(Index 79,7), Woronescher Ukrainer (81,7), Kubanjer Kosaken 
(82,1), Podolier (82,2), Charkower (82,5— 83,1). Poltawaer (82,7), 
galizische Bojken (82,9); dann folgen: galizische Lemken (83,1), 
ein Teil der Kijewer Ukrainer (83,2 und 83,4), galizische 
Ruthenen bis zu den Karpathen (83,4), Bukowinaer Ruthenen, 
nicht Huzulen (84,1) und zuletzt der andere Teil der Kijewer 
Ukrainer (84,6), Huzulen (galizische 84,2, ungarische 85,0 und 
Bukowinaer 85,1, im allgemeinen 84,6), schliesslich noch die 
Krolewiecer-Tschernihower nach den Messungen Bielodieds 
(85,5). Beim Studieren dieser Ziffern, noch besser aber bei 
Veranschaulichung derselben auf einer Karte, welche wir hier 
leider nicht bieten können, sehen wir auch hier, doch mit noch 
grösserer Klarheit als bezüglich des Wuchses, die stufenmässige 
Steigerung unserer charakteristischen Merkmale (in diesem 
Falle Brachykephalie in der Richtung von Nordosten nach 
Südwesten, u. zw. unter Beeinflussung derselben Faktoren, 
welche auch die Aufstellung der Wuchsverhältnisse nach geo¬ 
graphischer Lage bestimmt haben. Die geringe Brachykephalie 
der Ukrainer des Woronescher und Charkower Gouvernements 
wird erklärt durch die unmittelbare Nachbarschaft der Grossrussen, 
deren Index nach Deniker zwischen 81,1 und 82,9 schwankt, 
(der lwanowskijsche Durchschnittsindex ist 82,3) und durch 
den direkten Zusammenhang mit dem Index der Finnen (80,1), 
Tscheremissen (79,2), Esthen (79,0). Die unbedeutende Brachy¬ 
kephalie der Kubanj-Einwohner befindet sich auch in ähnlichem 
Abhängigkeitsverhältnis von dem ähnlichen Merkmale bei den 
Osseten (Index 81.9). Die verhältnismässig geringe Brachy¬ 
kephalie der Bojken wird wahrscheinlich bedingt durch den 
Einfluss der Polen (Index 82,1), welch letztere wiederum mög- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



490 — 


licherweise eine gewisse Anzahl litauischer Elemente (Index 
81,8) in sich aufgenommen haben. Die hohe Brachykephalie 
der Zentralukrainer und die höchste der Huzulen entsprechen 
vollkommen denselben Merkmalen ihrer unmittelbaren Nach¬ 
barn. Gewissermassen rätselhaft erscheint die Mesokephalie 
der Wolhynier, konstatiert übrigens nur bei 48 Leuten von 
Koschuchow, welche entschieden zu der stark ausgedrückten 
Brachykephalie der Kijewer Ukrainer und noch mehr zu der 
gewiss nicht geringen der Polesie-Einwohner (85,1) im Wider¬ 
spruche steht, ferner auch der von Talno-Hryncewicz gefundene, 
überaus scharfe Index der Podolier, für welche man vorläufig 
keine Erklärung findet, von der zu diesem Zwecke nicht ge¬ 
nügenden Tatsache, dass hier polnische Grossgrundbesitzer 
angesiedeft sind, abgesehen. Was schliesslich die äusserste 
Brachykephalie der Krolewiecer-Tschernihower anbelangt, so 
erscheint sie uns ganz unerwartet, und wird sie wahrschein¬ 
lich durch den bereits in neueren historischen Zeiten statt¬ 
gefundenen Bevölkerungswechsel (die Zeit der Hetmanen- 
residenz in Baturyn) ihre Erklärung finden, wobei auch eine 
Beeinflussung durch mongolische Elemente nicht ausge¬ 
schlossen ist. 

Weniger feststehend, aber beim Vorhandensein anderer 
Daten als ein sehr wichtiges Moment, erscheint die Haar- 
und Augen färbe. Inbezug auf diese Merkmale, welche 
für das Bestehen ethnischer Mischungen bei der gegebenen 
Bevölkerung zeugen, zeichnen sich die Ukrainer bei der all¬ 
gemeinen Vorherrschaft der dunklen Färbung (29,5% licht, 
35 /o mischf., 35% dunkel) durch eine bedeutend grössere 
Mannigfaltigkeit aus, als inbezug auf andere Merkmale. Die 
lichteste Farbe finden wir bei den Ukrainern im Gouvernement 
Kursk (38 % licht, 38% mischt, und nur 24% dunkel). Dann 
folgen die Tschernihower (unter denen, die Weiber mitgezählt, 
33% ücht, 41 % mischf. und 26% dunkel sind), die Wolhynier 
(42% licht, 29% mischf., 29% dunkel), Nord-Bojken (33% 
licht, 39% mischf.. 27% dunkel), Woronescher Ukrainer 
(mit Weibern 29,5 % licht, 37.5 % mischf., 33 % dunkel) und die 
Kubanj-Kosaken (34% licht, 36% mischf., 30% dunkel). Unter 
den Ukrainern des Charkower Gouvernements beginnt schon 
die Vorherrschaft des dunklen Typus (23,5 % licht, 47 % mischf., 
29.5% dunkel) und bei den Ukrainern des Poltawaer Gouver¬ 
nements (17.5% licht, 47% mischf., 35% dunkel) und Kijewer 
Gouvernements (26,5% licht, 36,5% mischf., 37% dunkel) ist 
diese Vorherrschaft noch stärker, bis sie bei den Huzulen, 
nach Kopernicki, das Maximum erreicht: 25 % licht, 29 % 
mischf., 46% dunkel. 

Abgesehen von dieser, nicht nur von ethnischen Unter¬ 
schieden, sondern auch von der Subjektivität der Forscher 
und der Verschiedenheit ihrer statistischen Annahmen ab¬ 
hängigen Mannigfaltigkeit, begegnen wir auch hier einer von’ 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 491 — 


uns bezüglich des Wuchses und des Index beobachteten Er¬ 
scheinung : auch in diesem Falle sehen wir, dass der mehr 
lichte Typus der den grossrussischen Gebieten benachbarten 
Ortschaften, dem Typus der letzteren (37% licht, 41% mischf. 
und 22% dunkel) entspricht, welcher bei den reinsten Gross¬ 
russen, z, B. bei den hervorragend gut konservierten Trans- 
baikaliern und Altgläubigen (77% licht, 19% mischf. und 4% 
dunkel) vorkommt und sich am meisten den reinen Finnen in 
der Art der Tawasten (88% licht, 8% mischf. und 4% dunkel) 
nähert. Wir sehen ferner, dass in den dem polnischen oder 
weissrussischen Einfluss ausgesetzten Ortschaften sich der 
mehr lichte polnische Typus (35% licht, 46% mischf., 19% 
dunkel) hervorhebt, und dass die intensivste Färbung der 
galizischen Huzulen mit der entschiedenen Vorherrschaft des 
dunklen Typus bei den Südslaven (Westserben 10,5% licht, 
89,5% dunkel, Kroaten 9,6 % licht, 90,3% dunkel), sowie bei 
den Westslaven (mährische Tschechen 10% licht, 89% dunkel) 
vollständig harmoniert. 

Wir könnten noch manche interessante Ziffern an¬ 
führen, die zeigen, dass z. B. die Ukrainer sich durch die ge¬ 
rade, schmale Nase auszeichnen (der Nasenindex 67,7), 
während bei den Grossrussen (68,5) die Nase mehr einge¬ 
drückt und, gleich wie bei den Polen, breit ist, wodurch er 
an die Nase bei den Weissrussen (69,5), Finnen (86,2) und 
der mongolischen Rasse (Tartaren 70,7) erinnert; dann durch 
kürzere Arme (bei den Ukrainern Länge der Hände im 
Verhältnis zum Wuchs 45,7 und bei den Grossrussen 46) und 
durch längere Füsse (53,6) als bei den Polen (52,1), 
Weissrussen (51,7) und Grossrussen (50,5), welche sich schon 
den Mordwinen (49,1), den Altaitataren (48,6) u. a. nähern. 

Wir können leider nichts über die ausserst wichtigen 
und interessanten Entwicklungsverhältnisse der Backen¬ 
knochen angeben, nachdem die darauf bezüglichen Daten 
infolge einer Menge von Widersprüchen kein Vertrauen ein¬ 
flössen. Wir beschränken uns daher auf die besser erforschten 
und von uns bereits erörterten Merkmale, über deren Zu¬ 
sammenhang wir noch berichten wollen. 

Schon die von uns bezeichnete Gruppierung dieser 
Merkmale lässt auf einen Zusammenhang schliessen. Eine 
detailliertere Prüfung der Resultate anthropologischer 
Forschungen, die wir an dieser Stelle natürlich nicht vor¬ 
nehmen können, zeigt, dass zwischen dem Wüchse der Ukrainer 
und dem Grade ihrer Brachykephalie ein gewisser Zusammen¬ 
hang besteht und zwar, dass der grösste Wuchs bei den 
Ukrainern der grössten Rundköpfigkeit entspricht und umge¬ 
kehrt. Ebenso fällt auch der Grad der Haar- und Augenfarbe 
mehr oder weniger genau mit den beiden oben angeführten 
Merkmalen zusammen, d. h. mit andern Worten : je grösser 
und rundköpfiger die ukrainische Bevölkerung ist, desto 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 492 — 


dunkler ist sie. Alle diese Merkmale erscheinen folglich keines¬ 
wegs zufällig, sondern stellen eine charakteristische Erscheinung 
dar, den ethnischen Typus der Ukrainer, welche in ihrer Masse 
von grossem Wuchs, brachykephalisch mit 
dunklen Haaren und Augen, gerader, schmaler 
Nase sind. Dieser ukrainische Grundtypus, im nordöstlichen 
Gebiete etwas geschwächt, erscheint in der Richtung gegen 
Südwesten, wo er mit dem jedoch noch schärfer ausgedrückten 
Typus der Süd- und Westslaven zusammenfällt, immer deut¬ 
licher. ausgeprägt Doch ungeachtet dieser Abschwächung im 
Nordosten, unterscheidet er sich dort immerhin derart scharf 
von den Nachbarvölkern, dass schon EIis6e Reclus, welcher 
gleichzeitig auch seinen unmerklichen Uebergang in Südwesten 
angedeutet hat, darauf aufmerksam gemacht hat. 

Die von uns erörterten . Tatsachen und die sich daraus 
ergebenden Schlüsse blieben in der anthropologischen Wissen¬ 
schaft nicht unbemerkt; schon beiläufig vor 10 Jahren teilte 
der Professor der Anthropologie im Pariser Museum E. T. 
Hamy in seinen Vorlesungen die Slaven nach ihren ethnischen 
Merkmalen in zwei grosse Gruppen ein: 1. Dunkelhaarige, 
brachykephalische mit hohem Wuchs, zu welchen er die Serbo- 
kroaten, Slovenen, Tschechen und Ukrainer zählte und 2. licht¬ 
haarige, subrachykephalische mit niedrigem Wuchs, die Elbe¬ 
slaven, Polen, Weiss- und Grossrussen. Einige Jahre nachher 
tut dies auch Deniker, welcher diese hohe, dunkelhaarige, 
brachykephalische Gruppe, die er adriatisch nennt und die 
gegen Osten von den Karpathen in eine Gruppe mit den 
gleichen, aber mehr oder weniger geschwächten Merkmalen 
übergeht, bringt. Schliesslich stellt Iwanowskij die Tatsache 
fest, dass die Ukrainer äusserst wenige anthropolo¬ 
gische Aehnlichkeit mit den Polen und Russen auf¬ 
weisen, während diese beiden Völker einander viel näher 
sind, als die Ukrainer einem derselben. 

Indem wir alles oben angeführte zusammenfassen, ge¬ 
langen wir auf Grund der bis heute bekannt gewordenen 
Daten, betreffend die Ukrainer, zu folgenden Grundausführungen: 

1. Dass die Ukrainer, die dem grundbildenden, allgemeinen 
slavischen anthropologischen Typus Süd- und Westeuropas 
angehören, dessen östliche Fortsetzung mit der stufenmässigen 
Abschwächung seines ethnischen Charakters in der Richtung 
von Südwesten gegen Nordosten wahrscheinlich unter dem 
Einflüsse finnischer Elemente, welche auf dem heute von den 
Ukrainern bewohnten Territorium einheimisch waren, darstellen. 

2. Dass der Einfluss des mongolischen Elementes (Kumanen, 
Petschenegen u. a.) auf den ukrainischen Typus, wenn dieser 
auch vorherrschend war, doch keine merklichen Spuren zurück¬ 
gelassen hat, nachdem die Brachykephalie der Ukrainer gerade 
im Osten am geringsten ist. 3. Dass die ethnische Verwandt¬ 
schaft der Gross- und Weissrussen und der Polen mit den 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



— 493 — 

Ukrainern, welche früher zweifellos bestanden und sich in der 
Sprache noch erhalten hat, infolge einer starken Mischung mit 
finnischen und andern östlichen Elementen bei den Gross¬ 
russen, finnisch-litauischen bei den Weissrussen, ebensolchen 
und vielleicht auch germanischen bei den Polen, verloren 
gegangen ist. 

Weitere Nachforschungen auf dem Gebiete der ukrai¬ 
nischen Anthropologie werden gewiss manches von dem, was 
wir jetzt wissen, ergänzen und ändern, aber wir glauben nicht, 
dass sie auf die eben angeführten Grundschlüsse einen Ein¬ 
fluss haben werden. Diese Schlüsse können natürlich keine 
nationale, noch weniger eine politische Bedeutung haben, 
nachdem ja Rasse und Nation keineswegs dasselbe ist, aber 
sie können zweifellos und sie müssen auch für immer die 
„echtrussische“ und „allpolnische“ Legende, die Ukrainer seien 
polonisierte Russen oder russifizierte Polen, ein für allemal 
zerstören. Und dies ist heutzutage durchaus nicht unnütz. 



Das neue Oesterreich.*) 

Der Herausgeber der „Armeezeitung“, hatte die glückliche Idee, 
die Literatur über die Lösung der nationalen Frage in Oesterreich um 
einen interessanten Beitrag zu bereichern, als welcher die hier erörterte 
Rundfrage (wir beschränken uns bloss auf die Prüfung der Aeusserungen 
bezüglich der Fragen über Trennung der nationalen Gebiete und Er¬ 
setzung der Landtage durch Volkstage) erscheint.**) 

Zwei Hauptgegner des Prinzips der nationalen Autonomie zeigt 
uns das Buch an: die Tschechen und die Polen. Die Stimmen der 
letzteren liegen uns nur spärlich vor; nichtsdestoweniger scheinen die 

*)Das neueOesterreich. Politische Rundfrage, veranstaltet 
von Carl M. Danzer, Wien 1908, Verlagsbuchhandlung Carl Konegen. 

**) Informationshalber führen wir alle vom Veranstalter der 
Enquete gestellten Fragen an : 

1. Welche Hindernisse Hegen einer allgemeinen nationalen Ver¬ 
ständigung auf Grund einer Feststellung und Abgrenzung des gegen¬ 
wärtigen taktischen Besitzstandes im Wege ? 

2. Wird es von dem Momente einer solchen Verständigung an 
möglich sein, von einer Interessensolidarität aller österreichischen Völker 
zu sprechen ? 

8. Haben dann die heutigen Kronlandsgrenzen noch mehr als 
historischen Wert und würde nicht jede Nation in Oesterreich kulturellen 
und nationalen Gewinn aus nationalhomogenen Volkstagen, statt der 
jetzigen Landtage ziehen ? 

4. Wäre diesen Volkstagen, denen — nach dem Programm Popovici 
— auch ein territoriales Gebiet entsprechen oder nach dem Programm 
Renner-Pernerstorfer nationale Matrikelführung zur Basis dienen würde, 
in allen nationalen und kulturellen Fragen vollste Autonomie zu 
gewähren ? 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 494 — 


zwei Stimmen des polnisch-konservativen Grafen Dzieduszycki, welcher 
die Erhaltung der Landtage der bestehenden Kronländer zu den 
„teuersten Idealen mancher Volksstämme“ zählt und des natio¬ 
nalen Demokraten Dr. Tomaszewski Garantie genug für die Denkart der 
ganzen polnischen Gesellschaft. 

Ihnen reihen sich die Tschechen an, deren zwölf Vertreter, meist 
Reichsratsabgeordnete, mit Ausnahme des Realisten Dr. Drtina, welcher 
freilich das schwer Mögliche, die Kombination der staatsrechtlich- 
historischen und der national-autonomistischen Idee wünscht, den 
Gedanken an die Durchführung der nationalen Selbstverwaltung für 
alle Völker Oesterreichs, was notwendigerweise die Teilung der „Länder 
der böhmischen Krone“ nach sich ziehen müsste, auf das Entschiedenste 
von sich weisen: als ein „Mittel zur Erhaltung des Zentralsystems“ 
(Abg. Dr. Hajn und Choc) „als kein Mittel, sondern nur ein Hindernis 
tür die Verständigung“ (Abg. Prof. Hräsktf), als „Illusion“ (Herrenhaus- 
mitgl Minister a. D. Dr. R. v. Randa), als „Utopie“ (Abg. Valougek), 
als „Professorenwahn“ (Abg. Graf Sternberg). Die Aufhebung der 
Kronlandsgrenzen und Vertretung der Landtage durch Volkstage sei 
undurchführbar; nationales Leben lasse sich territorial nicht abgrenzen 
(Abg. § i 1 i n g e r), Volkstage seien verfehlt, dagegen die Sicherung der 
Rechtsansprüche in den angestammten Ländern das Wichtigste 
(Abg. Kadlcak). Himmelweit davon entfernt ist die Aeusserung der 
tschechischen Sozialdemokraten, von denen Abg. Modracek 
sogar das weitgehendste Programm Popovicis, die nationale Autonomie 
nach dem territorialen Prinzip als „notwendige Grundlage jeder 
nationalen Selbstverwaltung“ akzeptiert und das Prinzip der Personal¬ 
union als für das nationale Leben zu enge und zu künstlich bezeichnet 
und es nur für nationale Minoritäten in anderssprachigen Gebieten 
gelten lässt. So sind auch die sozialdemokratischen Vertreter anderer 
Völker (an der Rundfrage nahmen unter anderen die Abgeordneten 
Dr. Adler, Renner und Pittoni teil) absolute Anhänger der nationalen 
Selbstverwaltung. 

Von Deutschen nehmen an der Rundfrage, von den Sozial¬ 
demokraten abgesehen, B3 Mann teil, darunter 21 Politiker und 
12 Gelehrte und Professoren (diejenigen, deren Aeusserungen nicht klar 
vorliegen, lassen wir weg), und so ist zu konstatieren, fürs Erste, dass 
die Stimmen der Nichtpolitiker mit sehr unbedeutenden Ausnahmen sich 
absolut für Ersetzung der Kronländereinteilung durch die Einteilung 
nach den Nationalitäten aussprechen. Univ.-Prof. Dr. Brockhausen 
meint, den Kronlandsgrenzen wird selbst als historischer Tatsache zu 
grosser Wert beigelegt, wie jede Karte zeigt, in der sämtliche 
Aenderungen vermerkt sind. Die Kronlandseinteilung sei ein 
Unglück, wo immer zwei oder mehr Nationen in einem Kronland 
zusammengesperrt sind. Kronländer seien ein wahrer Jammer für 
die eigentliche Kulturverwaltung. Jede Einteilung, 
die an die Stelle der Landtage tritt, sei ein Vorteil. 
Univ.-Prof. Dr. H. Kretschmayr gibt als sein österreichisches Staats¬ 
ideal an : Beseitigung der Landtage und damit jener staatsrechtlichen 
Ansprüche, deren Erhebung das vornehmste Hindernis einer 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



— 495 — 


V ölkerverständigung sei. Kronländer mit deren abenteuerlichen 
Ungleichheiten — Böhmen und Salzburg! — haben nur historischen 
Wert. An Stelle der Landtage sollten Volkstage mit weitgehendster 
Autonomie treten. Von einer solchen Lösung der nationalen Frage in 
Oesterreich verspricht sich Prot Kretschmayr, dass nicht nur die 
österreichischen, sondern auch die ungarischen Völker, um alle 
zerstreuten Splitter ihrer Geltungsbereiche besorgt, schon aus nationalem 
Egoismus sich und dem gesamten Reiche zu Nutz und Frommen organisch 
in einander hineinwachsen würden. Herrenhausmitgl. Dr. A. v. Peez weist 
darauf hin, dass nationale Abgrenzungen schon im Mittel- 
alter (Szekler, Rumänen, Siebenbürger Sachsen, die Städte als deutsche 
Gründungen) bestanden. Man solle demnach auch die Geschichte zu 
Rate ziehen usw. In direkten Gegensatz dazu stellt sich die Aeusserung 
des Univ.-Prof. Hofrats Guttenberg, dass die Steirer, Kärntner 
und Deutschtiroler sich in erster Linie als solche und erst in 
zweiter als Deutsche und Oesterreicher fühlen. 

Weniger Einheitlichkeit in den Anschauungen herrscht in den 
Stimmen deutscher Politiker. Es muss zugegeben werden, dass sich die 
Christlichsozialen verhältnismässig am deutlichsten für eine 
Reformation im Sinne der nationalen Autonomie aussprechen. 
Dr. v. Baechle nennt sie ein „durchaus reales Zielder öster¬ 
reichischen Staatspolitik“; die Hindernisse seien mehr 
subjektiver als objektiver Natur. Abg. Dr. Scheicher erklärt kategorisch: 
„Die heutigen Kronlandsgrenzen müssen zum Teile verschwinden ; zum 
Lande der Wenden müssen Teile Steiermarks, Kärntens, Krains, Görz’ 
und Küstenlands vereint werden. — Und so in anderen Fällen. — 
JedeNationbildetihrenStaat. — Popovici geht den richtigen 
Weg.“ Abg. Dr. Heilinger meint, historische Staatsrechte 
seien antiquierter Plunder. Und Abg. Dr. Schlegel sieht seinen 
Wunsch nach Durchführung der nationalen Autonomie kaum anders, 
als im Wege eines Staatsstreiches durchführb^. — Von andern 
deutschen Parteien bezeichnet der Agrarier Abg. Ansorge, als einziger 
unter den Deutschen in Böhmen, die Ersetzung der Landtage durch 
Volkstage als — „sozialdemokratischenFusel“... — Dr. Hof¬ 
mann v. Wellenhof (Deutsche Volkspartei, Steiermark), erklärt die 
Kronlandsgrenzen für verfehlt, dagegen äussert sich 
sein Parteigenosse Dr. Steinwender aus Kärnten gegen die Beseitigung 
der Kronländer, welche seiner Ansicht nach „gewachsene und gewordene 
Organismen mit stark materiellen und kulturellen Interessen, das 
Bleibende im Wechsel“ seien (man befolge, um die Unstich¬ 
hältigkeit dieser Behauptung nachzuweisen, den oberwähnten Rat Prof. 
Brockhausens!); einem eventuellen Volkstag gewährt er nur die vor¬ 
bereitende und vorberatende Kompetenz. Der Salzburger Dr. Stölzl 
(D. Vp.) meint, das Rütteln am historisch Gewordenen sei bei einem 
Staate wie Oesterreich be denklich. Dagegen sehr energisch für die 
nationale Autonomie tritt der Volksparteiler Abg. Hans Winter (Ober¬ 
österreich) ein, der erklärt: „Die veraltete historische Kron- 
landseinteilung muss durchgreifend, rücksichtslos 
und entschieden beseitigt werde n.“ Und Abg. Teltschik, 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 496 — 


(D. Vp.) Mähren, bezeichnet die Kronlandsgrenzen als Hindernis 
für die wirtschaftliche Entwicklung der Nationen. 

Von den Vertretern anderer Völker erklären sich sämtliche 
Ruthenen für die nationale Autonomie; ebenfalls sämtliche Sloveuen, 
Italiener und Rumänen. Zwei Kroaten für, einer (reine Rechts¬ 
partei) gegen dieselbe. 

Auf Grund dieser verschiedenen Aeusserungen kommt der Ver¬ 
anstalter der Rundfrage zu folgendem, seiner Behauptung nach 
negativem Ergebnis: „dass ein Friede in Oesterreich nur denkbar wird, 
wenn eine starke Hand das Versöhnungsprogramm aufstellt und dies mit 
solcher Energie verficht, dass niemand im Zweifel sein kann, dass dieses 
Programm auch verwirklicht wird. Wir sahen den Segen einer solchen 
festen Politik gelegentlich der Wahlreform in Oesterreich: Als die 
Ueberzeugung durchbrach, dass das allgemeine Wahlrecht unbedingt 
kommen wird, gaben in Kürze alle Parteien ihren Widerstand auf und 
dachten nur mehr daran, für sich bei der neuen Ordnung der Dinge 
möglichst viel zu retten.“ 

Lassen sich für diese Behauptung ziemlich triftige Gründe an¬ 
führen, so können wir der Behauptung, die auch im ersten Punkte der 
Rundfrage berücksichtigt ist, der Friedensschluss sei nur auf Grund 
der Anerkennung und Abgrenzung des heutigen 
nationalen Besitzstandes möglich, absolut nicht beipflichten. 
Darüber äussert sich in dem Buche sehr deutlich und unter Anführung 
unwiderleglicher Argumente der Ruthene Abg. Dr. Okunewskyj, der 
sagt: „Die Verständigung der Nationalitäten auf Grund des gegenwärtigen 
Besitzstandes zu suchen, scheint mir ein ganz vergebliches Beginnen 
und gleicht dem Streben, die Quadratur des Kreises zu finden. Der 
gegenwärtige Besitzstand ist ja ein Resultat der Machtfaktoren der 
Vergangenheit ohne Rücksicht, ja sogar gegen das Recht der einzelnen 
Nationalitäten, eine freie kulturelle Entwicklung im Lande auf eigene 
Kosten zu erlangen. Fast in jedem Lande Oesterreichs mit gemischter 
Nationalität entwickelt sich ein Volksstamm auf Kosten des andern. 
In Galizien z. B., bei fast gleicher Bevölkerungszahl der Ruthenen und 
Polen (die Juden rechne ich als selbständige Nation, weder zu den 
Ruthenen, noch zu den Polen), besitzen die Polen 46 gegen 6 ruthenische 
Mittelschulen. Eine ruthenische Mittelschule entfällt auf 422.000, eine 
polnische auf 98.000 Seelen. Die Polen besitzen 2 Universitäten, die 
Ruthenen gar keine. Alle Exekutive der Verwaltungsjustiz und der Finanz¬ 
behörden ruht ausschliesslich in den Händen der Polen. Es gibt offenbar 
nach meiner Ansicht nichts Verkehrteres, als eine Verständigung 
zwischen diesen beiden Nationalitäten auf Grund des gegenwärtigen 
Besitzstandes zu suchen. Es muss also statt des ungerechten Prinzips 
des Besitzstandes das Recht der vollständigsten freien Entwicklung 
einer jeden Nationalität unter Zugrundelegung des Prinzips treten, dass 
alle kulturellen und ökonomischen Kräfte der Nation zu Nutzen eigener 
und nicht fremder Nationalität freiwillig verwendet werden sollen.“ 
Dr. Okunewskyj spricht so, wie die ganze ruthenische Gesellschaft über 
diese Frage denkt W. K. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 497 — 


Die Rutbenen und der Staut. 

„Ihr Verhalten in der Delegation ist sehr patriotisch“ — 
mit diesen anerkennenden Worten zeichnete Seine Majestät 
Kaiser Franz Josef den ruthenischen Vertreter in der 
Delegation Nikolaj Ritter von Wassilko aus. Weit über 
die Bedeutung einer persönlichen Anerkennung gehen diese 
Worte. Hat doch die Geschichte des ruthenischen Volkes in 
Oesterreich gerade während der Regierungsperiode Kaiser Franz 
Josefs solche Momente aufzuweisen, wie die Auszeichnung der 
Ruthenen mit dem jetzt freilich karikierten Beinamen „Tiroler 
desOstens“ einerseits und die bekannte Zurückweisung 
der von dem seinen Monarchen vergötternden Volke abge- 
sandten, um Hilfe für dieses schwer bedrängte Volk bittenden 
Vertreter nach den berühmten Badeni-Wahlen! 

Freilich konnte für diesen binnen einem halben Jahrhundert 
vollzogenen Umschwung in den Verhältnissen der Krone zu 
unserem Volke keineswegs der Träger derselben selbst ver¬ 
antwortlich gemacht werden, sondern vielmehr jene, welche 
anfangs rebellisch gesinnt, mit der Zeit es verstanden haben, 
sich nicht nur die Gunst bei Hofe zu gewinnen, sondern auch 
zwischen dem Herrscher und seinem ehemals geschätzten 
Volke eine Scheidewand zu errichten. 

