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Full text of "Umwelt und Innenwelt der Tiere [microform]"

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Marine  Biological  Laboratory  Library 

Woods  Hole,  Mass. 


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Presented  by 

the  estate  of 

Dr»  Herbert  W.  Rand 

Januaiy  9,  19^4 


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Umwelt  und  Innenwelt 

der  Tiere. 


Von 


J.  von  Uexküll, 

Dr.  med.  hon.  o. 


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Berlin. 

Verlag  von  Julius  Springer. 
1909. 


Sr.  Durchlaucht 
dem  Fürsten  Philipp  zu  Eulenburg  und  Hertefeld 

in  Verehrung  und  Dankbarkeit  gewidmet. 


Einleitung. 

Mit  dem  Wort  „Wissenschaft"  wird  heutzutage  ein  lächer- 
licher Fetischismus  getrieben.  Deshalb  ist  es  wohl  angezeigt, 
darauf  hinzuweisen,  daß  die  Wissenschaft  nichts  anderes  ist 
als  die  Summe  der  Meinungen  der  heutelebenden  Forscher.  So- 
weit die  Meinungen  der  älteren  Forscher  von  uns  aufgenommen 
sind,  leben  auch  sie  in  der  Wissenschaft  weiter.  Sobald  eine 
'Meinung  verworfen  oder  vergessen  wird,  ist  sie  für  die  Wissen- 
schaft tot. 

Nach  und  nach  werden  alle  Meinungen  vergessen,  ver- 
worfen oder  verändert.  Daher  kann  man  auf  die  Frage:  „Was 
ist  eine  wissenschaftliche  Wahrheit?"  ohne  Übertreibung  ant- 
worten: ,,Ein  Irrtum  von  heute." 

Die  Frage,  ob  es  einen  Fortschritt  in  der  Wissenschaft 
gibt,  ist  darum  nicht  ganz  so  leicht  zu  beantworten  wie  gemein- 
hin angenommen  wird.  Wir  hoffen  wohl  von  gröberen  zu 
feineren  Irrtümern  fortzuschreiten,  ob  wir  uns  aber  wirkHch 
auf  dem  guten  Wege  befinden,  ist  für  die  Biologie  in  hohem 
Grade  zweifelhaft. 

Die  Betrachtung  des  Lebendigen  bietet  bei  jedem  Schritt 
dem  unbefangenen  Beobachter  eine  so  unermeßliche  Fülle  von 
Tatsachen,  daß  die  bloße  Registrierung  dieser  Tatsachen  jede 
Wissenschaft  unmöglich  machen  würde.  Erst  die  Meinung  des 
Forschers,  die  das  Beobachtete  gewaltsam  in  Wesentliches 
und  Unwesentliches  scheidet,  läßt  die  Wissenschaft  erstehen. 
Die  herrschende  Meinung  entscheidet  rücksichtslos  über  das, 
was  als  ,, wesentlich"  gelten  soll.  Wird  sie  gestürzt,  so  fallen 
mit    ihr    Tausende    von   fleißigen,    mühsamen   und   ausgezeich- 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  1 


2  Einleitung. 

neten    Beobachtungen    als     „unwesentlich"    der    Vergessenheit 
anheim. 

In  der  Biologie  stehen  wir  noch  unter  dem  frischen  Ein- 
druck, den  der  Sturz  des  Darwinismus  in  uns  allen  hervor- 
gerufen hat.  Die  Erfolge  rastloser  Arbeit  eines  halben  Jahr- 
hunderts erscheinen  uns  heute  als  unwesentlich. 

Kein  Wunder,  daß  die  Biologen  jetzt  bestrebt  sind,  ihren 
Arbeiten  eine  festere  Grundlage  zu  geben,  als  es  die  Lehre  von 
der  Vervollkommnung  der  Lebewesen  war. 

Der  Erfolg  dieser  Bestrebungen  ist  nicht  sehr  ermutigend. 
Über  die  Grundlagen,  auf  denen  sich  die  Biologie  der  Tiere 
als  stolzes  wissenschaftUches  Gebäude  erheben  soll,  ließ  sich 
bisher  keine  Einigung  erzielen.  Und  doch  entscheidet  diese  Eini- 
gung das  Schicksal  der  Biologie.  Bleibt  die  Frage  nach  den 
Grundlagen  unentschieden  oder  der  Mode  unterworfen,  so  gibt 
es  keinen  Fortschritt,  und  alles,  was  mit  dem  größten  Geistes- 
aufwand von  der  einen  Generation  erarbeitet  wurde,  wird  von 
der  nächsten  wieder  verworfen  werden. 

Nur   wenn    alle   Hände    nach    einem    gemeinsamen   Plane* 
tätig  sind,    um    auf    fester    Grundlage    ein    Haus    zu    erbauen, 
kann  etwas  Gedeihliches  und  Dauerndes  entstehen. 

Es  ist  lehrreich  und  vielleicht  auch  nützlich,  sich  darüber 
Klarheit  zu  verschaffen,  welche  Ursachen  die  Einigung  in  der 
modernen  Biologie  der  Tiere  bisher  verhindert  haben. 

Die  moderne  Tierbiologie  verdankt  ihr  Dasein  der  Einführung 
des  physiologischen  Experimentes  in  das  Studium  der  niederen 
Tiere.  Die  Erwartungen,  die  man  von  physiologischer  Seite  an 
die  Erweiterung  des  Forschungsgebietes  knüpfte,  wurden  nicht 
erfüllt.  Man  suchte  nach  Lösung  für  die  Fragen  der  Physio- 
logie der  höheren  Tiere  und  fand  statt  dessen  neue  Probleme. 
Die  Auflösung  der  Lebenserscheinungen  in  chemische  und  phy- 
sikalische Prozesse  kam  nicht  um  einen  Schritt  weiter.  Dadurch 
hat  sich  die  experimentelle  Biologie  in  den  Augen  der  Physio- 
logen strengster  Observanz  diskreditiert. 

Für  alle  jene  Forscher  aber,  die  im  Lebensprozeß  selbst 
und  nicht  in  seiner  Zurückführung  auf  Chemie,  Physik  und 
Mathematik  den  ,, wesentlichen"  Inhalt  der  Biologie  sahen, 
mußte  der  ungeheure  Reichtum  an  experimentell  lösbaren  Pro- 
blemen   ein    besonderer  Ansporn    sein,    um    sich    den   niederen 


Einleitung.  3 

Tieren  zuzuwenden.  In  wenigen  Jahren  ist  denn  auch  die 
Fülle  des  bearbeiteten  Stoffes  so  groß  geworden,  daß  heutzutage 
die  Ordnung  des  Stoffes  als  die  viel  dringendere  Aufgabe  er- 
scheint, gegenüber  der  stets  fortschreitenden  Neuforschung. 
Baumaterial  ist  in  Hülle  und  Fülle  vorhanden,  um  den  Bau 
der  Wissenschaft  zu  beginnen.  Nur  muß  man  sich  über  den 
Bauplan  einigen. 

Das  natürhchste  wäre,  wenn  man  mit  den  alten,  längst 
vorhandenen  Bauplänen  weiterarbeitete.  In  den  schönen  Zeiten, 
da  Anatomie  und  Physiologie  noch  ungetrennt  eine  einheit- 
liche Biologie  bildeten,  faßte  man  jedes  Tier  als  eine  funk- 
tionelle Einheit  auf.  Die  anatomische  Struktur  und  ihre 
physiologischen  Leistungen  wurden  gleichzeitig  erforscht  und 
als  zusammengehörig  betrachtet. 

Es  fällt  niemand  ein,  eine  Arbeitsteilung  in  die  Techno- 
logie einzuführen,  und  zwei  Klassen  von  Ingenieuren  auszu- 
bilden, die  einen  für  das  Studium  der  Struktur,  die  anderen  für 
das  Studium  des  Energieumsatzes  in  den  Maschinen. 

Technologie  wie  Technik  würden  durch  diese  Teilung  bald 
zugrunde  gerichtet  werden.  Auch  die  Biologie  wäre  durch  die 
Teilung  in  Anatomie  und  Physiologie  längst  zugrunde  gegangen, 
wenn  nicht  die  Medizin  mit  ihren  praktischen  Bedürfnissen 
den  Zusammenschluß  der  beiden  Wissenschaften  wenigstens 
für  den  Menschen  peremptorisch  forderte.  Diesem  Zusammen- 
gehen der  Wissenschaften  verdanken  auch  die  neuesten 
Arbeiten  ihre  hohe  biologische  Bedeutung.  Man  braucht  bloß 
an  das  Lebenswerk  Pawlows  zu  erinnern,  oder  an  die 
großen  Erfolge  der  englischen  Physiologen  wie  Langley  und 
Sherrington. 

Überall  dort,  wo  Physiologie  und  Anatomie  getrennt  vor- 
gingen, ist  es  nicht  zu  ihrem  Heile  ausgeschlagen.  Die  ver- 
gleichende Anatomie,  die  immer  mehr  die  Leistungen  der  Or- 
gane vernachlässigte,  gelangte  schheßlich  dazu,  die  Struktur  der 
Lebewesen  als  eine  bloß  ,, formale  Einheit"  zu  betrachten. 
Die  ,, Homologie"  wurde  zur  Grundlage  einer  ganz  neuen 
Lehre  von  den  Beziehungen  der  Körperformen,  während  die 
,, Analogie"  verachtet  wurde,  und  so  traten  tote  räumliche 
Beziehungen  an  die  Stelle  der  lebendigen  Wechselwirkung  der 
Organe.    Erst  in  neuester  Zeit  führt  die  experimentelle  Embryo- 

1* 


4  Einleitung. 

logie  die  anatomische  Wissenschaft  zu  den  Quellen  der  tiefsten 
Lebensprobleme  zurück. 

Ebenso  verlor  die  allgemeine  Physiologie  immer  mehr  das 
Verständnis  dafür,  daß  jedes  Lebewesen  eine  ,, funktionelle 
Einheit'*  ist.  An  Stelle  des  Strebens  nach  Erkenntnis  des 
Bauplanes  eines  jeden  Lebewesens,  der  allein  aus  Anatomie 
und  Physiologie  erschlossen  werden  kann,  trat  das  einseitige 
Studium  der  mögUchst  isolierten  Teilfunktionen,  um  diese  als 
rein  physikalisch-chemische  Probleme  behandeln  zu  können. 

Dies  war  das  Schicksal  der  Biologie  der  höheren  Tiere.  Ganz 
eigenartig  gestaltete  sich  das  Schicksal  der  Biologie  bei  den  niede- 
ren Tieren.  Hier  gingen  nicht  Anatomie  und  Physiologie  ge- 
trennte Wege,  sondern  die  Physiologie  wurde  zeitweilig  voll- 
kommen unterdrückt.  Dies  geschah  durch  den  Darwinismus. 
Der  Darwinismus  (nicht  Darwin  selbst)  betrachtete  die  Leistungen 
der  anatomischen  Struktur  als  ,, unwesentlich"  gegenüber  dem 
einen  Problem:  wie  sich  die  Struktur  der  höheren  Tiere  aus 
der  der  niederen  entwickelt  habe. 

Man  sah  in  der  Tierreihe  den  Beweis  für  eine  stufenweis 
ansteigende  Vervollkommnung  von  der  einfachsten  zur  mannig- 
faltigsten Struktur.  Nur  vergaß  man  dabei  das  eine,  daß  die 
Vollkommenheit  der  Struktur  gar  nicht  aus  ihrer  Mannigfaltig- 
keit erschlossen  werden  kann.  Kein  Mensch  wird  behaupten, 
daß  ein  PanzerschifE  vollkommener  sei  als  die  modernen  Ruder- 
boote der  internationalen  Ruderklubs.  Auch  würde  ein  Panzer- 
schiff bei  einer  Ruderregatta  eine  klägliche  Rolle  spielen. 
Ebenso  würde  ein  Pferd  die  Rolle  eines  Regenwurms  nur  sehr 
unvollkommen  ausfüllen. 

Die  Frage  nach  einem  höheren  oder  geringeren  Grad  von 
Vollkommenkeit  der  Lebewesen  kann  gestellt  werden,  wenn 
man  jeden  Bauplan  mit  seiner  Ausführung  zusammenhält  und 
prüft,  in  welchem  Fall  die  Ausführung  am  gelungensten  ist. 
Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  bei  dieser  Fragestellung  die 
niederen  Tiere,  weil  sie  zu  den  ältesten  Geschlechtern  gehören, 
den  Preis  davontragen  werden,  denn  es  scheint  die  Regel  zu 
gelten:  je  älter  die  FamiUe,  um  so  besser  die  Durcharbeitung. 

Man  versucht  ferner  das  Vollkommenheitsproblem  zu  er- 
örtern, indem  man  die  Bedürfnisse  der  Organismen  mit  ihrem 
Bauplan  vergleicht  und  fragt,  inwieweit  entspricht  der  Bauplan 


Einleitung.  5 

dem  Bedürfnis.  Das  ist  auch  die  Fragestellung  des  Darwinis- 
mus gewesen.  Nur  aus  ihr  heraus  erhält  die  Behauptung,  die 
höheren  Tiere  seien  die  vollkommeneren,  einen  Sinn. 

Wenn  man  nämlich  die  Bedürfnisse  des  Menschen  als 
Maß  ansieht,  an  dem  alle  Baupläne  der  Tiere  zu  messen  sind, 
so  sind  natürUch  die  höchsten  Tiere  die  vollkommensten.  Das 
ist  aber  ein  zu  handgreiflicher  Irrtum,  um  darüber  ein  Wort  zu 
verlieren.  Haben  wir  doch  zur  Erforschung  der  Bedürfnisse 
eines  Tieres  gar  keine  anderen  Hilfsmittel  zur  Hand,  als  eben 
seinen  Bauplan.  Er  allein  gibt  uns  Aufschluß  über  die  aktive 
wie  passive  Rolle,  die  das  Tier  in  seiner  Umwelt  zu  spielen 
berufen  ist.     Deshalb  ist  die  ganze  Fragestellung  sinnlos. 

Aber  selbst  die  Behauptung,  daß  die  variierenden  Indivi- 
duen einer  Art  mehr  oder  weniger  gut  ihrer  Umwelt  ange- 
paßt seien,  ist  vöUig  aus  der  Luft  gegriffen.  Jedes  variierende 
Individuum  ist  entsprechend  seinem  veränderten  Bauplan  anders, 
aber  gleich  vollkommen  seiner  Umgebung  angepaßt.  Denn  der 
Bauplan  schafft  in  weiten  Grenzen  selbsttätig  die 
Umwelt  des  Tieres. 

Diese  Erkenntnis,  die  ich  Schritt  für  Schritt  zu  beweisen 
gedenke,  kann  allein  als  dauernde  Grundlage  der  Biologie  an- 
gesehen werden.  Nur  durch  sie  gewinnen  wir  das  richtige 
Verständnis  dafür,  wie  die  Lebewesen  das  Chaos  der  anorga- 
nischen Welt  ordnen  und  beherrschen.  Jedes  Tier  an  einer 
anderen  Stelle  und  in  anderer  Weise.  Aus  der  unübersehbaren 
Mannigfaltigkeit  der  anorganischen  Welt  sucht  sich  jedes  Tier 
gerade  das  aus,  was  zu  ihm  paßt,  d.  h.  es  schafft  sich  seine 
Bedürfnisse  selbst  entsprechend  seiner  eigenen  Bauart. 

Nur  dem  oberflächlichen  Blick  mag  es  erscheinen,  als  lebten 
alle  Seetiere  in  einer  allen  gemeinsamen  gleichartigen  Welt. 
Das  nähere  Studium  lehrt  uns,  daß  jede  dieser  tausendfach 
verschiedenen  Lebensformen  eine  ihm  eigentümliche  Umwelt 
besitzt,  die  sich  mit  dem  Bauplan  des  Tieres  wechselseitig  be- 
dingt. 

Es  kann  nicht  wundernehmen,  daß  die  Umwelt  eines 
Tieres  auch  andere  Lebewesen  mit  umschheßt.  Dann  findet 
diese  wechselseitige  Bedingtheit  auch  zwischen  den  Tieren  selbst 
statt  und  zeitigt  das  merkwürdige  Phänomen,  daß  der  Ver- 
folger ebensogut  zum  Verfolgten  paßt,   wie   der  Verfolgte   zum 


Q  Einleitung. 

Verfolger.    So  ist  nicht  bloß  der  Parasit  auf  den  Wirt,  sondern 
auch  der  Wirt  auf  den  Parasiten  angepaßt. 

Die  Versuche,  diese  wechselseitige  Zusammengehörigkeit 
benachbarter  Tiere  durch  allmähliche  Anpassung  zu  erklären, 
sind  kläglich  gescheitert.  Sie  haben  zudem  das  Interesse  von 
der  nächstliegenden  Aufgabe  abgewandt,  die  darin  besteht,  erst 
einmal  die  Umwelt  eines  jeden  Tieres  sicherzustellen. 

Diese  Aufgabe  ist  nicht  so  einfach,  wie  der  Unerfahrene 
glauben  könnte.  Es  ist  freiHch  nicht  schwierig  ein  beliebiges 
Tier  in  seiner  Umgebung  zu  beobachten.  Aber  damit  ist  die 
Aufgabe  keineswegs  gelöst.  Der  Experimentator  muß  festzu- 
stellen suchen,  welche  Teile  dieser  Umgebung  'auf  das  Tier  ein- 
wirken und  in  welcher  Form  das  geschieht. 

Unsere  anthropozentrische  Betrachtungsweise  muß  immer 
mehr  zurücktreten  und  der  Standpunkt  des  Tieres  der  allein 
ausschlaggebende  werden. 

Damit  verschwindet  alles,  was  für  uns  als  selbstverständlich 
gilt:  die  ganze  Natur,  die  Erde,  der  Himmel,  die  Sterne,  ja 
alle  Gegenstände,  die  uns  umgeben,  und  es  bleiben  nur  noch 
jene  Einwirkungen  als  Weltfaktoren  übrig,  die  dem  Bauplan 
entsprechend  auf  das  Tier  einen  Einfluß  ausüben.  Ihre  Zahl, 
ihre  Zusammengehörigkeit  wird  vom  Bauplan  bestimmt.  Ist 
dieser  Zusammenhang  des  Bauplanes  mit  den  äußeren  Faktoren 
sorgsam  erforscht,  so  rundet  sich  um  jedes  Tier  eine  neue  Welt, 
gänzlich  verschieden  von  der  unsrigen,  seine  Umwelt. 

Ebenso  objektiv  wie  die  Faktoren  der  Umwelt  sind, 
müssen  die  von  ihnen  hervorgerufenen  Wirkungen  im  Nerven- 
system aufgefaßt  werden.  Diese  Wirkungen  sind  ebenfalls 
durch  den  Bauplan  gesichtet  und  geregelt.  Sie  bilden  zu- 
sammen die  Innenwelt  der  Tiere. 

Diese  Innenwelt  ist  die  unverfälschte  Frucht  objektiver 
Forschung  und  soll  nicht  durch  psychologische  Spekulationen 
getrübt  werden.  Man  darf  vielleicht,  um  den  Eindruck  einer 
solchen  Innenwelt  lebendig  zu  machen,  die  Frage  aufwerfen, 
was  würde  unsere  Seele  mit  einer  derart  beschränkten  Innen- 
welt anfangen.  Aber  diese  Innenwelt  mit  seelischen  Qualitäten 
auszumalen  und  aufzuputzen,  die  wir  ebensowenig  beweisen 
wie  ableugnen  können,  ist  keine  Beschäftigung  ernsthafter 
Forscher. 


Einleitung.  7 

Über  der  Innenwelt  und  der  Umwelt  steht  der  Bauplan, 
alles  beherrschend.  Die  Erforschung  des  Bauplanes  kann  meiner 
Überzeugung  nach  allein  die  gesunde  und  gesicherte  Grundlage 
der  Biologie  abgeben.  Sie  führt  auch  Anatomie  und  Physio- 
logie wieder  zusammen  zu  ersprießUcher  Wechselwirkung. 

Wird  die  Ausgestaltung  des  Bauplanes  für  jede  Tierart 
in  den  Mittelpunkt  der  Forschung  gestellt,  so  findet  jede  neu- 
entdeckte Tatsache  ihre  naturgemäße  Stelle,  an  der  sie  erst 
Sinn  erhält  und  Bedeutung. 

Der  Inhalt  des  vorliegenden  Buches  soll  dem  Zwecke 
dienen,  die  Bedeutung  des  Bauplanes  möglichst  eindringUch 
vor  Augen  zu  führen  und  an  einzelnen  Beispielen  zu  zeigen, 
wie  Umwelt  und  Innenwelt  durch  den  Bauplan  miteinander 
zusammenhängen.  Ein  Lehrbuch  der  speziellen  Biologie  wird 
hier  nicht  geboten,  sondern  nur  der  Weg  gezeigt,  auf  dem 
man  zu  ihm  gelangen  könnte. 

In  der  Auswahl  der  vorliegenden  Beispiele  bestimmte  mich 
vor  allem  der  Wunsch,  möglichst  planmäßige  Bilder  zu  geben. 
Natürlich  sind  überall  Lücken  vorhanden,  und  zwar  nicht  bloß 
im  physiologischen,  sondern  auch  im  anatomischen  Material. 
Da  ich  andererseits  nur  solches  anatomische  Material  brauchen 
konnte,  das  physiologisch  belebt  war,  mußte  die  große  Masse 
anatomischer  und  zoologischer  Erkenntnisse  fortfallen.  Ebenso 
mußten  alle  physiologischen  Ergebnisse  vernachlässigt  werden, 
die  nur  physikalisches  oder  chemisches  Interesse  boten.  Aber 
auch  jene  Strukturen,  deren  Leistungen  gut  erforscht  sind, 
mußten  unberücksichtigt  bleiben,  wenn  ihre  Komphkation  zu 
große  Anforderungen  an  das  Vorstellungsvermögen  des  Lesers 
stellten. 

Endhch  habe  ich  mich  auf  die  Wirbellosen  beschränkt, 
weil  ich  dort  selbst  zu  Hause  bin,  die  höheren  Tiere  Be- 
rufenerem überlassend.  Von  den  Wirbellosen  bheben  die  Bienen 
und  Ameisen  unberücksichtigt,  weil  über  sie  bereits  eingehende 
Lehrbücher  vorhanden  sind. 

Ich  könnte  nun  zu  dem  Inhalte  des  Buches  übergehen, 
denn  der  Gesichtspunkt,  von  dem  aus  es  betrachtet  werden 
soll,  ist  ausreichend  dargelegt.  Aber  noch  erübrigt  auf  die- 
jenigen Meinungen  einzugehen,  die  der  Biologie  eine  andere 
Grundlage  zu  geben  bestrebt  sind. 


g  Einleitung. 

Was  auf  die  eben  dargelegte  Weise  entstehen  kann,  ist 
eine  spezielle  Biologie  aller  Tierarten.  Eine  solche  Biologie 
würde  sehr  einseitig  sein,  wenn  sie  auf  das  Hilfsmittel  der 
Vergleichung  verzichtete.  Alle  Tiere  vollführen  ihre  anima- 
lischen Leistungen  mit  Hilfe  von  Geweben,  die  sich  durch  die 
ganze  Tierreihe  hindurch  sehr  ähnlich  bleiben.  Muskelgewebe 
und  Nervengewebe  zeigen  überall  analoge  Leistungen,  mögen 
sie  sich  in  noch  so  verschiedenartigen  Organen  zusammenfinden. 
Dies  ist  von  großer  Bedeutung  für  die  spezielle  Biologie,  denn 
die  allgemein  gültigen  Eigenschaften  der  Muskel  und  Nerven 
lassen  sich  auch  bei  jenen  Tieren  als  gültig  voraussetzen,  deren 
Körperbeschaffenheit  keine  physiologische  Analyse  bis  herab 
auf  die  einzelnen  Gewebe  zuläßt.  Es  wird  daher  die  ver- 
gleichende Physiologie  der  Gewebe  immer  ein  sehr  notwendiger 
Bestandteil  der  speziellen  Biologie  bleiben  und,  es  läßt  sich  auch 
nichts  dagegen  sagen,  wenn  man  die  vergleichende  Gewebs- 
kunde  der  Besprechung  der  einzelnen  Tiere  vorangehen  läßt. 
Ich  habe  davon  Abstand  genommen,  weil  ich  zeigen  wollte,  in 
welchen  Tierarten  wir  am  leichtesten  zu  allgemeineren  Schlüssen 
für  die  allgemeine  Gewebskunde  gelangen. 

Ganz  anders  nimmt  sich  die  Biologie  aus,  wenn  man  die 
Vergleichung  zur  Grundlage  des  ganzen  Studiums  macht.  Dies 
ist  durch  Loeb  geschehen,  und  zwar  in  einer  außerordentlich 
originellen  und  interessanten  Weise. 

Die  große  Mehrzahl  der  tierischen  Bewegungen  geht  fol- 
gendermaßen vonstatten :  Ein  äußerer  Reiz  wirkt  auf  ein 
Rezeptionsorgan,  dieses  erteilt  dem  Nervensystem  eine  Erregung. 
Vom  Nervensystem  geleitet  erreicht  die  Erregung  schließlich 
den  Muskel,  der  sich  dann  verkürzt.  Diesen  Vorgang  nennt 
man  einen  Reflex.  Loeb  fand  nun,  daß  eine  große  Anzahl 
von  Tieren,  wenn  sie  ganz  elementaren  Reizen  ausgesetzt  wer- 
den, wie  es  Licht,  Schwere  oder  einfache  chemische  Substanzen 
sind,  stets  mit  einer  geordneten  Bewegung  antworten,  durch  die 
sie  sich  entweder  der  Reizquelle  zu-  oder  von  ihr  abwenden. 
Er  sah  darin  einen  elementaren  Vorgang,  den  er  als  Trop Is- 
mus bezeichnete  und  je  nach  der  Richtung,  die  von  der  Be- 
wegung eingeschlagen  wurde,  sprach  er  von  positivem  oder 
negativem  Tropismus. 

Loeb   selbst   hat   die  Möglichkeit   zugegeben,  daß  es  sich 


Einleitung.  9 

bei  vielen  Tropismen  um  noch  nicht  genügend  analysierte  Re- 
flexe handeln  könne.  Aber  bestimmte  Tropismen,  z.  B.  den 
Phototropismus,  der  auf  einseitige  Belichtung  eintritt,  will 
er  als  ein  den  physikalischen  Phänomen  gleichzusetzendes  Ele- 
mentarphänomen angesehen  wissen.  Es  sollen  die  Lichtstrahlen 
bei  ihrem  Durchgang  durch  den  Tierkörper  diesen  zu  drehen 
befähigt  sein  wie  etwa  ein  Magnet  die  Eisenfeilspäne.  Tiere, 
die  auf  diese  Weise  auf  das  Licht  reagieren,  nennt  man  photo- 
pathische. 

Es  besteht  aber  kein  Zweifel,  daß  in  vielen  Fällen  das 
Licht  einfach  auf  der  beleuchteten  Seite  des  Tieres  einen  Re- 
flex auslöst,  der  zu  einer  einseitig  gerichteten  Bewegung  führen 
muß,  da  auf  der  beschatteten  Seite  kein  Reflex  entsteht.  Die 
Tiere,  die  auf  diese  Weise  gegen  das  Licht  reagieren,  nennt 
man  phototaktische. 

Der  photopathische  Phototropismus  ist  ein  physikalischer 
Vorgang,  der  phototaktische  dagegen  ein  Reflex. 

Nun  hat  Fr.  Lee  an  einzelligen  Tieren  nachweisen  können, 
daß  die  photopathische  Erklärung  ihrer  Bewegungen  sehr  wohl 
durch  eine  phototaktische  ersetzt  werden  kann. 

Neuerdings  hat  Radi  den  Nachweis  zu  führen  versucht, 
das  Licht  wirke  auf  Insekten  ebenso  richtunggebend  wie  die 
Gravitation  auf  einen  schwebenden  Körper.  Dagegen  hat 
G.  Bohn  gefunden,  daß  die  unzweifelhafte  richtunggebende 
Wirkung  der  beleuchteten  Gegenstände  auf  Schnecken  und 
Krebse    abhängig    ist    vom  physiologischen  Zustand   der  Tiere. 

Man  sieht  daraus,  wie  unsicher  die  Deutung  dieser  Vor- 
gänge ist. 

Zwar  erscheint  es  verlockend,  alle  Bewegungen  der  Tiere 
auf  Tropismen  zurückzuführen,  denn  das  überhebt  uns  der 
Aufgabe,  die  scheinbar  einfachen  Vorgänge  als  Leistungen  einer 
schwer  zu  ermittelnden  Struktur  zu  behandeln.  Aber  eine 
sichere  Grundlage  gewannt  man  nur  durch  das  Studium  der 
Struktur  und  des  Bauplanes. 

Schon  jetzt  scheint  diese  Ansicht  mehr  und  mehr  Boden 
zu  gewinnen.  Aber  nur  ein  Teil  der  Forscher  wendet  sich  dem 
Studium  des  Bauplanes  zu.  Ein  anderer  folgt  einer  neuen 
Lehre,  die  das  Studium  des  Bauplanes  verwirft  und  die  Tiere 
frei  von  jeder  Analogie  mit  den  Maschinen  betrachten  will. 


IQ  Einleitung. 

Es  ist  ja  zweifellos,  daß  die  Ermittelung  des  Bauplanes 
der  Tiere  nur  dann  einen  Sinn  hat,  wenn  die  Struktur  der 
Tiere  der  Struktur  der  Maschinen  gleichzusetzen  ist. 

Wir  nähern  uns  damit  der  Grundlage  aller  Biologie,  die 
nicht  durch  Spekulation  entschieden  werden  kann,  sondern 
nur  durch  Beobachtung  der  lebenden  Substanz,  auf  der  sich 
alle  Lebewesen  aufbauen,  während  die  Maschinen  aus  totem 
Stoff  bestehen  —  dem  Protoplasmaproblem. 


Das  Protoplasmaproblem. 

Die  Wissenschaft  der  organischen  Welt  ist  alt  genug,  um 
die  Erwartung  zu  rechtfertigen,  daß  es  eine  eindeutige  und 
allgemein  anerkannte  Definition  des  Begriffes  Organismus  gebe. 
Das  ist  leider  keineswegs  der  Fall,  und  unter  dem  gleichen 
Wort  Organismus  werden  die  verscliiedensten  Dinge  verstanden, 
je  nachdem  welcher  Theorie  der  Verfasser  folgt. 

Es  ist  deshalb  notwendig,  den  Begriff  des  Organismus 
historisch  abzuleiten  und  seine  Beziehungen  zum  Begriff  Maschine, 
mit  der  er  so  häufig  verwechselt  wird,  klarzulegen. 

Man  wird,  ohne  beiden  Begriffen  Gewalt  anzutun,  die 
Maschinen  als  unvollkommene  Organismen  ansprechen  können, 
weil  alle  prinzipiellen  Eigenschaften  der  Maschine  sich  bei  den 
Organismen  wiederfinden.  Dagegen  ist  es  unmöghch,  die  Orga- 
nismen ohne  weiteres  als  Maschinen  zu  bezeiclmen.  Auf  welchem 
Standpunkte  man  auch  stehen  möge,  immer  wird  man  mehr 
oder  weniger  starke  Abzüge  von  den  Eigenschaften  der  Orga- 
nismen machen  müssen,  ehe  man  ihnen  die  Bezeichnung 
maschinell  beilegen  darf. 

Jene  Eigenschaften  der  Organismen,  durch  welche  sie  den 
Maschinen  überlegen  sind,  kann  man  passend  als  über- 
maschinelle  Eigenschaften  bezeichnen.  Unter  diesen  sind  am 
leichtesten  erkennbar  die  Formbildung  und  die  Regene- 
ration. Das  sind  beides  Eigenschaften,  welche  die  Ent- 
stehung der  Organismen  betreffen,  die  ja  zweifellos  ganz 
anders  verläuft  als  diejenige  der  Maschinen. 

Demgegenüber  nimmt  man  allgemein  an,  daß  die  ausge- 
bildeten Organismen  keine  übermaschinellen  Fähigkeiten  auf- 
weisen.   In  einem  prinzipiellen  Punkt  ist  auch  sicher  eine  Über- 


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12  I^^s  Protoplasmaproblem. 

einstimmung  zwischen  den  Maschinen  und  den  Organismen 
vorhanden.  Beide  bestehen  aus  einzelnen  Teilen,  die  sich  zu 
einem  Ganzen  zusammenfügen.  Die  Vereinigung  der  Teile  zum 
Ganzen  ist  in  beiden  Fällen  keine  bloß  formale,  sondern  eine 
funktionelle,  d.  h.  die  Leistungen  der  einzelnen  Glieder  einer 
Maschine  oder  eines  Organismus  vereinigen  sich  zur  Gesamt- 
leistung des  Ganzen. 

Dieses  Zusammenwirken  der  Teile  können  wir  uns  in  einem 
räumlichen  Schema  sowohl  für  die  Maschinen  wie  für  die  Orga- 
nismen zur  Anschauung  bringen.  Dieses  räumliche  Schema 
nennt  man  den  Organisationsplan  oder  den  Bauplan.  Jeder 
Bauplan  ist  in  diesem  Sinne  nichts  anderes  als  ein  Grundriß, 
den  wir  entwerfen,  nachdem  wir  von  einem  Organismus  oder 
einer  Maschine  nähere  Kenntnis  gewonnen  haben.  Der  Bau- 
plan zeigt  uns,  in  welcher  Form  die  Prozesse  innerhalb  des 
untersuchten  Gegenstandes  ablaufen.  Er  will  weiter  nichts  als 
eine  übersichtliche  Beschreibung  der  Vorgänge  liefern.  Nur 
wenn  man  sich  fest  an  diese  Bedeutung  des  Wortes  Bauplan 
hält,  wird  man  vor  Irrtümern  bewahrt,  die  mit  Notwendigkeit 
eintreten,  sobald  man  dem  Bauplan  irgendwelchen  Einfluß  auf 
den  Ablauf  des  Prozesses  im  Orgnanismus  oder  in  der  Maschine 
einräumt. 

Hierin  sind  sich  also  Maschinen  und  ausgebildete  Orga- 
nismen völlig  gleich.  Von  beiden  kann  man  einen  anschau- 
lichen Plan  entwerfen,  mit  lauter  im  Raum  nebeneinander  ge- 
lagerten Gliedern  oder  Organen. 

Die  Entstehung  der  Maschinen  und  die  Entstehung  der 
Organismen  ist  aber  eine  durchaus  verschiedene.  Die  Maschinen 
sind  alle  von  Menschen  gemacht,  die  Organismen  entstehen  aus 
sich  selbst.  Darin  liegt  ihre  hauptsächlichste  übermaschinelle 
Fähigkeit. 

Die  neueren  Forschungen  haben  jetzt  zweifellos  klargelegt, 
daß  jedes  Tier  aus  einem  undifferenzierten  Keim  entsteht,  und 
erst  nach  und  nach  Struktur  gewinnt,  welche  anfangs  in  all- 
gemeinen Zügen  auftritt,  um  sich  dann  allmählich  bis  ins  ein- 
zelne auszugestalten. 

Wenn  wir  die  Entstehung  eines  Tieres  beschreiben  wollen, 
so  fassen  wir  sie  in  eine  Regel,  welche  die  zeitUchen  Folgen 
der  einzelnen  Phasen  festlegt.    Im  Gegensatz  zum  Bauplan,  der 


Das  Protoplasmaproblem.  13 

eine  räumliche  Darstellung  der  Vorgänge  gibt,  gibt  die  Bildung s - 
regel  eine  Darstellung  des  zeitlichen  Ablaufes  aller  Vorgänge. 
Auch  hier  Hegt  die  Gefahr  nahe,  anstatt  von  einer  sub- 
jektiven Bildungsregel  zureden,  in  welcher  wir  die  Lebens- 
vorgänge einfügen,  von  einem  objektiven  Bildungsgesetz 
zu  sprechen,  das  die  Lebens  Vorgänge  beherrscht.  Weder  Bau- 
plan noch  Bildungsregel  haben  das  mindeste  mit  dem  wirk- 
Hchen  Naturfaktor  zu  tun,  welcher  die  physikaUsch-chemischen 
Prozesse  zwingt,  besondere  Bahnen  einzuschlagen. 

Regel  und  Plan  sind  nur  die  Form,  in  der  wir  die  Wirkungen 
jenes  Naturfaktors  erkennen.  Er  selbst  ist  uns  völHg  unbe- 
kannt. Driesch  nennt  ihn  in  Anlehnung  an  Aristoteles 
die  ,,Entelechie",  Karl  Ernst  von  Bär  nannte  ihn  die  „Ziel- 
strebigkeit". 

Soviel  scheint  festzustehen,  daß  für  die  Tätigkeit  dieses 
Naturfaktors  die  Strukturlosigkeit  der  lebendigen  Substanz  Vor- 
bedingung ist.  Jedenfalls  wird,  während  die  Struktur  im  Laufe 
der  individuellen  Entwicklung  jedes  einzelnen  Tieres  auftritt, 
gleichzeitig  die  Fähigkeit  zur  Bildung  neuer  Struktur  immer 
mehr  und  mehr  eingeschränkt,  so  daß  man  wohl  sagen  darf: 
Struktur   hemmt  Strukturbildung. 

Es  ist  natürlich  von  höchster  Bedeutung,  etwas  Näheres 
über  diesen  rätselhaften  Naturfaktor  zu  erfahren,  der  gerade 
dort  am  tätigsten  ist,  wo  man  es  am  wenigsten  erwarten 
sollte,  in  der  undifferenzierten  Grundsubstanz  des  Keimes  —  dem 
Protoplasma.  Das  Studium  des  Protoplasmas  gewährt  da- 
her die  meiste  Aussicht  über  den  großen  Unbekannten  etwas 
Näheres  zu  erfahren. 

Das  Protoplasma  oder  die  lebendige  Substanz  ist  nicht 
allein  das  Ausgangsstadium  aller  tierischen  und  pflanzlichen 
Zellen,  denn  alles  Lebende  entsteht  aus  dem  einfachen  Proto- 
plasmakeim. Es  erhält  sich  auch  in  fast  allen  Zellen  des  er- 
wachsenen Tierkörpers,  wenn  auch  in  kleinen  Mengen.  Außer- 
dem erhält  sich  das  Protoplasma  als  Körpersubstanz  bei  den 
einzelligen  Tieren  während  ihres  ganzen  Lebens. 

Die  Einzelligen  lassen  zum  Teil  aus  dem  Protoplasma 
dauernde  Organe  hervorgehen,  wie  Schalen,  Stacheln,  Wimpern 
u.  dgl.,  aber  es  gibt  doch  eine  Anzahl  ganz  einfache  Tiere, 
die   faktisch   nichts   anderes   sind   als  ein  Klümpchen  flüssigen 


14  I^^s  Protoplasmaproblem. 

Protoplasmas.  Und  trotzdem  führen  sie  wie  alle  übrigen  Tiere 
ein  reiches  Leben,  stehen  in  steter  Wechselwirkung  mit  ihrer 
Umgebung,  bewegen  sich,  nähren  sich  und  pflanzen  sich  fort, 
wie  die  höchsten  Organismen. 

Da  man,  wie  wir  sahen,  die  ausgebildeten  höheren  Tiere 
mit  Maschinen  vergleichen  kann,  so  durfte  man  annehmen,  daß 
die  EinzelHgen  sich  ebenfalls  mit  Maschinen  vergleichen  lassen 
müssen.  Hier  trat  nun  die  große  prinzipielle  Schwierigkeit  ein, 
die  in  den  80  Jahren  der  Geschichte  des  Protoplasmas  eine  so 
verhängnisvolle  Rolle  gespielt  hat.  Die  Schwierigkeit,  die  sich 
am  prägnantesten  in  die  Worte  fassen  läßt :  Kann  es  flüssige 
Maschinen  geben? 

Das  Protoplasmaproblem  beginnt  in  der  Zoologie  seine 
Rolle  zu  spielen,  als  Duj  ardin  im  Gegensatz  zu  Ehrenberg 
das  Vorhandensein  einer  inneren  Organisation  bei  den  Ein- 
zelligen leugnete.  Er  führte  den  Namen  Sarkode  ein  und 
schrieb  darüber:  ,,Ich  schlage  vor  jenes  so  zu  nennen,  was  an- 
dere Beobachter  eine  lebende  Gallerte  genannt  haben,  jene  Sub- 
stanz, die  klebrig,  durchscheinend,  unlöslich  im  Wasser  sich  zu 
kugeligen  Massen  zusammenzieht  . . .  bei  allen  niederen  Tieren  an- 
zutreffen ist,  eingefügt  zwischen  die  anderen  Struktur  demente." 

Die  umfassende  Bedeutung  des  Protoplasmas  als  gemein- 
sames Lebenselement  aller  Zellen  hat  dann  Max  Schnitze 
erkannt,  der  auch  den  Begriff  der  Zelle  neu  formulierte.  ,,Eine 
Zelle  ist  ein  Klümpchen  Protoplasma,  in  dessem  Inneren  ein 
Kern  liegt."  An  Stelle  des  Wortes  ,, Sarkode"  setzte  er  das 
den  Botanikern  entlehnte  Wort  ,, Protoplasma".  Was  haben 
wir  unter  Protoplasma  zu  verstehen?  ,,Eine  kontraktile  Sub- 
stanz, welche  nicht  mehr  in  Zellen  zerlegt  werden  kann,  auch 
andere  kontraktile  Formelemente  als  Fasern  u.  dgl.  nicht  mehr 
enthält."  ,,Das  Protoplasma,  dem  schon  vorher  Kontraktilität  zu- 
kam —  die  ungeformte  kontraktile  Substanz  —  formt  sich  durch 
innere  Veränderungen  und  liefert  die  Muskelfasern,  ohne  jedoch 
ganz  zu  verschwinden.  Zwischen  den  Fibrillen  der  kontraktilen 
Substanz  führt  es  sein  Zellenleben  weiter.  Ebenso  bleibt  es  in 
fast  allen  Zellen  des  Körpers  am  Leben." 

Das  Protoplasma  hat  nach  Max  Schnitze  außer  seiner 
flüssigen  Konsistenz  und  seiner  Kontraktilität  noch  sehr  wunder- 
bare Eigenschaften.    Es   zeichnet  sich  aus   „durch   sein,  wenn 


Das  Protoplasmaproblem.  15 

man  so  sagen  darf,  zentripetales  Leben,  durch  die  Eigentüm- 
lichkeit, mit  dem  Kern  ein  Ganzes  zu  bilden,  in  einer  gewissen 
Abhängigkeit  von  ihm  zu  stehen." 

Ferner  schreibt  er:  ,,Eine  Zelle  mit  einer  vom  Protoplasma 
chemisch  differenzierten  Membran  ist  wie  ein  enzystiertes  Infu- 
sorium,  wie  ein  gefangenes  Ungetüm  .  .  .  doch  laßt  das  ungestüm 
sich  teilende,  von  dem  noch  ungestümeren  Kern  stets  von  neuem 
angestachelte  Protoplasma  seine  Hülle  sprengen,  ...  und  das 
entfesselte  Protoplasma  wird  zu  Manches  Schrecken  von  seiner 
Freiheit  Gebrauch  machen." 

Gegen  die  Tendenz  einer  bloßen  Flüssigkeit  so  merkwürdige 
Eigenschaften  zuzuschreiben,  wandte  sich  vor  allem  Reichert, 
der  an  dem  maschinellen  Bau  der  Einzelligen  festhielt  und  die 
Pseudopodien  für  kontraktile  Organe  erklärte. 

Auch  Brücke  konnte  sich  mit  dem  Gedanken  einer  kon- 
traktilen Flüssigkeit  nicht  befreunden  und  hielt  die  Flüssigkeit 
in  den  Protozoen  für  nur  passiv  bewegt  durch  die  geformte 
Außenschicht,  was  Schnitze  zu  einer  nochmaligen  Darstellung 
der  Vorgänge  in  den  netzförmigen  Pseudopodien  der  Süßwasser- 
rhizopoden  veranlaß te.  Diese  Darstellung  ist  so  künstlerisch 
anschaulich,  daß  sie  als  klassisches  Dokument  erhalten  zu 
werden  verdient. 

Man  denke  sich  ein  mikroskopisches  Tierchen,  das  die 
Form  einer  Eierschale  besitzt,  die  an  einer  Spitze  geöffnet  ist, 
aus  dieser  Öffnung  entströmt  das  Protoplasma,  das  den  Innen- 
raum des  Eies  ausfüllt,  oder  man  stelle  sich  einen  kleinen  Stern 
vor,  der  nach  allen  Seiten  durchsichtige  Fäden  ausstrahlt,  an 
deren  Oberfläche  das  flüssige  Protoplasma  sich  ausbreitet. 
Immer  erhält  man  folgendes  Bild:  ,,Wie  auf  einer  breiten 
Straße  die  Spaziergänger,  so  wimmeln  auf  einem  breiteren 
Faden  Körnchen  durcheinander;  wenn  auch  manchmal  stockend 
und  zitternd,  doch  immer  eine  bestimmte,  in  Längsrichtung 
des  Fadens  entsprechende  Richtung  verfolgend.  Oft  stehen 
sie  mitten  in  ihrem  Laufe  still  und  kehren  dann  um,  die 
meisten  jedoch  gelangen  bis  zum  äußersten  Ende  der  Fäden 
und  wechseln  hier  selbst  ihre  Richtung.  Nicht  alle  Körnchen 
eines  Fadens  bewegen  sich  mit  gleicher  Schnelligkeit,  so  daß 
oft  eins  das  andere  überholt,  ein  schnelleres  das  langsamere 
zu  größerer  Eile  treibt  oder  an  dem  langsameren  in  seiner  Be- 


16  Das  Protoplasmaproblem. 

wegung  stockt.  Wo  mehrere  Fäden  zusammenstoßen,  sieht 
man  die  Körnchen  von  einem  auf  den  anderen  übergehen." 
Die  strahlenförmigen  Fäden  sind  konsistenter  als  das  flüssige 
Protoplasma,  aber  auch  kontraktil. 

Bei  vielen  Rhizopoden,  die  in  einer  Schale  stecken,  sind 
die  Pseudopodien  durchgängig  dünnflüssig  und  verfließen  leicht 
ineinander.  „Daß  aber  die  Willkür,"  fährt  Schnitze  fort, 
„mit  im  Spiele  ist,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  die  Ver- 
schmelzung der  aneinanderstoßenden  Fäden  verschiedener  Indi- 
viduen bestimmt  nicht  stattfindet,  wie  ich  mich  bei  dicht 
nebeneinander  auf  den  Objektträger  gebrachten  Individuen 
sehr  oft  überzeugt  habe.  Die  Fäden  weichen  dann  vor  ihres- 
gleichen wie  vor  einem  schlimmen  Feind  zurück." 

Auch  Kühne ^),  der  die  Grundlage  für  die  gesamte  experi- 
mentelle Physiologie  der  Einzelligen  gelegt  hat,  spricht  von 
dem  Willen,  der  im  Vortizellenglöckchen  steckt,  ohne  an  der 
flüssigen  Natur  des  Protoplasmas  zu  zweifeln. 

In  schärfsten  Gegensatz  zu  Reichert  trat  Haeckel.  Er 
schrieb :  ,,Die  Sarkode  blieb  was  sie  war  —  eine  kontraktile 
zähflüssige,  schleimige  Eiweißsubstanz,  in  der  jedes  Partikelchen 
allen  anderen  gleichwertig  erschien  und  alle  Funktionen  dieses 
allereinfachsten  Organismus  gleichmäßig  vollzog." 

Haeckel  hatte  kein  Auge  für  die  Gründe  seiner  Gegner, 
obwohl  Brücke  in  überzeugender  Weise  auf  die  Schwierig- 
keiten des  Protoplasmaproblems  hingewiesen  hatte :  „Wir  können 
uns  keine  lebende  vegetierende  Zelle  denken,  mit  homogenem 
Kern  und  homogener  Membran  und  einer  bloßen  Eiweißlösung 
als  Inhalt,  denn  wir  nehmen  diejenigen  Erscheinungen,  welche 
wir  als  Lebenserscheinung  bezeichnen,  am  Eiweiß  als  solchem 
überhaupt  nicht  wahr.  Wir  müssen  deshalb  den  lebenden 
Zellen,  abgesehen  von  der  Molekularstruktur  der  organischen 
Verbindungen,  welche  sie  enthält,  noch  eine  andere  und  in 
anderer  Weise  komplizierte  Struktur  zuschreiben,  und  diese  ist 
es,  welche  wir  mit  dem  Namen  Organisation  bezeichnen. 

Die  zusammengesetzten  Moleküle  der  organischen  Verbin- 
dungen   sind    hier    nur   Werkstücke,    die    nicht    in    einförmiger 


^)  Kühne  und  nicht  Verworn  hat  die  Umkehr   des  Pflügerschen 
Gresetzes  bei  den  Einzelligen  entdeckt. 


Das  Protoplasmaproblem.  ][7 

Weise    neben    dem    anderen    aufgeschichtet,    sondern   zu  einem 

lebendigen   Bau    kunstreich    zusammengefügt    sind Wir 

wissen,  daß  mit  der  Abnahme  der  Dimensionen  sich  die  Natur 
der  Mittel  ändert,  durch  welche  Kräfte  der  anorganischen  Welt 
dem  Organismus  dienstbar  gemacht  werden.  Aber  abgesehen 
von  den  hierdurch  bedingten  Verschiedenheiten  und  abgesehen 
von  der  geringeren  Summe  der  zusammengesetzten  Teile  haben 
wir  kein  Recht,  einen  kleinen  Organismus  für  minder  kunstvoll 

gebaut    zu   halten,    als   einen   von   großen  Dimensionen 

Für  uns  ist  der  Zelleninhalt,  die  Hauptmasse  des  Zellenleibes, 
selbst  ein  komplizierter  Aufbau  aus  festen  und  flüssigen  Teilen.*' 

Hier  tritt  zum  ersten  Male  die  Schwierigkeit,  sich  eine 
kontraktile  Flüssigkeit  zu  denken,  in  den  Hintergrund.  Dafür 
wird  um  so  deutlicher  der  Flüssigkeitscharakter  des  Proto- 
plasmas als  unmöglich  abgelehnt,  weil  es  in  einer  Flüssigkeit 
keine  Struktur  geben  kann. 

Die  Schwierigkeit,  die  Beobachtung  mit  der  Logik  in 
Übereinstimmung  zu  bringen,  hat  zu  den  verschiedensten  Aus- 
wegen geführt  und  es  ist  nicht  leicht,  das  Problem  gegenüber 
allen  Abschwächungsversuchen  unzweideutig  vor  Augen  zu  be- 
halten. Am  deutlichsten  erkennt  man  das  wahre  Wesen  des 
Protoplasmaproblems,  wenn  man  sich  an  die  unbeschalten 
Rhizopoden,  die  Amöben,  hält. 

Die  Beobachtung  der  Amöben  lehrt  einerseits,  daß  diese 
Tiere  sich  wie  gegliederte  Organismen  benehmen,  und  anderer- 
seits, daß  sie  keine  Gliederung,  sondern  nur  eine  flüssige  Leibes- 
substanz besitzen.  Es  ist  aber  unmöghch,  gleichzeitig  geglie- 
dert und  nicht  gegliedert  zu  sein. 

Daher  ist  es  verständlich,  daß  ein  Teil  der  Forscher  die 
eine  Seite  der  Beobachtung,  ein  anderer  Teil  die  andere  Seite 
in  Zweifel  zog.  Zunächst  versuchte  man  sich  dadurch  aus 
der  Verlegenheit  zu  helfen,  daß  man  ein  lebendiges  Urelement 
annahm,  welches  die  wichtigsten  Lebenserscheinungen  in  sich 
vereinigte.  Analog  den  Molekülen  einer  zusammengesetzten 
Substanz,  die  allein  alle  Eigenschaften  der  Substanz  in  sich 
tragen,  erfand  man  lebendige  Urelemente,  beinahe  ein  Dutzend 
an  der  Zahl. 

Für  uns  sind  diese  Versuche  ohne  Interesse.  Denn  es 
handelt   sich   gar   nicht   um   die  Frage,  was  noch  lebendig  ge- 

V.  UexküU,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  2 


]^8  Das  Protoplasmaproblem. 

nannt  werden  kann,  sondern  darum,  ob  die  ganze  Amöbe  eine 
Struktur  besitzt  oder  nicht. 

Auch  der  Ausweg,  von  halbweicher  oder  festweicher  Sub- 
stanz zu  sprechen,  hilft  uns  nicht  weiter.  Die  flüssige  Ma- 
schine ist  deshalb  ein  Unding,  weil  in  einer  Flüssigkeit  sich 
alle  Teilchen  gegenseitig  vertreten  können  und  keinerlei  An- 
ordnung zeigen,  während  die  Maschinenstruktur  unwandelbare 
Ordnung  bedeutet. 

Ebensowenig  ist  es  möglich,  alles  auf  Stoff  Wechselprozesse 
zu  schieben,  denn  auch  diese  bedürfen,  um  geordnet  zu  ver- 
laufen, der  strukturellen  Anordnung,  der  chemisch  wirksamen  Teile. 