Nicht etwa aus einer Begeisterung, die ja hier nicht 
gut angebracht wäre, greifen wir die Aeusserung auf, son¬ 
dern als ein Zeugnis, dass die Scheidewand sich nicht als 
undurchdringlich erweist, als einen Beweis, dass das Ver¬ 
hältnis des Herrschers zum ruthenischen Volke keinesfalls 
auf die polnische Vermittlung angewiesen sein muss. Und 
wenn wir uns in unserer Annahme über die Bedeutung der 
Worte des Kaisers nicht irren, so finden wir es am Platz, 
festzustellen, dass unsere Stellung dem österreichischen Staate 
gegenüber trotz der tristen Lage unseres Volkes doch heute 
wie gestern die nämliche ist und dass wir schon im Hinblick 
auf die Lage unserer Mitnationalen jenseits der österreichisch¬ 
russischen Grenze bereit sind, unsere Interessen mit den In¬ 
teressen der Monarchie zu identifizieren, vorausgesetzt, dass 
diese aufhört, uns eine Stiefmutter zu sein. Der Haltung der 
Ruthenen gegenüber dem Staate hat in sehr präziser Weise 
Delegierter Nikolaj von Wassilko in seiner anlässlich der 
Annexion Bosniens im Ausschuss für äussere Angelegenheiten 
der österreichischen Delegation am 10. Oktober abgegebenen 
Erklärung Ausdruck gegeben. Er führte aus: 

„In diesem Augenblicke, wo so manche unserem Staate 
nicht gewogenen Faktoren im Auslande ihre Hoffnung auf 
eine mögliche Disharmonie und auf eine Ausnützung der Unzu¬ 
friedenheit des einen oder anderen Volkes unserer Monarchie 
setzen, betrachten wir es als unsere Pflicht gegen die Dynastie 
und gegen diesen Staat, daran mitzuwirken, dass sich diese 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 498 — 


Erwartungen nicht erfüllen. Wir,. die wir politisch, kulturell 
und wirtschaftlich ohne Rücksichtnahme auf unsere Bevölke¬ 
rungszahl als viertgrösstes Volk Oesterreichs hinter alle 
Völker zurückgesetzt werden und um die primitivsten 
staatsbürgerlichen Rechte die schwersten Kämpfe oft erfolglos 
zu führen gezwungen sind, wollen trotzdem auch jetzt 
unserer Tradition treu bleiben und keine Dissonanz 
in die Beschlüsse der berufenen Vertreter der österreichischen 
Völker hineintragen. Zu dieser Stellungnahme veranlasst uns 
allerdings nicht zum geringen Teile der Umstand, dass der 
gegenwärtige Leiter der äusseren Politik uns in der Art und 
Richtung der Führung derselben Vertrauen einflösst. Auf 
Grund unserer eigenen Erfahrungen halten gerade wir uns 
für berufen und verpflichtet, mit unserer Zustimmung zur 
dauernden Einfügung Bosniens und der Herzegowina in unser 
Staatswesen die ernste Mahnung an die berufenen Faktoren 
zu richten, unseren neuen Mitbürgern eine wirklich moderne 
zeitgemässe Landesverfassung zu gewähren und sie in den 
Genuss aller Attribute der vollen staatsbürgerlichen Freiheit 
und Gleichberechtigung zu setzen. Das hiemit geschaffene 
staatsrechtliche Verhältnis Bosniens und der Herzegowina 
kann unserer Auffassung nach nur ein Uebergangsstadium 
bis zu jenem Zeitpunkte bilden, wo innerha ! b der habsburgi¬ 
schen Monarchie allen ihren Völkern auf Grund der natio¬ 
nalen Autonomie die Möglichkeit ihrer vollen Entwick¬ 
lung auf allen Gebieten geboten werden wird.“ Redner ver¬ 
langte dann noch zum Schluss die vollste Amnestierung aller 
vor Erscheinen des Manifestes wegen politischer Vergehen 
verurteilten oder verfolgten Personen in diesen Ländern. 

Dieser Erklärung schloss sich in seiner am 27. Oktober 
in der österreichischen Delegation gehaltenen Rede der zweite 
ruthenische Delegierte Gregor Ceglinskyj an, welcher an 
die Adresse derjenigen, die gegen die äussere Politik Oester¬ 
reichs auftreten, vor allem aber den Wunsch äusserten, die 
Monarchie möge ihr Bündnis mit dem Deutschen Reiche fallen 
lassen, welches gerade jetzt unserem Reiche eine loyale Unter¬ 
stützung zuteil werden liess, den Vorwurf einer unmora¬ 
lischen Handlungsweise richtete. Der Schluss seiner Rede 
lautete: „Sowie die Ruthenen heute aufrichtige Freude ander 
glücklich und zeitgemäss vollführten Expansion empfinden und 
sie kräftig zu unterstützen gedenken, wollen sie auch an der 
inneren Umgestaltung der Monarchie tatkräftig mit- 
arbeiten, um zu ihren staatsbürgerlichen, verfassungsmässig 
verbürgten Rechten zu kommen.“ 

—r. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 499 — 


Polnischer Chauvinismus hei Gericht. 

Yor etwa einem Monate schlug die polnische Presse die Alarm¬ 
glocke zur Verteidigung der „gefährdeten Eechte der polnischen Sprache“. 
Es handelte sich um die Amtssprache im Lemberger Senat für 
Bukowinaer Angelegenheiten. Bekanntlich hat die Bukowina keinen 
besonderen Appellationssenat, sondern es besteht nur eine Abteilung für 
Bukowinaer Angelegenheiten beim Appellationssenat Lemberg. Es ist 
klar, dass in dieser dieselben Sprach Vorschriften gelten wie in der 
Bukowina, d. h. die Amtssprache ist hier deutsch, rutheniseh und 
rumänisch. Indessen erheben die Polen, deren es in der Bukowina ganze 
3'7°/o gibt, einen grossen Lärm, indem sie den bestehenden Sachverhalt 
als „Einschränkung der Rechte der polnischen Sprache“ ausschreien 
und für den Senat für Bukowinaer Angelegenheiten Gleichberechtigung 
der polnischen Sprache anstreben. 

Die Kehrseite der Medaille: In Galizien wohnen 43% Ruthenen, 
also ist hier das prozentuelle Verhältnis zur Gesamtbevölkerung 
116-mal grösser als der Polen in der Bukowina. Schauen wir nun zu, 
was für Rechte die ruthenische Sprache in Galizien besitzt, bzw. wie 
die der ruthenischen Sprache zustehenden Rechte von den polnischen 
Justizbehörden respektiert werden. Wir führen nur einige Fakten an, 
welche ein Beweis sind, welch grossen Hass die polnischen Justiz¬ 
behörden und die polnische Gesellschaft gegen die ruthenische Sprache 
nähren, indem sogar der Verhandlungssaal, also ein Ort, wo Gerechtig¬ 
keit allmächtig herrschen soll, zum Schauplatz der ruthenenfeindlichen 
Agitation missbraucht wird. 

Am 23. September d. J. wurde eine Verhandlung gegen eine 
angeklagte Ruthenin gefühlt. In Anwendung der gesetzlichen Be¬ 
stimmungen, denen zufolge die ganze Verhandlung in der Sprache 
des Angeklagten geführt werden soll, führte der Vorsitzende, 
Landesgerichtsrat Schechowytsch die Verhandlung in rutheniscber 
Sprache, wobei er von den gesetzlichen Bestimmungen nur insoweit 
und zwar zu Gunsten der polnischen Sprache abwich, dass er zur Er¬ 
leichterung des Ganges der Verhandlung sich an den Verteidiger, an 
den Staatsanwalt und die Geschwornenbank, die sämtlich aus Polen 
bestand, in polnischer Sprache wendete und die rutheniseh abgefassten 
Fragen auch in polnischer Uebersetzung beischloss. 

Aber dies gesetzliche Vorgehen gefiel einem Geschworenen, Do¬ 
zenten der Lemberger Universität, nicht, so dass er gleich nach Ver¬ 
lesung der Fragen selbständig gegen die Antastung der 
Rechte der polnischen Sprache protestierte, welchem Bei¬ 
spiel dann die ganze Geschwornenbank folgte, indem sie eine Resolution 
mit dem Proteste gegen die Fragestellung in ruthenischer Sprache 
beschloss und die ruthenischen Fragen als nichtbestehend erklärte. 
Dies hatte zur Folge, dass gleich am nächsten Tage in einer Verhand- 


Digitized by 


Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNtVERSITY 



500 - 


lang gegen eine ruthenische Partei, die der ruthenische Landesgerichtsrat 
Stefanowytsch leitete, gegen die ruthenische Fragestellung 
Bchon der k. k. Staatsanwalt und der Verteidiger auftraten, 
wobei sie den Beifall der polnischen Mitglieder des Gerichts¬ 
hofes fanden. Auf die Aufforderung des Staatsanwaltes und des 
Verteidigers, die Fragen in polnischer Sprache zu stellen, erklärte der 
Vorsitzende, die Fragen gemäss dem Gesetze in der Verhandlungs¬ 
sprache gestellt zu haben, worauf sich der Staatsanwalt und der Ver¬ 
teidiger auf den Gerichtshof beriefen, welcher entgegen den 
bestehenden gesetzlichen Bestimmungen mit zwei Stimmen 
gegen die Stimme des Vorsitzenden dem Anträge stattgab, demzufolge 
dann die Fragen nur in polnischer Sprache gestellt wurden. 

Dies sind blosse Tatsachen, welche zeigen, dass der polnische 
Chauvinismus, wenn es um die Zurücksetzung der Rechte des ruthenischen 
Volkes sich handelt, nicht einmal vor Gesetzesbruch zurückschreckt. 
Schon das Eine, dass die Geschwornenbank im Lemberger Landesgericht 
für Strafsachen in der Regel ganz polnisch ist, ist für die dort herr¬ 
schenden Verhältnisse sehr charakteristisch. Wie kann eine solche Bank über¬ 
haupt ruthenische Angeklagte richten, wenn sie die Sprache derselben 
nicht versteht oder nicht zu verstehen vorgibt! Die Herren scheinen 
die österreichischen Gesetze nur dort zu verpflichten, wo man auf 
Grund derselben den polnischen Nationalbesitzstand erweitern und das 
ruthenische Volk und seine Sprache in dem Zustande halten kann, 
wie er in der weiland polnischen Republik geherrscht hat. Da gilt der 
abgelegte Diensteid nichts. • 

Das polnische Justiz wesen wurde zu einer Polonisierungsstätte, 
welche mit solcher Konsequenz geführt wird, dass z. B. in den letzten 
4 Jahren auf 34 neu ernannte Bezirksgerichtsvorsteher 32 Polen und 
nur 2 Ruthenen ernannt wurden und für die 4 im laufenden Jahre 
erledigten solchen Posten lauter Polen vorgeschlagen wurden! 

Wunderblumen galizUclun fl$$eKurmwe$en$. 

In Lemberg, wo der staatlich konzessionierten „ruthenischen Spar¬ 
kassa“ der Raum verwehrt wurde, angeblich deshalb, damit dieselbe 
die längst bestehende polnische Sparkassa (in der ca 20 Millionen 
Kronen vor etlichen Jahren defraudiert wurden) nicht schädige, wes¬ 
halb jene in Peremyschl loziert werden musste, — erstand in jüngster 
Zeit eine ganze Reihe nicht konzessionierter polnischer Versicherungs¬ 
anstalten, die unter der Maske „humanitärer Unterstützungsvereine“ be¬ 
hördlich zugelassen, den ruthenischen Teil des Landes als ihr Operations- 

Digitized by Gougle 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 



objekt sich auserkoren haben, und hier ungescheut und offen durch 
ihre Prospekte und Agenten als sichere und billige „Assekuranzgesell¬ 
schaften“ sich gerieren. 

Alle diese maskierten Assekuranzgesellschaften tragen in ihren 
Statuten den unverfänglichen Namen: „Unterstützungsvereine“; einige 
erklären in ihren Prospekten, der Name wäre nur deshalb angenommen, 
um vor dem Staate als humanitäre Vereine zu gelten, und keine Eechnungen 
zur Besteuerung vorlegen zu müssen;, dadurch würden die 
Regiekosten und die zu bezahlenden Prämien geringer ausfallen. Auch 
tragen alle diese neuesten polnischen Volksbeglückungsvereine folgende 
statutarische Klausel über eventuellen Schadenersatz, resp. „Unterstützung“ 
ihrer Mitglieder: „nach Massgabe des existierenden Vereinsfonds“; — 
wenn aber dieser nicht ausreichend wäre oder wenn die Vereinsleitung 
einfach nicht Schadenersatz leisten wollte oder könnte, so — „hat der 
Geschädigte keinRecht, denVerein um Schadenersatz gerichtlch 
zu belangen.“ 

Wenn wir erwägen, wie viel Scherereien die Ruthenen mit den 
unverfänglichsten Statuten für Lese- und Erholungsvereine hatten, bis 
sie, angeblich um die Rechte der Mitglieder zu wahren, bis auf den 
Punkt auf dem „i“ von der Lemberger Statthalterei als ein wurfsfrei erkannt 
wurden, so nimmt es uns helles Wunder, wie es geschehen konnte, 
dass die Statuten dieser polnischen durch „Humanität“ maskierten Ver¬ 
sicherungsvereine trotz § 2 des Gesetzes vom 15. November 1867, 
R.-G.-Bl. Nr. 134 die behördliche Approbation der k. k. Lemberger 
Statthalterei erlangen konnten; uns nimmt es Wunder, wie es geschehen 
konnte, dass überhaupt, um sich der Ausdrücke eines Rechtsgelehrten 
zu bedienen, solch verworrenes Zeug von Ungenauigkeiten, Unzuläng¬ 
lichkeiten, Undeutlichkeiten nnd Widersprüchen, die alle danach ange¬ 
tan sind, pekuniäre Rechte der Mitglieder zu gefährden, — als Statuten 
von fünf neuesten polnischen volkswirtschaftlichen Vereinen die Bureaus 
der k. k. Lemberger Statthalterei mit staatlicher Approbation passieren 
durften. Schauen wir uns einige dieser polnischen Volksbeglückungs¬ 
vereine näher an, wäre es auch nur zu dem Zwecke, um das Ausland 
über die Beglückungsversuche am ukrainischen Volke durch die Hand 
der Polen, wie der Landesregierung zu informieren. 

„Samopomoc rolnicza“ (Landwirtschaftliche Selbsthilfe) ver- 
heisst ihren Mitgliedern Schadenersatz für eingegangenes Vieh. Als Ein¬ 
schreibgebühr wird von Agenten dieses Vereines 140 K für jedes 
Stück Vieh gefordert; als Versicherungsprämie je S - 20 K für je 100 K 
deklarierten Wertes. Obgleich diese Sätze ausserordentlich teuer sind, 
werden dem Vereine doch namhafte Summen zugeführt, denn in Galizien 
gibt es bis heute keine konzessionierte Viehversicherungsanstalt, und der 
Bauer möchte seiD Vieh doch gerne versichern- Nach Bestand eines Jahres 
wurde eine Generalversammlung der Mitglieder einberufen, und — statt 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



502 — 


■eines Berichtes über den Stand und die Bilanz des Vereines — erfahren 
die Mitglieder, dass die Kassa des „Selbsthilfe“ total ausgestohlen 
sei. Was der Staatsprokurator mit diesem Falle gemacht, ist ein Ge¬ 
heimnis, Bericht und Bilanz für das erste Geschäftsjahr erschienen jedoch 
nicht bis auf den heutigen Tag. Und doch machen Agenten mit Werbung 
neuer Mitglieder in Ostgalizien weitere Geschäfte; die Neueintretenden 
wissen eben nicht, dass es „Assekuranzen“ gibt, die im Falle eines 
Schadens ihnen eine „Unterstützung nach Massgabe des existierenden 
Fonds“ verabfolgen werden und dass sie den Verein, dem sie fette 
Prämien zahlten, gerichtlich wegen Schadenersatz nicht belangen dürfen. 

Der Verein „Aurora“ verheisst seinen Mitgliedern Auszahlung 
einer Mitgift, wenn nach einem Jahre des Vereinsverbandes der (die) 
Versicherte heiratet, und zwar laut dem Prospekte für eingezahlte 38— 
200 K, und für eingezahlte 190—1000 1\. Die erste Generalversammlung 
dieses Vereines dauerte stürmische zwei Nächte, der Vereinsleiter wurde 
„grosser Ausgaben wegen“ hinausgeworfen, und eine Statutenänderung 
vorgeschlagen, „damit ja niemand glaube, der Verein könne die bisher 
versprochene Höhe der Mitgift einhalten“ — trotz Beglaubigung des 
statutarischen Versprechens durch die k k. Statthalterei. 

Der „P n g orzel e c“ ist eine Feuerversicherungsanstalt ohne 
staatliche Lizenz und Aufsicht seiner Gebarung. Sein „humanitäres“ 
Entschädigungskalkül, durch die k. k. Statthalterei als gut befunden, 
mag das Ausland selbst beurteilen: Je 500 Mitglieder bilden einen 
Abteil; im ersten Abteile, wohin Versicherungen von 300 bis 600 K 
gehören, zahlt jedes Mitglied 4 K Einschreibgebühr, 2 K jährlich an 
Administrationsbeitrag, und eine Versicherungsprämie vonje70 Heller so 
viel mal binnen einem Administrationsjahre, als Mitglieder binnen 
dieser Frist Feuerschaden erleiden. Wenn demnach binnen einem Jahr 
von jenen 500 Mitgliedern des Abteils nur sechse Feuerschaden erleiden, 
so beträgt die Feuerversicherungsprämie auf 300—600 K für jedes 
Mitglied: Einschreibegebühr 4 K + Administrationsbeitrag 2 K ' + 
Assekurationsbeitrag (70 X 0 =) 4 - 20 K, zusammen 1020 K;.also 
zweimal so viel wie bei eigentlichen Versicherungsgesellschaften, die 
Schadenersatz unbedingt leisten müssen, während diese polnische Volks¬ 
beglückungsanstalt dazu statutengemäss durch Niemanden gezwungen 
werden kann. Und welch grossartige Vorteile haben ihre Mitglieder! 
Diese 500 eines Abteiles, versichert auf je 600 K, schiesen die Summe 
von 350 K zusammen (500 X 70); erlitt einer von ihnen vollen Feuer¬ 
schaden von 600 K, so bekommt er jene 350 K, und die übrigen 499 
schiessen wieder je 70 h = 349 30 K zusammen; und trifft es sich, 
dass jetzt 3 auf je 600 K versicherte Mitglieder auf einmal Feuersbrunst 
erleiden, so beträgt der Schaden 1800 K und dafür bekommen sie 
alle zusammen jene 349 - 30 K notabene, wenn diese Fonds tatsächlich 
existieren, denn dies ist ja ein „humanitärer“ Verein, der „nach 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 503 — 


M assgabeexistier ende r Fonds“ Unterstützungen verheisst, 
zu denen er durch Niemanden gezwungen werden kann. Aehnlichen 
Zweck, wie auch ähnliches Kalkül hat eine weitere polnische Volks¬ 
beglückungsanstalt, die ,F#rtu)i a“. 

Und endlich kommt noch eine polnische Volksbeglückungsblüte 
aus neuester Zeit, um Ostgalizien mit sich zu erfreuen, der Ent- 
«chuldungsvereiu „Alliage“. Von diesem Verein berichtet 
ein ruthenisehes Tagblatt, er sei die Ausgeburt eines direkt wahnsinnigen 
Geistes, die Krone des Leichtsinnes. Und eine andere Zeitschrift berichtet: 
Tausende von Menschen drängen sich täglich zum Bureau dieses 
Vereines; dessen Leitung will jedoch Vereinsstatuten nicht vor¬ 
zeigen, bedient die Interessenten nur mit Auszügen, und lässt sich 
hohe Einschreibegebühren zahlen, die sehr leicht verloren gehen können. 

In Anbetrecht dieser wie Pilze binnen kurzer Zeit hervorschiessenden 
polnischen „ Versicherungs“-Vereine, die trotz der verschiedenen Operation6- 
objekte einander wie Wassertropfen ähnlich sind und eine sehr geringe 
Intelligenz ihrer Urheber bekunden, jedoch alle vornehmlich Ostgalizien, 
also das ukrainische Volk zu ihren Spekulationszwecken sich erkoren 
haben, muss doch öffentlich die Frage aufgeworfen werden: 

Welchen Zweck verfolgte die k. k. Lemberger Statt¬ 
halterei, indem sie solchen, tief in den Säcke der ukrainischen 
Bevölkerung eingreifenden, von jeder staatlichen Kontrolle 
freien „Versicherungs“-V ereinen ihre Approbation erteilte? 

Es fanden sich schon und werden sich noch Tausende von Leicht¬ 
gläubigen finden, die sich zu Mitgliedern dieser „humanitären“ A r ereine 
an werben lassen, amtlieherBeglaubigung vertrauend. In ihren Hoffnungen 
bitter betrogen, werden sie durch ihre Klagen die übrige Bevölkerung 
von soliden lizenzierten Versicherungsanstalten abschrecken. Bezweckte 
dies die k. k. Statthalterei, indem sie diese neuen Vereine in die Welt 
setzte ? 

Oder waren es noch andere tiefere Gründe, welche diese über¬ 
reiche Fürsorge für Ostgalizien mit solchen polnischen Volksbeglückungs¬ 
anstalten veranlasst haben? — « — 



Der Czerttowifzer Prozess. 

Die Bukowina, das Miniatur-Oesterreich, erfreute sieh bis vor 
kurzem des ungestörtesten Friedens. In keinem Lande der Monarchie 
wohnen so viele Nationen nebeneinander wie in der Bukowina und in 
keinem Lande hört man so wenig von nationalen Streitigkeiten wie 
gerade dort. Dank der Besonnenheit ihrer politischen Führer vermochten 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 504 — 


die Ruthen en,* Rumänen, Deutschen, Juden und die anderen hier ver¬ 
tretenen Nationalitäten (es wohnen hier noch in geringer Anzahl Polen, 
Magyaren und Russen) dem Lande die in den übrigen Kronländern 
wohlbekannten nationalen Streitigkeiten zu ersparen. War doch schon 
die vor einigen Jahren dank den Bemühungen der ruthenischen Führer 
Nikolaj R. v. Wassilko und Professors Smal-Stotzkyj erfolgte 
Gründung des „Freisinnigen Verbandes“ im Bukowinaer Landtage, dem 
die Vertreter der vier stärksten Nationen des Landes angehörten, ein 
bezeichnendes und erfreuliches Zeichen der Eintracht! Kaum aber batte 
dieser Verband einige für das Wohl des Landes nützliche Reformen 
durchgeführt, tauchten in seinem Schosse Elemente aut, deren 
Intriguen es gelingen sollte, den Verband zu lockern. Der Anlass wurde 
gegeben durch die Frage über die Besetzung der Direktorstelle in der 
Landesbank, für welche Abg. Onciul, ein Mitglied des Verbandes, seinen 
Schwager durchsetzen wollte. Der Verband, aus welchem die 
rumänischen Abgeordneten mit Onciul an der Spitze austraten, ging ein. 
Der bisher „freisinnige“ Onciul verstand es, den Freisinn abzulegen, 
worauf er als Christlichsozialer gegen die ruthenischen Führer des 
eingegangenen Verbandes zu Felde zog, welcher Kampf freilich nicht 
offenkundig und ehrlich geführt wurde, sondern sich in persönlichen 
Verleumdungen und Intriguen offenbarte. Der politische Kampf 
flüchtete in die Spalten der Revolverblätter Onciuls und das 
Nachspiel davon war der am 1. und 2. Oktober d. J. statt¬ 
gefundene Prozess des Obmannstellvertreters des reichsrätlichen 
Ruthenenklubs und Landtagsabgeordneten Wassilko gegen den Reichs¬ 
ratsabgeordneten Aurel Onciul und Chisanovici, den Redakteur 
der Zeitschrift „Die Wahrheit“, -in welcher in einem Artikel aus der 
Feder und mit voller Unterschrift Onciuls gegen Wassilko Ver¬ 
dächtigungen unreiner Natur erhoben wurden. Dieser habe sich von 
einem Bukowinaer Fabrikanten zur Unterstützung von dessen Angelegen¬ 
heiten bei den vom Landtage bestimmten Experten bestechen lassen. 
Der Prozess endete für den Angeklagten mit einer unendlichen 
Blamage. Onciul erschien zur Verhandlung überhaupt nicht und sein 
Vertreter bemühte sich, ihn durch den hinfälligen Hinweis rein¬ 
zuwaschen, der Name Wassilkos sei ohne Wissen Onciuls von der 
Redaktion in den Artikel eingeschmuggelt worden . .. Onciul, gegen 
welchen gleichzeitig Klagen vom Landeshauptmann-Stellvertreter Prof. 
Dr. Smal-Stotzkyj und vom gewesenen Bezirkshauptmann Mikuli 
ebenfalls wegen Beleidigungen, die ihnen in verschiedenen Artikeln 
angetan wurden, und vom Reichsratsabgeordneten S p e n u 1 wegen 
Beleidigung im Reichsrate erhoben wurden, wurde zu einem Monat 
Arrest, resp. zu 3000 Kronen Geldstrafe und zur Tragung der 
Kosten des Strafverfahrens verurteilt. Der Redakteur der „Wahrheit“ 
aber sah sich gezwungen, eine Ehrenerklärung abzugeben,, dahin- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



gehend, dass seine Verdächtigungen grundlos und der Wahrheit nicht- 
entsprechend seien, nachdem er selbst einsehe, dass der Wahrheits¬ 
beweis gänzlich misslungen sei. 

So erhielt Abg. Wassilko eine glänzende Genugtuung für die durch 
viele Monate gegen ihn geführte Verleumdungskampagne, welche 
auch im Parlamente einen Widerhall fand. Nicht minder genugtuend war 
auch die Eede des Verteidigers, Abg. Dr. Okunewskyj, weicherden 
Prozess vom politischen Standpunkte beleuchtete und unter anderem 
auch ausführte: Die ruthenischen Abgeordneten im Parlamente wurden 
darüber nicht wenig stutzig, als im Parlamente der Christlichsoziale 
Schorn wohl über die „ Korruption“ in der Bukowinaer Verwaltung 
sprach. Als dann Abg. Onciul Herrn von Wassilko Bestechlichkeit in seiner 
Tätigkeit als Abgeordneter vorwarf, jenem Wassilko, von welchem die 
ruthenischen Abgeordneten aus Galizien soviel Gutes gehört und den 
sie zum Obmannstellvertreter ihres Klubs gewählt haben, habe sich der 
Redner entschlossen, persönlich bei der Verhandlung zu erscheinen, um 
sich zu überzeugen, ob denn nur der geringste Teil der Vorwürfe einen 
Schatten von Wahrheit birgt. Jetzt, nach durchgeführter Verhandlung, 
könne der Redner mit ruhigem Gewissen und Freude feststellen, dass 
alles eine gemeine Lüge ist. Onciul habe im Parlament mit Emphase 
ausgerufen, er verberge sich nicht hinter der Anonymität, sondern trete 
mit seinen Vorwürfen gegen den Abg. Wassilko offenkundig auf. Wo 
steckt er denn heute? Er habe es nicht gewagt, gegen Wassilko Auge 
in Auge aufzutreten. — — 

Man hat nicht einen Moment über den Erfolg des Prozesses im 
Zweifel sein können. Ein Beweis, wie sich die ruthenische Gesellschaft 
zum Abgeordneten Wassilko verhält und wie grosses Vertrauen sie ihm 
entgegeubringt, wurde dadurch geliefert, dass kaum eine Woche vor 
dem Prozess, anlässlich des zehnjährigen Jubiläums seiner politischen 
Tätigkeit, ruthenische Abgeordnete aus Galizien und der Bukowina unter 
Führung des Obmanns des Ruthenenklubs Prof. Romanczuk nach 
Czernowitz kamen, um dem Jubilar Glückwünsche zu überbringen. Ein 
Dezennium ist kein gar so grosser Zeitraum, aber wer die Lage des 
Ruthenentums in der Bukowina gekannt hat und sie mit der jetzigen 
vergleicht und darüber unterrichtet ist, dass der gewaltige Foitschritt 
vornehmlich der politischen und organisatorischen Tätigkeit Nikolaj 
Wassilkos zu verdanken ist, wer seine parlamentarische Tätigkeit 
kennt, der wird einsehen, dass der Jubilar auf die zehn Jahre seines 
Lebens als Politiker stolz sein kann. 

Die Niederlage seines Gegners, der durch seine Verleumdungen 
Waffen gegen sich selbst schmiedete, ist auch eine Niederlage aller 
jener, welche durch verwerflichste Mittel, auch durch Ehrabschneidung 
bemüht sind, den Frieden im Lande zu stören und sogar den Zwiespalt 
unter den Ruthenen herbeizuführen. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 506 — 


Eine Beschwerde der Ukrainischen Rundschau an die 
k. k. Post* und Celegraphendirektion in Cemberg. 

Unsere Redaktion sandte an die k. k. Post- und Telegraphen¬ 
direktion in Lemberg folgende Beschwerde ein : „Löbliche k. k. Post- 
und Telegraphendirektion! Seit einiger Zeit erhebt die ruthenische 
Presse laute Klagen über die Missbrauche bei den galizischen Post- 
und Telegraphenämtern. Im Verein mit diesen erlauben auch wir uns, 
unsere Klage zu erheben, nachdem wir mit Recht annehmen können, 
dass die galizische Post vor allem uns zur Zielscheibe ihrer Schikanen 
ausersehen hat. 

Die Schikanen der galizischen Postorgane gegen die ruthenischen 
Interessenten rühren im allgemeinen davon her, dass die polnischen 
Postfunktionäre, die zur Kenntnis der beiden Landessprachen, also auch 
der ruthenischen verpflichtet sind und man sollte erwarten, diese auch 
beherrschen, gegenüber ruthenisch adressierten Sendungen die Methode 
der passiven Resistenz anwenden, wie wir sie nachstehend an 
Beispielen beleuchten werden ; oder auch, was sehr oft vorkommt, solche 
Sendungen auf falsche Routen richten, so dass in Galizien aufge¬ 
gebene und für eine galizische Ortschaft bestimmte Poststücke nach 
Russland, Serbien, Bulgarien, ja sogar nach Japan wandern, um dann 
einfach als „infolge mangelhafter Adresse nicht zustellbar“ an die 
Adressaten zurückzugelangen. Damit im Zusammenhänge steht auch die 
unverhältnismässig hohe Anzahl in Verlust geratener Sen¬ 
dungen. 

Dass nicht Unkenntnis der ruthenischen Sprache seitens der 
polnischen Beamten, was ja gleichfalls unverzeihlich wäre, sondern der 
ruthenische Charakter der Postsendungen die Ursache dieser en gros 
betriebenen Missbräuche bei den galizischen Postämtern ist, bezeugt am 
besten der Unfug, welcher mit der Zustellung unserer Zeitschrift getrieben 
wird, welche in Wien aufgegeben und deshalb auch in lateinischer 
Schrift adressiert wird. 