Da  kam  von  selten  Bütschlis  der  erste  erfolgreiche  Ver- 
such, in  einer  Flüssigkeit  Struktur  nachzuweisen.  Es  gelang 
ihm,  vollkommen  flüssige  Tröpfchen  darzustellen,  die  aus  einer 
innigen  schaumigen  Mischung  zweier  Flüssigkeiten  stammen. 
In  den  Tropfen  befand  sich  die  eine  Flüssigkeit  als  Inhalt 
von  tausend  kleinen  Kammern,  die  durch  das  Wabenwerk  der 
anderen  Flüssigkeit  gebildet  wurden.  In  reines  Wasser  gesetzt, 
zeigten  die  Tropfen  eine  lebhafte  Bewegung,  denn  die  Wasser- 
aufnahme änderte  die  inneren  Spannungs-  und  Mischungsver- 
hältnisse dauernd  und  erzeugte  immer  neue  Verschiebungen 
des  Wabenwerkes. 

Damit  war  endlich  der  Beweis  erbracht,  daß  es  kontrak- 
tile Flüssigkeiten  gebe.  Aber  eine  feste  Anordnung  der  Teile, 
wie  sie  die  Struktur  der  Maschine  fordert,  gab  es  doch  nicht, 
denn  die  einzelnen  Waben  ließen  sich  anstandslos  gegeneinander 
vertauschen. 

Diesen  Übelstand  erkannte  Rhumbler  ganz  klar,  und  er 
versuchte  es,  an  Stelle  der  homogenen  Wabenstruktur  eine 
nicht  homogene  (anomogene)  zu  setzen,  indem  er  annahm, 
daß  die  einzelnen  Waben  oder  Alveolen  im  Protoplasma  in 
bestimmter  Weise  an  verschiedenen  Orten  mit  verschiedenem 
Inhalt  gefüllt  sind.  ,,Die  Wabenlehre  liefert  auch  hier  wieder 
das  einfachste  Verständnis  für  die  Verschiedenheiten  und  die 
Möglichkeit  ihrer  Auf  rechterhalt  ung.  Die  innere  Zellspannung, 
welche  den  Wabenbau  im  Gefolge  hat,  wird  unter  nicht  unbe- 
trächtlichem Arbeits-  und  Kräfteaufwand  eine  Verschiebung 
der  einzelnen  Alveolen  zulassen,  vorausgesetzt,  daß  das  Alveolen- 
system  im  Spannungsgleichgewichte  ist.     Sind  die  Waben  nun 


Das  Protoplasmaproblem,  19 

ihrem  Charakter  nach  verschieden,  wie  es  die  verschiedenartige 
Differenzierung  der  Zelle  in  ihren  Einzelabschnitten  zur  Voraus- 
setzung hat,  so  wird  durch  die  festgespannte  Lage  der  Einzel- 
waben auch  die  Struktur  der  Zelle  aufrecht  erhalten  werden, 
solange  nicht  besondere  chemische,  thermische  oder  struktu- 
relle Veränderungen  die  innere  Zellspannung  verändert  und 
der  oft  gehörte  Einwand,  daß  sich  eine  feststehende  Zellstruk- 
tur nicht  mit  einem  flüssigen  Aggregatzustand  des  Protoplas- 
mas vertrage,  wird  hinfälhg,  er  verträgt  sich  mit  ihm,  sobald 
man  nicht  eine  einfache  Flüssigkeit,  sondern  ein  flüssiges  Schaum- 
gemenge in  Vergleich  setzt." 

In  dieser  Auseinandersetzung  findet  sich  ein  kleiner  Wider- 
spruch. Es  heißt:  ,,So  wird  ....  die  Struktur  der  Zelle  auf- 
recht erhalten  werden,  solange  nicht  ....  strukturelle  Ver- 
änderungen die  innere  Zellspannung  verändert."  Und  wenn 
strukturelle  Veränderungen  eingetreten  sind,  wer  wird  dann 
die  Struktur  der  Zelle  wieder  herstellen? 

Doch  lassen  wir  diesen  Widerspruch  fürs  erste  auf  sich 
beruhen,  so  müssen  wir  zugeben,  daß  es  Rhumbler  gelungen 
ist,  das  Bild  einer  Struktur  in  einem  Flüssigkeitstropfen  zu 
entwerfen.  Die  verschiedenen  Spannungen  in  verschiedenen 
räumlich  geordneten  Waben  können  sich  gegenseitig  so  beein- 
flussen, daß  sie  jeder  gewaltsamen  Verschiebung  der  Teile  einen 
gewissen  Widerstand  entgegensetzen  und  dermaßen  die  Wirkung 
einer  festen  Struktur  ausüben.  Alles  natürlich  unter  der  Vor- 
aussetzung, daß  der  flüssige  Tropfen  nicht  fließt.  Denn  fängt 
er  an  zu  fließen,  d.  h.  verschieben  sich  die  Teile  regellos  durch- 
einander, so  erleidet  der  Tropfen  strukturelle  Veränderungen, 
und  wer  bringt  dann  wieder  Ordnung  hinein,  wenn  die  Struk- 
tur verloren  ist? 

Und  nun  hören  wir,  was  Rhumbler  über  die  Bewegungs- 
art des  Protoplasmas  berichtet.  An  Pflanzenzellen  (Charazeen) 
hat  Rhumbler  die  Protoplasmaströmung  untersucht  und  auf 
ihre  physikalischen  Eigenschaften  hin  geprüft,  indem  er  sie 
verschiedenen  Drucken  aussetzte.  Dabei  stellte  sich  heraus, 
,,daß  die  Strömungsgeschwindigkeit  von  den  auf  das  Deckglas 
ausgeübten  Drucken  ganz  unabhängig  war  ....  die  strömende 
Substanz  erweist  sich  den  genannten  Drucken  gegenüber  in 
jeder  Beziehung  als  eine  Flüssigkeit." 

2* 


20  3Das  Protoplasmaproblem. 

Das  Ergebnis  der  direkten  Beobachtung  eines  kreisenden 
Plasmastromes  formuliert  Rhumbler  folgendermaßen:  ,, Diese 
Ausschaltung  gewisser  Protoplasmateile  aus  der  Kreisströmung 
der  übrigen,  ohne  daß  der  Konnex  zwischen  beiden  gelöst  wird, 
zeigt,  daß  der  ausgeschaltete  ruhende  Plasmateil  durch  keine 
Struktur  von  irgendwelcher  Festigkeit  mit  dem  strömenden  Teil 
verkettet  sein  kann." 

Also  gibt  es  im  strömenden  Protoplasma  keinerlei  Struktur. 
Auch  eine  Spannungsstruktur,  die  die  Waben  in  festen  Ab- 
ständen bewahrt,  kommt  nicht  zum  Vorschein.  Sind  wir  jetzt 
von  der  Strukturlosigkeit  des  Protoplasmas  überzeugt,  so  wer- 
den wir  naturgemäß  daran  zweifeln,  daß  die  Wesen,  die  bloß 
aus  einer  flüssigen  Substanz  bestehen,  sich  benehmen  können 
wie  höhere  organisierte  Tiere.  Vielleicht  zeigen  diese  Wesen 
die  Eigenschaften  eines  Chloroformtropfens  auf  Schellack,  der 
ja  auch,  wie  Rhumbler  nachweisen  konnte,  sich  bewegt  und  in 
der  Aufnahme  von  festen  Körpern  eine  gewisse  Auswahl  trifft. 
Ähnliche  einfache  mechanische  Eigenschaften  sind  wir  bereit, 
den  strukturlosen  Protoplasmatropfen  zuzuschreiben  und  auf 
Rechnung  ihres  Wabenbaues  zu  setzen,  aber  alles  andere  wird 
wohl  Phantasie  sein. 

Und  nun  hören  wir  einen  der  besten  modernen  Rhizo- 
podenkenner:  Penard.  Penard  bestätigt  die  flüssige  Natur  und 
völlige  Strukturlosigkeit  des  Protoplasmas.  Selbst  der  Unter- 
schied zwischen  der  dichteren  Außenschicht  (Ektosark)  und  der 
flüssigeren  Innenschicht  (Entosark)  ist  bei  den  Amöben  kein 
wesenthcher.  ,,Es  liegt  in  der  Natur  des  lebenden  Protoplas- 
mas selbst  die  Fähigkeit  begründet,  sich  bei  der  Berührung 
mit  dem  Wasser  zu  erhärten,  indem  es  eine  Schicht  formt, 
welche  dichter  und  widerstandsfähiger  ist.  So  wird  bei  den 
Amöben,  sobald  sich  an  der  Oberfläche  des  Körpers  ein 
plötzlicher  Riß  gebildet  hat,  durch  den  ein  heftiger  Strom 
flüssigen  Entosarks  austritt,  diese  Masse,  anstatt  weit  weg 
zu  fhegen  und  verloren  zu  gehen,  augenbUcklich  den  peri- 
pheren Schichten  eingefügt  und  gelangt  nur  dazu,  einen 
Lappen  zu  bilden,  während  gleichzeitig  das  Entosark  Ektosark 
geworden  ist.** 

Bei  Amoeba  limicola  ist  die  Verwandlung  von  Entosark 
in  Ektosark  sogar  die  Regel,  denn  ihre  Fortbewegung  geschieht 


Das  Protoplasmaproblem.  21 

durch   eine   Folge    plötzlicher    Zerreißungen    und   Ausströmung 
des  Entosarks  mit  nachträglicher  Verhärtung  des  Plasmas. 

Amoeba  limax  fließt  mit  dem  ganzen  Körper  davon. 
Manchmal  erhebt  sie  sich  aber  mit  dem  Vorderende,  während 
ihr  Hinterende  am  Boden  haftet,  und  vollführt  schnelle  tas- 
tende Bewegungen. 

Noch  merkwürdiger  ist,  was  Penard  von  einer  anderen 
Amöbe  berichtet  auf  S.  78  seines  interessanten  Werkes.  „Wenn 
man  dann  einen  Augenblick  das  Tier  beobachtet,  sieht  man 
es  die  verschiedenartigsten  Formen  annehmen.  Nach  allen 
Richtungen  des  Raumes  entwickeln  sich  die  nicht  sehr  zahl- 
reichen Arme  und  sozusagen  gestützt  bald  auf  die  einen,  bald 
auf  die  anderen  bewegt  es  sich  auf  gut  Glück  vorwärts  in 
langsamer  Gangart,  wie  eine  Spinne  auf  ihren  Beinen,  oft  auch 
allem  Anscheine  nach  auf  ihrem  Pseudopodien  rollend.  Diese 
selbst  sind  während  der  Zeit  in  dauernder  Umgestaltung  be- 
griffen. Sie  verlängern  sich,  sie  verkürzen  sich,  sie  kehren  in 
die  gemeinsame  Masse  zurück,  um  anderweitig  wieder  zu  er- 
scheinen. Oder  sie  bewegen  sich  in  einem  Stück,  indem  sie 
die  umgebende  Flüssigkeit  auskundschaften,  und  die  Gesamt- 
form wechselt  ohne  Aufhören.  .  .  .  Das  Tier  liebt  es  auch, 
sich  mit  einem  Pseudopodium  auf  irgendeinen'  Gegenstand 
festzusetzen  ....  während  die  anderen  Arme  sich  wie  Ten- 
takel entwickeln  und  dem  Tier  das  Aussehen  einer  Hydra  geben. 

Die  eben  gegebene  Beschreibung  bezieht  sich  aber  nur  auf 
das  Tier  im  Ruhezustand  oder  bei  langsamem  Gang.  Alles 
ändert  sich,  wenn  die  Fortbewegung  schneller  werden  soll. 
Dann  sieht  man  einige  Pseudopodien  sich  auf  sich  selbst  zurück- 
ziehen —  der  Achsenstrom,  der  sie  durchläuft,  geht  dabei  von 
der  Spitze  zur  Basis,  während  andere  Pseudopodien  sich  aus- 
breiten, die  einen  mit  den  anderen  zusammenfließen  und  zu 
einer  einzigen  Masse  verschmelzen.  Zum  Schluß  haben  wir 
eine  Amoeba  limax  vor  uns,  manchmal  selbst  mit  einem  aus- 
gezackten kaudalen  Saum  versehen,  die  sich  in  gerader  Linie 
in  beschleunigte  Bewegung  setzt." 

Hyalosphaenia  punctata  besitzt  ein  großes  Pseudopodium. 
,, Dieses  Pseudopodium  zeigt  sich  mit  einer  besonders  bemerkens- 
werten Aktivität  begabt  und  funktioniert  mittels  schneller 
Wellen,  die  sich  Schlag  auf  Schlag  folgen,  es  umformend,  teilend 


22  Das  Protoplaaiiiaproblena. 

oder  ausbreitend.  Wenn  das  Tier  zu  einer  Masse  von  Zer- 
setzungsprodukten gelangt,  flacht  es  sein  Pseudopodium  erheb- 
lich ab  und  führt  es  dem  Anscheine  nach  wie  eine  Klinge  in 
die  Mitte  des  Detritus." 

Das  Erstaunlichste  leistet  das  Protoplasma,  wenn  es  Organe 
hervorzaubert,  die  völlig  differenziert,  nur  zu  einem  eng  um- 
grenzten Beruf  geschaffen  sind  und  gleich  darauf  in  die  form- 
lose Körpermasse  wieder  aufgehen.  Penard  berichtet  über 
eine  beschalte  R-hizopode  Difflugia  capreolata  folgendes:  ,,Wir 
sehen  dann  ein  starkes  und  verlängertes  Pseudopodium  .... 
Wenn  wir  dann  mit  Aufmerksamkeit  das  Ende  des  langen 
Pseudopodiums  verfolgen,  sehen  wir  plötzlich  an  seiner  Ober- 
fläche zwei  kleine  Bogenlinien  entstehen,  die  sich  mit  ihrer 
Konkavität  gegenseitig  anschauen.  Diese  Linien  sind  der  Aus- 
druck einer  kleinen  Welle,  welche  sich  unterhalb  der  Pseudo- 
podienspitze  bildet,  wächst  und  sich  wie  ein  Saugnapf  auf- 
treibt ....  Dieser  Pseudosaugnapf  heftet  sich  an  die  Unter- 
lage und  man  sieht  die  Myriaden  außerordentlich  feiner  Stäub- 
chen,  die  das  Innere  des  Pseudopodiums  ausfüllen  und  die 
während  seiner  Formung  von  hinten  na^h  vorne  zogen,  still- 
stehen und  da  und  dort  umkehren.  Zur  gleicher  Zeit  bilden 
sich  kleine  Wellen  längs  des  Pseudopadiums,  das  sich  auf  sich 
selbst  zurückzieht.  Zum  vorne  festsitzenden  Saugnapf  sich 
hinziehend,  schleppt  es  hinter  sich  die  Schale  her.  Aber  bald 
löst  sich  der  Saugnapf,  das  Pseudopodium  schrumpft  völlig 
zusammen  und  kehrt  in  das  Bukalplasma  zurück." 

Wenn  ich  noch  hinzufüge,  daß  nach  den  Angaben  Penards 
Gromia  squamosa  wie  eine  Spinne  in  einem  lebendigen  Spinnen- 
netz sitzt,  das  aus  ihren  Pseudopodien  gebildet  ist,  und  das 
ihrem  Schalenmund  prompt  die  gefangene  Beute  zuführt  —  so 
wird  wohl  jeder  Unbefangene  davon  überzeugt  sein,  daß  auch 
die  einfachsten  Tiere  eine  Organisation  besitzen  wie  die  höchsten, 
und  daß  sie  genau  so  gut  mittels  dieser  Organisation  in  ihre 
Umgebung  eingepaßt  sind  wie  jene. 

Das  einzigartige  an  der  Rhizopodenorganisation  liegt  aber 
darin,  daß  sie  nicht  dauernd  vorhanden  ist,  sondern  immer  ad 
hoc  erzeugt  werden  muß  aus  dem  ganz  formlosen  Protoplasma. 
Damit  ist  die  Hauptschwierigkeit  des  Protoplasmaproblems  ge- 
löst.      Es    handelt    sich    gar  nicht    um    die    Frage,    wie    das 


Das  Protoplasmaproblem.  23 

Funktionieren  einer  flüssigen  Maschine  —  wie  eine  maschinelle 
Tätigkeit  ohne  Maschine  möglich  sei,  denn  die  Leistungen  der 
Amöben  werden  alle  durch  Organe  ausgeübt.  Es  ist  im  Mo- 
ment des  maschinellen  Handelns  auch  stets  eine  passende 
Maschine  vorhanden,   die  sehr  differenziert  sein  kann. 

Die  Protoplasmaorgane  der  Rhizopoden  bieten  uns  keine 
größeren  Schwierigkeiten  wie  die  Organe  der  höheren  Tiere. 
Ihr  Funktionieren  ist  durchaus  mechanisch  begreiflich,  nur 
ihr  Entstehen  bleibt  ein  ungelöstes  Problem. 

Die  Einzelligen  haben  die  gleichen  maschinellen  und  über- 
maschinellen Eigenschaften  wie  alle  Tiere.  Das  Funktionieren 
der  Pseudopodien  ist  ein  mechanisches  Problem,  ihr  Entstehen 
ein  übermechanisches.  Entstehen  und  Funktionieren  der  Organe 
treten  bei  den  mehrzelligen  Tieren  zeitlich  getrennt  vonein- 
ander auf  und  werden  dort  niemals  verwechselt.  Bei  den  Ein- 
zelligen, die  ihre  Organe  immer  wieder  auflösen,  ist  die  zeit- 
liche Trennung  nicht  so  leicht  durchzuführen,  obgleich  sie  am 
Einzelorgan  natürlich  immer  sichtbar  ist.  Denn  kein  Pseudo- 
podium kann  funktionieren,  wenn  es  noch  nicht  da  ist. 

Die  Vernachlässigung  des  prinzipiellen  Unterschiedes  zwischen 
maschinellen  und  üb^rmaschinellen  Eigenschaften  hat  das  Proto- 
plasmaproblem unnötigerweise  verdunkelt. 

Werfen  wir  jetzt  einen  Blick  auf  die  Versuche  Rhumblers, 
die  mechanischen  Vorgänge  bei  den  Rhizopoden  mittels  Chloro- 
formtropfen und  ölschäumen  nachzumachen,  so  muß  man  vor 
allen  Dingen  Verwahrung  einlegen  gegen  seine  Sprachmißhand- 
lungen. Organismische  und  anorganismische  Substanzen  ist  gar 
zu  häßlich.  Außerdem  dienen  diese  Worte  dazu,  die  Unter- 
schiede zwischen  strukturloser  Substanz  und  Maschinen  einer- 
seits, sowie  zwischen  Maschinen  und  Lebewesen  andererseits  zu 
verwischen.  Solche  Zwischen  begriffe  machen  jede  klare  Frage- 
stellung unmöglich. 

Im  übrigen  kann  manRhumbler  nur  Dank  sagen  für  die 
Fülle  von  mechanischen  Erfahrungen,  die  er  uns  übermittelt 
hat.  Ich  will  hier  nur  das  reizende  Experiment  des  verdauen- 
den Chloroform  tropf  ens  erwähnen,  das  ein  mit  Schellack  über- 
zogenes Glasstäbchen  verschluckt  und,  nachdem  der  Schellack 
sich  im  Chloroform  gelöst  hat,  wieder  ausspuckt. 

Rhumbler    hat    in    letzter    Zeit    es    ausdrücklich    ausge- 


24  I^fts  Protoplasmaproblem. 

sprochen,  daß  solche  mechanische  Versuche  keine  Lebens- 
erscheinungen darstellen:  ,,Die  Zellenmechanik  erschöpft  nicht 
die  Aufgaben  des  Zellenlebens,  sondern  betrachtet  seine  physi- 
kalisch-mechanische Seite." 

Aber  sollte  es  schließlich  Rhu mb  1er  oder  einem  anderen 
gelingen,  eine  künstliche  Amöbe  herzustellen,  die  die  wichtigsten 
Funktionen  der  natürlichen  Amöben  ausübt,  so  wäre  dadurch 
nur  bewiesen,  daß  ein  erfindungsreicher  Geist  auch  mikro- 
skopische Maschinen  zu  bauen  vermag.  Wer  es  aber  soweit 
bringt,  Maschinen  mit  übermaschinellen  Eigenschaften  zu  bauen, 
für  den  ist  es  dann  ebenso  leicht  ein  Pferd  zu  machen,  wie 
eine  Amöbe.  Ein  solcher  Erbauer  lebender  Wesen  muß  frei- 
lich übermenschliche  Fähigkeiten  besitzen. 

Man  würde  es  leichter  verstehen,  wenn  die  ganze  Richtung, 
die  sich  mit  dem  Bau  künstlicher  Amöben  befaßt,  von  Leuten 
ausginge,    die    nach    einem    modernen   Beweis    für   das   Dasein 
Gottes  suchten.    Denn  was  sie  mit  ihren  mikrochemischen  und 
mikromechanischen  Versuchen  bestenfalls  beweisen  können,  ist, 
daß  es  einem   denkenden  Geiste,    der  weit   höhere  Fähigkeiten 
besitzt    als    der  Menschengeist,    gelingen  muß,    lebende  Wesen 
herzustellen.    Statt  dessen  sollen  diese  Versuche,  die  der  ganzen 
geistigen  Anspannung  der  gelehrtesten  Forscher  bedürfen ,  nichts 
anderes  beweisen,  als  daß  der  Zufall  das  gleiche  bewirken  könne. 
Auch   diese  Lösung   wollen   wir   uns   ansehen  und  es  ver- 
suchen,   uns    an   einem   Beispiel  klar  zu  machen,  wie  es  einer 
durch  Zufall  entstandenen  Maschine  weiter  ergehen  wird.  Nehmen 
wir  an,  in  einer  Fabrik  sei  während  eines  Erdbebens  oder  einer 
Feuersbrunst  ein  Automobil  von  selbst  entstanden.    Diese  An- 
nahme ist  viel  leichter  zu  machen,  als  die  zufällige  Entstehung 
einer  Amöbe,  weil  das  Automobil  keine  übermaschinellen  Eigen- 
schaften besitzt  und  seinesgleichen  nicht  wieder  erzeugen  kann. 
Nun  könnte  dieses  Automobil  doch  nur  dann  ein  erfolgreiches 
Dasein  führen,    wenn  die  Welt  nur  aus  einer  einzigen,  geraden 
Chaussee   bestünde   und  in   den   Chausseegräben  Benzin   flösse. 
Es  gehört  zu  einem  rein  mechanischen  Wesen  als  notwendiges 
Korrelat  eine  unwandelbare  Außenwelt,  die  zu  dieser  Maschine 
paßt.    Denn  das  maschinelle  Wesen  besitzt  keine  Eigenschaften, 
um    einer  Änderung  der  Außenwelt  zweckmäßig   zu   begegnen. 
Der  Plan,  den  wir  in  den  Lebewesen  oder  Maschinen  ver- 


Das  Protoplasmaproblem.  25 

körpert  sehen,  ist  kein  objektiver  Naturfaktor,  der  dem  Wesen 
irgendwelche  weiterreichende  Fähigkeit  verleiht.  Deshalb  ist 
mit  der  einmaHgen  Entstehung  eines  Lebewesens,  wie  sie  z.  B. 
Bütschli  annimmt,  gar  nichts  erreicht.  Dieses  Lebewesen 
muß  bei  der  nächsten  Straßenbiegung  zu  Falle  kommen. 

Wir  sehen  aus  diesem  Beispiel,  daß  die  Wesen,  die  nicht 
bei  jeder  für  ihren  Bauplan  unvorhergesehenen  Änderung  der 
Außenwelt  umkommen,  noch  eine  weitere  übermaschinelle  Fähig- 
keit besitzen  müssen,  und  diese  Fähigkeit  wollen  wir  mit 
Jennings  „Regulation"  nennen. 

Die  Regulation  geht  nach  Jennings  Hand  in  Hand  mit 
der  Reaktion  eines  jeden  Tieres.  Auf  eine  Änderung  der  Außen- 
welt, die  sich  als  Reiz  dem  Tiere  kundtut,  führt  jedes  Tier 
eine  Bewegung  aus,  und  außerdem  ändert  sich  sein  physio- 
logischer Zustand.  Die  Änderung  des  physiologischen  Zustandes 
wirkt  modifizierend  ein  auf  die  Antwort,  die  das  Tier  dem 
nächsten  Reiz  erteilt.  Es  läuft  die  Lebenstätigkeit  der  Tiere 
auf  äußere  Reize  nicht  einfach  ab,  wie  in  irgendeiner  Maschine, 
deren  Bauplan  sich  gar  nicht  verändern  kann.  Im  Gegenteil 
ändert  sich  der  Bauplan  der  Tiere  dauernd  unter  dem  Einflüsse 
der  Umgebung,  so  daß  man  mit  Übertreibung  sagen  kann, 
niemals  trifft  ein  Reiz  zum  zweiten  Male  das  gleiche  Tier. 
Diese  dauernde  Änderung  des  Bauplanes,  die  dem  Leben  den 
fließenden  Charakter  einer  steten  Umbildung  gibt  und  dem 
Tiere  eine  stete  Anpassungsmöglichkeit  in  weiten  Grenzen  ge- 
währt, nennt  Jennings  Regulation. 

Bedauerlicherweise  hat  Jennings  den  Begriff  der  Regu- 
lation nicht  präzis  genug  gefaßt.  Es  gibt  natürlich  auch  eine 
Regulation,  die  innerhalb  des  bestehenden  Bauplanes  bereits 
vorgesehen  ist,  neben  der  Regulation,  die  den  Bauplan  selbst 
ändert.  Ferner  gibt  es  auch  eine  rein  äußerliche  Regulation, 
die  von  jedem  äußeren  Reiz  ausgeht  und  darin  besteht,  daß 
der  Reiz  nur  solange  auf  das  Tier  einwirkt,  als  das  Tier  seinem 
Wirkungskreis  noch  nicht  entgangen  ist.  Diese  drei  prinzipiell 
verschiedenen  Arten  der  Regulation,  L  die  äußere,  2.  die  innere, 
aber  im  Bauplan  vorgesehene,  3.  die  innere,  den  Bauplan  selbst 
ändernde  Regulation,  werden  in  dem  „Versuch  und  Irrtum" 
genannten  Grundprinzip  zu  einem  unentwirrbaren  Knäuel  ver- 
einigt.     Die    beiden    ersten    Arten    der    Regulation    sind    rein 


26  Das  Protoplasmaproblem. 

maschinell,  nur  die  dritte  bezeichnet  eine  übermaschinelle  Tätig- 
keit der  Tiere. 

Jennings  Lehre  verdankt  ihre  Entstehung  den  Amöben. 
Bei  den  Amöben  gilt  unzweifelhaft  der  Satz:  daß  niemals  der 
gleiche  Reiz  zum  zweiten  Male  das  gleiche  Tier  trifft.  Die 
Beobachtung  lehrt  unmittelbar,  daß  diese  Tiere  in  einer  dauern- 
den Umgestaltung  begriffen  sind.  Diese  Umgestaltung  geht 
zwar  dauernd  und  spontan  vor  sich,  wird  aber  zugleich  von 
äußeren  Reizen  beeinflußt. 

Naturgemäß  tritt  bei  Tieren,  deren  Haupttätigkeit  darin 
besteht,  Augenblicksorgane  zu  schaffen  und  wieder  zu  ver- 
nichten, wobei  sich  dauernd  der  Bauplan  ändert,  die  über- 
maschinelle Regulation  sehr  stark  in  den  Vordergrund,  während 
bei  den  höheren  Tieren  mit  dauernden  Organen,  die  nach  einem 
dauernden  Plane  geordnet  sind  und  in  der  Regel  innerhalb 
dieses  Bauplanes  ihren  Funktionen  obligen,  die  maschinelle 
Regulation  mehr  ins  Auge  springt.  Und  wenn  wir  mit  Recht 
die  übermaschinelle  Regulation  als  spezifische  Lebenseigenschaft 
betrachten,  so  muß  man  sagen:  die  Amöbe  ist  weniger 
Maschine  als  das  Pferd. 

Die  über  maschinelle  Regulation  tritt  als  dritter  Faktor 
neben  die  Formbildung  und  die  Regeneration.  Übermaschi- 
nelle Regulation,  Formbildung  und  Regeneration  sind  alles 
Leistungen,  die  sich  auf  die  Ausbildung  und  Erhaltung  des 
Bauplanes  beziehen,  welcher  die  einzelnen  Teile  zu  einem  Ganzen 
verbindet.  Unter  maschinellen  Fähigkeiten  bezeichnen  wir  alle 
die  Eigenschaften,  die  sich  bei  Gegenständen  mit  ausgebildetem 
Bauplan  vorfinden,  d.  h.  bei  allen  mechanischen  Strukturen, 
mögen  sie  belebt  oder  unbelebt  sein.  Die  übermaschinellen 
Fähigkeiten,  die  sich  mit  der  Bildung  des  Bauplanes  selbst 
befassen,  findet  man  bei  den  fertigen  Strukturen  nicht,  sie  ge- 
hören ganz  ausschUeßlich  dem  ungeformten,  aber  bildungsfähigen 
Protoplasma  an.  Es  fällt  demnach  das  Protoplasmaproblem 
mit  dem  Problem  der  übermaschinellen  Fähigkeiten  bei  den 
Lebewesen  zusammen. 

Und  nun  hören  wir,  was  einer  der  besten  Kenner  des  Proto- 
plasmaproblems, H.  Hertwig,  über  dieses  Thema  sagt:  ,,Die 
Dujardinsche  Sarkode theorie  und  die  dadurch  zum  Ausdruck 
gelangte   Erkenntnis,    daß    es    tierisches    Leben    gibt,    welches 


Das  Protoplasmaproblem.  27 

nicht  an  besondere  Organe  geknüpft  ist,  sondern  von  einer 
gleichförmigen  Substanz  der  Sarkode  vermittelt  wird,  mußte 
vorausgehen,  ehe  man  zur  Vorstellung  gelangte,  daß  die  Zelle 
auch  bei  den  höheren  Tieren  nicht  wie  die  Schwan-Schleiden- 
sche  Zelltheorie  lehrte,  die  nach  physikalisch-chemischen  Ge- 
setzen wirkende  Einheit  sei,  sondern  selbst  ein  Organismus, 
welcher  alle  Rätsel  des  Lebens  in  sich  berge,  daß  das  Leben 
des  vielgestalteten  Organismus  nicht  die  Resultante  von  chemisch- 
physikalischen Vorgängen  sei,  welche  durch  jene  Einheiten 
vermittelt  werde,  sondern  sich  auf  den  Lebensprozessen 
der  einzelnen  Zellen  aufbaue.  So  wurde  die  wichtigste  Reform 
ermöglicht,  welche  die  Zelitheorie  erfahren  und  ihr  im  wesent- 
lichen jede  moderne  Fassung  gegeben  hat:  die  Protoplasma- 
theorie MaxSchulzes  .  .  .  Die  Zellen,  selbst  die  Bindegewebs-, 
Knorpel-,  Knochen-,  Muskelkörperchen,  usw.  haben  im  wesent- 
lichen dieselbe  Struktur,  sie  unterscheiden  sich  zwar  von  ein- 
ander durch  verschiedene  Gestalt,  aber  diese  Formunterschiede 
haben  wohl  kaum  größere  Bedeutung  und  sind  wohl  nur  die 
Folgen  der  Raum  Verhältnisse,  welche  den  Zellen  und  ihrer  Um- 
gebung geboten  werden,  hat  man  doch  in  der  Neuzeit  es  in 
Zweifel  ziehen  können,  ob  überhaupt  die  Zellen  der  verschie- 
denen Gewebe,  wie  es  Roux  und  seine  Schüler  annehmen, 
selbst  differenziert  sind,  oder  ob  sie  nicht  vielmehr  sämthch 
die  gleichen  Eigenschaften  besitzen,  die  Eigenschaften  der  be- 
fruchteten Eizelle,  aus  welcher  sie  durch  artgleiche  Teilung 
entstanden  sind.  Daß  die  Unterscheidung  von  verschiedenerlei 
Geweben  möglich  ist,  würde  nur  durch  den  Einfluß  der  lokalen 
Existenzbedingungen,  gleichsam  den  Genius  loci,  hervorgerufen 
sein,  welcher  Ursache  wurde,  daß  gewisse  Zellen  Muskelsubstanz, 
andere  Bindesubstanz,  dritte  Nervenfibrille  usw.  gezeitigt  haben. 
Der  Unterschied  der  Gewebe  würde  nur  durch  den  Unterschied 
der  Zellprodukte  bedingt  sein,  die  verschiedene  chemische  und 
morphologische  Beschaffenheit  der  Muskel-,  Nerven-,  Binde- 
gewebsfibrillen  usw.  (0.  Hertwig)". 

Die  Zellprodukte  bilden  ihrerseits  die  verschiedenen  Struk- 
turteile des  Gesamt tieres.  Ihre  Leistungen  sind  maschineller 
Art  und  gestatten  prinzipiell  eine  Analyse  und  eine  Synthese, 
wie  die  Strukturteile  der  Maschinen. 

Um  sich  das  Verhältnis  zwischen  Protoplasma  und  Struk- 


28  I^ä^s  Protoplasmaproblem. 

tur  eindringlich  deutlich  zu  machen,  stelle  man  sich  vor,  daß 
unsere  Häuser  und  Maschinen  nicht  von  uns  erbaut  würden, 
sondern  selbsttätig  aus  einem  Brei  herauskristallisierten.  Jeder 
Stein  des  Hauses  und  jeder  Maschinenteil  bewahre  noch  eine 
Portion  Reservebrei  bei  sich,  der  die  nötig  werdenden  Repa- 
raturen und  Regulationen  vornehme,  außerdem  besitze  jedes 
Haus  und  jede  Maschine  eine  größere  Anhäufung  von  Urbrei, 
die  zur  Erzeugung  neuer  Häuser  oder  neuer   Maschinen  diene. 

Diese  Vorstellung  spiegelt  deutlich  den  doppelten  Cha- 
rakter jedes  Lebewesens,  das  erstens  aus  dem  Protoplasma  und 
zweitens  aus  den  Protoplasmaprodukten  oder  der  Struktur  be- 
steht. Die  Funktion  der  Struktur  ist  uns  verständlich.  Die 
Funktion  des  Protoplasmas  aber  ist  ein  Wunder.  Zwar  haben 
wir  gesehen,  daß  der  Protoplasmabrei  keine  maschinellen 
Funktionen  besitzt,  und  daß  es  keine  flüssigen  Maschinen  gibt, 
aber  der  Brei  hat  dafür  andere  Fähigkeiten,  welche  die  Ma- 
schinen nicht  besitzen. 

Je  mehr  und  je  eingehender  die  Leistungen  des  Proto- 
plasmas studiert  werden,  um  so  größer  wird  das  Rätsel.  Wir 
können  tausendmal  vor  einem  Hause  stehen,  das  aus  dem 
Urbrei  herauskristalhsiert,  und  können  jede  einzelne  Phase  ana- 
lysieren, alle  physikalischen  und  chemischen  Faktoren  auf  das 
Genaueste    studieren   —   das   Ganze   begreifen   wir  doch  nicht. 

Die  Tiere  und  Pflanzen  entstehen  nach  Art  einer  Melodie, 
sagt  Karl  Ernst  von  Bär,  sie  bilden  nicht  bloß  Einheiten 
im  Raum  wie  die  Maschinen,  sie  sind  auch  Einheiten  in 
der  Zeit,  und  diese  zu  fassen  ist  der  menschliche  Geist  nicht 
fähig.  Sie  bleiben  für  ihn  Wunder.  Uns  sind  nur  mechanische 
Einheiten  verständlich,  in  denen  wie  in  den  Maschinen  alle 
Teile  sich  gegenseitig  im  Räume  gleichzeitig  bedingen.  Es 
scheint  uns  ganz  widersinnig,  daß  es  Faktoren  geben  könne, 
die  sich  auch  in  der  Zeit  gegenseitig  beeinflussen  könnten. 
Für  unseren  Verstand  gibt  es  in  der  Zeit  nur  eine  Wirkung 
vom  Vorhergehenden  auf  das  Folgende  und  nicht  umgekehrt. 
Wenn  etwas  Derartiges  eintrete,  daß  nämlich  das  Folgende  auf 
das  Vorhergehende  wirkte,  so  würden  wir  ohne  weiteres  von 
einem  Wunder  reden. 

Und  doch  findet  derartiges  im  Protoplasma  statt.  Nicht 
eine  vorhandene,   sondern  eine   kommende   Struktur   bestimmt 


Das  Protoplasmaproblem.  29 

die  Leistungen  des  Protoplasmas  in  jedem  einzelnen  Falle  der 
Strukturbildung.  Die  entstandene  Struktur  hemmt  nur  die 
strukturbildende  Tätigkeit  des  Protoplasmas,  die  noch  nicht 
vorhandene  Struktur  dagegen  leitet  die  Strukturbildung.  In 
einer  Melodie  findet  eine  gegenseitige  Beeinflussung  zwischen 
dem  ersten  und  dem  letzen  Tone  statt,  und  wir  dürfen  deshalb 
sagen,  der  letzte  Ton  ist  zwar  nur  durch  den  ersten  Ton  mög- 
lich, aber  ebenso  ist  der  erste  nur  durch  den  letzten  Ton  mög- 
lich. Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Strukturbildung  bei  den 
Tieren  und  Pflanzen.  Das  fertige  Hühnchen  steht  zwar  in 
direkter  Abhängigkeit  von  den  ersten  Furchungsvorgängen  des 
Keimes,  aber  ebenso  sind  die  ersten  Keimesfurchen  abhängig 
von  der  Gestalt  des  ausgebildeten  Hühnchens. 

Diese  Tatsache  ist  ein  Wunder,  nicht  im  Sinne  einer  Ge- 
setzlosigkeit, sondern  einer  unbegreiflichen  Gesetzlichkeit.  Es 
ist  ebenso  lächerlich,  wie  unehrlich,  das  Vorhandensein  dieser 
Tatsache  leugnen  zu  wollen.  Sie  wird  aber  stets  verschiedene 
^Deutungen  zulassen  und  je  nach  den  verschiedenen  Zeitströ- 
mungen wird  diese  oder  jene  Deutung  in  der  Wissenschaft 
Mode  sein.  Die  Tatsache  selbst  kann  kein  Deutungsversuch 
aus  der  Welt  schaffen. 

Mag  man  in  Analogie  des  menschhchen  Geistes  eine  Vor- 
stellung im  Protoplasma  waltend  annehmen,  oder  annehmen,  daß 
das  Protoplasma  im  Laufe  des  Weltgeschehens,  während  es 
von  Individuum  zu  Individuum  wanderte,  Erfahrungen  sammelte, 
immer  bleibt  die  Tatsache  des  Wunderbreies  bestehen.  SchUeß- 
lich  kann  man  sagen,  daß  das  Bewußtsein  eines  Beobachters 
mit  übermenschhchen  Fähigkeiten,  welches  nicht  wie  das  unsere 
von  Moment  zu  Moment  lebt,  und  daher  fähig  wäre,  Zeit- 
abstände ebenso  gegenseitig  in  Beziehung  zu  setzen,  wie  unser 
Bewußtsein  es  mit  den  Raumabständen  tut,  andere  Begriffe 
bilden  würde,  in  der  die  Harmonie  zeithch  getrennter  Faktoren 
keine  Schwierigkeit  machen  würde. 

Eines  ist  aber  sicher,  daß  nämlich  alle  diese  Lösungs- 
versuche sich  nur  auf  das  Protoplasma  und  seine  übermaschi- 
nellen Eigenschaften  beziehen,  dagegen  nichts  mit  der  Struktur 
und  ihren  maschinellen  Eigenschaften  zu  tun  haben.  Hier 
wollen  wir  uns  nur  mit  der  Struktur  und  ihren  Leistungen 
beschäftigen,  wir  wollen  maschinelle  Biologie  treiben. 


30  I^as  Protoplasmaproblem. 

Jetzt  wird  es  uns  auch  verständlich  sein,  warum  der  Be- 
griff eines  Organismus  so  verschieden  definiert  wird,  je  nach- 
dem man  die  maschinellen  oder  übermaschinellen  Eigenschaften 
untersuchen  will. 

Jennings,  dessen  Studium  wesentlich  der  Erforschung  der 
Regulationen  gewidmet  ist,  definiert  den  Begriff  des  Organismus 
folgendermaßen:  ,,Ein  Organismus  ist  eine  komplexe  Masse  von 
Materie,  in  welcher  gewisse  Prozesse  stattfinden;  das  Aggrega^t 
oder  System  dieser  Prozesse  nennen  wir  Leben.  Die  Funda- 
mentalprozesse sind  jene,  die  wir  Stoffwechsel  nennen,  jedes 
Tier  nimmt  dauernd  gewisse  Stoffe  auf,  formt  sie  um  und  gibt 
sie  weiter  nach  außen  ab  —  bei  diesem  Prozeß  Energie  ge- 
winnend. Als  HiKsprozesse  neben  dieser  allgemeinen  chemischen 
Umformung  finden  wir  Verdauung,  Kreislauf,  Ausscheidung  und 
Ähnliches.  Es  ist  von  der  allergrößten  Bedeutung  für  das  Ver- 
ständnis des  Benehmens  der  Organismen,  sie  vorzüglich  als 
etwas  Dynamisches  —  als  Prozesse  aufzufassen,  eher  denn  als 
Struktur.     Das  Tier  ist  ein  Geschehnis." 

Dem  gegenüber  war  ich  gezwungen,  den  Organismus  ganz 
anders  zu  definieren,  als  ich  seine  maschinellen  Eigenschaften 
ins  Auge  faßte:  ,, Biologie  ist  die  Lehre  von  der  Organisation 
des  Lebendigen.  Unter  Organisation  versteht  man  den  Zu- 
sammenschluß verschiedenartiger  Elemente  nach  einheitlichem 
Plan  zu  gemeinsamer  Wirkung." 

Beide  Definitionen  sind  aber  ungenügend,  weil  in  ihnen 
das  Protoplasma  nicht  genannt  ist.  Das  Protoplasma  sollte  aber 
den  Ausgangspunkt  aller  Theorien  über  den  Organismus  bilden. 

Nur  wenn  man  sich  dauernd  die  Rolle  des  Protoplasmas 
vor  Augen  hält,  gewinnt  man  "die  Möglichkeit,  die  sich  viel- 
fach kreuzenden  und  widersprechenden  Theorien  zu  entwirren. 
Das  Protoplasma  besitzt  die  Fähigkeit,  die  toten  Stoffe  auf- 
zunehmen und  sich  selbst  einzufügen.  Das  ist  die  eine  Seite 
seiner  Tätigkeit.  Andererseits  besitzt  das  Protoplasma  die 
Fähigkeit,  planmäßige  Strukturen  aus  sich  heraus  zu  bilden. 
Unter  planmäßig  soll  nichts  anderes  verstanden  werden,  als 
daß  die  einzelnen  Strukturteile  zusammen  nicht  bloß  ein  räum- 
liches Ganzes  bilden  wie  die  Wasserkristalle  in  einer  Schnee- 
flocke, sondern  ein  funktionelles  Ganzes  wie  die  Bausteine  eines 
Hauses. 


Das  Protoplasmaproblem.  3  i 

Die  Bildung  der  Strukturen  geschieht  ferner  planmäßig, 
d,  h.  nach  einer  einheithchen  Regel  in  der  Zeit,  wodurch  alle 
Störungen  vermieden  werden. 

In  den  Gang  der  einmal  gebauten  Strukturen  greift  das 
Protoplasma  nur  ausnahmsweise  ein.  Deshalb  darf  der  Ablauf 
der  normalen  Lebensfunktionen  der  Tiere,  soweit  er  auf  den 
Leistungen  der  Strukturen  beruht,  als  rein  maschinell  behandelt 
werden. 

Dagegen  hat  das  Protoplasma  in  hohem  Maße  die  Fähig- 
keit, den  Verlust  von  einzelnen  Strukturteilen  planmäßig  zu 
ersetzen. 

Das  Protoplasma  sitzt  überall  in  jeder  lebenden  Zelle  des 
Tierkörpers  neben  und  zwischen  den  von  ihm  gebauten  Struk- 
turteilen. Wieweit  es  am  Stoffwechsel  beteiligt  ist,  wissen 
wir  nicht.  MögUch  ist  es,  daß  die  Strukturteile  einen  Stoff- 
wechsel für  sich  erlangt  haben,  und  es  dann  in  jeder  Zelle 
einen  doppelten  Stoffwechsel  gibt,  einen  für  die  Strukturteile 
und  einen  für  das  Protoplasma.  Möglich  ist  es  aber  auch,  daß 
die  Strukturteile  in  ihrem  Stoffwechsel  vom  Protoplasma  ab- 
hängig bleiben  nachdem  ihre  Leistungen  sich  längst  vom  Ein- 
fluß des  Protoplasmas  befreit  haben. 

Alle  diese  Leistungen  vollbringt  das  Protoplasma,  ohne 
jemals  gegen  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie  zu 
verstoßen.  Und  die  Befürchtung  ausgezeichneter  Forscher,  daß 
der  heutige  Neovitahsmus  ihren  auf  den  kausalen  Zusammen- 
hang der  Lebensvorgänge  gerichteten  Untersuchungen  eine 
Grenze  ziehen  wird,  ist  ganz  grundlos. 

Alles,  was  geschieht,  geschieht  durch  physikalische  und 
chemische  Kräfte. 

Auch  bei  der  Erforschung  einer  Maschine  kann  man  sich 
auf  die  chemische  oder  physikalische  Fragestellung  beschränken, 
ohne  jemals  in  Gefahr  zu  kommen,  mit  der  Mechanik  in  Kon- 
flikt zu  geraten,  die  sich  mit  dem  Zusammenwirken  der  plan- 
mäßig gebauten  Strukturteile  beschäftigt. 

Wer  dagegen  die  Planmäßigkeit  der  lebenden  Natur  zum 
Forschungsobjekt  nimmt,  wird  gut  tun,  sich  zu  entscheiden, 
ob  er  sich  mit  den  Leistungen  der  ausgebildeten  Strukturen 
befassen  will.  Dann  kann  er  reine  Mechanik  treiben  und  wird 
niemals  mit  übermaschinellen  Kräften  in  Konflikt  kommen. 


32  Amoeba  Terricola. 

Schließlich  kann  man  sich  dem  Studium  des  Protoplasmas 
zuwenden.  Dann  wird  man  gut  tun,  den  Versuch,  Über- 
maschinelles mechanisch  zu  erklären,  aufzugeben  und  sich  mit 
der  reinen  Darstellung  der  Vorgänge  zu  begnügen. 

Die  philosophische  Durchdringung  des  Protoplasmaproblems 
ist  neuerdings  von  Driesch  mit  großem  Erfolg  unternommen 
worden,  und  es  sind  seine  Gedanken  über  die  Lebenskraft  oder 
Entelechie  von  größtem  Interesse.  Besonders  einleuchtend 
und  ganz  neu  sind  seine  Ausführungen  über  die  Beziehungen 
der  Entelechie  zu  den  physikalisch-chemischen  Kräften. 

Bevor  man  sich  dem  Neovitalismus  zuwendet,  halte  ich 
es  jedoch  für  ratsam,  abzuwarten,  was  die  reine  Erkenntnis- 
lehre in  der  Durchdringung  der  biologischen  Grundfragen  zu 
leisten  imstande  ist. 

Inzwischen  kann  diese  Frage  ruhig  offen  bleiben,  da  sie 
keinen  Einfluß  auf  die  speziellen  Aufgaben  ausübt,  die  uns 
hier  beschäftigen  sollen  und  die  darin  bestehen,  die  Leistungen 
des  erwachsenen  Tierkörpers  soweit  als  möglich  auf  die  mecha- 
nischen Leistungen  seiner  planmäßig  geordneten  Strukturteile 
zurückzuführen. 


Amoeba  Terricola. 

Es  lebt  in  feuchtem  Moose  und  auf  moderigem  Grund  ein 
winziges  Tierlein,  kaum  sichtbar  dem  Auge  des  Menschen,  aber 
dennoch  ein  Riese  in  seiner  kleinen  Welt.  Als  Landbewohner 
führt  es  den  Namen  terricola.  Wegen  seiner  rauhen  Ober- 
fläche wird  es  auch  verrucosa  genannt.  Langsam  wälzt  es 
sich  daher,  nach  vorne  zu  einen  breiten  Lappen  mit  glattem 
Saum  bildend,  während  an  seinem  verschrumpfelten  Hinterende 
die  Runzeln  deutlich  zutage  treten. 

Es  gleicht  in  seiner  Form  und  seinen  Bewegungen  einem 
verunreinigten  Tropfen,  der  langsam  den  Rand  eines  Tellers 
hinabrollt.  Vorne  befindet  sich  die  klare  Flüssigkeit,  während 
die  Verunreinigung  als  dicker  Wulst  nachgeschleppt  wird.  Lange 
Zeit  hindurch  hat  man  als  Ursache  dieser  Bewegung  eine  Ver- 
minderung der  Oberflächenspannung  am  Vorderende  angenommen, 
weil  die  künstlichen  Schaumkügelchen  von  Bütschli    und   die 


Ämoeba  Terricola.  33 

Chloroformtropfen  von  Rh  um  b  1er  sich  mittels  solcher  Schwan- 
kungen ihrer  Oberflächenspannung  bewegen. 

Dann  kam  Jennings  und  zeigte,  daß  alle  Fremdkörper, 
die  an  der  Oberfläche  von  Amoeba  terricola  kleben,  sich  rund 
um  die  wandernde  Amöbe  herumbewegen.  Und  zwar  wandern 
sie  auf  der  Oberseite  von  hinten  nach  vorne  und  auf  der 
Unterseite  von  vorne  nach  hinten.  Daraus  durfte  man  schheßen, 
daß  die  Amöbe  einem  kontraktilen  Sacke  gleicht,  der  um  sich 
selbst  rollt.  Im  Inneren  des  Sackes,  der  vom  Ektoplasma  gebildet 
wird,  zeigt  das  Endoplasma  gleichfalls  strömende  Bewegungen. 

Nur  hat  neuerdings  Dellinger  gezeigt,  daß  der  Vorgang 
sich  ganz  anders  ausnimmt,  wenn  man  das  Tier  von  der  Seite 
betrachtet.  Das  Herumrollen  des  Ektoplasmas,  das  Jennings 
beobachtete,  ist  freilich  vorhanden,  aber  es  hat  mit  der  wirk- 
lichen Gehbewegung  nichts  zu  tun.  Diese  geschieht  nach  Art 
der  Spannerbewegungen  gewisser  Raupen  oder  der  Blutegel. 
Es  haftet  das  Hinterende  am  Boden,  während  das  Vorderende 
frei  ins  Wasser  ragt,  oder  sich  den  Boden  entlang  schiebt. 
Dann  faßt  auch  das  Vorderende  festen  Fuß.  Nun  löst  sich 
das  Hinterende  vom  Boden  ab,  nähert  sich  durch  eine  kräftige 
Kontraktion  des  Gesamttieres  dem  Vorderende  und  setzt  sich 
dort  gleichfalls  fest.  Worauf  das  Vorderende  den  zweiten 
Schritt  beginnt. 

Die  anderen  Amöben  sollen  ebenso  deutlich  dieses  span- 
nerartige Gehen  zeigen,  aber  keine  Umdi'ehungen  um  sich  selbst 
vollführen;  Fremdkörper,  die  auf  ihrer  Oberfläche  haften, 
werden  beim  Marsche  nur  hin  und  her  bewegt. 

,,Wenn  die  Amöben",  schreibt  Dellinger,  ,,im  freien 
Felde  wandern,  oder  von  einem  Haufen  Detritus  zum  anderen 
ziehen,  so  bewegen  sie  sich  wie  lange  Schnüre  oder  sie  fassen 
an  mehreren  Stellen  festen  Fuß,  bewahren  aber  dabei  ihre 
schlanke  Gestalt.  Bewegen  sie  sich  dagegen  auf  Algen  weidend, 
so  strecken  sie  zahlreiche  Pseudopodien  aus  und  nehmen  eine 
bandförmige  Gestalt  an." 

Penard  hat  für  beschalte  Lappenfüße  das  Ausstrecken 
von  Pseudopodien,  die  einen  Saugnapf  am  Vorderende  bilden 
können,  beschrieben.  Der  Gang  dieser  Schaltiere  erscheint  als 
eine  weitere  Durchbildung  des  gleichen  Prinzips.  Nur  ersetzt 
hier  die  schwere  Schale  den  hinteren  Saugnapf. 