Schon zu Anfang des Bestehens der „Ruthenischen Revue“ haben 
wir die grössten Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten mit der 
Expedition derselben gehabt, nachdem die im ruthenischen Wortlaut 
lateinisch geschriebenen Bestimmungsorte sehr oft als „nichtbestehend“, be¬ 
ziehungsweise als „unbekannt“ bezeichnet wurden, so dass wir uns 
ganz entgegen unseren Prinzipien und mit freiwilligem Verzicht auf 
unser gutes Recht (sind ja doch auch im Zentral-Postkatalog Oesterreichs 
ebenso gut polnische, wie auch ruthenische Postamtsstellen angegeben) 
entschliessen mussten, zur polnischen Ortsnamenbezeichnung zu greifen, 
um die Existenz der Zeitschrift nicht aufs Spiel zu setzen. Dies hatte 
freilich zur Folge, dass die Zahl der willkürlich unserer Administration 
von der Post zurückgesendeten Exemplare bedeutend abnahm; trotzdem 
aber hörten die Seckaturen nicht auf, sondern haben in letzter Zeit den 
Charakter verwerflichster Missbräuche angenommen, wodurch unsere 
Zeitschrift materiell arg geschädigt wird. 

Die Seckaturen scheinen jetzt darauf begründet zu sein, dass die 
polnischen Postbeamten, welche ihren allpolnischen Kollegen im Ver- 


Digitized by 


Gck igle 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 



— 507 — 


waltungsdienste an patriotischem Eifer nicht nachstehen wollen, auch 
durch die wörtliche Uebertragung ruthenischer Namen in Lateinschrift 
so gereizt werden, dass sie auch die so transkribierten Adressen als 
unbekannt bezeichnen. Wir erinnern daran, dass uns die allpolnische 
Presse, deren Abnehmerkontingent hauptsächlich die Beamtenwelt ist, 
eine solche Namensübertragung übelnimmt, wie überhaupt die galizischen 
Behörden und Schulen ruthenische Namen nur in polnischer U e b er¬ 
setz ung, nicht aber in polnischer oder gar deutscher Transkription 
gelten lassen/) Des Urteiles, inwieferne nicht Adressformalitäten, sondern 
der Inhalt der Sendungen Ursache der Missbräuche der galizischen 
Post bei Zustellung derselben ist, wollen w T ir uns vorläufig enthalten. 

Es ist bei der österreichischen Post Brauch, dass Sendungen dem 
Adressaten auch dann zugestellt werden, w r enn die Wohnungsangabe 
nicht genau ist, jedoch ermittelt werden kann. So wird beispielsweise 
in Wien in solchen Fällen die richtige Adresse mit Hilfe von Wohnungs- 
anzeigern, oft sogar mit Hilfe der Polizei ausfindig gemacht. Wir er¬ 
halten beispielsweise Briefe zugestellt, die den Namen des verstorbenen 
Redakteurs der bereits seit drei Jahren unter geändertem Titel 
(„Ukrainische Rundschau“) erscheinenden „Ruthenischen Revue - , als 
dieser noch Herausgeber der „X-Strahlen“ war, tragen. Die Briefe 
wandern von einem Bezirk in den anderen (XVIII. Lazaristengasse. 
I. Dominikanerbastei, IX. Höfergasse, VIII. Wickenburggasse, XVIII. 
Gersthoferstrasse, XVIII. Salierigasse, XVIL Frauenfelderstrasse), bis 
sie endlich zum vermutlichen Ziele gelangen. Ebenso werden in Wien 
oft auch Briefe zugestellt, welche keine Wohnungsadresse haben, sobald 
diese nur in oben bezeichneter Weise zu ermitteln ist. Anders aber in 
Galizien, zumindest bei Zustellung ruthenischer Sendungen, vornehmlich 
der „Ukrainischen Rundschau“. Leute und sogar Gesellschaften, die 
einmal ihre Wohnung geändert haben, Amtspersonen, deren Versetzungs¬ 
ort der betreffenden Behörde bekannt sein muss, werden in der Regel 
als „unbekannt“ oder „ausgezogen, unbekannt w T ohin“ bezeichnet; aber auch 
die eventuelle Richtigstellung der Adresse durch den Briefträger wird 
in keinem Falle bei der Zustellung berücksichtigt, wie es ja die Pflicht 
und Schuldigkeit der Post wäre. Ist nun das schon eine Ungebührlich- 
keit, so ist es ein grober Missbrauch, wenn Sendungen mit den genauesten 
und ganz richtigen Adressen als „unbestellbar“ zurückgeschickt 
werden, während Briete ohne den Firmaaufdruck „Ukrainische Rund¬ 
schau“, die wir, um der Sache auf den Grund zu kommen, an dieselbe 
Adresse geschrieben haben, ohneweiters an diese zugestellt wurden. So 
kamen beispielsweise die an Herrn P., Gymnasialprofessor in Lemberg, 
M . . . gasse 6 adressierten Hefte seit Juni d. J. infolge „mangelhafter 
Adresse“ zurück (Beleg I). Nachdem dies einigemale vorkommt, das 
Abonnement aber noch fortbesteht, wenden wir uns schriftlich an Herrn 
P. und siehe da, diese Karte erreicht sonderbarerweise den Adressaten, 
der antwortet: Meine Adresse ist genau dieselbe, unter welcher Ihre 


*) Z. B. Der Name Didytzkyj soll polnisch heissen : Dziedzicki, 
Strilbytzkyj : Strzelbicki, Horodok : Grödek, Ripniw: Rzepniöw u. drgl. 

Anmerkung der Redaktion. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



werte Karte mich erreioht hat. Wie Sie mir schreiben, hat man Ihnen 
Nr. 8 retourniert, was ist es aber mit 6 und 7, die ich auch nicht 
-erhalten habe ? usw. (vergl. Beleg II). Wir *ind jedenlalls froh, einen 
Abonnenten gerettet zu haben. Ein anderer Fall: wir erhalten Nr. 8 an 

Herrn P. Lemberg, 0.gasse 11 adressiert zurück, mit dem 

Postvermerk: „Ohne nähere Wohnungsangabe war der Adressat nicht 
-einmal mit Hilfe der Polizei (!) aufzufinden“. Nach einer Woche reklamiert 
dieser Herr die Nummer (Beleg- III), wir schicken ihm dieselbe an die 
gleiche Adresse noch einmal, doch kommt sie, sowie eine noch vor der 
Reklamation abgesandte, gleich adressierte Korrespondenz-Karte mit 
•unserem Firmaaufdruck (Beleg IV) wieder mit derselben Anmerkung 
zurück. Man beachte aber, dass der betreffende Abonnent Postbeamter 
ist. Trotzdem versagt die Post und so ist keine Möglichkeit, sich mit 
dem Adressaten in Verbindung zu setzen. Wir haben uns seither aut 
das Anfragen bei „unbekannten“ oder „zurückweisenden“ Abonnenten 
verlegt und stellten zu unserer Verwunderung fest, dass die Post, welche 
uns hartnäckig die Nummern zurückschickt, bei Zustellung der Briefe 
ganz gut funktioniert. So schrieben wir dem Abonnenten Herrn H., 

Gendarmeriewachtmeister in S., nachdem wir ein an ihn gesendetes 

Heft mit dem Postvermerk: „Nicht angenommen“ (Beleg V) erhielten, 
um Ursache dieses Vorgehens, worauf die Antwort (Beleg VI) eintraf, 
•dass der Herr, welcher allerdings inzwischen versetzt wurde, das Heft 
weder erhalten, noch die Annahme verweigert habe und dass es ihm 
durchaus nicht einfalle, das Abonnement zu kündigen. 

Die an Herrn Gymnasialprofessor 0. in Peremyschl, welcher seit 
20 Jahren dort wohnt und allgemein bekannt ist, adressierte „Ukrainische 
Rundschau“ kommt beständig zurück, er reklamiert die Zeitschrift 
viermal und droht mit Kündigung des Abonnements, wir schicken sie 
ihm wiederholt zu, doch bekommen wir sie immer wieder zurück. 
(Beleg VII und VIII) usw. usw. 

Man achte aber darauf, dass dies lauter Daten vom Monate 
September sind. Wir halten es nicht für nötig, die Bedeutung 
solcher Schikanen für eine Zeitschrift erst klarzulegen. Ist Derartiges 
überhaupt ein Hohn auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im allgemeinen, 
so kann ein solches Vorgehen einer Zeitschrift gegenüber direkt deren 
Ruin herbeiführen. Wir sind im Begriffe, nach Sammlung genügenden 
Beweismaterials mit Ersatzansprüchen an den k. k. Fiskus heranzutreten, 
ersuchen jedoch mittlerweile um Einstellung der Missbräuche, welche 
wir einer löblichen k. k. Direktion an der Hand beigeschlossener Belege 
illustrieren und ersuchen um Untersuchung der angeführten Fälle und 
um diesbezügliche Verständigung mit Zurücksendung der genannten 

Belege an die „Ukrainische Rundschau“ in Wien etc. 

* * 

* 

Beschwerden aus dem ruthenischen Publikum. 
Im Anschlüsse an die zitierte Klage erlauben wir uns, im Nachstehenden 
manches aus den Praktiken der galizischen Post, wie sie in letzter Zeit 
durch ruthenische Zeitungen hervorgehoben werden, anzuführen. Der 
Advokat Dr. Theofil Kormosch schreibt im „Dilo“ vom 28. 
-September d. J.: „Die unzähligen Klagen der Ruthenen über die Miss- 


Di gitizetl by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





— 509 — 


Wirtschaft bei den galizischen Post- und Telegraphenämtem entstanden 
durch Unkenntnis der ruthenischen Sprache oder Bosheit der polnisch¬ 
chauvinistischen Beamten sind bei uns so an der Tagesordnung, dass es 
einen schou ekelt, darüber unausgesetzt zu berichten; dies umsomehr, 
als eingereichte Beschwerden keinen Erfolg haben und die schuldigen 
Beamten nicht nur nicht bestraft werden, sondern in der Regel als gute 
Patrioten avancieren. Ich will hier als Beispiele nur einige drastischere 
Fälle anführen, die mir selbst in letzter Zeit vorgekommen sind. 1. Eine 
telegraphische Depesche in ruthenischer Sprache, aufgegeben am 18. 
Juli d. J. um 9 Uhr früh in der Station Psary, an meine Adresse in 
„Lopuschanka durch Boten Turje“, wurde erst um 2 Uhr nachmittags 
expediert und als sie in L. eingelangt war, nicht gemäss dem in der 
Adresse geäusserten Wunsche durch einen Boten zugestellt, sondern 
mit Post gesandt, so dass sie in meinen Besitz erst am 14. Juli, 2 Uhr 
nachmittags gelangt ist. Dabei wurden einzelne Worte dieses Telegramms 
so verunstaltet, dass der Inhalt absolut nicht zu enträtseln war. Origi¬ 
nalitätshalber führe ich hier das ganze Telegramm an: Psasy (soll sein: 
Psary). Trzymaje maku (statt: try majetky) bilsze korystny (statt: bilszi 
korystno) sprawa waina a spiszna pryjizdiaj jej aos (statt: sejczas). 
Sninekgeleuski (statt: Siunek Pelenskyj). Das Original dieser Depesche 
habe ich an das k. k. Ministerium geschickt. Auf diese Depesche, aus 
der ich nur schliessen konnte, dass ich fahren solle, ohne zu wissen 
warum, bin ich am selben Tage um 5 Uhr nachmittags auf der Station 
Strilky eingestiegen, nachdem ich vorher am Telegraphen amte in L. um 
3 / 4 5 Uhr eine ruthenische Depesche nach Psary (Bote Zahirje) folgenden 
Inhalts aufgegeben habe: „Komme an, Pferde nach Chodoriw l / i l nachts 
schicken“. Ich kam um l / 2 l Uhr an, fand aber die Pferde nicht da und 
nahm daher eine Droschke nach S., wofür ich 6 K bezahlen musste. 
Meine Depesche aber ist statt durch einen Boten, erst am dritten Tag, 
d. i am 16. Juli d. J. um VsK* XJhr früh durch die Post zugestellt 
worden. 2. Briefe und Zeitungen, ruthenisch adressiert, erreichen ent¬ 
weder die Adressaten gamicht, oder sie wandern durch die ganze Welt, 
bis sie za ihm gelangen. So wanderte eine in Peremyschl nach Turje 
durch Strilky aufgegebene Zeitung, sehr deutlich ruthenisch adressiert, 
vom 10. bis 18. Juli durch die Postämter Bobrka und Rudky, bis sie 
nach Turje gekommen ist. 8 Ruthenische, ganz vorschriftsmässige Postr 
pakete und die dazugehörenden Begleitadressen kommen nicht gleichzeitig 
an, sondern entweder das Gepäck früher und dann der Begleitschein 
um 1—2 Tage später oder umgekehrt. (Einige Beispiele werden angeführt.) 
Ich habe absichtlich nur Beispiele aus dem letzten halben Monate 
angeführt, die sich alle nur auf einen Adressaten beziehen.“ Kaum einen 
Monat darauf, am 21. August lesen wir in derselben Zeitschrift unter 
dem Titel: „Polnische Wirtschaft ohne Ende“, eine Zuschrift desselben 
Herrn, der wir nachstehendes entnehmen : „Umlängst erst habe ich über 
die Misswirtschaft bei den galizischen Post- und Telegraphenämterm 
berichtet und heute schon musste ich eine neue Klage an das k. k. 
Handelsministerium senden, nachdem es überhaupt schon nicht mehr 
auszuhalten ist. Der grösste Skandal geschieht mit den telegraphischen 
Depeschen. Am 10. August 1908 habe ich beim Telegraphen amte in 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



-- 510 


Lopuschanka-Chomyna um 9 Uhr früh zwei Depeschen aufgegeben und 
zwar eine an Ustyanowycz, Eisenbahnbeamter in Stryj, die andere an 
Turkewycz in Psary mit bezahltem Boten nach Zahiije, um Pferde zur 
Bahnstation. Die erste dieser Depeschen erreichte den Adressaten bis 
4 Uhr nachmittags nicht, obwohl derselbe an diesem Tage Dienst in der 
Eisenbahnstation Stryj hatte. Die andere gelangte zum Adressaten 
ungeachtet dessen, dass ich 9 K Botenlohn im voraus bezahlt hatte, 
erst am nächsten Tage um 10 Uhr früh und zwar eine Stunde später 
als die gleichzeitig mit dem Telegramm an den gleichen Adressaten 
aufgegebene Korrespondenzkarte, wobei, wie aus der Depesche zu ersehen 
ist, der Beamte sich noch auf Betrug verlassen hat, indem er als 
Aufgabestunde 5 Uhr nachmittags, statt 9 Uhr vormittags angab. Dadurch 
erlitt ich einen Schaden, nachdem der Adressat nicht nur zweimal 
umsonst Pferde zur Station um mich geschickt hat, sondern ich auch 
noch selbst 6 K für eine Droschke bezahlenmusste. Für alle diese unnötigen 
Ausgaben fordere ich jetzt Schadenersatz von dem k. k. Fiskus. 
In all diesen zahllosen Unregelmässigkeiten bei der Zustellung von Post- 
und Telegrammsendungen sehe ich keineswegs Zufälligkeiten, 
sondern den schlechten Willen der polnischen Beamten 
gegenüber der ruthenischen Schrift. Dass dem so ist, geht 
schon daraus hervor, dass in anderen Ländern, z. B. Deutschland, wo 
man die ruthenische Schrift nicht kennt und nicht verpflichtet ist, sie 
zu verstehen, ruthenische Telegramme sehr genau geschrieben werden, 
wie ich dies aus einer von einer galizischen Ortschaft aufgegebenen 
Depesche nach Kissingen ersah. 

Die letzte Behauptung bestätigt eine andere Zuschrift von der 
Gesellschaft Sokil in Lemberg an desselbe Blatt. Diese ver¬ 
schickte Kommuniques an ihre Filialen, darunter an die in Malko- 
wytschi P. Czerlany (bei Lemberg). Die Sendung kam aber zurück mit 
einem Poststempel aus Sofia in Bulgarien. Die Gesellschaft teilt 
weiter mit, dass ihr Briefe und sogar Postanweisungen ausschliesslich 
ruthenisch adressiert, ohne einen lateinischen Buchstaben, aus Preussen 
und sogar aus Amerika, geschrieben wahrscheinlich von der Latein¬ 
schrift Unkundigen, zugestellt werden; in Galizien aber könne eine 
ruthenisch adressierte Sendung nicht einmal von einem Postorte zum 
nächsten gelangen. 

Dieselbe Nummer des Blattes bringt die Zuschrift des rutheni¬ 
schen Aufklärungsvereines,.Proswita“ in Lemberg, von 
dem eine in Berlin aufgegebene Sendung mit ruthenischer Adresse, je¬ 
doch mit folgender deutscher Angabe: Oesterreich, Galizien, Lemberg 
— von Lemberg aus mit dem Postvermerk „Retour, mangelhafte Adresse“ 
nach Berlin zurückgeschickt wurde. Wir bemerken dazu, dass dieser 
Verein in Lemberg am Ringplatz ein eigenes Haus hat und einem jeden 
Lemberger bekannt ist. Aehnliches passierte der ruthenischen Ean- 
delsgesellschaft „Narodna Torhowla, von. welcher eine 
vom Drohobytscher Bezirksgerichte ruthenisch adressierte Sendung zu¬ 
rückgeschickt wurde mit der Bemerkung, dass eine solche Gesellschaft 
in Lemberg nicht bekannt sei. Nun war zwar keine nähere Wohnungs¬ 
adresse angegeben, aber es steht iest. dass die „N. T.“ in Lemberg all- 

Digitized by Google 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



- 511 


gemein gekannt wird, nachdem diese Gesellschaft 25 Jahre besteht, am 
Ringplatze im eigenen Hanse etabliert ist und täglich durchschnittlich 
30 Postsendungen erhält. 

In einer anderen Zuschrift klagt der Pfarrer W. Utrysko unter 
Anschluss eines Belegs, dass eine an ihn genau adressierte Sendung nach 
Skwarjawa nowa, 1. P.: Zowkwa, ganz Galizien, ja sogar Russland bis 
Moskau passierte, bis sie endlich an ihn gelangte. 

In einer anderen Nummer schreibt das Blatt, es seien ihm zwei 
weitere Briefe als Belege zur Charakteristik der polnischen Misswirt¬ 
schaft zugekommen; einer davon, mit grossen Buchstaben fcaligraphisch, 
aber ruthenisch adressiert, aufgegeben in Boryslaw nach Bilohora 
(Weissenberg). welcher infolge der ruthenischen Adresse nach Rohat- 
schew in Wolhynien, Russland, gewandert ist. Der andere, 
aufgegeben in Bilohora nach Boryslaw, ebenfalls sehr deutlich adres¬ 
siert, kam nach Folticeni in Rumänien, nach welchem Umwege 
er allerdings unangefochten den Adressaten endlich erreichte. 

Folgende Geschichte erlebte eine an den ruthenischsn Pfarrer in 
Cwirz P. Chorosuycia ruthenisch adressierte Korrespondenzkarte: 
Sie wurde zuerst zur Aufgabestelle Lemberg mit der den Bestimmungs¬ 
ort bezüglicher Anmerkung: „Retour, polizeilich nicht gemeldet u (!) zu¬ 
rückbefördert, dann an einen falschen, kombinierten Aufgeber zurück¬ 
adressiert, bis endlich die Karte den richtigen Adressaten, dessen Name 
jedoch erst polnisch umgeschrieben wurde, erreichte. 

Alle diese Meldungen mit Ausnahme der ersten von Dr. K., die 
wir nur des Zusammenhanges wegen mit seiner anderen Zuschrift ge¬ 
bracht haben, beziehen sich bloss auf die zwei Monate, August und Sep¬ 
tember, wobei wir ausdrücklich bemerken, dass wir die vielerlei üeber- 
griffe leichterer Arf der galizischen Postbeamten wegen Raummangels 
nicht berücksichtigen können. Das ganze ist aber ein beredtes Armuts¬ 
zeugnis für die polnische Kultur, mit welcher sich die Polen so gerne 

prahlen; weitere Kommentare halten wir für überflüssig. 

* * 

* 

Lustiges von der galizischen Post. Es war zur Zeit 
der Wahlreformbewegung. Auf das Postamt in Rudnyky, Bez. Sniatyn 
kam der Vorsitzende einer Wählerversammlung mit noch einigen Bauern, 
um ein Telegramm an den Ministerpräsidenten aufzugeben, mit dem 
Wortlaut: Ruthenische Volksversammlung in R. erklärt sich für allge¬ 
meines, unbeschränktes Wahlrecht, protestierend gegen Schlachzizen- 
intriguen.“ Der Postmeister nimmt den Zettel mit dem Text in die 
Hand, prüft ihn genau und gibt ihn dann dem Bauern zurück mit der 
Bemerkung: „Ich kann das nicht annehmen und ich nehme es unter 
gar keiner Bedingung an. a Die Bauern fragen nach der Ursache der 
Weigerung uud der Beamte antwortet (selbstverständlich polnisch): „Ich 
nehme prinzipiell keine Telegramme politischen Charakters an, und 
schliesslich wie kann das sein, dass ein Mensch etwas wünschen kann 
u. zw. vom Ministerpräsidenten, im Namen irgend einer Versammlung!* 
Ein ruthenischer Student, den einige Bauern herbeigerufen hatten, ver¬ 
sucht auf die artigste Weise, den hier allmächtigen Beamten zu über¬ 
zeugen, dass dem Obmann einer Versammlung ein solches Recht zustehe, 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



512 — 


und überdies, dass es nicht Sache eines Telegraphenbeamten sei, sich 
darum zu kümmern, wem und was jemand telegraphiert, weil das Amt 
für das Publikum, nicht aber das Publikum für das Amt da sei usw. 
Jedoch vergebens. Die abgewiesenen Aufgeber wollen sich nun über 
den chauvinistischen Beamten bei dem Handelsminister telegraphisch 
beschweren. Aber auch dieses Telegramm wird nicht angenommen und 
der Herr Beamte fertigt die armen Bauern kurzweg ab: „Na, halten Sie 
mich für so naiv, dass ich ein Telegramm mit einer Klage über mich 
selbst annehmen werde? . . 



Rundschau. 

Politische Prozesse gegen Ukrainer in Poltawa. 

Unter dem Vorwurf, einer Organisation angehört zu haben, „welche 
sich als Ziel ihrer Tätigkeit die gewaltsame Umwandlung 
der S t a a t s v e r f a s s u n g Russlands in eine demokratische 
Republik und Losreissung der ukrainischen Gouver¬ 
nements vom Gesamtreiche steckt“, wurden deT Student 
Butschatzkyj und der Bauer Harisdra am 15. Oktober d. J. 
auf die Anklagebank vor das Schwurgericht in Poltawa gebracht und 
verurteilt: der eine zu acht Monaten schweren Kerkers, der 
andere zur Verbannung nach Sibirien. — Am nächstfolgenden Tage 
standen vor den Geschwornen die wegen ähnlicher Delikte angeklagten 
Mitglieder der „ukrainischen sozialdemokratischen Ar¬ 
beiterpartei“ aus Konstantinohrad: Pukas, Semerenko, Kat¬ 
sch alka und Omeltschenko. Der letzte wurde freigesprochen, von den 
anderen aber einer zu drei, ein anderer zu einem Jahre schweren 
Kerker, ein dritter zur Verbannung mit Verlust der bürgerlichen Rechte 
verurteilt. 

Die Wohltaten fiir die Ruthenen in Wien. 

Was für Gerechtigkeit den Ruthenen in Wien zuteil wird, möge 
daraus geschlossen werden, dass trotz der Bemühungen des Ruthenen- 
klubs und trotz der Versprechungen der Regierung, eine Anzahl ruthe- 
nische Beamten in dem neugeschaffenen Ministerium für öffentliche 
Arbeiten anzustellen, kein einziger Ruthen e, dafür aber ein¬ 
undzwanzig Polen hier angestellt wurden. Für die dreieinhalb Millionen 
Ruthenen Oesterreichs gibt es im neuen Ministerium auf 160 Beamte 
keinen, der die ruthenische Sprache versteht! Nicht besser schaut es in 
anderen Ministerien aus. Als Folge breitspuriger Verhandlungen mit der 
Regierung erhielten die Ruthenen einen Beamten unterster Rangs¬ 
klasse für das Unterrichtsministerium und einen Beamten unterster 
Rangsklasse für das Justizministerium. Im Finanzministerium war 
im vorigen Jahre ein ruthenischer Beamter achter Rangsklasse, wurde 
aber nach Galizien zurückversetzt. Im Ministerium des Innern gibt es 
auch keinen einzigen ruthenischen Beamten. Es sind nur zwei Even- 

Digitized by Google 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 



— 513 — 


tualitäten möglicli: entweder waren die Forderungen des Ruthenen- 
klubs nicht energisch genug, oder ignoriert die Regierung ruthenische 
Wünsche. 

Graf Dxledasxyekl Mer die mtbCBUcbe Trage. 

In einer Reihe von Artikeln in der „Gazeta narodowa“ 
behandelt Graf Dzieduszycki die ruthenische Frage in Galizien, deren 
Lösung er in dem Zustandekommen eines polnisch-ruthenischen Aus¬ 
gleiches findet. Interessant ist das Geständnis des führenden polni¬ 
schen Politikers, dass „polnische Stimmen vielen Russo- 
philen in Galizien bei den letzten Wahlen zum Siege 
verholfen haben“. Doch sei man darauf in Wien nicht gut 2 m 
sprechen. „Mögen nur die Ukrainer in Wien melden, dass die Polen 
in Galizien das Ruthenische durch das Russische er¬ 
setzen wollen (was natürlich zwecklos wäre, weil die österreichische 
Regierung die Russifizierung der Sprache in Schule und Amt nie zulassen 
würde), dann würden die Polen für viele in Oesterreich ein sehr ver¬ 
dächtiges Element erscheinen. Die Regierung wirft jetzt den 
Ukrainern ihren Radikalismus vor, sie ermahnt sie zur Verständigung 
mit den Polen ; aber, wenn es sich erweisen sollte, dass die Polen den 
Russismus unterstützen, würde sie sich mit den Ukrainern aussöhnen 
und wäre sogar bereit, den Zionismus zu unterstützen/ 4 Dieses Ge¬ 
ständnis ermöglicht uns die Orientierung über die seit einiger Zeit 
herumschwirrenden Gerüchte über einen polnisch-ruthenischen Ausgleich, 
der gemacht werden soll. 

De«e mtbexUcbe Doxeatea ai 4er Ceaiberger ilaiversitit. 

Der Unterrichtsminister bestätigte den Professoren-Beschluss der 
juridischen Fakultät der Lemberger Universität bez. der Zulassung Dr. 
Wladimir Werhanowskyjs als Privatdozent des österreichischen 
Rechtes und der Zivilprozedur und den Professoren-Beschluss der 
philosophischen Fakultät bezüglich Dr. Stefan Rudnytzkyj als 
Privatdozent der Geographie, beide mit ruthenischer Vor¬ 
tragssprache. 

Das akraiiUcbe Gynaasima in lUixiitz. 

Das neugegründete Gymnasium in Wiznitz wird nicht, wie wir 
seinerzeit gemeldet haben, einen utraquistischen, sondern einen 
einheitlichen ukrainischen Charakter tragen. Während die Organisation 
der Bukowinaer Deutschen erklärte, dass die Deutschen gegen diese 
Errungenschalt der Ukrainer nichts einzuwenden haben, nachdem sie 
doch in keiner Beziehung die Rechte der Deutschen tangiert, beginnen 
die Bukowinaer Juden aus diesem Anlass Lärm zu schlagen. 
Recht sonderbar ist die Entstehungsgeschichte dieses Gymnasiums. Es 
wurde zwar bereits vor Jahren von dem bukowinischen Landtage 
beschlossen, dessen Eröffnung wurde aber erst heuer erwirkt und zwar 
als eine Konzession — für die galizischen Ruthenen (Wiznitz liegt an 
der galizisch-bukowinischen Grenze), nachdem die Polen in Galizien 
keine neuen ukrainischen Mittelschiffen zulassen wollen. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



514 — 


Digitized by 


magyarischer gbaaoinUtt«*. 

Das magyarische Blatt „Ra hoi Ujs&g“ erfuhr, dass in Jas in 
(magyarisiert: Körösmezö) ein ruthenischer Volksbildungs¬ 
verein gegründet werden solle. Aus diesem Anlass schlägt das Blatt 
Alarm und fordert die Behörden auf, die Gründung dieses „staats¬ 
gefährlichen“ Vereines zu vereiteln. Niemand dürfe dem Verein bei¬ 
treten. „Und wer dies tut, — schliesst das kriegerische Blatt — den 
werden wir wie einen schäbigen Hund hinausschmeissen“. 

Die erste rutbealsche TIkttea-ffypothekenbaalc in Cemberg 

Die Regierung erteilte eine Vorkonzession für die erste ruthenische 
Aktie n-Hypotheken-Bank mit dem Rechte der Emission von 
Pfandbrieten bis zur Höhe von 15 Millionen Kronen. Das Gründungskapital 
ist mit einer Million Kronen festgesetzt. 

Coatsfall, 

In Kijew starb am 14. Oktober d. J. die ukrainische Schrift¬ 
stellerin Nastia Hrintschenko, Tochter des bekannten Schrift¬ 
stellers und Pioniers der ukrainischen nationalen Bewegung, Borys 
Hrintschenko, im 24. Lebensjahre. 

& 


Biicbminlauf» 

Almanach des Studenten Vereines „Sitsch“ in Wien, heraus¬ 
gegeben anlässlich des 40jährigen Jubiläums des Bestandes des Vereines 
von Dr. Zeno K u z iel a und Mykola Tschaj kiwskyj. Lemberg 1908. 
S. XII -f- 538 Preis Kronen 8. -, geb. Kronen 10.-—, 

Emilian*Popowicz. Ruthenisches Sprachbuch für Mittel¬ 
schulen. I. Teil. Zweite, verbesserte Auflage. Preis geheftet 1 K 20 h, 
gebunden 1 K 40 h. K. k. Schulbücher-Verlag, Wien.*) 

Friedrich Schiller. Wilhelm Teil. Drama in 5 Aufzügen 
übersetzt von B. Hrintschenko. Verlag B. Hrintschenko, Kijew 1908, 
Preis 30 Kop. (ukr.) 