V.  UexküU,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  3 


34  Amoeba  Terricola. 

Sucht  man  sich  eine  Vorstellung  von  den  Kontraktions- 
bewegungen des  Protoplasmas  zu  machen,  die  diese  Bewegungs- 
art hervorrufen,  so  wird  man  aus  der  Analogie  mit  den  mehr- 
zelligen Tieren,  die  eine  gleiche  Gangart  besitzen,  schließen, 
daß  das  Ektoplasma  der  Lappenfüßer  überall  aus  wenigstens 
zwei  Schichten  besteht,  die  sich  in  ihren  Verkürzungsrichtungen 
rechtwinklig  kreuzen.  Wenn  sich  eine  dieser  Protoplasma- 
schichten allein  verkürzt,  muß  sie  dabei  die  andere  dehnen. 
Nun  wissen  wir  von  den  mehrzelhgen  Tieren,  daß  die  Erregung 
immer  nach  den  gedehnten  Muskeln  fließt.  Auf  das  Proto- 
plasma übertragen,  würde  das  bedeuten,  daß  die  Verkürzung 
der  einen  Schicht  die  Veranlassung  einer  darauffolgenden  Ver- 
kürzung der  anderen  Schicht  abgibt,  weil  die  Erregung  der 
gedehnten  Schicht  zufließt.  Wird  die  Verlängerung  eines  Pseudo- 
podiums durch  die  eine  Schicht  hervorgerufen,  so  folgt  darauf 
das  Einziehen  durch  die  Verkürzung  der  anderen.  Die  An- 
nahme von  gekreuzten  Protoplasmaschichten  würde  auch  die 
Kugelform  der  Amöben  ohne  weiteres  erklären,  die  immer 
angenommen  wird,  wenn  allseitig  starke  Reize  das  Tier  treffen. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  eine  solche  Anordnung  des  Proto- 
plasmas bei  den  Lappenfüßern  als  dauernde  Einrichtung  anzu- 
sehen ist,  oder  nicht  ?  Das  Protoplasma  besitzt  nämlich  außer 
der  Fähigkeit  sich  zu  verkürzen  und  zu  verlängern  auch  noch 
die  Fähigkeit,  sich  zu  erweichen  und  wieder  zu  verdichten. 
Das  Ektoplasma  vermag  außer  seiner  Form  auch  seine  Kon- 
sistenz zu  ändern.  Die  Konsistenzänderung  tritt  ganz  selb- 
ständig und  unabhängig  von  der  jeweiligen  Formbildung  auf. 
Das  tritt  bei  der  Nahrungsaufnahme  deutlich  zutage.  Jennings 
beschreibt  sie  folgendermaßen:  ,, Indifferente  Partikelchen  wie 
Stückchen  Ruß,  welche  an  der  Oberfläche  haften,  werden  nicht 
aufgenommen."  Dagegen  werden  Nahrungsmittel  wie  Räder- 
tierchen, Infusorien  oder  Bakterienhaufen  nicht  bloß  fest  ge- 
klebt, sondern  langsam  ins  Innere  der  Amöbe  hineingezogen. 
Dieses  Eindringen  der  Nahrung  geschieht  unausgesetzt,  während 
das  Ektoplasma  herumrotiert.  Dabei  geraten  die  Nahrungs- 
teilchen abwechselnd  in  Gegenden,  von  allen  möglichen  Ver- 
kürzungs-  und  Verlängerungsgraden.  Trotzdem  geht  die  Er- 
weichung des  Protoplasmas  in  der  nächsten  Umgebung  der 
Nahrung  dauernd    w^eiter,    bis  diese  im  Endoplasma   angelangt 


Amoeba  Temcola.  35 

ist.  Die  Erweichung  muß  bis  zur  völligen  Verflüssigung  fort- 
schreiten, um  die  feste  Nahrung  durchzulassen.  Das  Ekto- 
plasma  stellt  sich  gleich  darauf  wieder  her. 

Daraus  geht  zur  Genüge  hervor,  daß,  wenn  eine  Schich- 
tungsstruktur im  Ektoplasma  besteht,  sie  bei  der  Erweichung 
verschwindet,  um  gleich  darauf  wieder  zu  erscheinen.  Die 
Eigenschaft,  Strukturen  entstehen  und  verschwinden  zu  lassen, 
ist  ja  die  Kardinaleigenschaft  des  Protoplasmas. 

Amoeba  terricola  umkleidet  manchmal  ihre  Nahrung  mit 
einem  Ektoplasmamantel,  der  dann  mit  der  Nahrung  zusammen 
im  Endoplasma  versinkt.  Penard  hat  ferner  beobachtet,  daß 
gelegentlich  die  Fäkalien  mit  einer  Ektoplasmaschicht,  die 
sich  offenbar  im  Endoplasma  gebildet  hatte,  umkleidet  waren 
und  mit  diesem  Mantel  gemeinsam  ruckweise  ausgestoßen  wurden. 

Um  mit  den  Beobachtungen  der  Ektoplasmabewegung  ab- 
zuschließen, sei  noch  erwähnt,  daß  Amoeba  terricola  bei  ge- 
ringen Verletzungen  ihres  Ektoplasmas  die  Wundränder  nach 
innen  schlägt,  wodurch  eine  trompetenförmige  Einsenkung  ent- 
steht. Am  äußeren  Rande  verschmilzt  dann  das  Ektoplasma 
und  verschließt  die  Öffnung  wieder.  Das  eingezogene  Ekto- 
plasma wird  resorbiert.  Bei  größeren  Verletzungen,  wenn  man 
die  Amöbe  durch  Druck  zum  Platzen  gebracht  hat,  zieht  sich 
das  Ektoplasma  hinter  der  Wundfläche  ringförmig  zusammen 
und  bildet  einen  immer  schmäler  werdenden  Hals,  der  die 
ganze  verletzte  Portion  abschnürt.  Die  kleine  Wunde,  die  noch 
eingezogen  werden  kann,  wird  ohne  Substanzverlust  geschlossen, 
während  beim  Verschluß  der  großen  Wunde  beträchtliche  Teile 
der  Körpersubstanz  geopfert  werden. 

Nach  dem  Tode  des  Tieres  bildet  das  Ektoplasma  eine 
derbe,  undurchdringliche  Haut.  Penard  konnte  beobachten, 
wie  ein  Würmchen,  das  wohl  als  Ei  verschluckt  worden  war, 
nachdem  es  in  einer  abgestorbenen  Amöbe  ausschlüpfte,  sich 
vergebhch  bemühte,  seinem  allseitig  geschlossenen  Kerker  zu 
entrinnen. 

Die  Bewegungen  des  Ektoplasmas  bei  den  Wurzelfüßern, 
deren  Körnchenströmung  Max  Schnitze  so  anschaulich  schil- 
dert, ist  noch  gar  nicht  analysiert.  Ebensowenig  wissen  wir 
von  den  Endoplasmaströmen,  wie  sie  außer  bei  den  Amöben 
hauptsächlich  bei  allen  Infusorien  und  in  vielen  Pflanzenzellen 

3* 


36  Amoeba  Terricola. 

auftreten.  Über  die  Bewegung  des  Protoplasmas  in  der  Schale 
eines  Wurzelf üßers  Gromia  Brunneri  berichtet  Penard  folgende 
merkwürdige  Beobachtung:  ,,Den  gesamten  Protoplasmakörper 
sieht  man  bei  diesen  Tieren  (wenn  sie  sich  in  guter  Gesund- 
heit befinden)  in  seiner  ganzen  Masse  einer  unaufhörlichen 
kreisenden  Bewegung  unterworfen  längs  der  Innenseite  der 
Schale.  Oft  bilden  sich  entgegengesetzte  Strömungen,  die  sich 
kreuzen.  Wenn  man  durch  Druck  die  Schale  sprengt,  so  tritt 
das  Plasma  heraus  und  teilt  sich  in  eine  Anzahl  runde  Kügel- 
chen.  Von  diesen  beginnen  die  größeren  nach  einem  Moment 
der  Ruhe  sich  um  sich  selbst  zu  drehen  in  einer  langsamen 
und  dauernden  Kreisbewegung.**  Diese  rätselhafte  Kreisbewe- 
gung, von  der  man  nicht  weiß,  ob  man  sie  zu  den  Ektoplasma- 
oder  zu  den  Endoplasmaströmungen  rechnen  soll,  leitet  uns 
über  zu  den  Strömungen  im  Endoplasma  der  Amoeba  terricola. 

Auch  das  Endoplasma  scheint  bei  unserer  Amöbe  ver- 
schiedene Konsistenz  anzunehmen.  Wenigstens  sagt  Dellinger 
darüber  folgendes:  ,,Das  Entosark  muß  so  beschaffen  sein,  daß 
es  den  Partikelchen  bald  gestattet  frei  umherzuschwimmen, 
bald  sie  sicher  zusammenhält.** 

Dem  Endoplasma  der  Amöben  liegt  vor  allem  die  Auf- 
gabe ob,  durch  lokale  Kontraktionen  die  pulsierende  Vakuole 
zu.  bilden.  Die  pulsierende  Vakuole  ist  bei  Amoeba  terricola 
eine  kleine  Wasserblase,  die  von  einem  dichteren  Plasmasaum 
umgeben  ist.  Hat  die  Blase  eine  gewisse  Größe  erreicht,  so 
schmilzt  der  Plasmasaum  an  einer  Stelle  ein  und  das  Endo- 
plasma dringt  in  die  Blase,  deren  Flüssigkeit  verschwindet. 
Die  Vakuole  entsteht  aus  zahlreichen  kleinen  Bläschen,  die 
miteinander  verschmelzen.  Ihre  Lage  ist  stets  nahe  am  Hinter- 
ende des  Tieres,  hart  am  Ektoplasma  gelegen,  an  dem  sie  zu 
haften  scheint.  Nur  selten  wird  sie  durch  die  Endoplasma- 
strömung  nach  vorne  gerissen.  Dann  entsteht  an  ihrem  alten 
Platz  sofort  eine  neue  Blase.  Der  Rhythmus,  in  dem  die  Va- 
kuole entsteht  und  vergeht,  ist  stets  in  direkter  Abhängigkeit 
von  der  Geschwindigkeit,  mit  der  sich  der  ganze  Körper  fort- 
bewegt. Je  schneller  das  Tier  kriecht,  um  so  schneller  wird  der 
Rhythmus  der  Vakuole. 

Die  Endoplasmaströmungen  scheinen  bei  einer  Form  der 
Nahrungsaufnahme  eine  größere  Rolle  zu  spielen.     Rhu mb  1er 


Amoeba  Terricola.  37 

berichtet,  daß  Amoeba  terricola  häufig  Oszillarienfäden  in  sich 
aufnimmt  ohne  eine  sichtbare  Bewegung  auszuführen.  Die 
langen  Algenfäden,  die  bedeutend  länger  sind  als  die  Amöbe, 
werden  dabei  im  Innern  des  Tieres  langsam  aufgerollt.  Oft 
wird  das  Verschlucken  der  Oszillarien  durch  Bewegungen  des 
ganzen  Körpers  unterstützt,  der  sich  wie  beim  Gehen  abwech- 
selnd streckt  und  verkürzt  und  dabei  immer  neue  Strecken 
der  Algenfäden  in  sich  hineinwürgt. 

Wenn  wir  den  Bauplan  der  Amoeba  terricola  feststellen 
wollen,  so  zeigt  sich,  daß  sich  anatomisch  nur  ein  äußeres  und 
ein  inneres  Tier  unterscheiden  lassen.  Ein  Ektoplasma  und 
ein  Endoplasma  sind  immer  vorhanden.  Wenn  auch  das 
Ektoplasma  weiter  nichts  sein  mag  als  das  durch  Berührung 
mit  dem  Wasser  veränderte  Endoplasma,  so  weist  es  doch  be- 
sondere Fähigkeiten  auf.  Nur  das  Ektoplasma  hält  die  Beziehun- 
gen der  Amöbe  zur  Umgebung  aufrecht.  Nur  das  Ektoplasma  be- 
stimmt das,  was  als  Umwelt  der  Amöbe  bezeichnet  werden  kann. 
Die  ganze  biologische  Aufgabe,  die  Wirkungen  der  Umwelt  aufzu- 
nehmen und  in  entsprechende  Bewegungen  zu  verwandeln, 
liegt  dem  Ektoplasma  ob. 

Wir  haben  gesehen,  wie  man  sich  den  Mechanismus  der 
Bewegungen  vorstellen  kann.  Über  die  Aufnahme  der  Reize 
muß  noch  einiges  gesagt  werden.  Viele  Amöben  haben  die 
Fähigkeit,  sich  lang  zu  strecken  und  mit  dem  Vorderende  im 
Wasser  umherzutasten  oder  zu  wittern.  Bei  Amoeba  terricola 
läßt  sich  nur  feststellen,  daß  die  Berührung  des  Vorderendes 
mit  dem  Boden  eine  Wirkung  auf  das  Anheften  ausübt.  Offen- 
bar löst  nur  der  Reiz  eines  rauhen  Untergrundes  die  lokale 
Kontraktion,  die  zum  Haften  führt,  aus,  während  ein  glatter 
Grund  diesen  Reiz  nicht  übermittelt.  Chemische  Reize,  die 
von  Nahrungsmitteln  ausgehen,  wirken  deutlich  auf  die  Amöbe 
ein,  denn  nur  sie  sind  imstande,  das  Ektoplasma  zum  Erwei- 
chen zu  bringen,  wodurch  eine  vorübergehende  Mundöffnung 
geschaffen  wird.  Auch  vermag  Amoeba  terricola  spezifische 
Reize  auszuwählen,  denn  die  Oszillarienfäden  werden  ganz  sicher 
von  anderen  Gegenständen  unterschieden. 

Von  den  allgemeinen  Reizen  scheint  die  Schwerkraft  nicht 
auf  das  kleine  Tier  einzuwirken,  das,  in  ständig  rollender  Be- 
wegung  begriffen,    keine    dauernde    Bauch-    und    Rückenseite 


38  Amoeba  Terricola. 

aufweist  und  daher  keine  definierte  Lage  zum  Erdmittelpunkte 
anzunehmen  vermag. 

Das  Sonnenlicht  hat  auf  dieses  Dämmerungswesen  einen 
ausgesprochen  reizenden  Einfluß.  Die  Amöbe  bewegt  sich 
immer  vom  Lichte  fort,  indem  sie  ihren  lappigen  Fuß  nach 
der  beschatteten  Seite  hin  ausstreckt  und  sich  an  der  belich- 
teten Seite  zusammenzieht.  Ebenso  wirken  alle  stärkeren 
Reize :  Die  nächst  getroffene  Protoplasmaseite  zieht  sich  zu- 
sammen und  die  abgekehrte  Seite  dehnt  sich  zu  einem  Pseudo- 
podium aus.  Besonders  überraschend  ist  die  Wirkung  des 
Sonnenlichtes  auf  Oszillarien  fressende  Amöben,  wie  Rhumbler 
beobachtete.  Die  Tiere  hören  sofort  mit  dem  Zusammenrollen 
der  Algenfäden  in  ihrem  Inneren  auf  und  die  Fäden  schnurren 
wieder  auseinander,  um  wie  Borsten  überall  aus  dem  Amöben- 
körper hervorzuschauen. 

Amoeba  terricola  begnügt  sich  nicht  mit  Pflanzennahrung, 
sondern  ist  auch  ein  gefährlicher  Räuber.  Dank  ihren  lang- 
samen, unmerklich  fortschreitenden  Bewegungen  gelangt  sie, 
phne  Reize  auszusenden,  in  die  Nachbarschaft  von  Infusorien 
oder  Rädertierchen,  die  bei  der  ersten  Berührung  sofort  am 
Räuber  festkleben  und  dann  nicht  mehr  entrinnen  können. 

Die  Fähigkeit  der  Amöben,  die  Reizwirkungen  der  Um- 
gebung zu  unterscheiden,  ist  daher  keineswegs  so  gering,  wie 
es  auf  den  ersten  Blick  scheinen  mag.  Dazu  kommt  noch  die 
Fähigkeit,  den  eigenen  Körper  von  allem  Übrigen  zu  trennen. 
Nie  wird  eine  Amöbe,  wie  schon  Max  Schnitze  sagt,  mit 
einer  Amöbe  der  gleichen  Art  verschmelzen.  Während  die 
Amöben  selbst  mit  abgeschnittenen  Teilen  ihres  eigenen  Kör- 
pers, wie  Jensen  nachwies,  sich  wieder  vereinigen.  Amoeba 
terricola  läßt  gelegentlich  die  Spitze  ihres  zurückgebogenen 
Pseudopodiums  mit  dem  eigenen  Hinterkörper  verschmelzen, 
verschmilzt  aber  nie  mit  einem  fremden  Individuum.  Während 
bei  höheren  Tieren  alles  darauf  ankommt,  zu  verhindern,  daß 
sie  sich  selbst  auffressen,  hat  das  bei  den  Amöben  gar  nichts 
zu  sagen,  da  bei  ihnen  durch  die  Autophagie  keine  Struktur 
zerstört  wird.  Die  Leistungen  des  Ektoplasmas  sind,  um  es 
kurz  zusammenzufassen.  Form  Veränderungen,  Konsistenzver- 
änderungen und  Klebrig  werden.  Diese  Tätigkeiten  werden 
durch  verschiedene  Reize  abwechselnd  hervorgerufen. 


Paramaecium.  3  9 

Die  Tätigkeit  des  Endoplasmas  beschränkt  sich  auf  die 
Funktion  der  Verdauung,  der  Atmung  und  der  Sekretion,  die 
bei  einem  dauernden  Kreisstrom  ausgeführt  werden.  Die  kon- 
traktile Vakuole  sorgt  für  einen  besonderen  Säftestrom,  der 
die  kreisende  Endoplasmamasse  durchdringt. 

Betrachten  wir  jetzt  rückblickend  Amoeba  terricola,  so 
gewinnen  wir  den  Eindruck  eines  allerliebsten  Kunstwerkes, 
das  in  einer  fremden  Welt  sich  seine  eigene  Welt  geschaffen, 
in  der  sie  sich  ruhig,  wie  in  sicheren  Angeln  schwebend,  hält. 
Um  dieser  Umwelt  näher  zu  kommen,  müssen  wir  vergessen, 
welchen  Eindruck  die  Umgebung  der  Amöbe  auf  unser  Auge 
macht.  Von  all  den  bunten,  vielgestaltigen  Gegenständen,  wie 
Oszillarien,  Infusorien,  Rotatorien,  Steinchen  und  Detritus  ist 
nicht  die  Rede.  Schwache  und  starke  Reize  gibt  es,  die 
nur  der  Intensität  nach  unterschieden  werden,  mögen  sie 
mechanisch  oder  chemisch  oder  durch  das  Licht  ausgelöst  sein. 
Dazu  kommen  die  spezifischen  Reize  der  Nahrungsmittel,  die 
das  Ektoplasma  klebrig  machen  und  erweichen. 

So  hängt  die  Amöbe  in  ihrer  Umwelt  wie  an  dreierlei 
Arten  von  Gummifäden,  die  sie  ringsum  halten  und  alle  ihre 
Bewegungen  lenken  und  bestimmen.  Dieser  kleine  Ausschnitt 
der  Welt  ist  eine  in  sich  zusammenhängende  Welt,  einfacher 
und  widerspruchsloser  als  die  unsere,  aber  ebenso  planvoll, 
ebenso  künstlerisch. 


Paramaecium. 

Die  Ausbildung  einer  maschinellen  Struktur  hat  bei  den 
Infusorien  bereits  einen  großen  Schritt  vorwärts  getan.  Zwar 
zeigt  ihr  Endoplasma  noch  einen  rein  protoplasmatischen 
Charakter,  da  es  Eingeweide  entstehen  und  vergehen  läßt, 
aber  das  Ektoplasma  hat  die  übermaschinelle  Fähigkeit  freier 
Strukturbildung  verloren  und  damit  seinen  protoplasmatischen 
Charakter  eingebüßt.  Das  Ektoplasma  der  Infusorien  besitzt 
eine  feste  Gestalt  und  zeigt  eine  ganze  Reihe  durchgearbeiteter 
Strukturen. 

Als  Prototyp  der  Infusorien  wähle  ich  Paramaecium 
caudatum,  das  zu  den  besterforschten  Tieren  gehört.     Para- 


40  Paramaecium. 

maecium  caudatum  ist  ein  zartes,  durchsichtiges  Tierchen,  das 
0,1  bis  0,3  mm  lang  wird  und  die  Gestalt  einer  schräg  abge- 
stumpften Zigarre  besitzt.  Sein  spitzes  Hinterende  trägt  etwas 
längere  Wimpern  als  der  übrige  Körper.  Diesem  Umstände 
verdankt  es  seinen  Artnamen.  Vorder-  und  Hinterende  sind 
somit  deutlich  unterschieden.  Durch  eine  tiefe  Rinne,  die  vom 
Vorderende  bis  zur  Mitte  des  Körpers  verläuft  und  hier  mit 
der  Mundöffnung  endigt,  erhält  die  Zigarre  eine  Mundseite,  der 
eine  Rückenseite  gegenüberhegt.  Damit  sind  ferner  eine  rechte 
und  eine  linke  Körperseite  gegeben,  was  die  anatomischen  Be- 
stimmungen sehr  erleichtert. 

Der  ganze  Körper  ist  mit  Wimpern  (Zilien)  bedeckt.  Sie 
sind  das  Fortbewegungsmittel  der  Paramaecien.  Im  Ekto- 
plasma  befinden  sich  feine  Kanäle,  die  schräg  von  vorn  nach 
hinten  verlaufen  und  den  ganzen  Körper  wie  zarte  Längsreifen 
umfassen.  In  diesen  Kanälen  liegen  lange,  dünne  Muskelfäden, 
welche  die  wohldefinierten  Gestalts  Veränderungen  hervorbringen, 
während  das  übrige  Ektoplasma  überall  eine  diffuse  Kontrak- 
tihtät  besitzt. 

„Der  elastische  Körper  eines  Infusors,"  schreibt  Bütschli, 
„kann  nicht  etwa  mit  einem  soliden  Gummiball,  sondern 
nur  mit  einer  von  Flüssigkeit  erfüllten  Blase  mit  relativ 
dünner,  elastischer  Wand  verglichen  werden."  Die  Form 
dieser  Blase  wird  durch  die  Muskelfäden  in  geringem  Umfang 
reguliert. 

Das  Wimperspiel  ist  von  Wallgreen  anschaulich  be- 
schrieben worden:  ,,In  ihren  Kontraktionsphasen  schlagen  die 
Wimpern  wie  bekannt  kräftig  nach  hinten  und  es  entsteht 
das  zierhche  und  regelmäßige  Wimperspiel,  welches  den  Ein- 
druck macht,  als  ob  regelmäßige  Wellen  über  die  Wimper- 
reihen hinwegliefen.  Solange  die  Infusorien  frei  schwimmen, 
kann  man  dieses  rastlose  Wimperspiel  sehen.  Nur  wenn  die 
Paramaecien  tigmotaktisch  (durch  Berührung)  beeinflußt  sind, 
ist  die  Wimperbewegung  verlangsamt  oder  ganz  zum  Stillstand 
gebracht.  Durch  dieses  Wimperspiel  wird  der  Körper  durch 
das  Wasser  vorwärts  getrieben." 

Die  Bewegungen  von  Paramaecien  sind  von  Jennings 
in  einer  Reihe  mustergültiger  Arbeiten  analysiert  worden,  der 
diesen   Tieren   in   seinem    schönen  Buche  „Behavior   of   lower 


Paramaecium.  41 

organisms*'    eine    monographische    Darstellung    gewidmet    hat. 
Aus  ihr  schöpfe  ich  die  folgenden  Daten. 

Wäre  der  Körper  von  Paramaecium  mit  Wimpern  bedeckt, 
die  alle  gleich  stark  von  vorne  nach  hinten  schlügen,  so  müßte 
das  Tier  geradhnig  nach  vorne  schwimmen.  Nun  schlagen  aber 
die  Wimpern  der  Mundrinne  stärker  als  die  übrigen  Wimpern. 
Dadurch  wird  die  geradlinige  Fortbewegung  zu  einer  kreisför- 
migen, wie  ein  Boot  im  ICreise  schwimmen  muß,  wenn  sich 
die  Ruderer  auf  der  einen  Seite  mehr  anstrengen  als  auf  der 
anderen.  Da  bei  Paramaecium  auf  der  Mundseite  stärker  ge- 
rudert wird  als  auf  der  Rückenseite,  so  wird  beim  Kreisen 
dauernd  nach  der  Rückenseite  eingebogen.  Die  Mundseite 
schaut  immer  nach  der  Peripherie,  der  Rücken  immer  nach 
dem  Zentrum  des  Kreises. 

,,Wie  soll  ein  unsymmetrischer  Organismus",  fragt  Jen- 
nings,  ,,ohne  Augen  und  andere  Sinnesorgane,  die  ihn  durch 
Einstellung  auf  entfernte  Objekte  leiten  können,  einen  be- 
stimmten Kurs  beibehalten  durch  das  pfadlose  Wasser,  in  welchem 
es  von  seiner  Bahn  nach  rechts  oder  links,  nach  oben  oder 
unten  und  in  jeder  dazwischenliegenden  Richtung  abweichen 
kann?  Es  ist  wohl  bekannt,  daß  Menschen  unter  ähnlichen, 
aber  einfacheren  Umständen  ihren  Kurs  nicht  beizubehalten 
vermögen.  In  der  pfadlosen,  schneebedeckten  Prärie  bewegt 
sich  der  Wanderer  immer  im  Kreise,  wie  sehr  er  sich  auch 
anstrengen  mag  einen  geraden  Kurs  beizubehalten  —  obgleich 
er  bloß  nach  rechts  oder  links  abirren  kann  und  nicht  nach 
oben  und  unten,  wie  im  Wasser." 

Und  doch  vermag  Paramaecium  trotz  seiner  ausgesprochenen 
Neigung  zum  Kreisschwimmen  eine  gerade  Richtung  im  Wasser 
beizubehalten.  Dies  wird  ihr  ermögHcht  durch  eine  dauernde 
Drehung  um  die  Längsachse  beim  Schwimmen.  Die  Wimpern 
schlagen  in  Wirklichkeit  nicht  genau  von  vorne,  nach  hinten, 
sondern  in  schräger  Richtung  von  Hnks  vorne  nach  rechts 
hinten.  Dadurch  wird  der  Körper  gleichzeitig  nach  vorne  ge- 
trieben und  um  seine  eigene  Längsachse  gedreht. 

Denken  wir  uns,  um  die  Wirkung  dieser  doppelten  Be- 
wegung zu  verstehen,  einen  AugenbUck  in  Paramaecium  hinein: 
Erst  werden  wir  von  den  mächtigen  Mundwimpern  der  Peri- 
pherie eines  Kreises  entlang  getrieben,  dessem  Mittelpunkt  wir 


42  Paramaecium. 

dauernd  den  Rücken  zuwenden.  Zu  gleicher  Zeit  beginnen  die 
übrigen  Wimpern  unseren  Körper  um  seine  Längsachse  zu 
drehen.  Diese  Drehung  verschiebt  die  Mundwimpern  nach 
rechts.  Das  bedeutet  aber  eine  Verlegung  des  Mittelpunktes 
unserer  Kreisbahn  nach  hnks,  weil  wir  dem  Schlag  der  starken 
Mundwimpern  unter  allen  Umständen  gehorchen  müssen.  Nun 
beginnen  wir  um  einen  Mittelpunkt  zu  kreisen,  der  uns  dauernd 
nach  Unks  hin  entgleitet.  Dadurch  wird  unsere  kreisförmige 
Schwimmbahn  zu  einer  Spirale.  Während  wir  diese  Spirale 
beschreiben,  führen  wir  gleichzeitig  drei  Bewegungen  aus.  Wir 
schwimmen  der  Hauptsache  nach  nach  vorne,  werden  aber 
zugleich  von  den  Mundwimpern  um  die  Querachse  und  durch  die 
Schrägstellung  der  Körperwimpern  um  die  Längsachse  gedreht. 
Unsere  Körperachsen  stehen  aber,  weil  sie  miteinander  ana- 
tomisch verbunden  sind,  dauernd  senkrecht  aufeinander.  An 
jeder  Stelle  des  Kreises,  den  wir  durchschwimmen,  während 
wir  uns  einmal  um  unsere  Querachse  drehen,  zwingt  uns  die 
Drehung  um  die  Längsachse  in  eine  Ebene  hinein,  die  senk- 
recht auf  dem  durchschwommenen  Kreise  steht.  Auf  der 
Peripherie  eines  Kreises  kann  nur  ein  Zylindermantel  senkrecht 
stehen.  Unsere  Bahn  wird  sich  daher  in  Spiralen  bewegen, 
die  sich  alle  um  einen  Zylinder  winden.  Bei  jeder  vollen 
Windung  haben  wir  uns  einmal  um  unsere  Querachse  und  ein- 
mal um  unsere  Längsachse  gedreht. 

Der  Zylinder  kann  weit  oder  eng  sein,  die  Spiralwindun- 
gen können  nahe  aneinander  liegen  oder  gestreckt  sein,  stets 
bildet  die  Längsachse  des  ZyHnders  eine  gerade  Linie.  Die 
Längsachse  des  Zylinders  gibt  aber  die  Richtung  oder  den  Kurs 
an,  den  Paramaecium  im  pfadlosen  Wasser  innehält.  Auf  diese 
Weise  wird  die  senkrechte  Stellung  der  Körperachsen  zueinander 
zur  Erzeugung  einer  geradlinigen  Bewegungsrichtung  verwertet. 

Jennings  macht  darauf  aufmerksam,  daß  die  Spiralbahn 
dem  Tiere  noch  besondere  Vorteile  bietet,  weil  sie  ihm  Gelegen- 
heit gibt,  von  allen  Seiten  Wasser  herbeizustrudeln  und  auf 
diese  Weise   allseitig  ,, Proben"   seinem  Medium   zu  entnehmen. 

Eine  dieser  Proben  möge  einen  chemischen  Reiz  enthalten, 
dann  ändert  sich  das  Benehmen  von  Paramaecium  in  sehr 
charakteristischer  Weise:  Sobald  der  Reiz  einsetzt,  schwimmt 
das    Tier    eine  Strecke    rückwärts,    stellt    sein   Vorderende    auf 


Paramaeciiuu.  43 

einen  neuen  Kurs  ein  und  schwimmt  wieder  vorwärts.  Dieses 
ist  die  einzige  Antwort,  die  Paramaecium  kennt  und  die  un- 
weigerlich auf  jeden  Reiz  erfolgt.  Jennings,  dem  wir  die 
Kenntnis  dieser  Funktion  verdanken,  hat  sie  ursprünglich 
„Motorreflex"  genannt.  Seitdem  er  die  Reflexlehre  völlig  ver- 
bannt hat,  spricht  er  von  einer  ,, Vermeidungsreaktion".  Die 
Bezeichnung  tut  nichts  zur  Sache.  Die  aus  drei  Phasen  be- 
stehende Antwort  bildet  eine  einheitUche  Handlung,  die  mit 
relativ  einfachen  Mitteln  den  größten  Erfolg  erzielt.  Wären 
die  beiden  Enden  von  Paramaecium  anatomisch  und  physio- 
logisch einander  gleich,  so  könnten  sie  bei  jeder  Reizung  ihre 
Plätze  tauschen  und  das  Tier  auf  noch  einfachere  Weise  vom 
Reiz  fortführen.  Paramaecium  besitzt  aber  ein  wohl  aus- 
gebildetetes  und  durch  hohe  Empfindlichkeit  ausgezeichnetes 
Vorderende,  das  nicht  dauernd  seinen  Platz  abtreten  kann. 
Daher  muß  das  Vorderende,  wenn  das  Tier  dem  Reiz  aus- 
weichen soll,  in  eine  neue  Bahn  gelenkt  werden.  Das  geschieht 
durch  die  drei  Tempi :  zurück  —  seitwärts  —  vorwärts.  Wir 
werden  bei  vielzelligen  Tieren  auf  die  gleiche  dreiphasige  Aus- 
weichungsreaktion stoßen,  die  dort  nur  mit  anderen  Mitteln 
ausgeführt  wird. 

Die  Mittel,  die  Paramaecium  anwendet,  sind  besonders 
interessant.  In  der  ersten  Phase  schlagen  alle  Wimpern  in 
umgekehrter  Richtung,  das  Schwanzende  wird  zum  Vorderende 
und  das  Tier  legt  eine  Strecke  seiner  eigenen  Bahn  wieder 
zurück.  Dann  schnappen  die  Wimpern  der  rechten  Körper- 
hälfte wieder  in  die  normale  Schlagrichtung  ein,  während  die 
Wimpern  der  linken  Körperhälfte  in  umgekehrter  Richtung 
weit  erschlagen.  Dadurch  heben  sie  sich  gegenseitig  in  ihrer 
Wirkung  auf  und  das  Tier  steht  still.  Allsobald  setzen  aber 
die  Mundwimpern  mit  ihrer  normalen  Schlagrichtung  energisch 
ein  und  werfen  das  stillstehende  Tier  rückwärts  um.  Würden 
jetzt  auch  die  Wimpern  der  linken  Seite  richtig  schlagen,  so 
müßte  das  Tier  in  einer  neuen  Richtung  da  vonschwimmen. 

Bei  schwachen  Reizen  verläuft  die  Reaktion  auch  schein- 
bar nach  diesem  einfachen  Schema.  Jennings  gelang  es  je- 
doch nachzuweisen,  daß  sich  zwischen  dem  Umfallen  und  dem 
Fortschwimmen  noch  eine  Phase  einschiebt,  die  nur  bei  starkem 
Reiz  zur  vollen  Entfaltung  kommt,  bei  schwachem  Reiz  jedoch 


44  Paramaecium. 

sich  leicht  der  Beobachtung  entzieht.  Ist  Paramaecium  durch 
den  Schlag  der  Mundwimpern  umgeworfen  worden,  so  bringt 
das  Überwiegen  des  Wimperschlages  der  einen  Körperhälfte 
über  die  andere  eine  leichte  Drehung  um  die  Längsachse  her- 
vor und  diese  veranlaßt  das  stillstehende  Tier  mit  dem  Vorder- 
ende einen  Kreis  zu  beschreiben,  während  das  Hinterende  fest- 
steht. Das  ganze  Tier  beschreibt  dabei  die  Form  eines  steilen 
oder  flachen  Trichters,  je  nachdem  ob  es  nur  wenig  oder  sehr 
weit  rücküber  gefallen  war. 

Während  dieser  Bewegung  hat  Paramaecium  die  Gelegen- 
heit, von  verschiedenen  Seiten  Proben  des  Mediums  zu  er- 
halten, und  sobald  das  Wasser  keinen  Reizstoff  mehr  enthält, 
ist  in  dieser  Richtung  die  Passage  frei.  Das  bezieht  sich  auf 
die  chemischen  Reize.  Bei  sehr  starken  mechanischen  Reizen 
kommt  es  vor,  daß  der  allzu  heftig  einsetzende  Schlag  der 
Mundwimpern  das  stillstehende  Tier  vollkommen  umwirft,  wo- 
rauf es  die  Form  des  allerflachsten  Trichters  beschreibt,  das 
heißt,  sich  mehrmals  in  einer  Ebene  um  sich  selber  dreht,  um 
dann  in  gerader  Linie  fortzuschwimmen,  wobei  es  gelegentlich 
direkt  auf  den  reizenden  Gegenstand  zustoßen  kann. 

Wie  man  daraus  sieht,  ist  die  Stärke  oder  die  Dauer  des 
Reizes  das  einzige  Regulativ  für  die  schwächere  oder  stärkere 
Ausbildung  der  verschiedenen  Phasen  des  Reflexes.  Wenn  wir 
uns  die  Wirksamkeit  der  drei  anatomischen  Faktoren  in  den 
verschiedenen  Phasen  des  Reflexes  klarmachen  wollen,  so 
brauchen  wir  nur  einen  Blick  auf  die  nebenstehende  Tabelle 
zu  werfen.  L  bedeutet  in  ihr  die  hnken,  R  die  Wimpern  der 
rechten  Körperhälfte,  M  die  Mundwimpern. 

1.  Vorwärtsschwimmen  =  L  -j-,  R  ~{-,  M  -f-,  Reiz. 

2.  Rückwärtsschwimmen  =  L — ,  R — ,  M — . 

3.  StiUstand  =- L  — ,  R +,  MO. 

4.  Umfallen  =  L— ,R-f,M4-. 

5.  Rotieren  in  Trichterform  =  L  — ,  <C  ^  H~>  M  -(-• 

6.  Vorwärtsschwimmen  =  L  -|-,  R  -)-,  M  -)-. 

Der  Vorgang  ist  also  ein  ganz  einfacher.  Auf  den  Reiz  hin 
schlagen  erst  alle  Wimpern  in  die  umgekehrte  Richtung  und 
kehren  dann  in  bestimmter  Reihenfolge  zur  normalen  Schlag- 
führung zurück:    Erst  die  Wimpern  der  rechten  Körperhälfte, 


Paramaecium.  45 

dann  die  Mundwimpern  und  schließlich  die  Wimpern  der  linken 
Seite. 

Die  Bewegung  der  einzelnen  Wimper  geht  währenddessen 
unbehindert  weiter,  sie  pendelt  immer  in  der  gleichen  Ebene  hin 
und  her.  Da  die  Wimpern  auf  einer  leichtgewölbten  Fläche 
stehen,  so  haben  sie  die  Möglichkeit,  einen  vollen  Halbkreis  zu 
beschreiben.  Diese  Möglichkeit  wird  aber  niemals  ausgenutzt. 
Die  schwingende  Wimper  beschreibt  immer  nur  die  eine 
oder  die  andere  HäKte  des  Halbbogens,  d.  h.  einen  Viertelkreis. 
Der  Schlag  erfolgt  immer  aus  der  senkrechten  Stellung  zur 
tangential  geneigten  (von  oben  nach  unten)  und  von  der 
geneigten  Stellung  zur  senkrechten  zurück  (von  unten  nach 
oben).  Die  Ruhelage,  um  die  der  Pendel  schvvingt,  befindet 
sich  demnach  einen  Achtelkreisbogen  von  der  Unterlage 
entfernt. 

Die  Wimper  unterscheidet  sich  aber  von  einem  Pendel 
darin,  daß  sich  die  beiden  Schlagphasen  in  ihrer  Geschwindig- 
keit nicht  gleichen.  Immer  ist  die  Phase  des  Schiagens,  die 
von  oben  nach  unten  führt,  fünfmal  so  schnell  als  die  ent- 
gegengesetzte. Die  schnelle  Phase  des  Schlages  ist  die  wirk- 
same, ist  sie  von  vorn  nach  hinten  gerichtet,  so  schwimmt  das 
Tier  vorwärts,  ist  sie  dagegen  von  hinten  nach  vorne  gerichtet, 
so  schwimmt  das  Tier  rückwärts.  Es  ändert  die  vom  Reiz 
hervorgerufene  Erregung  am  Schlagtypus  nichts,  sondern  beein- 
flußt bloß  seine  Richtung.  Damit  stimmt  auch  die  oft  wieder- 
holte Erfahrung  überein,  daß  einzelne  Wimpern,  die  vom 
Körper  losgelöst  waren,  unbekümmert  weiter  schlugen. 

Es  muß  zwei  Ruhestellungen  der  Wimpern  für  die  beiden 
Richtungen  des  Schiagens  geben.  Beim  Vorwärtsschwimmen 
ist  die  Wimper  in  der  Ruhestellung  nach  hinten  geneigt,  beim 
Rückwärtsschwimmen  dagegen  nach  vorne.  Es  tritt  infolge 
der  Reizung  bloß  ein  Wechsel  der  Ruhestellung  ein,  alles 
übrige  bleibt  sich  gleich. 

Da  die  Wimper,  sich  selbst  überlassen,  weiter  schlägt,  muß 
sie  sowohl  Kontraktionsvorrichtungen  wie  Erregungsbahnen  bei 
sich  beherbergen.  Um  die  Schlagphase  von  oben  nach  unten 
fünfmal  so  schnell  erfolgen  zu  lassen,  muß  irgendeine  federnde 
Vorrichtung  vorhanden  sein,  die  wir  nicht  kennen.  Möglich 
ist  es,  daß  die  Erregungen,  die  infolge  von  Reizung  eintreten, 


46  Paramaecium. 

und  die  Ruhelage  der  Wimper  ändern,   auch   auf  die  federnde 
Vorrichtung  wirken  und  die  Feder  umstellen. 

Leider  wissen  wir  von  dem  feineren  Bau  der  Wimper- 
haare nichts,  als  daß  sie  im  Leben  homogene  Stäbchen  sind, 
die  mit  einer  kugeligen  Anschwellung  im  Ektoplasma  sitzen 
und  nach  Durchbohrung  der  feinen  Oberhaut  des  Tieres  frei 
im  Wasser  endigen.  Einer  der  besten  Kenner  der  Wimper- 
apparate bei  den  Infusorien,  H.  N.  Mayer,  schreibt:  ,,Die 
Zilien  der  Infusorien  stellen  äußerst  feine,  haarartige  Fädchen 
von  plasmatischer  Substanz  vor  und  sind  als  kontraktile  Pri- 
mitivfibrillen  oder  Myofibrillen  aufzufassen." 

Pütt  er  meint,  ,,daß  der  typische  Unterschied  der  Zihen- 
bewegung  —  in  des  Wortes  weitester  Bedeutung  —  gegenüber 
der  Pseudopodienbewegung  wesentUch  in  der  Ausbildung  zweier 
verschiedenwärtiger  Substanzen  innerhalb  der  Bewegungsorga- 
nellen zu  suchen  ist,  einer  stützenden  und  einer  bewegenden. 
,,Die  Stützsubstanz  ist  in  der  Achse  der  Wimper  zu  suchen, 
die  von  flüssigem  Protoplasma  umgeben  sein  soll.  Pütter 
glaubt:  ,,daß  die  Flimmerbewegung  durch  einfaches  hyalines 
Protoplasma  an  der  ZiHen Oberfläche  zustande  kommen  muß." 
Mit  anderen  Worten,  daß  die  Verschiebung  einer  Flüssigkeit 
längs  eines  Stabes  diesen  Stab  zu  biegen  vermag. 

Obgleich  alle  Wimpern  in  selbständigem  Rhythmus  weiter- 
schlagen, wenn  sie  vom  Körper  losgetrennt  sind,  so  stören  sie 
sich  doch  niemals,  solange  sie  sich  im  gemeinsamen  Verbände 
befinden.  Da  die  Wellen  des  Wimperschlages  in  gleichmäßigem 
Zuge  von  vorne  nach  hinten  gehen,  wie  die  Wellen  über  ein 
wogendes  Ährenfeld,  so  wird  man  zunächst  an  eine  mechanische 
Beeinflussung  denken,  weil  die  Ähren  in  ihrer  Bewegung  sich 
durch  den  Druck  gegenseitig  regulieren.  Die  mechanische  Be- 
einflussung ist  jedoch  nicht  die  einzige,  wie  sich  aus  einer  Be- 
obachtung von  Jennings  ergibt,  der  nachweisen  konnte,  daß 
die  Paramaecien,  wenn  sie  an  einen  weichen,  nachgiebigen 
Gegenstand  stoßen,  den  Schlag  ihrer  Körperwimpern  einstellen. 
Besonders  wirksam  ist  die  Berührung,  wenn  sie  zwei  Körper- 
stellen zugleich  trifft.  Dann  bleibt  das  bewegliche  Tierchen 
still  sitzen  und  nur  die  Mundwimpern  sprudeln  das  Wasser 
durch  die  Mundrinne  hindurch. 

Das  beweist,  daß  alle  Körperwimpem  durch  ein  allgemeines 


Paramaecium.  47 

Netz  von  Erregungsbahnen  miteinander  verbunden  sind.  Während 
des  normalen  Schlages  kreisen  die  Erregungen  der  einzelnen 
Wimpern  in  geordnetem  Rhythmus  hin  und  her.  Werden  einige 
Wimpern  am  Schlagen  verhindert,  so  wird  dieser  Rhythmus  der 
Erregungskreise  einseitig  unterbrochen  und  die  Erregung  ergießt 
sich  in  das  allgemeine  Netz,  überall  die  Ausbildung  der  normalen 
Erregungskreise  hindernd,  wie  bei  der  Ausbildung  der  Chlad- 
nischen  Klangfiguren  die  geringste  Störung  den  Rythmus  aufhebt. 

Soweit  kann  die  Zerlegung  des  Motorreflexes  geführt  wer- 
den. Es  erübrigt  noch,  die  Verwendung  des  Reflexes  zu  be- 
trachten. Die  Art  des  Außenreizes  ist  ganz  gleichgültig  für 
den  Reflex,  nur  muß  das  Tier  an  der  vorderen  Hälfte  gereizt 
werden.  Eine  Reizung  des  Hinterendes  ruft  bloß  eine  be- 
schleunigte Vorwärtsbewegung  hervor.  Besonders  leicht  erreg- 
bar ist  das  Vorderende  und  die  Mundöffnung.  Die  mechanische 
Behinderung  des  Wimperschlages  an  einer  oder  mehreren 
Stellen  des  Körpers  bringt  die  Körperwimpern  zur  Ruhe.  Das 
sind  die  gesamten  Fähigkeiten  von  Paramaecium,  mit  denen 
es  sein  tägliches  Leben  bestreiten  muß.  Die  Umwelt  von 
Paramaecium  beschränkt  sich  auf  zwei  Dinge:  Flüssigkeit  mit 
Reiz  und  Flüssigkeit  ohne  Reiz,  wobei  der  Reiz  chemisch  oder 
mechanisch  sein  kann.  Die  Wimpern  sind  nur  auf  Flüssigkeiten 
angepaßt  und  die  Rezeptoren  behandeln  alle  Reize  ganz  gleich- 
mäßig, so  daß  man  von  einer  Umwelt  mit  nur  einer  einzigen 
Reizart  reden  kann. 

Der  Unterschied  zwischen  der  Umgebung  der  Infusorien, 
wie  sie  sich  unseren  Sinnesorganen  darstellt  und  der  Umwelt, 
die  für  die  Rezeptoren  der  Paramaecien  existiert,  erscheint  uns 
so  außerordentlich  groß  zu  sein,  daß  es  uns  schwer  fällt,  zu 
begreifen,  wie  sie  im  Leben  von  Paramaecium  zur  Deckung 
kommen.  Betrachten  wir  die  Pfütze,  in  der  Paramaecien 
leben,  so  wirken  alle  die  verschiedenen  Gegenstände,  wie 
Gräser,  Blätter,  Steine  usw.,  als  gleichartige  Reize,  weil  das 
Paramaecium,  sobald  es  an  sie  anstößt,  den  gleichen  Motorreflex 
voUführt,  der  ihm  immer  einen  neuen  Kurs  gibt.  Auf  diese 
Weise  kommt  das  Tier  dazu,  nach  und  nach  die  ganze  Pfütze 
im  Zickzack  zu  durchschwimmen.  Ebenso  wirken  verschiedene 
chemische  Reize,  die  als  Zersetzungsprodukte  der  Pflanzen  auf- 
treten können. 


43  Paramaecium. 

Immerhin  würde  durch  diese  rein  abstoßende  Wirkung  der 
Umwelt  Paramaecium  nicht  zu  seinem  Ziel,  d.  h.  seiner  Nahrung 
gelangen,  die  aus  allerhand  Bakterien  besteht,  welche  sich  an 
verwesenden  Pflanzenresten  sammeln,  wenn  nicht  noch  ein 
innerer  Faktor  vorhanden  wäre,  der  es  bewirkt,  daß  die  Para- 
maecien  von  den  Stoff  Wechselprodukten  ihrer  Nahrungsmittel 
wie  in  einer  Fischreuse  gefangen  werden.  Paramaecium  zeigt 
sich  nämlich  befähigt,  seine  Erregbarkeitsschwelle  sofort  den 
veränderten  Bedingungen  der  Umgebung  anzupassen.  Setzt  man 
z.  B.  Paramaecien  in  eine  schwache  Kochsalzlösung,  so  werden 
sie  in  dieser  herumschwimmen  wie  in  destiUiertem  Wasser,  und 
niemand  wird  ahnen  können,  daß  die  Salzlösung  ein  Reiz 
werden  kann.  Kaum  haben  sie  sich  aber  wieder  an  destilliertes 
Wasser  gewöhnt,  so  vermeiden  sie  jede  Salzlösung  durch  den 
Motorreflex.  Hat  man  in  der  Mitte  eines  Objektträgers  einen 
Tropfen  schwach  angesäuerten  destillierten  Wassers  gebracht, 
und  in  Kreisen  ringsum  erst  destilliertes  Wasser,  dann  Salz- 
lösungen in  steigender  Konzentration  hinzugefügt,  so  werden 
die  Paramaecien,  die  sich  anfangs  im  äußersten  Ringe  in  der 
konzentriertesten  Salzlösung  befinden,  bei  ihrem  Zickzack- 
schwimmen auch  in  die  inneren  Ringe  gelangen.  Dort  sind 
sie  sofort  gefangen,  denn  der  höhere  Salzgehalt  wirkt,  sobald 
sie  sich  an  die  schwache  Lösung  gewöhnt  haben,  reflexaus- 
lösend. 

Dagegen  ruft  das  Eintreten  in  die  schwächere  Lösung  gar 
keinen  Reflex  hervor.  So  sammeln  sich  immer  mehr  Para- 
maecien in  der  Mitte  an,  zu  der  sie  unbehindert  gelangen 
können,  während  sie  vom  nächsten  Ring  bereits  abgestoßen 
werden. 

Die  schwache  Säure  ist  das  Optimum.  Ihr  gegenüber  ist 
jede  andere  Flüssigkeit,  selbst  destilliertes  Wasser,  ein  Reiz. 
In  der  schwachen  Säure  sammeln  sich  binnen  kurzem  alle 
Paramaecien  an.  Nun  sezernieren  die  Bakterien,  die  das 
Hauptnahrungsmittel  der  Paramaecien  bilden,  immer  ein  wenig 
Kohlensäure  und  werden  dadurch  zu  einer  chemischen  und 
mechanischen  Falle  für  die  Paramaecien.  Denn  die  herbeige- 
lockten Paramaecien  heften  sich  am  GaUertklumpen  der  Fäulnis- 
bakterien an,  sobald  sie  ihn  mit  ihren  Wimpern  berühren. 
Die  Mundwimpern  treiben  dann   die  Bakterien  dem  Mund  zu. 


Paramaecium.  49 

Da  die  Paramaecien  selbst  auch  Kohlensäure  produzieren, 
so  bilden  die  festsitzenden  unter  ihnen  für  die  freischwimmen- 
den ein  Anlockungsmittel.  Bis  die  Konzentration  der  Kohlen- 
säure so  stark  wird,  daß  diese  selbst  wiederum  zum  Reiz  wird 
und  die  Tiere  mittels  des  Motorreflexes  auseinander  treibt. 

Da  sowohl  wärmeres  wie  kälteres  Wasser,  als  auch  sauer- 
stoffarmes Wasser  als  Reiz  wirken,  erhält  Paramaecium  von 
allen  Seiten  Direktiven,  die  es  immer  zwingen,  zu  den  Orten 
mit  den  günstigsten  Lebensbedingungen  zurückzukehren. 

Viele  Paramaecien  zeigen  ferner,  sobald  sie  senkrecht  ab- 
wärts zu  schwimmen  anfangen,  einen  ausgesprochenen  Motor- 
reflex. Dieser  Reflex  tritt  nur  bei  Tieren  auf,  die  reichlich 
Nahrung  beherbergen.  Er  fehlt  dagegen  den  hungernden  Tieren. 
Ferner  wird  der  Reflex  sehr  stark,  wenn  man  wohlgenährte 
Tiere  zuvor  leicht  zentrifugiert  hat.  Beim  Zentrifugieren  stellen 
sich  die  Tierchen  mit  ihrem  schweren  Vorderende  nach  außen. 
Im  flüssigen  Endoplasma  werden  infolgedessen  alle  spezifisch 
schwereren  Teile  in  das  Vorderende  des  Tieres  getrieben.  Aus 
diesen  Tatsachen  hat  man  den  Schluß  gezogen,  daß  bei  Para- 
maecium die  Nahrungsmittel  als  Orientierungsorgane  dienen 
können,  indem  sie  bei  senkrechter  Stellung  des  Körpers  mit 
abwärtsgeneigtem  Vorderende  der  Schwere  nach  herabsinken, 
das  Vorderende  reizen  und  so  den  Motorreflex  hervorrufen,  der 
das  Tier  in  eine  andere  Lage  bringt.  Dadurch  wird  bewirkt, 
daß  das  Tier  die  Oberfläche  der  Pfütze,  solange  noch  Nahrung 
in  ihr  vorhanden  ist,  nicht  verläßt. 

So  ruht  Paramaecium  in  seiner  Umwelt  sicherer  als  ein 
Kind  in  der  Wiege.  Überall  von  den  gleichen  wohltätigen 
Reizen  umgeben,  die  es  vor  Irrfahrten  schützen  und  ihm  immer 
wieder  die  Wege  weisen  zu  den  Quellen  seiner  Nahrung  und 
seines  Wohlbefindens.  Paramaecium  ist  so  in  die  Welt  hinein- 
gebaut, daß  alles  ihm  zum  Heile  ausschlagen  muß.  Tier  und 
Umwelt  bilden  zusammen  eine  geschlossene  Zweckmäßigkeit. 
Auf  eine  sehr  lehrreiche  Ausnahme  werden  wir  später  zu 
sprechen  kommen. 

Werfen  wir  einen  Blick  auf  Paramaecium,  während  es 
seine  Nahrung  einnimmt,  so  eröffnen  sich  wieder  eine  Fülle 
bedeutsamer  Erscheinungen.  Von  der  Mundöffnung,  die  am 
unteren    Ende    der   Mundrinne    sitzt,    führt    eine  S-förmig    ge- 

V.  UexküU,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  4 


50  Paramaecium. 

bogene  kurze  Speiseröhre  nach  hinten  und  endigt  mit  schräger 
Fläche  im  flüssigen  Endoplasma.  In  der  Speiseröhre  befindet 
sich  eine  unduHerende  Membran,  deren  Aufgabe  es  ist,  die  in 
den  Mund  gestrudelten  Nahrungspartikelchen  weiter  zu  be- 
fördern. Nach  den  Beobachtungen  von  Nierenstein  muß  man 
annehmen,  daß  sich  ,,das  den  Grund  des  Ösophagus  bildende 
Endoplasma  nach  innen  halbkugelig  aushöhlt  und  so  die 
Flüssigkeit  in  Form  eines  Tropfens  hineinzieht  oder  schlingt. 
Beim  Abschnüren  des  Nahrungstropfens  (Nahrungsvakuole) 
zieht  sich  das  Protoplasma  um  die  innere  Öffnung  der  Speise- 
röhre konzentrisch  zusammen  und  bildet  eine  feine  Lamelle, 
welche  die  Öffnung  abschließt,  worauf  die  Bildung  einer  neuen 
Nahrungsvakuole  einsetzt.  Der  abgeschnürte  Na hrungs tropfen 
wird  indessen  von  der  Endoplasmaströmung  ergriffen  und  fort- 
geführt." ,,Bei  Paramaecium  bursaria  zieht,  nach  Bütschli, 
der  Strom  auf  der  rechten  Körperhälfte  nach  hinten,  um  auf 
der  linken  wieder  nach  vorne  zu  eilen."  Diesem  Strom  folgt 
anfangs  der  Nahrungstropfen  und  umkreist  im  Inneren  das 
ganze  Tier.  Später  kreist  er  nur  im  Hinterende  des  Tieres 
und  schließlich  findet  er  die  Afteröffnung,  die  mitten  zwischen 
Mund  und  Hinterende  gelegen  ist,  und  entleert  dort  seinen 
Inhalt. 

Aber  der  Inhalt  hat  sich  im  Verlauf  dieser  Wanderung 
sehr  verändert.  Anfangs  besteht  der  Nahrungs tropfen  aus 
feinen  im  Wasser  suspendierten  Körpern  (Bakterien,  Flagel- 
laten,  Detritus  usw.),  die  durch  die  Tätigkeit  der  Mundwimpern 
und  der  undulierenden  Membran  die  Speiseröhre  hinabgelangten. 
Sobald  der  Nahrungstropfen  im  Körper  zu  wandern  beginnt, 
treten  in  ihm  die  ersten  Veränderungen  auf.  Seine  Inhalts- 
flüssigkeit wird  sauer,  ,,die  saure  Reaktion,  schreibt  Nieren- 
stein, beruht  auf  der  Anwesenheit  von  Mineralsäure  im 
Vakuoleninhalte.  Die  Abscheidung  der  Mineralsäure  geht  in 
jedem  Falle  so  weit,  daß  nicht  nur  die  in  der  Vakuole  ent- 
haltenen Stoffe  abgesättigt  werden,  sondern  daß  ein  Über- 
schuß an  Mineralsäure  auftritt,  denn  in  jeder  Nahrungsvakuole 
von  Paramaecium  ist  innerhalb  einer  bestimmten  Periode  freie 
Mineralsäure  regelmäßig  nachzuweisen". 

Durch  die  freie  Säure  wird  der  lebendige  Inhalt  der 
Nahrungsvakuole   abgetötet,   worauf  er  sich   zu   einem   kleinen 


Paramaecium.  5J^ 

Klumpen  zusammenballt.  Dann  verschwindet  die  saure  Reak- 
tion in  den  Vakuolen  und  ihr  Inhalt  wird  alkalisch.  In- 
zwischen haben  sich  feine  Körnchen  aus  dem  Endoplasma 
rings  um  den  Nahrungstropfen  angesammelt,  die,  nachdem  der 
Tropfen  seine  saure  Reaktion  verloren  hat,  einzuwandern  be- 
ginnen. Mit  ihrem  Erscheinen  beginnt  die  eigentliche  Ver- 
dauung. Daher  nimmt  man  an,  daß  sie  tryptische  Verdauungs- 
fermente enthalten.  Der  flüssige  Inhalt  des  Tropfens  nimmt 
gleichfalls  ab  und  zu.  Dadurch  wird  die  Aufnahme  der  ver- 
flüssigten Nahrung  in  das  Endoplasma  bewerkstelHgt.  SchUeß- 
lich  gelangt  die  verkleinerte  Vakuole  zum  Anus,  verschmilzt 
mit  anderen  Vakuolen,  die  sich  dort  bereits  angesammelt  haben, 
und  alle  entleeren  gemeinsam  ihren  Inhalt  nach  außen. 

Diese  merkwürdige  Differenzierung  des  Verdauungsaktes 
in  zwei  getrennte  Perioden,  eine  saure  und  eine  alkalische,  er- 
innert unmittelbar  an  die  Verdauung  der  Wirbeltiere.  Nur 
wird  der  Periodenwechsel  beim  Wirbeltier  durch  den  Übertritt 
der  Nahrung  vom  Magen  in  den  Darm  hervorgerufen,  während 
sich  bei  Paramaecium  der  gleiche  Wechsel  im  gleichen  Organ 
vollzieht,  das  mit  der  Verdauung  zugleich  entsteht  und  ver- 
geht. Was  beim  Wirbeltier  räumlich  und  zeitlich  geordnet  ist, 
ist  beim  Infusorium  nur  zeitUch  geordnet.  Aber  das  Prinzip 
ist  dasselbe  und  der  Effekt  ist  der  gleiche. 

Während  der  Darm  von  Paramaecium  ein  vergängliches 
Organ  ist,  das  vom  Protoplasma  in  übermaschineller  Weise 
stets  neu  gebaut  und  wieder  vernichtet  wird,  haben  die  Nieren 
bereits  den  Charakter  eines  ständigen,  maschinellen  Apparates 
angenommen.  Auf  der  Innenseite  des  Ektoplasmas,  stets  durch 
eine  dünne  Schicht  Ektoplasma  vom  strömenden  Endoplasma 
getrennt,  liegen  die  beiden  pulsierenden  Vakuolen  mit  ihren 
strahlenförmig  weit  ausgreifenden  Zuleitungskanälen.  Der 
Rhythmus  der  gleiclifalls  pulsierenden  Kanäle  wechselt  mit  dem 
der  Blase  ab.  Kontrahieren  sich  die  Kanäle,  so  füllt  sich  die 
Blase,  entleert  sich  die  Blase  nach  außen,  so  beginnen  die 
Kanäle  sich  wieder  zu  füllen.  Die  dauernde  Aufnahme  vom 
überschüssigen  Wasser  durch  den  Mund  bei  der  Bildung  von 
Nahrungsvakuolen  wird  durch  die  Tätigkeit  der  pulsierenden 
Vakuolen  wieder  ausgeglichen.  Deshalb  darf  man  die  pulsieren- 
den Vakuolen  als  Nieren  im  weitesten  Sinne  ansprechen. 

4* 


52  Paramaecium. 

In  den  tiefen  Schichten  des  Ektoplasmas  aber,  über  den 
pulsierenden  Vakuolen  und  ihren  Kanälen  liegen  winzige  spindel- 
förmige Bläschen  dicht  nebeneinander  gelagert  mit  ihrer  Längs- 
achse senkrecht  zur  Oberfläche.  Sie  enthalten  einen  gelatinösen 
Inhalt,  der  bei  der  Kontraktion  des  Ektoplasmas  durch  feine 
Kanälchen  nach  außen  gespritzt  wird.  Er  tritt  in  Form  von 
dünnen  Fäden  heraus.  Die  Fäden  können  mit  großer  Gewalt 
weit  weggeschossen  werden,  stoßen  sie  dabei  an  einen  harten 
Gegenstand,  so  biegt  sich  ihre  Spitze  um.  Diese  ,,Trycho- 
zysten'*  (Haarbläschen)  werden  für  Verteidigungswaffen  ge- 
halten, weil  sie  sich  auf  jeden  starken  Reiz  entladen.  Gegen 
den  Hauptfeind  von  Paramaecium  sind  sie  freilich  wenig 
wirksam. 

Und  hier  nahen  wir  uns  der  Stelle,  an  der  die  sonst  so 
vollkommene  Umwelt  von  Paramaecium  versagt.  Hier  wird 
Paramaecium  selbst  zur  zweckmäßigen  Umwelt  eines  anderen 
Tieres.  Hier  greifen  zwei  Ringe  biologischer  Zweckmäßigkeit 
deutlich  ineinander. 

Didimium  nasutum  heißt  der  Feind.  Kaum  halb  so  groß 
als  Paramaecium,  aber  gebaut  wie  eine  Spitzkugel,  sich  wie 
rasend  um  seine  Längsachse  drehend,  kommt  er  wie  ein  Pfeil 
dahergeschossen.  Zwei  mächtige  Wimpersäume  treiben  den 
Räuber  drehend  vorwärts.  Hart  vor  einem  Paramaecium 
macht  er  Halt,  indem  er  den  einen  Wimpersaum  rückwärts 
schlagen  läßt.  Nun  tastet  er  mit  seiner  spitzen  Nase,  in  deren 
Mitte  die  Mundöffnung  liegt,  am  Beutetier  entlang.  Plötzlich 
schießt  er,  durch  eine  energische  Kontraktion  der  Mundhöhle 
mit  wanderbarer  Geschwindigkeit  ein  Stilett  heraus,  das  sich 
tief  in  den  Körper  von  Paramaecium  einbohrt.  Vergeblich 
entlädt  Paramaecium  seine  Trychozystenbatterien ,  der  Stich 
des  Feindes  ist  tödlich. 

Das  Stilett  besteht  aus  einem  soliden  plasmatischen 
Zylinder,  in  dessen  Mitte  sich  ein  Bündel  spitzer  Stäbchen 
befindet.  Das  Stilett  tötet  die  Beute  und  verankert  sich  zu- 
gleich fest  in  ihrem  Inneren.  Dann  wird  es  langsam  zurück- 
gezogen, die  Mundöffnung  erweitert  sich  zu  einer  geräumigen 
Höhle,  in  der  das  Paramaecium  mit  Haut  und  Haar  ver- 
schwindet. 

Didimium    ist    fast    ausschließlich    Paramaecium jäger    und 


Paramaecium.  53 

greift  nur  im  Hungerzustande  andere  Infusorien  an.  Sein  Be- 
wegungsapparat ist  dem  flinken  Wilde  angepaßt  und  der 
Schlund  eignet  sich  ganz  besonders  dazu,  große  mit  Flüssig- 
keit gefüllte  Blasen  zu  verschlucken.  So  ist  die  Umwelt  von 
Didimium  mit  schnell  entgleitenden  Nahrungsballen  angefüllt. 
Leider  sind  wir  nicht  näher  über  die  ReÜexe  unterrichtet,  um 
diese  Umwelt  analysieren  zu  können.  Aber  staunenswert  ist 
es,  daß  Didimium  ebenso  vollkommen  seinem  Lebenszweck  an- 
gepaßt ist,  wie  Paramaecium  dem  seinigen. 

Nach  einer  soeben  erschienenen  Schilderung  von  Mast 
über  den  Kampf  zwischen  Didimium  nasutum  und  Paramaecium 
scheint  es,  daß  das  Stilett  nicht  ausgestoßen,  sondern  nur  im 
Ektosark  verankert  wird.  Dann  beginnt  Didimium  seine  Beute 
ohne  sie  zu  töten  sofort  in  sich  hineinzuschlingen.  Und  zwar 
konnte  Mast  Fälle  beobachten,  in  denen  das  verschluckte  Para- 
maecium zehnmal  so  groß  war  wie  sein  Verspeiser.  ,,Wenn 
andere  Tiere  relativ  so  große  Objekte  verschlucken  könnten, 
als  es  diese  jagende  ZiHate  vermag,  so  könnte  eine  gewöhnliche 
Kreuzotter  (?)  mit  Leichtigkeit  ein  Kaninchen  verschlucken, 
eine  große  Hauskatze  ein  Schaf,  und  ein  Löwe  oder  ein  Mensch 
einen  voll  ausgewachsenen  Ochsen.** 

Aber  die  Jagd  auf  so  große  Paramaecien  mißhngt  bis- 
weilen. Wenn  Paramaecium  noch  sehr  kräftig  ist,  so  entlad 
es  an  der  gebissenen  Seite  eine  große  Menge  von  Trichozysten, 
die  im  Wasser  eine  quellende  Masse  bilden  und  Didimium 
mechanisch  wegdrücken.  Oft  reißt  das  gepackte  Stück  Ekto- 
sark aus  und  bleibt  in  der  Trichozystenmasse  hängen,  Didimium 
an  seinem  Stilett  festhaltend,  während  Paramaecium  enteilt. 
In  solchen  Fällen  muß  sich  Didimium  sein  lang  ausgezogenes 
Stilett  selbst  abdrehen  und  verstümmelt  das  Weite  suchen. 
Dies  ist  das  erste  Beispiel  für  Autotomie.  So  ist  Paramaecium 
wenn  auch  nicht  ausreichend  geschützt,  so  doch  nicht  ganz 
ungeschützt  im  Kampfe  gegen  seinen  Spezialfeind. 


54  Der  Reflex. 

Der  Reflex. 

Bevor  man  eine  Maschinenausstellung  besucht,  ist  es  an- 
gezeigt, einen  Blick  in  das  Magazin  zu  werfen,  in  dem  nicht 
die  ganzen  Maschinen  zu  sehen  sind,  sondern  die  einzelnen 
Maschinenteile  nach  ihrer  Bauart  geordnet  nebeneinander  liegen. 
Ebenso  wünschenswert  ist  es,  bevor  man  zur  Betrachtung  der 
differenzierten  Tiere  übergeht,  einen  Blick  auf  jene  Elementar- 
teile zu  werfen,  die  ihnen  allen  gemeinsam  sind.  Könnte  man 
ein  lebendes  Tier  einfach  auseinandernehmen  und  die  Funktionen 
der  einzelnen  überlebenden  Teile  vorzeigen,  so  wäre  es  leicht, 
an  diesem  Schulbeispiel  das  Wesen  und  die  Wirkung  der 
Elementarteile  zu  demonstrieren.  Nun  gestattet  aber  kein  ein- 
ziges Tier  eine  so  weit  gehende  Analyse.  Dafür  läßt  uns  das 
eine  Tier  an  dieser,  das  andere  an  jener  Stelle  einen  Einblick 
in  das  Getriebe  seiner  Elementarteile  tun.  So  sind  wir  denn 
gezwungen,  wenn  wir  einen  möglichst  vollständigen  Überblick 
über  die  Elementarteile  gewinnen  wollen,  möghchst  viele  Tiere 
zu  zerlegen. 

Dieses  soll  denn  auch  in  den  folgenden  Kapiteln  geschehen. 
Um  aber  dem  Leser  das  Verständnis  dieser  Zerlegung  zu  er- 
leichtern, will  ich  im  vorliegenden  Kapitel  versuchen,  ihn  durch 
einen  kurzen  Überblick  über  das,  was  er  zu  erwarten  hat,  im 
voraus  zu  orientieren.  Bevor  er  die  einzelnen  Maschinen 
kennen  lernt,  soll  er  bereits  einen  Fingerzeig  haben,  aus  welchen 
Elementarteilen  sie  sich  aufbauen. 

Alle  Handlungen  der  Tiere  sucht  man  auf  Reflexe  zurück- 
zuführen. Der  Reflex  ist  also  das  Grundelement  aller  Hand- 
lungen. Aber  dieses  Grundelement  vereinigt  bereits  verschiedene 
Faktoren  zu  einer  gemeinsamen  Funktion.  Jeder  Reflex  ist 
nämlich  die  Antwort  eines  Teils  des  Tierkörpers  auf  eine  Ein- 
wirkung der  Außenwelt.  Die  Amöben  vermögen  es,  mit  einem 
einzigen  protoplasmatischen  Organ  die  Antwort  zu  erteilen. 
Die  mehrzelligen  Tiere  verwenden  zum  selben  Zweck  drei  ver- 
schiedene Organe:  ein  Aufnahmeorgan,  ein  Leitungsorgan  und 
«in  Ausführungsorgan  —  den  Rezeptor,  den  Nerven  und 
den  Effektor.  Die  Verbindung  dieser  drei  Organe,  die  den 
Reflex    ausüben,    nennt   man   den  Reflexbogen.     Wir  haben 


Der  Reflex.  55 

in  den  drei  den  Reflexbogen  zusammensetzenden  Organen  die 
drei  Elementarorgane  zu  sehen,  die  sich  bei  allen  Tieren 
wiederfinden.  Denn  alle  Tiere  sind  Antwortmaschinen  auf  die 
Wirkungen  der  Außenwelt. 

Die  Rezeptoren  mögen  noch  so  verschieden  gebaut  sein 
und  den  verschiedensten  Wirkungen  der  Außenwelt  dienen,  sie 
haben  überall  immer  nur  eine  einzige  Aufgabe  zu  erfüllen:  die 
Wirkung  der  Außenwelt  auf  den  Reflexbogen  zu  übertragen. 
Jeder  Rezeptor  ist  auf  einen  bestimmten  Ausschnitt  der  Außen- 
weltwirkungen eingestellt,  der  größer  oder  kleiner  sein  mag, 
sich  auf  starke  oder  sehr  schwache  Wirkungen  bezieht,  die 
z.  T.  sehr  spezialisiert  sein  können.  Mögen  die  Wirkungen 
chemischer  oder  physikalischer  Art  sein,  immer  nennt  man  sie, 
wenn  man  ihre  Beziehungen  zu  den  Rezeptoren  der  Tiere  aus- 
drücken will,  Reize.  Eine  ausführliche  Klassifikation  der 
Rezeptoren  habe  ich  in  meinem  ,, Leitfaden"  gegeben.  Hier 
genügt  der  Hinweis,  daß  die  Bauart  der  Rezeptoren  eines  jeden 
Tieres  souverän  darüber  entscheidet,  mit  welchen  Wirkungen 
der  Außenwelt  das  Tier  Beziehungen  eingehen  soll,  und  mit 
welchen  nicht.  Die  Summe  aller  Reize,  die  ein  Tier  dank  der 
Bauart  seiner  Rezeptoren  empfängt,  bildet  seine  Umwelt. 
Dies  ist  die  nach  außen  gerichtete  Seite  eines  jeden  Rezeptors. 
Seine  innere  Seite  richtet  sich  dem  Tierkörper  zu,  denn  seine 
Aufgabe  ist  erst  erfüllt,  wenn  er  den  Außenreiz  dem  Reflex- 
bogen zugänglich  gemacht  hat. 

Das  sich  an  den  Rezeptor  anschließende  Organ  ist  der 
Nerv.  Der  Nerv  besitzt  nicht  die  Fähigkeit  jede  Art  physi- 
kalischer oder  chemischer  Prozesse  aufzunehmen  und  weiter- 
zuleiten. Er  vermag  nur  einen  ganz  bestimmten  Faktor  zu 
übertragen,  den  wir  die  Erregung  nennen.  Die  Erregung 
geht  wie  eine  Welle  über  die  Nerven  dahin.  Diese  Welle  hat 
ganz  bestimmte  elektrische  Eigenschaften,  die  es  uns  gestatten, 
ihre  Form  und  ihre  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  sicher  zu 
bestimmen.  Wir  wissen  ferner,  daß  jeder  Nerv,  wenn  er  irgend- 
wo in  seinem  Verlauf  gereizt  wird,  zwei  Wellen,  nach  jeder 
Seite  hin  eine,  entsendet.  Die  Erregung  hat  immer  die  Tendenz, 
die  Nervenbahnen  entlang  zu  laufen,  sie  bleibt  nicht  etwa 
stehen  oder  kehrt  selbsttätig  um,  sie  verwandelt  sich  auch 
niemals  in  eine  stehende  Welle.     Die  Erregung  verbreitet  sich, 


56  Der  Reflex. 

wenn  sich  der  Nerv  in  ein  Nervennetz  auflöst,  nach  allen  Seiten 
hin.  Sie  bevorzugt  jedoch  die  direkten  Wege  vor  den  Um- 
wegen und  verbreitet  sich  schneller  über  Strecken  mit  einem 
reichen  Netz,  als  über  solche,  die  nur  spärliche  Bahnen  auf- 
weisen. 

Aus  alledem  läßt  sich  nur  noch  so  viel  entnehmen,  daß  die 
Erregung  ein  flüchtiger  Vorgang  ist,  der  entweder  wie  eine 
riüssigkeitswelle  in  einem  Rohr  entlang  läuft  oder  wie  ein 
Funke  einer  Zündschnur  entlang  weiterbrennt.  Im  ersten  Falle 
ist  der  Vorgang  ein  passiver,  im  zweiten  ein  aktiver.  Ich 
habe  immer  von  neuem  zu  zeigen  versucht,  daß  die  Erregung 
ein  passiver  Vorgang  ist,  der  seinen  Anstoß  von  außen  erhält 
oder  von  einem  höheren  Niveau  zu  einem  niederen  fließt,  d.  h. 
immer  von  außer  ihm  liegenden  Ursachen  bestimmt  wird.  Aber 
erst  Jordan  hat  die  Theorie  bis  zu  Ende  geführt  und  durch 
Aufstellung  seiner  Bipolar-Hypothese  einer  neuen  Auffassung 
der  Erregungsnatur  die  Bahn  gebrochen.  Die  Bipolar-Hypo- 
these nimmt,  wie  schon  ihr  Name  sagt,  an,  daß  die  Erregung 
nicht  bloß  von  einem  Zentrum  des  Nervensystems  zu  den 
Muskeln  hin  entsandt  wird,  sondern  daß  eine  dauernde  Be- 
ziehung zwischen  dem  Ausgangspunkt  und  dem  Endpunkt  der 
Erregung  besteht.  Neuerdings  hat  diese  Auffassung  durch  die 
schönen  Arbeiten  von  Piper  eine  ganz  unerwartete  Bestätigung 
erfahren. 

Durch  die  Bipolar-Hypothese  ist  der  Begriff  des  Zentrums 
wieder  in  das  Nervensystem  eingeführt  worden,  nachdem  es 
durch  die  Forschungen  Bethes  und  durch  die  Autorität  Loebs 
zu  verschwinden  begann.  Loeb  hat  immer  daran  festgehalten, 
daß  besondere  Zentren  genannte  Organe  im  Nervensystem  gar 
nicht  existieren,  sondern  nur  reichere  und  ärmere  Nervennetze 
zu  unterscheiden  seien.  Bethe  hat  nachweisen  können,  daß 
bei  Carcinus  maenas  ein  typischer  Reflex  ablaufen  kann,  auch 
nachdem  man  alle  Ganglienzellen  entfernt  hat.  Da  nun  nach 
der  alten  Lehre  Ganghenzelle  und  Zentrum  dasselbe  sein  sollte, 
so  schien  es  in  der  Tat  unnütz,   noch   von  Zentren   zu  reden. 

Aber  der  biologische  Begriff  eines  Zentrums  ist  gar  nicht 
an  die  Ganglienzelle  gebunden,  sondern  bezeichnet  nur  irgend- 
welchen Apparat  im  Nervensystem,  der  sich  irgendwie  von  den 
einfachen    Leitungsbahnen    unterscheidet.      Welche   Leistungen 


Der  Reflex.  57 

des  Nervensystems  sind  wir  gezwungen  besonderen  Apparaten, 
die  wir  Zentren  nennen  wollen,  zuzuschreiben?  Auch  hier  geben 
einige  Worte  Jordans  treffende  Antwort:  ,,Möge  sie  (die  Vor- 
untersuchung) eine  Kleinigkeit  mit  dazu  beigetragen  haben,  im 
Kampfe  gegen  die  Anschauung,  daß  die  Zentren  nichts  seien, 
als  Knotenpunkte  zahlreicher  Leitungsbahnen.  Gewiß  ist  das 
eine  ihrer  wichtigsten  Aufgaben;  vor  allem  aber  sind  sie  ,, Reser- 
voirs" von  Energie,  die  auf  Grund  ihres  mehr  oder  weniger 
hohen  Potentials  das  ihnen  unterstellte  Nerv-Muskel  System 
in  seiner  automatischen  Funktion  zu  leiten  vermögen,  nach 
dem  universellen  Gesetz  vom  Erregungsausgleich."  Das  uni- 
verselle Gesetz  des  Erregungsausgleichs,  oder  wie  Jordan  es 
auch  nennt,  das  Gesetz  vom  Locus  minoris  resistentiae  besagt, 
daß  die  Erregung  vom  Orte  höheren  Potentials  zum  Orte 
niederen  Potentials  hinfließt.  Das  gleiche  habe  ich,  wenn 
auch  in  weniger  abstrakter  Form,  ausgesprochen,  wenn  ich  sage, 
die  Erregung  fließt  von  dem  Reservoir  mit  höherem  Niveau 
in  das  Reservoir  mit  niederem  Niveau. 

Jordans  besonderes  Verdienst  aber  ist  es,  daß  er  mit 
allem  Nachdruck  die  Erregungs Vorgänge  in  statische  und 
dynamische  trennt.  Jeder  Forscher  weiß,  daß,  bevor  durch 
einen  Reiz  eine  neue  Erregungswelle  im  zentralen  Netz  entsteht, 
bereits  Erregung  im  Netz  vorhanden  war.  Diese  dauernd  vor- 
handene Erregung  wird  zutreffend  als  statische  Erregung  be- 
zeichnet. Diese  Ausdrucksweise  überhebt  uns  des  viel  miß- 
brauchten Wortes  Tonus.  Der  statischen  Erregung  gegenüber 
nennt  Jordan  dynamische  Erregungsvorgänge  solche,  die  nur 
vorübergehender  Art  sind.  Nur  die  dynamischen  Erregungen 
laufen  wellenförmig  ab.  Die  statischen  Änderungen  blieben 
unseren  Galvanometern  bisher  verborgen.  Ich  habe  nun  noch 
einen  Faktor  in  die  Theorie  der  Erregungsvorgänge  hinein- 
getragen, und  das  ist  der  Erregungsdruck.  Plötzlich  ein- 
brechende Erregungen  zeigen  oft  andere  Wirkungen  als  lang- 
sam eintretende,  auch  wenn  sie  von  der  gleichen  Stärke  sind. 
Da  ich  die  Erregung  überhaupt  mit  einem  Fluidum  ver- 
gleiche, das  von  den  Reservoiren  hin  und  her  getrieben  wird, 
so  suche  ich  die  besonderen  Wirkungen  plötzlich  eintretender 
Erregungen  durch  die  Annahme  eines  höheren  Druckes  der  An- 
schauung   näher  zu  führen.     Außerdem  gab  mir  dieser  Faktor 


58  I^sr  Reflex. 

die  Möglichkeit,  die  ausgleichende  Wirkung  der  statischen  Er- 
regung über  das  gesamte  Nervensystem  plausibel  zu  machen. 
Wenn  man  die  Erregungsmenge,  den  Erregungsdruck  und 
die  wechselnde  Kapazität  der  Reservoire  in  Anspruch  nimmt, 
so  läßt  sich  mit  diesen  drei  Faktoren  eine  leidliche  Ordnung 
in  den  sonst  so  widerspruchsvollen  Wirkungen  des  Zentral- 
nervensystems herstellen.  Besonders  wenn  man  noch  einige  ein- 
fache mechanische  Vorrichtungen  als  Analogien  zu  Hilfe  nimmt. 

Von  vielen  Seiten  wird  mir  der  Vorwurf  gemacht,  daß  ich 
ein  so  unwahres  Bild  wie  das  eines  Fluidums  im  Nervensystem 
benutze.  Auf  diesen  Vorwurf  kann  ich  nur  mit  der  Frage 
antworten,  ob  meine  geehrten  Kritiker  wirklich  vermeinen,  daß 
die  Wissenschaft  dazu  da  sei,  die  ,, Wahrheit"  zu  erfahren.  Ist 
doch  das  Ziel  jeder  Naturwissenschaft  gar  nicht  die  ,, Wahrheit", 
sondern  die  ,, Ordnung".  Daß  ein  jeder  Naturforscher  bis  in 
die  Fingerspitzen  hinein  ein  wahrhaftiger  Mensch  sein  muß,  ist 
eine  conditio  sine  qua  non.  Aber  man  kann  sehr  wahrheits- 
liebend sein  und  doch  nicht  das  geringste  Talent  zum  Natur- 
forscher haben. 

Die  Wahrheit  liegt  in  der  uns  umgebenden  Wirklichkeit 
unmittelbar  vor  uns.  Diese  können  wir  aber  unverändert 
nicht  gebrauchen.  Eine  lückenlose  Beschreibung  der  WirkHch- 
keit  wäre  zugleich  das  wahrste  und  unnützste  Ding  von  der 
Welt  und  gewiß  keine  Wissenschaft.  Wir  müssen  der  Wirklich- 
keit und  damit  der  Wahrheit  Gewalt  antun,  wenn  wir  sie 
wissenschaftlich  verwerten  wollen.  Wir  müssen  die  Unter- 
scheidung von  wesentlich  und  unwesentlich  einführen,  die 
es  in  der  ganzen  Natur  nicht  gibt.  In  ihr  ist  alles  gleich 
wesentlich.  Indem  wir  die  uns  wesentlich  erscheinenden  Zu- 
sammenhänge aufsuchen,  ordnen  wir  zugleich  den  Stoff  über- 
sichtUch.  Daim  treiben  wir  Wissenschaft.  Nun  sind  viele 
dieser  wesentlichen  Beziehungen  unseren  Augen  verborgen,  um 
sie  aufsufinden,  benutzen  wir  Mikroskope,  Galvanometer,  Färbe- 
methoden usw.  usw.  Für  diejenigen  Beziehungen,  die  wir 
trotz  aller  Hilfsmittel  nicht  auffinden  können,  von  deren 
Existenz  wir  aber  überzeugt  sind,  benutzen  wir  vorläufige 
Bilder.  Diese  Bilder  benutzen  wir  genau  so,  wie  jedes  andere 
Handwerkszeug,  wenn  eines  nicht  taugt,  macht  man  sich  ein 
anderes. 


Der  Reflex.  59 

Man  werfe  nur  einen  Blick  auf  die  Physik,  um  sich  zu 
überzeugen,  wie  diese  Wissenschaft  mit  ihren  Bildern  umspringt: 
Bald  ist  die  Elektrizität  ein  Fluidum,  bald  eine  Bewegung, 
bald  besteht  sie  aus  winzigen  Stoff teilchen ,  die  wohl  Materie 
sind,  aber  keinen  Massencharakter  tragen.  Ebenso  verfährt  die 
Chemie.  Was  ist  denn  die  ganze  Stereochemie  anderes,  als 
ein  Arbeiten  mit  Bildern?  Und  ein  so  hervorragender  Chemiker, 
wie  Emil  Fischer,  spricht  ruhig  von  Schlüssel  und  Schlüssel- 
loch, um  damit  rein  chemische  Eigenschaften  zu  charakterisieren. 
Aus  welchem  Grunde  nun  sollte  die  Biologie  noch  immer  auf 
die  geheiligte,  obzwar  oft  überwundene  Ausdrucksweise  der 
Physik  und  Chemie  eingeschworen  sein?  Besonders  da  diese 
Bilder  ihr  meist  gar  nicht  passen.  Die  Biologie  bedarf,  da 
sie  mechanische  Zusammenhänge  aufsucht,  der  mechanischen 
Bilder.  Und  je  anschaulicher  diese  Bilder  sind,  und  je  besser 
sie  sich  den  beobachteten  Vorgängen  anschmiegen,  um  so  besser. 
Deshalb  bleibe  ich  mit  voller  Überzeugung  beim  Fluidum  mit 
seiner  Menge,  seinem  Druck  und  sonstigem  Zubehör,  denn  das 
Fluidum  scheint  mir  das  anschauHchste  Bild  für  die  unbe- 
kannten Beziehungen  im  Nervensystem  abzugeben. 

Die  Erregungen  sind  der  einzige  objektive  Vorgang,  aus 
dessen  Gehen  und  Kommen  sich  das  Innenleben  der  Tiere  auf- 
baut. Im  Gegensatz  zur  bunten  und  mannigfaltigen  Umgebung 
kennt  die  Innenwelt  keinen  W^echsel  in  der  Qualität.  Daher 
kann  man  die  dynamischen  Erregungen  nur  als  Zeichen  dafür 
betrachten,  daß  etwas  außerhalb  vorgeht,  ohnn  daß  sie  selbst 
die  mindeste  Ähnlichkeit  mit  den  Vorgängen  der  Umgebung 
besitzen. 

Die  Rezeptoren  wählen  unter  den  Wirkungen  der  Umgebung 
jene  Reize  aus,  die  nach  dem  Bauplan  des  Tieres  geeignet 
sind,  bemerkt  zu  werden,  und  geben  daraufhin  dem  Nerven- 
system ein  Zeichen,  sobald  der  betreffende  Reiz  in  der  Um- 
gebung sich  geltend  macht.  Man  kann  demnach  feststellen, 
wieviel  Zeichen  ein  Tier  von  seiner  Umwelt  erhält  —  soviel 
Reize,  soviel  Zeichen.  Hat  ein  Tier  auf  diese  Weise  ein 
Zeichen  seiner  Umwelt  erhalten,  so  muß  es  darauf  eine  Ant- 
w^ort  erteilen.  Das  Nervensystem  ist  nun  derart  gebaut,  daß 
es  das  Zeichen  selbst  benutzt,  um  durch  den  Muskel  die  Ant- 
wort erteilen  zu  lassen.     Denn  die  dynamische  Erregung  wird 


gQ  Der  Reflex. 

von  den  beherrschenden  Faktoren  des  Nervensystems  so  ge- 
leitet, daß  sie  selbst  zu  jenen  Muskeln  gelangt,  deren  Tätigkeit 
die  richtige  Antwort  des  Tieres  auf  den  Reiz  ausmacht. 

Die  beherrschenden  Faktoren,  welche  die  dynamische  Er- 
regung zu  den  Muskeln  leiten,  sind  vor  allen  Dingen  die  Strukturen 
im  Nervensystem.  Wenn  nur  ganz  bestimmte  Muskeln  mit  ganz 
bestimmten  Rezeptoren  durch  ein  spezielles  Nervennetz  verbunden 
sind,  so  ist  die  Antwort  auf  die  biologische  Zentralfrage:  Wie 
findet  die  Erregung  den  richtigen  Muskel?  eine  leichte.  Das 
ändert  sich  schon  bei  den  Seeigeln,  deren  nervöse  Struktur 
reich  ausgestaltet  ist.  Aber  immer  noch  ist  das  Prinzip  der 
Koordination  der  Reflexbögen  streng  durchgeführt.  Bei  den 
Bilateraltieren,  die  ein  ausgesprochenes  Vorderende  besitzen, 
das  die  höheren  Rezeptoren  beherbergt,  tritt  naturgemäß  eine 
immer  weitergehende  Subordination  der  Zentren  ein  und  die 
Einfachheit  der  Reflexbögen  geht  verloren.  Die  Struktur  wird 
dann  im  höchsten  Grade  kompliziert  und  ihre  Feststellung  eine 
äußerst  schwierige.  Aber  sie  ist  doch  wenigstens  konstant. 
Ihre  Veränderungen  im  erwachsenen  Tier  können  für  unsere 
Bedürfnisse  gleich  Null  gesetzt  werden. 

Die  übrigen  Faktoren  sind  variabel  und  daher  noch  schwerer 
zu  übersehen.  Das  gilt  vor  allem  für  die  zentralen  Reservoire  der 
statischen  Erregung,  deren  Füllungsgrad  ein  wechselnder  ist  und 
der  einen  entscheidenden  Einfluß  auf  den  Zustand  des  gesamten 
Nervensystems  ausübt.  Vor  allem  aber  sind  es  die  zahllosen  kleinen 
Reservoire,  die  in  direkter  Beziehung  zu  den  Muskeln  stehen, 
welche  auf  den  Weg,  den  die  dynamische  Erregung  einschlagen 
soll,  von  Einfluß  sind.  Sie  besitzen  die  Fähigkeit,  die  dyna- 
mische Erregung  je  nach  ihrem  Füllungsgrade  oder,  um  mit 
Jordan  zu  reden,  je  nach  ihrem  Potential  abzustoßen  oder 
anzuziehen.  Dieser  Füllungsgrad  ist  einerseits  abhängig  von 
den  zentralen  Reservoiren,  andererseits  von  den  Muskeln  selbst, 
deren  Ansprüche  an  die  Erregung  des  zentralen  Netzes  sie  zu 
vertreten  haben  und  deshalb  von  mir  ,, Repräsentanten" 
genannt  worden  sind. 

Es  sitzen  also  an  dem  allgemeinen  Nervennetz  (das  sich 
in  verschiedene  Netze  gespalten  haben  mag  und  allerlei  Struktur 
angenommen  haben  kann),  drei  Organe:  die  Rezeptoren,  die 
zentralen  Reservoire  und  die  Repräsentanten.  Zwischen 


Der  Reflex.  61 

ihnen   spielt    sich  das  Innenleben  des  Tieres  ab,    und  zwar  in 
dreierlei  Formen: 

1.  Als  Reflex.  Das  ist  die  reine  Form  der  dynanischen 
Erregung,   die   im  Rezeptor  entsteht    und   im  Muskel  vergeht. 

2.  Als  Rhythmus,  der  ein  gleichmäßig  wiederholter  Reflex 
sein  kann  oder  durch  das  Hin-  und  Herschwingen  der  statischen 
Erregung  erzeugt  wird. 

3.  Als  Automatic,  die  schon  einen  hohen  Ausbildungs- 
grad der  zentralen  Apparate  zur  Voraussetzung  hat.  Denn 
während  der  Rhythmus  von  dem  tätigen  Eingreifen  der  Muskeln 
abhängig  ist,  werden  die  oft  sehr  komplizierten  automatischen 
Erregungen  allein  durch  die  Tätigkeit  der  zentralen  Apparate 
gelenkt.  Es  macht  dann  den  Eindruck,  als  geriete  die  ganze 
statische  Erregung  in  Fluß  und  anstatt  von  einzelnen  Reser- 
voiren aus  den  Gesamtdruck  zu  beherrschen,  durchzieht  sie 
wandernd  ihr  ganzes  nervöses  Reich. 

Es  finden  sich  in  den  verschiedenen  Bauplänen  alle  mög- 
lichen Kombinationen  zwischen  den  beiden  strukturellen  Bau- 
prinzipien: der  Koordination  und  der  Subordination  mit 
den  drei  Bewegungsprinzipien  der  Erregung. 

Und  doch  ist  damit  die  Mannigfaltigkeit  nicht  erschöpft. 
Bisher  haben  wir  nur  solche  Tiere  ins  Auge  gefaßt,  deren  Be- 
wegungen durch  den  Zufluß  der  Erregungen,  sei  es  der  statischen 
oder  der  dynamischen,  veranlaßt  werden.  Man  könnte  sie 
Kraftmaschinen  nennen.  Es  gibt  aber  auch  solche  Tiere, 
deren  Handlungen  durch  den  Abfluß  der  überschüssigen  Erregung 
reguliert  werden.  Diese  Tiere  könnte  man  Bremsmaschinen 
nennen.  Es  ist  wiederum  Jordans  Verdienst,  uns  mit  diesen 
absonderlich  gebauten  Tieren  näher  bekannt  gemacht  zu  haben. 
Zu  den  Bremsmaschinen  gehören  vor  allem  die  Schnecken. 

Das  letzte  Güed  des  Reflexbogens  bilden  die  Muskeln, 
die  durch  ihre  Bewegung  der  Umgebung  die  Antwort  des  Tieres 
mitteilen.  Eine  jede  biologische  Untersuchung  sollte  sich  immer 
bemühen,  die  Zergliederung  des  Tieres  bis  auf  die  Bewegungen 
der  Hauptmuskelgruppen  durchzuführen.  Erst  dann  kann  man 
hoffen,  ein  leidUch  vollständiges  Bild  vom  Innenleben  des  Tieres 
zu  erhalten,  da  wir  die  Vorgänge  der  Erregung  im  wesentlichen 
aus  dem  gesetzmäßigen  Ablauf  der  Muskelbewegungen  ableiten. 

Die  meisten  Muskeln  haben  gleichzeitig  eine  doppelte  Auf- 


(]2  I^^r  Reflex. 

gäbe  zu  erfüllen.  Sie  müssen  sich  verkürzen  und  zugleich  eine 
Last,  z.  B.  die  des  eigenen  Körpers,  tragen.  Das  geschieht  durch 
zwei  nur  selten  anatomisch  trennbare  mechanische  Apparate,  von 
denen  einer  der  Last  dauernd  das  Gegengewicht  hält  —  Sperr- 
apparat,  der  andere  die  Bewegungen  ausführt  —  Verkür- 
zungsapparat. Das  Senken  der  Last  geschieht  gleichfalls 
unter  Beteiligung  beider  Apparate.  Dabei  werden  die  Muskeln 
gedehnt.  Doch  hat  diese  Dehnung  mehr  Ähnlichkeit  mit  dem 
Ablassen  des  Dampfes  in  einer  Kolbenmaschine,  als  mit  der 
Dehnung  eines  Gummibandes.  Die  Tätigkeit  der  Verkürzungs- 
apparate macht  die  Muskeln  kurz  oder  lang,  die  der  Sperr- 
apparate macht  die  Muskeln  hart  oder  weich. 

Jede  Muskelfaser  ist  reizbar,  leitet  in  ihrem  Inneren 
die  Erregung  und  ist  kontraktil,  d.  h.  es  spielen  sich  in  ihr 
in  abgekürzter  Form  die  Prozesse  des  ganzen  Reflexbogens  ab. 
Ein  jeder  wirksame  Muskelreiz  wird  in  eine  Muskelerregung 
verwandelt,  und  diese  erst  bringt  die  beiden  Apparate  zur 
Tätigkeit.  Es  ist  jedenfalls  sehr  gewagt,  die  zunehmende  und 
abnehmende  Tätigkeit  der  Muskeln  mit  Stoffwechselvorgängen 
(Dissimilation  und  Assimilation)  in  direkte  Verbindung  zu  bringen. 
Im  Gegenteil  scheint  eine  sehr  kompUzierte  Struktur  vorhanden 
zu  sein,  die  ihre  Tätigkeit  entfaltet.  In  diesem  Falle  würden 
die  Stofi'wechselvorgänge  nichts  anderes  zu  bedeuten  haben  als 
die  Herbeischaffung  des  nötigen  Heizmateriales  und  die  Fort- 
schaffung der  Asche. 

Eine  eigene  statische  Erregung  besitzt  der  Muskel  nicht. 
Seine  Dauererregungen  sind,  wenn  sie  nicht  vom  Nervensystem 
verursacht  werden,  immer  krankhafter  Art.  Wie  der  Muskel 
den  Erregungen  des  Nervensystems  gehorcht,  wissen  wir  nicht. 
Ob  die  Nervenerregung  als  äußerer  Reiz  anzusehen  ist,  der 
durch  eine  Art  von  Rezeptionsorgan,  das  in  der  Nervenendigung 
steckt,  in  Muskelerregung  verwandelt  werden  muß,  oder  ob  es  eine 
direktere  Einwirkung  der  Nervenerregung  auf  die  Muskelerre- 
gung gibt,  das  bleibt  noch  eine  offene  Frage.  Daß  aber 
die  Nervenerregung  dauernd  auf  die  Muskeln  einwirkt,  kann 
jetzt  als  festgestellt  gelten. 

Soweit  man  sehen  kann,  besitzt  jeder  Muskel  einen  Apparat 
im  Nervensystem,  dessen  Tätigkeit  mit  der  seinigen  eng  ver- 
bunden ist.    Der  Zustand  der  Muskelerregung  spiegelt  sich  im 


Anemonia  sulcata.  63 

Zustand  der  Nervenerregung  seines  Repräsentanten  und  um- 
gekehrt. Diese  Spiegelung  ist  auf  eine  sehr  reelle  gegenseitige 
Einwirkung  der  beiden  Erregungsarten  aufeinander  zurückzu- 
führen. Da  die  Erregung  des  Muskels  von  der  Tätigkeit  der 
beiden  mechanischen  Apparate  abhängig  ist,  so  vermag  die 
Muskeltätigkeit  selbst  rückwärts  einen  Einfluß  auf  das  Innen- 
leben des  Tieres  auszuüben. 

So  hängen  durch  Wirkung  und  Gegenwirkung  alle  nervös 
miteinander  verknüpften  Apparate  zusammen.  Das  Mittel, 
durch  das  diese  Wirkung  ausgeübt  wird,  ist  die  Erregung,  für 
die  wir  das  Bild  eines  Fluidums  festhalten  wollen,  bis  sich  ein 
besseres  gefunden  hat. 


Anemonia  sulcata. 

Wer  als  Taucher  ins  Meer  hinabsteigt,  wird  erstaunt  sein, 
wenn  er  in  einer  Tiefe  von  über  zehn  Metern  den  ganzen  fel- 
sigen Boden  der  Küste  in  eine  grüne  Wiese  verwandelt  sieht. 
Überall,  soweit  das  Auge  bhckt,  wehende  Grashalme,  die  vom 
Winde  bewegt  erscheinen.  Im  blauen  Dämmerschein  der  Meeres, 
der  ihn  wie  ein  silberner  Rauch  umgibt,  sieht  der  Taucher 
keine  scharfen  Schatten  und  bemerkt  erst  bei  näherer  Prüfung, 
daß  die  vermeinthchen  Grashalme  nicht  flache  Blätter  sind, 
sondern  drehrunde  Röhrchen.  Auch  sind  diese  Röhrchen  nicht 
bloß  passiv  bewegt,  wenn  die  Strömung  über  sie  hinwegzieht, 
sondern  sie  vermögen  sich  auf  Berührung  zusammenzuziehen 
und  wie  Korkzieher  aufzurollen. 

Die  grüne  Wiese  besteht  nicht  aus  Pflanzen,  sondern  aus 
Tieren.  Die  kleinen  Röhren  sind  keine  Grashalme,  die  in  der 
Erde  wurzeln,  sondern  es  sind  die  Tentakel  genannten  Arme 
von  drei  bis  fünf  Zentimenter  hohen  Tieren.  Die  Tentakel 
umgeben  in  mehreren  Kreisen  stehend  den  Mund  wie  Blüten- 
blätter den  Blumenkelch.  Deshalb  nennt  man  die  Tiere  auch 
Seeanemonen.  Die  Farbe  kann  bei  Anemonia  sulcata  weißhch 
schimmern,  meist  ist  sie  bräunüch  oder  grün. 

Entfernt  man  die  Tentakel,  so  bleibt  als  Körper  nur  ein 
zylinderförmiger  muskulöser  Magensack  übrig.  Die  runde  Fläche, 
die  den  Magen  unten  abschheßt,  nennt  man  den  Fuß,  weil  er  nicht 


34  Anemoiiia  sulcata. 

bloß  das  Tier  am  Boden  festsaugt,  sondern  auch  eine  geringe 
Fortbewegung  ermöglicht.  Die  Fortbewegung  geschieht,  indem 
sich  die  Muskulatur  des  Fußes  an  verschiedenen  Teilen  bald 
ablöst,  bald  ansaugt.  Die  Reize,  die  das  Tier  zum  Wandern 
zwingen,  sind  das  Licht  und  die  Schwere  des  eigenen  Körpers, 
der  bei  geneigter  Lage  einseitig  auf  dem  Fuße  lastet.  Über  dem 
runden  Fuß  erheben  sich  die  zylinderförmigen  Seitenwände 
des  Körpers.  Sie  sind  der  unempfindhchste  Teil  des  ganzen 
Tieres. 

Oben  schließt  die  Mundfläche  den  Zylinder  senkrecht  ab. 
Sie  enthält  radiäre  und  zirkuläre  Muskelfasern,  die  sich  alle 
um  die  in  der  Mitte  gelegene  Mundöffnung  gruppieren.  Ver- 
kürzen sich  die  zirkulären  Ringfasern,  so  schließt  sich  der 
Mund. 

Vom  Mund  aus  führt  ein  gerades  Rohr  bis  tief  in  den 
Verdauungsack  hinein.  Dieses  Mundrohr  wird  durch  zahlreiche 
muskulöse  Scheidewände  gehalten,  die  ringsum  strahlenförmig 
zu  den  Außenwänden  des  Tieres  ziehen.  Zwischen  den  Scheide- 
wänden oder  Septen  entstehen  zahlreiche  Taschen,  die  nach 
unten  zu  offen  stehen.  Sie  bilden  den  Darm.  Nach  oben  zu 
wird  jede  Tasche  von  der  Mundmembran  nicht  einfach  abge- 
schnitten, sondern  stülpt  sich  wie  ein  Handschuhfinger  nach 
außen  vor.  Dadurch  entstehen  die  Tentakel.  Das  Darmepithel 
tritt  in  den  Tentakel  ein  und  bildet  seine  innere  Bekleidung. 
Die  Wand  des  Tentakels  besteht  nach  0.  und  R.  Hertwig  aus 
einer  Lage  Bindegewebe  (Stützsubstanz),  die  sowohl  innen  wie 
außen  eine  Muskelschicht  trägt.  Zwischen  der  äußeren 
Muskelschicht  und  der  Außenhaut  befindet  sich  eine  Schicht 
von  Nervengewebe,  d.  h.  Ganglienzellen  und  Fasern.  Ebenso 
schiebt  sich  zwischen  die  innere  Muskelschicht  und  das  Darm- 
epithel eine  Nervenschicht  ein.  Die  Haut  besteht  aus  Sinnes- 
zellen, Stützzellen,  Drüsen  und  Nesselkapseln. 

Wie  hängen  diese  einzelnen  Organe  funktionell  zusammen? 
Diese  Frage  kann  nur  durch  das  Experiment  gelöst  werden. 
Und   dieses    hat  folgende  einfache  Tatsachen  zutage  gefördert. 

Der  mechanische  Berührungsreiz  ist  bei  einer  normalen 
Anemonia  sulcata  fast  wirkungslos.  Dagegen  ist  leicht  nach- 
zuweisen, daß  die  Tentakel  einem  leisen  Druck  nachgeben  und 
wie    ein    Taschenmesser    umklappen.      Oft    schlagen    sie    dabei 


Anemonia  sulcata.  ß5 

weit  vom  drückenden  Gegenstande  fort.  Stets  bleiben  sie  noch 
eine  Zeitlang  gebogen,  nachdem  der  drückende  Gegenstand 
entfernt  wurde.  Das  beweist,  daß  die  Biegung  ein  aktiver 
Vorgang  ist.  Wir  werden  der  gleichen  Erscheinung  beim  See- 
igelstachel wieder  begegnen.  Sie  ist  einfach  darauf  zurück- 
zuführen, daß  die  durch  den  Druck  gedehnten  Muskeln  er- 
schlaffen und  dadurch  ihren  Antagonisten  die  Möglichkeit  ver- 
schaffen, eine  aktive  Bewegung  auszuführen,  die  den  Tentakel 
von  dem  drückenden  Gegenstande  wegführt.  Auf  Erschütte- 
rung sind  die  Tentakel  recht  empfindlich.  Oft  antworten  sie 
auf  ein  Klopfen  am  Glase  mit  einer  Längsmuskelkontraktion, 
die  auch  einseitig  sein  kann  und  dann  die  Arme  korkzieher- 
artig zusammenzieht.  Ebenso  ruft  Kneifen  eine  Verkürzung 
der  Arme  hervor. 

Unter  den  Längsmuskeln  zeichnet  sich  ein  Strang  beson- 
ders aus,  der  auf  der  dem  Munde  zugekehrten  Seite  eines  jeden 
Tentakels  als  weißer  Strich  sichtbar  ist.  Schneidet  man  einen 
Tentakel  eines  normalen  Tieres  glatt  ab  und  wirft  ihn  in  ein 
Schälchen  mit  Wasser,  so  wird  er  eine  charakteristische  Form 
annehmen.  Von  der  Schnittstelle  aufwärts  bis  etwa  zur  Hälfte 
ist  der  Tentakel  nicht  bloß  leicht  verkürzt,  sondern  auch  hals- 
krausenförmig  zusammengezogen.  Immer  ist  die  überwiegende 
Verkürzung    des    weißen   Stranges  Ursache   dieser  Erscheinung. 

Während  die  Längsmuskeln  dem  mechanischen  Reiz  Unter- 
tan sind,  antworten  die  Ringmuskeln  den  chemischen  Reizen. 
Eine  einprozentige  Essigsäure  in  Seewasser,  die  noch  hundert- 
mal verdünnt  ist,  vermag  abgetrennte  Arme,  wenn  sie  genügend 
empfindlich  sind,  in  lange,  dünne  Fäden  zu  verwandeln.  Auch 
stärkere  Lösungen  haben  die  gleiche  Wirkung.  Nur  muß  man, 
je  stärker  die  Lösung  wird,  um  so  vorsichtiger  mit  dem  Ein- 
legen der  Arme  werden.  Denn  wenn  auch  der  chemische  Reiz 
nicht  direkt  auf  die  Längsmuskeln  einwirkt,  so  hat  er  doch 
die  Fähigkeit,  die  Rezeptoren  der  Längsmuskeln  für  den  mecha- 
nischen Reiz  erregbarer  zu  machen.  Läßt  man  in  eine  stärkere 
Lösung  den  abgeschnittenen  Tentakel  fallen  anstatt  ihn  vor- 
sichtig hineinzulegen,  so  wird  er  sich  zusammenziehen,  anstatt 
sich  zu  verlängern. 

An  Stelle  von  Essigsäure  kann  auch  Kochsalz  als  Reiz 
verwendet   werden.     Am   meisten  empfiehlt  sich  eingedampftes 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  5 


ßß  Anenionia  sulcata. 

Wasser.  Seewasser,  das  durch  Eindampfen  5  ^/^  seines  Vo- 
lumens verloren  hat,  beginnt  als  Reiz  zu  wirken.  Man  kann 
einzelne  Tentakel  in  eine  solche  Lösung  legen  oder  mit  einer 
zur  Kapillaren  ausgezogenen  Pipette  die  Lösung  lokal  den 
Tentakeln  des  unverletzten  Tieres  beibringen.  Alle  Lösungen, 
die  schwerer  als  Seewasser  sind,  eignen  sich  für  ein  solches 
Verfahren.  Da  zeigt  sich  nun,  daß  peripher  von  der  Reizstelle 
mehr  oder  weniger  weit  bis  zur  Spitze  hin  die  Ringmuskeln 
in  Kontraktion  geraten  und  den  Tentakel  verlängern,  während 
zentral  wärt  s  eine  leichte  Erschlaffung  eintritt.  Diese  wirkt 
ebenso,  wie  die  mechanisch  hervorgerufene  Erschlaffung,  d.  h. 
der  Arm  schlägt  von  der  Reizstelle  fort. 