Henrik Ibsen. Die Frau vom Meere. Drama in 5 Aufzügen, 
übersetzt von N. Hrintschenko. Verlag B. Hrintschenko, Kijew 1908, 
Preis 30 Kop. (ukr.) 

G. Hauptmann. Vor Sonnenaufgang. Drama in 3 Aufzügen, 
übersetzt von B. Hrintschenko. Verlag B. Hrintschenko, Kijew 1908. 
Preis 30 Kop. (ukr.) 

Arthur Schnitzler. Bijou. Drama in 3 Aufzügen, über¬ 
setzt von B Hrintschenko. Verlag B. Hrintschenko, Kijew 190H, Preis 
30 Kop (ukr.) * 

*) Von demselben Verfasser erschienen auch Teile II and III des 
„Ruthenischen Sprachbuches“ u. zw. der Teil II im Verlage von Hein¬ 
rich Pardini, k. k. Universitätsbuchhandlung in Czemowitz, Teil III im 
k. k. Schulbücherverlage in Wien. Preis je 2 Kronen. Die zwei ersten 
Teile behandeln die Formenlehre und zwar weniger auf Grund der 
Regeln als vornehmlich mit Hilfe von Uebungen, der dritte Teil die 
ruthenische Syntaxis im Vergleich mit der deutschen. 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 515 — 


B. Hrintschenko. Myrotworci. Schwank in 1 Akt. Im Selbst¬ 
verlag des Verfassers, Kijew 19 8, Preis 10 Kop. (ukr.) 

B Hrintschenko. Pisnia pro Doroschenka i Sahajdatschnoho 
(Das Lied von Doroschenko und Sahajdatschnyj). Selbstverlag, Kijew 
1908, Preis 30 Kop. (ukr.) 

B. Hrintschenko. Drei Fragen über unsere Rechtschreibung. 
Mit einem Nachtrag von Prof. A. E. Kry mskyj. Separatabdruck aus 
dem „Ridnyj Kraj u . Kijew 1908, Preis 15 Kop. (ukr.)*) 

0. Mordowetz. Sahajdatschnyj. Historischer Roman. Nach¬ 
erzählt von H. Chotkewytsch (Mit Illustrationen). Verlag des Auf¬ 
klärungsvereines „Proswita“, Lemberg 1908, Preis 50 h (ukr.) 


lhue mit der Ukrainischen Rundschau in Causchner* 
kehr getretene Zeitschriften. 

Deutsche Volkszeitung. Erscheint zweimal wöchentlich. 
Redakteur u. Herausgeber: Z Karachanjaz. Saratow, Wolskaja 
Nr. 73/75. Bezugspreis mit Zustellung 4 Rubel, fürs Ausland 6 Rubel. 

Danzers Armee-Zeitung, Wochenschrift, herausgegeben 
und redigiert von Carl M. Danzer Abonnements-Bedingungen: Ganz¬ 
jährig 24 K, vierteljährig 6 K. Wien. Gersthofer Cottage XVIII/2 
Messerschmidtgasse 22. 

Der Kompass. Erscheint zweimal wöchentlich. Red. Emil 
Heins. Curityba-Staat, Parana-Brasilien. Bezugspreis fürs Ausland jähr¬ 
lich 10 Mark. 

N a u k a. Ruthenische Wochenschrift, herausgegeben von 
P. Augustin Iw. Woloschyia, Ungvar, Raköczi-utca 34. Bezugs¬ 
preis ganzjährig 8 K. 

B o r b a. Halbmonatsschrift, ruthenisch-sozialdemokratisches Or¬ 
gan, herausgegeben von Osyp Bespalko, Hliboka (Bukowina). Preis 
ganzjährig 3 K 

*) Sämtliche im Verlag von B Hrintschenko erschienenen Bücher 
sind zu beziehen durch die .,U krajinska Knyharnia“ (Ukrainische 
Huchhandlung) in Kijew, Besakowska Nr. 8 und die Buchhandlung der 
Schewtschenkogesellschaft der Wissenschaften in Lemberg, Teatralna 1. 


Zeitungs -nachrichtett * 

in Original-Ausschnitten 

über jedes Gebiet, für Schriftsteller, Gelehrte, Künst¬ 
ler, Verleger von Fachzeitschriften, Grossindu¬ 
strielle, Staatsmänner usw., liefert zu massigen 
-Abonnementspreisen sofort nach Erscheinen - - - 

ADOLF SCHUSTERMANN, Zeitungs-Nachrichten Bureau, 

BERLIN SO., Rungestrasse 25 27. 

Liest die meisten und bedeutendsten Zeitungen und Zeitschriften der Welt. 

Referenzen zu Diensten — Prospekte und Zeitungslisten gratis und franko. 


Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 




- 516 — 


Digitized by 



An die Kunstfreunde! 

Das ukrainische Volk besitzt keine grossartigen Handels¬ 
magazine und blüht auch bei ihm keine Weitindustrie, 
aber es betreibt eine Hausindustrie, deren Erzeugnisse in¬ 
folge ihrer hübschen und geschmackvollen Ausführung und 
künstlerischen Form die schönsten Fabrikate überragen. 

rrnipon beschlagen mit verschiedenfürbigen Korall- 

noizörzeugmsse ehe» in Dessins, wie: 

Teller im Preise von 10—100 K 

Rahmen verschiedener Grösse von 10—120 K 

Spazierstöcke, axtförmig, von 10 — 100 K 

Lineale von 5 K aufwärts 

Federstiele von 1—20 K 

Papiermesser von 1.50—3 K 

Fässchen zu 30 und 40 K u. a. 

Korallehenerzeugnisse, 

Uhrketten für Herren von 2-5 K, für Damen zu 6 K 

GUrtel von 10 bis 100 K 

Haar- und Halsbänder zu 2. 3 u. 5 K. 

TnnoP 7 üiirrnicoo (Majolika in verschiedenen Des>ins, volks- 

1 OnerZGUgniSSe tümUche Motive): 

Blumenvasen von 5—100 K 
Wandteller von 2 30 K 

Aschenbecher und Waschbecher zu verschiedenen Preisen. 

Stoff-Erzeugnisse 

Gestickte Hemden von 12 - 30 K 
„ Krawatten zu 4 und 5 K 
„ Handtücher von 6 K aufwärts 
„ Tischdecken von 30 K aufwärts 
Huzulenschürzen von 6—20 K 
Huzulische Teppiche von 30—60 K. 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pro Stück 


Zu beschaffen durch die Firma 

„Sokilskyj Bazar 44 , 

Gesellsch ft für Handel und Industrie in LEMBERG. 

Ruskagasse Nr. 20 (Galizien, Österreich). 



Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 


Herausgeber und Redakteur: Ul. Rttsebnif. 



♦ 


UT. Jahrgang. igot. Ifearner 12. 


(itacMrac* tlaliictn Hrflkel Mit teuin (MlMunakc gtttamt.) 


Die ukrainiscb'nationale Bewegung in Russland und 
deren Regner. 

Von Dmytro Iwanenko. 

Als Masstab des Anwachsens der ukrainisch-nationalen 
Bewegung in Russland galt immer die Intensität, mit der sie 
seitens der reaktionären russischen Kreise bekämpft wurde. 
So oft nur ein Fortschritt dieser Bewegung zu verzeichnen 
war, und sobald sich positive Erfolge derselben einstellten, 
wurde in den russischen Blättern, wie „Nowoje Wremja“, 
„Moskowskija Wjedomosti“ u. a. deswegen grosser Lärm er¬ 
hoben und die Regierung aufgefordert, der Ausbreitung des 
ukrainischen Separatismus Einhalt zu tun. ln Kijew erscheint 
seit einigen Jahrzehnten das halboifizielle Organ „Kiewlanin“, 
dessen Hauptaufgabe es ist. die ukrainische Bewegung zu 
beaufsichtigen, allen Erscheinungen derselben peinlich auf den 
Grund zu gehen und der Gesellschaft die Ueberzeugung ein¬ 
zuimpfen, dass das Ukrainertum eine staatsgefähr¬ 
liche Erscheinung sei, dass dasselbe die Abtrennung 
der südlichen Gouvernements von Russland 
und deren Anschluss an Oesterreich anstrebe, und anti¬ 
religiöse und anarchistische Ideen in sich enthalte. 
Solange das nationale ukrainische Leben gänzlich unterdrückt 
war, beschränkte sich der Kampf der russifikatorischen Organe 
auf Verspottung und Verhöhnung der ukrainischen Sprache 
und Literatur und deren Vertreter, was umso leichter fiel, als 
die gegnerische Partei sich nicht verteidigen konnte. Wenn 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 518 - 


z. B. die russische Zensur verboten hatte, etwas in ukrainischer 
Sprache zu drucken, ausser etwa harmlose Erzählungen aus 
dem bäuerlichen Leben und Fabeln und anderen minderen 
literarischen Erzeugnissen, wodurch die ukrainische Literatur 
nur diskreditiert wurde, dann verspottete sie der „Kiewlanin“, 
beweisend, die ukrainische Literatur sei nicht entwicklungsfähig 
lind als solche ein totgeborenes Kind ; solange den ukrainischen 
Theatergruppen verboten war, Theaterstücke aus dem 
Leben der Intelligenz, dann solche, die auf sozialer oder ge¬ 
schichtlicher Grundlage aufgebaut sind, überdies auch alle 
Uebersetzungen aus fremden Sprachen auf die Bühne zu 
bringen, wurde die Beschränktheit des ukrainischen Theater¬ 
repertoires verspottet und die Unzulänglichkeit des ukrainischen 
Theaters für das breitere Leben nachgewiesen. Aber sobald 
eine Angelegenheit auf die Tagesordnung kam, die das 
Ukrainertum durch etwas Seriöses manifestierte, wie z. B. die 
Geschichte mit der Nichtzulassung ukrainischer wissenschaft¬ 
licher Referate auf dem Archäologenkongress in Kijew 1899, 
so wurde gleich die Politik auf den ersten Plan hervorgeholt 
und Regierung und Gesellschaft durch das Gespenst des 
Separatismus geschreckt. Wenn man dessen gedenkt, dass 
auch jetzt nach der Konstitution der geringste Verdacht poli¬ 
tischer Natur den Staatsangestellten mit der Nichtzulassung in 
den Staatsdienst, mit Enthebung vom bereits innegehabten 
Posten, ja sogar mit Gefängnis oder Verbannung droht, so 
ist auch leicht zu verstehen, was es für einen Dorflehrer, Geist¬ 
lichen oder überhaupt für einen mittleren Staatsangestellten 
bedeutet, als Ukrainer oder „Ukrainophiler“ in einem offiziösen 
Blatte verdächtigt zu werden, was gleichbedeutend ist mit 
Meuterei oder Staatsverrat. 

Nach der Aufhebung des formellen Verbotes des ukrai¬ 
nischen Wortes im Jahre 1905 wurde die Möglichkeit ge¬ 
schaffen, ukrainische Zeitungen und Bücher herauszugeben, 
wirtschaftliche und Aufklärungsvereine zu gründen und sogar 
die ukrainische Sprache als Vortragssprache an Privatmittel¬ 
schulen einzuführen. Die ukrainische Gesellschaft beeilte sich, 
die gewährten Erleichterungen auszunützen und schon im Jahre 
1906 tauchte eine ganze Reihe von Wochen- und Monats¬ 
schriften und ein grosses Tagblatt in ukrainischer Sprache auf. 
Die Ukraine bedeckte sich mit einem Netze von Aufklärungs- 
Vereinen und man setzte mit Bemühungen um Organisierung 

Digitized by Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



— 519 


von Vorträgen der ukrainischen Sprache, Literatur und Ge¬ 
schichte an Universitäten, Gymnasien und an unteren Schulen 
ein. Doch dauerte es nicht lange und es sollte der Reaktion 
gelingen, fast alle Errungenschaften der konstitutionellen Frei¬ 
heit zu vernichten. Was formell nicht aufgehoben werden 
konnte, das wurde in einen Zustand versetzt, welcher die 
Existenzmöglichkeit ausschloss. So wurden die meisten ukrai¬ 
nischen Zeitschriften kraft des Kriegszustandes eingestellt, eine 
Reihe von Aufklärungsvereinen „Proswita“ auf derselben Grund¬ 
lage, doch ohne die geringste ersichtliche Ursache aufgehoben 
(in Kamenetz pod. wurde die „Proswita“ mit allen ihren Filialen 
und Dorflesehallen darum aufgehoben, weil während der 
Revision bei einigen Mitgliedern dieser Gesellschaft mehrere 
von der Zensur konfiszierte Broschüren gefunden wurden). 
An der Universität in Charkow wurde dem Professor Sumtzow, 
der zwei Semester lang ukrainische Vorlesungen hielt, ver¬ 
boten, dieselben fortzusetzen; in Odessa wurde Professor 
Alexander Hruschewskyj direkt seines Postens enthoben, weil 
er im Jahre 1907 die Geschichte der Ukraine in ukrainischer 
Sprache vorgetragen hat; in Kijew aber wurden weitere Vor¬ 
lesungen aus der ukrainischen Literatur sogar in russischer 
Sprache verboten. An einigen Gymnasien, an denen der Unter¬ 
richt in der ukrainischen Sprache erteilt werden sollte, wurde 
dies Ansinnen ohne Begründung abgewiesen und so konnte 
die ministerielle Erlaubnis nicht ausgeführt werden. 

Am besten wird die Stellung des Ukrainertums in Russ¬ 
land und die Bedingungen der kulturellen Arbeit für das 
ukrainische Volk aus dem Schicksale der jetzt bestehenden 
Aufklärungsvereine „Proswita“ zu ersehen sein. Nehmen wir 
die „Proswita“ in Kijew. Diese hat die Statuten von der 
Regierung bestätigt, auf Grund welcher ihr das Recht zusteht, 
ukrainische Bücher herauszugeben, Filialen zu eröffnen, Biblio¬ 
theken, Lesehallen und Buchhandlungen zu gründen, öffent¬ 
liche Vorträge zu organisieren, Schulen zu errichten usw. — 
Aber sehr täuschen würde sich jeder, der glauben möchte, 
dass die Kijewer „Proswita“ das alles aus eigener Schuld nicht 
ausführt: Nach allen Gesuchen und Bemühungen bei der 
Regierung wurde bisher nicht einmal die Eröffnung einer Dorf¬ 
lesehalle oder einer Schule gestattet, ja es wurde sogar ver¬ 
boten, eine ukrainische Buchhandlung in Kijew zu errichten 
und die Uebergabe der „Proswita“-Bibliothek in den öffent- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 520 - 


liehen Gebrauch verhindert. Nicht j^enug an dem: mit Er¬ 
laubnis der Zensur herausgegebene populäre Broschüren der 
„Proswita“ werden bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt 
und deren Eigentümer verfolgt.*) Unlängst erst musste eine 
Reihe von Ausschussmitgliedern der „Proswita“, Staatsange¬ 
stellte, ihre Stelle beim Vereine niederlegen, weil ihnen die 
Alternative gestellt wurde, zwischen der „Proswita“ und dem 
Staatsdienste zu wählen, ln Tschernihow wurde der ganze 
Ausschuss der dortigen Proswita unter Androhung der Auf¬ 
hebung des Vereines aufgefordert, aus dieser Gesellschaft 
überhaupt auszuscheiden. 

In Odessa wurde der Obmann der dortigen Proswita 
bestraft dafür, weil er es gewagt hat, den Polizeikommissär 
darauf aufmerksam zu machen, dass der Referent, welcher von 
diesem bei einer im Verein gehaltenen Vorlesung unterbrochen 
wurde, nichts Unerlaubtes gesagt habe. Solcher Beispiele der 
Verfolgungen ukrainischer Vereine könnte man hunderte auf¬ 
zählen. In Poltawa und Charkow wurde bisher die Erlaubnis 
zur Eröffnung ukrainischer Aufklärungsvereine überhaupt nicht 
erteilt, und zwar aus dem Grunde, weil diese das nationale 
Bewusstsein erwecken, was angeblich die Einheitlichkeit des 
Staates gefährdet, ln Poltawa wurde die ukrainische Aufschrift 
von der zu Ehren des Vaters der neuen ukrainischen Literatur, 
Kotlarewskyj, gegründeten Schule heruntergerissen; auch 
werden dort ebenfalls ukrainische Theaterankündigungen nicht 
gelitten. Dies Beispiel führen wir an, um zu beweisen, dass 
der neue Kurs in Russland der ukrainischen Bewegung nicht 
minder feindlich gesinnt ist, als der alte. 

Aber alle diese Repressalien scheinen für die als echt 
russisch bekannten Kreise der russischen Gesellschaft, welche 
die Beraubung der Nichtrussen von sämtlichen nationalen und 
politischen Rechten, die Aufhebung der konstitutionellen Ver- 

*) Dies ist umso verwunderlicher, wenn man den Inhalt dieser bis¬ 
her von der Kijewer „Proswita“ herausgegebenen Bücher kennen lernt. 
Dies ist übrigens aus den nachfolgend angeführten Titeln der Broschüren 
ersichtlich: 1. Geschichte der Verhältnisse des alten Kosakentumes zu 
Türken und Tataren; 2. Ueber Neu-Seeland; 3. Ueber erste Hilfe bei 
Unglücksfällen; 4. Ueber Irland; 5. Washington; 6. Aikoholismus; 
7. Ueber Donner und Blitz; 8. Familienleben bei* Tieren; 9. Ueber die 
Wüsten; 10. Gutenberg; 11. Johanna d'Arc; 12. Ueber Viehzucht; dann 
eimge Kalender und belletristische Erzählungen, gestattet noch zur Zeit 
des alten russischen Regimes. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



fassung und die Wiedereinführung des alten Polizeidespotis¬ 
mus verlangen, unzulänglich. Die ukrainisch-nationale Idee als 
eine Richtung, die auf einer aufrichtig demokratischen und 
fortschrittlichen Grundlage basiert, findet im Lager der echten 
Russen ganz natürlich unerbittliche Gegner. Sie verstehen 
recht gut, dass die Aufklärung in der Muttersprache, welche 
eine Hauptforderung der Ukrainer ist, die Hebung der natio¬ 
nalen ukrainischen Kultur, die Wiedererweckung des politischen 
Bewusstseins in den Volksmassen und der Idee der sozialen 
Reform unausweichlich nach sich zieht. So wird es verständ¬ 
lich, dass die reaktionären Elemente der russischen Gesellschaft 
in den letzten Zeiten eine besonders heftige Kampagne gegen 
die ukrainische Bewegung entfaltet haben, ln Kijew entstand 
unlängst der „Klub der russischen Nationalisten“ 
mit dem speziellen Ziele, m i t „kulturellen Mitteln“ das 
Ukrainertum zu b e k äm pf e n. Diese „kulturellen Mittel“ 
offenbaren sich hauptsächlich in der Form politischer Denun¬ 
ziationen: in den Spalten des „Kiewlanin“ erscheinen Tag für 
Tag Resolutionen und Kommuniques des Klubs, in denen nicht 
mehr zur Kenntnis gebracht wird, als dass irgend ein Staats¬ 
angestellter die ukrainische Agitation betreibt, dass auf diese 
oder jene ukrainische Institution besondere Aufmerksamkeit 
gerichtet werden müsse usw. Was das Auge der Regierungs¬ 
organe nicht ausspähen kann, das ergänzt die freiwillige 
Spionage. Eine besonders starke Agitation entfaltete der Klub 
der russischen Nationalisten gegen den bekannten Gesetzent¬ 
wurf der ukrainischen Abgeordneten von der dritten Duma, 
betreffend die Einführung der ukrainischen Sprache in den 
Schulen. Es wurde eine weitläufig motivierte Resolution aus¬ 
gearbeitet, welche, obzwar sie allen Anforderungen der Logik 
und der Wissenschaft, ja sogar den lebendigen Fakten wider¬ 
spricht, in ganz Russland, vor allem in der Ukraine und in 
der Duma sehr stark verbreitet wurde. Wenn man bedenkt, 
dass z. B. in einer Stadt (Hluchiw im Tschernihower Gouver¬ 
nement) ein Mensch deshalb verhaftet wurde, weil er Unter¬ 
schriften für eine Zustimmungsadresse an die ukrainischen 
Abgeordneten aus Anlass der Einbringung dieses Gesetzent¬ 
wurfes gesammelt hat, so wird klar, dass die Agitation der 
Nationalisten sich einer ausgiebigen Unterstützung von seiten 
der Verwaltung erfreut. AlsFolge davon ist aberanzunehmen,dass 
die ukrainischen Abgeordneten die Einbringung ihres Antrages 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



522 — 


bis zur nächsten Dumasession aufgeschoben haben, um nicht 
einer zu ungünstigen Haltung der entscheidenden Faktoren zu 
begegnen, was nur dem Gesetzentwürfe selbst zum Schaden 
gereichen würde. 

Kürzlich erschien in einer Zeitung ein Artikel des be¬ 
kannten Gegners der Ukrainer, Professor A. Budilowitsch, 
in welchem dieser Herr der Regierung anrät, die Ukrainer 
in den Grenzen ihres ethnographischen Terri¬ 
toriums zu Gymnasial- und Universitätsprofessoren¬ 
stellungen nicht zuzulassen. Es ist vorläufig nicht 
bekannt, ob die Regierung diesen Rat akzeptiert, aber eine 
Anwendung findet die Massregel schon jetzt in gewisser Hin¬ 
sicht. So hat vor kurzem der Kurator des Kijewer Schul¬ 
kreises ein geheimes Rundschreiben an alle Mittelschuldirektoren 
in demselben versendet, einige junge Leute, die im vergangenen 
Jahre die Universität absolviert hatten, als Lehrer nicht aufzu¬ 
nehmen ; die ganze Schuld der Proskribierten liegt darin, dass 
sie sich während ihrer Studienzeit zur ukrainischen Nation 
bekannt haben. Einer Frau in demselben Schulkreise wurde 
die Eröffnung eines Privat-Kinderpensionates nur deshalb nicht 
gestattet, weil sie mit „Ukrainophilen“ verkehrte! . . 

So führt zur Zeit den Kampf gegen die ukrainisch-natio¬ 
nale Bewegung die offizielle und gesellschaftliche Reaktion in 
Russland. Die Ukrainer sind jetzt denselben Verfolgungen 
ausgesetzt, wie seinerzeit die Polen im Zartum Polen und in 
Litauen. Diese Verfolgungen sind umso empfindlicher, als sie 
auf eine arme Gesellschaft zurückfallen, die keine eigene 
bürgerliche Klasse (diese besteht in der Ukraine aus fremden 
Elementen, oder aus solchen Ukrainern, deren Vorfahren sich 
zu Gunsten der herrschenden Nationalität entnationalisiert 
hatten), noch Grossgrundbesitzer hat. Nationale Institutionen, 
wie Presse, Theater usw. müssen die mittleren Klassen unter¬ 
stützen, das Volk aber beginnt sich erst national aufzuklären, 
welcher Prozess Hand in Hand mit der politischen Aufklärung 
fortschreitet. Trotzdem ist dieser Druck nicht imstande, die 
organische Bewegung der wiedererwachten Nation aufzuhalten. 

Wie schwer auch die Daseinsbedingungen der ukrainischen 
Presse sind (Verfolgungen der Bauern wegen Abonnierens ukrai¬ 
nischer Zeitungen ; oft werden solche Zeitungen auf dem Post¬ 
amte und in der Gemeindekanzlei verbrannt), so wächst immer¬ 
hin deren Abonnentenzahl stetig an. Das laufende, noch nicht 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 523 - 


abgeschlossene Jahr war auf dem Verlagsmarkte ukrainischer 
Bücher in Russland am stärksten. Ukrainische volkstümliche 
und wissenschaftliche öffentliche Vorlesungen, eingeführt von 
der Kijewer „Proswita“ und der „Ukrainischen Gesellschaft 
der Wissenschaften“ hatten immer einen grossen Andrang von 
Zuhörern. Dasselbe kann von ukrainischen Theatervorstellungen 
und Konzerten gesagt werden. Eine grössere zu Beginn dieses 
Jahres herausgegebene „Geschichte der Ukraine“ erreichte in 
letzter Zeit eine bisher unbekannte Abnehmerzahl. Der im vor¬ 
vergangenen Monate in a ijew gegründete Zentralverein für das 
ukrainische Publikum ist heute der populärste aller Vereine 
dortselbst. Es gibt heutzutage keine Mittelschule, ja nicht ein¬ 
mal eine untere landwirtschaftliche oder technische Schule in 
der Ukraine, die nicht ukrainische Schülerorganisationen hätte, 
so wie es in ganz Russland keine höhere Schule gibt, an der 
nicht ukrainische Studentenvereine bestünden. Jahr für Jahr 
wächst die Zahl der nationalbewussten Jugend an. Und in den 
Händen dieser Jugend liegt die Zukunft des Volkes. Gegen¬ 
über diesem allmählichen, aber elementaren Anwachsen der 
ukrainisch-nationalen Bewegung können alle gegnerischen 
Bemühungen, Verfolgungen und Denunziationen nur eine zeit¬ 
lich begrenzte Bedeutung haben; sie können diese Bewegung 
nur aufhalten, sie aber ganz zu hemmen vermögen sie nicht. 


Das Jubiläum des Jlufklärtingsvmines „Proswita“ in 
Cemberg. 

Von Wladimir Kuschnir. 

ln das laufende Jahr fällt das 40jährige Bestands- 
Jubiläum des Aufklärungsvereines „Proswita“ in Lemberg, des 
ältesten der heute bestehenden ruthenischen Vereine in 
Galizien, des Hauptträgers der kulturellen Bestrebungen des 
hier wohnenden Teiles des ruthenischen Volkes. Seine Grün¬ 
dung fällt in das Jahr 1868. gerade 20 Jahre nach der Zeit, 
als die galizischen Ruthenen aus langem Schlafe erwacht 
in der ersten politischen ruthenischen Versammlung (Lemberg 
1848) ihr nationales Programm proklamierten und damit den 
ersten Schritt auf das politische Gebiet machten. Die Mehrzahl 
der nationalen Koryphäen vom Jahre 1848 schrak vor den 
ihnen in den Weg gelegten Schwierigkeiten zurück und ver- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 524 — 


fiel in Apathie; andere begaben sich ins Lager der vom 
russischen Panslavisten Pogodin ins Leben gerufenen russo- 
philen Partei. Erst die in den 60-er Jahren aus der 
Ukraine gebrachten Dichtungen SchewJschenkos und anderer 
ukrainischer Schriftsteller riefen eine neue und heftige Be¬ 
geisterung für die nationale Idee hervor. Das unerschütterliche 
Bewusstsein der nationalen Einheit mit den Ukrainern in Russ¬ 
land brachte Klärung in die bisherige Wirrnis. Es entstand 
ein unausbleiblicher Zwiespalt, der bis auf den heutigen Tag 
andauert, der aber zum schliesslichen Sieg der nationalen 
Elemente geführt und die Russophilen zu einer kleinen, all¬ 
gemein verachteten, korrumpierten Klique herabgesetzt hat, die 
heute nur der materiellen Unterstützung der russischen Re¬ 
gierung und der moralischen der polnischen Schlachta ihre 
klägliche Existenz verdankt. Doch zu jener Zeit, als die an 
Zahl noch stärkeren Russophilen 1866 die Einheit der Ruthenen 
mit den Russen predigten, befanden sie sich im Besitze aller 
ruthenischen Institutionen und des gesamten nationalen Ver¬ 
mögens. Oering an Zahl, noch ärmer an Mitteln, waren es 
zum guten Teil Studenten, die sich im Jahre 1868 zur Gründung 
eines neuen Vereines, der „Proswita“, zusammenfanden, aber 
reich waren sie an Idealen, gross in ihrer Liebe zum be¬ 
drückten Volke. Es war ein glücklicher Einfall, dass die da¬ 
maligen intelligenten Ruthenen das Hauptgewicht der natio¬ 
nalen Wiedergeburt auf die Aufklärung des Volkes legten. Sie 
sahen ein, dass Emanzipation eines Volkes erst in der geistigen 
Hebung desselben festen Fuss gewinnt. Die 40jährige Tätigkeit 
des aus dieser Atmosphäre hervorgegangenen Vereines bewies 
zur Genüge, dass das im 1. Paragraphen der Vereinsstatuten 
ausgedrückte Gebot, die Aufklärung und Erkennung des Volkes, 
zur Durchführung gebracht wurde. 

Ueber diese Tätigkeit informiert uns eingehend der kürz¬ 
lich herausgegebene Jahresbericht sowie der Bericht über die 
im Juni d. J. abgehaltene Generalversammlung des Vereines. 
Dem Vereine sind bis Ende vorigen Jahres 20.818 Mitglieder 
beigetreten, die jährlich einen Beitrag von K 2 — per Mitglied 
zu zahlen haben und dafür jeden Monat gratis eine Broschüre 
zugeschickt bekommen. In den Publikationen wird alles dessen 
gedacht, was zur Hebung des geistigen Niveaus des 
Volkes und zum Erwecken des nationalen und politi¬ 
schen Bewusstseins beiträgt, was die Förderung der Land¬ 
wirtschaft, der Hygiene und der Hausindustrie 
zum Ziele hat; in den letzten Jahren hat der Verein sein 
Augenmerk der planmässig betriebenen Popularisierung 
der ruthenischen Literatur zugewendet, indem er auf 
Anregung und unter Redaktion des Abgeordneten Romanczuk 
eine Herausgabe unternommen hat, die zu äusserst billigen 
Lieferungen (500 — 600 Oktavseiten, gebunden — 1 K) eine 
Auswahl der besten ruthenischen Schrifsteller bietet. Seit ver- 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 525 


gangenem Jahre gibt der Verein auch eine Halbmonatsschrift 
unter dem Titel „Pysmo z Proswity“ (Proswita-Briefe) und 
Flugblätter für Aufklärung heraus. 