Unabhängig  von  den  Muskeln  ist  die  Tätigkeit  der  Drüsen, 
die  das  bekannte  Ankleben  der  Tentakel  zur  Folge  hat.  Auf 
ein  reines  Glasstäbchen,  das  geglüht  und  abgekühlt  ist  und 
dauernd  in  Seewasser  aufgehoben  wird,  kleben  normale  Ten- 
takel niemals  an.  Ebensowenig  kleben  sie,  wie  schon  Nagel 
zeigte,  an  Papierstückchen,  die  in  Säure  getaucht  waren.  Auch 
Papier-  oder  Schwammstückchen,  die  mit  Salzlösung  von  hoher 
Konzentration  vollgesogen  sind,  vermögen  nicht  den  Klebereflex 
hervorzurufen.  Dagegen  genügt  es,  ein  reines  Glasstäbchen 
nur  einmal  über  die  Zunge  zu  ziehen,  um  sofort  ein  kräftiges 
und  andauerndes  Kleben  der  Tentakel  zu  beobachten.  Nicht 
selten  sieht  man  kränkelnde  Tiere  auch  an  reine  Glasstäbchen 
ankleben. 

Es  ist  mir  gelungen,  ein  Tier,  das  ganz  normal  war,  in 
diesen  Zustand  erhöhter  Drüsentätigkeit  zu  versetzen,  indem 
ich  es  auf  die  Mundseite  legte.  Nach  einiger  Zeit  begannen 
alle  Arme  klebrig  zu  werden.  Ob  dies  ein  Hilfsmittel  ist,  um 
losgerissene  Aktinien  schnell  wieder  zu  verankern,  steht  dahin. 
Das  Tier,  in  die  normale  Lage  gebracht,  verlor  nach  und  nach 
seine  Klebrigkeit. 

Wir  haben  demnach  drei  getrennte  physiologische  Faktoren 
vor  uns,  von  denen  jeder  auf  eine  getrennte  anatomische  Grund- 
lage Anspruch  erheben  kann:  1.  Die  Drüsen,  die  den  klebrigen 
Schleim  produzieren,  müssen  ein  eigenes  Nervensystem  besitzen, 
das  sie  mit  ihren  sehr  spezialisierten  Rezeptoren  verbindet,  die 
nur  auf  den  chemischen  Reiz  der  Nahrung  reagieren.  2.  Die 
Ringmuskeln,  die  auf  jeden  chemischen  Reiz  antworten.    Auch 


Anemonia  sulcata.  67 

sie  bedürfen  eines  eigenen  Nervennetzes  und  eigener  Rezep- 
toren, die  aber  weniger  spezialisiert  sind  und  auf  chemische 
Reize  aller  Art  ansprechen.  3.  Die  Längsmuskeln  verlangen 
ein  besonderes  Nervennetz,  das  sie  mit  ihren  Tangorezeptoren 
verbindet.  Diese  drei  selbständigen  Reflexbögen,  die  auf  ver- 
schiedene Reize  eingestellt  sind,  handeln  trotzdem  gemeinsam, 
weil  sie  räumlich  an  das  gleiche  Organ  gebunden  sind.  Ihr 
Zusammenarbeiten  ist  überraschend  zweckmäßig  und  den  Be- 
dürfnissen der  Anemonen  angepaßt. 

Fällt  auf  die  Anemone  ein  Steinchen,  so  müssen  die  Arme 
es  passieren  lassen,  denn  es  verursacht  nur  Unordnung  und  ist 
gänzlich  ungenießbar.  Das  kann  auf  verschiedene  Weise  ge- 
schehen. Entweder  der  Stoß  des  Steines  ruft  keine  Erregung 
hervor  und  er  gleitet  einfach  zwischen  den  glatten  Tentakeln 
hindurch.  Oder  er  bleibt  liegen  und  dehnt  dann  die  von  ihm 
belasteten  Tentakel,  die  darauf  fortklappen  und  ihre  Last 
fallen  lassen.  Oder  die  Erschütterung  des  fallenden  Steines 
war  stark  genug,  die  Längsmuskel  reflektorisch  zu  verkürzen, 
dann  ziehen  sich  die  Arme  von  ihm  zurück.  Der  gleiche  Effekt 
wird  erzielt,  wenn  ein  Arm  durch  den  Stein  geklemmt  wird. 
In  jedem  Falle  sinkt  der  Stein  zu  Boden. 

Naht  sich  der  Anemonia  ein  Tier,  das  nicht  wie  der  Stein 
chemisch  indifferent  ist,  so  werden  die  Tentakel  durch  Ring- 
muskelreflex lang  werden  und  an  das  fremde  Tier  anstoßen. 
Produziert  dieses  chemisch  schädliche  Stoffe,  wie  es  etwa  eine 
säurebildende  Nacktschnecke  tut,  so  werden  auf  die  Berührung 
hin  die  Längsmuskeln  sich  zusammenziehen,  weil  ihre  Rezep- 
toren durch  den  chemischen  Reiz  erregbar  gemacht  und  sie 
selbst  durch  die  Dehnung  der  Erregung  zugänglicher  geworden 
sind.     Auf  diese  Weise  vermeidet  Anemonia  die  Schädlichkeit. 

War  das  Tier  eßbar,  z.  B.  ein  kleiner  Oktopus  de  Philippi, 
so  werden  die  Tentakel  gleichfalls  lang,  die  Längsmuskeln  ver- 
kürzen sich  auch,  aber  nicht  so  stark,  d.  h.  sie  ziehen  sich  nur  an 
den  Berührungsstellen  zusammen.  Dadurch  werden  sie  zu 
Ranken,  die  sich  um  die  Beute  schlingen,  und  fahren  dann 
erst  in  gemeinsamer  Kontraktion  zusammen.  Aber  sie  fahren 
nicht  leer  zurück,  denn  die  Drüsen  haben  infolge  des  Nahrungs- 
reizes die  Beute  am  Arm  festgeklebt,  und  diese  wird  nun  mit 
fortgerissen.      Handelt    es    sich    um    einen    leicht    beweghchen 

5* 


ßg  Anemonia  sulcata. 

Bissen,  etwa  ein  Stückchen  Fischfleisch,  so  schlägt,  wie  Nagel 
das  beschrieben,  der  Tentakel  zum  Munde  hin.  Dies  geschieht 
durch  die  überwiegende  Kontraktion  des  weißen  Stranges,  der 
die  Beute  immer  nach  dem  Munde  ziehen  muß. 

Was  die  Nesselkapseln  betrifft,  so  hat  Parker  beobachtet, 
daß  sie  auf  chemische  Reize  hin  explodieren  (sie  bestehen  bekannt- 
lich aus  einem  Spiralfaden,  der  in  einer  giftgefüllten  Kapsel  ruht). 
Dagegen   sind  Nahrungsreize  für  die  Nesselkapseln   indifferent. 

Die  Drüsen  zeigen  in  ihrem  Bau  deutlich  zwei  verschie- 
dene Typen.  Auch  wird  auf  chemischen  Reiz  zweierlei  Schleim 
sezerniert.  Der  eine,  der  am  Gegenstand  klebt,  und  ein  zweiter, 
der  den  ganzen  Arm  mit  einer  dichten  Hülle  umgeben  kann 
und  ihn  vor  weiterer  Schädlichkeit  bewahrt. 

Über  die  Muskeln  des  Körpers  sind  wir  durch  Jordan 
freilich  an  einer  anderen  Aktinienart,  nämlich  Aktinoloba,  unter- 
richtet worden.  Da  mit  seiner  Aktinienarbeit  die  schönen 
Muskeluntersuchungen  dieses  Forschers  einen  vorläufigen  Ab- 
schluß erreicht  haben,  sei  es  mir  vergönnt,  näher  auf  seine 
grundlegenden  Resultate  einzugehen.  Jordan  hat  sich  mit 
solchen  Tieren  beschäftigt,  deren  Muskulatur  ein  zentrales  Netz 
beherbergt  und  daher  dem  Einfluß  der  statischen  Erregung  nicht 
entzogen  werden  kann.  Er  nennt  solche  Muskeln  Tonus - 
muskeln.  Da  das  zentrale  Netz  sich  überallhin  verbreitet,  spricht 
er  diesen  Tieren  einen  generellen  Reflex  zu,  im  Gegensatz  zu 
anderen  Tieren,  die  viele  individualisierte  Reflexe  aufweisen 
und  zahlreiche  Reflexbögen  besitzen.  Deshalb  nennt  er  die 
Tiere  mit  Tonusmuskulatur  reflexarme  Tiere.  Auch  die  re- 
flexarmen Tiere  können  eine  gewisse  Subordination  des  Netzes 
unter  höhere  Zentren  aufw^eisen. 

Bei  den  Aktinien  gibt  es  keine  Subordination.  Bei  ihnen 
treten  die  Grundgesetze  der  Tonusmuskeln,  die  Jordan  auf- 
gestellt hat,  ohne  weiteres  zutage.  Erstens  ist  die  Reizbarkeit 
abhängig  vom  Niveau  der  statischen  Erregung  oder,  was  dasselbe 
sagen  will,  vom  Grade  des  Tonus:  ,,Je  niedriger  der  Tonus,  desto 
höher  der  Grad  der  Reizbarkeit."  Es  ist  dieses  die  gleiche 
Regel,  die  ich  auch  für  die  Seeigel  nachweisen  konnte.  Zweitens 
findet  Jordan,  daß  die  Strecke,  um  die  sich  ein  Tonusmuskel 
auf  den  gleichen  Reiz  zusammenzieht,  ebenfalls  abhängig  vom 
Tonus   ist:  sie  wächst,  wenn  der  Tonus  fällt.     Schließlich  und 


Anemonia  sulcata.  69 

drittens  sinkt  der  Tonus  infolge  der  Belastung.  Auch  dies  ist 
ein  an  anderen  Tieren  nachweisbares  Faktum. 

Jordan  fand  ferner  die  merkwürdige  Tatsache  der  Über- 
tragung des  Tonusfalles  von  einer  Muskelpartie  auf  die  andere. 
Das  zentrale  Netz  übermittelt  den  Tonusfall  vom  gedehnten 
Muskel  zu  den  ungedehnten  Muskelpartien.  Für  Aktinoloba 
vermochte  Jordan  nachzuweisen,  daß  der  durch  starke  Belast- 
ung hervorgerufene  Fall  des  Tonus  aufgehalten  werden  kann, 
wenn  man  eine  ungedehnte  Muskelpartie  neben  der  gedehnten 
stehen  läßt.  Auch  nach  Jordans  Auffassung  ist  der  Tonus 
im  Muskel  ein  Erzeugnis  des  Nervensystems,  und  wenn  wir 
alle  Vorgänge  im  Nervensystem  kurzerhand  als  Erregungsvor- 
gänge bezeichnen,  so  ist  auch  für  die  Tonusmuskel  das  allge- 
meine Erregungsgesetz  gültig,  das  da  besagt,  daß  die  Erregung 
immer  den  gedehnten  Muskeln  zujfließt. 

Während  ich  für  die  Erregung  die  Vorstellung  eines 
Fluidums  bevorzuge,  das  vom  höheren  zum  niederen  Niveau 
fließt,  wählt  Jordan  ein  anderes  Bild  für  den  gleichen  Vor- 
gang. Er  schreibt:  ,,Wir  haben  in  beiden  Fällen  (bei  Aktino- 
loba) ein  Stück  Nerven-Muskelschlauch,  das  wir  belasten  und 
dadurch  seines  Tonus  berauben.  Das  eine  Stück  steht  noch 
in  Verbindung  mit  einem  großen  Gebiete  des  Nervensystems, 
nämhch  vor  allem  mit  der  Mundscheibe,  und  dieses  Gebiet 
muß  über  ,Energie'  verfügen,  da  die  zugehörige  Muskulatur 
Tonus  aufweist.  Mehr  noch,  da  die  einzelnen  Teile  des  Aktinien- 
körpers  sich  in  der  Norm  nicht  gegenseitig  hinsichthch  des 
Tonus  beeinflussen,  so  müssen  die  »Potentiale'  in  all  diesen 
Teilen  ungefähr  gleich  sein.  Ist  aber  durch  Belastung  eine 
wesenthche  Abnahme  des  Tonus  innerhalb  der  Fußmuskulatur 
eingetreten,  so  wird  die  an  sich  unbeeinflußte  Mundscheibe  den 
Fuß  mit  jEnergie'  speisen  müssen." 

Jordan  gelang  es  zu  zeigen,  daß  das  stark  entwickelte 
Nervensystem,  das  den  Mund  der  Aktinien  umgibt,  durchaus 
nicht  die  Rolle  eines  superponierten  Zentralteiles  spielt,  sondern 
daß  überall  die  gleichen  nervösen  Beziehungen  herrschen. 

Die  Septenmuskulatur,  die  bei  Aktinoloba  das  Einstülpen 
der  Mundfläche  ausführt,  besitzt  eine  viel  schnellere  Tonus- 
muskulatur als  die  Wände  und  der  Fuß.  Auch  sie  ist  von 
Jordan  untersucht  worden. 


70  Aneinonia  sulcata. 

Die  von  mir  oben  erwähnten  Versuche  über  die  Arm- 
bewegungen von  Anemonia  sulcata  zeigen  die  Schwierigkeit, 
die  sich  einer  allgemeinen  Anwendung  der  Jordan  sehen  Ein- 
teilung in  generelle  und  individuelle  Reflexe  entgegenstellt. 
Wenn  sowohl  Längs-  wie  Ringmuskeln  wie  die  Drüsen  ein  be- 
sonderes Nervennetz  besitzen,  so  ist  man  schon  im  Zweifel, 
ob  man  noch  im  strengen  Sinn  des  Wortes  von  generellen 
Reflexen  reden  darf.  Jedenfalls  würde  auch  die  geringste 
weitergehende  Spaltung  in  einem  der  drei  Netze  einen  indivi- 
dualisierten Reflexbogen  hervorbringen. 

Ebenso  interessant,  wenn  auch  ganz  anderer  Art  als  die 
Jord ansehen  Arbeiten,  sind  die  Versuche,  die  Bohn  mit  ebenso- 
viel Ausdauer  als  Geschick  an  den  Aktinien  ausgeführt  hat. 
Ihn  interessieren  weniger  die  Reflexe,  die  vom  Rezeptionsorgan 
kommend  durch  das  Nervensystem  den  Muskeln  zufheßen,  als  der 
Einfluß,  der  von  anderen  Lebensprozessen  auf  die  Reflexe  ausgeübt 
wird,  und  der  sich  erst  in  einer  Abänderung  der  Reflexe  offenbart. 

Bohn  untersuchte  die  Aktinien  des  Atlantischen  Ozeans, 
die  innerhalb  der  Flutgrenze  leben  und  die  dem  Rhythmus  des 
steigenden  und  fallenden  Meeres  ausgesetzt  sind.  Diese  Aktinien 
sind  während  der  Flut  geöffnet  und  während  der  Ebbe  ge- 
schlossen. Die  Reize,  die  ihnen  durch  den  Gezeitenwechsel 
zugeführt  werden,  erzeugen  in  den  Aktinien  einen  rhythmischen 
Prozeß,  der  sich  noch  erhält,  wenn  die  Tiere  im  Aquarium 
unter  gleichförmige  Bedingungen  gebracht  werden.  Obgleich 
dauernd  vom  Wasser  umgeben,  schließen  sich  die  Aktinien 
noch  tagelang  regelmäßig,  wenn  draußen  im  Meere  ihre 
Schwestern  unter  dem  Einfluß  der  Ebbe  sich  zusammenziehen. 
Ebenso  öffnen  sie  sich  wieder,  wenn  draußen  die  Flut  zu 
steigen  beginnt.  Dieser  innere  Rhythmus  klingt  langsam  ab. 
Nach  und  nach  werden  die  Aktinien  bloß  noch  von  den  Reizen, 
die  das  Aquariumleben  bringt,  beeindruckt.  Daß  aber  der 
innere  Rhythmus  trotzdem  weiter  fortbesteht,  sieht  man  daran, 
daß  eine  einfache  Erschütterung  die  geschlossene  Aktinie  zur 
Zeit  der  Ebbe  nicht  beeinflußt,  dagegen  zur  Zeit  der  Flut  zum 
öffnen  bringt.  Dagegen  bringt  die  gleiche  Erschütterung  eine 
geöffnete  Aktinie  nur  zur  Zeit  der  Ebbe  zum  Schließen  und 
verläuft  wirkungslos  zur  Zeit  der  Flut. 

Sehr   interessant    sind    ferner    die   Beobachtungen   Bohns 


Anemonia  sulcata.  71 

Über  die  Wirkung  des  Lichtes  auf  die  Aktinien.  Einmal  läßt 
sich  die  Wanderung  der  Aktinien  durch  das  Licht  hervorrufen. 
In  einem  Glasgefäß  stellen  sie  sich  immer  auf  der  dem  Licht 
abgewandten  Seite  auf.  Während  der  Wanderung  können  die 
Aktinien  durch  Steine  oder  Algenblätter  aufgehalten  werden, 
die  eine  rauhe  Oberfläche  besitzen  und  dem  Fuß  einen  besseren 
Halt  gewähren  als  die  Glaswand.  Eine  Tatsache,  die  schon 
Loeb  beobachtet  hatte.  Ferner  hat  die  Beleuchtung  auf  die 
Aktinien  einen  lange  überdauernden  Einfluß,  der  die  Tiere, 
welche  mehrere  Tage  im  Hellen  zugebracht  haben,  befähigt, 
sich  schneller  und  ausgiebiger  auf  den  gleichen  Reiz  zu 
öffnen  als  Tiere,  die  zwar  gleichfalls  im  Hellen  stehen,  die  Tage 
vorher  aber  im  Dunkeln  verbracht  haben.  Endlich  ließ  sich 
auch  ein  Rhythmus  des  öffnens  und  Schließens  nachweisen,  der 
mit  dem  Wechsel  von  Tag  und  Nacht  Hand  in  Hand  ging. 

Der  Rhythmus  zwischen  öffnen  und  Schließen,  der  vom 
Wechsel  der  Tageszeiten  abhängig  ist,  steht  in  enger  Beziehung 
zum  Wohnort,  dem  die  Aktinien  entnommen  sind.  Stammen 
sie  aus  flachen,  algenhaltigen  Felswannen  des  Ufers,  die  sehr 
stark  der  Sonne  ausgesetzt  waren,  so  öffnen  sie  sich  im  hellen 
Aquarium  am  Tag  und  schließen  sich  in  der  Nacht.  Werden 
dieselben  Tiere  im  Dunkelzimmer  gehalten,  so  kehrt  sich  diese 
Reaktion  um.  Sie  öffnen  sich  in  der  Nacht,  bleiben  aber  am 
Tag  geschlossen,  ,,denn  sie  leiden  von  der  Abwesenheit  des 
Lichtes  wohl  am  Tag,  nicht  aber  in  der  Nacht.'* 

Diejenigen  Aktinien  (es  handelt  sich  immer  um  Actinia 
equina),  die  an  beschatteten  Orten  gelebt  haben,  öffnen  sich, 
im  hellen  Aquarium  gehalten,  bei  Nacht  und  schließen  sich 
am  Tag  vor  dem  ungewohnten  SonnenHcht.  Aber  die  Öffnung 
in  der  Nacht  geschieht  rascher  und  ausgiebiger,  wenn  sie  tags 
vorher  beleuchtet  wurden,  als  wenn  sie  den  Tag  im  tiefen  Schatten 
verbracht  hatten.  Die  lange  andauernde  Dunkelheit  ruft  bei 
allen  Aktinien  eine  immer  mehr  zunehmende  Schwächung  der 
Lebensfunktion  hervor.  Ebenso  wirkt  die  Asphyxie  und  die 
lang  andauernde  Bewegung  des  umgebenden  Wassers.  Auch 
ich  habe  bei  Anemonia  sulcata  beobachten  können,  daß  alle 
Reaktionen  der  Arme  bei  sehr  empfindlichen  Exemplaren  durch 
eine  vorhergehende  Bewegung  des  Wassers  herabgesetzt  wurden. 
Nach  einer  kürzeren  oder  längeren  Ruhepause  stellte  sich  die 


72  Anemonia  sulcata. 

alte  Erregbarkeit  wieder  her.     Ähnliches   berichtet   auch  Lulu 
Allenbach. 

Bohn  trennt  die  Wirkung  der  Dunkelheit,  der  Asphyxie 
und  der  Wasserbewegung  als  gegenwärtige  von  den  ver- 
gangenen Beeinflussungen  durch  das  Licht  und  die  Gezeiten. 
Im  Ganzen  gelingt  es  Bohn  überzeugend  nachzuweisen,  daß 
die  Aktinien  die  Fähigkeit  besitzen,  in  sehr  weitem  Maße  den 
Anforderungen  ihrer  Umgebung  gerecht  zu  werden.  Alle  Reize 
der  Außenwelt  können,  einer  Aktinie  übermittelt,  verschiedene 
Wirkungen  hervorrufen,  je  nachdem  die  vergangenen  Reize 
eine  Dauerwirkung  hinterlassen  haben  oder  nicht.  Die  Aktinien 
zeigen  sich  befähigt,  auf  rhythmische  Wirkungen  der  Außenwelt 
rhythmische  Antworten  zu  finden,  die  den  Rhythmus  der  Außen- 
welt sogar  überdauern. 

Diese  Fähigkeiten  werden  von  Bohn  der  ,, lebenden  Sub- 
stanz'* als  solcher  zugeschrieben.  Dies  kann  in  der  Tat  der 
richtige  Schluß  sein.  Aber  welche  lebende  Substanz  ist  eigent- 
lich gemeint  ?  Soll  es  das  Protoplasma  sein,  das  in  den 
Muskelzellen  sitzt,  oder  im  Nervennetz  und  den  Rezeptoren  ? 
Oder  in  allen  dreien? 

Wenn  auch  die  Strukturen  als  etwas  Nebensächliches  zu 
betrachten  sind,  ihre  Existenz  läßt  sich  doch  nicht  ableugnen. 
Und  die  Funktionen,  wie  das  Schließen  und  öffnen  der  Aktinien, 
werden  von  wohldifferenzierten  Geweben  ausgeführt.  Ein 
Reflexbogen  ist  sicher  vorhanden.  Aber  der  Reflex  ist  von 
außerhalb  des  Reflexbogens  beeinflußbar.  Außerhalb  des  diffe- 
renzierten Gewebes,  das  den  Reflexbogen  bildet,  befindet  sich 
das  undifferenzierte  Protoplasma,  das  den  Reflexbogen  hat  ent- 
stehen lassen.    Mehr  wissen  wir  nicht. 

Bei  den  Amöben  läßt  das  Protoplasma  die  Strukturen 
entstehen  und  zerstört  sie  gleich  wieder.  Bei  den  Aktinien 
bleiben  die  Strukturen  bestehen,  aber  das  Protoplasma  bewahrt 
einen  entscheidenden  Einfluß  auf  ihre  Funktion.  Das  Proto- 
plasma vermag  bei  einer  bestimmten  Amöbenart  nur  bestimmte 
Organe  zu  produzieren,  die  eine  bestimmte  Funktion  haben. 
Bei  den  Aktinien  kann  die  Funktion  der  einmal  gebildeten 
Gewebe  auch  nicht  geändert  werden.  Das  Nervensystem  kann 
nur  Erregungen  leiten,  aber  vermag  sich  nicht  zu  verkürzen. 
Die  Muskeln  können  sich  nur  verkürzen,  aber  keine  Erregung 


Anemonia  salcata.  73 

von  Faser  zu  Faser  leiten.  Aber  jede  einzelne  Funktion  kann, 
so  scheint  es,  vom  Protoplasma  gehemmt,  beschleunigt  und  so 
weit  sie  umkehrbar  ist  auch  umgekehrt  werden.  So  kann  auf 
den  gleichen  Reiz  einmal  Erschlaffung,  einmal  Verkürzung  ein- 
treten, je  nach  dem  Eingreifen  des  Protoplasmas. 

Die  biologische  Aufgabe  des  Protoplasmas  besteht  darin, 
die  durch  das  Auftreten  fester  Strukturen  zur  Unveränderlichkeit 
neigende  Reflexfunktion  geschmeidig  zu  erhalten,  so  daß  sie 
sich  dem  wechselnden  Einfluß  der  Umgebung  gewachsen  zeigt. 
Dies  ist  besonders  bei  Tieren  notwendig,  die  nur  wenige  Reflexe 
ausgebildet  haben.  Denn  diese  werden  auch  in  allen  möglichen 
Kombinationen  doch  nicht  die  nötige  Mannigfaltigkeit  erreichen, 
um  dem  Wechsel  der  Umgebung  folgen  zu  könnnn.  Bei  Tieren 
mit  reichem  Reflexleben  sind  nicht  allein  zahlreiche  MögUch- 
keiten  gegeben  durch  Reflexkombination,  dem  Wechsel  der 
Außenwelt  ein  Gegengewicht  zu  halten,  auch  das  Zentralnerven- 
system ist  bei  differenzierteren  Tieren  befähigt,  von  verschiedenen 
Faktoren  der  Umwelt  spezielle  Eindrücke  aufzunehmen  und  auf- 
zubewahren. Diese  Eindrücke  werden  nach  und  nach  zu 
Strukturteilen.  Daher  kann  die  Protoplasmawirkung  immer 
mehr  und  mehr  zurücktreten.  Denn  bei  diesen  Tieren  ist  die 
Umwelt  sozusagen  in  das  Hirn  hinüberdestilhert  und  ihre  Ver- 
änderungen rufen  durch  nervöse  Übertragung  analoge  Verände- 
rungen im  Hirn  hervor.  Da  das  Hirn  einen  reichen  Reflex- 
apparat beherrscht,  zeigen  sich  diese  Tiere  allen  Wechselfällen 
des  Lebens  gewachsen. 

Die  einfachen  Nervennetze  der  Aktinien  sind  für  solche 
Leistungen  ganz  und  gar  nicht  eingerichtet.  Deshalb  muß  sie 
der  regulierende  Einfluß  des  Protoplasmas  mit  dem  Wechsel 
der  Umwelt  vertraut  machen.  Wie  das  geschieht  und  wo  das 
geschieht,  darüber  vermögen  wir  nicht  einmal  Vermutungen 
aufzustellen,  aber  daß  es  geschieht,  ist  wohl  eine  unbezweifel- 
bare  Tatsache. 

Interessant  ist  es,  an  den  Befunden  Bohns  die  beiden 
Theorien  zu  messen,  die,  wie  Bohn  sich  ausdrückt,  die 
Forscher  Amerikas  in  zwei  Lager  spalten.  Unzweifelhaft  ist 
durch  diese  Versuche  nachgewiesen,  daß  es  sich  beim  Photo- 
tropismus von  Loeb  nicht  bloß  um  unaufgelöste  Reflexe  handelt, 
sondern  eine  direkte  Wirkung  des  Lichtes  auf  das  Protoplasma 


74  Anemonia  sulcata. 

angenommen  werden  muß.  Diese  Wirkung  ist  aber  keine 
mechanische,  da  das  Protoplasma  die  Fähigkeit  besitzt,  alle 
vitalen  Reize  planmäßig  zu  verwerten.  Die  Versuche  Bohns 
geben  andererseits  auch  Jennings  recht,  wenn  er  von  der 
Wirkung  innerer  Prozesse  auf  die  Bildung  von  Gewohnheiten 
spricht.  Sie  widersprechen  aber  der  Lehre  vom  ,, Versuch  und 
Irrtum",  denn  die  Planmäßigkeit  wird  nicht  gesucht  und  dann 
erst  gefunden,  sondern  sie  ist  selbst  die  fundamentale  Eigen- 
schaft des  Protoplasmas  und  vor  allen  Versuchen  vorhanden. 
Wie  man  sieht,  behalten  die  Theorien,  die  sich  mit  dem  Proto- 
plasma befassen,  gerade  so  lange  recht,  bis  sie  eine  mecha- 
nische und  physikalische  Deutung  zu  geben  versuchen.  Die 
mechanische  Deutung  tritt  erst  dann  in  ihr  Recht,  wenn  es 
sich  nicht  mehr  um  Protoplasma,  sondern  um  Strukturen 
handelt. 

Wenn  uns  die  Bohnschen  Beobachtungen  davon  über- 
zeugten, daß  bei  den  Aktinien  die  Wirkung  des  Protoplasmas 
unverkennbar  ist,  so  können  wir  den  Versuchen,  die  Jennings 
in  dieser  Richtung  bei  den  Aktinien  angestellt  hat,  die  gleiche 
Überzeugungskraft  nicht  zuerkennen.  Jede  Anemone  besitzt 
die  drei  wesentlichen  Strukturelemente  des  Reflexbogens:  die 
Rezeptoren,  das  Nervensystem  und  die  Muskeln.  Jedes  dieser 
Elemente  hat  physiologische  Eigenschaften,  d.  h.  es  ist  in  ge- 
wissen Grenzen,  die  von  seiner  Bauart  abhängen,  variabel. 
Die  Muskeln  ermüden  durch  Anhäufung  ihrer  eigenen  Stoff- 
wechselprodukte. Die  Rezeptoren  werden  leicht  erschöpft, 
wenn  sie  einen  zersetzUchen  Stoff  beherbergen,  dessen  Zer- 
setzung der  Nervenerregung  dient.  Das  Nervensystem  ist  am 
allervariabelsten,  weil  seine  Leistungen  von  der  Menge  der  Er- 
regungen abhängig  sind,  die  es  im  Moment  beherbergt. 

Diese  Faktoren  hat  Jennings  nicht  genügend  berücksichtigt. 
Er  findet  z.  B.,  daß  eine  Aktinie,  die  anfangs  Papierstückchen 
fraß,  diese  Gewohnheit  aufgibt,  nachdem  man  ihr  ein  paar 
Fleischstückchen  gereicht  hat.  Lulu  Alienbach  führte  den 
gleichen  Versuch  aus,  schaltete  aber  die  Wirkung  der  Sättigung 
aus,  indem  sie  sowohl  Papier  wie  Fleischstückchen,  wenn  sie 
zum  Munde  gelangt  waren,  wieder  fortnahm.  Trotzdem  blieb 
der  Erfolg  der  gleiche.  Die  Papierstückchen  wurden  abgelehnt, 
nachdem  man  das  Fleisch  gegeben  hatte.    Das  besagt,  daß  der 


Anemonia  sulcata.  75 

stärkere  Reiz  den  schwächeren  unwirksam  macht.  Es  handelt 
sich  also  bloß  um  eine  Beeinflussung  der  Rezeptoren  und 
nicht  um  einen  inneren  Prozeß  im  Jennings sehen  Sinn. 

Gewiß  gibt  es  auch  innere  Prozesse,  die  wir  mit  den 
Worten  Hunger  und  Sättigung  bezeichnen.  Aber  diese  Prozesse 
sind  noch  gar  nicht  analysiert,  und  in  welcher  Weise  sie  auf 
den  Reflexbogen  einwirken,  ist  uns  unbekannt.  MögHcherweise 
wirken  sie  mittels  bestimmter  StofEwechselprodukte  nach  einer 
ganz  festen  Regel  auf  die  Rezeptoren  oder  das  Nervensystem 
ein  und  gehören  somit  zu  dem  Bauplan  des  Tieres,  der  weder 
durch  Hunger  noch  Sättigung  eine  Änderung  erfährt. 

Jennings  führt  selbst  einen  sehr  lehrreichen  Versuch  an, 
der  deuthch  zeigt,  wie  leicht  man  sich  über  die  inneren  Prozesse 
täuschen  kann.  Eine  Anemone,  die  ihre  Tentakel  nach  hnks 
hin  ausbreitete,  wurde  durch  mehrfache  Reizung  dazu  gebracht, 
sie  nach  rechts  hin  auszubreiten.  Dies  war  aber  keine  neuer- 
worbene Gewohnheit,  %\de  es  den  Anschein  hatte,  denn  es 
zeigte  sich,  daß  die  Wandmuskeln  infolge  des  Reizes  dauernd 
einseitig  verkürzt  blieben. 

Wenn  Jennings  die  These  aufstellt,  die  Tiere  seien  ein 
Bündel  von  Prozessen,  so  bleibe  ich  bei  meiner  These,  die 
Tiere  sind  ein  Bündel  von  Reflexen.  Unserem  Verständnis 
sind  die  mechanischen  Vorgänge  in  den  Reflexbögen  unmittel- 
bar zugängUch.  Diese  sind  daher  in  den  Mittelpunkt  der  Be- 
trachtung zu  stellen.  Erst  wenn  man  eine  deuthche  räumliche 
Anschauung  besitzt,  kann  man  die  Abänderung  dieser  Vorgänge 
durch  fremde  Einwirkung  betrachten,  ohne  befürchten  zu 
müssen,    daß    sich   alles  in  eine  allgemeine   Unklarheit  auflöst. 

Die  Nahrungsaufnahme  der  Aktinien  ist  bereits  bis  zum 
Überdruß  geschildert  worden.  Am  eindrucksvollsten  bleibt  die 
Beschreibung,  die  Nagel  gegeben  hat  und  die  mit  einer  guten 
schematischen  Zeichnung  illustriert  ist.  Zwei  Faktoren  kommen 
zunächst  in  Betracht,  die  Tentakel  und  die  Mundmembran. 
Ferner  beteiligt  sich  das  Schlundrohr  am  Freßakt  und  schließ- 
hch  die  gesamte  Muskulatur  des  Tieres,  soweit  sie  den  Binnen- 
druck der  Arme  und  des  Magensackes  reguliert.  Die  hohlen 
Tentakel  besitzen  eine  Öffnung  an  der  Spitze,  die  aber  für  ge- 
wöhnlich verschlossen  bleibt.  Dagegen  ist  die  Öffnung,  die 
zum    Lumen    der    Septenkammer    und    somit    in    den    Gastro- 


76  Anemonia  sulcata. 

Vaskularraum  des  Tieres  führt,  bald  offen,  bald  verschlossen. 
Wenn  man  einem  Tentakel  die  Spitze  abschneidet  und  ihn 
dann  auf  ein  Glasrohr  bindet,  durch  das  man  Luft  dem  Tier 
einbläst,  so  wird  man  bald  in  diesem,  bald  in  jenem  Tentakel 
die  Luft  eintreten  sehen,  während  die  übrigen  sich  ihr  dauernd 
verschließen.  Auch  trifft  man  manchmal  auf  Exemplare,  die 
lauter  steife,  prall  gefüllte  Tentakel  besitzen,  die  sehr  schwer 
reagieren,  weil  sie  einen  zu  hohen  Binnendruck  besitzen,  den 
sie  nicht  an  das  Gesamttier  abzugeben  vermögen. 

Ist  mit  Hilfe  der  drei  Reflexe  der  Arme,  der  Ringmuskel- 
kontraktion, dem  Kleben  und  der  Längsmuskelkontraktion, 
wobei  der  weiße  Strich  sich  besonders  hervortut,  die  Speise 
zum  Mund  gebracht  worden,  so  werden  die  zunächst  hegenden 
Arme  durch  den  starken  dauernden  chemischen  Reiz  in  dünne 
Fäden  verwandelt,  die  wie  zähe  Ranken   an  der   Beute  sitzen. 

Ist  der  Mund,  der  sich  erst  durch  die  Kontraktion  der 
Radiärmuskeln  öffnete,  bis  an  die  Beute  gelangt,  so  schließt 
er  sich  mit  Hilfe  der  Zirkulärmuskeln  wieder.  Meist  ist  das 
Mundrohr  deuthch  zutage  getreten  und  hat  die  Speise  um- 
schlossen. Die  Schleimhaut  des  Mundrohres,  die  für  gewöhnlich 
von  innen  nach  außen  flimmert,  kehrt,  wie  Parker  gefunden, 
ihre  Flimmerrichtung  um,  sobald  sie  von  den  chemischen 
Reizen  der  Speise  getroffen  wurde.  Außer  dem  Verschlucken 
kommt  noch  eine  andere  Art  der  Nahrungsaufnahme  bei 
Anemonia  vor.  Ich  fütterte  ein  Tier  mit  den  Stücken  eines 
Seeigeleierstocks,  die  wohl  zum  Munde  geführt,  aber  nicht  ver- 
schluckt wurden.  Dafür  fand  sich  nach  einigen  Stunden  der 
Eierstock  dicht  von  Mesenterialfilamenten  umschlungen. 

Das  Verhältnis  der  Aktinien  zu  ihrer  Umwelt  ist  ein  be- 
sonders interessantes.  Ihr  Nervensystem,  das  in  drei  getrennte 
Nervennetze  zerfällt,  besitzt  nur  analytische  Funktionen.  Das 
Beutetier  wird  von  den  Rezeptoren  in  seine  physikahschen  und 
chemischen  Eigenschaften  zerlegt.  Eine  Synthese  findet  im 
Nervensystem  nicht  statt.  Nur  das  Zusammenarbeiten  der 
verschiedenen  Muskulaturen  und  Drüsen  am  gleichen  Organ 
führt  zur  Synthese  einer  einheitlichen  Handlung.  Es  ist  die 
Innenwelt  einer  Aktinie  keine  Einheit,  sondern  mindestens  eine 
Dreiheit.  Bald  geraten  die  einzelnen  Faktoren  getrennt,  bald 
gemeinsam    in    Erregung    und    bringen   ihre    Gefolgmuskel    zur 


Medusen.  7  7 

Verkürzung.  Die  Einheit  liegt  nur  im  Bauplan  des  Gesamt- 
tieres. Dies  lehrt  uns  handgreiflich,  daß  das  Zentralnerven- 
system nicht  die  Einheit  des  Tieres  zuwege  bringt,  wie  es 
bei  komplizierten  Tieren  oft  den  Anschein  hat.  Das  Zentral- 
nervensystem ist  genau  so  ein  Teilorgan  oder  eine  Summe  von 
Teilorganen,  wie  alle  anderen  Organe.  Nach  den  Bedürfnissen 
des  Gesamttieres  wird  das  eine  oder  das  andere  Organ  mehr 
ausgebaut. 

Für  die  Umwelt,  in  der  die  meisten  Aktinien  leben,  ge- 
nügt das  einfache  Bündel  der  drei  Reflexe.  Wo  sie  in  großen 
Mengen  rasenbildend  den  Meeresgrund  überziehen,  sind  sie  dem 
Einfluß  der  Gezeiten  entzogen,  und  je  tiefer  sie  wohnen,  desto 
geringer  wird  der  Wechsel  der  Tages-  und  Nachtzeiten  sie  be- 
einflussen. Je  höher  aber  die  Aktinien  wohnen,  je  mehr  wirken 
der  Tages-  und  der  Gezeitenwechsel  auf  sie  ein.  Dazu  kommt, 
daß  sie,  auf  der  Wanderung  begriffen,  aus  tiefem  Schatten  an 
das  Licht  gelangen  können  oder  aus  dem  Gezeitenwechsel  in 
die  Tiefe  und  umgekehrt.  Überallhin  begleitet  sie  die  Vor- 
sorge des  Protoplasmas,  das  den  Wechsel  der  Umwelt  mit 
stillem  Rhythmus  wiedergibt,  der  die  Erregbarkeit  steigernd  oder 
beruhigend  auf  die  Reflexorgane  wirkt.  So  stehen  die  Aktinien 
noch  an  der  Kindheit  Grenze,  dem  Gängelbande  des  Proto- 
plasmas noch  nicht  ganz  entwachsen,  und  doch  schon  im  Be- 
sitze ausgebildeter  Reflexorgane  den  voll  entwickelten  Tier- 
arten gleichend. 

Medusen. 

1.  Rhizostoma  pulmo. 

Die  Oberfläche  des  Meeres  ist  eine  einzige  Weide  mit 
reichem  Pflanzenwuchs  übersäet.  Wie  auf  den  Landweiden 
sich  die  Lämmer  ernähren,  so  ernähren  sich  auf  der  Meeres- 
weide die  Medusen.  Ebenso  verschiedenartig  wie  die  beiden 
Weiden,  ebenso  verschiedenartig  sind  die  Tiere,  die  darauf 
leben.  Aber  in  jedem  Falle  passen  Weide  und  Weidender 
gleich  vollkommen  zueinander. 

Der  Pflanzenwuchs  des  offenen  Meeres  besteht  aus  den 
zahllosen  einzelligen  Algen,  insbesondere  Diatomeen,  die  in  ver- 


78  Medusen. 

schiedener  Dichte  und  in  wechselnde  Tiefe  hinab  wie  feinste 
Pünktchen  aufgehängt  sind.  Sie  können  jeder  Wellenbewegung 
widerstandslos  folgen  ohne  ihren  Platz  zu  wechseln,  wie  das 
Wasser  selbst.  Um  diesen  feinen  Nahrungsstaub  aufzunehmen, 
bedarf  das  weidende  Tier  eines  pulsierenden  Magens,  der  das 
Wasser  unfiltriert  aufnimmt  und  filtriert  entläßt.  Nur  auf 
diese  Weise  kann  der  Nahrungsstaub  in  genügender  Menge 
gesammelt  werden,  um  ein  größeres  Tier  zu  ernähren.  Zugleich 
muß  das  Tier,  wenn  es  schwerer  als  das  Wasser  ist,  Schwimm- 
bewegungen ausführen,  die  es  an  der  Oberfläche  halten. 

Die  Betrachtung  von  Rhizostoma  pulmo,  einer  der  großen 
Medusen  des  freien  Mittelmeeres,  lehrt  uns,  auf  welche  geist- 
reiche Weise  die  beiden  notwendigen  Bewegungen  der  Nahrungs- 
aufnahme und  des  Schwimmens  mit  einander  verknüpft  sind.  Eine 
ruhende  Rhizostoma  gleicht  annähernd  einem  aufgeschlagenen 
Regenschirm,  der  aus  elastischer  Gallerte  verfertigt  ist.  Sie 
zeigt  sowohl  Stiel  wie  Schirm.  Der  Stiel  gleicht  seinerseits 
einem  schweren  herabhängenden  Eiszapfen.  Er  ist  mit  Längs- 
kanälen durchsetzt,  in  die  von  außen  feine  Poren  münden,  die 
der  Wasseraufnahme  dienen.  Der  Stiel  ist  mit  vier  federnden 
Spangen  an  die  Unterseite  des  gleichfalls  federnden  Gallert- 
schirmes befestigt.  Zwischen  den  vier  Spangen  ist  der  häutige 
Magen  ausgespannt,  in  den  die  Längskanäle  des  Stieles  münden. 
Es  gilt,  einmal  den  Magen  in  rhythmische  Pulsation  zu 
versetzen,  und  zweitens  Schwimmbewegungen  mit  dem  Schirm 
auszuführen.  Beides  geschieht  durch  eine  feine  Schicht  Ring- 
muskeln, die  am  inneren  Schirmrande  sitzen  und  bei  ihrer  Zu- 
sammenziehung den  elastischen  Schirm  stark  nach  oben  wölben. 
Lassen  die  Muskeln  in  ihrer  Tätigkeit  nach,  so  flacht  sich  der 
Schirm  dank  seiner  Federkraft  wieder  ab.  Da  der  durch  die 
Muskeln  herbeigeführte  Schirmschlag  nach  unten  energischer 
ist,  als  der  federnde  Schlag  nach  oben,  so  ist  damit  eine  Be- 
wegung des  Gesamttieres  nach  oben  gegeben.  Der  schwere 
Stiel  sorgt  dafür,  daß  die  Richtung  „Schirm  oben"  dauernd 
erhalten  bleibt  und  nach  äußeren  Störungen  bald  wieder  ein- 
genommen wird. 

Damit  ist  die  Schwimmbewegung  gegeben.  Bei  jeder  Kon- 
traktion des  Schirmrandes  wird,  wie  wir  sahen,  der  Schirm 
gewölbt    und   der  Gipfel    nach   oben  gedrängt.     Dadurch  wird 


Medusen.  7  9 

ein  Zug  auf  den  Stiel  ausgeübt.  Dieser  kann  dem  Zug  nicht 
allsogleich  folgen,  weil  sein  Reibungswiderstand  im  Wasser  zu 
groß  ist.  Daher  werden  die  federnden  Spangen  gedehnt  und 
das  Magenlumen  erweitert.  Nach  Beendigung  des  Muskel - 
Schlages  flacht  die  Glocke  wieder  ab,  die  Spangen  federn  zurück, 
der  Stiel  nähert  sich  dem  Schirm  und  verengert  das  Lumen 
des  Magens.  Auf  diese  Weise  wird  die  Schirmbewegung  und 
die  Magenbewegung  durch  eine  einzige  Muskeltätigkeit  ausgelöst. 
Die  Pulsationen  des  Magens  treiben  ihrerseits  die  Nahrung  in 
die  Verdauungskanäle,  die  sich  an  der  Unterseite  des  Schirmes 
strahlenförmig  ausbreiten.  Zugleich  dringt  auf  diesem  Wege 
frisches  Atemwasser  zu  den  inneren  Geweben.  So  werden 
durch  die  Kontraktion  der  Randmuskeln  alle  Bewegungs- 
funktionen, deren  der  Körper  bedarf,  ausgeführt. 

Die  Tätigkeit  der  Randmuskeln  ist  also  für  Rhizostoma 
ungleich  wichtiger  als  es  sonst  Bewegungen  peripherer  Teile  in 
der  Regel  sind.  Denn  bei  Rhizostoma  werden  die  Funktionen 
des  Schwimmens,  Fressens,  Verdauens  und  Atmens  durch  die 
Ringmuskeln  ausgeführt  oder  wenigstens  eingeleitet.  Kein 
Wunder,  daß  sich  das  ganze  animale  Leben  des  Tieres  auf 
diese  Muskeln  konzentriert.  Hier  sitzen  die  einzigen  Rezeptions- 
organe, die  sogenannten  Randkörper,  hier  sitzt  das  ganze  Nerven- 
system. 

Die  kurzen  Muskelfasern,  die  gemeinsam  das  lange  Band 
bilden,  das  den  Schirmrand  umschlingt,  zeigen,  wenn  sie  direkt 
gereizt  werden,  keine  besonderen  Eigenschaften.  Sie  ziehen 
sich  einfach  zusammen,  solange  der  Reiz  dauert.  Niemals  greift 
die  Erregung  von  einer  Muskelfaser  zur  anderen  über.  Sie 
bilden,  wie  alle  Muskelfasern  aller  Tiere,  die  einzelnen  Tasten 
des  Klaviers,  die  vom  Nervensystem  aus  einzeln  angeschlagen 
werden  müssen,  um  zu  klingen. 

Im  normalen  Leben  der  Medusen  antworten  die  Muskeln 
aber  niemals  anders  als  rhythmisch.  Immer  folgt  auf  eine  Ver- 
kürzung eine  vollkommene  Erschlaffung.  Dann,  nach  einer 
kurzen  Ruhepause,  beginnt  die  nächste  Verkürzung.  Dieser 
Rhythmus  wird  von  verschiedenen  Faktoren  beeinflußt.  Die 
Wärme  beschleunigt  ihn  und  die  Kälte  verlangsamt  ihn.  Die 
Abtragung  des  Stieles,  welche  die  Muskelarbeit  erleichtert,  be- 
schleunigt  den   Rhythmus.     Werden  einzelne  Randstücke    mit 


gQ  Medusen. 

ihren  Muskeln  abgetragen,  so  wird  dadurch  der  Rhythmus  nicht 
vernichtet.  Nur  schlagen  die  einzelnen  Stücke  nicht  mehr  in 
den  gleichen  Phasen.  Es  hat  also  der  gemeinsame  elastische 
Widerstand,  den  die  Muskeln  in  gemeinsamer  Arbeit  überwinden 
müssen,  die  Wirkung,  daß  der  Rythmus  überall  im  gleichen 
Tempo  vor  sich  geht. 

Wir    haben    schon    von    dem   allgemeinen  Erregungsgesetz 
gesprochen,    demzufolge    die    Erregung   immer    den    gedehnten 
Muskeln  zufließt.    Werden  nun  alle  Muskeln  von  einer  gemein- 
samen Feder   gleichzeitig  gedehnt,   so  wird  die  Erregung  auch 
allen  Muskeln   zu   gleicher  Zeit  zufließen.     Dadurch  erhält  der 
Rhythmus  überall  die  gleiche  Phase.    Aber  der  Rhythmus  selbst 
ist    damit    nicht   ausreichend  erklärt.     Wohl  läßt  sich  das  all- 
gemeine Erregungsgesetz  darauf  zurückführen,  daß  die  Erregung 
im  zentralen  Netz  nur  deshalb  zu  den  gedehnten  Muskeln  fließt, 
weil  sie  durch  die  Dehnung  ärmer  an  Erregung  geworden  sind. 
Ist    die  Erregung   in    sie   eingetreten,    so  hört  die  Armut  auf, 
und  damit  verlieren  die  Muskeln  ihre  Anziehungskraft  auf  die 
Erregung.    Auf  diese  Weise  lassen  sich  die  rhythmischen  Reflex- 
bewegungen,  wie  sie  viele  Gehbewegungen  der  Tiere  charakte- 
risieren,   ableiten.      Allein    diese   rhythmischen  Reflexe  werden 
nicht  zwangsmäßig  ausgeführt,  sondern  können  jederzeit  durch 
das  Auftreten  eines  stärkeren  Reizes  oder  eines  äußeren  Hinder- 
nisses abgeändert  werden.      Der  Rhythmus    der   Medusen    hin- 
gegen ist  echt  und  unabänderlich.     Auch  die  stärksten  Dauer- 
reize,  die  das  zentrale  Netz  treffen,   sind  nicht  imstande,   den 
Rhythmus  zu  durchbrechen  und  eine  Dauerkontraktion  hervor- 
zurufen.     Solange    die   Muskeln    sich  verkürzen,    ist  jede   Ver- 
bindung zwischen  ihnen  und  dem  zentralen  Netz  unterbrochen. 
Die  völlige  Unterbrechung  der  Leitung  zwischen  Netz  und 
Muskel    muß    einem    nervösen   Apparat   zugeschrieben   werden, 
den  wir  Unterbrecher  nennen  können.     Über  seine  Leistungen 
wissen  wir  femer,  daß  die  Muskeln  der  Medusen,  wie  die  Mus- 
keln aller  derjenigen  Organe  der  höheren  Tiere,  die  einen  echten 
Rhythmus   zeigen,  bei  jeder  Art  von  Reizung  sich  immer  nur 
maximal  und  niemals  untermaximal  kontrahieren.    Das  beweist, 
daß    der  Unterbrecher  immer  nur    eine    ausgiebige  Erregungs- 
portion in  die  Muskeln  einläßt  oder  gar  nichts.     Diese  beiden 
Eigenschaften  kann  man  dazu  benutzen,  um  sich  eine  ungefähre 


Medusen.  g  1 

Vorstellung  dieses  sonderbaren  Organes  zu  machen.  Offenbar 
hat  der  Unterbrecher  die  Fähigkeit,  die  Erregungen,  die  im 
zentralen  Netz  vorhanden  sind,  so  lange  zu  stauen,  bis  ein  ge- 
nügendes Quantum  vorhanden  ist,  das  da  ausreicht,  um  die 
Muskeln  in  maximale  Tätigkeit  zu  versetzen. 

Während  dieser  Stauungsperiode  ist  der  Unterbrecher  zum 
zentralen  Netz  hin  geöffnet,  zum  Muskel  hin  aber  geschlossen. 
Hat  die  Stauung  ihren  Höhepunkt  erreicht,  so  schlägt  der 
Unterbrecher  um  und  schließt  sich  gegen  das  zentrale  Netz  ab. 
Das  nennt  man  seine  refraktäre  Periode.  Zugleich  öffnet  er 
sich  aber  zu  den  Muskeln  hin  und  gibt  ihnen  seine  volle 
Ladung  von  Erregung  ab. 

Die  Vorstellung  eines  nervösen  Apparates  mit  Unterbrecher- 
eigenschaften bringt  auch,  wenn  sie  noch  so  vage  ist,  die 
beiden  Leistungen,  die  in  der  Physiologie  unter  dem  Namen 
,, refraktäre  Periode"  und  „Alles-  oder  Nichtsgesetz"  bekannt 
sind,  in  einen  verständlichen  Zusammenhang.  Das  Alles-  oder 
Nichtsgesetz  fordert,  daß  Erregung  gestaut  werde,  und  die  re- 
fraktäre Periode  bedeutet  Leitungsunterbrechung.  Nun  ist  es 
selbstverständlich,  daß  ein  Organ,  das  die  Erregung  zu  stauen 
vermag,  auch  die  Fähigkeit  haben  muß,  ihr  Weiterfließen  zu 
verhindern,  d.  h.  die  Erregungsleitung  zu  unterbrechen.  Anderer- 
seits muß  ein  Organ,  das  die  Leitung  der  Erregung  aufhebt, 
auf  die  neu  hinzufließende  Erregung  stauend  wirken.  Wenn 
wir  von  einem  Unterbrecher  sprechen,  so  meinen  wir  damit 
ein  nervöses  Organ,  das  zwischen  Nervennetz  und  Muskelfaser 
eingeschaltet  ist.  Es  wird  sich  später  zeigen,  daß  bei  allen 
Tieren  an  dieser  Stelle  ein  besonderer  Apparat  vorhanden  ist, 
der  im  allgemeinen  die  Aufgabe  hat,  die  Ansprüche  der  Mus- 
keln auf  die  Erregung  im  zentralen  Netz  zu  regeln.  Ich 
nenne  dieses  Organ  den  Repräsentanten  und  betrachte  dem- 
entsprechend den  Unterbrecher  der  Medusen  als  einen  umge- 
wandelten Repräsentanten. 

Werfen  wir  noch  einen  Blick  auf  den  Rhythmus  der  Me- 
dusenmuskeln, so  können  wir,  wie  gesagt,  drei  Phasen  unter- 
scheiden: die  Kontraktionsperiode,  die  Erschlaffungsperiode 
und  die  Pause.  Beim  Unterbrecher  kennen  wir  nur  zwei 
Perioden:  Füllung  und  Leerung.  Während  der  Füllung  öffnet 
er  sich  zum  zentralen  Netz  und  während  der  Leerung  zu  den 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  6 


g2  Medusen. 

Muskeln.  Es  fällt  die  Leerungsperiode  des  Unterbrechers  mit 
der  Kontraktionsperiode  der  Muskeln  zusammen.  Denn  nur 
während  der  Kontraktionsperiode  verläuft  jede  neue  Erregung 
völlig  wirkungslos.  Die  Füllungsperiode  des  Unterbrechers  um- 
faßt sowohl  die  Erschlafiungsperiode  der  Muskeln  als  die  Pause. 
Denn  zu  dieser  Frist  ist  es  möglich,  durch  neu  hinzu- 
tretende Erregung  den  Rhythmus  zu  beeinflussen.  Wird  durch 
eine  neue  Erregung  die  Füllung  beschleunigt,  so  tritt  die  nächste 
Kontraktion  früher  ein,  und  zwar  je  nach  der  Menge  der  neu 
hinzugekommenen  Erregung  schon  zur  Erschlaffungszeit  der  Mus- 
keln oder  in  der  Pause.  Wäre  nun  die  künstlich  erzeugte  Neu- 
erregung ganz  von  der  gleichen  Art  wie  die  normalen  Er- 
regungen, so  müßte  der  Rhythmus  nach  dieser  kleinen  Ver- 
schiebung im  gleichen  Tempo  weitergehen.  Dies  geschieht  aber 
nicht,  sondern  die  nächste  Pause  wird  über  Gebühr  verlängert. 
Das  bedeutet,  daß  der  Unterbrecher  infolge  der  künstlichen 
Erregung  erschöpft  ist  und  einer  längeren  Füllungsperiode 
oder  einer  größeren  Füllung  bedarf,  um  wieder  normal  zu 
funktionieren. 

Bethe  ist  der  Ansicht,  ,,daß  der  natürliche  Reiz  bei  der 
Meduse  einen  ganz  anderen  Kontraktionsmodus  hervorruft  als 
der  künstUche  Reiz.  Letzterer  ist  sicher  instantan,  er  wirft 
auf  einmal  an  eine  Stelle  des  Gewebes  eine  große  Menge  Reiz- 
energie. Ich  nehme  an,  daß  der  natürliche  Reiz  einen  anderen 
Verlauf  hat,  daß  er  sich  nämlich  dauernd,  aber  schwach  in  das 
Gewebe  ergießt  und  es  gewissermaßen  in  allen  Teilen,  welche 
in  engerem  Zusammenhange  stehen,  füllt.  Die  Entladung  kann 
dann  überall  nahezu  gleichzeitig  erfolgen.  Der  Instantanreiz 
bringt  dagegen  auf  einmal  einen  großen  Anstoß  in  das  Ge- 
webe, so  daß  die  Entladung  an  der  AppUkationsstelle  früher 
erfolgt  als  der  Reiz  Gelegenheit  gehabt  hat,  sich  über  das 
ganze  Gewebe  auszudehnen". 

Auch  mir  scheint  die  Annahme,  daß  die  vom  Instantan- 
reiz erzeugte  Erregung,  die  plötzlich  in  großer  Menge  an  einer 
Stelle  des  Gewebes  auftritt,  sich  von  der  normalen  Erregung, 
die  sich  langsam  und  gleichmäßig  ausbreitet,  durch  einen,  wenn 
ich  so  sagen  darf,  höheren  Erregungsdruck  auszeichnet.  Dieser 
Unterschied  zwischen  normaler  und  künstlicher  Erregung  wäre 
ausreichend,  um  die  Abweichungen  des  Unterbrechers  zu  erklären. 


Medusen.  83 

Der  Unterbrecher  ist  mithin  die  Ursache  des  Rhythmus. 
Er  zwingt  seine  Gefolgsmuskeln  in  regelmäßigen  Pausen  zu 
arbeiten  und  sich  jedesmal  maximal  anzustrengen.  Wären  die 
einzelnen  Muskelfasern  mit  ihren  Unterbrechern  ganz  unab- 
hängig voneinander,  so  würde  bei  dauerndem,  gleichmäßigen 
Erregungszufluß  bald  ein  allgemeines  Fhmmem  eintreten;  denn 
jeder  Unterbrecher  würde  sich  nur  nach  seiner  individuellen 
Bauart  richten.  So  aber  sind  die  Muskeln  alle  an  einen  und 
denselben  Widerstand  gebunden,  und  dieser  zwingt  sie  zu  ge- 
meinsamer Arbeit.  Da  anzunehmen  ist,  daß  durch  die  Dehnung 
der  Muskeln  der  Unterbrecher  beeinflußt  wird,  so  kommt  der 
ganze  Muskelmechanismus  in  gleichmäßigen  Takt. 

Und  dieser  Takt  würde  auch  beibehalten  werden,  wenn 
irgendeine  Erregungsquelle  dauernd  sprudeln  würde.  Statt 
dessen  ist  durch  eine  sehr  feine  Vorrichtung  dafür  gesorgt,  daß 
die  Erregung  im  gleichen  Rhythmus  auftritt,  den  der  Muskel- 
apparat innehält.  Der  Schlag  des  Schirmrandes  erzeugt  nämlich 
selbst  die  nächste  Erregung. 

Dies  geschieht  durch  Vermittlung  der  Randkörper.  Die 
Randkörper  von  Rhizostoma  bilden  kleine  Säckchen,  die  einen 
Stein  und  ein  Nervenpolster  enthalten.  Man  schließt  daraus, 
daß  das  Anschlagen  des  Steines  an  das  Xervenpolster  einen 
Nervenreiz  erzeugt. 

Schneidet  man  einer  Rhizostoma  alle  Randkörper  bis  auf 
einen  einzigen  weg,  so  schlägt  sie  trotzdem  ruhig  weiter.  Hält 
man  aber  diesen  Randkörper  mit  einem  feinen  Stäbchen  an 
und  verhindert  es,  die  Schwingungen  des  Schirmrandes  mit- 
zumachen, so  bleibt  die  Meduse  augenblickhch  stehen.  Erst 
wenn  man  den  Randkörper  künstlich  in  Schwingungen  versetzt 
hat,  beginnen  auch  die  Schwimmbewegungen  von  neuem.  Der 
Randkörper  benimmt  sich  wie  eine  Glocke,  deren  IClöppel 
plötzlich  festgehalten  wurde  und  die  daher  nicht  mehr  tönen 
kann.  Bei  sehr  großen  Tieren,  die  nur  noch  einen  Randkörper 
besitzen,  kann  man  beobachten,  wie  vom  Randkörper  aus  die 
Kontraktion  des  Schirmrandes  beginnt,  um  sich  dann  über  den 
ganzen  Rand  hin  fortzusetzen.  Viel  deutlicher  tritt  dies  bei 
künstlicher  Reizung  des  Schirmrandes  ein.  Es  ist  daher  der 
natürliche  Reiz  vom  künstlichen  Instantanreiz  nur  quantitativ 
und    nicht     qualitativ     unterschieden.      Wenn     noch     mehrere 

6* 


84 


Medusen. 


Randkörper    mitarbeiten,   sieht  man  von  der  Erregungsleitung 

nichts. 

Rhizostoma  besitzt  mithin  zwei  Ursachen,  die  ihren  Rhyth- 
mus hervorrufen:  die  Leitungsunterbrechung  im  Nervennetz 
und  die  rhythmische  Reizfolge  durch  die  Randkörper.  Beide 
Ursachen  sind  derart  miteinander  verkoppelt,  daß  sie  sich 
gegenseitig  unterstützen  müssen.  So  wird  das  rhythmische 
Muskelspiel  festgelegt,  das  dem  Schwimmen  dient  und  zugleich 
die  anderen  Bewegungsfunktionen  auslöst. 

Wenn  man  vom  Bord  des  Schiffes  aus  die  schimmernde 
Fläche  des  blauen  Meeres  überschaut  und  darin  die  stummen 
Glocken  der  Medusen  einhersch weben  sieht  in  zahllosen  Scharen 
wie  wundervolle  Blumen  eines  Zaubergartens,  so  überkommt 
uns  unwillkürlich  das  Gefühl  des  Neides.  In  all  dieser  Farben- 
pracht einherschweben  zu  dürfen,  frei  und  unbekümmert,  von 
den  klingenden  Wogen  getragen,  durch  den  strahlenden  Tag 
und  die  glänzende  Mondnacht,  muß  ein  herrliches  Los  sein. 
Aber  die  Meduse  vernimmt  von  alledem  nichts.  Die  ganze 
Welt,  die  uns  umgibt,  ist  ihr  verschlossen.  Das  einzige,  was 
ihr  Innenleben  ausfüllt,  ist  die  gleichmäßige  Erregung,  die,  von 
ihr  selbst  erzeugt,  immer  im  gleichen  Wechsel  in  ihrem  Nerven- 
system entsteht  und  vergeht. 

So  ist  dieser  wundervolle  Organismus  für  das  AUernot- 
wendigste  gebaut.  Der  Bauplan  sichert  dem  Tiere  die  Nahrung 
und  die  notwendige  Bewegung,  ohne  daß  irgendwelche  Reize 
der  Außenwelt  mitsprechen.  Eine  Umwelt,  die  das  Nerven- 
system mit  reichen  Erregungen  erfüllt,  gibt  es  für  Rhizostoma 
nicht,  nur  eine  Umgebung,  aus  der  ihr  Magen  die  Nahrung 
entnimmt. 

Gegen  Feinde  sind  die  Medusen  durch  reiche  Batterien 
von  Nesselkapseln  wohl  geschützt,  so  daß  ihr  eintöniges  Schweben 
keine  Störung  zu  befürchten  hat.  Doch  gibt  es  einige  Fische, 
die  sich  nach  Eisigs  Angaben  von  den  Medusen  nähren.  Er 
schreibt  darüber  folgendes:  ,, Unter  den  Glocken  von  Cassiopea 
borbonica  und  Rhizostoma  pulmo  —  der  zwei  ansehnlichsten 
Medusen  des  Golfs  —  pflegen  häufig  kleinere  Fische  zu  hausen, 
welche  so  unzertrennlich  von  ihren  Genossen  sind,  daß  sie  nicht 
selten  mit  ihnen  in  Gefangenschaft  geraten. 

Auch  noch   in  den  Bassins  schwimmen  sie   beständig  um 


Medusen.  85 

die  Medusen  herum  und  ziehen  sich  zuweilen  auch  unter  deren 
Schirm  zurück.  Ich  war  lange  Zeit  hindurch  der  Meinung,  daß 
diese  Fische  die  Medusen  nur  deshalb  begleiten,  um  bei  heran- 
nahender Gefahr  Schutz  unter  deren  Schirm  zu  suchen;  aber 
es  stellte  sich  heraus,  oder  es  bestätigte  sich,  daß  dieses  Ver- 
hältnis kein  so  harmloses  ist.  Von  diesen  Begleitern  der  Me- 
dusen sind  folgende  sämtlich  zur  Familie  der  Makrelen  ge- 
hörigen Formen  zur  Beobachtung  gekommen :  Stromataeus 
microchirus,  Caranx  trachurus  und  Schedophilus  medusophagus. 
Stromataeus  ist  weitaus  der  am  häufigsten  erscheinende,  und 
ein  ungefähr  zwei  Zoll  langes  Exemplar  dieser  Gattung  wurde 
eines  Tages  mit  einer  ungefähr  fünf  Zoll  Schirmweite  messen- 
den Cassiopea  zusammengebracht.  Am  nächsten  Morgen  schon 
fand  ich  die  Meduse  aller  ihrer  Wurzelspitzen  beraubt;  der 
Fisch  hatte  sie  aufgefressen.  Bald  hatte  ich  Gelegenheit,  ein 
anderes  Exemplar  beim  Fressen  zu  beobachten,  so  daß  gar 
kein  Zweifel  über  die  Tatsache  walten  kann.  Daß  aber  diese 
Nahrung  nicht  etwa  nur  aus  Mangel  an  anderem  geeigneten 
Futter  gewählt  wurde,  geht  aus  folgendem  hervor.  Ein  größeres, 
etwa  sechs  Zoll  langes  Tier,  welches  längere  Zeit  in  einem 
Bassin  ohne  Medusen  gehalten  worden  war,  nahm  keinerlei 
Nahrung  zu  sich  und  kam  schließlich  so  herab,  daß  ich  für 
sein  Leben  fürchtete;  nachdem  ihm  aber  eine  Cassiopea  zuge- 
stellt worden,  wurde  das  vorher  ziemhch  träge  Tier  ganz  leb- 
haft, schwamm  beständig  um  die  Meduse  herum,  und  es  dauerte 
nicht  lange,  bis  es  sie  anzufressen  begann." 

2.  Carmarma  und  Gonionemus. 

Die  Medusen  sind  in  zwei  sehr  ausgesprochene  Typen  ge- 
spalten. Der  eine  Typus  wird  durch  Rhizostoma  vertreten, 
der  andere  Typus  ist  an  Carmarina  in  Neapel  und  an  Gonione- 
mus in  Amerika  studiert  worden.  Beide  Gattungen  unter- 
scheiden sich  von  Rhizostoma  dadurch,  daß  ihr  Mundstiel  be- 
weglich ist  und  dank  seiner  großen  Mundöffnung  richtige  Bissen 
aufzunehmen  vermag.  Diese  Tiere  sind  also  nicht  auf  ein  ein- 
faches Herbeistrudeln  des  umgebenden  Wassers,  sondern  auf 
einen  richtigen  Nahrungsfang  angewiesen.  Dementsprechend 
besitzen  sie  am  äußeren  Umkreis  ihres  Schirmes  Fangapparate, 


gß  Medusen. 

die  den  Tentakeln  der  Aktinien  sehr  ähnlich  sind.  Die  Nah- 
rungsaufnahme der  Medusen  ist  der  einer  mundabwärts  gehal- 
tenen Seeanemone  nicht  unähnlich. 

Die  Muskulatur,  mit  der  die  Schwimmbewegungen  aus- 
geführt werden,  ist  nicht  bei  allen  Medusen  so  ganz  einfach 
wie  bei  Rhizostoma.  Bethe  schreibt  hierüber:  ,,Cothylorhiza 
und  verschiedene  andere  Medusen  haben  zwei  ganz  voneinander 
getrennte  Muskulaturen,  eine  parallel  und  nahe  dem  Rande 
verlaufende  Zirkulärmuskulatur  und  eine  die  zentraleren  Par- 
tien (der  unteren  Schirmseite)  einnehmende  Radiärmuskulatur. 
Bei  den  normalen  Pulsationen  und  auch  bei  künstlicher 
Reizung  kontrahiert  sich  zuerst  die  Radiärmuskulatur,  wo- 
durch die  Glocke  gewölbt  wird,  und  dann,  wenn  die  Kon- 
traktion der  radiären  auf  der  Höhe  ist,  die  zirkuläre,  wodurch 
die  Glockenöffnung  verengert  wird."  Da  bei  allen  Medusen 
der  Anreiz  zur  Muskel tätigkeit  von  dem  Schirmrande  ausgeht, 
so  muß  es  auffallen,  daß  die  dem  Reizort  näher  gelegenen 
Zirkulärmuskeln  später  ansprechen  als  die  entfernteren  Radiär- 
muskeln.  Bethe  fand  nun,  daß  bei  gleichzeitiger  künstlicher 
Reizung  eines  Schirmstückes,  das  beide  Muskelarten  enthält, 
die  Zirkulärmuskeln  immer  später  ansprechen.  Auch  für  diese 
Verspätung  der  einen  Muskellage  muß  ein  nervöser  Apparat 
verantwortlich  gemacht  werden.  Wir  werden  wohl  nicht  fehl- 
gehen, wenn  wir  in  einer  abweichenden  Bauart  des  Unter- 
brechers die  Ursache  dieses  interessanten  Phänomens  sehen. 

Bei  Carmarina  treten  die  rhythmischen  Kontraktionen  immer 
gruppenförmig  auf.  Benützt  man  die  Pausen,  die  oft  eine 
halbe  Minute  dauern,  zur  Reizung,  so  kann  man  folgenden 
von  Bethe  angegebenen  Versuch  ausführen:  ,, Berührt  man 
einen  Tentakel,  z.  B.  in  der  Mitte,  ganz  leicht  mit  einem  Glas- 
stäbchen, so  tritt  nur  eine  geringe  Verdickung  an  demselben 
auf.  Ist  die  Berührung  stärker,  so  greift  die  Kontraktion  auf 
weitere  Teile  des  Tentakels  über.  Bei  einem  kleinen  Stoß  tritt 
schon  ein  Emporschnellen  des  ganzen  Tentakels  auf,  welches 
sich  bei  noch  stärkerem  Anstoß  auf  die  beiden  zunächst  be- 
nachbarten Tentakel  und  schließlich  auf  alle  Tentakel  ausdehnt. 
Hierbei  macht  der  Magenstiel  bereits  in  der  Regel  eine  schwache 
Bewegung  nach  der  Reizstelle  hin,  die  bei  weiterer  Steigerung  des 
Reizes  zu  einem  heftigen  Schlagen  mit  dem  Magenstiel  wird.'* 


Medusen.  87 

Es  ist  der  Magenstiel  durch  ein  nervöses  Netz,  das  die 
ganze  Unterseite  des  Schirmes  einnimmt,  mit  dem  Schirmrand 
verbunden,  der  noch  einen  besonderen  Nervenring  trägt. 
Am  Schirmrande  hängen  die  besprochenen  Tentakel  herab. 
Nagel  verdanken  wir  die  physiologische  Erforschung  der  ner- 
vösen Verbindungen.  Er  zeigte,  daß  ein  Tentakel,  in  dessen 
Nähe  der  Schirmrand  rechts  und  links  durchschnitten  ist, 
physiologisch  isoliert  ist.  Dadurch  wird  bewiesen,  daß  jede 
Erregung,  die  vom  Tentakel  stammt,  vor  allen  Dingen  den 
Nervenring  passieren  muß.  Darauf  gelangt  die  Erregung  in  das 
Netz  auf  der  Innenseite  des  Schirmes.  Die  Existenz  eines 
Netzes  vermochte  Nagel  dadurch  zu  beweisen,  daß  er  der 
Erregung  den  kürzesten  Weg  zum  Magenstiel  durch  einen  Ein- 
schnitt zwischen  Tentakel  und  Magenstiel  anatomisch  ab- 
schneiden konnte,  ohne  die  physiologische  Leitung  zu  vernichten. 
Die  Erregung  vermochte  die  Schnittstelle  zu  umgehen.  Das 
gelingt  nur  in  einem  Falle,  wenn  nämlich  viele  Bahnen  vor- 
handen sind,  die  zusammen  ein  Netz  bilden  und  der  Erregung 
allseitig  die  Bahn  offenhalten.  Reizt  man  durch  Andrücken 
einer  Drahtschlinge,  die  man  über  den  Magenstiel  stülpt,  die 
ganze  Unterseite  gleichzeitig,  so  bleibt  der  Stiel  ruhig,  Aveil 
sich  die  aus  allen  Richtungen  kommenden  Erregungen  gegen- 
seitig aufheben. 

An  dem  einzelnen  Tentakel  sind  bisher  zwei  Reflexe  nach- 
gewiesen worden.  Eine  Verkürzung,  die  den  Tentakel  kork- 
zieherartig zusammenziehen  kann,  und  das  Klebrig  werden.  Eine 
Verlängerung  ist  nicht  beschrieben  worden.  Die  Medusen- 
tentakel scheinen  daher  einfacher  gebaut  zu  sein  als  die  Akti- 
niententakel,  denn  es  fehlt  ihnen  das  Längerwerden  durch  eine 
Ringmuskelverkürzung.  Die  Längsmuskelverkürzung  tritt  ge- 
nau wie  bei  den  Aktinien  auf  mechanischen  Reiz  auf  und 
das  Klebrigwerden  ist  ebenfalls  in  entsprechender  Weise  an 
den  chemischen  Reiz  der  Nahrungsmittel  geknüpft.  Wir  wer- 
den also  bei  den  Tentakeln  der  Medusen  ein  doppeltes  Netz 
annehmen  müssen,  eines  für  die  Längsmuskeln  und  eines  für  die 
Drüsen.     Beide  Netze  münden  in  den  Ringnerven. 

Für  Gonionemus  beschreibt  Yerkes  ganz  die  gleichen  Er- 
scheinungen. Ein  dauernder  Nervenreiz,  der  von  der  Beute 
ausgeht,   ruft  die  korkzieherartige  Kontraktion  des  getroffenen 


gg  Medusen. 

Tentakels   hervor,  worauf  ein  Zusammenziehen  des  Schirmran- 
des und  ein  Hinneigen  des  Magenstieles  erfolgt. 

Entsprechend  seiner  Lebensführung,  die  nicht  auf  dauernde 
Aufnahme  des  umgebenden  Wassers  angewiesen  ist,  schwimmt 
Gonionemus  nicht  dauernd  einher.  Yerkes  gibt  an,  daß 
Gonionemus  Murbachi  nur  schwimmt,  wenn  er  hungrig  ist. 
Solange  er  satt  ist,  sitzt  er  am  Boden,  an  Algen  verankert. 
Über  die  Wirkung  des  Lichtes  hat  Yerkes  interessante  Be- 
obachtungen veröffentlicht.  Eine  sehr  charakteristische  Reak- 
tion von  Gonionemus  ist  der  Hemmungsreflex.  Er  tritt  regel- 
mäßig auf,  wenn  das  Tier  beim  Hinaufschwimmen  mit  dem 
Schirm  über  die  Wasseroberfläche  gerät.  Dann  hört  die  Schlag- 
folge plötzlich  auf,  der  Schirm  wird  weit  ausgebreitet  und  steht 
dauernd  still.  Dadurch  sinkt  das  Tier  wieder  langsam  zu 
Boden.  Legt  man  eine  Karte  auf  die  Wasseroberfläche,  die 
das  Auftauchen  der  Glocke  verhindert,  so  tritt  der  Reflex  nicht 
ein,  sondern  die  Meduse  fährt  mit  ihren  Schwimmbewegungen 
bis  zur  Ermüdung  fort.  Ganz  den  gleichen  Reflex  vermag 
auch  starkes  Licht  auszulösen  und  nicht  selten  auch  plötzliche 
Beschattung.  Sonst  wirkt  mäßiges  Licht  steigernd  auf  den 
Schlagrhythmus  ein,  und  es  gehngt  sogar,  ein  halbbeleuchtetes 
Tier  auf  der  beleuchteten  Seite  zu  energischerem  Schlagen  zu 
bringen,  was  zur  Folge  hat,  daß  die  Meduse  in  den  Schatten 
hineinschwimmt . 

Der  abgeschnittene  Mantelrand,  der  allein  die  Lichtrezep- 
toren beherbergt,  ist  viel  empfindlicher  gegen  Licht  und  Schatten 
als  das  ganze  Tier.  Der  Mantelrand  besitzt  außerdem  die  Fähig- 
keit, sich  selbst  umzudrehen,  wenn  er  mit  dem  unteren  Rand 
nach  oben  gelagert  war.  Das  beweist,  daß  bei  diesen  Medusen 
die  Randkörperchen  bereits  eine  andere  Funktion  besitzen  als 
bei  Rhizostoma. 

Wenn  wir  Rhizostoma  mit  Gonionemus  vergleichen,  so 
fällt  uns  am  meisten  auf,  daß  so  ähnlich  gebaute  Organismen 
in  so  durchaus  verschiedenen  Umwelten  leben  können.  Rhizo- 
stoma vernimmt  nur  den  Schlag  der  eigenen  Glocke.  Gonione- 
mus dagegen  wird  von  Licht  und  Dunkelheit,  von  der  Gravi- 
tation, von  mechanischen  und  chemischen  Reizen  berührt  und 
bewegt.  Die  Außenwelt  ist  für  beide  die  gleiche,  aber  Rhizo- 
stoma verschließt  sich  ihr  dauernd,  während  Gonionemus  durch 


Medusen.  89 

die  Pforten  der  Rezeptoren  die  Wirkungen  der  Außenwelt  in 
reichem  Strome  einläßt.  Der  Organismus  ist  wie  eine  Wunder- 
welt, allen  Wirkungen  der  Außenwelt  verschlossen ;  nur  dem 
richtigen  Schlüssel  öffnet  sie  sich.  Wenn  kein  Schloß  vor- 
handen ist,  so  findet  sich  auch  kein  Schlüssel.  So  ist  es  bei 
Rhizostoma.  Gonionemus  hat  viele  Türen,  jede  mit  ihrem  be- 
sonderen Schlosse  versehen.  Die  Türen  sind  wie  die  Türen  eines 
Hauses  an  jenen  Stellen  angebracht,  wo  sich  ein  passender 
Eingang  findet,  der  dem  Bauplan  des  Ganzen  entspricht.  Wer 
wird  behaupten  w^ollen,  daß  ein  Haus  mit  vielen  Türen  voll- 
kommener sei,  als  ein  Haus  mit  wenigen  Eingängen?  So  wird 
man  die  AusschHeßung  der  Reize,  die  Rhizostoma  ihre  große 
Einförmigkeit  und  Geschlossenheit  verleiht,  nicht  niedriger  an- 
schlagen dürfen  als  die  Reizaufnahme  bei  Gonionemus,  die  dank 
der  zahlreichen  Reize  zahlreiche  Handlungen  ausführt.  Rhizo- 
stoma braucht  diese  Handlungen  nicht,  sie  nützen  ihr  nichts. 
Und  doch  ist  Rhizostoma  ebenso  kunstvoll  gebaut  wie  Gonione- 
mus. Keine  Medusenart  kann  die  andere  vertreten,  weder  kann 
Gonionemus  auf  der  pelagischen  Weide  leben,  noch  Rhizostoma 
sich  selbst  Beute  fangen. 

Obgleich  sie  Tiere  vom  gleichen  Bautjrpus  sind,  mit  den 
gleichen  nervösen  Apparaten  und  Zentralnervensystem,  die  den 
Schlagrhythmus  regeln,  so  sind  sie  dennoch  völlig  unver- 
gleichbar, wenn  man  ihre  Lebensweise  betrachtet.  Die  Nei- 
gung, alle  Tiere  in  vollkommenere  und  unvollkommenere  zu 
scheiden,  um  dadurch  eine  aufsteigende  Entwicklung  zu  de- 
monstrieren, welche  vom  Minderwertigen  zum  Höheren  fort- 
schreitet, wird  nirgends  eindringlicher  ad  absurdum  geführt  als 
in  solchen  Fällen,  wo  Tiere  von  dem  gleichen  Typus,  die  nur 
nach  verschiedenen  Richtungen  differenziert  sind,  ganz  ver- 
schiedene Umwelten  besitzen.  Von  verschiedenen  Anpassungs- 
graden sollte  nicht  mehr  die  Rede  sein,  nur  von  gleich  voll- 
kommener Anpassung  an  verschiedenen  Umwelten.  Auch  einer 
Zensur  über  die  Umwelten  sollte  man  sich  lieber  enthalten, 
denn  die  Umwelt  ist  ihrerseits  nur  verständUch  aus  ihren  Be- 
ziehungen zu  den  Handlungen  des  Tieres.  Die  Umwelt  besteht 
nur  aus  denjenigen  Fragen,  die  das  Tier  beantworten  kann. 
Und  schließlich  ist  die  Bauart  des  Zentralnervensystems,  welches 
die  Antworten   erteilt,   auch   nichts   anderes,  als  der  Teil  einer 


90  I^ie     Seeigel. 

Antwort,  die  durch  die  Bauart  des  ganzen  Tieres  auf  die  Frage 
des  Lebens  gegeben  wird.  Manchmal  liegt  dabei  der  Schwer- 
punkt auf  der  Ausbildung  eines  besonderen  Organes.  Dem 
Zentralnervensystem  mit  besonderer  Wertschätzung  zu  begeg- 
nen, ist  durchaus  unbegründet,  denn  die  Natur  kann  mit  jedem 
Organ  ihre  eigenen  Fragen  beantworten. 


Die  Seeigel. 

Schon  der  Name  Seeigel  oder  Seekastanie  gibt  uns  eine 
Anschauung  von  dem  Tier,  auch  wenn  wir  es  niemals  gesehen 
haben.  Ein  runder  Körper,  der  mit  Stachehi  besetzt  ist  und 
der  im  Meer  zu  finden  ist  —  mehr  wissen  meist  auch  die- 
jenigen nicht,  die  an  der  Meeresküste  mit  dem  Seeigel  persön- 
liche Bekanntschaft  gemacht  haben.  Den  meisten  Physiologen 
ist  er  völlig  unbekannt  und  doch  liegen  die  Antworten  auf 
die  Grundfragen  der  Physiologie  der  Muskeln  und  des  Nerven- 
systems bei  keinem  Tier  so  offen  da  wie  beim  Seeigel.  Deshalb 
ist  es  nötig,  die  Ergebnisse  der  Seeigelbiologie  ausführlicher 
darzulegen  als  bei  irgend  einem  anderen  Tiere. 

Wer  sich  in  das  innere  Leben  der  Seeigel  vertiefen  will, 
um  aus  diesem  fremdartigen  Dasein  reiche  Belehrung  zu 
schöpfen,  der  muß  sich  das  schematische  Bild  der  einfachen 
anatomischen  Verhältnisse  fest  einzuprägen  suchen.  Dann  werden 
ihm  die  Leistungen  dieser  allerliebsten  Maschinerie  keine  be- 
grifflichen Schwierigkeiten  bereiten. 

Der  Seeigel  besteht  aus  einer  kugeligen  Kalkschale,  welche 
die  Eingeweide  beherbergt.  Sie  zeigt  unten  eine  Öffnung  für 
den  Mund  und  oben  eine  für  den  Anus.  Die  Kalkschale  trägt 
auf  der  Außenseite  zahlreiche  runde  Gelenkhöcker,  denen  die 
Stacheln  aufsitzen. 

Die  Anatomie  des  Stachelgelenkes  verdient  besondere  Auf- 
merksamkeit. Es  ist  ein  Kugelgelenk  mit  festsitzender  Kugel 
und  beweglicher  kleiner  Pfanne,  welche  die  Basis  des  Stachels 
bildet. 


Die  Seeigel.  91 


Die  Muskeln. 


Die  Muskeln  des  Seeigelstachels  sind  für  das  Verständnis 
der  Muskelarbeit  überhaupt  von  fundamentaler  Wichtigkeit 
und  müssen  daher  eingehend  behandelt  werden.  Ungefähr 
dreißig  Muskelstränge  umgeben  das  Stachelgelenk  und  drücken 
die  Pfanne  auf  die  Kugel.  Jeder  der  dreißig  Muskelstränge 
ist  doppelt:  er  besteht  aus  einem  weißhch,  undurchsichtigen, 
inneren  und  einen  glashellen  äußeren  Strang.  Der  äußere  Strang 
wird  von  der  allgemeinen  Körperhaut  überzogen,  die  das  ge- 
meinsame Nervensystem  für  beide  Stränge  beherbergt. 

Reizt  man  die  Körperhaut  durch  einmalige  Berührung  in 
der  Nähe  eines  Stachels,  so  verkürzen  sich  die  zunächsthegen- 
den Muskelstränge  und  der  Stachel  neigt  sich  dem  Reizorte 
zu,  um  gleich  darauf  in  die  aufrechte  Ruhelage  zurückzukehren. 

Reizt  man  hingegen  die  Haut  mehrere  Male,  so  verkürzen 
sich  die  Stränge  stärker  und  der  Stachel  neigt  sich  gleichfalls. 
Der  Stachel  kehrt  aber  nicht  in  die  Ruhelage  zurück,  sondern 
bleibt  in  geneigter  Lage  unbeweglich  stehen  und  leistet  jedem 
Versuch,  ihn  gewaltsam  in  die  Ruhelage  zurückzuführen,  erfolg- 
reichen Widerstand. 

Dieser  Unterschied  in  der  Reizbeantwortung  findet,  wie 
eingehende  Experimente  beweisen,  seine  Erklärung  darin,  daß 
die  vom  einmahgen  Reiz  erzeugte,  schwache  und  kurze  Erre- 
gung nur  den  äußeren  Muskelstrang  in  Tätigkeit  versetzt,  während 
die  wiederholte  Reizung  eine  dauernde  und  starke  Erregung 
im  Nervensystem  hervorruft,  die  auch  zu  dem  inneren  Strang 
hinüberfließt. 

Der  äußere  Strang  dient  dank  seiner  Verkürzung  zur  Be- 
wegung, der  innere  zum  Feststellen  des  Stachels.  Wir  bezeichnen 
daher  die  äußeren  Stränge  als  Bewegungs-  oder  Verkürzungs- 
muskeln, die  inneren  als  Sperrmuskeln. 

Das  Überfließen  der  Nervenerregung  vom  Bewegungs-  zum 
Sperrmuskel  findet  auch  ohne  wiederholte  Reizung  statt,  wenn 
die  Bewegung  des  Stachels  durch  irgendeinen  äußeren  Wider- 
stand gehemmt  wird.  Sobald  die  äußeren  Stränge  sich  nicht 
weiter  verkürzen  können  —  sei  es,  daß  sie  ihr  Maximum  be- 
reits erreicht  haben,  sei  es,  daß  ein  Hindernis  im  Wege  hegt  — 
immer  fließt  die  überschüssige  Erregung  den  Sperrmuskeln  zu. 


92  Die  Seeigel. 

Die  Sperrmuskeln  geraten  hierauf  in  Tätigkeit,  die  in  einer 
allmählich  zunehmenden  Spannung  besteht.  Die  Spannung 
wächst  so  lange  an,  bis  sie  dem  äußeren  Widerstände  —  mag 
dieser  in  dem  Gewicht  des  eigenen  Körpers  oder  in  einer 
fremden  Last  bestehen  —  das  Gleichgewicht  hält.  Auf  diese 
Weise  wird,  was  von  großer  biologischer  Tragweite  ist,  stets 
ein  Gleichgewicht  zwischen  Sperrmuskel-Spannung  und 
Last  hergestellt. 

Ist  das  Gleichgewicht  erreicht,  so  fällt  damit  zugleich  die 
Ursache  fort,  die  zur  Steigerung  der  Sperrmuskel -Spannung 
führte.  Die  Erregung  vermag  jetzt  in  die  entlasteten  Be- 
wegungsmuskel einzudringen,  weil  ihrer  freien  Verkürzung  jetzt 
nichts  mehr  im  Wege  steht. 

Die  Kenntnis  der  Seeigelmuskeln  ist  deshalb  so  wichtig, 
weil  nur  bei  den  Seeigehi  eine  anatomische  Trennung  von  Sperr- 
und  Bewegungsmuskeln  vorhanden  ist,  die  es  uns  ermöglicht, 
die  beiden  Grundfunktionen  aller  Muskulatur  experimentell  zu 
sondern. 

Die  Muskeln  aller  Tiere  haben  die  Fähigkeit,  jeder  Last  (bis 
zur  Maximallast)  in  jeder  Lage  genau  das  Gleichgewicht  zu  halten. 
Nur  durch  diese  Fähigkeit  ist  es  den  Tieren  möglich,  ihren  Körper 
in  all  seinen  Stellungen  auszubalancieren.  Es  muß  jeder  einzelne 
Muskel  außer  seinem  Verkürzungsapparat  auch  einen  Sperr- 
apparat besitzen,  der  ihm  die  Fähigkeit  verleiht,  das  mit  jeder 
Stellung  wechselnde  Gewicht  des  Körpers  sowohl  bei  Zunahme 
wie  Abnahme  des  Gewichtes  durch  eine  entsprechende  Spannungs- 
änderung auszugleichen.  Diese  hochwichtige  Leistung  der  Mus- 
kulatur setzt  eine  besondere  ReguHerungsrichtung  voraus,  die 
es  der  Last  ermöglicht,  die  Muskelspannung  zu  beherrschen. 

Die  Seeigelmuskeln  lehren  uns  die  Einrichtung  des  Regu- 
lierungsmechanismus kennen,  der  einfach  darin  besteht,  daß 
die  Erregung  nur  so  lange  dem  Sperrapparat  zufließt,  als  die 
Verkürzungsapparate  belastet  sind.  Sobald  die  zunehmende 
Spannung  der  Sperrapparate  die  Bewegungsapparate  entlastet 
hat,  hört  jeder  weitere  Erregungszufluß  auf. 

Ist  das  Gleichgewicht  zwischen  Last-  und  Sperrmuskel- 
Spannung  erreicht,  so  kann  entweder  eine  Verkürzung  der  Be- 
wegungsmuskeln eintreten  oder  ausbleiben  —  das  hängt  ledig- 
lich von  der  Menge  und  der  Art  der  vorhandenen  Erregung  ab. 


Die  Seeigel.  93 

Biologisch  ist  damit  die  Frage  nach  der  Muskel tätigkeit 
beim  Heben  der  Lasten  völlig  geklärt,  physiologisch  bleibt  eine 
große  Schwierigkeit  bestehen :  Wie  ist  es  den  Sperrmuskeln 
beim  Heben  einer  Last,  die  sie  durch  ihre  Spannung  ausbalan- 
ciert haben,  möglich,  diese  Spannung  auch  während  der  Weiter- 
verkürzung, die  sie  doch  auch  mitmachen  müssen,  dauernd  zu 
bewahren  ?  Wir  können  uns  hier  mit  dem  Hinweise  begnügen, 
daß  die  Muskeln  chemo  -  mechanische  Apparate  darstellen,  wie 
sie  unsere  Technik  weder  kennt,  geschweige  denn  herzustellen 
vermag. 

Wir  haben  bisher  den  scheinbar  schwierigeren  Fall  be- 
handelt, wenn  drei  Faktoren:  Last,  Muskel  und  Erregung  zu- 
sammenkommen. Es  handelt  sich  jetzt  darum,  die  Einwirkung 
der  Last  auf  den  Muskel  zu  studieren,  wenn  keine  Erregung 
zur  Verfügung  steht.  Der  Muskel  antwortet  auf  den  Zug  der 
Last  nicht  wie  ein  Gummiband  mit  einfacher  physikalischer 
Dehnung,  sondern  mit  einem  verwickelten  physiologischen  Vor- 
gang, der  Erschlaffung  genannt  wird. 

Ein  jeder  Muskel  besitzt  eine  physiologische  Länge, 
die  wechseln  kann,  und  eine  anatomische,  die  erst  erreicht 
wird,  wenn  sich  keine  funktionellen  Prozesse  mehr  in  ihm  ab- 
spielen. Den  Verlust  der  physiologischen  Länge  nennen  wir 
Erschlaffung. 

Betrachten  wir  einen  langen  Hauptstachel  von  Centroste- 
phanus  longispinus,  so  sehen  wir,  daß  er  in  der  Ruhe  senk- 
recht zur  Basis  getragen  wird,  weil  sich  alle  Sperrmuskel- 
Stränge  rings  um  das  Gelenk  in  Spannung  befinden.  Dadurch 
halten  sie  sich  gegenseitig  die  Wage  und  lassen  den  Stachel 
nach  keiner  Seite  ausschlagen. 

Erteilt  man  nun  dem  Stachel  einseitig  einen  leisen  Druck 
(Erschütterung  reizt  die  Muskel),  so  sehen  wir,  daß  der  Stachel 
nicht  allein  dem  Druck  nachgibt,  sondern  daß  er  auch  viel 
weiter  wegschlägt  als  der  Druck  ihn  führte. 

Es  hat  also  der  Druck  den  von  ihm  betroffenen  Muskeln 
etwas  geraubt,  das  sie  bisher  vor  den  Ansprüchen  der  übrigen 
Muskeln  schützte  —  dies  ist  die  normale  Spannung  der  Sperr- 
muskeln. Die  Höhe  der  normalen  Sperrung  bestimmt  zugleich 
die  Größe  des  Gewichtes,  das  auf  den  Stachel  drücken  muß, 
um    die    Erschlaffung    eintreten    zu   lassen.      Wir    sprechen   in 


94  t)i©  Seeigel. 

solchen  Fällen  von  einer  Schwelle,  die  überstiegen  werden  muß 
ehe  die  Wirkung  eintreten  kann  und  bezeichnen  daher  die 
Sperrung  als  die  Schwelle  für  die  Erschlaffung.  Jeder  Muskel 
besitzt  normalerweise  eine  solche  ,, Sperrschwelle". 

Das  stets  zum  Vergleich  herbeigezogene  Gummiband  be- 
sitzt keine  Sperrschwelle  —  es  wird  einfach  von  einem  kleineren 
Gewicht  weniger  gedehnt  als  von  einem  großen.  Ferner  kennt 
das  Gummiband  keine  Erschlaffung,  die  den  Muskel  befällt, 
sobald  seine  Sperrschwelle  überschritten  ist.  Dann  vermag  ihn 
der  kleinste  Zuwachs  an  Last  bis  zu  seiner  anatomischen  Länge 
zu  dehnen,  Ist  diese  erreicht,  so  wird  die  Last  von  den 
Bändern  und  Sehnen  übernommen,  die  sich  wie  das  Gummi- 
band verhalten  und  nur  die  physikalische  Dehnung  kennen. 

Deshalb  vermögen  beim  Stachel  von  Centrostephanus  die 
Antagonisten  den  Stachel  weit  weg  zu  ziehen,  sobald  die  be- 
lasteten Muskeln  ihre  Sperrschwelle  eingebüßt  haben.  Erschlaffte 
Muskeln  bieten  der  Dehnung  keinen  Widerstand. 

Sobald  der  Druck  die  Erschlaffung  der  belasteten  Muskeln 
herbeigeführt  hat,  sind  die  Antagonisten  von  dem  normalen 
Gegenzug  befreit.  Die  Spannung  ihrer  Sperrmuskeln  wird  un- 
nötig und  die  Bewegungsmuskeln  erhalten  freies  Spiel.  Um  in 
Tätigkeit  zu  geraten,  bedürfen  die  Bewegungsmuskeln  einer 
Erregung.  Diese  kommt  ihnen  jetzt  von  ihren  eigenen  ent- 
lasteten Sperrmuskeln  zugeflossen.  Diese  Erregung  diente  bisher 
zur  Erzeugung  der  Sperrschwelle.  Es  ist  also  die  Sperrschwelle 
das  Anzeichen  für  das  Vorhandensein  einer  bestimmten  Erregung. 

Der  Druck,  der  auf  der  belastesten  Seite  die  Sperrschwelle 
zum  Schwinden  bringt,  löscht  diese  Erregung  aus,  die  sich  nie 
wieder  in  vollem  Umfang  einstellt,  bevor  die  Last  ganz  ent- 
fernt wurde;  ist  das  geschehen,  so  erhalten  die  Bewegungs- 
muskeln ihre  alte  Länge  wieder,  die  Sperrmuskeln  ihre  alte 
Spannung  und  alles  ist  wieder  wie  sonst.  Der  Stachel  steht 
ruhig  und  senkrecht  auf  seiner  Unterlage. 

Aus  diesen  Beobachtungen  geht  mit  Sicherheit  hervor, 
daß  der  einfache  Fall,  den  wir  suchten,  mit  Muskel  und  Last 
als  einzigen  Faktoren  im  Leben  gar  nicht  vorkommt.  Stets 
spielt  die  Erregung  als  dritter  Faktor  eine  entscheidende 
Rolle.  Woher  stammt  die  Erregung?  Das  ist  die  Frage,  der 
wir  uns  jetzt  zuwenden. 


Die  Seeigel.  95 


Die  Zentren. 


Das  Studium  der  Muskeln  weist  uns  auf  einen  außerhalb 
liegenden  Faktor  hin,  von  dem  die  Erregung  herstammt.  So 
werden  wir  zur  Betrachtung  des  Nervensystems  hingeführt, 
das  den  Muskeln  zunächst  liegt.  Im  Seeigelstachel  befindet 
sich  über  den  Muskeln  ein  nervöser  Ring,  der  Nervenfasern  und 
Ganglienzellen  enthält.  Dieser  Ring  ist  physiologisch  keine 
Einheit.  Man  kann  ihn  beHebig  oft  an  der  Grenze  zweier 
Muskelstränge  durchschneiden,  ohne  seine  Funktion  zu  stören. 
Es  zerfällt  der  Nervenring  in  ebensoviele  einzelne  Zentren,  als 
es  unter  ihm  liegende  Muskelstränge  gibt. 

Wir  wollen  nun  diejenige  Leistung  der  nervösen  Zentren 
aufsuchen,  die  uns  zu  einer  möglichst  greifbaren  Vorstellung 
ihrer  Fähigkeiten  verhilft.  Zu  diesem  Zweck  müssen  wir 
weiter  in  die  Anatomie  des  Nervensystems  eindringen.  Ein 
jedes  Muskelzentrum  im  Nervenring  steht  außer  mit  seinen 
Gefolgmuskeln  und  seinen  Nachbarzentren  auch  noch  in  Ver- 
bindung mit  dem  weitverzweigten  Hautnervensystem.  Dieses 
umzieht  in  zahlreichen  Netzen  die  ganze  Oberfläche  des  See- 
igels. Aus  diesen  Netzen  treten  ferner  Nebenbahnen  in  das 
Innere  der  Kalkschale  und  bilden  hier  die  Seitennerven  der 
Radialnerven.  Die  Radialnerven  sind  fünf  Nervenstämme,  die 
nahe  dem  Anus  beginnend  an  der  Innenseite  der  Schale  bis 
zum  Munde  ziehen,  um  sich  hier  zu  einem  Ringkanal  zu  ver- 
einigen, der  den  Mund  umschheßt. 

Wird  ein  Radialnerv  durch  Nikotin  in  EiTegung  versetzt, 
so  pflanzt  sich  die  Erregung  bis  zu  den  Stachelmuskeln  hin 
fort,  die  erst  in  heftige  Bewegung  geraten,  dann  aber  im 
Sperrkrampf  unbeweghch  stehen  bleiben.  Umspült  man  da- 
gegen das  Radialnervensystem  mit  kohlensaurem  See w asser, 
so  werden  nach  kurzer  Zeit  alle  Muskeln  schlaff  und  die 
Stacheln  senken  sich  der  Schwere  nach  herab.  Beide  Wirkungen 
fallen  fort,  wenn  man  zuvor  die  Seitennerven  durchschnitten 
hat.  Daraus  ergibt  sich  die  Vorstellung  einer  Erregung,  die  einmal 
(bei  der  Nikotinwirkung)  von  den  Radialnerven  kommend,  durch 
die  Seitennerven  von  innen  nach  außen  zu  den  Zentren  der 
Stachelmuskeln  geflossen  ist,  das  andere  Mal  (bei  der  Kohlen- 
säurewirkung)   von    den    Muskelzentren    kommend,    durch    die 


96  Die  Seeigel. 

Seitennerven  von  außen  nach  innen  fließend,  zu  den  Radial- 
nerven gelangt  ist.  Wie  zwei  Reservoire  stehen  die  Muskel- 
zentren und  die  Zentren  der  Radialnerven  vor  unseren  Augen 
da,  sich  gegenseitig  die  Erregung  zusendend.  Ob  wir  die 
Ganglienzellen  in  diesem  Fall  als  die  Reservoire  ansprechen 
dürfen,  ist  zwar  verführerisch,  aber  nicht  nachgewiesen. 

Vergleichen  wir  die  beiden  Reservoire  miteinander,  so  ist 
ein  Unterschied  sehr  in  die  Augen  fallend.  Auf  der  einen 
Seite  haben  wir  das  geschlossene  System  der  fünf  Radialnerven- 
stämme,  das  wie  eine  große  Einheit  gebaut  ist,  auf  der  anderen 
Seite  die  außerordentlich  zahlreichen  und  zerstreuten  Nerven- 
ringe, alle  wiederum  aus  30  einzelnen  Zentren  bestehend.  Es 
ist  daher  nicht  zu  verwundern,  daß  das  Radialnervensystem 
dem  übrigen  Nervensystem  gegenüber  wie  ein  einziges  Zentral- 
reservoir wirkt,  das  die  zahlreichen  Einzelzentren  in  der  Ober- 
haut vollkommen  beherrscht. 

Man  kann  sagen,  das  Erregungsniveau  der  Zentralstelle 
ist  ausschlaggebend  für  das  Niveau  in  allen  einzelnen  Muskel- 
zentren. Sinkt  das  Niveau  im  Zentralreservoir  durch  Vergif- 
tung mit  Kohlensäure,  so  sinkt  es  auch  in  allen  Nervenringen 
der  Stacheln.  Steigt  das  Niveau  bei  Nikotinvergiftung  im 
Zentralreservoir,  so  steigt  es  auch  in  allen  Nervenringen.  Das 
Steigen  und  Fallen  des  Erregungsniveaus  in  den  Zentren  kann 
man  natürlich  nicht  sehen,  sondern  nur  aus  dem  Verhalten 
der  Muskeln  erschließen.  Es  ist  deshalb  notwendig,  Hjrpo- 
thesen  über  die  Beziehungen  der  Muskeln  zu  ihren  Zentren  zu 
machen.  Nur  sollen  die  Hypothesen  mögHchst  direkt  aus  den 
Beobachtungen  entspringen. 

Die  Beobachtung,  die  uns  den  unmittelbarsten  Aufschluß 
über  die  Muskelzentren  gibt,  ist  folgende:  Man  bringe  die 
Muskeln  eines  Seeigelstachels  durch  das  Auflegen  einer  Last 
einseitig  zur  Erschlaffung.  Dann  beginne  man  in  größerer 
Entfernung  die  Haut  an  einer  den  erschlafften  Muskeln  vis-a-vis 
liegenden  Stelle  zu  reizen.  Dann  werden,  abgesehen  von  den 
der  Reizstelle  zunächstliegenden  Stacheln,  alle  übrigen  Stacheln 
in  völliger  Ruhe  verharren.  Einzig  die  weit  abliegenden  er- 
schlafften Muskeln  verkürzen  und  sperren  sich  so  lange,  bis 
sie  ihre  Last  einem  Nachbarstachel  aufgebürdet  haben. 

Es  ist  aber  die   von  der  Reizstelle  ausgehende   Erregung, 


Die  Seeigel.  97 

die  (wie  man  beweisen  kann)  dabei  die  Radialnerven  passiert, 
um  sich  überall  hin  auszubreiten,  nur  in  die  erschlafften 
Muskeln  des  einen  Stachels  eingedrungen ;  an  allen  anderen 
ging  sie  spurlos  vorüber.  ,,Es  fließt  die  Erregung  in  ein- 
fachen Nervennetzen  immer  den  erschlafften  Muskeln 
zu;*'  so  lautet  diese  fundamentale  Beobachtung  als  Gesetz 
gefaßt. 

Vor  den  Maskeln  liegen  aber  ihre  Zentren  und  ohne  sie 
zu  passieren  kann  man  nicht  zu  den  Muskeln  gelangen.  Wären 
an  der  Erschlaffung  die  Zentren  ganz  unbeteiligt,  so  könnte 
die  Erregung  niemals  ihren  Weg  zu  den  Muskeln  finden.  Es 
sind  also  die  Zentren  durch  die  Erschlaffung  ihrer  Muskeln 
auch  in  Mitleidenschaft  gezogen, 

Diese  Mitleidenschaft  spricht  sich  darin  aus,  daß  sich  das 
Zentrum  zentralen  Erregungsvorgängen  gegenüber  anders  ver- 
hält als  sonst.  Wirft  man  einen  Blick  auf  die  Muskelzentren, 
so  sieht  man,  daß  die  Zentren  genau  den  Zustand  ihrer  Ge- 
folgsmuskeln  widerspiegeln.  Sie  repräsentieren  in  ihrer  Weise 
ihre  Gefolgsmuskeln.  Es  ergibt  sich  dadurch  eine  höchst 
wichtige  Wechselwirkung  zwischen  dem  Muskel  und  seinem 
Zentrum.  Der  Muskel  hat  nicht  nur  blind  dem  Zentrum  zu  ge- 
horchen, wenn  dieses  ihm  Erregungen  zusendet.  Nein,  der 
Muskel  hat  auch  die  Fähigkeit,  sein  Zentrum  zu  beeinflussen. 
Und  das  Zentrum  ist  einerseits  der  Herr  des  Muskels,  ander- 
seits sein  Repräsentant,  der  entsprechend  dem  Zustand  des 
Muskels  sich  den  Erregungen  im  zentralen  Netz  gegenüber  ver- 
schieden zu  verhalten  hat. 

Ich  habe  deshalb  vorgeschlagen ,  die  Muskelzentren 
,, Repräsentanten"  zu  nennen.  Dieser  Name  führt  uns  ohne 
weiteres  zum  Verständnis  der  Grundfunktion  des  zentralen 
Nervensystems.  Das  Zentralnervensystem  vermag  weiter  nichts 
als  Erregungen  zu  ordnen.  Wenn  es  mit  dieser  Fähigkeit  allein 
den  ganzen  Körper  regieren  soll,  so  kann  das  nur  geschehen, 
wenn  einerseits  alle  Reize  der  Außenwelt  in  Erregungen  um- 
gesetzt werden,  anderseits  alle  Körperbewegungen  durch  Er- 
regungen auszulösen  sind.  Um  aber  die  Körperbewegungen 
ordnungsgemäß  auslösen  zu  können,  muß  das  Zentralnerven- 
system in  jedem  Augenblick  über  den  Zustand  der  Muskeln 
orientiert    sein.     Es    muß    daher   ein   nervöses   Organ   da  sein, 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  7 


98  I^i©  Seeigel. 

das  von  dem  Zustand  der  Muskeln  beeinflußt  wird  und  seiner- 
seits auf  die  Erregungen  einzuwirken  vermag.  Dieses  Organ 
sind  die  Repräsentanten.  Es  ist  interessant  festzustellen,  daß 
der  nervöse  Abschnitt,  der  vom  Repräsentanten  bis  zum  Muskel 
reicht,  bei  den  Säugetieren  als  die  ,, letzte  gemeinsame  Strecke" 
von  Sh errington  bezeichnet  und  zur  Grundlage  einer  ganzen 
Reflexlehre  gemacht  worden  isf. 