Der Einfluss des Vereines erstreckt sich über das ganze 
Land und trägt in die ärmsten Hütten das Licht des nationalen 
Selbstbewusstseins und des Fortschrittes. Dieses Ziel erreicht 
der Verein zunächst mit Hilfe von Lesehallen, die bis 
Mitte dieses Jahres auf 2072 angewachsen sind. Jeder Lese¬ 
verein hat seine Bibliothek, bei vielen bestehen auch Chöre 
(159), hie und da auch ein Orchester, deren Leistungsfähigkeit 
anlässlich mancher Feierlichkeiten, wie an Schewtschenko- 
Gedenktagen bewiesen wird. Beliebt sind auch Theaterauf¬ 
führungen (der Bericht weist bei 167 Lesehallen spezielle 
L i e b h a b e r g r u p p e n für Theatervorstellungen 
auf), was den Verein bewogen hat, für Herausgabe populärer 
dramatischer Werke zu sorgen. Eine sehr erfreuliche Er¬ 
scheinung ist die in der letzten Zeit sich bemerkbar machende 
Bewegung, Analphabetenkurse zu errichten, was mit 
Rücksicht auf die erschreckend grosse Zahl derselben in 
Galizien von höchster Bedeutung ist. Mit den Lesehallen ver¬ 
bleibt der Zentralverein in ständiger Fühlung; sei es durch 
Korrespondenz und Presse, sei es durch Lustratoren oder 
durch die von den Lesehallen dem Vereine jährlich zuge¬ 
sandten Berichte. Die führende Rolle des Zentralvereines wird 
durch die Filialen erheblich erleichtert, deren es Ende 1907 
in den verschiedenen Städten der 52 von den Ruthenen be¬ 
wohnten Bezirke 39 gab. Die Filialen haben Rechte und 
Agenden des Zentralvereines, auf den betreffenden Kreis be¬ 
schränkt. Ihre Aufgabe besteht zunächst darin, die Lesehallen 
zu überwachen. Versammlungen in wichtigen kulturellen An¬ 
gelegenheiten einzuberufen, ferner in der Veranstaltung von 
Vorträgen, Referaten usw. 

Nicht minder werden die Bemühungen des Vereines ge¬ 
schätzt, auch für die wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder 
zu sorgen. Es befanden sich im letzten Jahre bei den Lesehallen 
bis 400 Verkaufsläden, bis 200 Getreidemagazine 
und bis 300 Vorschusskassen. Besser situierte Lesehallen 
besitzen überdies ihre eigenen Häuser. Im Bezirke Horodenka 
(34 Lesehallen auf 49 Gemeinden) hat fast jede ein Haus. Im 
allgemeinen Hess sich die Proswita gemäss ihren Statuten den 
wirtschaftlichen Aufschwung des ruthenischen Volkes angelegen 
sein. Ihre Tätigkeit erstreckte sich ausser auf die Aufklärung 
als solche auch auf Landwirtschaft, Kreditwesen und Gründung 
von Vereins-Krämerladen. Die Natur der Dinge brachte es 
mit sich, dass sich die rein wirtschaftlichen Organisationen, 
die ihren Ursprung der „Proswita“ verdanken, von ihr los¬ 
lösen und selbständig werden. So organisierten sich die vom 
Verein angeregten und geleiteten Milchgenossenschaften als 
selbständiger Landesverband fürMilchproduktion. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



— 526 - 


Die Kaufläden als Landesverband der Handels* 
genossenschaften, die Vorschusskassen als Lan des¬ 
kreditverband und La n d e s r e v i s i o n s v e r b a n d. 
Von den verschiedenen wirtschaftlichen Agenden verblieben 
beim Vereine die rein agronomische, doch wurde letzthin deren 
Abtretung an den fachmännischen Verein „Silskyj-Hospodar 4 
(Der Landwirt) angeregt; erst dadurch wird eine planmässige 
und erspriessliche Tätigkeit auf diesem Gebiete ermöglicht. 

Der Umfang der dargestellten Tätigkeit ist an und für sich 
bedeutend. Wenn wir aber alle die Hindernisse in Betracht 
ziehen, die den Ruthenen bei ihren kulturellen Arbeiten in 
den Weg gelegt werden und ein Gedeihen derselben oft 
geradezu lähmen, so dürfen wir ohne Uebertreibung den 
bisherigen Erfolg als einen glänzenden bezeichnen. Der 
Hemmschuh einer vollen Entfaltung der Tätigkeit des Vereines, 
wie des kulturellen Lebens des ruthenischen Volkes überhaupt, 
sind hauptsächlich die bekannten unberufenen Vormünder des 
ruthenischen Volkes. Schon im Jahre 1875 wurde der Verein, 
ein Dorn im Auge der polnischen Schlachta, im Landtage 
von manchen polnischen Abgeordneten derart angegriffen, 
dass er damals auf die ihm zuerkannte, freilich minimale 
Subvention verzichtete. Die Subvention wurde dem Vereine 
wieder zuerkannt unter der Bedingung, „dass die Broschüren 
nichts gegen die andere Landesnation enthalten“. Diese glimpf¬ 
liche Bedingung nützte der Landtag aus, um dem Verein 
wegen einer streng objektiven Broschüre geschichtlichen 
Inhalts die Subvention ein Jahr nicht auszufolgen. Heuer wurde 
die Subvention freilich nicht nur wieder zuerkannt, sondern 
sogar erhöht, so dass sie fast V 3 derjenigen für die analogen 
polnischen Ziele erreicht (25.000 gegen 77,000 K), aber die 
Angriffe wiederholten sich abermals in zynischer Weise. Die 
feindliche Gesinnung der Polen dem Verein gegenüber erhellt 
unter anderem auch der Umstand, dass das Ansuchen des Vereines 
um eine Subvention zum Zwecke eines Wanderlehrers, den 
der Verein schon durch fünf Jahre auf eigene Kosten erhielt, 
ständig abgewiesen wird, ebenso wie die Statthalterei das An¬ 
suchen des Vereines um Erteilung einer Konzession zur 
Gründung eines Arbeitsvermittlungsamtes konstant ablehnt. 
Erst kurz vor seinem Tode dezidierte Graf Andreas Potocki 
diese Angelegenheit im Gespräche mit einem ruthenischen 
Abgeordneten mit den Worten: „Wir geben Euch lieber 
eine Universität, als ein Arbeitsvermittlungs¬ 
amt.“ Das Eminenteste aber, was gegen den Verein „Pros- 
wita“ und dessen Lesehallen erdacht wurde, ist der polnisch- 
„hakatistische“ Volksschulverein. Das ist der polnische 
Östmarkenverein. Der Hauptzweck desselben ist die Poloni- 
sierung Ostgaliziens und er hat bereits manches auf diesem 
Gebiete geleistet: polnische Schulen in rein ruthenischen 
Dörfern, römisch-katholische Kirchen und Kapellen oft für ein 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



— 527 — 


halbes Dutzend Gläubige bestimmt; zahlreiche Lesehallen mit 
polnischen Zeitungen und polnisch-patriotischen Büchern für 
römisch-katholische Ruthenen, die oft kein Wort polnisch 
verstehen, trotzdem aber von ihren polnischen Beichtvätern 
gezwungen werden, nie anders als polnisch zu reden. — 
Man kann der Energie der Vereinsleitung die vollste Aner¬ 
kennung nicht entziehen, wenn man bedenkt, dass die „Prös- 
wita“ trotz aller Schwierigkeiten, trotzdem von Anfang an 
gegen sie mit dem ganzen bureaukratischen Apparat gearbeitet 
wurde, trotz der fortwährenden Befehdung von seiten der 
galizischen Machthaber sich nicht nur zu behaupten gewusst 
hat, sondern auch auf eine sehr erfolgreiche Tätigkeit zurück¬ 
blicken kann und heute tatsächlich die bedeutendste ruthenische 
Institution in Galizien ist. 



Die ukrainiscDe Schule im polnischen 3och. 

Von Dr. Wladimir Batschynskyj. 

XII. Kr e i ssch ul inspek tor en. 

Die unmittelbare Aufsicht über die Volksschulen in jedem 
politischen Bezirke hat der Kreisschulrat, in dessen Bestand 
das politische Oberhaupt des Bezirkes, der Kreisschulinspektor, 
Delegierte der Bezirksräte, der Städte, des Lehrkörpers und 
der konfessionellen Korporationen gehören. Es gibt nicht einen 
einzigen Kreisschulrat, in welchem die Ruthenen die Majorität 
hätten; die polnische politische Geometrie sorgt schon gut 
für die Sicherung ihres Uebergewichtes in demselben. Die 
Stellung des Kreisschulinspektors ist eine sehr bedeutende und 
dort entscheidend, wo es sich um didaktisch-pädagogische 
Angelegenheiten handelt. Das schaut aber so nur am Papier 
aus. denn in Wirklichkeit ist der Kreisschulinspektor ein poli¬ 
tischer, vom Bezirkshauptmann abhängiger Beamter. Der In¬ 
spektor kann dem Lehrer als Pädagogen das beste Zeugnis 
ausstellen, aber mit einem Federstriche vernichtet der galizische 
Bezirkshauptmann eine solche Qualifikation, vor allem dann, 
wenn sich der betreffende Lehrer bei den Wahlen nicht ver¬ 
dient gemacht hat. Der Inspektor wird dann zum Manekin 
und eine Bedeutung erlangt er erst dann, wenn er sich ins 
Fahrwasser der Politik begibt, natürlich in Diensten der gali¬ 
zischen Maffia. Hinsichtlich ihrer geistigen Bildung sind die 
galizischen Kreisschulinspektoren ziemlich schlecht daran. Kaum 
etliche auf sämtliche 84 haben die Universität absolviert und 
die meisten haben nicht einmal eine Mittelschulbildung genossen, 
sondern höchstens eine Lehrerbildungsanstalt besucht. In natio- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 528 


naler Beziehung gibt es auf die 84 Inspektoren kaum sechs 
ruthenischen Ursprungs, von denen kaum zwei oder drei 
es wagen, sich zwischen ihren vier Wänden zur ruthenischen 
Nationalität zu bekennen. Für die ruthenischen Schulkreise 
werden Inspektoren, wie Dutkewytsch in Rudky ernannt, die 
nicht einmal ruthenisch lesen können. Das Gros der Kreisschul¬ 
inspektoren in den ruthenischen Schulkreisen sind eingewan¬ 
derte Mazpren aus Westgalizien, welche sich Patente über die 
Kenntnis der ruthenischen Sprache in einigen bestimmten 
Lehrerbildungsanstalten holen. 

Wie wir bereits gesagt haben, sind die Hauptaufgabe 
eines Kreisschulinspektors nicht didaktisch-pädagogische An¬ 
gelegenheiten, sondern die Politik. So fungiert der Inspektor 
regelmässig bei den Rechsrats- und Landtagswahlen als Wahl¬ 
kommissär und vor den Wahlen übernimmt er die Rolle eines 
gewöhnlichen politischen Agitators zu Gunsten der polnisch- 
schlachzizischen Kandidaten. So trieb sich z. B. der Kreis¬ 
schulinspektor aus Sniatyn, Wladyslaw Lewicki, vor den Land¬ 
tagswahlen 1908 im ganzen Bezirke herum; er überrumpelte 
Dorfschullehrer, forschte überall nach, wieviel Wähler der pol¬ 
nische Kandidat Moysa hatte und bewog die Lehrer zur Agi¬ 
tation zu Gunsten des letzteren. Wo ein Lehrer seinem Willen 
sich fügte, dort wurde auch der Unterrichtszustand als befrie¬ 
digend befunden. Wehe aber dem Lehrer, der für Moysa nicht 
gearbeitet hatte! Gegen diesen wurden Disziplinaruntersuchungen 
sogar für passive Teilnahme an ruthenischen Wahlversamm¬ 
lungen angestrengt. Derselbe Inspektor agitierte in amtlicher 
Uniform für private polnische Schulen des polnischen Volksschul¬ 
vereines in ruthenischen Dörfern, wo ohnehin schon ruthenische 
Schulen bestehen, ungeachtet dessen, dass in seinem Schulkreise 
viele Gemeinden überhaupt ohne Schule sind. Der Stellvertreter 
des Inspektors in Sokal, Radwanski, ist bekannt als Feind der 
Ruthenen. Im Jahre 1907 hat er von den 36 angemeldeten 
Lehrerkandidaten nur 13 aufgenommen,' darunter nur einen 
einzigen Ruthenen, obwohl der Bezirk rein ruthenisch ist — 
Der Inspektor Wojnarowski aus Husiatyn hat bisher nicht einen 
einzigen Ruthenen als Lehrer angestellt, hat aber schon mehr als 
zehn ruthenische Lehrer aus seinem Kreise hinausgeekelt. Der 
vorhin genannte Inspektor in Rudky, Dutkewytsch, jagt auch 
ruthenische Lehrer fort, obzwar sein Kreis ruthenisch ist. Einem 
ruthenischen Geistlichen hat er während der Wahl gedroht, 
sich an seinem Bruder, der ein ihm unterstehender Lehrer ist, 
zu rächen. — Der Inspektor Kwasnicki in Pidhajci ist auch 
als Ruthenenfresser bekannt; als Wahlkommissär in der Ge¬ 
meinde Bozykiw im Mai 1907 fuhr er den Lehrer Rzondzistyj 
deswegen an, weil sich dieser auf dem Wahlprotokolle ruthe- 
nisch unterschrieben hatte. 

Unter den verschiedenen Inspektorentypen in Galizien 
mangelt es auch nicht an solchen, welche wegen ihrer Amoren 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 529 — 


mit den ihnen unterstehenden Lehrerinnen Skandale hervor- 
rufen. Auch solche, die durch ihre Seckaturen die ruhigsten 
Lehrer ins Grab jagen. Dem Inspektor Juzwa in Zalistschyky 
wurde gerichtlich eine äusserst infame Sache nachgewiesen. 
Er hat eine Lehrerin unter dem Vorwände, sie habe sich un¬ 
moralisch benommen, verfolgt; sie wurde auch, als der 
Schwangerschaft verdächtig, untersucht. Aus Kummer und 
Scham wanderte sie ins Jenseits, wo es keine polnischen Vor¬ 
gesetzten gibt. Die gerichtliche Sektion wies nach, dass die 
Lehrerin eine intakte Jungfrau war. 

So schauen die Leiter des Volksschulwesens in Galizien 
aus, solchen Händen ist die ruthenische Volksschule anver¬ 
traut. 

XIII. Die Wirtschaft im Schulbücherverlag des 
galizischen k. k. Landesschulrates. 

In den Öffentlichen und privaten Volksschulen dürfen nur 
vom Verlage des Landesschulrates herausgegebene Handbücher 
gebraucht werden. Dieses Büchermonopol trägt gewisse 
Einkünfte, die zur unentgeltlichen Verteilung einer be¬ 
stimmten Anzahl von Büchern an mittellose Schulkinder ver¬ 
wendet werden. Im Jahre 1905/06 wurden solche Armenlehr¬ 
mittel um 106 116 K 83 h verteilt. Die brüderlich-slavische 
Gerechtigkeit polnischer Edition teilte diese Gelder folgender- 
massen: für polnische Bücher wurden 75.842 K 74 h bestimmt, 
für ruthenische 30.274 K 9 h, ohne Rücksicht darauf, daß es 
in Galizien mehr Ruthenen als Polen, aber sogar der von den 
Polen gefälschten Statistik zufolge 42% der Gesamtbevölkerung 
des Landes gibt. 

Der Landesschulrat motiviert eine solche Teilung als recht¬ 
lich damit, dass für die Armenlehrmittel die Einkünfte im Ver¬ 
hältnis zu den verkauften Büchern bestimmt werden. Der Landes¬ 
schulrat könne aber nichts dafür, dass polnische Bücher mehr 
gekauft werden, als ruthenische. Das ist aber nur eine ge¬ 
wöhnliche Lüge. Es ist schon wahr, dass polnische Schulbücher 
in grösserer Anzahl verschleisst werden, doch hören wir, wieso 
d is kommt, ln allen ruthenischen Ortschaften, auch dort, wo 
es keine Polen gibt, zwingt der Landesschulrat, im Widerspruch 
mit den Staatsgrundgesetzen, die ruthenischen Kinder zum 

. Unterricht in der polnischen Sprache, also auch zum Ankauf 
polnischer Bücher. Es gibt hunderte ruthenische Gemeinden, 
wo durch Terrorismus und Fälschung die polnische Vortrags¬ 
sprache eingeführt wurde. Wie kann es dann Wunder nehmen, 
dass mehr polnische als ruthenische Bücher verkauft werden? 
Wie kann das bei ruthenischen Büchern der Fall sein, wenn 
derselbe Landesschulrat die Polen in Westgalizien nicht zum Unter¬ 
richte der ruthenischen Sprache und zum Kaufen ruthenischer 
Bücher anhält? In ihrer Frechheit versteigen sich die Herren 
so weit, dass sie den Unterricht in der ruthenischen Sprache 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 580 - 


nicht einmal als ausserobligaten Gegenstand in Volksschulen 
solcher Gemeinden einführen, wo die Ruthenen 25% der Bevöl¬ 
kerung ausmachen. Das hindert sie aber nicht, ein Trugphantom 
ihrer slavischen Solidarität gegenüber den Ruthenen vorzuführen. 

Nicht um den Unterricht handelt es sich den Polen bei 
der Forcierung der polnischen Bücher, sondern um Poloni- 
sierungszwecke. Schon die Tatsache, dass für die Schulen des 
polnischen Landesteiles im Ganzen 22.159 K 60 h für Armen¬ 
lehrmittel, für die polnischen Schulen Ostgaliziens aber, wo 
eine verschwindend kleine Anzahl Polen wohnt, 53.983 K 
14 h zu diesem Zwecke bestimmt wurden, spricht eine beredte 
Sprache über die rein polonisierende Tendenz des galizischen 
Landesschulrates. 

Aber diese polnische Wirtschaft mit den Schulbüchern 
belästigt die Ruthenen auch aus anderen Gründen: Der Landes¬ 
schulrat verschleppt nämlich absichtlich die Neuauflage ruthe- 
nischer Schulbücher, wenn die alte vergriffen- ist. Die Eltern 
ruthenischer Schulkinder belagern geradezu die Buchhandlungen 
mit Nachfragen nach ruthenischen Büchern in allen ostgalizischen 
Städten. Doch dort erhalten sie die stereotyp klingende Ant¬ 
wort: „Es gibt keine ruthenischen Bücher, die werden erst 
gedruckt!“ Polnische Bücher aber hat man immer auf Lager. 

XIV. Die Anzahl und Verteilung der Volks¬ 
schulen in Galizien. 

ln allen Bezirken Galiziens zusammen sollten nach dem 
amtlichen Berichte des galizischen Landesschulrates im Jahre 
1905/06 4551 Volksschulen bestanden haben, und zwar in 
Westgalizien 1565, in Ostgalizien 2986. Schon diese Zahlen 
beweisen, dass die polnischen Potentaten Galiziens sich vor 
der Aufklärung fürchten. Sogar die vom Staate vergessene 
Bukowina mit ihren 739.000 Einwohnern hatte damals 399 
Schulen mit 1419 Klassen, Parallelklassen nicht mitgerechnet. 
Wenn das Volksschulwesen in Galizien wenigstens so beschaffen 
wäre, wie in der Bukowina, so müssten hier wenigstens 
14.000 Klassen sein. In Wirklichkeit zählten die galizischen 
Volksschulen im Jahre 1905/06 im Ganzen 11.020 Klassen. So 
steht Galizien in Bezug auf das Volksschulwesen um 21% 
niedriger als die Bukowina. Wenn die Herrschaften mit dem 
Vorwurfe herausrücken, dass das ruthenische Volk die Aus¬ 
lagen für die Schule nicht gerne leistet, dass es demoralisiert 
und der Aufklärung feindlich gesinnt sei, so fragt man, wieso 
es kommt, dass das ruthenische Volk in der Bukowina so 
ganz anders beschaffen sei ? Da könnte man höchstens den 
Schluss ziehen, dass die Herrschaft der Türken und der kor¬ 
rupten wallachischen Hospodaren in der Bukowina das ruthe¬ 
nische Volk weniger verdorben haben als die sechsjahrhunderte¬ 
lange „Verpflanzung der höheren polnischen Kultur nach dem 
Osten“; wohlgemerkt einer Kultur des slavischen Bruders. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 531 


Gemeinden ohne Schule sollten dem genannten Amts¬ 
berichte zufolge in Galizien nur 788 sein, selbstverständlich 
kommen hier in erster Linie ruthenische Bezirke in Betracht. 
In dem rein ruthenischen Bezirke Lisko allein wurden 76 G e¬ 
meinden ohne Schule ausgewiesen In ganz Ostgalizien 
sollte es schullose Gemeinden 426, in Westgalizien 362 geben. 
Aber von diesen 362 Gemeinden ohne Schule im polnischen 
Westgalizien sind zumindest 80-100 rein ruthenisch.*) So ist 
schon aus dem amtlichen Berichte ersichtlich, dass auf 788 Ge¬ 
meinden ohne Schule in Galizien mehr als 500 ruthenisch sind. 

Aber die angeführten Zahlen entsprechen nicht dem wahren 
Sachverhalte, weil der galizische Landesschulrat 
die Statistik bewusst fälscht. Wie kann es nur 788 
Gemeinden ohne Schule geben, wenn in Galizien 6240 G e¬ 
meinden, Schulen aber nur 4551 sind? 

Abstrahieren wir die letzte Zahl der ersten, so sind 
1689 Gemeinden ohne Schule. Aber auch diese Operation in¬ 
formiert uns noch nicht genau über die Sache. Die Stadt 
Krakau allein hat 25, die Stadt Lemberg 46 und viele von den 
grösseren Städten Galiziens haben jede je etliche Volksschulen. 
Wird dies noch berücksichtigt, so ergibt sich, dass über 2000 
Gerne i ndenGalizien s, dar unter 1500 ruthenische, 
keine Schule haben!! Der galizische Landtag ist ein 
Meister in der Fälschung der offiziellen Statistik. Er hat bei¬ 
spielsweise im Jahre 1905/06 im Bezirke Gorlice im Ganzen 
11 schullose Gemeinden ausgewiesen, und obzwar die Orga¬ 
nisierung neuer Schulen fortschreitet, weist die Interpellation 
des ruthenischen Abgeordneten Dr. J. Makuch im galizischen 
Landtage, eingebracht am 1. Oktober 1908, also zwei Jahre 
später, 18 ruthenische Gemeinden allein in diesem Bezirke 
ohne Schule nach! So schaut die polnische Wahrheit aus. Die 
Bauern zahlen Steuern für Schulen und Lehrer, Nutzen ziehen 
sie aber daraus nicht, sondern sind noch verschiedenen Secka- 
turen ausgesetzt Sollte nur eine Gemeinde es wag-n, einen 
Privatlehrer zu nehmen, welcher den Kindern wenigstens die 
Kenntnis des Alphabets beibringen sollte, so wird die Privat¬ 
schule von Amts wegen geschlossen, die Gemeinde bestraft und 
der Lehrer aus dem Dorfe verwiesen. Für die ruthenischen 
Gemeinden sorgen polnische Herren um das eigene Geld 
der Gemeinde für Schulen und Lehrer nicht, aber aus Steuer¬ 
abgaben der Ruthenen unterstützen sie den privaten polnischen 
„Volksschulverein“, welcher private polnische Schulen in 
ukrainischen und deutschen Gemeinden erhält.**) Vae victis? 


*) Der Karpathenstreifen Westgaliziens ist fast bis zur Tatra von 
Ruthenen bewohnt. 

Der polnische Volksschulverein erhält private polnische Schulen 
in deutschen Gemeinden Westgaliziens, wie Biala, Lipnik u. a., aus den 
ihm vom galizischen Landtage gewährten Subventionen, ungeachtet dessen, 
dass in diesen Ortschaften deutsche Schulen bestehen. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original fn*m 

iNDIANA UNIVERSITY 



- 532 - 


XV. Die V o 1 k s s c h u 11 y p e n in Galizien. 

Die galizischen Volksschulen sind zweierlei, beziehungs¬ 
weise dreierlei Art: a) Dorf-, b) städtische Schulen. Städtische 
Schulen sind gewöhnliche und Bürgerschulen, ln den Dorf¬ 
schulen dauert der Unterricht sechs Jahre, worauf noch ein drei¬ 
jähriger Ergänzungsunterricht von je zwei Stunden wöchent 
lieh folgt. Von Sprachen wird die polnische überall unterrichtet, 
die ruthenische nur in ruthenischen Gemeinden, und die 
deutsche darf der Lehrer. nicht einmal umsonst als nicht¬ 
obligaten Gegenstand unterrichten. Ein Zeugnis aus einer 
solchen Schule gewährt nicht die geringsten Rechte Mir der 
beendeten Dorfschule wird der Knabe weder zum Handwerk 
noch zum Handel zugelassen, auch nicht in die Mittelschule 
oder in den untergeordneten Dienst der autonomen oder 
staatlichen Behörden aufgenommen. Sogar bei der Aufnahms¬ 
prüfung in die Mittelschule hat ein solches Zeugnis über die 
beendete Dorfschule gar keinen Wert. In den städtischen 
Schulen wird schon die deutsche Sprache unterrichtet. Ge¬ 
wöhnliche Schulen städtischen Typus haben vier, höchstens 
sechs Klassen und das Zeugnis über die absolvierte vierte 
Klasse einer solchen Schule gewährt in Galizien schon manche 
Privilegien. Der Besitzer eines solchen kann ein Handwerk 
lernen, in ein Handelsgeschäft oder in den niederen Dienst 
verschiedener Aemter und bei den Bahnen (z. B. als Wächter) 
aufgenommen werden. Ein solches Zeugnis bringt auch ge¬ 
wisse Erleichterungen bei der Inskription in die Mittelschule 
und Lehrerbildungsanstalt mit sich; auch wird man damit in 
die Bürgerschule aufgenommen, die in Galizien zwei bis fünf 
Klassen zählt. Was für eine chinesische Mauer beide Typen 
trennt, ersieht man daraus, dass der neunjährige Unterricht in 
der Dorfschule kein Recht gewährt, in die vierte Klasse der 
städtischen Schule ohne Aufnahmsprüfung überzugehen. So 
haben demnach neun Jahre Unterricht in der Dorfschule nicht 
einmal einen solchen Wert wie drei Jahre in der städtischen 
Schule. (In drei Jahren absolviert man in der städtischen 
Schule drei Klassen.) Eine solche Einteilung der Schulen in 
Typen ist eine rein polnische Erfindung und was für ein Ziel 
damit verfolgt wird, das ersieht man aus der Anzahl der 
Schulen beider Typen und deren Verteilung. Darüber in¬ 
formiert uns der Bericht des Landesschulrates 1905/06; es 
gibt in Galizien 93 Bürger- und 555 städtische Volksschulen, 
zusammen 648 Schulen städtischen Typus. Eine solche Schule 
entfält auf 11.464 Einwohner, während eine analoge (vier- 
bis sechsklassige) Volksschule in der Bukowina auf 4506 Ein¬ 
wohner entfällt. Sollte Galizien die Bukowina einholen, so 
müsste es noch für Gründung von 1623 Schulen städtischen 
Typus sorgen. In dieser Beziehung ist Galizien um 60% 
schlechter situiert als die Bukowina und die Einteilung dieser 
Schulen zwischen West- und Ostgalizien ist echt brüderlich 


Digitized by 


Go», igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 533 — 


durchgeführt; Westgalizien zählt 253, Ostgalizien 385 solcher 
Schulen. Dem Bevölkerungsverhältnisse der beiden Landes¬ 
teile zufolge sollte Ostgalizien um 102 Schulen städtischen 
Typus mehr haben als es tatsächlich besitzt. Dazu gesellt sich 
noch der Umstand, dass Ruthenen in diese Schulen nicht zu¬ 
gelassen werden. 

Wo werden aber solche Schulen städtischen Typus ge¬ 
gründet? In Ostgalizien nur in Städten und Städtchen. In den 
Städten Ostgaliziens leben aber hauptsächlich Juden, die sich 
wie überall an das herrschende Element anklammern; dann 
Polen, aus Westgalizien hierher als Beamte importiert und in 
deren Folge polnische Kaufleute, Handwerker und Industrielle. 
Mit Rücksicht darauf allein ziehen den Nutzen daraus haupt¬ 
sächlich die Polen. Als ruthenische Bauern aus den um¬ 
liegenden Dörfern angefangen hatten, ihre Kinder in die 
städtischen Schulen zu schicken, da konnten die Herren vom 
Landesschulrate ihre Wut darüber nicht verbergen. Um nun 
dem ruthenischen Element den Weg zu diesen Schulen zu 
versperren, hat der galizische Landesschulrat mit dem Ukas 
vom 27. Juni 1906 verboten, ausserörtliche Schüler 
in die städtische Schule aufzunehmen. Diese Mass- 
regel erscheint aus dem Grunde gegen die Ruthenen allein 
gekehrt, weil in polnischen Dörfern Schulen städtischen Typus 
ohne Hindernis eröffnet werden. Ein noch beredterer Beweis 
der Tendenziosität dieser Massregel ist die Art ihrer An¬ 
wendung. In den städtischen Schulen Buczacz werden in An¬ 
wendung dieses Ukases ruthenische Schulkinder, ausserhalb 
der Stadt wohnend, nicht aufgenommen, polnische aber schon ... 
Dies geschieht nicht in der Türkei in Anwendung auf die 
Serben oder Bulgaren, sondern in dem geordneten, kon¬ 
stitutionellen Staate Oesterreich, wo ein § 19 der Staatsgrund¬ 
gesetze verpflichtet. Das alles hindert die Polen nicht, über 
den preussischen Druck zu schreien, wo doch die Preussen 
zu ihnen nach Galizien in d'e Lehre gehen könnten. 


Drei nationale typen. 

Von Universitätsprofessor Wladimir An ton o wy tsch.*) 

Im vorliegenden Aufsatz wollen wir uns mit den drei 
verwandten Nationen befassen, welche die Geschichte auf dem 


* In einer Reihe von Artikeln unter dem Oesamttitel „Die Aus¬ 
länder über die Ukrainer* haben wir Stimmen von ausländischen Reisen¬ 
den über das ukrainische Volk im Vergleiche zu dessen Nachbarn, Russen 
und Polen, angeführt. Diese Rubrik wird in der Rundschau eine Fortsetzung 
finden; diesmal aber wollen wir die Leser mit einer ein ähnliches Thema ein¬ 
gehender behandelnden, zuerst im Jahre \Sb8 in der Lemberger Zeitschrift 
„Prawda“ erschienenen Arbeit eines Ukrainers, des im März d. J. ver¬ 
storbenen Professors Antonowytsch in Kijew bekannt machen. Die Red. 


Digitized by 


Gck igle 


Original frnm 

INDIANA UNtVERSITY 



— 534 — 


grossen Gebiete Osteuropas nebeneinander ansiedelte. Sie alle 
hatten Einfluss aufeinander, welcher sich dann in grösserem 
oder geringerem Masse an jeder einzelnen offenbarte. Die 
Rede ist von den Russen, Polen und Ukrainern. Alle 
drei Völker sind Slaven, aber durch Einfluss verschiedener 
geographischer, geschichtlicher und anderer Umstände weichen 
sie soweit von einander ab, dass sie mehr Verschieden¬ 
heiten und Eigenarten, als Gleichheiten und 
Aehnlichkeiten aufweisen. Die Ruthenen befinden sich 
in eigentümlichen Verhältnissen; von den beiden Nachbarn 
will sie keiner, am allerwenigsten der nördliche, als ein 
besonderes ethnisches Individuum anerkennen. Deshalb erscheint 
uns der Weg des Vergleiches am "zweckentsprechendsten zur 
Bestätigung unserer Ansicht. 

Wir fangen mit der Erörterung der anatomischen 
Merkmale an. (Diesen Absatz lassen wir mit Rücksicht auf 
den in der letzten Nummer der ..Ukrainischen Rundschau“ 
veröffentlichten Artikel des Professors Wowk über die 
anthropologischen Merkmale der Ukrainer weg. Anm. d. Red.) 
Noch wichtiger erscheint uns jener Ethnographiezweig, welcher 
dem Studium der Innervation gewidmet ist. Von dem 
Masse der Empfindlichkeit hängt der Charakter eines Volkes, 
sein gesellschaftlicher und politischer Zustand und seine Ent¬ 
wicklungsfähigkeit ab. Und so können wir beobachten, dass 
das Nervensystem bei dem Russen nicht besonders empfind¬ 
lich, also auch die Reaktion auf äussere Eindrücke gering ist. 
Der Russe ist der Typus eines Phlegmatikers. Einer ganz 
gegenteiligen Erscheinung begegnen wir bei den Polen. Bei 
diesen ist das Empfindungsvermögen sehr gross und der 
Reflex des Reizes tritt unmittelbar ein; der Pole bildet den 
reinen Typus eines Sanguinikers. Die Ukrainer sind gegen¬ 
über äusseren Eindrücken auch sehr empfindlich, aber die 
Reaktion tritt bei ihnen erst lange Zeit nach dem Reiz ein ; 
somit bildet der Ukrainer den Typus eines Melancholikers. 

Am deutlichsten kommt der Volkscharakter in Sitten 
und Gebräuchen zum Vorschein. Auf das geringe 
Empfindungsvermögen des Russen begründen sich sein Starr¬ 
sinn und seine Grobheit: indem er sein eigenes Mass auf 
andere Leute an wendet glaubt er, dass auch diese, so wenig 
wie er für Grobheiten empfindlich sind und dass zur Beleidigung 
eines anderen schon eine grosse Dosis Eindruck gehört, ln 
der polnischen Gesellschaft bildete sich infolge einer grossen 
Nervenempfindlichkeit folgender Charakter heraus: ein jeder 
Pole trachtet ohne schlechte Absicht sich im möglichst guten 
Lichte zu zeigen, also besser zu erscheinen, als er in Wirklich¬ 
keit ist, und die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken; dies Be¬ 
streben, sich zu maskieren, und ihr Stolz hängen ganz von 
dem Bedürfnis ab, ihre Nerven durch unmittelbare Eindrücke 
zufriedenzustellen. Der Ukrainer kann nicht gleich auf Nerven- 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



535 — 


reize reagieren, dagegen trägt er die ganze Zeit den empfangenen 
Eindruck in sich. Deswegen beobachtet man in seinem 
Charakter Ruhe. Humor und Verschlossenheit. Der Humor ist 
bei ihm Folge des Bestrebens, Unannehmlichkeiten von sich 
ferne zu halten, demzufolge er in unangenehmer Lage sich 
befleisst. irgend etwas Lächerliches, ein Spottobjekt zu finden, 
um so den peinlichen Eindruck zu verringern. 

Die Russen haben sich eine durchaus praktische Lebens¬ 
anschauung zurechtgelegt. Die Höflichkeiten gehen bei den 
Russen nicht über das Lob der Kraft, der Autorität und der 
praktischen Verwendbarkeit hinaus. Nur etwas Starkes, Gesundes 
übt auf den Russen einen entsprechenden Einfluss. Der Pole 
versteigt sich bei den Höflichkeiten bis zur unmöglichen Ueber- 
treibung: „Ich lege mich Euer Wohlgeboren zu Füssen“, wurde 
zur ganz gewöhnlichen Grussform bei den Polen. In dieser Hin¬ 
sicht hält der Ukrainer das Mass. Die Höflichkeiten, welche 
bei ihm einen mehr mürrischen Charakter tragen, beziehen 
sich hier vor allem auf die Familienmitglieder und auf nahe¬ 
stehende Leute. 

Was das Schimpfen anbelangt, so gebührt der absolute 
- Vorrang dem Russen. In bezug darauf ist er sehr fruchtbar 
und grob und yber alle Massen zynisch. Der Pole, wenn er 
schimpft, vergisst dabei nicht, sich selbst zu loben; das 
Schimpfen ist bei ihm theatralisch, unnatürlich. Bei dem Ukrainer 
entbehrt man auch nicht ganz den Zynismus, aber überwiegend 
ist sein Schimpfen mythologisch: Teufel, dunkle Mächte, Donner 
und Blitz oder irgendwelche Wünsche des Schlechten. 

In bezug auf die Familienverhältnisse fällt bei den 
Russen vor allem die Grösse derselben und die absolute, 
kontrollose Macht des Familienoberhauptes auf. Seine Initiative 
bedeutet für die anderen Familienmitglieder das Gesetz, 
wodurch die letzteren, vor allem die Weiber, ihre Individualität 
verlieren. In der polnischen Familie, in welcher der Mann 
und die Frau prunken und herrschen wollen, tauchen von 
allem Anfang Streitigkeiten auf, bis der eine oder der andere 
Teil die Oberhand gewinnt. Von den Kindern verlangen sie 
absoluten Gehorsam, ln der Familie eines Ukrainers fällt vor 
allem auf, dass sie in der Regel sehr klein ist. Bei seiner 
grossen Nervenempfindlichkeit und Eindrucksfähigkeit bietet 
das tägliche Leben viel Material für Sorgen und Streitigkeiten, 
weshalb sich bei der nächsten passenden Gelegenheit die 
Familie teilt. Als ganz natürlich gilt, dass der Vater, wenn er 
seinen Sohn verheiraten will, schon früher dem Sohn ein 
eigenes Heim vorbereitet. Im Verhältnis der Kinderzu 
den Eltern lassen sich auch verschiedene Kombinationen, 
entsprechend dem Volkscharakter der Ukrainer, beobachten; 
z. B. nehmen sich Burschen und Mädchen bei ihren Müttern 
heimlich Allerlei als Beiträge zur Unterhaltung an Spinnabenden, 
wozu die Eltern sich angeblich unwissend stellen. 

Digitized by Gougle 


Original from 

[ND1ANA UNfVERSITY 



— 536 


Was die Freundschaft und Feindschaft an¬ 
belangt, so ist leicht festzustellen, dass die Freundschaft 
bei den Russen meist durch praktische Erwägungen be¬ 
stimmt wird; die Feindseligkeit steigt oft ins Masslose. 
Bei den Polen ist die Freundschaft viel beständiger; Feindselig¬ 
keiten werden lange nachgetragen, ohne dass sie arg werden, 
sie beschränken sich auf Necken des Gegners mit Kleinig¬ 
keiten. Die Ukrainer verbrüdern sich nicht leicht, aber auch 
die Gegnerschaft artet nicht aus, wird aber oft durch das 
ganze Leben nachgetragen. 

Auch das Raufen ist bei den Leuten dieser drei Typen 
verschieden: Der Russe trachtet vor allem seinem Gegner 
soviel als möglich physisches Leid anzutun; bei den Polen 
ist das Grundbestimmende im Raufen Geschicklichkeit; die 
ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich darauf, den Gegner 
tüchtig durchzuprügeln und selbst heil davon zu kommen; sie 
raufen mit Erholungspausen. Bei den Ukrainern packen die 
Gegner einer den andern an den Hemdbrüsten und der ganze 
Kampf beschränkt sich meist nur auf Herumzerren und Schütteln. 
Eine grosse Beleidigung bedeutet: „Er hat mich an der Brust 
ergriffen.“ 

Hinsichtlich des Assoziationsvermögens be¬ 
gegnet man einem solchen sowohl bei den Ukrainern als 
auch bei den Russen, doch weist es bei beiden Völkern be¬ 
deutende Unterschiede auf. Die ukrainische Assoziation (ehe¬ 
malige bäuerliche Fisch- und Salzhändler in der Krim, Fisch¬ 
fänger, Schafhüter), zeichnet sich durch geringe Anzahl ihrer 
Mitglieder und Gleichberechtigung der Kameraden 
aus. Den gewählten Führern folgen sie gerne, aber nur in¬ 
soweit sie sich ihm verpflichtet haben. Für grössere Sach¬ 
kenntnis und Führerschaft zollen sie ihm Ehre und Achtung, 
keineswegs aber einen grösseren Gewinnanteil. 
Das Oberhaupt einer russischen Assoziation verfügt über alle 
selbständig, der Arbeit geht es au- dem Wege und für die 
Führerschaft erhält es den grössten Gewinnanteil. Bei 
den Polen gibt es überhaupt keinen Assoziationsgeist. 

Noch klarer spiegelt sich der Charakter der Völker in 
ihren politischen Idealen ab, die sie bei entsprechenden 
Umständen zu realisieren bestrebt sind. Die Russen ge¬ 
horchen nur einer Autorität und zwar absolut widerstandslos. 
Die Ruthenen haben ein anderes Ideal; dies ist die voll¬ 
ständige Gleichberechtigung der Gemeinde. Ein solches 
Ideal herrschte vor in dem altertümlichen „witsche“ (Ver¬ 
sammlung) und in dem Kosakenrate, wo alle Mitglieder voll¬ 
ständige Freiheit und Gleichberechtigung besassen und auch 
alle sich tatsächlich gleich waren. Die Polen hingegen sind 
Anhänger des Aristokratismus und auch die aus ihnen be¬ 
stehende Gesellschaft war aristokratisch. 

Religionsverhäitnise: Der Ukrainer misst kirch- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 537 — 


liehen Gebräuchen nur wenig Bedeutung bei; sein 
religiöses Gefühl zeichnet sich durch Wärme und Aufrichtigkeit 
aus und er hält den Glauben ein s anderen in Ehren, ln der 
polnischen Religion ist es schwer zu erkennen, was als Aus* 
fluss des Volkscharakters erscheint und was von der katholischen 
Kirche akzeptiert wurde. Wie dem auch sei, kann gesagt 
werden, dass sich die Polen immer durch religiöse In¬ 
toleranz auszeichneten. Bei den Russen nimmt der Ritus 
die erste Stelle ein. Ganze Seckten entstanden auf Grund 
von Streitigkeiten darüber, ob es heissen solle : „Gott erbarme 
dich unser!“ oder „O Gott, erbarme dich unser!“ ob „ge¬ 
boren, nicht geschaffen“ oder „geboren und nicht geschaffen“; 
ob richtiger ein doppeltes oder ein dreifaches „Allelujah“ sei 
u. s. w. Als ein Verehrer der Autorität erscheint der Russe 
als ein ebenso grosser Glaubensintolerant wie 
der Pole. 

In der Kunst eines jeden Volkes gibt es Eigenarten, 
die in verschiedenen Kunstsphären verschieden zum Aus¬ 
druck kommen. Eigene Architektur hat keines 
dieser Völker; alle Architekturformen sind übernommen 
und mit der Zeit dem Volkscharakter entsprechend 
umgearbeitet worden. Das Geringste in der Architektur 
haben die Polen geleistet. Im polnischen Kirchenbau herrschen 
zwei Typen: 1. Gothisch und später 2. das pseudoklassische, 
jesuitische Rokoko. Diese beiden Typen wurden von den 
Deutschen übernommen und unterscheiden sich durch nichts 
von ihren Vorbildern. Die Grundlage der russischen und 
ukrainischen Architektur bildete die byzantinische in ihrer Ver¬ 
fallszeit, aber beide haben dieselbe nach ihrer Art umgebildet. 
Auf den russischen Kirchenbau im 16. und 17. Jahrhundert 
war die buddhistische Architektur nicht ohne Einfluss. Ihr her¬ 
vorragendstes Kennzeichen ist die zwiebelartige Kuppel. Das 
Fronton ist durch fassartige Verzierungen geschmückt. Ein 
anderer russischer Architekturtypus ist der zur Zeit Alexander II. 
in Mode gekommene Pyramidenbau. Der ukrainische Kirchen¬ 
bau stützt sich auf den mittel byzantinischen Typus. Die byzan¬ 
tinische Kirche hat das kreisförmige Fundament und fünf 
Kuppeln. Die Figuren der ukrainischen Kuppel, deren man auf 
den Kirchen in der Ukraine mit der Zeit nur je drei errichtete, 
unterscheidet sich von der byzantinischen dadurch, dass diese 
die Form einer Halbkugel haben, während in der ukrainischen 
Architektur diese Halbkungeln gleichsam aus drei auseinander 
geschnittenen Halbkugelsegmenten, gebunden untereinander 
durch senkrechte Wände, zusammengesetzt sind. Der Typus 
des Glockenturmes ist dreistöckig und je einen Stock höher, 
desto kleiner die Fenster. 

Im Zusammenhang damit wollen wir die Malerei u. 
zw. sowohl die kirchliche als auch die weltliche besprechen. 
Die Polen lasse ich ausser Acht, nachdem sich ihre Malerei 


Digitized by 


Go^ 'gle 


• Original frem 

INDIANA UNtVERSITY 



538 - 


von der westeuropäischen durch nichts unterscheidet. Zu uns 
kam die kirchliche Malerei aus Byzanz. Dort waren die Formen 
durch kanonische Grundsätze festgesetzt, weshalb auch der 
selbständigen Produktion wenig Spielraum überlassen wurde. 
Den Grossrussen kam dies gerade zu statten, weil dies dem 
Volkscharakter, sich vor Autoritäten zu beugen, entspricht. In 
der ukrainischen Kirchenmalerei lässt sich trotz Einschränkung 
durch kanonische Formen ein Streben nach Realismus merken; 
wenn die orthodoxe Kirche Variationen in der Malerei verbot, 
so bezog sich das nur auf den Heiligen, der auch nach dem 
Schema gemalt wurde. Der ukrainische Maler aber brachte 
auf das Bild noch das Volk, welches zu dem Heiligen um 
Segnung kam, wobei er seiner Phantasie Zügel liess. Das kommt 
beispielsweise sehr deutlich bei Zeichnungen des jüngsten 
Gerichtes zum Vorschein: ein Drachenschlund, in den die 
Sünder hineingeführt werden; daneben ein komischer, nicht 
schrecklicher Teufel. Auch die Satire fehlte dabei nicht; und 
oft wurden die Namen der Sünder unterschrieben, z. B.: 
Iwan samt gestohlenem Garn. Es gibt auch Bilder, wo die 
Erzengel Michael und Gabriel in Kosakenanzügen abgebildet 
sind, oder wo Kosaken selbst die Sünder in die Hölle führen. 
Was die weltliche Malerei anbelangt, so haben die Russen 
ihre Sujets aus Westeuropa übernommen, wobei freilich die 
unschöne Ausführung ihr Eigentum ist. Die ukrainische Volks¬ 
malerei ist selbständig. 

•Auch bezüglich der Ornamentik begegnen wir einem 
grossem Unterschiede in der Farbenauswahl und in den Mo¬ 
tiven. Die Polen lieben grelle Farben, als dessen Muster die 
Krakauer Volkstracht dienen kann, wobei das Blaue mit dem 
Roten znsammengezwungen wird und eine besondere Vorliebe 
für glänzende Metallblättchen herrscht. Alles ist auf Effekt 
berechnet. Bei den Russen begegnet man auch der Vorliebe 
für grelle Farben und es werden bei ihnen oft sieben bis 
acht verschiedene Farben zusammengestellt. Die ukrainische 
Ornamentik kennt keine grosse Anzahl von Verzierungen, ist 
aber massvoll; ein Farbendurcheinander auf dem Untergrund 
sieht man nicht. Zwei Grundtypen der ukrainischen Orna¬ 
mentik werden unterschieden: 1. Geometrische Kreuzungen 
und gebrochene Linien ; krummen begegnet man nur sehr selten. 
2. Pfanzenformen; Blätter, Blüte, aber nie eine ganze Pflanze. 
In der russischen Ornamentik überwiegen Tierformen : Köpfe, 
Pfoten, wäs wahrscheinlich von den Finnen übernommen 
wurde. Wenn aber ein Ornament doch der Pflanzenwelt ent¬ 
lehnt ist, so ist obligat eine ganze Pflanze: Vasen samt 
Bäumen; aber auch eine ganze Kirche, ein Dreigespann mit 
Schlitten und Leuten, daneben ein Haus usw. Von der polni¬ 
schen Ornamentik lässt sich ebensowenig sagen, wie von 
der Malerei. 

Wir können nicht umhin, auch die Tänze zu erwähnen. 


Digitized by 


Go», igle 


Original frnm 

INDIANA UNIVERSITY 



— 589 — 


Ein jeder Tanz ist hervorgegangen aus Kriegs-, religiösen oder 
Liebesmotiven. Der polnische Volkstanz, die Mazurka, hat 
ein Kriegsmotiv. die Kavallerieattacke; der Krakowiak — Par¬ 
tisanenkrieg ; Polonaise — religiöse Zeremonie. Russische 
Volkstänze: „Bytschok“ und „Komarinskoj“, das sind über¬ 
haupt keine Tänze nach bestimmten Regeln, sondern ganz 
freie, beliebige Bewegungen. Ukrainische Tänze: „Kolomyjka“, 
„Metelycia“, Horlycia“ — fast alle haben als Ausgangspunkt 
die Liebe. 

Die Wissenschaft und Literatur bei allen drei 
Völkern unterscheidet sich durch Inhalt und Form und Gattung. 
Die Russen zeigen sich hauptsächlich als Anfänger der Natur- 
und technischen Wissenschaften. Die Polen haben alle die 
doktrinäre Methode angewendet. Ueberall begegnet man einer 
grossen Leidenschaft zur abstrakten Philosophie, welche auch 
zwei Drittel der ganzen polnischen Wissenschaft und Literatur 
einnimmt. Bei den Ukrainern herrscht Lust und Leidenschaft 
zu humanitären Wissenschaften vor: Recht, Kulturgeschichte, 
Literatur, politische Oekonomie usw. 

Zuletzt noch einige Worte über die Methode in der 
Wissenschaft und Publizistik Die Polen sind in 
Aphorismen verliebt und in den meisten polnischen literarischen 
Werken kann man Reihen von Urteilen, welche wenig unter¬ 
einander verbunden sind, die jedoch keinen Widerspruch ent 
halten, finden. Der Charakter der Grossrussen kommt am 
deutlichsten in ihrer Publizistik zum Vorschein, in welcher 
zwei Manieren vorherrsehen: 1. Die Autoritätsmanier, deren 
hervorragendster Repräsentant Katkow war: er stellt eine Reihe 
Prämissen auf und schimpft schon im Vorhinein über alle, die 
mit ihm nicht übereinstimmen, bevor er noch einen Schluss 
gezogen hat. Die zweite Manier erscheint in dem Streben, 
alle logische Denkmethode zu zerstören, ohne an die Stelle 
des Zerstörten etwas Positives zu setzen. Das ist der russische 
Nihilismus. Sowohl die erste, als auch die zweite Manier endet 
mit Schimpfen. Der Ukrainer ist ein grosser Freund von 
Analyse und Skeptizismus. Die Vorsicht gegenüber allen 
Theorien und Urteilen a priori, das ist die nationale ukrainische 
Eigenart. 

Die Ethik Die Ethik ist ein allgemein menschlicher 
Begriff, aber bei verschiedenen Völkern ist dessen Auffassung 
verschieden. Grundlage der Ethik ist bei allen Völkern 
das Suchen nach Wahrheit und Recht. Der Ukrainer hält für 
Ethik das was recht ist; bei dem Russen bildet den ethischen 
Hauptpunkt die Kraft;, bei dem Polen bildet das ethische 
Kriterium das Angenehme. — Die Ethik im gesellschaftlichen 
Leben ist einer der Hauptgrundsätze des menschlichen Lebens 
und des Allgemeinwohls. 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 540 - 


Wladimir JIntonowvtsclh 

Von W. Domanitzkyj. 

Am 21. März d. J. verschied in Kijew im 74. Lebensjahre der berühmte 
Gelehrte und Führer der Ukrainer in Russland Wladimir Anto no w y tsch, 
Doktor der russischen Geschichte, Universitätsprofessor in Kijew, kor¬ 
respondierendes Mitglied der Petersburger Akademie der Wissen¬ 
schaften, Mitbegründer der Ukrainischen Gesellschaft der Wissen¬ 
schaften in Kijew, wirkliches und Ehrenmitglied der Schewtschenko- 
Gesellschaft der Wissenschaften in Lemberg, Ehrenmitglied und lang¬ 
jähriger Obmann der Historischen Gesellschaft zu Ehren des Chronisten 
Nestor, Mitglied mehrerer ukrainischer und russischer wissenschaftlicher 
und Aufklärungsvereine. Er war nicht nur ein hervorragender Gelehrter, 
Geschichtsforscher, Archäologe und Ethnograph, sondern er nahm auch 
einen regen Anteil am gesellschaftlichen und politischen Leben und war 
einer der Hauptrepräsentanten der wiederauflebenden ukrainischen Idee. 
Er war eine historische Gestalt. 

Gleich seinem im Jahre 1895 verstorbenen Genossen Mychajlo 
Drah omano w, auch Universitätsprofessor in Kijew, war er Haupt¬ 
führer der ukrainischen gesellschaftlichen und kulturellen Bewegung in 
den 70 —80-er Jahren, und hielt als solcher unter den härtesten Repres¬ 
salien und bei massenhafter Desertion der aufgeklärtesten Elemente 
vom nationalen Boden die ukrainische Idee aut seinen Schultern. 

Antonowytsch repräsentierte die kulturell -wissenschaft¬ 
liche Richtung, Drahomanow die s o zi a 1 - p ol i tische. Die neuere 
ukrainische Bewegung hat diese beiden Richtungen zusammengefasst 
und ihren beiden Vorkämpfern einen her torragen den Platz in der Ge¬ 
schichte des ukrainischen nationalen Lebens eingeräumt. 

Die Tätigkeit des Verstorbenen kann man in drei Perioden ein¬ 
teilen. Die erste Periode bildet seine Jugendzeit, als sein talentvoller 
Geist noch nach den Wegen sucht, die Fragen des gesellschaftlichen 
und individuellen Charakters zu lösen. Die zweite Periode fallt in den 
Anfang der <»0-er Jahre, als er durch das Studium der Geschichte 
sich selbst über die Verhältnisse zwischen den Polen und Ukrainern 
klar wird und die ukrainische Gesellschaft darüber aufklärt; die dritte 
Periode fällt in das letzte Viertel des XIX. Jahrhunderts, wo er sich 
gänzlich dem archäologischen Studium widmet und die Grundlagen für 
die ukrainische Archäologie schafft. Nie in seinem ganzen Leben zog 
er sich vom gesellschaftlichen Leben zurück, obwohl über ihm deswegen 
fortwährend das Damoklesschwert schwebte, immer nahm er an ihm 
einen sehr lebhaften Anteil und bestimmte ihm die Richtung, insbe¬ 
sondere in der russischen ‘ Ukraine. 

Als Historiker war Antonowytsch kein Scholastiker, der 
leblose Ereignisse aus der Vergangenheit aneinanderreiht, er war viel¬ 
mehr Forscher des lebendigen gesellschaftlichen Organismus der Nation, 
er war Geschichtsforscher und Soziologe im vollen Sinne des Wortes. 
In seinen' historischen Werken sieht man immer das Gleichgewicht 
zwischen der Idee und der Tatsache. Er tritt nie mit einer bestimmten 
Idee auf, entwickelt keine Horizonte, setzt nichts voraus ausser den 


Digitized by 


Gck igle 


Original fro-m 

INDIANA UNtVERSITY 



— 541 


nötigen historischen Mitteilungen. Der Plan seiner Werke ist immer 
ein folgender: Den nötigen einleitenden historischen Mitteilungen und 
Erläuterungen folgt die Gruppierung des rohen Materials, welches hie 
u,nd da durch Berufung aut den oder jenen Gelehrten bekräftigt wird 
— und das ist auch das Ganze. Die trockenen Tatsachen setzen sich 
unter der meisterhaften Hand des Historikers in so klarer Perspektive, 
so logisch und so anschaulich zusammen, dass die Idee des Darstellenden 
ungemein plastisch vor uns hintritt. Darin liegt auch die Ursache, dass 
ungeachtet der trockenen Vortragsweise sowie des Umstandes, dass der 
Verfasser nie vorhat, den Leser neugierig zu machen, auf seine Phan¬ 
tasie und Gefühle zu wirken, die Werke Antonowytsch’ ohne Anstren¬ 
gung gelesen werden und aut die Gefühle und Einbildungskraft des 
Lesers wirken. Nicht wenig wird die Klarheit seines Vortrages auch der 
Umstand begünstigen, dass der Verblichene in seiner Jugendzeit die 
Ukraine der Länge und Quere nach zu Fuss und zu Wagen besichtigte, 
wodurch auch kein Ortsname bei ihm bloss leerer Hauch ist. 

Im Grunde seiner wissenschaftlichen Schöpfungskraft liegt ein 
tiefer Pietismus, warme Liebe und gefühlvolle Anbetung des Volkes, 
des ukrainischen Plebs, dessen Seele er durch und durch kannte. Anto- 
nowytsch war hingerissen von der Einheitlichkeit und elementaren Har¬ 
monie beim ukrainischen Volke und war nachsichtig gegen seine auf 
Unwissenheit beruhenden Fehler. Er liebte das Volk wegen seiner hoch 
kulturellen und sozialen Instinkte, wegen seiner sehr humanen Natur 
und seinem tiefen Gerechtigkeitsgefühle. Die Grundideen seiner wissen¬ 
schaftlichen Werke sind — Föderalismus und Autonomie, Beseitigung 
jedes Glaubens- und Gewissensdruckes und eine weitgehende gesell¬ 
schaftliche und persönliche Freiheit. 

Von seinen bedeutendsten historischen Werken erwähnen w ir vor 
allem das dem Kosakentum gewidmete Werk: „Die letzten Zeiten 
des Kosaken tums am rechten Dniproufer, auf Grund 
der Akten von 1679 — 17i6.*) Nie vor ihm wurde das ukrainische 
Kosakentum so deutlich als Kämpler gegen das schlachzizisch- 
polnische Regime geschildert. In nahem Zusammenhang mit dem 
Kosakentum steht das sogenannte Hajdamakentum. („Forschungen 
über das Hajdamakentum.“) Das Werk „Forschungen 
überdieStädtein der Ukrain e“, nach den Akten von 1432—1798, 
behandelt ebenfalls einen sehr wichtigen Gegenstand in der Geschichte 
des ukrainischen Volkes, da es doch bekannt ist, w T ie bedeutungsvoll 
für ein Land das Bestehen eines entwickelten städtischen Mittelstandes 
ist. Ist doch Polen zugrunde gegangen, weil es keinen Mittelstand hatte, 
welcher zwischen der vollrechtlichen .Schlachta und dem rechtlosen 
Bauern vermittelt hätte. Als die wichtigste Arbeit Antonowytsch’ ist 
zu betrachten der „Umriss der Geschichte des litauischen 
Grossfürstentums bis zum T o d e 0 1 g e r d s u . Seine histo¬ 
rischen Arbeiten sind grösstenteils verbunden mit seiner Tätigkeit als 
Redakteur des „Archiv Südrussland s a , einer der wertvollsten 
Quellen zur ukrainischen Geschichte. Ausser dem Archiv gab er viele 


*) Die Titel werden hier in deutscher Übersetzung angegeben. 

Digitized by Google 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



542 


historische Materialien — Chroniken, Urkunden und Volks¬ 
lieder heraus. Zusammen mit Drahomanow veröffentlichte er „Histo¬ 
rische Lieder des ukrainischen Volke s a . 

Als ukrainischer Archäologe erwarb sich Antonowytsch nicht 
nur einen sehr bedeutenden Namen und Ruf einer grossen Autorität, 
sondern man kann sagen, er schuf die ukrainische Archä¬ 
ologie. Dank seinen Bestrebungen wurden vom Grafen Uwarow all¬ 
gemeinrussische archäologische Kongresse, bis jetzt 14, organisiert. 
Auf dem ersten und elften war er Vorsitzender. Er hat ein Werk von 
kolossaler Bedeutung geleistet, indem er die Ukraine vom archäologi¬ 
schen Standpunkt systematisch durchforscht und sehr wertvolle archä¬ 
ologische Karten des Kijewer und Wolliynier Gouver¬ 
nements verfasst hat. Seiner Anregung verdankt das Kijewer 
städtische Museum für Altertümlichkeiten sein Bestehen 
und auch das Museum f ür Altertümlichk e iten an der Kijewer 
Universität, dessen Kustos er war, hat ihm viele wertvolle Gegen¬ 
stände zu verdanken. Er legte sich eine reiche Sammlung vorhi¬ 
storischer Gegenstände an, die jetzt in das Allgemeingut des 
ukrainischen Volkes übergeht. 