Die  Repräsentanten  sitzen  bei  den  Seeigeln  noch  nahe  ihren 
Gefolgsmuskeln.  Bei  den  meisten  Tieren  werden  sie  aber  an 
einer  zentral  gelegenen  Stelle  zusammengezogen  und  geben 
dann  auf  kleinem  Räume  eine  gedrängte  Übersicht  der  ganzen 
Körpermuskulatur.  Sie  haben  die  Erregungen  aus  den  zentralen 
Netzen  zu  empfangen  und  an  ihre  Gefolgsmuskeln  weiterzugeben. 
Was  sich  später  als  Kraft  und  Bewegung  im  Leben  des  Tieres 
ofifenbart,  das  ist  vorher  im  Wechselspiel  der  Repräsentanten 
verteilt  und  geordnet  worden. 

Das  Wechselspiel  der  Repräsentanten  ist  bei  jedem  Tier 
nach  seiner  Bauart  verschieden.  Bei  einigen  Seeigeln  ist  die 
gegenseitige  Beeinflussung  der  Repräsentanten  eine  sehr  weit- 
gehende, wofür  folgende  Beobachtung  als  Beleg  dienen  mag. 
Bringt  man  bei  Echinus  acutus  einen  großen  Stachel  durch 
sanften  Druck  einseitig  zur  Erschlaffung,  so  zeigt  sich  auch 
bei  den  Nachbarstacheln  am  gleichen  Ort  die  gleiche  Er- 
schlaffung. Die  Nachbarstacheln  schlagen  nicht  konzentrisch 
zusammen  wie  bei  mechanischer  Reizung,  sondern  verbeugen 
sich  alle  nach  der  gleichen  Richtung,  in  die  sich  auch  der  ge- 
drückte Stachel  geneigt  hat.  Die  Erschlaffungsübertragung  läßt 
darauf  schließen,  daß  alle  gleichgerichteten  Muskelstränge  durch 
besondere  Netze  nahe  miteinander  verbunden  sind.  Dies  ist 
für  Echinus  um  so  wichtiger,  als  er  von  allen  Seeigeln  der 
einzige  ist,  der  mit  seinen  Stacheln  leidlich  in  Takt  zu  mar- 
schieren vermag. 

Die  Statik  der  Erregung. 

Alle  bisherigen  Beobachtungen  weisen  nachdrücklich  dar- 
auf, daß  es  unmögHch  ist,  einen  Zustand,  sei  es  im  Muskel, 
sei  es  in  den  Zentren,  aufzufinden,  in  dem  keine  Erregung  vor- 
handen ist.  Trotzdem  bleiben  die  beiden  Zustände  der  Ruhe 
und  Tätigkeit  sowohl  beim  Muskel  wie  im  Nervensystem  deut- 


Die  Seeigel.  99 

lieh  voneinander  getrennt.  Es  entspricht  jedem  von  diesen 
Zuständen  ein  anderes  Verhalten  der  Erregung,  die  man  mit 
Jordan  als  statisches  und  dynamisches  Verhalten  be- 
zeichnen kann.  Die  Statik  der  Erregung  oder  die  Erregung 
im  Zustand  der  Ruhe  sorgt  für  die  Erhaltung  und  Wieder- 
herstellung eines  inneren  Erregungsgleichgewichtes,  das  immer 
wieder  durch  den  Eingriff  der  tätigen  oder  dynamischen  Er- 
regung gestört  wird. 

Das  wichtigste  Organ  zur  Erhaltung  des  Gleichgewichtes 
der  Erregung  ist  der  Radialnerv  mit  seinen  Erregungsreservoiren. 
Dieses  Zentralreservoir  vermag  durch  sein  Erregungsniveau 
das  Erregungsniveau  in  allen  Repräsentanten  zu  heben  oder 
herabzudrücken.  Nur  durch  die  beherrschende  Wirkung  eines 
Zentral reservoirs  wird  es  verständlich,  daß  alle  Stacheln  des 
gleichen  Tieres  gleich  stramm  und  aufrecht  stehen,  während 
bei  einem  anderen  Exemplar  alle  Stacheln  die  gleiche  Neigung 
zeigen,  herabzusinken. 

Die  Tatsache,  daß  es  möglich  ist,  durch  Vergiftung  mit 
Kohlensäure  die  zentralen  Reservoire  so  zu  beeinflussen,  daß 
die  Erregung  aus  den  peripheren  Reservoiren,  d.  h.  den 
Repräsentanten  zentralwärts  abfließt,  ist  ein  unwiderlegbarer 
Beweis  dafür,  daß  die  Erregung  etwas  passiv  Bewegtes  ist.  Das 
aktiv  Handelnde  sind,  soweit  die  statischen  Ausgleichungen  in 
Frage  stehen,  nur  die  Zentren.  Deshalb  dürfen  wir  die  These 
aufstellen:  Ein  Zentrum  ist  ein  Organ,  das  Erregungs- 
verschiebungen bewirkt.  Alle  Zentren  stehen  durch  nervöse 
Leitungsbahnen  miteinander  in  direkter  oder  indirekter  Ver- 
bindung. Alle  vermögen  sich  Erregung  gegenseitig  zuzuschieben 
und  Druck  mit  Gegendruck  zu  beantworten.  Dadurch  er- 
halten sie  alle  Fühlung  miteinander.  Allein  durch  dieses  Ver- 
halten der  Zentren  ist  es  mögUch,  daß  eine  von  den  Rezeptions- 
organen herkommende  djniamische  Erregungswelle  ihren  rich- 
tigen Weg  vorgeschrieben  findet  und  allein  in  jene  Repräsen- 
tanten einbricht,  die  infolge  der  Erschlaflung  ihrer  Muskeln 
selbst  auch  keinen  genügenden  Gegendruck  besitzen  und  ihr 
daher  keinen  Widerstand  leisten  können. 

Es  ist  bei  den  Seeigeln  nicht  die  anatomische  Struktur 
des  Zentralnervensystems,  die  die  Erregungsverteilung  und 
Ordnung  besorgt,    sondern   ein   allgemeiner    innerer   Erregungs- 

7* 


■yQQ  Di©  Seeigel. 

druck,  der  das  Erzeugnis  der  zentralen  und  peripheren  Reser- 
voire ist.  In  allerneuester  Zeit  ist  es  Sherrington  gelungen, 
die  statischen  Erregungsverschiebungen  auch  am  Säugetier- 
muskel nachzuweisen. 

Die  Dynamik  der  Erregungen. 

Unter  Statik  der  Erregungen  verstehen  wir  alle  Vorgänge 
im  Zentralnervensystem,  die  sich  auf  die  Wiederherstellung  und 
Erhaltung  des  Erregungsgleichgewichtes  beziehen.  Die  Ver- 
schiebungen der  Erregungen,  die  sich  dabei  in  den  Nerven 
vollziehen,  können  nur  aus  dem  Zustand  der  Muskel  gefolgert, 
nicht  selbst  beobachtet  werden. 

Das  innere  durch  Druck  und  Gegendruck  erzeugte  Gleich- 
gewicht wird  gestört,  sobald  die  von  außen  her  gereizten 
R-ezeptionsorgane  eine  Neuerregung  im  Nervensystem  erzeugen. 
Diese  von  den  Rezeptionsorganen  erzeugte  Erregung,  die  den 
Reflex  im  engeren  Sinne  einleitet,  zeigt  elektrische  Neben- 
erscheinungen, die  vom  Galvanometer  wahrgenommen  werden 
können.  In  den  untersuchten  Fällen  hat  sich  sowohl  im 
zentripetalen  wie  im  zentrifugalen  Nerven  eine  elektrische 
Schwankungswelle  aufzeigen  lassen,  die  freilich  bei  verschiedenen 
Tierarten  außerordentlich  in  Form  und  Größe  wechselt. 

Bei  den  Seeigeln  ist  sie  noch  nicht  untersucht  worden. 
Wir  haben  aber  keinen  Grund,  hier  eine  Ausnahme  von  der 
allgemeinen  Regel  zu  erwarten  und  werden  daher  die  auf  Reiz 
eintretende  Erregung  auch  hier  als  einen  wellenförmigen  Vor- 
gang im  Nerven  ansehen.  Nun  sind  aber  Welle  und  Welle 
bei  verschiedenem  Substrat  sehr  verschiedene  Dinge.  Wie 
außerordentlich  schwierig  ist  es,  von  den  Flüssigkeitswellen  in 
Röhren  von  wechselndem  Durchmesser  und  wechselndem 
Widerstand  der  Wände,  wie  sie  unsere  Blutgefäße  darstellen, 
ein  einigermaßen  zutreffendes  Bild  zu  entwerfen.  Obgleich  wir 
sowohl  das  Substrat  der  Wellen,  d.  h.  unser  Blut,  genau 
kennen  und  den  Verlauf  der  Blutgefäße  überallhin  verfolgen 
können.  Im  Nervensystem  kennen  wir  nur  den  Bau  und  den 
Verlauf  der  Nervenfasern,  wenn  auch  sehr  unvollkommen.  Einen 
Schluß  aus  dieser  Kenntnis  auf  die  Funktion  der  nervösen  Teile  zu 
machen,  ist  aber  ganz  unmöglich,  solange  man  sich  über  das 
Substrat  der  Wellen  nicht  einigen  kann.     Selbst  wenn  man  in 


Die  Seeigel.  101 

betreff  des  Substrates  zugegeben  hat,  daß  die  Wellenbewegung 
ohne  Substanzverbrauch  vor  sich  geht  und  daß  sie  während 
ihres  Ablaufes  in  den  Nervenfasern  ein  passiver  Vorgang  ist, 
der  von  außerhalb  der  Nerven,  sei  es  von  einem  Rezeptor 
oder  einem  Zentrum,  seinen  Anstoß  erhält  —  so  gibt  es  immer 
noch  zwei  Möghchkeiten,  die  erwogen  werden  müssen. 

Einmal  kann  man  sich  vorstellen,  daß  die  Wellenbewegung, 
sobald  sie  einmal  im  Nerven  aufgetreten  ist,  unbeeinflußt  dahin 
weitereilt,  wohin  sie  die  anatomischen  Verzweigungen  der 
Nervenfasern  tragen.  Dies  ist  die  Vorstellung  aller  jener 
Forscher,  die  sich  ihre  Ansichten  aus  den  Experimenten  mit 
künstlicher  Nervenreizung  am  Froschnerven  geholt  haben,  der, 
von  seinem  Zentrum  getrennt,  nur  noch  mit  dem  Muskel  in 
Verbindung  stand,  cder  gar  beiderseitig  durchschnitten  nur  den 
kläglichen  Rest  eines  Organes  bildete. 

Es  gibt  aber  noch  eine  zweite  Möglichkeit :  Man  kann 
die  Erregungswelle  als  einen  Vorgang  betrachten,  der  sowohl 
von  seinem  Ausgangspunkt,  wie  von  seinem  Zielpunkt  gleich- 
zeitig beeinflußt  wird.  Dies  ist  die  Vorstellung,  die  sich  mit 
der  Bipolarhypothese  von  Jordan  deckt  und  die  man  sich 
auch  nach  den  neuesten  grundlegenden  Untersuchungen  von 
Piper  bilden  muß,  der  die  normalen  Erregungen  des  unver- 
letzten Nerven  prüfte. 

Piper  untersuchte  die  Erregungswellen,  die  in  den  mensch- 
lichen Muskeln  entlang  laufen,  sowohl  nach  künstlicher  Reizung 
des  Nervenstammes,  wie  nach  natürlicher  Erregung  durch  das 
Zentralorgan.  Es  zeigte  sich  dabei  folgender  wesentlicher  Unter- 
schied: Die  Frequenz  der  Erregungs wellen  ist  nach  künstlicher 
Reizung  allein  abhängig  von  der  Frequenz  der  angewandten  Reize. 
Die  Frequenz  der  Erregungswellen  ist  bei  willkürlicher  Inner- 
vation erstens  abhängig  von  der  Person  des  Zentrums,  das  die 
Erregung  dem  Muskel  zusendet,  und  zweitens  vom  Muskel  selbst. 
Denn  es  tritt  in  diesem  Falle  niemals  eine  neue  Erregungs- 
welle im  Muskel  auf,  bevor  die  alte  ganz  abgelaufen  ist.  Es 
muß  eine  wirksame  Reaktion  vom  Muskel  auf  seinen  Repräsen- 
tanten stattfinden,  für  die  der  Duboissche  Reizschhtten  ganz 
unempfindlich  ist.  Daher  sind  alle  Versuche  mit  künstlicher 
Reizung  des  Froschnerven  in  dieser  Hinsicht  wertlos  und  die 
aus  ihnen  geschöpften  Ansichten  hinfäUig. 


102  ^^^  Seeigel. 

Ist  das  Zentrum  mit  dem  Muskel  noch  im  normalen  Zu- 
sammenhang, so  befinden  sie  sieh  in  einer  dauernden  Wechsel- 
beziehung der  Erregung,  die  man  als  Druck  und  Gegendruck 
bezeichnen  kann.  Bricht  in  diese  statischen  Beziehungen  die 
dynamische  Erregungswelle  ein,  so  kann  sie  dieselben  wohl 
zeitweihg  ändern,  aber  niemals  aufheben,  das  ist  für  den 
Menschen  ebenso  sicher  wie  für  den  Seeigel.  Ja,  der  Seeigel 
lehrte  uns  noch  mehr,  indem  er  uns  zeigte,  daß  eine  Erregungs- 
welle nur  in  die  Repräsentanten  der  erschlafften  Muskel  ein- 
tritt. Damit  wurde  der  Beweis  erbracht,  daß  die  dauernden 
statischen  Beziehungen  der  einbrechenden  dynamischen  Welle 
ihre  Richtung  erteilen. 

Dieses  merkwürdige  Ineinandergreifen  der  statischen  und 
dynamischen  Funktionen  am  Seeigel  darf  uns  aber  nicht  dazu 
verführen,  die  Funktionen  für  gleichartig  zu  erklären.  Denn 
es  gibt  noch  ein  sehr  wichtiges  Merkmal,  das  die  beiden  Er- 
regungsarten unterscheidet.  Bei  Ausübung  der  statischen 
Funktionen  zeigt  es  sich,  daß  alle  Repräsentanten  dem  Zentral- 
reservoir im  Radialnervensystem  untergeordnet  sind.  Es  be- 
herrscht eine  höchste  Station  alle  übrigen.  Für  die  dynamischen 
Funktionen  wird  diese  Stelle  ausgeschaltet.  Die  Erregungs- 
wellen passieren  die  Radialnerven,  ohne  von  den  dortigen 
Zentren  irgendwie  gelenkt  oder  geordnet  zu  werden.  Für  die 
dynamischen  Erregungswellen  gibt  es  nur  die  Repräsentanten, 
die  durch  viele  intrazentrale  Netze  miteinander  verbunden  sind. 
Alle  Repräsentanten  sind  einander  beigeordnet  ohne  jede  Spur 
der  Unterordnung. 

Die  Kezeptoren. 

Die  Haut  der  Seeigel  ist  überall  reizbar  sowohl  durch 
mechaniche  Berührung,  wie  durch  chemisch  wirksame  Stoffe. 
Besonders  wirksam  sind  alle  Säuren,  selbst  in  großer  Verdünnung. 
Diese  Reize  sind  zugleich  die  allgemeinen  Nervenreize,  die  ge- 
eignet sind,  jede  Art  von  Nervensubstanz  zu  reizen  ohne  Ver- 
mittelung  besonderer  Endapparate.  Die  allgemeinen  Nerven- 
reize bilden  einen  gemeinsamen  Maßstab,  der  in  gewissen  Grenzen 
auf  alle  Tiere  anwendbar  ist,  wenn  man  ihre  Beziehungen  zur 
Umgebung  miteinander  vergleichen  will.  Erst  die  Abweichungen 
von  diesem  allgemeinen  Maßstab  charakterisieren  die  Besonder- 


Die  Seeigel.  103 

heit  jedes  Falles.  Die  Abweichung  beruht  einmal  in  der  Unter- 
drückung gewisser  allgemeiner  Reize,  hauptsächhch  aber  in  der 
Befähigung,  besondere,  sonst  unter  der  Schwelle  hegende  Wir- 
kungen der  Außenwelt  in  wirksame  Nervenreize  zu  verwandeln. 

Bei  den  Seeigeln  wirkt  auf  die  Körperhaut  außer  den 
allgemeinen  Nervenreizen  besonders  ein  Reiz,  der  von  dem 
Feinde  aller  Seeigel  ausgeht.  Dies  ist  der  Schleim  des  See- 
sternes Asterias  glacialis.  Diese  Substanz  ist  für  die  Haut  der 
Seeigel  von  spezifischer  Giftigkeit.  Läßt  man  ein  abgeschnittenes 
Füßchen  dieses  Seesternes  in  der  Nähe  der  Seeigelhaut  unter 
Wasser  liegen,  so  beginnt  diese  alsbald  blasig  aufzutreiben,  wo- 
bei der  Zelleninhalt  körnig  zerfällt.  Die  zersetzende  Wirkung 
des  Seesternschleimes  übt  gleichzeitig  einen  heftigen  Nervenreiz 
aus.  Es  ist  die  Seeigelhaut  gegen  den  Schleim  des  Seesternes 
überempfindlich  und  doch  darf  man  hierbei  nicht  von  einem 
spezifischen  Reiz  reden.  Denn  ein  spezifischer  Reiz  verlangt 
immer  ein  spezifisches  Rezeptionsorgan,  das  speziell  für  ihn 
gebaut  und  eingerichtet  ist.  Wir  sprechen  in  diesem  Falle  von 
einem  Transformator,  der  einen  an  sich  unwirksamen  Vorgang  der 
Außenwelt  in  einen  wirksamen  Nervenreiz  verwandelt. 

In  der  Seeigelhaut  gibt  es  einen  solchen  Transformator 
für  das  Licht.  Es  ist  eine  Art  Sehpurpur,  der  sich  überall 
vorfindet  und  durch  Alkohol  ausgezogen  werden  kann.  Die 
alkoholische  Purpurlösung  bleicht  im  Lichte  schnell  ab.  Wir 
dürfen  sie  daher  in  Beziehung  zur  Reizbarkeit  der  Seeigel 
durch  das  Licht  setzen.  Der  Reiz  des  einfallenden  Sonnen- 
lichtes wirkt  genau  wie  ein  allgemeiner  mechanischer  Reiz. 
Die  belichteten  Stacheln  führen  bei  sehr  reizbaren  Arten  Be- 
wegungen aus.  Die  übrigen  Seeigelarten  begnügen  sich  mit 
einer  langsamen  Fluchtbewegung  oder  sie  transportieren  doch 
wenigstens  die  Gegenstände,  die  ihre  Stacheln  belasten,  seien 
es  Steine  oder  Algenblätter,  nach  der  beleuchteten  Stelle  hin, 
und  verschaffen  sich  auf  diese  Weise  einen  Lichtschirm.  Der 
Lichtreiz  wird  also  durch  einen  spezifischen  Transformator  den 
Nervennetzen  übermittelt.  Die  von  ihm  ausgelöste  Erregung 
betritt  aber  keine  besonderen  Bahnen,  sondern  läuft  wie  jede 
andere  Erregungs welle  ab. 

Die  erste  Andeutung  einer  spezifischen  Behandlung  des 
Lichtreizes    in    den   Nervennetzen    findet    sich    bei    denjenigen 


1Q4  Die  Seeigel. 

Arten,  die  nicht  nur  auf  Licht,  sondern  auch  auf  Schatten 
reagieren.  Die  Mehrzahl  der  tropischen  Seeigel  und  von  den 
Mittelmeerarten  Centrostephanus  longispinus  zeigen  deutliche 
Stachelbewegungen  auf  Beschattung.  Diese  Tiere  werden  vom 
Sonnenlicht  so  lange  in  die  Flucht  getrieben,  bis  sie  in  die 
dunkelste  Ecke  geraten.  Dort  bleiben  sie  still  sitzen  und 
strecken  ihre  Stacheln  gleichmäßig  nach  allen  Seiten  aus.  Tritt 
nun  irgendeine  Verdunkelung  am  Horizont  auf,  mag  sie  durch 
eine  vorbeiziehende  Wolke  oder  durch  einen  herannahenden 
Fisch  veranlaßt  sein,  so  schlagen  die  Stacheln,  die  von  der  Ver- 
dunkelung getroffen  werden,  wie  auf  einen  allgemeinen  Haut- 
reiz zusammen.  Dies  ist  eine  Abwehrbewegung,  die  häufiger 
eintritt  als  nötig,  weil  die  Gegenstände  der  Außenwelt  von  den 
Seeigeln  nicht  unterschieden  werden. 

Den  Verlauf  des  Beschattungsreflexes  habe  ich  eingehend 
untersucht  und  folgendermaßen  dargestellt:  ,,Die  Endigungen 
der  rezeptorischen  Fasern  sind  von  lichtempfindlichem  Purpur 
umgeben.  Auf  ihn  wirken  die  Lichtstrahlen  und  bei  seiner 
Zersetzung  werden  die  Nervenendigungen  gereizt.  Nun  läuft 
die  Erregung,  die  sich  von  nun  ab  nicht  mehr  von  anders 
erzeugten  Erregungen  unterscheidet,  den  Nerven  entlang  und 
tritt  in  die  Hautnervennetze  ein.  Hier  löst  sie,  wenn  sie 
kräftig  genug  ist,  in  den  nächstliegenden  Reflexzentren  der 
Stacheln  einen  Reflex  aus,  der  die  Stacheln  dem  Reizort  zu- 
führt. Weiter  tritt  die  Erregung  in  die  Ausläufer  des  Radial- 
nerven ein  und  dringt  ihnen  entlanglaufend  ins  Innere  des 
Körpers  ein.  Durch  die  Seitenäste  gelangt  sie  schließlich  in 
den  Radialnerv  selbst,  der  dann  die  Erregung  allseitig  weiter- 
verbreitet und  ihr  so  die  Mögüchkeit  verschafft,  wiederum  an 
die  Außenfläche  zu  kommen  und  in  alle  eingekhnkten  Reflex- 
zentren einzudringen,  die  nach  dem  Reflexorte  zu  schauen.  Hier 
wird  überall  eine  Muskelbevvegung  ausgelöst  und  der  Flucht- 
reflex tritt  ein. 

Beim  Passieren  der  Radialnerven  erhöht  die  Erregung  den 
Tonus  in  den  bipolaren  Zellen,  und  zwar  mit  steigender  In- 
tensität in  steigender  Anzahl.  So  lange  die  Erregung  den 
Radialnerven  durchläuft,  so  lange  findet  auch  eine  dauernde 
Ladung  der  Tonuszentren  statt.  Im  Moment,  wo  außen  das 
Licht   abgeschnitten  wird   und   mit  der  Purpurzersetzung  auch 


Die  Seeigel.  105 

die  Erregung  aufhört,  geben  die  Tonuszentren  ihre  Ladung 
in  Form  von  Erregung  wieder  den  Nerven  ab,  denen  sie  bei- 
geschaltet sind,  und  nun  durchläuft  die  Erregung  den  gleichen 
Weg  in  umgekehrter  Richtung  nach  ihrer  Ursprungsstätte  zurück, 
tritt  ins  Hautnervennetz  ein  und  löst  in  den  Reflexzentren  der 
Stacheln  wiederum  eine  Bewegung  aus,  die  der  zuerst  ausgelösten 
gleichen  muß,  da  sie  an  den  gleichen  Orten  anpackt  wie  früher." 

Ob  es  wirklich  die  bipolaren  Zellen  sind,  die  als  Reservoire 
für  die  Erregung  oder  den  Tonus  angesprochen  werden  müssen, 
ist  zweifelhaft.  Unzweifelhaft  aber  scheint  mir,  daß  sich  eine 
gewisse  Anzahl  von  den  allgemeinen  Reservoiren  abgespaltet 
haben  müssen,  um  nun  dem  speziellen  Zweck  des  Schatten- 
reflexes zu  dienen.  Dadurch  ist  die  erste  Andeutung  einer  ge- 
sonderten Anlage  der  Photorezeption  gegeben.  In  allen  anderen 
Tieren  werden  Licht-  und  Schattenreflex  von  dem  gleichen  Organ 
ausgelöst.  Auch  hierin  sind  die  Seeigel  von  grundlegender  Be- 
deutung, weil  sie  uns  erlauben,  auch  diese  eng  zusammengehörigen 
Reflexe  dank  ihrem  anatomischen  Bau  experimentell  gesondert 
zu  behandeln.  Zu  bemerken  ist  noch,  daß  alle  Seeigel,  die 
eine  hohe  LichtempfindHchkeit  besitzen,  besondere  Pigmentzellen 
in  der  Haut  tragen,  die  als  Lichtschirm  wirken.  Sie  bewirken 
es,  daß  Centrostephanus  im  Dunkeln  weiß  wird,  im  Sonnenlicht 
aber  schwarz  erscheint. 

Alle  Seeigel  besitzen  um  den  Mund  herum  besondere  Or- 
gane, die  wahrscheinlich  die  Nahrungssuche  vermitteln.  Sie 
sind  aber  noch  nicht  untersucht  worden  und  können  daher 
hier  keinen  Platz  finden.  Ebenso  übergehe  ich  die  Funktion 
der  Saugfüße,  die  teils  dem  Tasten,  teils  der  chemischen  Re- 
zeption, teils  der  Atmung  und  schließlich  der  Fortbewegung 
dienen,  weil  das  Zusammenarbeiten  dieser  Funktionen  noch 
nicht  genügend  analysiert  ist.  Auch  das  Arbeiten  des  kompli- 
zierten Kauapparates,  der  sogenannten  Laterne  des  Aristoteles, 
muß  ich  übergehen. 

Spezieller  Teil. 
Arbacia  pustulosa. 

Der  einfachste  Seeigel  ist  schwarzbraune  Arbacia  pustu- 
losa, die  ihr  Leben  in  der  Brandungszone  verbringt,  die  Algen- 
decke    der    Felsen     abweidend.     Sie    preßt    sich    in    alle   Ver- 


IQß  Dio  Seeigel. 

tiefungen  hinein  dank  ihren  außerordenthoh  kräftigen  Saug- 
füßen und  streckt  ihren  langen,  starren  Stachel wald  allseitig 
nach  außen.  Ihre  Stacheln  sind  alle  gleiclilang,  sehr  hart  und 
sehr  spitz.  Die  Sperrmuskeln  überwiegen  sehr  stark  gegenüber 
den  Bewegungsmuskeln,  ein  Zeichen,  daß  wir  es  mit  einem 
seßhaften  Seeigel  zu  tun  haben. 

Starke  Eingriffe  durch  Erschütterung  und  chemische  Reize 
beantwortet  das  Tier  mit  einem  lang  andauernden  Anspannen 
seiner  gesamten  Sperrmuskulatur.  In  diesem  Stadium  ist  es 
unmöglich,  die  Stacheln  zu  beugen,  eher  brechen  sie  ab.  In 
dieser  Stellung  erwartet  Arbacia  den  Erbfeind  aller  Seeigel, 
den  Seestern  Asterias  glacialis,  sobald  der  Reizstoff,  der 
von  seinem  Schleim  ausgeht,  ihre  Haut  getroffen  hat.  Der 
schöne  Stachelwald  schützt  Arbacia  besser  vor  ihrem  Feinde, 
als  all  die  komplizierten  Werkzeuge  der  anderen  Seeigel- 
arten. 

Einer  mechanischen  Hautreizung  ist  Arbacia  nur  selten 
ausgesetzt,  weil  bei  jeder  unsanfteren  Berührung  die  Stacheln 
zusammenfahren  und  dem  nahenden  Eindringling  eine  spitze 
Stachelbürste  entgegenstrecken,  die  jede  Passage  versperrt.  Es 
ist  schwierig,  Arbacia  zur  Flucht  zu  bewegen,  da  sie  auf 
chemische  und  mechanische  Reize  ihre  Stachelmuskeln  sperrt. 
Nur  durch  einseitiges  Einleiten  von  kohlensaurem  Seewasser 
gelingt  es,  sie  zum  Verlassen  ihres  Standortes  zu  bringen. 

Bekanntlich  verkürzen  sich  alle  dem  Reizort  zugekehrten 
und  erschlafften  Stachel muskeln,  sobald  eine  Erregung  zu  ihnen 
dringt,  und  schieben  dabei  den  Gegenstand,  der  sie  zum  Er- 
schlaffen brachte,  dem  Reizorte  zu.  Ist  dieser  Gegenstand  der 
Erdboden,  so  flieht  der  Seeigel  vor  dem  Reiz. 

Legt  man  eine  Arbacia  auf  den  Rücken,  so  beginnen  jetzt 
die  gedrückten  Rückenstacheln  Fluchtbewegungen  zu  machen, 
und  zwar  macht  es  den  Eindruck,  als  ginge  der  Reiz,  der  sie 
zum  Fliehen  veranlaßt,  von  der  Mundmembran  aus.  Kommt 
Arbacia  bei  diesen  Bewegungen  an  eine  Stelle,  die  bergauf 
führt,  so  ist  sie  gerettet.  Denn  nun  finden  die  langen  Mund- 
füße Gelegenheit,  den  Boden  zu  fassen  und  den  Tierkörper  um- 
zudrehen. Die  Rückenfüße  ermangeln  bei  Arbacia  der  Haft- 
scheiben und  dienen  bloß  zum  Tasten  und  Atmen.  Auf  einer 
ebenen  Fläche   ist  die   auf   dem  Rücken  liegende  Arbacia  ver- 


Die  Seeigel.  107 

loren.     Sie  stellt   ihre  resultatlos  verlaufenden  Gehbewegungen 
nach  einiger  Zeit  ein  und  geht  bald  zugrunde. 

Arbacia  ist,  wie  die  meisten  Seeigel,  von  peinlichster 
Sauberkeit.  Sie  kann  sich  aber  nicht  selbst  reinigen,  sondern 
überläßt  dies  Geschäft  dem  Wellenschlag.  Deshalb  ist  sie  im 
Aquarium  bald  mit  ihren  eigenen  Exkrementen  bedeckt,  die 
man  durch  kräftige  Wasser bewegung  entfernen  muß,  um  das 
Tier  gesund  zu  erhalten. 

Centrostephanus  longispinus. 

Der  nächste  Seeigel,  den  wir  betrachten,  besitzt  gleichfalls 
lange  Stacheln,  die  eine  Länge  von  7  cm  erreichen  können,  außer 
diesen  Hauptstacheln  aber  noch  zahlreiche  mittlere  und  kürzere 
Stacheln  von  1  bis  2  cm  Länge.  Alle  diese  Stacheln  sind  zarte 
Röhren,  dicht  besetzt  mit  feinen,  nach  außen  zu  strebenden 
Spitzen,  so  daß  sie  unter  der  Lupe  überschlanken  gotischen 
Münstertürmen  gleichen.  Jeder  Fremdkörper,  der  sich  der 
Körperhaut  nähern  will,  wird  von  diesen  Spitzen  aufgehalten 
und  mit  Leichtigkeit  abgestreift. 

Nahe  Verwandte  des  Centrostephanus,  die  in  den  Tropen 
wohnen,  tragen  ihre  lanzettartig  geschliffene  Stachelspitze  in 
einem  häutigen  Beutel,  der  mit  Gift  gefüllt  ist  —  eine  recht 
bösartige  Waffe. 

Seinem  Stachelbau  entsprechend,  besitzt  Centrostephanus 
eine  ganz  andere  Muskulatur  als  Arbacia.  Während  Arbacia 
hauptsächUch  Sperrmuskulatur  aufwies,  ist  bei  Centrostephanus 
fast  die  gesamte  Muskulatur  zu  Bewegungsmuskeln  geworden. 
Daraus  allein  läßt  sich  schließen,  daß  wir  es  hier  mit  dem 
Renner  unter  den  Seeigeln  zu  tun  haben,  der  nicht  im  festen 
Widerstände,  sondern  in  der  Flucht  sein  Heil  suchen  wird. 

Die  Muskeln  von  Centrostephanus  geraten  sehr  schwer  in 
Sperrkampf.  Auch  vermögen  sie  nur  gerade  noch  ihren  eigenen 
leichten  Körper  zu  tragen,  nicht  aber  einem  starken  Drucke 
zu  widerstehen. 

Sehr  interessant  ist  bei  Centrostephanus  zu  beobachten,  wie 
durch  eine  nur  geringe  Abweichung  im  Bau  der  nervösen  Ver- 
bindung ganz  neue  Effekte  erzielt  werden  können.  So  besitzt 
Centrostephanus    im  Umkreise    des   Anus    fünf  bis  acht  kleine 


1Q3  Die  Seeigel. 

Stacheln  mit  kolbenförmigem  Ende,  die  fast  immer  in  kreisen- 
der Bewegung  sind.  Sie  sind  ganz  besonders  spärlich  mit 
Sperrmuskeln  versehen  und  vermögen  sich  nicht  mehr  aufrecht 
zu  erhalten,  wenn  der  Seeigel  aus  dem  Wasser  genommen  wird, 
sondern  sinken  auf  die  Schale  nieder.  Ihre  Muskeln  werden 
daher  besonders  leicht  von  Erschlaffung  befallen  und  sind  jeder 
Erregung  ausgesetzt.  Um  sie  still  zu  stellen,  muß  man  die 
Radialnerven  entfernen  und  sie  dadurch  dem  Beschattungs- 
reflex entziehen.  Berührt  man  die  Haut  im  Umkreise  eines 
solchen  Stachels  dreimal  nacheinander,  so  neigt  sich  der  Stachel 
dem  ersten  Reizorte  zu  und  fährt  dann,  in  geneigter  Lage  ver- 
bleibend, nach  dem  zweiten  und  dann  nach  dem  dritten  Reiz- 
orte hin.  Darauf  kehrt  er  aber  nicht  zur  Ruhelage  zurück, 
sondern  fährt  noch  lange  fort  sich  in  der  durch  die  Reizfolge 
gegebenen  Richtung  im  Kreise  zu  drehen.  Dieses  Drehen  ist 
in  Wahrheit  ein  Verbeugen  nach  allen  Richtungen  hin ,  denn 
es  wird  hervorgerufen  durch  die  immer  wiederholte  Verkürzung 
der  einzelnen  Muskelstränge,  die  nacheinander  in  Tätigkeit  ge- 
raten. Es  ist  sicher,  daß  die  Erregung  dabei  im  Nervenring 
kreist,  der  bei  diesen  Stacheln  besonders  innige  Verbindungen 
der  einzelnen  Zentren  untereinander  aufweisen  muß.  Nachdem 
von  außen  der  Anlaß  und  die  Richtung  gegeben  sind,  kann 
der  Stachel  automatisch  im  Kreisen  fortfahren,  da  jede  Ver- 
kürzung der  Muskeln  auf  der  einen  Seite  die  Antagonisten,  auf 
der  anderen  zur  Erschlaffung  bringt,  die  dann  die  Erregung 
zu  sich  heranziehen.  Somit  ist  jede  Bewegung  selbst  die 
Ursache  zur  Fortsetzung  der  Bewegung.  Man  hat  es  dabei 
völlig  in  der  Hand,  die  Drehungsrichtung  der  kreisenden  Stacheln 
beliebig  zu  ändern,  indem  man  sie  mit  einem  spitzen  Gegen- 
stand anhält.  Dann  beginnen  sie  in  der  entgegengesetzten 
Richtung  zu  kreisen. 

Die  kreisenden  Analstacheln  dienen  vermutlich  der  Rein- 
Hchkeit,  die  an  dieser  Stelle  besonders  gepflegt  werden  muß, 
weil  die  Oberseite  der  Schale,  die  der  Verunreinigung  durch 
die  Exkremente  am  meisten  ausgesetzt  ist,  zugleich  in  besonders 
hohem  Maße  der  Lichtrezeption  dient. 

Von  Centrostephanus  können  wir  noch  eine  prinzipielle 
Neuerung  lernen,  die  im  allgemeinen  Organisationsplan  noch 
nicht  aufgeführt  wurde.     Durch  geeignete  Schnittführung  kann 


Die  Seeigel.  109 

man  die  eine  Hälfte  eines  Stachels  mit  der  benachbarten  Haut- 
partie völlig  isolieren  und  als  einen  besonderen  Reflexapparat  be- 
handeln. Reizen  wir  die  Haut  dieses  Reflexapparates  mechanisch, 
so  verkürzen  sich  die  Muskeln  wie  immer  und  der  Stachel  neigt 
sich  dem  Reizorte  zu.  Reizen  wir  aber  die  Haut  mit  einem 
Salzkristall,  so  erschlaffen  die  Muskeln  und  der  Stachel  neigt 
sich  vom  Reizorte  fort. 

Dieses  Umschlagen  des  Reflexes  kann  nicht  allein  in  einer 
gesteigerten  Intensität  der  Erregung  gesucht  werden,  denn  eine 
auf  einen  gesteigerten  mechanischen  Reiz  auftretende  starke 
Erregung  ruft  immer  nur  Verkürzung  und  Sperrung  hervor, 
aber  niemals  Erschlaffung.  Es  muß  auch  die  Plötzlichkeit  der 
neu  auftretenden  Erregung  für  diesen  Umschlag  verantwortlich 
gemacht  werden.  Wenn  in  der  Zeiteinheit  aus  dem  gleichen 
Rohr  mehr  Wasser  herausfließt,  so  steht  dieses  Wasser  unter 
erhöhtem  Druck  und  vermag  andere  Wirkungen  auszuüben, 
als  das  mit  schwachem  Druck  ausfließende  Wasser.  In  über- 
tragener Bedeutung  können  wir  auch  von  einem  höheren  Er- 
regungsdruck sprechen  und  sagen,  die  Erregung,  die  unter  hohem 
Druck  an  die  Repräsentanten  von  Centrostephanus  gelangt,  füllt 
diese  nicht  langsam  mit  Erregung  an,  sondern  drückt  sie  plötz- 
lich maximal  auseinander.  In  die  so  erweiterten  Reservoire  fließt 
die  Erregung  aus  den  Muskeln  ab  und  die  Muskeln  erschlaffen. 

Die  Bedeutung  dieser  Einrichtung  liegt  in  der  Erleichterung 
der  Flucht.  Centrostephanus  flieht  auf  den  langen  Haupt- 
stacheln vor  dem  Feinde.  Solche  Stacheln  sind  nur  in  be- 
schränkter Anzahl  vorhanden.  Darum  müssen  sie  alle  mittun. 
Es  würde  den  Erfolg  der  Flucht  in  Frage  stellen,  wenn  ein 
Teil  dieser  Stacheln  starr  gesperrt  nach  hinten  gerichtet  bliebe. 

Centrostephanus  ist,  wenn  man  so  sagen  darf,  ein  nervöses 
Tier,  sehr  leicht  und  sehr  stark  erregbar  durch  alle  Änderungen 
seiner  Umwelt  und  dabei  trotz  seiner  Vielseitigkeit  so  einfach 
organisiert. 

Die  kurzstacheligen  Seeigel. 

(Sphaerechinus,  Toxopneustes,  Echinus.) 

Die  kurzstacheligen  Seeigel  bilden  eine  Gruppe  für  sich, 
die  durch  sehr  charakteristische  Eigenschaften  verbunden  ist. 
Trotz    der  Verschiedenheit    in   Bau    und  Lebensweise    zeichnen 


jjQ  Die  Seeigel. 

sich  alle  kurz  stacheligen  Seeigel  durch  den  Besitz  von  vier  ver- 
schiedenen Zangenarten  aus,  mit  denen  ihr  Körper  an  allen 
Stellen  zwischen  den  Stacheln  besäet  ist.  Die  kurzstacheligen 
Seeigelarten  zerfallen  unter  sich  wieder  in  zwei  Gruppen,  in 
dicht  bestachelte  und  spärlich  bestachelte. 

Die  Funktion  der  Stacheln  ist  bei  diesen  beiden  Gruppen 
eine  verschiedene  und  wir  müssen  erst  auf  diesen  Unterschied 
eingehen,  bevor  wir  auf  die  ,,Pedicellarien"  genannten  Zangen  zu 
sprechen  kommen.  Der  große  Echinus  acutus  ist  nur  an  der 
Unterseite  dicht  mit  Stacheln  bedeckt,  die  bei  diesem  schweren 
Tier  das  Gehen  auf  ebenen  Flächen  allein  besorgen,  während 
ein  leichter  Seeigel,  wie  Toxopneustes  lividus,  von  seinen 
Saugfüßen  getragen,  leicht  einherschweben  kann.  Die  Stacheln 
von  Echinus  marschieren  in  ausgesprochenem  Takt.  Sie  zeigen 
auch  am  deutlichsten  das  Phänomen  der  Erschlaffungsüber- 
tragung von  Nachbar-  auf  Nachbarstachel.  Auf  der  Oberseite 
ist  Echinus  nur  spärhch  bestachelt.  Er  lebt  in  größeren  Tiefen 
als  die  anderen  Arten  und  muß  dort  weniger  Schädigungen  der 
Haut  ausgesetzt  sein. 

Für  die  dicht  bestachelten  Arten  bildet  der  Stachelwald 
außer  einem  Schutzmittel  auch  eine  Falle  für  die  Beute.  Es 
ist  öfter  beobachtet  worden,  daß  eine  Mantis  mit  ihren  Schlag- 
scheren nach  einem  Sphaerechinus  schlagend  ihre  Schere  nicht 
mehr  aus  dem  Stachelwald  zurückzuziehen  vermochte.  Die 
Stacheln  fahren,  wie  wir  wissen,  nach  dem  Reizorte  zusammen, 
und  dauert  die  Reizung  an,  so  setzt  die  Sperrung  ein.  Es 
legen  sich  dann  die  Stacheln  wie  ein  dichter  Zaun  über  das 
feindliche  Glied  und  verharren  regungslos,  bis  die  Saugfüße 
zugefaßt  haben  um  den  Transport  der  Beute  nach  dem  Munde 
zu  übernehmen.  Da  Sphaerechinus  noch  die  Neigung  zeigt, 
alles,  was  ihm  in  den  Weg  kommt,  Steine  und  Algenblätter, 
sobald  sie  seine  Stacheln  belasten,  auf  den  Rücken  zu  schieben, 
so  maskiert  er  sich  dadurch  vollkommen  und  verwandelt  sich, 
wie  das  Dohrn  zuerst  beobachtet  hat,  in  eine  gefährliche  Krebs- 
falle. Die  mitgeführten  grünen  Algenblätter  liefern  ihm  zugleich 
ein  willkommenes  Sauerstoffreservoir. 

Während  Centrostephanus  auf  den  Rücken  gelegt  durch 
zwei  Schläge  seiner  beweglichen  langen  Stacheln  den  Erd- 
boden  wieder    unter  seine  Mundfläche   schiebt    und    so   wieder 


Die  Seeigel.  Hl 

in  die  richtige  Lage  kommt,  brauchen  die  großen  kurzstache- 
ligen Seeigel  längere  Zeit,  um  von  der  Rückenlage  in  die  Mund- 
lage zu  gelangen.  Am  meisten  wirkt  die  Form  ihres  Körpers 
dabei  mit.  Sie  gleichen  mehr  oder  minder  einer  Kugel,  die 
man  einseitig  glatt  abgeschnitten  hat.  Die  glatte  Fläche  ist 
die  Mundfläche.  Wenn  das  Tier  auf  der  Mundfläche  ruht,  so 
ist  die  Last  des  Körpers  auf  viel  zahlreichere  Stacheln  verteilt, 
als  wenn  der  Körper  auf  die  runde  Rückenfläche  zu  Hegen 
kommt.  In  dieser  Lage  beugen  sich  die  wenigen,  aber  stark 
belasteten  Stacheln  allseitig  ganz  fort,  so  daß  das  Tier  mit 
der  Körperschale  unmittelbar  auf  dem  Boden  ruht.  Nun 
braucht  es  nur  eines  geringen  Reizes,  der  von  der  Mundfläche 
ausgeht,  um  die  gedehnten  Stachelmuskeln,  die  zur  Mundfläche 
hinsehen,  in  Kontraktion  zu  versetzen.  Dadurch  geben  sie  dem 
runden  Körper  einen  leisen  Stoß  und  dieser  rollt  ohne  Schwierig- 
keit in  die  Mundlage  zurück.  Wird  einem  auf  der  Seite  liegen- 
den Sphaerechinus  ein  stärkerer  mechanischer  Reiz  vom  Anus 
aus  erteilt,  so  rollt  der  Seeigel  in  die  umgekehrte  Lage  und  kommt 
mit  dem  Anus  anstatt  mit  dem  Munde  nach  unten  zu  liegen. 
Von  der  Reflexumkehr  auf  chemischen  Reiz,  die  wir  bei 
Centrostephanus  kennen  lernten,  machen  die  kurzstacheUgen 
Seeigel  noch  einen  besonderen  Gebrauch.  Die  kleinen  Exkre- 
mentkügelchen,  die  aus  dem  am  Zenith  der  Schale  gelegenen 
Anus  austreten,  müßten,  wenn  sie  hier  liegen  blieben,  das  Tier 
verunreinigen,  wie  wir  das  an  Arbacia  gesehen  haben.  Sie 
bleiben  aber  nicht  Hegen,  weil  die  nächsten  Stacheln  auf  den 
chemischen  Reiz  des  Exkrementes  durch  Muskelerschlaffung 
zurückschlagen  und  die  kleinen  Kugeln  herabroUen  lassen.  Es 
braucht  aber  nicht  jeder  Stachel  auf  dem  Wege  hinab  einen 
neuen  chemischen  Reiz,  um  die  Passage  freizugeben.  Der  Druck 
der  oberen  Stacheln  auf  die  unteren  genügt,  um  diese  herab- 
zubeugen.  Daß  keinerlei  nervöse  Reflexe  dabei  eine  RoUe 
spielen,  davon  überzeugt  man  sich  leicht,  indem  man  einen 
Sphaerrechinus  an  seinem  Äquator  in  eine  obere  und  untere 
Schalenhälfte  auseinandersprengt  und  dann  die  beiden  Schalen - 
Hälften  wieder  aneinanderfügt.  Auch  in  diesem  FaUe  wird 
jede  von  einem  chemischen  Reiz  am  Anus  erzeugte  Beuge- 
bewegung der  Stacheln,  die  Schalenlücke  überspringend,  sich 
bis  an  die  Mundmembran  hinab  fortsetzen. 


112  ^^^  Seeigel. 

Die  Pedicellarien. 

Unter  Pedicellarien  versteht  man  kleine,  auf  beweglichen 
Stielen  stehende  dreizinkige  Zangen,  die  je  nach  ihrer  Bauart 
verschiedenen  Zwecken  dienen. 

Die  Putzzangen  sind  die  kleinsten  Pedicellarien,  sie  haben 
drei  breite  blattförmige  Zangenglieder,  mit  denen  sie  auf  der 
Haut  herumkratzen  und  alle  Unreinigkeiten  entfernen.  Oft 
sieht  man  zwei  Zangenglieder  ein  Körnchen  fassen,  um  es  mit 
dem  dritten  zu  zerklopfen. 

Die  übrigen  drei  Zangenarten  müssen  gemeinsam  betrachtet 
werden,  da  sie  sich  gegenseitig  ergänzen.  Die  langen,  dünnen, 
leichtbeweglichen  Klappzangen  haben  die  Aufgabe,  die  zartere 
Beute,  etwa  vorbeischwimmende  kleine  Würmchen,  zu  packen. 
Die  kurzen,  kräftig  zufassenden  Beißzangen  sind  geeignet,  die 
dünnen  Beine  kleiner  Krebse  zu  fassen,  die  dem  Stachelzaun 
durch  ihre  Biegsamkeit  entgleiten.  Die  großen,  Drüsen  tragen- 
den Giftzangen  beißen  sich  in  die  Saugfüße  des  Seesternes  fest, 
vor  dessen  chemischen  Reiz  die  Stacheln  sich  fortneigen. 

Die  Unterscheidung  zwischen  Würmern,  Krebsen  und  See- 
sternen geschieht  nach  dem  Stärkegrade  der  von  diesen  Tieren 
ausgehenden  Reize.  Die  drei  fremden  Tierarten  in  der  Um- 
gebung der  Seeigel  bedeuten  für  die  Umwelt  des  Seeigels  nichts 
weiter  als  schwache,  mittlere  und  starke  Reize. 

Am  ruhenden  Tier  liegen  alle  Pedicellarien  auf  der  Schale 
zwischen  den  immer  aufrecht  stehenden  Stacheln.  Das  Stiel- 
gelenk der  Pedicellarien  unterscheidet  sich  nicht  vom  Stachel- 
gelenk. Aber  seine  Zentren  nehmen  nicht  teil  am  allgemeinen 
Erregungsdruck,  der  vom  Radialnervensystem  ausgeht.  Sie 
sind  daher  nicht  dauernd  geladen  wie  die  Repräsentanten  der 
Stachelmuskeln,  sondern  bedürfen  vor  dem  Gebrauch  einer 
jedesmaligen  Ladung  durch  eine  besondere  Erregung.  Erst 
dann  verkürzen  sich  die  Stielmuskeln,  richten  den  Stiel  auf 
und  machen  die  Zange  gebrauchsfertig.  Die  Stielmuskelzentren 
der  drei  Zangenarten  werden  entsprechend  dem  Gebrauch, 
dem  die  Zange  dient,  durch  verschieden  starke  Erregungen 
geladen,  durch  schwache,  mittlere  und  starke.  Unter  schwach 
und  mittel  sind  dabei  verschiedene  Grade  der  mechanischen 
Reizung,     unter    stark    ist    chemische    Reizung    zu    verstehen. 


Die  Seeigel.  113 

Auf  diese  Weise  gelingt  es,  für  verschiedene  fremde  Objekte 
stets  die  passende  Zange  bereitzuhalten.  Ferner  muß  dafür 
gesorgt  werden,  daß  die  nicht  mehr  passende  Zange  ver- 
schwindet. Das  geschieht  mit  Hilfe  des  neu  eintretenden 
stärkeren  Erregungsdruckes,  der  die  Zentren  der  nicht  mehr 
zusagenden  Zange  dehnt  und  ihre  Gefolgsmuskeln  zur  Er- 
schlaffung bringt.  So  vertreibt  ein  starker  mechanischer  Reiz 
die  vom  schwachen  Reiz  hervorgerufenen  Klappzangen,  während 
er  die  Beißzangen  hervorlockt.  Ein  chemischer  Reiz  vertreibt 
wiederum  die  Beißzangen  und  mit  ihnen  zusammen  die  Stacheln, 
zaubert  aber  dafür  die  Giftzangen  hervor. 

Dies  kann  man  sich,  wie  wir  bereits  gesehen,  nach  Ana- 
logie der  veränderten  Wirkung  eines  unter  höherm  Druck  her- 
vorspritzenden Wasserstrahls  klar  machen.  Nur  bilden  die 
Zentren  der  Stielmuskeln  bei  den  Giftzangen  ganz  besonders 
gebaute  Apparate.  Die  Erregung,  die  vom  chemischen  Reiz 
ausgeht,  und  die  sonst  alle  anderen  Zentren  lähmt,  reicht  ge- 
rade hin,  um  sie  so  weit  zu  laden,  daß  die  Stielmuskeln  die 
Zange  aufrecht  stellen.  Ist  das  geschehen,  so  neigen  sich  die 
Stiele  der  Zangen,  wie  alle  Stacheln  dem  Reizorte  zu,  sobald 
eine  Stelle  in  ihrer  Nähe  gereizt  wird, 

Hier  wird  zum  ersten  Male  die  biologisch-technisch  inter- 
essante Frage  gelöst:  Wie  macht  es  die  Natur,  wenn  das 
Nervensystem  nicht  Einzelreize,  sondern  Reizgruppen  gesondert 
behandeln  soll.  Die  Stielmuskeln  der  Giftzangen  antworten 
auf  eine  Kombination  von  chemischen  und  mechanischen  Reizen 
anders  als  auf  einfache,  chemische  oder  mechanische  Reize. 
Denn  sobald  der  chemische  Reiz  zu  wirken  aufgehört  hat  und 
die  Stielmuskeln  der  Erschlaffung  anheimzufallen  beginnen, 
antworten  ihre  Zentren  auf  jeden  neuen  mechanischen  Reiz 
nur  mit  einer  stärkeren  Erschlaffung  ihrer  Gefolgsmuskeln.  In 
diesem  Falle  neigt  sich  die  Giftzange  vom  Reizort  fort,  dem 
sie  sich  vorher  genähert  hatte. 

Das  gleiche  Phänomen  zeigt  sich  bei  den  Stacheln.  Wenn 
man  durch  andauernde  chemische  Reizung  ihre  Muskeln  in  zu- 
nehmende Erschlaffung  gebracht  hat,  so  bewirkt  jeder  neue  Reiz, 
der  während  der  Periode  der  Erschlaffung  einsetzt,  eine  weitere  Zu- 
nahme der  Erschlaö'ung  und  der  Stachel  neigt  sich  vom  Orte  der 
mechanischen  Reizung  fort,  dem  er  sich  sonst  unweigerHch  nähert. 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  8 


^\4:  ^^^  Seeigel. 