Als politischer Führer war Antonowytsch in breiteren Kreisen 
weniger bekannt. Grund dessen waren die politischen Bedingungen, im 
allgemeinen schwer für politische Tätigkeit in Russland, für das 
ukrainische Volk aber geradezu unerträglich. Aber seine Verdienste 
um das ukrainische Volk sind in dieser Beziehung ungemein 
gross. Noch als Student, Ende der 50-er Jahre, organisierte Anto¬ 
nowytsch die Universitätsjugend und gründete einen grossen, ukrai¬ 
nischen Studentenverein „H r o m a d a u , aus welchem dann 
viele erstklassige Gelehrte und Führer der nationalen ukrainischen Be¬ 
wegung hervorgegangen sind. Als Universitätsprofessor trachtete er 
unter den Hörern die Liebe zur Heimat zu erwecken: er bildete sie zu 
Trägern der Kultur heran, die dann ins Volk gehen, die grosse Idee 
der nationalen Wiedergeburt verbreiten sollten. Er hielt nicht nur rus¬ 
sische Vorlesungen an der Universität, sondern auch private ukraini¬ 
sche, illegale für Studenten- und andere Kreise. Die strengste Objek¬ 
tivität, Genauigkeit der Fakten, Vorsicht in Schlüssen, dabei un¬ 
glaubliche Leichtfasslichkeit und Klarheit charakterisierten sowohl seine 
Vorlesungen, wie auch seine wissenschaftlichen Arbeiten. Bei seinen 
Hörern trachtete er die Initiative und Lust zu historischen Arbeiten zu 
wecken; er liebte die Jugend und glaubte an sie. Als ukrainischer 
Patriot kannte er keinen Chauvinismus, wie ihm dies die polnischen 
Zeitungen in Russland und Galizien zuschreiben. Seine Vorlesungen 
frequentierte mit Vorliebe auch die polnische Jugend, deren Väter den 
Verstorbenen so hassten. 

Und viel hatte Antonowytsch von den Polen zu leiden; viele 
Denunziationen gegen ihn wanderten von der polnischen Schlachta, in 
denen es sogar hiess, er hetze das Volk zur Niedermetzelung der pol¬ 
nischen Schlachta auf. Die Beweggründe dieses Hasses werden verständ¬ 
lich, wenn wir beachten, dass Antonowytsch selbst aus der Schlachta her¬ 
vorgegangen, wie es in der Ukraine überhaupt viele polonisierte Kosa- 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



- 543 - 


kenfamilien gab. Antonowytsch, der einen gesunden Verstand und ein 
empfindsames Herz hatte, sah und verstand, dass das Häuflein Rene¬ 
gaten in der Ukraine nichts anderes als Parasiten auf dem nationalen 
Volksorganismus sind, denn die Schlachta nährte sich von den Säften 
des ukrainischen Volkes, welches selbst sie für Vieh hält. Antonowytsch 
und noch einige junge Leute (Thaddäus Rylskyj, Posnanskyj u a.) 
hatten den Mut, mit dieser Klasse zu brechen im Namen der Liebe 
zum Volke, inmitten dessen sie lebten und welches sie aus ganzer Seele 
liebten. Er wurde von der polnischen Schlachta als Apostel ausge- 
schrien und es begann gegen ihn ein heimlicher Kampf durch lügenhafte 
Anzeigen und ein offenkundiger in der Presse. Das gab ihm Anlass zur 
Veröffentlichung seiner ausgezeichneten „Beichte* in der ukraini¬ 
schen Monatsschrift „Osnowa“ im Jahre 1862, als Antwort auf den 
Artikel eines polnischen Schlachzizen, welcher ihn „Renegat“ nannte: 
„Jawohl, Herr Padalycia (ein Pseudonym D. V.), Sie sollen Recht 
behalten“ — schrieb Antonowytsch — „ich bin Renegat, aber Sie 
haben gewiss nicht gut darüber nachgedacht, dass an und für sich die 
Bezeichnung „Renegat“ keinen Sinn hat; um aber den Menschen, 
dem dies Epitheton beigelegt wird, zu verstehen, muss man 
zuerst wissen, was das betreffende Individuum ablehnt und was es 
annimmt; anders bleibt das Wort ein leerer Schall. Das Schicksal wollte, 
dass ich in der Ukraine als Schlachzize geboren wurde, in meiner 
Kinderzeit alle Bitten der jungen Herren gewohnt war und lange alle 
Standes- und nationalen Vorurteile der Leute, in deren Mitte ich aufge¬ 
zogen wurde, teilte. Aber als für mich die Zeit der Selbsterkenntnis 
kam und ich mit kaltem Blute meine Stellung im Lande prüfte, sah 
ich, dass die polnischen Schlachzizen gegenüber dem Gerichte ihres 
Gewissens nur zwei Wege haben : entweder das Volk, inmitten dessen 
sie leben, liebzugewinnen, sich dessen Interessen zu eigen zu machen 
und zur Nation und zum Volke zurückzukehren, welches ihre Vorfahren 
verlassen haben, und durch unaufhörliche Arbeit das Schlechte, das sie 
dem Volke angetan, wettzumachen — oder, sobald bei ihnen dazu die 
moralische Kraft nicht ausreicht, in das vom polnischen Volke be¬ 
siedelte Land zurückzukehren, um nicht ein Parasit mehr zu 
sein und das Gewissen durch Vorwürfe belastet zu haben, dass unser¬ 
einer auch ein Kolonist, ein Plantator ist, sich von der fremden Hände 
Arbeit ernährt und den Weg zur Entwicklung eines Volkes vprstellt, 
in dessen Heim man ungebeten hineindrang. Gewiss habe ich das Erste 
gewagt, weil, wie sehr mich auch die Schlachzizenerziehung, Schlach- 
zizensitten und Träume verdorben haben, so war es mir trotzdem 
leichter von ihnen Abschied zu nehmen, als von dem Volke, welches 
ich gut kannte und dessen trauriges Los ich in jedem Dorfe sah, wo 
nur ein Schlachzize geherrscht hat, welches Volk ich mit einem Worte 
über meine Gewohnheit und Träume liebgewonnen habe. Ich hoffe, 
dass durch Arbeit und Liebe ich es mir einmal ver¬ 
dienen werde, dass mich die Ukrainer als Sohn ihres 
Volkes anerkennen werden, weil ich bereit bin, alles mit ihnen 
zu teilen. Ich hoffe, dass nach und nach unter der polnischen Schlach- 
zizengesellschaft in der Ukraine die Rückkehr zum Volke und die Ar- 


Di gitized by 


Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 



- 544 - 


beit für dessen Wohl das moralische Bedürfnis nicht nur einzelner 
Leute, sondern eines jeden, der imstande ist, seine Stellung, seine Pflicht 
zu erkennen, sein wird . . . M 

Und der Verstorbene, der diese Worte vor 46 Jahren geschrieben 
hat, irrte sich nicht. Das ukrainische Volk erkennt ihn nicht nur als 
seinen Sohn an, sondern es ist stolz auf ihn und wird seiner so lange 
gedenken, so lange die Ukraine bestehen wird. Aber auch bezüglich 
der Bekehrung der polnischen Schlachta sollte er teilweise recht be¬ 
halten. Hunderte junge Kräfte verstanden die von Antonowytsch ge¬ 
predigte Wahrheit und traten in den Dienst des ukrainischen Volkes. 

Dies war aber gewiss der Grund, warum die polnische Presse zu 
seinen Lebzeiten und auch an seinem Grabe ihn als Feind des polni¬ 
schen Volkes bezeichnete, obwohl man bei ihm nicht einen Schatten 
nationaler Exklusivität finden konnte. Indem er seinem Volke eine 
bessere Zukunft wünschte, liess er nicht einmal den Gedanken zu, dass 
das ukrainische Volk, einmal in Kraft gewachsen, andere Völker unter¬ 
drücken könnte. Er war ein Mensch, der mit reinen Händen ans reine / 

Werk ging, ein Mensch mit lebendigem Geist, wodurch er tausende 
von Arbeitern .zum Leben weckte, die dann in allen Ländern, wo das 
ukrainische Volk wohnt, verstreut, den grossen Lehren ihres Lehrers 
folgend, das dunkle Meer der Finsternis im Volke aufhellen und dies 
Volk zur Erfüllung jener demokratischen Prinzipien der Freiheit, 
Gleichheit und Brüderlichkeit führen, die nicht nur ein uraltes Ideal 
des ukrainischen Volkes waren, sondern auch im Leben dieses Volkes 
zur Geltung kamen (Das Saporoher-Kosakentum im 16.—18. Jahrh.), zu 
der Zeit, als dies in Westeuropa nur ein süsser Traum war. 

Einen grossen, historischen Menschen beerdigte die Ukraine am 
21. März dieses Jahres. 



Die polnische Scblacbta in der Ukraine. 

Aus den Memoiren Professor Wladimir Antonowytsch’. 

Die ukrainische literar-wissenschaftliche Monatsschrift „Litera¬ 
turno Naukowyj Wistnyk“ (Kiew-Lemberg) bringt in ihren Heften 
VII-IX d. J. autobiographische Aufzeichnungen des verstorbenen 
Universitätsprolessors Wladimir Antonowytsch, in denen interessante 
Beiträge zur Charakteristik der polnischen Schlachta in der Ukraine in 
den Jahren 1840 — 60, wie der Verfasser sagt „zur Zeit ihres höchsten 
Blütestandes“ enthalten sind. Die Ausführungen des Verfassers, welcher 
selbst aus einer dortigen Adelsfamilie hervorgegangen ist, verdienen 
schon als Berichte eines Augenzeugen besonderes Interesse. Wir be¬ 
schränken uns auf einen kleinen Auszug. 

Obzwar in der schlachzizischen Gesellschaft theoretisch das Prinzip 
der Gleichberechtigung aller Schlachzizen geherrscht hat, wurde dies im 


Digitized by 


Gck igle 


Original fro-m 

INDIANA UNIVERSITY 



— 545 — 


praktischen Leben gar nicht beachtet. Antonowytsch unterscheidet vier 
Schichten im polnischen Adelsstände, deren jede sich über die untere 
hervorhob und sie verachtete. Die oberste Spitze bildeten die Magnaten, 
welche in der Regel im Auslande, auch in Warschau oder Petersburg 
lebten. Der Hauptstock der Schlachta aber waren Grossgrundbesitzer, 
Herren über einige Dörfer; dann folgten Grundbesitzer, die keinen 
vollen Zensus aufwiesen, als welcher der Besitz über hundert Köpfe 
galt. Vom höheren Adel wurden sie als Gesindel (szuja) bezeichnet; 
dann kam erst die Klasse der freien Professionen, Aerzte, Apotheker, 
Advokaten, Ingenieure u. a. m., an die Reihe, die direkt verachtet 
wurden, obwohl sich viele fortschrittliche Schriftsteller bemühten, die 
schlachzizische Gesellschaft zu überzeugen, dass z. B. die medizinische 
Wissenschaft den Schlachzizen nicht entehre. 

Die leitenden Prinzipien der Schlachta waren: Katholizis¬ 
mus, Patriotismus und Schlachzizentum als Dogma, 
welche von den Jesuiten zu einer einheitlichen Theorie erhoben wurden. 
Jesuiten durften in Russland nicht wohnen und es gab dort auch keine 
Jesuitenklöster; nichtsdestoweniger bestand dort eine spezielle Je¬ 
suitenorganisation: das waren Leute verschiedenen Standes, welche 
das Gelübde des Gehorsams dem Orden abgelegt hatten (jesuites a robes 
courtes) und sich einer grossen Achtung und Autorität bei der polnischen 
Gesellschaft erfreuten Der Katholizismus wurde als religiöser 
Fanatismus, patriotisches Gefühl als Chauvinismus zur Schau 
getragen und offenbarte sich im Hass gegen alle Nichtpolen und dem 
Glauben daran, dass Polen eine zivilisatorische Mission 
zu erfüllen habe, dass es unter den Völkern ein heiliger Märtyrer 
sei, jedoch unterliege es keinem Zweifel, dass es einmal alle seine 
Gegner sich zu Füssen zwingen werde. 

Der Schlachzizenstand galt als von Gott und Natur dazu 
bestimmt, überLand u n d Leute zu herrschen. Demokratische 
Ideen waren überhaupt unbekannt; wer sie zufallsweise äusserte, galt 
bestenfalls als verrückt, gewöhnlich als ein Provokator. Das Verhältnis 
der polnischen Gesellschaft zur Volksmasse war nicht 
nur feindlich, sondern zeichnete sich durch die völlige Unkenntnis der 
letzteren aus. Der Dorfherr, der Jahrzehntelang in seinem Dorfe residierte, 
wusste von den Bauern nur soviel, dass sie ein ihm feindliches Element, 
lauter Säufer und zu nichts anderem fähig seien, als ihm Frohndienste 
zu leisten. Von der Aufklärung des Volkes durfte man in Anwesenheit 
eines Schlachzizen überhaupt nicht reden. Auf alle diesbezüglichen Fragen 
bekam man die Antwort: „Was soll dem Bauer der Unterricht? 
Wenn alle gescheit werden, wer wird hinter dem Pf luge 
gehen?“*) Einmal war ich Zeuge folgenden Gesprächs: Zu meinem 
Kollegen kam der Bezirksmarschall zu Besuch und sah, wie dieser seinen 
Lakaien das Lesen lehrte. Verwundert rief er aus: „Was machen Sie 

*) Dieselbe Ansicht wird von der polnischen Schlachta auch heute 
noch zum Besten gegeben. Auch im galizischen Landtage bekam man 
schon die Ansicht zu hören: „Wozu braucht der Bauer eine Schule?“ 
Vergl Artikel „Zur Geschichte der kulturellen Enteignung des ukraini¬ 
schen Volkes“, U. R. Nr. V. 


Digitized by 


Gck igle 


Original frorn 

INDIANA UNIVERSITY 



— 546 — 


denn ? Sie wissen doch, dass der Bauer, sobald er schreiben gelernt, sich 
einen falschen Pass anfertigen und davonlaufen wird; das wird das 
Resultat ihrer ganzen Pädagogik sein!“ 

An der Spitze der polnischen Gesellschaft standen die Grossgrund¬ 
besitzer, die für sich ausschliesslich den Namen Bürger (Citoyen. 
Obywatel) okkupiert hatten. 

Diese Klasse herrschte über das ganze Land in der vollsten Bedeutung 
desWortes. Mehr als neun Zehntel des ganzen Territori¬ 
ums waren ihr Eigentum. Die Bauern besassen damals kein Grund¬ 
eigentum und bei der allgemeinen Bestechlichkeit der russischen Ver¬ 
waltungsbeamten erfreuten sich die Grossgrundbesitzer nicht nur all 
ihrer Rechte, sondern sie durften dieselben ganz nach Willkür über¬ 
schreiten, ohne Verantwortung befürchten zu müssen. Unter der russi¬ 
schen Herrschaft erreichte die Macht der polnischen Schlachta in der 
Ukraine ihren Höhepunkt. Freilich hatte sie zur Zeit der polnischen 
Republik mehr Rechte gehabt, jedoch mehr in der Theorie, als in der 
Praxis. Sie hat damals keine Steuern gezahlt, weshalb der Staatsschatz 
auch immer leer war: Die Regierung durfte im Ganzen nur 16.000 Mann 
Militär auf das ganze polnische Königreich halten; eine Administration 
gab es überhaupt nicht. Die Folge davon war aber, dass die Bauern 
leicht davonlaufen und sich zu Banden zur Abwehr gegen die Verfol¬ 
gung von seiten der polnischen Schlachta organisieren konnten. Die 
Grossgrundbesitzer waren oft gezwungen, in ihrer Willkür nachzulassen, 
um so die Arbeitskräfte zu erhalten. Aber nach Anschluss der Ukraine 
an Russland wurde die theoretische Macht der Schlachta infolge stär¬ 
kerer Verwaltungsorganisation zur Praxis. Mit dem Tode strafen durften 
zwar die Herren Leibeigene nicht mehr, wie dies zur Zeit des polni¬ 
schen Königreiches rechtens war, sonst aber kannte die herrschaftliche 
Willkür keine Grenzen Körperliche Strafen durften ins Mass- 
lose gehen. Dem Herrn stand das Recht zu, auf Grund eigenen 
U r t e i 1 e s den Bauer jederzeit zu den Rekruten (25 Jahre Dienst¬ 
zeit) abzugeben oder nach Sibirien zu verbannen. Es gab 
Schlachzizen, welche ihre gehässigen Praktiken zur Virtuosität erhoben. 
Ein Schlachzize, Valentius Abrahamowicz, war im Bezirke dadurch be¬ 
kannt, dass er für die Prügelstrafe eine neue Nomenklatur erfunden 
hatt%. Seine Bauern wurden je nach dem Verschulden nach folgendem 
Masstabe geprügelt: 1. Abstrifikation — bis 200 Ruten; 
2. Mässigung — 200 bis 800; 3. Kontentation — 500 bis 1000. 
4. Satisfaktion — Prügeln bis zur Bewusstlosigkeit. Ein 
anderer Schlachzize, Straszynski, wurde dadurch populär, dass gegen 
ihn für nicht weniger als 138 Mädchenvergewaltigungen An¬ 
klage erhoben wurde; als er eingesehen hatte, dass das Gericht seine 
Tätigkeit doch nicht ungestraft lassen könne, starb er pro foro externo 
- de facto lebte er inkognito weiter im Hause seines Sohnes. All¬ 
gemein bekannt war auch der Prozess der Grossgrundbesitzerin Stocki, 
welche eine besondere Schlucht im Walde ausersehen hatte, in der sie 
allerlei Marter an den Bauern ausübte und auch einige Mäd¬ 
chen verbrannte. Es gab auch einen Prozess gegen den Gross¬ 
grundbesitzer Orlowski, in dessen Dorf sich in einer Nacht 12 Bauern 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



— 547 - 


erhängten. Die bestechliche Beamtenschaft drückte ihm gegenüber die 
Augen zu. So hat z. B. ein Grossgrundbesitzer einen Bauern zu Tode 
gepeitscht Der Dorfpfarrer protestierte dagegen, indem er sich 
weigerte, den Getöteten zu Grabe zu geleiten. In einem Gespräche, dessen 
Zeuge ich war, instruierte der Herr seinen Verwalter dahin, er solle 
den zuständigen Beamten mit 25 Rubel bestechen. Die Angelegenheit 
wurde auch in diesem Sinne erledigt. 

Solche Beispiele könnten hier in Hülle und Fülle angeführt 
werden. Gewiss war es nicht die Mehrheit der Schlachta, die sich zu 
solchen tierischen Extremen der Willkür verstieg, aber wie immer war 
die Körperstrafe fast ausnahmslose Regel auf allen Gutsherrschaften. 
Sechs Tage Frohndienst in der Woche, unmässige Abgaben, Schläge und 
das ewig* Schimpfen machten das Leben der Bauern unerträglich. 
Gewiss hatte das Ganze im Mangel an Kultur seine Ursache. D i e 
Schlachta schickte ihre Kinder in der Regel nicht in 
die Schule. In den 40 —60er Jahren des 19. Jahrhunderts waren im 
sogenannten südwestlichen Lande im ganzen drei Magister aus Schlach- 
zizenfamilien, Absolventen fremder Universitäten. Die Universität 
besuchten nur Söhne der herrschaftlichen Angestellten, während den 
Söhnen der Schlachta ohne jegliches Studium alle Aemter 
zugänglich waren. w 

Kein Wunder, dass unter solchen Umständen die ukrainisch- 
nationale Idee, deren Pionier Antonowytsch war, aufgebaut auf Prinzipien 
des Demokratismus und der Aufklärung des Volkes, in der polnischen 
Schlachta ihren erbittersten Gegner fand. So hat Antonowytsch selbst 
für die Propagierung dieser Idee binnen einigen Jahren 42 Anzeigen 
bei dem Kijewer General-Gouverneur auf sich geladen. Das Ukrainer¬ 
tu m als Ganzes wurde als staatsgefährli ch hingestellt und die 
Regierung zum Kampfe gegen dasselbe angerufen. 



Die Rutbenen und Oesterreich. 

Die Worte des Tschechen Palacky, wenn es kein Oester¬ 
reich gäbe, so müsste es geschaffen werden — bergen in sich 
eine bleibende politische Wahrheit, ungeachtet dessen, dass 
deren Prediger sie dann selbst widerrufen hat. Wie sehr unzu¬ 
frieden sich manche nationale Parteien auch gebärden, im 
Ernste wünscht keine den Untergang Oesterreichs; es kann viel¬ 
mehr mit absoluter Sicherheit gesagt werden, dass der Bestand 
Oesterreichs im direkten Interesse aller seiner Völker liegt. 
Wenn die internationale Sozialdemokratie in Oesterreich gut 
österreichisch gesinnt ist, wenn die panslavistischen Träumer 
Oesterreich als ihren Zukunftsstaat für sich reklamieren — es 


Digitized by 


Go^ 'gle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— M8 - 


gibt ja einen grossen Panslavistenflügel, dessen Jünger sich 
Austroslaven nennen — so ist es gewiss, dass das gering 
geschätzte Oesterreich (es war eine Zeitlang in der Publizistik 
Mode, Oesterreich ein jähes Ende zu prophezeien), doch 
keine zur Tugend gemachte Not ist, sondern in sich Bedin¬ 
gungen zum erspriessiichen Gedeihen birgt. 

Der Bestand Oesterreichs liegt im Interesse aller seiner 
Völker, auch in dem der Ruthenen. Es ist dies ja schon oft 
von verschiedenen ultraloyalen ruthenischen Politikern gesagt 
worden — aus Loyalität als solcher, weniger aus weit¬ 
sichtigeren politischen Erwägungen. Es waren Ruthenen, die 
nach Anbruch der konstitutionellen Aera in Oesterreich, als 
sie am öffentlichen Leben teilnehmen durften, solche Ansichten 
aus Ergebenheit vor der Macht des Staates und aus Dankbar¬ 
keit für den Brocken nationaler und politischer Rechte zum 
Besten gaben. Das war der eingedrillte Patriotismus der Schul¬ 
kinder, die die ..Gott erhalte“ Hymne singen. 

Diese ruthenisch - österreichischen Patrioten hiessen 
„Tiroler des Ostens“. Schon lange ist dieser Name zum Hohn 
geworden und den Nachahmungsversuchen einer solchen 
Loyalität wurde beim Volke immer nur mit Abneigung 
begegnet Dieser Patriotismus wagte sich nicht über die 
Staatsgrenzen hinaus, während sich die nationalen Ideale des 
Volkes unbekümmert darum über diese Grenzen hinwegsetzten. 
Die Kundgebungen für die nationale Einigkeit mit den ruthe¬ 
nischen Konnationalen in Russland, welche dort nicht die 
geringsten nationalen und politischen Rechte hatten, wurden 
aber in Verkennung von deren Tragweite auch für Oesterreich, 
dank den Bemühungen unserer Feinde zum Russophilismus 
gestempelt. Oesterreich liess den Ruthenen nicht das zuteil 
werden, was diese als Volk nötig hatten; die Ruthenen wurden 
aus nicht gut verständlichen Erwägungen den Polen mit Leib 
und Seele ausgeliefert und Oesterreich schien darauf hinzu¬ 
arbeiten, die Ultraloyalisten in Gegner umzuwandeln. 

Drüben in Südrussland, in der Ukraine, welcher der 
Mund geknebelt wurde, wo das Bekenntnis der nationalen 
Zusammengehörigkeit aller Ruthenen als Staatsverrat galt, hatte 
sich ehemals eine austrophile Partei gebildet, und neu¬ 
lich erst schrieb die Stolypinsche „Rossija“, die ruthenisch- 
nationale Bewegung sei eine österreichische Intrigue. 
Die Oesterreich freundlichen Sympathien der Ukrainer hatten 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 549 


freilich zu der Zeit eingesetzt, als die Herrschaft der Polen in 
Galizien noch nicht grösser war wie die Staatsgewalt daselbst. 
Leider sollte dort allmählich der Austrophilismus in Misskredit 
geraten. Der Auslieferungsprozess der Ruthenen an die Polen 
wurde soweit geführt, dass die übliche publizistische Annahme, 
welche ihn durch Rücksichten parlamentarischer Natur er¬ 
klärte, man habe es deutscherseits vorgezogen, statt mit 
den österreichisch gesinnten, aber schwächeren Ruthenen, 
mit den stärkeren Polen aus Bequemlichkeitsrücksichten anzu- 
bandeln — sich als hinfällig erweisen musste. Die Unter¬ 
ordnung der Staatsinteressen in dem Gebiete des grössten 
österreichischen Kronlandes, Galizien, unter die Interessen der 
polnischen Schlachta scheint Zwangsgründe elementarer 
Natur zu haben, für die man vergeblich eine verständliche 
Erklärung sucht. Darin findet die Tatsache eine Erklärung, dass 
ein jetzt aktiver ruthenischer Politiker auf der Suche nach den 
Beweggründen der österreichischen Politik in Galizien, erst 
vor der Annahme halt machte, Galizien sei nicht mit Unkenntnis 
der Dynastie ein Herd für die Wiederherstellung Polens . . . 

Oesterreich liess den Ruthenen nicht Gerechtigkeit wider¬ 
fahren, die Staatsgrundgesetze fanden auf sie nicht die gebüh¬ 
rende Anwendung. Und dennoch! Dennoch gibt es für die 
Ruthenen heute und in absehbarer Zeit keinen andern Stand¬ 
punkt als den österreichischen, auf welchen sich die ruthe- 
nischen Politiker stellen müssen — beileibe nicht in naiver 
Nachahmung der .,Tiroler des Ostens“ seligen Angedenkens, 
sondern in wahrhaft politischer Erwägung, als Leute, die wissen, 
was sie tun und was sie wollen und warum sie das und nicht 
etwas anderes wollen. Klarheit in den Richtunggebenden Grund¬ 
linien der Politik ist unerlässlich und es möge mit Offenherzigkeit 
ausgesprochen werden: wir wünschen den Bestand und die 
Macht Oesterreichs — in unserem nationalen Interesse. Der 
freche Vorwurf, die Ruthenen gravitieren zu Russland, möge 
an die Adresse der Verleumder zurückgewiesen werden, die 
darauf ihre politische Karriere in Oesterreich gegründet haben, 
hinterrücks aber als verlogene Panslavisten einen Pakt mit den 
Repräsentanten der Knute und Despotie schliessen und in 
Galizien an der Heranbildung einer russenfreundlichen Partei 
arbeiten, um so für alle Fälle den Rücken gedeckt zu 
haben. Wir sind Freunde dieses Staatswesens, an welches uns 
das historische Geschick gewiesen hat, aber mit einem prinzi- 

Digitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



550 — 


piellen Vorbehalt: dass dieses uns eine Heimstätte sei, und 
nicht ein Notstandsasyl. Und in Konsequenz dessen wollen 
wir nochmals, wie wir dies schon vor einem Monate getan 
haben, auf die Haltung unserer Repräsentanten in den Dele¬ 
gationen hinweisen, die sich für eine den Staat und dessen 
Erhaltung und Stärkung abzielende Politik erklärt, gleichzeitig 
aber ganz unzweideutig bekannt haben, so lange eine ent¬ 
schiedene Opposition gegenüber dessen innerer Politik zu 
üben, bis unserem Volke die volle Gleichberechtigung wider¬ 
fährt. —r. 



Ein Uortrag in Dresden. 

Gehalten von Richard Le Mang. 

Im nationalliberalen Rpichsverein zu Dresden hielt vor kurzem 
Herr Richard Le Mang, welchen die „Ukrainische Rundschau“ zu 
ihren Mitarbeitern zählt, einen interessanten, reichhaltigen Vortrag, 
dessen Thema die preussische Ostmarkenpolitik bildete. Von einem 
Freunde unserer Zeitschrift erhalten wir den Bericht über diesen Vor¬ 
trag, welchem wir einige Stellen entnehmen, die eine Abschweifung 
in die dem Prälegenten aus eigener Anschauung gut bekannten galizi- 
schen Verhältnisse sind. Die Ausführungen enthalten eine Parallele zu 
den Verhältnissen in Preussisch-Polen und beleuchten die Stellung der 
Deutschen zur Polenfrage, mit welcher unsere Stellung gegenüber 
dieser Frage allerdings nicht ganz identifiziert werden kann. 

Was Preussen in seinen vormals polnischen Landesteilen geleistet 
hat, erkennt man — führte der Prälegent' aus — an den gleichzeitigen 
Zuständen Galiziens, wo die echt polnische Wirtschaft am längsten, bis 
1870 hinaus ihre Reinkultur bewahrte. Dort höchst mangelhafte 
Abgrenzung des Besitzes und der gegenseitigen Gerechtsame, und da¬ 
rum unaufhörliche Streite und Gewalttaten namentlich um Wald und 
Weide, bei der Tausende von Bauern zu Grunde gerichtet wurden, 
grosser Mangel an guten Hauptstrassen und nahezu vollständiger 
Mangel an fahrbaren Wegen, Stegen und Brücken. Die Flussläufe nicht 
im mindestens reguliert, um die entsetzlichen Überschwemmungen zu 
verhindern, die alljährlich regelmässig, wie die Mondwechsel, wieder¬ 
kehrten und die Uferlandschaften meilenweit überfluteten, keine Feuer-, 
Vieh- und Hagelversicherungen, keine Vorkehrungen gegen Viehseuchen. 
Grosser Mangel an wirklichen Ärzten. 1870 gab es in Galizien, das 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



fünfmal so gross wie Sachsen ist und damals sieben Millionen Ein¬ 
wohner zählte, nur 320 wirkliche Ärzte, und sanitäre Zustände, die 
jeder Beschreibung spotten. Keine mustergiltigen Landwirtschaftsinsti¬ 
tute, keine Kreditanstalten, die der Landmann beuützen konnte. Der 
Zins für sichere bäuerliche Hypotheken bewegt sich zwischen 18—30%. 
Der Zins für Handdarlehen betrug nicht uuter 80% und stieg häufig 
bis über 500%. Auf l'/ 2 Quadratmeilen entfiel eine Dorfschule, die 
meisten wurden von den ruthenisehen Gemeinden unterhalten. Noch im 
•fahre 1877 war ein Drittel der Schulgemeinden ohne Schulen, weshalb 
die ländliche Bevölkerung noch 1880 gegen 80% Analphabeten zählte. 
Dazu ein miserabel bezahltes Beamtentum, das ohne Nebeneinkünfte nicht 
bestehen konnte, so, dass Frau Themis dort nicht bloss eine Binde vor 
den Augen hatte. Milch- und Viehwirtschaft w r ar dem Bauern ebenso 
unbekannt wie die Düngung; auch war er, im Durchschnitt, zu arm, 
um sich mehr als eine Kuh zu halten. Galizien ist noch jetzt das elendste 
Land Europas, wo alljährlich zehntausend an ungenügender 
Nahrung indirekt verhungern, ohne die, welche der Schnaps zu Grunde 
richtet, der in den Edelhöfen gebrannt und von den Schnapsjuden ver¬ 
schenkt wird. — Und nun denke man dem gegenüber an die pol¬ 
nische Landschaft Preussens, an das, was deutsche Art und deutsches 
Beispiel, was deutsche Verwaltung und Fürsorge dort bis zum Jahre 
1870 geschaffen hatte und zwar durch Mittel, die es diesen Landes¬ 
teilen nicht entnehmen konnte. Dazu bedurfte es grosser deutscher 
Kapitalien, brauchte es deutsche Ausdauer, deutschen Fleiss und auch 
viel deutsches Volkstum und gerade das ist dabei diesem Teile unseres 
Ostens reichlich einverleibt worden und damit hat sich Preussen dieses 
Land in ehrlicher Arbeit verdient und hat Schuldtitel aufzuweisen, 
gegen die alle polnischen Erläuterungen leere Deklamationen bleiben. 

Es gibt auch Polen, die sich diesen Tatsachen nicht verschliessen 
und ein solcher Pole ist S. von Turno. ln seiner, zu Ende des 
vorigen Jahres erschienenen Broschüre, die den Titel trägt: „Zum 
Enteignungsprojekt“, und mit einem empfehlenden Vorwort des be¬ 
kannten Professor Hans Delbrück versehen ist, gesteht der Verfasser 
zu, dass an der Kulturarbeit in unserer Ostmark der preussische Staat 
durch Bahnen, Strassen, Schaffung von mustergiltigen Landschaftsin¬ 
stituten und anderen Werken des öffentlichen Wohles mitgeholfen habe, 
aber den Anteil des deutschen Elementes an dieser Arbeit unterschätzt 
er. Deutsche Einflüsse, deutsches Kapital, deutsches Beispiel haben 
zur Hebung des polnischen Bauernstandes und zur zeitgemässen Be¬ 
wirtschaftung des polnischen Grossgrundbesitzes in ganz hervorragen¬ 
der Weise beigetragen. Herr von Turno bekennt darum freimütig, dass 
bei einer Wiederaufrichtung eines selbständigen polnischen Deiches 
es sich doch nur um denjenigen Anteil handeln könne, welcher unter 
dem historischen Namen eines Königreichs Polen dem russischen 
Reiche zugefallen sei. Der zu Preussen gehörende Anteil könne dabei 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



nicht mit in Rechnung gezogen weiden, und zwar aus zwei Gründen: 
Erstens wegen der östlichen Lage der Reichshauptstadt Berlin, die 
eine Verschiebung der östlichen Grenze nicht vertragen könne; zwei¬ 
tens weil die betreffenden ehemals polnischen Landesteile ethnogra¬ 
phisch nicht mehr rein, auch nicht einmal mehr überwiegend polnisch 
seien. ‘ 

Fügen wir hinzu, dass die ethnographischen Verhältnisse im 
Osten und Südosten des ehemaligen polnischen Reiches jagellonischer 
Blüte noch viel ungünstiger für das Polentum liegen. Dort bildete das 
eigentliche nationalpolnische Pllement nur eine äusserst dünne Decke, 
die sich über ein Gebiet spannte, das nahezu so gross wie ganz 
Deutschland war und auf dem jetzt, neben zirka 3 Millionen Polen 
einige 20 Millionen Ruthenen oder Ukrainer, 0—7 Millionen Weiss¬ 
russen, 3 Millionen Lithauer, und ausserdem sicher l‘/ 2 Millionen 
Juden wohnen. — Herr von Turno hat gewiss keine Ursache diese 
Tatsachen zu erwähnen, wenn er aber dann lobend hervorhebt, dass 
die preussischen Polen bei all dem Temperament, trotz aller Bedrückun¬ 
gen, Ausnahmsgesetze und polizeilicher Massregelungen doch sehr ruhige 
Staatsbürger seien, und dass sie in der Ostmark keine solchen Dinge 
begehen wie Bombenwerfen etc., so ist das letztere richtig. Aber dass 
polnische Elemente in Russland auch grosse Uebung im Bombenwerfen 
an den Tag legten, übersieht er, und warum das bis jetzt nicht in 
unserer Ostmark geschehen, verschweigt er. Es rührt daher, dass das 
preussische Regiment die preussischen Polen nicht, zur Verzweiflung 
drängt, dass unsere Polen nichts von all den Uebeln und Ungerechtig¬ 
keiten verspüren, die dort namentlich eine korrupte russische B^amten- 
w 7 elt hervorruft und auch nichts von der grässlichen materiellen Not. 
welche die polnische Bevölkerung Galiziens plagt. Unsere Polen finden 
im Deutschen Reiche immer noch lohnende Arbeit und finden hier 
überall Recht und zwar ein Recht, das keine Bestechung kennt. 

Es ist wahr, dass die Polizei bei Bekämpfung der polnischen 
Agitation, der gewandten und intelligenten Führerschaft gegenüber, 
sich oft ungeschickt beträgt. Darunter leiden wir anderen mindestens 
ebenso stark. Es entstammt dem Geiste der Bevormundung, der uns 
alle bedrückt und von dem wir uns leider noch nicht befreien konnten. 
Daher kommt es, dass wir Deutschen bei jeder Gelegenheit gleich nach 
Polizei, nach Staatshilfe rufen, immer ängstlich erst nach oben schauen 
und uns (wie die Flottenvereinskrisis zeigte) ohne hohe Protektoren 
nicht vorwärts wagen. Diesem Geiste der Bevormundung entspringt 
auch unsere übereifrige Schulmeisterei, wir erwarten von ihr, aus 
Bequemlichkeit, weit mehr, als sie zu leisten vermag. Warum will man 
flenn in Posen beim Religionsunterricht in der polnischen Sprache den 
Polen nicht ein wenig entgegenkommen? Hiebei ist doch nichts zu 
befürchten. — Wirkliche Gefahr liegt im Beichtstuhl! — Trotzdem ist 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UN1VERSITY 



— 553 — 


unsere Bevormundung reines Kinderspiel der Bevormundung gegenüber, 
mit denen die Schlachta Galiziens die dortige ruthenische Bevölkerung 
auf allen Gebieten zu plagen versteht. 



Rundschau. 

Die SUdeluugen des ukrainische« Volkes In Russland. 

In der Sitzung der statistisch-wirtschaftlichen Kommission der 
geschichtlichen Sektion bei der Ukrainischen Gesellschaft der Wissen¬ 
schaften in Kiew legte Herr W. Koschowvj eine statistische Arbeit über 
die Verteilung des ukrainischen Volkes in Russland vor. aus welcher 
folgendes hervorgeht: Üb— 99° fl Ukrainer wohnen in SS Bezirken von 
13 Gouvernements. in 19 Bezirken von Gouvernements. 

Alle 107 Bezirke nehmen das Gebiet von 525.553 (Quadratwerst ein. also 
mehr als ganz Deutschland. 

Hnscblitss Ostgaliziens an Russland. 

Im ,,Nowoje Wremja“ u. a. russischen Blättern wird die Forderung 
auf Anschluss Ostgaliziens an Russland als Rekompansatio n f ü r 
die Annexion Bosniens und der Herzegowina erhoben. 
Das genannte Blatt verlangt, dass diese Angelegenheit auf der inter¬ 
nationalen Konferenz hervorgehoben wird. Diese Forderung wird aut das 
dem Ministerpräsidenten Stolypin aus Anlass der projektierten Trennung 
der ukrainischen Provinzen vom Zartum Polen übersandte Memorandum 
eines ,,gewesenen langjährigen Gouverneurs im Zartum Polen“, zurück¬ 
geführt. Der Verfasser des Memorandums rät. sich solange von der Ab¬ 
trennung dieser Provinzen zu enthalten, bis das ruthenische Galizien Russ¬ 
land angeschlossen werde. Jetzt könnten, so behauptet der scharfsinnige 
Staatsmann, die Polen darauf mit der Unterstützung der ukrainischen 
Bewegung in Galizien. Schaffung einer ruthenischen Universität in 
Lemberg usw. antworten. Dann würde Ostgalizien für die 30 Millionen 
russischer Ukrainer der Herd der ukrainisch-nationalen Bewegung. 
Nicht nur Polen, sondern auch Oesterreich als Konkurrent Russlands 
in slavischen Sachen, würde die ukrainische Bewegung gegen Russland 
ausspielen. Die Unterdrückung der ukrainischen Bewegung hält aber 
der gewesene Gouverneur für die Zukunff Russlands für so wichtig, 
dass er in Anbetracht dessen erklärt, im Vergleich damit trete die 
Dardanellenfrage in den Hintergrund. .. 

Wunderblumen galiziscben flssekuraniwesens. ) 

Am 14. November d. J. hat die Lemberger Polizei über Auftrag 
der galizischen Statthalterei den seit einigen Monaten dort „wirkenden“ 
wechselseitigen Entschuldungsverein „Alliage“ aufgehoben und dessen 
Bureau geschlossen und versiegelt. Die Aufhebung des Vereines er¬ 
folgte darum, weil dieser seine Tätigkeit aut Grund anderer als der 
von der Statthalterei genehmigten Statuten betrieben hat. Der ganze 

*) Vergl. den gleichnamigen Artikel in der „Ukr. R.“ Nr. 11. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 554 — 


Verein war ein grosser amerikanischer Schwindel. Die Direktion dieses 
famosen Vereines hatte Prospekte verbreitet, in welchen den Mitglie¬ 
dern, die eine 10 K Einlage leisten, binnen 14 Tagen eine d o p- 
pelt so hohe Unterstützung geboten wurde. Bei grösseren Einlagen 
wurde die Verdreifachung derselben binnen H Monaten in Aussicht ge¬ 
stellt. Vom verdreifachten Betrage sollten -/ s gleich aiisbezahlt werden, 
1 aber als eine weitere, zur Verdopplung bestimmte Einlage bleiben, 
so dass in nicht ganz einem Jahre der Einleger das vierfache seines 
anfangs eingelegten Betrages erhalten sollte. Wie sich bei der Aufhebung 
des Vereines herausgestellt hat, fanden sich gegen 18.000 Naive, die 
Mitglieder des Vereines geworden waren, welcher auch tatsächlich an¬ 
fangs seinen Versprechungen nachgekommen ist. Bei der Revision 
wurden in der Vereinskasse 165 000 K gefunden, die zur teilweisen 
Deckung der geschädigten Einleger verwendet werden. 

Die 0atf>olicisslmi. 

In einer der nächsten Nummern unserer Zeitschrift w erden wir eine 
Artikelserie über die religiöse Intoleranz der Polen auf Grund geschicht¬ 
licher, meist polnischer Quellen einleiten, worin die Verfolgung der 
Ruthenen durch die Polen auf kirchlichem Gebiete in der Zeit vom 
14. —18. Jahrhundert ziemlich eingehend dargestellt w r ird. Dass sich die 
religiöse Intoleranz der Polen nicht nur auf die historische Vergangen¬ 
heit erstreckt, darüber unterrichtet uns nachfolgende Geschichte, die 
sich am 15. November (Sonntag) in den katholischen Kirchen der Haupt¬ 
stadt Litauens, Wilna, ereignet hat. An diesem Tage waren die Wilnaer 
Kirchen Schauplatz stürmischer polnischer Demonstrationen, worüber 
die galizisch-polnischen und preussisch-polnischen Blätter die grösste 
Diskretion beobachten. Als nämlich nach der lateinischen Messe und 
dem darauf in polnischer Sprache abgehaltenen Gottesdienst ein solcher 
noch in litauischer Sprache angelangen wurde, erhoben die demonstrativ 
in grossen Massen versammelten Polen stürmischen Lärm, wodurch 
trotz der Gegenbemühungen der Geistlichkeit der litauische Gottesdienst 
unterbrochen wurde. Diese „Verteidigung des angegriffenen Besitzstan¬ 
des“ ist darauf zurückzulühren, dass es den Litauern nach langen Be¬ 
mühungen gelungen war. die Gleichberechtigung der litauischen Sprache 
in den katholischen Kirchen Litauens, w^o nach den Traditionen aus 
der Zeit der polnischen Republik die polnische allein vorherrschend 
war, zu erlangen. Im Zentrum Litauens hielten sich die Polen nicht 
zurück, sogar die Gotteshäuser zu schänden ; dieselben, welche aus Anlass 
des Zwanges der polnischen Schulkinder in Preussen zum deutschen 
Religionsunterrichte die Welt über die preussische Barbarei des Lärmes 
voll machten. Man vergesse aber nicht, dass die Polen ihren Gottes¬ 
dienst in Preussen in polnischer Sprache ah halten und polnische Pre¬ 
digten hören können. 

€in ukrainischer Uerejn in Paris. 

Die in Paris w r eilenden Ukrainer gründeten im Oktober d. J. den 
Verein „Cercle des Oukrainiens a Paris“. Beim Verein organisierte sich 
eine Kommission für Information über Studiums- und Lebensbedingungen 
in Paris für die Ukrainer. Auch soll der Verein für Informationen der 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



— 555 — 


Ausländer über ukrainische Sachen dienlich sein. Die Adresse des 
Vereines lautet: Cercle des Oukrainiens a Paris, 14, rue Thouin, 
Paris V. 

Bücbemnlaut 

Julius Stowik. Die Slaven, das älteste autochthone Volk 
Europas. Uebersetzt aus dem Russischen vom Autor. I. Teil. Turdcz- 
Szt.-Märton. Selbstverlag des Verfassers. 1908. Preis K 1*80 (deutsch). 

Kalendar Proswity. Illustrierter Kalender des Aufklärungs¬ 
vereines „Proswita“ in Lemberg für das Jahr 1909. Jahrgang XXXII. 
Lemberg 1908. Preis 1 K (ukr.) 

Zaporozec, Volkskalender für 1909. Red. von Dr. K Trylowskyj 
und Iw. Tschuprej, S. 288, Preis 90 h samt Porto. Kolomea 1908. 

Towarysch. Volkskalender für 1909. Herausgegeben vom Ver¬ 
bände der Bukowinaer landwirtschaftl. Genossenschaften „Selanska 
Kasa“ in Czernowitz. 1908. S. 302. Preis samt Porto 80 h (ukr.) 

Kalendaryk. 190 »-Kalender für Kinder. Herausgabe der 
„Kinderbibliothek. u Red. Lesi Kyselycia, Czernowitz 1908 (ukr.) 


Heue, mit der Ukrainischen Rundschau in tausch« 
verkehr getretene Zeitschriften. 

Militärische Presse, illustriertes Wochenblatt mit Fach¬ 
blättern. Herausgeber Hauptmann Franz Un yer und Hauptmann a. D. 
Gustav Holler. Redaktion: Wien XVIII/1, Währingerstrasse8I Ad¬ 
ministration: Wien IV. Wiedner Gürtel 4. Bezugspreis samt Fach- 
blättern: jährlich 20 K, halbj. 12 K, viertel]. 6 K 50 h. Aktive Unter¬ 
offiziere und Unteroffizierskasinos haben 50% Nachlass (deutsch). 

Zapysky ukrainskoho naukowoho towarystwa w Kyjiwi (Mit¬ 
teilungen der Ukrainischen Gesellschaft der Wissenschaften in Kijew). 
Erscheinen viermal jährlich. Redaktionskomitee: Universitätsprofessoren 
Mich. Hruschewskyj, Hr. Pawlutzkyj, W. Peretz. Band I. 
Preis fürs Ausland 0 Rubel jährlich. Kijew 1908 (ukr.) 

Wohlstand für Alle. Erscheint jeden 1. und 3. Sonntag im 
Monat. Herausgeber: W. Horatsche k. Wien XIl, Herthergasse 12. 
Abonnementspreis ganzjährig K 240 (deutsch). 

Nasza Niwa. Eine weissrussische Wochenschrift. Heraus¬ 
geber und Redakteur: A. U 1 a s o u. Preis 3 Rubel jährlich. Wilna 1908 
(weissrussisch). 


Inhalt des nächsten Reffes Öännerbeft 1909). 

Von Freiheit zur Sklaverei. Von Sergius Jefremow. 
Historische Rechte der Polen aul Länder der ukrainischen Zunge. 
Von Wladimir Kuschnir, 

Die galizischen Ruthenen und die Kirchenfrage des Orients. 

Das Schulwesen in der Ukraine. Von Dmytro Doroschenko. 
Bemühungen der galizischen Ruthenen um das Privatschulwesen. 
Von Konstantine Malytzka. 

Ueber die religiöse Intoleranz der Polen. Geschichtliche 
Materialien (Ein Zyklus). 

Der Wille zu Macht. Von Josef Turj an s k y j. 

Politisches Durcheinander. Von O. K. 

Rundschau etc. 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 



— f>5« — 


Einladung im Abonnement 

Mit dem nächsten Hefte werden wir den VII. Jahrgang 
unserer Revue einleiten. Die sechsjährige Tätigkeit befreit uns 
von der Pflicht, das Programm unserer Zeitschrift eingehender 
zu entwickeln, deren Hauptbestimmung die Information des 
Auslandes über die ukrainische Frage und über alle Er¬ 
scheinungen des geistigen Lebens des ukrainischen Volkes 
auf allen von ihm bewohnten Territorien ist. Auch der Umfang 
des Blattes und die Abonnementsbedingungen bleiben unver¬ 
ändert. Den bisherigen P. T. Abonnenten wird die „Ukrainische 
Rundschau“ weiterhin zugeschickt und werden wir die Annahme 
des Jännerheftes 1909 als Erneuerung des Abonnements 
betrachten. 

Wir werden uns gestatten, dem Jännerhefte Bestellzettel 
auf die „Ukrainische Rundschau“ mit der höflichen Bitte an 
die Freunde unseres Blattes beizuschliessen, dieselben zu 
empfehlender Uebermittlung an Bekannte zu verwenden. (Wir 
heben hervor, dass sich die Bestellzettel nur auf neu ein¬ 
tretende Abonnenten beziehen.) 

Das Jännerheft 1909 erscheint schon am 1. Jänner und 
bitten wir deshalb die neueintretenden Abonnenten, sich mit 
den Bestellungen zu beeilen, damit die Grösse der Auflage 
geordnet werden kann. Neu beitretende Abonnenten erhalten 
nach vollständiger Entrichtung des Abonnementsbetrages, der 
ganz-, halb- und vierteljährlich beglichen werden kann, je 
nach Wunsch eine schön ausgeführte ethnographische Karte der 
Ukraine oder die Broschüre „Der Neopanslavismus“, jede 
im Werte von 60 Hellern samt Porto, umsonst zugesendet. 
Das ganzjährige Abonnement beträgt Kronen 8'- , (halbjährig 
Kronen 4 —, vierteljährlich Kronen 2•—) und ist an die 
Administration der „Ukrainischen Rundschau“, Wien, Gerst¬ 
hof, Hockegasse 24, zu senden. 

Hochachtungsvoll 

die „Ukrainische Rundschau“. 


Unsere P. T. Abonnenten werden hiemit höflichst auf¬ 
merksam gemacht, dass sich seit 1. Dezember d J. die 
Redaktion und Administration der „Ukrainischen Rundschau“ 
in Wien, Gersthof, Hockegasse 24 befindet, wohin alle 
Zuschriften gefälligst zu richten sind. 


Digitized by 


Gougle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 



Die Administration der „Ukrainischen Rundschau“ 
hat auf Lager und verkauft folgende Bücher und 
Broschüren : 

Ruthenische Revue, Jahrgang I (1903), eleg. geb. . K 6.— 

„ „ „ „ nicht geb. . „ 5.— 

* •, „ II (1904), eleg. geb. . „ 6.— 

„ „ >, , nicht geb. . „ 5 — 

„ ., 111(1905), nicht geb. „ 6.— 

Ukrainische Rundschau, Jahrgang 1906, nicht geb. „ 5.— 

1907, „ „ „ 5.- 

,, „ „ 1908, „ „ „ 7.— 

Das Zarentum im Kampfe mit der Zivilisation. 

Von Roman Sembratowycz Neuer Frank¬ 
furter Verlag 1905 .„ 1.30 

Das Urteil der europäischen Kulturwelt über 
den Ukas von 1876. Herausgegeben von 
Basil R. v. Jaworskyj, Wien 1905. (Dasselbe 

ruthenisch).„ —30 

Der Neopanslavismus. Von Wladimir Kuschnir. 

Verlag C. W. Stern, Wien und Leipzig 1908 . ,, —.55 

Ethnographische Karte der Ukraine (Carte de 
l’extension du peuple ukralnien). Gezeichnet von 
D. Aitoff, Paris 1908 .„ - .60 

Sämtliche Preise verstehen sich samt Porteanslagen. 

TYV'rYTVYTVT T T ▼TTYTYTYV 

Difitized by Gougle 


Original from 

INDIANA UNfVERSITY 












- 558 — 



Huzulische 

Hausindustrie. 


UAlrromfliirfnicco beschlagen mit verschiedenfärblgen Korall- 
nuiz.öl Z-tJUglJlbbö eben in Dessins, wie: 

Teller im Preise von 10-100 K 

Rahmen verschiedener Grösse von 10—120 K 

Spazierstöcke, axtförmig, von 10 — 100 K 

Lineale von 5 K aufwärts 

Federstiele von 1—20 K 

Papiermesser von 1.50—3 K 

Fässchen zu 30 und 40 K u. a. 

Korallehenerzeugnisse, "‘''"'‘""'""vier 4 ” , '" lert 

Uhrketten für Herren von 2—5 K, für Damen zu 6 K 
Gürtel von 10 bis 100 K 

Haar- und Halsbänder zu 2. 3 u. 5 K. 

(Majolika in verschiedenen Dessins, volks- 

I 0n6rzeugniss6 tiimliche Motive): 

Blumenvasen von 5—100 K 
Wandteller von 2 - 30 K 

Aschenbecher und Waschbecken zu verschiedenen Preisen. 

Stofferzeugnisse 

Gestickte Hemden von 12-30 K 
,, Krawatten zu 4 und 5 K 
„ Handtücher von 6 K aufwärts 
,, Tischdecken von 30 K aufwärts 
Huzulenschürzen von 6—20 K 
Huzulische Teppiche von 30—60 K. 

Ansichtskarten mit Mustern von volkstümlichen Stickereien 10 h pro Stück 

Zu beschaffen durch die Firma 

„Sokilskjj Bazar“, 

Gesellschaft für Handel und Industrie in LEMBERG. 

Ruskagasse Nr. 20 (Galizien, Österreich). 




Original from 

INDIANA UNIVERSITY 


— 559 — 


Zeitungs-ßacbrichten * 

in Original-Ausschnitten 

über jedes Gebiet, für Schriftsteller, Gelehrte, Künst¬ 
ler, Verleger von Fachzeitschriften, Grossindu¬ 
strielle, Staatsmänner usw., liefert zu massigen 
- - - Abonnementspreisen sofort nach Erscheinen- 

ADOLF SCHUSTERMANN, Zeitungs-Nachrichten Bureau, 

BERLIN SO., Rungestrasse 25/27. 

Liest die meisten und bedeutendsten Zeitungen und Zeitschriften der Welt. 

Referenzen zu Diensten — Prospekte und Zeitungslisten gratis und franko. 


In gegenwärtiger Zeit, wo die Verkehrsverhältnisse ganz be¬ 
sonders hohe Anforderungen an Spraehkenntnisse stellen, dürfen Unterrichts¬ 
blätter mit leichtfasslicher Methode einer günstigen Aufnahme sicher sein. Als 
derartige äusserst belehrende Zeitschriften erweisen sich die im Verlage von Rosen¬ 
baum & Hart in Berlin SW. 48 erscheinenden Journale „Le RGpetiteur“ und „The 
Repeator“ in hohem Masse. Eine äusserst glückliche Methode erleichtert dasEindrin- 
gen in die fremde Sprache ; jedes ausländische Wort enthält unter sich das entspre¬ 
chende deutsche, wodurch unbekannte Ausdrücke sofort auffallen und bei der 
Wiederholung in Erinnerung gebracht werden, was den Wortschatz stetig ver- 
grössert. Der Inhalt ist unterhaltend und belehrend, dabei stets von angenehmer 
Mannigfaltigkeit; Aussprachebezeichnung, Bindungs- und Betonungszeichen, so¬ 
wie Eussnoten sind bestimmt, den Inhalt richtig zu lehren. Für Fortgeschrittene 
enthalten diese 14tiigig erscheinenden Blätter allmonatlich eine Beilage mit nur 
fremdsgraehlichem Text, dem Anmerkungen beigefügt sind. Es dürften daher 
diese äusserst praktischen Sprach-Zeitsehrifreu vielen umso willkommener sein, 
als der Abounementsbetrag pro Quartal nur je 1 20 Mark beträgt. Abonnements 
werden zu jeder Zeit bei allen Postanstalten und Buchhandlungen entgegenge- 
nommen. Probenummern liefert der Verlag gratis und franko. 


Ruthenische Hausindustrie 

Teppiche und huzulische Ornamentik 

erzeugt in Regie der Filiale des Aufklärungsvereines „Proswita“ in Neu-Sandez (Galizien) 
unter dem Protektorat des gewesenen Reichsratsabgeordneten Basil von Jaworskyj, 
überragen sämtliche ähnlichen galizischen Landesprodukte und können, was 

Schönheit der Muster, unverwüstliches Material u. elegante Ausführung 

anbetrifTt, den gleicharticen Erzeugnissen des Auslandes angereiht werden. In beiden Hinsichten 
haben aber die Neu-Sandezer Teppiche den unleugbaren Vorzug vor den gleichen bosnischen 
Waren, schon in Anbetracht der bedeutend billigeren Preise. 

Zu besichtigen und zu beziehen in der 

Wiener Handelsfirma „TITAN“, XVIII. Theresiengasse Nr. 73. 

in „Sokilskyj Bazar“, Lemberg, Ruskagasse und in der Filiale der „Proswita“ in Neu-Sandez. 

Oer Reinertrag wird für die mittellose Sohuljugend in Neu-Sandez verwendet. —— 


□ igitized by Google 


Original from 

ENDIANA UNIVERSITY 








— 5H0 — 



durch „Dishohol" gerettet !i 

Jede Dame kann es. zu 
Hause heimlich tun — «[er 
Versuch kostet nichts ! 

Keine Frau braucht zu verzweifeln! Die 
sichere, dauernde und einzige Kur gegen Trunk¬ 
sucht ist gefunden! Disk o hol* • heisst dies's 
wundervolle geruch- und geschmacklose Mittel 
und wurde von einem berühmten Forscher und 
Spezialisten entdeckt. Es kann auch insgeheim in 
Kaffee, Tee, Bier oder Speisen etc. beigemengt 
werden und ist garantiert unschädlich. Es 
vernichtet die schreckliche Begierde nach Alkohol 
für immer, fördert aber gleichzeitig dm Appetit 
für feste Speisen derart, dass der Magen keinen 
Alkohol mehr aufnehmen kann und der Trinker 
wird durch den blossen Anblick von 
Schnaps angeekelt und muss sich 
schütteln. Seine bisher vergeudete 
Energie wird dann wiederkehren, sein 
scheues Auge wird hell, sein Geist klar, 
sein Körper elastisch und seine Nervositäl 
verschwindet. 


Sie dankt u. preist d. ac höpfer 
und dem „Diskolnl S welches 
ihrem Galt n von dem traurig. 
Los eines Trinkers bewahrte. 
— Einst war er ihr Stolz, und 
ihr.' Zukunft — da kam der 
Alkohol lufel. umgarnte ihn 
u. inachle all sein u. ihr Glück 
zu schänden.— Er s:.nk immjr 
ti ler, b s es ihr endlich gelang, 
ihn durch *’)iskohol«zii retten 
und ihm d e volle Mannheit 
wiedir. u ben. Nun sie 
glückl t h ubergliicM ch! 

St. Ludwig 


Wenn Sie einen geliebten Gatten. 
Vater, Sohn oder Verwandten haben, 
der von der Alkoholseuche behaftet ist. 
dann schreiben Sie mir Ihre Adresse und 
ich werde Ihnen dann eine Probesendung 
von diesem wunderbaren Mittel völlig 
gratis zukommen lassen. Anweisung unc 
Belehrung wird ebenfalls gratis bei- 
gefügt. Scheiben Sie gleich, ehe es zv 
spät ist. Postkarte genügt! 

Dp. Burghardts 

pharm. Laboratorium, 
i. Eis. (Deutschland). 


Das einzige ruthenische Hotel 

„Narodna Hostynnycia 44 

in Lemberg, Ecke der Sykstuska- und der Kosciuszkogasse ? 
Haltestelle der elektrischen Strassenbahn Hotel. Restauration 
und Kaffeehaus, eingerichtet nach europäischem Muster. Elek¬ 
trische Beleuchtug, elektrischer Lift, Telephon und Bad. Be¬ 
sondere Schlafstellen für minderbemittelte Bauern. Die Gesell¬ 
schaft nimmt neue Mitglieder und Einlagebüchel zur Prozen- 

tuierung auf. 


Digitized by Google 


Original fro-m 

ENDiANA UNIVERSITY 





'»ntj Astral* 11 


•»oqu® 

etch« n 






ftßäW'*' 


(»rave nw Erhalt! r 


50 ? 


Imp.Erhard P r “ 

Original fro m j 

INDIANA UNIVERSlf 




































Digitized by 


Gck igle 


Original fram 

INDIANA UNIVERSITY 





Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





Digitized by 


✓ 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





Original from 

INDIANA UNIVERSITY 





Digitized by 


Gck igle 


Original from 

INDIANA UNIVERSITY