Wir  lernen  hieraus  die  wichtige  Tatsache  kennen,  daß 
ein  Zentrum  im  Stadium  der  zunehmenden  Lähmung  sich 
neuen  Erregungen  gegenüber  anders  benimmt,  als  im  Stadium 
der  abnehmenden  Lähmung  oder  der  Ruhe.  Das  läßt  sich  so 
formulieren:  Die  neue  Erregung  wird  von  den  Zentren  bei  zu- 
nehmender Lähmung  mit  Zunahme,  bei  abnehmender  mit  Ab- 
nahme der  Lähmung  beantwortet. 

Ein  Seesternf üßchen ,  das  sich  der  Haut  eines  Seeigels 
nähert,  reizt  diese  durch  seinen  Schleim  erst  chemisch  und 
dann  mechanisch.  Die  vom  mechanischen  Reiz  ausgehende 
Erregung  trifft  die  Stachelzentren  infolge  der  voraufgegan- 
genen chemischen  Reizung  im  Stadium  der  Lähmungszu- 
nahme, die  Stielmuskelzentren  der  Giftzangen  aber  im  Stadium 
der  Lähmungsabnahme.  Infolgedessen  neigen  sich  die  Stacheln 
vom  Reizorte  weg,  die  Giftzangen  dem  Reizorte  zu.  Damit 
ist  der  biologische  Zweck  erreicht,  den  Feind,  der  sich  aus 
den  Stacheln  nichts  macht,  den  Giftbatterien  gegenüberzustellen. 

Wir  wenden  uns  jetzt  den  Leistungen  der  Zangenglieder 
zu.  Jedes  Zangenglied  aller  vier  Zangenarten  ist  nach  außen 
zu  mit  zwei  Öffnern,  nach  innen  mit  zwei  SchUeßern  ver- 
bunden, die  zu  seinen  Nachbarn  gehen.  Die  drei  Zinken  sind 
immer  gelenkig  eng  miteinander  verbunden.  Mit  dem  Kalkstiel 
stehen  sie  durch  drei  Flexoren  in  Verbindung.  Ich  übergehe 
weitere  Einzelheiten  und  betrachte  bloß  die  Reflexe  der  Öff- 
nung und  Schließung. 

Bei  den  Klapp-  und  Beißzangen  liegen  die  Verhältnisse 
einfach.  Wird  die  Haut  auf  der  Außenseite  mechanisch  ge- 
reizt, so  antworten  die  Öffner,  wird  die  Innenseite  gereizt,  so 
antworten  die  Schließer,  die  bei  den  Klappzangen  aus  quer- 
gestreifter Muskulatur  bestehen.  Chemische  Reizung  hebt  alle 
Reflexe  auf.  Dieser  Umstand  wird  wiederum  von  der  Natur 
in  genialer  Weise  ausgenutzt. 

Da  die  Pedicellarien  von  keinem  Zentralnervensystem  aus 
dirigiert  werden,  sondern  ganz  selbständig  auf  jeden  mecha- 
nischen Reiz,  der  die  Innenseite  ihrer  Zangen  trifft,  zubeißen, 
so  liegt  die  Gefahr  nahe,  daß  sie  in  einen  dauernden  Krieg 
untereinander  und  mit  den  Stacheln  geraten.  In  Wirklichkeit 
ist  es  aber  nur  eine  seltene  Ausnahme,  daß  zwei  Klappzangen 
bei   ihrem  Hin-    und  Herpendeln   aneinanderschlagen    und   sich 


Die  Seeigel.  ;[15 

gegenseitig  verbeißen.  Aber  auch  in  diesem  Falle  lassen  sie 
gleich  wieder  los.  Es  zeigt  sich  nun,  daß  selbst  vom  Tier 
abgelöste  Beiß-  und  Klappzangen,  die  bei  der  geringsten  Be- 
rührung jedes  beliebigen  Gegenstandes  zubeißen,  alle  Organe, 
die  mit  der  Haut  ihrer  eigenen  Art  überzogen  sind,  respek- 
tieren. Es  genügt  aber,  einen  Stachel,  der  bisher  nicht  ange- 
griffen wurde,  einen  Augenblick  in  kochendes  Wasser  zu  tun 
oder  einer  Pedicellarie  die  Haut  abzuziehen,  um  sie  dadurch  in 
Fremdkörper  zu  verwandeln.  Daraus  habe  ich  geschlossen, 
daß  es  einen  Stoff  in  der  Haut  gibt,  dessen  chemische  Wirkung 
für  gewöhnlich  unter  der  Schwelle  liegt,  aber  sofort  hervortritt, 
wenn  sich  zwei  Hautstellen  berühren.  Ich  habe  diesen  Stoff 
Autodermin  genannt  und  die  Erscheinung  der  Reflexunter- 
drückung durch  chemische  Selbstreizung  nenne  ich  Autodermo- 
philie. 

Wir  nähern  uns  jetzt  dem  kompliziertesten  Organ  der 
Seeigel,  dem  Kopf  der  Giftzangen.  Aufgabe  dieses  kleinen 
Meisterwerkes  ist  es,  sich  so  fest  in  den  Feind  zu  verbeißen 
daß  es  wie  ein  vergifteter  Pfeil  im  Fleische  stecken  bleibt. 
Die  Feinde  sind  neben  Asterias  glacialis  noch  einige  säure - 
bildende  Nacktschnecken.  Jede  Giftzange  ist  nur  für  einen 
einzigen  Biß  berechnet,  deshalb  muß  besondere  Sorgfalt  darauf 
verwendet  werden,  daß  sie  ihr  Ziel  nicht  verfehlt.  Der  Kopf 
der  Giftzange  beherbergt  drei  koordinierte  Reflexapparate,  die 
so  genau  ineinandergefügt  sind,  daß  der  wirksame  Biß  unter 
normalen  Umständen  völlig  gesichert  erscheint. 

Wir  unterscheiden  erstens  die  dünnen  Öffner,  die  auf 
leichten  chemischen  Reiz  sich  mit  den  Stielmuskeln  zusammen 
verkürzen.  Infolgedessen  zeigt  die  aufrechtstehende  Giftzange 
immer  weit  geöffnete  Zinken.  In  diesem  Stadium  wirkt  jeder 
mechanische  Reiz  auf  der  Außenseite  oder  Innenseite,  appliziert 
immer  nur  Reflex  auslösend  auf  die  Öffner.  Wir  unterscheiden 
zweitens  die  Muskeln  der  Giftdrüse,  die  sich  immer  nur  auf 
starken  chemischen  Reiz  zusammenziehen  und  den  Drüseninhalt 
in  dünnem  Strahle  nahe  der  Zinkenspitze  hinauspressen. 
Drittens  unterscheiden  wir  die  sehr  starken  Schließer.  Diese 
zeigen  bei  verschiedenen  Arten  eine  verschiedene  Erregungs- 
weise.  Bei  Sphaerechinus  werden  die  SchUeßer  durch  den 
immer  stärker  werdenden  chemischen  Reiz  des   herannahenden 

8* 


\IQ  Die  Seeigel. 

Feindes  zur  Verkürzung  gebracht.  Die  Zangen  sind  aber  durch 
die  Tätigkeit  der  vorher  erregten  Öffner  so  weit  zurückgebogen, 
daß  die  Schließer  hinter  ihr  Gelenk  zu  liegen  kommen.  Ihre 
Verkürzung  öffnet  daher  die  Zange  nur  noch  stärker.  Durch 
diese  Bewegung  wird  das  Gelenk  selbst  ganz  nach  vorne  ge- 
bracht. Jeder  mechanische  Druck,  der  vom  Feinde  auf  das 
übergeschnappte  Gelenk  ausgeübt  wird,  bringt  es  zum  Zurück- 
schnappen. Worauf  erst  die  Kontraktion  der  SchUeßer  zur 
vollen  Wirkung  gelangt  und  die  spitzen  Zähne  der  Zinken  tief 
ins  feindliche  Fleisch  treibt.  Der  Kanal  der  Giftdrüsen  war, 
solange  die  Zinken  zurückgeschlagen  blieben,  abgeknickt.  Daher 
konnte  die  Drüse,  obwohl  ihre  Muskeln  in  Kontraktion  waren, 
ihren  Inhalt  nicht  entleeren.  Erst  jetzt,  nachdem  die  Zinken 
zurückgeschnappt  sind,  wird  der  Kanal  gerade  gezogen  und 
das  Gift  tritt  aus.  Auf  diese  Weise  ist  dafür  gesorgt,  daß 
nur  nach  starker  chemischer  Reizung  und  wirklich  erfolgter 
Berührung  die  Zange  zubeißt  und  Gift  speit. 

Bei  Toxopneustes  lividus  ist  der  Vorgang  noch  merk- 
würdiger. Hier  finden  wir  gleichfalls  nach  voraufgegangenem 
leichten  chemischen  Reiz  die  Giftzangen  geöffnet  aufrecht 
stehen.  Am  weitesten  nach  vorne  gerichtet  befindet  sich  ein 
kleiner  häutiger  Hügel,  der  sich  sonst  in  der  Tiefe  der  ge- 
schlossenen Zange  verbirgt.  Dieser  Hügel  ist  mit  langen, 
lebhaft  wimpernden  Haaren  bedeckt.  Steigert  sich  die  Wirkung 
der  chemischen  Reize  beim  Herannahen  des  Feindes,  so  ver- 
wandelt sich  dieser  wimpernde  Hügel  vor  unseren  Augen  in 
ein  Tastorgan.  Die  Wimpern  stehen  plötzlich  still,  starr  nach 
vorne  gerichtet,  und  der  mechanische  Reiz,  der  bisher  von  hier 
aus  wie  von  jeder  anderen  Stelle  nur  die  Öffner  erregte,  löst 
jetzt  die  Kontraktion  der  Schließer  aus,  die  zusammenfahrend 
die  Zinken  in  den  Feind  treiben.  Bei  dieser  Annäherung  wird 
der  chemische  Reiz  so  stark,  daß  auch  die  Drüsenmuskeln 
sich  verkürzen  und  das  Gift  in  die  Wunde  spritzen. 

Wir  sehen  uns  drei  verschiedenen  Methoden  gegenüber, 
welche  die  Seeigel  anwenden,  um  eine  Kombination  von  che- 
mischen und  mechanischen  Reizen  durch  einen  spezifischen 
Reflex  zu  beantworten.  In  allen  drei  Fällen  wird  der  chemische 
Reiz,  der  den  Seeigel  früher  trifft  als  der  mechanische,  dazu 
benutzt,  um  den  Reflexapparat  einzustellen.    Bei  Toxopneustes 


Die  Seeigel.  117 

wird  durch  den  chemischen  Reiz  ein  Tastorgan  ad  hoc  ge- 
schaffen. Diese  Methode  kann  wohl  angewandt  werden,  wenn 
der  Reflex  nur  ein  einzigesmal  auftreten  soll,  was  für  die  Gift- 
zangen der  Fall  ist.  Sphaerechinus  bedient  sich  eines  feinen 
mechanischen  Apparates,  der  durch  den  chemischen  Reiz  ge- 
spannt wird  und  beim  ersten  Druck  losschießt  wie  eine  Arm- 
brust. Auch  diese  Methode  wird  schwerlich  eine  allgemeine 
Verbreitung  finden  können.  Nur  die  Methode,  die  bei  den 
Stielmuskeln  aller  Giftzangen  angewandt  wird,  beansprucht 
höhere  Bedeutung.  Hier  wird  durch  den  chemischen  Reiz  ein 
Zentrum  geladen,  das  erst  dadurch  die  Fähigkeit  erlangt,  den 
mechanischen  Reiz  mit  einer  Verkürzung  der  Gefolgsmuskeln 
zu  beantworten. 

Die  Umwelt. 

Die  Behandlung  der  Reizkombinationen  durch  die  See- 
igel ist  deshalb  so  wichtig,  weil  damit  die  Frage  nach  der 
Beschaffenheit  der  Umwelt  gelöst  wird.  Die  Gegenstände,  die 
wir  in  der  Umgebung  der  Seeigel  bemerken,  besitzen  gar  keine 
anderen  Mittel,  um  als  selbständige  Individuahtäten  einzu- 
wirken, denn  durch  Erzeugung  von  Reizkombinationen,  die  für 
sie  allein  charakteristisch  sind.  Oder  anders  ausgedrückt,  ein 
Seeigel  kann  keine  Kenntnis  von  den  Gegenständen  seiner  Um- 
gebung erlangen,  wenn  er  nicht  imstande  ist,  charakteristische 
Reizkombinationen  von  den  einzelnen  Gegenstandsarten  in  Er- 
regungen zu  verwandeln.  Die  von  den  Reizkombinationen  er- 
zeugten Erregungen  müssen  ferner  imstande  sein,  gesonderte 
Wirkungen  im  Seeigel  auszuüben,  damit  man  von  einer  wirk- 
Hchen  Gegenstandswirkung  reden  darf.  Sonst  bleibt  es  bei 
unvereinten  Reizen,  und  die  Umwelt  der  Tiere  enthält  dann 
wohl  Eigenschaften,  aber  keine  Gegenstände. 

Die  Umgebung  der  Seeigel,  wie  sie  sich  unserem  Auge 
darstellt,  ist  leicht  aufgezählt :  Wasser,  Felsboden,  kleine  Steine, 
Algen,  Licht,  für  einzelne  Arten  auch  Schatten,  ferner  Beute- 
tiere, wie  Krebse  und  Würmer,  und  endlich  als  Feinde  See- 
sterne und  Nacktschnecken.  Diese  Gegenstände  existieren  für 
das  Nervensystem  der  Seeigel  samt  und  sonders  nicht.  Für  die 
Seeigel  gibt  es  nur  schwache  und  starke  Reize,  die  schwache 
und    starke  Erregungen    auslösen,    hin   und  wieder  eine  Kom- 


■^IQ  Die  Seeigel. 

bination  von  schwachen  und  starken  Reizen,  die  aber  nicht 
weiter  unterschieden  wird.  Der  einzige  Reiz,  der  sich  einer 
gesonderten  Behandlung  erfreut,  ist  der  Schatten.  Alle  übrigen 
Reize  erzeugen  immer  nur  Erregungen,  die  unterschiedslos  im 
allgemeinen  Nervennetz  ihren  Weg  suchen  müssen. 

Selbst  wenn  wir  uns  das  Vergnügen  machen  wollen, 
und  ganz  bewußt  unsere  Seele  dem  Zentralnervensystem  der 
Seeigel  zugrunde  legen  (was  die  vergleichenden  Psychologen 
unbewußt  tun),  so  können  wir  doch  von  einem  solchen  Nerven- 
system nie  etwas  anderes  erfahren  als  einzelne  Empfindungen. 
Nur  im  Stiel  der  Giftzangen  würde  unsere  Seele  zwei  ver- 
koppelte Empfindungen  erhalten.  Was  aber  für  unsere  Seele 
am  verwunderlichsten  wäre,  das  wäre  die  Unmöglichkeit,  dem 
Körper  einen  einheitlichen  Impuls  zu  erteilen. 

Wohl  gibt  es  die  zentral  gelegenen  Reservoire,  die  den 
allgemeinen  Erregungsdruck  regulieren,  aber  die  einzelnen  Re- 
flexe laufen  durchaus  selbständig  ab.  Nicht  bloß  jedes  Organ, 
sondern  auch  jeder  Muskelstrang  mit  seinem  Zentrum  handelt 
völlig  eigenmächtig.  Daß  dabei  doch  noch  etwas  Vernünftiges 
herauskommt,  ist  nur  das  Verdienst  des  Planes,  nach  dem  die 
selbständigen  Einzelteile  so  zusammenpassen,  daß  immer  und 
und  überall  der  Nutzen  des  Gesamttieres  gewahrt  bleibt.  Man 
kann  deshalb  die  Seeigel  eine  Reflexrepublik  nennen  und  den 
Unterschied  gegenüber  den  höheren  Tieren  dadurch  anschaulich 
machen,  daß  man  sagt:  Wenn  der  Hund  läuft,  so  bewegt  das 
Tier  die  Beine  —  wenn  der  Seeigel  läuft,  so  bewegen  die 
Beine  das  Tier. 

Es  herrscht  im  Seeigel,  um  das  Wesentliche  nochmals 
hervorzuheben,  nicht  der  einheitliche  Impuls,  sondern  der 
einheitliche  Plan,  der  die  ganze  Umgebung  des  Seeigels  mit  in 
seine  Organisation  hineinzieht.  Er  wählt  von  den  nützlichen 
und  feindlichen  Gegenständen  der  Umgebung  diejenigen  Wir- 
kungen aus,  die  als  Reize  für  den  Seeigel  geeignet  sind. 
Diesen  Reizen  entsprechen  abgestufte  Rezeptionsorgane  und 
Zentren,  die  auf  verschiedene  Reize  verschieden  antworten  und 
dabei  die  Muskeln  erregen,  welche  die  vom  Plan  vorgesehenen 
Bewegungen  ausführen  müssen. 

So  ist  auch  der  Seeigel  nicht  einer  feindlichen  Außenwelt 
preisgegeben,  in  der  er  einen  brutalen  Kampf  ums  Dasein  führt, 


Die  Seeigel.  119 

sondern  er  lebt  in  einer  Umwelt,  die  wohl  Schädlichkeiten 
neben  Nützlichkeiten  birgt,  die  aber  bis  aufs  letzte  so  zu 
seinen  Fähigkeiten  paßt,  als  wenn  es  nur  eine  Welt  gäbe  und 
einen  Seeigel. 

Die  Herzigel. 

(Echinocardium  caudatum.) 

Dem  Meeresboden  fehlt  der  Humus,  jenes  feuchte,  plastische 
Material,  das  von  unzähligen  Rissen  durchzogen,  tausend  wohl- 
gelüftete Kammern  bildet,  in  denen  sich  große  und  kleine 
Tiere  durch  Erweiterung  der  nachgiebigen  Wände  wohnHch 
niederlassen  können.  An  Stelle  des  Humus  tritt  am  Meeres- 
boden der  Sand,  der  auch,  wie  der  Humus,  fein  verteiltes 
organisches  Material  beherbergt,  das  bescheidenen  Ansprüchen 
vollauf  zur  Nahrung  genügt.  Dafür  felilen  dem  Sande  die 
plastischen  Eigenschaften  und  die  Durchlüftung.  Der  Sand 
fällt  immer  wieder  in  sich  zusammen  und  schließt  beim  Zu- 
rücksinken die  eingeschlossenen  Höhlen  hermetisch  gegen  das 
Seewasser  ab.  Dadurch  wird  den  Tieren,  die  solche  Sandhöhlen 
bewohnen,  der  notwendige  Sauerstoff  abgeschnitten  und  sie 
sind  alle  dem  Erstickungstode  preisgegeben,  wenn  sie  nicht  be- 
sondere Hilfsmitttel  besitzen,  die  ihnen  die  Wasserzufuhr 
sichern.  Es  gibt  verschiedene  solcher  Hilfsmittel,  die  wir  bei 
Sipunculus,  den  Anneliden  und  den  Herzigeln  kennen  lernen. 
Das  einfachste  besteht  darin,  Löcher  mit  großer  Kraft  in  den 
Sand  zu  stoßen.  Dadurch  wird  der  Sand  ringsum  zusammen- 
gepreßt und  gewinnt  einen  gewissen  Halt.  Sipunculus,  der 
dieses  Mittel  anwendet,  überzieht  außerdem  die  Innenseite  der 
von  ihm  in  den  Sand  gestoßenen  Höhle  mit  Schleim.  Der 
Schleim  wird  sehr  allgemein  angewandt,  und  speziell  zum 
Verkleben  der  nassen  Sandkörner  ausgebildet.  Auch  die  Anne- 
liden, die  tief  im  Sande  leben,  bekleiden  ihre  vertikalen  Höhlen 
mit  einem  besonderen  Klebstoff.  Den  ausgiebigsten  Gebrauch 
von  dem  Klebstoff  für  den  Sand  machen  aber  die  Herzigel. 

Die  Herzigel  gehören  dem  Typus  der  Seeigel  an,  haben  aber 
alle  Orgrane  der  freilebenden  Formen  für  das  Dasein  unter 
dem  Sande  umgestaltet.  Die  runde  Mundfläche  hat  sich  ver- 
lagert und  verschmälert.  Der  Mund  ist  nach  der  einen  Seite 
hin  gerückt  und   wird  jetzt   bei  horizontalen   Bewegungen  der 


120  ^iö  Seeigel. 

Tiere  nach  vorne  getragen.  Die  breite,  runde,  muskulöse 
Mundmembran,  die  in  der  Ebene  der  Mundfläche  lag  und  die 
Laterne  des  Aristoteles  trug,  ist  jetzt  vertikal  gestellt  und 
verbindet  die  breite  knöcherne  Unterlippe,  die  wie  eine  Pflug- 
schar nach  unten  gekrümmt  ist,  mit  der  verstrichenen  knö- 
chernen Oberlippe.  Die  Mundöffnung  ist  einseitig  angebracht 
und  führt  unmittelbar  in  den  Darm.  Die  ganze  Laterne  des 
Aristoteles  ist  verschwunden  und  der  in  den  Mund  gepflügte 
Sand  gelangt  unmittelbar  in  den  Verdauungskanal. 

Vom  Munde  aus  zieht  an  der  Außenseite  der  Schale  eine 
tiefe  und  breite  R-inne  nach  oben.  Sie  mündet  an  der  Ober- 
seite in  eine  flache  vierarmige  Atemlakune,  die  wie  mit  einem 
Stempel  in  die  Schale  eingedrückt  erscheint.  Die  Rinne  ist  von 
einem  dichten  Stachelzaun  nach  außen  zu  abgesperrt.  Die 
Stacheln  stehen  links  und  rechts  am  Rande  der  Rinne  und 
beugen  sich  einander  entgegen.  Der  Boden  der  Rinne  ist  frei 
von  Stacheln.  So  entsteht  ein  Kanal,  der  das  Wasser  der 
Lakune  in  direkte  Verbindung  mit  dem  Munde  bringt.  In 
der  Lakune  befinden  sich  die  zu  Kiemen  umgebildeten  Saug- 
füßchen.  Die  Verbindung  der  Lakune  mit  dem  Seewasser 
herzustellen  und  aufrecht  zu  erhalten,  dazu  gehört  das  Zu- 
sammenwirken mehrerer  Organe,  das  wir  jetzt  zu  betrachten 
haben. 

Bringt  man  einen  frisch  aus  dem  Sande  geholten  Herzigel 
in  eine  Glasschale  mit  Seewasser,  so  bietet  sich  unseren 
Blicken  ein  allerliebstes  Schauspiel  dar.  Das  kleine  Tierchen 
gleicht  in  Größe  und  Farbe  einem  weißen  Mäuschen.  Die 
langen  weißen  Borsten  liegen  dicht  den  beiden  Seiten  an  und 
sind  auf  das  peinlichste  von  vorne  nach  hinten  gekämmt.  An 
der  Mundseite  sind  sie  auf  fünf  Felder  verteilt,  die  den  Mund 
strahlig  umgeben.  Hier  sind  die  Borsten  viel  kräftiger  gebaut 
als  auf  den  Seiten,  und  besonders  die  kurzen  Borsten,  die 
hinter  der  Unterlippe  ihren  Platz  haben,  gleichen  kleinen 
platten  Füßchen.  Betrachten  wir  die  einzelnen  Borsten  genauer, 
so  bemerken  wir,  daß  sie  alle  an  ihrer  Spitze  eine  kleine, 
löffeiförmige  Verbreiterung  tragen.  Die  Innenflächen  dieser 
viele  Hunderte  zählenden  Löffel  sind  an  den  Seiten  des  Tieres 
alle  nach  oben  gerichtet.  An  der  Mundseite  schauen  sie  alle 
vom  Munde  fort. 


Die  Seeigel.  121 

Ist  das  Tierchen  in  der  Glasschale  eine  Zeitlang  dem 
Tageslicht  ausgesetzt  worden,  so  beginnt  der  ganze  Wald  dieser 
feinen  Borsten  sich  zu  regen.  Erst  zeigen  sich  einige  flache 
Wellen,  die  das  weiße,  wohlgekämmte  Haar  der  Seitenflächen 
zu  kräuseln  beginnen.  Dann  setzt  der  ganze  Borstenwald  mit 
einer  exakten  rhythmischen  Wellenbewegung  ein,  die  unser 
Auge  ebenso  durch  seine  Gesetzmäßigkeit  wie  seine  Zierlichkeit 
erfreut. 

,,Der  Borstenwald  bietet  den  Anblick  eines  vom  Wind 
bewegten  Kornfeldes  dar.  Jederseits  vom  Munde  in  den  Seiten- 
feldern beginnend  bis  hinauf  am  Rückenschopf  endigend,  folgt 
sich  Welle  auf  Welle.  Steil  aufragend  oder  ausgehöhlt  ist  die 
Vorderseite  jeder  Welle,  während  die  Rückseite  in  sanftem 
Bogen  zum  nächsten  Tal  übergeht.  Jede  Vorderseite  zeigt 
dicht  an  einander  gepreßt  die  Höhlungen  der  Stachellöffel  .  .  . 
Setzt  man  einen  frischen  Seeigel  unter  Seewasser  auf  feinen 
Sand,  so  sieht  man  binnen  kurzem  rechts  und  links  von  ihm 
einen  kleinen  Sandwall  entstehen,  der  durch  die  Stacheln  der 
Unterseite  aufgeworfen  wird.  Die  immer  höher  werdenden 
Seitenwälle  werden  von  den  Stacheln  an  beiden  Seiten  des 
Tieres  derart  weiter  verarbeitet,  daß  der  Sand  an  der  Innen- 
seite des  Walles  in  die  Höhe  geschafft  wird,  bis  er  auf  den 
Gipfel  des  Walles  niederfällt.  Der  Sandwall  wird  dadurch 
immer  höher  und  breiter,  zugleich  verschwindet  das  Tier  lang- 
sam im  Sande." 

Wie  kommen  die  einzelnen  Wellen  zustande,  welche  Be- 
wegungen vollführen  die  einzelnen  Borsten  dabei  ?  Die  Borsten 
der  Herzigel  sind  nichts  anderes,  als  etwas  umgestaltete 
Stachel  der  Seeigel.  Auch  sie  sind  im  Grunde  nur  kleine 
Stöckchen,  die  auf  einem  Kugelgelenk  kreisen.  Die  Stacheln  der 
Seeigel  sind  aber  beim  freien  Kreisen  ganz  und  gar  nicht  im- 
stande, eine  Welle  zu  erzeugen.  Jede  Welle  besteht  aus  einem 
Wellenberge  und  einem  Wellentale.  Will  man  daher  über  eine 
Anzahl  dicht  gedrängter  Stacheln  eine  Welle  hinziehen  lassen, 
so  ist  es  notwendig,  daß  sich  die  Stacheln  abwechselnd  neigen 
und  wieder  erheben,  wie  das  die  Halme  eines  windbewegten 
Kornfeldes  tun.  Nun  kreisen  die  Stacheln  der  regelmäßigen 
Seeigel,  indem  sich  ihre  Muskeln  ringsum  nacheinander  gleich- 
stark   verkürzen.     Dadurch    bleibt    die    Spitze   stets  gleichweit 


122  ^^^  Seeigel. 

von  der  Unterlage  entfernt  und  es  kommt  daher  kein  Neigen 
und  Wiederaufrichten  zustande.  Die  Stacheln  der  Herzigel 
sitzen  gleichfalls  auf  einer  Kugel,  aber  die  Kugel  selbst  sitzt 
auf  einer  schräg  gestellten  Basis.  Daher  entfernt  und  nähert 
sich  beim  Kreisen  die  Spitze  des  Stäbchens  in  regelmäßigem 
Wechsel  der  Oberfläche  des  Tieres.  Schräg  gestellte  Stäbchen 
sind  wohl  imstande,  wenn  sie  im  gleichen  Tempo  kreisen,  eine 
Welle  über  sich  dahinlaufen  zu  lassen.  Bei  den  Stacheln  der 
Herzigel  kommt  noch  dazu,  daß  sie  alle  einseitig  gebogen 
sind.  Auch  das  regelmäßige  Kreisen  eines  gebogenen  Stäbchens 
ruft  ein  regelmäßiges  Neigen  und  Heben  seiner  Spitze  hervor. 
Es  gleicht  die  Welle,  die  über  den  Borstenwald  des  Herzigels 
einherzieht,  nur  scheinbar  der  Welle,  die  ein  windbewegtes 
Kornfeld  schlägt.  Die  Spitzen  der  Stäbchen  bewegen  sich 
nicht  einfach  auf  und  ab,  sondern  ziehen  regelmäßige  Kreise, 
die  aber  schräg  zur  Unterlage  stehen. 

Da  die  Wellen,  die  über  den  Herzigel  dahinziehen,  die 
Aufgabe  haben,  mit  ihren  Wellenbergen  den  Sand  von  der 
Mundseite  wegzuschaffen  und  an  den  Seiten  emporzuheben,  so 
sind  die  Muskeln,  solange  sie  den  Sand  heben,  sehr  stark  in 
Anspruch  genommen.  Nur  solange  die  Innenseite  des  Löffels 
vorwärts  bewegt  wird,  ist  sie  mit  Sand  belastet  und  muß  da- 
her schwere  Arbeit  leisten.  Deshalb  sind  die  Muskeln,  welche 
die  Innenseite  des  Löffels  zu  sich  heranziehen,  doppelt  so  stark 
und  lang,  als  die  Muskeln  der  anderen  Seite. 

Die  Spitze  einer  jeden  Borste  an  den  Seiten  des  Herz- 
igels beschreibt  einen  Kreis,  dessen  Fläche  nicht  parallel  der 
Oberfläche  des  Tieres  steht,  sondern  der  vorne  weiter  vom 
Körper  entfernt  ist  als  hinten.  Während  die  Spitze  die  vordere 
Hälfte  des  Kreisbogens  durcheilt,  ist  sie  weiter  vom  Körper 
entfernt  und  nimmt  daher  Teil  an  der  Bildung  des  Wellen- 
berges. Im  hinteren  Teile  des  Kreises  nähert  sich  die  Spitze 
dem  Körper  und  bildet  mit  seinem  Nachbarstachel  zusammen 
das  Wellental.  Die  Richtung,  in  der  die  Spitze  den  Kreisbogen 
durchläuft,  ist  durch  die  Stellung  des  Löffels  von  vornherein 
bestimmt.  Da  der  Löffel  den  Sand  hinaufschaufeln  muß  und 
deshalb  nach  oben  gerichtet  ist,  so  muß  er,  um  wirksam  zu 
sein,  die  vordere  Hälfte  des  Kreisbogens,  in  der  er  den  Wellen- 
berg bildet,  von  unten  nach  oben  durchfahren.     Beim  Durch- 


Die  Seeigel.  123 

kreisen  der  hinteren  Hälfte  des  Kreisbogens,  der  zum  Wellen- 
tal gehört,  zieht  der  LöfiFel  von  oben  nach  unten  mit  seiner 
konvexen  Rückenseite  voran. 

Die  Wellen  beginnen  an  der  Unterseite  des  Tieres  und 
ziehen  nach  oben.  Das  bedeutet,  daß  ein  jedes  Stäbchen  etwas 
später  zu  kreisen  beginnt  als  die  unter  ihm  gelegenen  Nach- 
barn, und  während  des  ganzen  Vorgangs  immer  um  einen 
kleinen  Teil  des  Kreisbogens,  der  gerade  der  Breite  eines 
Löffels  entspricht,  hinter  ihnen  zurückbleibt.  Um  den  gleichen 
Teil  des  Kreisbogens  ist  er  seinen  oberen  Nachbarn  voraus. 
Seine  hinteren  und  vorderen  Nachbarn  dagegen  sind  gerade  so 
weit  wie  er  und  bleiben  daher  mit  ihm  in  einer  Flucht. 

Betrachtet  man  die  vorschreitende  obere  Seite  eines  Wellen- 
berges, so  sieht  man,  daß  sie  bis  in  die  Tiefe  des  Tales  hinab 
aus  dicht  aneinander  gepreßten  Löffeln  besteht.  Es  beteiligen 
sich  immer  mehrere  untereinander  liegende  Stachelreihen  an 
diesem  Aufbau.  Der  äußerste  Saum  der  Welle  wird  von  einer 
Löffelreihe  gebildet,  deren  Stacheln  gerade  der  Mitte  der  ganzen 
Welle  angehören.  Ihr  Löffel  hat  eben  den  Punkt  des  Kreis- 
bogens erreicht,  der  am  weitesten  vom  Körper  absteht.  An 
sie  anschließend  folgt  Löffelreihe  auf  Löffelreihe,  welche  erst 
auf  dem  Wege  zu  diesem  höchsten  Punkt  sich  befinden.  Beim 
Fortschreiten  der  Welle  schiebt  sich  immer  eine  Reihe  an  die 
Stelle  der  anderen,  und  die  letzte  Reihe,  die  eben  den  Wellen- 
saum bildete,  verschwindet  hinter  der  vorletzten,  wenn  diese 
ihre  Stelle  einnimmt. 

Auf  der  Rückseite  des  Wellenberges  gleiten  die  Löffelreihen, 
die  man  hier  von  der  konvexen  Seite  sieht,  wieder  hinab,  bis 
sie  im  Tal  angelangt  sind.  So  besteht  jede  Vorderseite  einer 
Welle  aus  lauter  konkaven  Innenseiten  der  Löffel,  während  jede 
Rückseite  aus  den  konvexen  Außenseiten  der  Löffel  gebildet  wird. 

An  der  tiefsten  Stelle  des  Wellentales  verläßt  der  Stachel 
die  vorübergezogene  Welle  und  schHeßt  sich  durch  sein  Wieder- 
emporsteigen der  neuen  Welle  an.  Solange  er  sich  noch  im 
Bereich  des  neuen  Wellentales  befindet,  bewegt  der  Stachel 
sich  mit  der  Hinterseite  seines  Löffels  voran  imd  schiebt  sich 
auf  diese  Weise  hinter  den  emporgetragenen  Sand.  Der  Sand 
kommt  im  Wellental  nur  darum  vorwärts,  weil  sich  immer 
wieder  eine  höhergelegene  Löffelreihe  hinter  ihn  schiebt.     Erst 


124  -^^^  Seeigel. 

an  dem  Punkte,  wo  Wellental  in  Wellenberg  übergeht,  beginnt 
der  Stachel  den  Sand  zu  heben,  indem  er  mit  der  Innenseite 
des  Löffels  voranschreitet.  Die  ausgehöhlte  Form  der  Vorder- 
seite der  Wellen  versteht  sich  nun  leicht.  Die  Stelle,  wo  die 
Welle  am  weitesten  ausgehöhlt  ist,  ist  zugleich  der  Ort,  wo 
die  Stacheln  aus  einer  Abwärtsbewegung  in  eine  Aufwärts- 
bewegung umschlagen,  wobei  ihre  Löffelinnenseite  immer  nach 
oben  schaut.  Bis  zu  diesem  Punkt  arbeitet  der  Stachel 
so  gut  ^vie  unbelastet,  denn  beim  Einschieben  hinter  den 
Sand  findet  er  keinen  großen  Widerstand.  Erst  in  dem 
Moment,  da  die  Löffelinnenseite  wieder  hinauf  getragen  wird, 
muß  er  eine  wirkliche  Belastung  überwinden.  Dann  erst 
beginnt  das  Schaufeln  des  Sandes.  Aber  die  hebende  Arbeit  der 
Stacheln  endigt  nicht,  wenn  sie  den  höchsten  Punkt  am  Wellen - 
säum  erreicht  haben.  Auch  wenn  sie  an  der  Rückenseite  der 
Wellen  herabgleiten,  sind  sie  noch  schiebend  und  hebend  tätig, 
indem  sie  auf  ihre  Vordermänner  drücken.  Das  währt  so 
lange,  bis  sie  an  die  Stelle  gelangt  sind,  \yo  der  Wellenberg  in 
das  Wellental  übergeht.  Dann  beginnt  der  Stachel  unbelastet 
zurückzugleiten,  bis  er  wieder  in  die  Tiefe  des  Wellentales 
gelangt. 

So  wechselt  Arbeit  und  freie  Bewegung  regelmäßig  mit- 
einander ab;  bald  antworten  die  Bewegungsmuskeln  allein, 
bald  springen  auch  die  Sperr muskeln  ein.  Die  Sperrmuskeln 
springen  jedesmal  ein,  sobald  die  Belastung  beginnt.  Dies  ist 
an  einem  frei  arbeitenden  Tiere  leicht  nachzuweisen.  Sobald 
man  einen  spitzen  Gegenstand  gegen  einen  kreisenden  Stachel 
hält,  kann  man  genau  fühlen,  wie  der  Stacheldruck  mit  der 
Steigerung  des  Gegendruckes  steigt  und  mit  dessen  Sinken 
wieder  nachläßt.  Das  weist  auf  das  besprochene  Hin-  und 
Herfließen  der  Erregung  zwischen  Bewegungs-  und  Sperr- 
muskeln hin. 

Wie  die  Muskulatur,  zeigt  sich  auch  im  Nervensystem  der 
Herzigel  die  größte  Verwandtschaft  zu  den  übrigen  Seeigeln. 
Das  Radialnervensystem  kann  vollkommen  entfernt  werden, 
ohne  die  Bewegungen  der  Stacheln  im  mindesten  zu  beeinflussen. 
Diese  werden  von  den  äußeren  Nervennetzen  vollständig  be- 
herrscht. Jeder  stillstehende  Stachel  neigt  sich,  wenn  er  ge- 
reizt wird,    zum  Beizorte    hin,    mag    der  Reiz    ein  chemischer 


Die  Seeigel.  125 

oder  mechanischer  sein.  Die  Herzigel  zeigen  ebensowenig 
wie  Arbacia  einen  Erregungsabfall  auf  starke  Reize.  Sprengt 
man  einen  arbeitenden  Herzigel  in  einzelne  Stücke  auseinander 
und  fügt  diese  wieder  genau  zusammen,  so  läuft  die  Welle  mit 
der  größten  Sicherheit  über  die  Lücke  hinweg.  Dagegen  ist 
eine  Welle  nicht  imstande,  von  einem  bewegten  Stück  auf  ein 
ruhendes  hinüberzuspringen.  Es  kann  durch  den  Druck  der 
Stacheln  wohl  eine  gegenseitige  Bewegungsregulierung  erfolgen, 
es  genügt  aber  der  leise  Druck  eines  Stachels  auf  den  anderen 
nicht,  um  diesen  in  Bewegung  zu  bringen.  Im  Gegenteil  ist 
jeder  ruhende  Stachel  eher  bereit  auf  jeden  Druck  mit  Sperrung 
als  mit  Erschlaffung  zu  antworten. 

Von  den  regelmäßigen  Seeigeln  wissen  wir,  daß  der  Nerven- 
ring eines  jeden  mit  denen  seiner  Nachbarn  durch  ein  be- 
sonderes Netz  in  Verbindung  steht,  und  zwar  stehen  die  Stellen 
der  Nervenringe  zweier  Stacheln,  die  sich  gegenüberliegen,  nicht 
miteinander  in  direkter  Verbindung,  sondern  immer  nur  die- 
jenigen Stellen,  die  nach  der  gleichen  Richtung  hinsehen. 
Ebenso  stehen  bei  den  Herzigeln  alle  oberen  Seiten  der  Nervenringe 
mit  allen  oberen  Seiten  ihrer  Nachbarringe  in  Verbindung.  In 
gleicher  Weise  sind  alle  unteren,  Hnken  und  rechten  Seiten  einzeln 
miteinander  verknüpft.  Nur  muß  man  aus  dem  Fortschreiten 
der  Wellen  schheßen,  daß  zwar  alle  linken  und  rechten  Seiten 
der  Nervenringe  an  der  gleichen  Stelle  in  ihr  verbindendes  Netz 
münden,  während  die  unteren  Seiten  der  Nervenringe  ihre  Ein- 
mündungssteilen in  das  verbindende  Netz  um  ein  Geringes  ver- 
schoben haben,  weil  die  nächsthöheren  Stachelreihen  immer  um 
eine  Löffelbreite  später  zu  kreisen  beginnen.  Sicher  ist  diese 
Annahme  nicht  ungerechtfertigt,  denn  wo  alle  Muskeln  und 
Knochen  so  zierlich  und  exakt  gebildet  sind,  wird  das  Nerven- 
system die  gleiche  minutiöse  Arbeit  aufweisen.  Auch  strömt 
der  Fluß  der  Erregungen  in  den  feingegliederten  Nerven- 
bahnen, die  von  den  Ringkanälen  ausstrahlen,  mit  bewunde- 
rungswürdiger Sicherheit.  Es  entsteht  niemals  eine  Entgleisung 
oder  Stockung  des  Betriebes  dieser  hundert  Teilmaschinen,  die 
zusammenarbeiten,  als  würden  sie  von  einem  zentralen  Impuls 
geleitet. 

Die  Stachelbewegung  bringt  den  Herzigel  senkrecht  unter 
den  Sand.    Erst  wenn  das  Tier  vöUig  im  Sande  verschwunden 


126  I^ie  Seeigel. 

ist,  beginnt  der  Kanalbau.  Anfangs  halten  die  langen  Stacheln 
des  Rückenschopfes,  die  aus  dem  Grunde  der  Atemlakune 
emporsteigen,  die  Kommunikation  des  Tieres  mit  dem  Seewasser 
offen.  Bald  aber  verschwinden  auch  sie  unter  dem  Sande. 
Aber  der  Sand  schließt  sich  nicht  über  ihnen,  sondern  es  bleibt 
ein  enger  Kamin  im  Sande  bestehen,  der  dem  Seewasser  den 
Zutritt  zur  Höhle  des  Tieres  ermöglicht.  Nach  meinen  Be- 
obachtungen kommt    dieser  Kamin   folgendermaßen    zustande. 

Wie  wir  wissen,  führen  die  Stachelwellen  beiderseits  den 
Sand  dem  Rückenschopf  zu,  der  sich  in  der  Mitte  des  Rückens 
befindet.  Nun  schließen  sich  die  Schopfstacheln  nicht  unmittel- 
bar an  die  Seitenstacheln  an,  sondern  sind  von  ihnen  durch 
die  sogenannten  ,, Saumlinien"  getrennt;  die  Saumlinien  füllen 
einen  großen  Teil  des  Lakunenbodens  aus.  Sie  umschließen 
allseitig  die  Schopfstacheln  bis  auf  die  Stelle,  wo  die  Atem- 
rinne die  Lakune  verläßt. 

Die  Saumlinien  bilden  im  Leben  ein  dichtes  Samtband 
feinster  Kölbchen,  die  einen  ganz  eigenartigen  Bau  besitzen. 
Ein  zarter  Achsenstab  aus  Kalk  von  deuthcher  Längsstreifung 
ist  von  einem  durchsichtigen  Gewebe  umgeben,  dass  an  der 
Spitze  zu  einem  leichten  Kolben  anschwillt.  In  diesem  Ge- 
webe befinden  sich  freibewegliche  Farbstoffzellen,  purpurne  und 
hellgrüne.  Das  Licht  wirkt  auf  beide  Zellarten  kontrahierend 
ein.  Zugleich  entfärben  sich  die  purpurnen  Zellen  und  werden 
die  hellgrünen  schwarz. 

„Welchen  Einfluß  diese  sonderbaren  Farbstoffzellen  auf  das 
Gesamttier  haben,  ist  unbekannt.  Wohl  beeilt  sich  ein  Herz- 
igel schneller  unter  den  Sand  zu  kommen,  wenn  er  von  der 
Sonne  beschienen  wird,  als  wenn  er  sich  in  einem  verdunkelten 
Bassin  befindet.  Aber  da  wirkt  das  Licht  wahrscheinlich  als 
allgemeiner  Hautreiz. 

Dagegen  sind  die  Beziehungen  der  Kölbchen  auf  den  Saum- 
linien zum  Kanalbau  viel  offenkundiger.  Bei  vielen  frisch  ge- 
fangenen Herzigeln  findet  man  das  ganze  Tier  vollkommen  frei 
von  Sand.  Nur  die  Saumlinien  sind  dicht  gepflastert  mit  Sand- 
körnchen, die  alle  mit  einem  klebrigen  Stoff  bezogen  sind  und 
eine  einheitliche  Masse  bilden.  Gleitet  diese  klebrige  Masse, 
durch  die  Wellenbewegung  der  Seitenstacheln  getrieben,  an  der 
Außenseite  der  Schopfstacheln  empor,  so  ist  es  leicht  verstand- 


Die  Seeigel.  127 

lieh,  wie  die  Schopfs tacheln  durch  energisches  Auseinander- 
pressen der  klebrigen  Masse  dem  Kanal  im  Sande  eine  Innen- 
bekleidung geben  können,  die  dem  Seitendruck  des  Sandes  wider- 
steht. So  wird  ein  Atemkamin  gebaut,  der  selbst  Tiere,  die 
10  bis  15  cm  unter  der  Oberfläche  stecken,  mit  dem  Seewasser 
verbindet." 

Der  Atemkamin,  der  aus  zusammengeklebten  Sandkörnern 
besteht,  bedarf  stetiger  Säuberung  und  dauernder  Reparaturen. 
Zu  diesem  Zweck  sind  bei  dem  Herzigel  merkwürdigerweise 
die  gleichen  Apparate  im  Gebrauch,  wie  bei  uns  Menschen. 
Wenn  wir  die  Kamine  unserer  Häuser  reinigen  lassen  wollen, 
so  bedient  sich  der  Schornsteinfeger  einer  Anzahl  von  Blei- 
kugeln, die  durch  Stricke  zu  einem  Büschel  vereinigt  sind,  und 
fährt  damit  in  dem  Kamin  auf  und  ab.  Das  gleiche  tut  der 
Herzigel  mit  einem  feinen  Organ,  das  lauter  kleine  Kugeln  zu 
einem  Büschel  vereinigt.  Aber  das  Organ  der  Herzigel  vermag 
zugleich  auch  den  Kamin  auszubessern,  indem  es  ihn  mit 
frischem  Klebstoff  bestreicht.  Diese  Organe  heißen  die  Pinsel- 
füßchen.  So  bleibt  die  Atemlakune  und  mit  Hilfe  der  Atem- 
rinne der  Mund  in  dauernder  Verbindung  mit  dem  Seewasser. 
Für  eine  Zirkulation  sorgen  die  Stachelbewegungen. 

Der  Herzigel  lebt,  während  er  verdaut,  in  einer  engen  Höhle, 
die  gerade  den  Stacheln  genügenden  Spielraum  läßt.  Die  Innen- 
wand der  Höhle  ist  mit  einer  dünnen  Tapete  ausgekleidet,  die  aus 
erhärtetem  Schleim  und  Sandkörnern  besteht.  Um  zu  fressen, 
braucht  er  bloß  mittels  seiner  kräftigen  Füße,  die  hinter  dem 
Mund  liegen,  ein  paar  Schritte  zu  machen,  wobei  die  pflug- 
scharartige Unterlippe  den  Sand  vor  ihm  aufwühlt.  Dabei 
quillt  ihm  die  mit  dem  Sand  vermischte  Nahrung  direkt  in 
den  Mund.  Während  dieser  Freß Wanderungen  baut  sich  der 
Herzigel  noch  einen  zweiten  wagerechten  Kanal,  der  ebenfalls 
von  Pinselfüßchen  gereinigt  und  ausgebessert  wird.  Dank 
dieser  Horizontalkanäle  können  die  Tiere,  die  in  großen  Herden 
nahe  beieinander  leben,  in  direkte  Kommunikation  treten.  Die 
beiden  Kamine  halten  den  alleinigen  Zugang  zur  Außenwelt 
offen.  Im  übrigen  sind  die  Herzigel  gezwungen,  als  lebendig 
begrabene  Einsiedler  ihr  ganzes  Dasein  in  der  sandigen  Zelle  zu 
verbringen. 

Jede  Umwelt  ist   nur  vom  Standpunkt  des  Tieres  aus  zu 


j^28  ^^®  Seeigel. 

würdigen.  Das  Licht  und  der  leichte  Gang  der  Wellen  wird 
den  Herzigeln  sofort  verderblich,  sobald  sie  den  schützenden 
Sand  verlassen.  Tausende  von  bleichenden  Schalen  am  Strande 
berichten  von  jenen  Herzigeln,  die  zur  Zeit  der  Ebbe,  als  ihre 
Atemkanäle  sich  verstopften,  aus  dem  Sande  emporkrochen 
und  widerstandslos  der  kommenden  Flut  zum  Opfer  fielen. 
Die  Bewegung  im  lockeren  Sande,  der  zugleich  die  Nahrung 
birgt  in  Stille  und  Dunkelheit,  das  gewährt  den  Herzigeln 
Leben  und  Gesundheit. 

Aus  dieser  bescheidenen  Umwelt  läßt  sich  die  Form  und 
die  Funktion  der  Herzigel  in  gewissem  Maße  ableiten.  ,, Gehen 
wir  davon  aus,  daß  für  ein  Tier,  das  so  unergiebige  Nahrung 
aufnimmt,  wie  es  der  Seesand  ist  mit  seinen  spärlichen  orga- 
nischen Resten,  die  Kugel  die  vorteilhafteste  Form  sein  muß, 
weil  in  der  Kugel  die  geringste  Oberfläche  den  größten  Inhalt 
birgt.  Setzen  wir  dieser  Kugel  die  Pflugschar  ein,  um  den 
Sand  zu  fassen,  platten  wir  die  Kugel  ein  wenig  ab,  damit  sie 
stehen  kann,  sorgen  wir  für  den  Raum,  der  das  Atemwasser 
birgt,  und  drücken  wir  endlich  die  Rinne  ein,  die  den  Mund 
mit  dem  Atemwasser  verbindet,  so  ergibt  sich  die  äußere  Form 
der  Herzigel  von  selbst."  An  die  äußere  Form  schließen  sich 
alle  weiteren  Einzelheiten  der  Stachelbewegung  und  des  Kanal- 
baues ohne  weiteres  an.  Wie  verlockend  ist  es  da,  von  einer 
Anpassung  des  Tieres  an  seine  Umgebung  zu  sprechen,  und 
dabei  der  Außenwelt  die  aktive,  dem  Organismus  aber  die 
passive  Rolle  zuzuweisen.  Und  doch  kann  man  im  Ernst  nur 
von  einer  Herrschaft  des  Organismus  über  die  Eigenschaften 
seiner  Umgebung  sprechen,  und  nicht  von  einer  Anpassung 
unter  die  physikalischen  und  chemischen  Bedingungen.  Denn 
während  Echinocardium  die  Lockerheit  des  Sandes  dazu  be- 
nutzt, um  ihn  von  hundert  kleinen  Schaufeln  bearbeiten  zu 
lassen,  stampft  Sipunculus  den  lockeren  Sand  zusammen,  um 
ihm  mehr  Halt  zu  verleihen.  Während  Sipunculus  die  Innen- 
seite seines  Kanals  nachträglich  mit  Schleim  bestreicht,  be- 
arbeitet Echinocardium  vorher  das  Material,  das  später  zur 
Bekleidung  der  Innenfläche  des  Kamins  dienen  soll. 

Das  formende  Prinzip,  das  den  Organismus  mit  der  Umwelt 
zusammenführt,  sitzt  im  Tier  und  nicht,  wie  man  lächerlicher- 
weise behauptet,  in  der  Außenwelt.    Von  der  Außenwelt  über- 


Die  Schlangensterne.  129 

nimmt  das  formende  Prinzip  nur  ganz  bestimmte  Bruchteile, 
aus  denen  es  mit  dem  Organismus  zusammen  eine  höhere 
Einheit  bildet. 

Die  Schlangensterne. 

Kein  Tier  ist  durch  seinen  Namen  besser  beschrieben  als 
der  Schlangenstern.  Ein  Stern,  der  schlangenartig  ist,  gibt 
uns  unmittelbar  die  Vorstellung  dieses  Tieres,  das  aus  einem 
runden  Mittelkörper  besteht,  von  dem  fünf  Arme  ausstrahlen, 
die  schlangenartige  Bewegungen  ausführen.  Die  schlangen- 
artigen Windungen  unterscheiden  sich  deutlich  von  den  wurm- 
förmigen  durch  den  Umstand,  daß  sie  durch  Verschiebungen 
fester  Teile  gegeneinander  hervorgebracht  werden  und  nicht 
durch  Biegungen  eines  gleichmäßig  weichen  Körpers. 

Die  Arme  der  Schlangensterne  bestehen  der  Hauptsache 
nach  aus  den  knöchernen  Wirbeln,  die  in  der  Mitte  gelenkig 
miteinander  verbunden  sind.  Um  diese  Gelenke  sitzen  vier 
starke  Muskeln,  die  immer  den  einen  Wirbel  auf  seinem  Nach- 
barn kreisen  lassen.  Die  Wirbel  kann  man  als  sehr  stark 
verkürzte  und  verbreiterte  Seeigelstachel  auffassen,  die  auf 
der  einen  Seite  eine  Kugel  und  auf  der  anderen  eine  Pfanne 
tragen,  um  sowohl  einerseits  auf  dem  einen  Nachbarn  selbst 
zu  kreisen,  als  auch  andererseits  den  anderen  Nachbarn  kreisen 
zu  lassen.  Die  ganze  Wirbelreihe  gleicht  einer  Geldrolle,  deren 
Münzen  nach  dem  Ende  hin  immer  kleiner  werden.  Und  wie 
die  einzelnen  Geldstücke  auf  der  einen  Seite  den  Kopf,  auf 
der  anderen  Seite  die  Schrift  tragen,  so  tragen  die  Wirbel  auf 
der  einen  Seite  die  Kugel  und  auf  der  anderen  die  Pfanne. 
Beide  umgeben  von  den  vier  Ansatzflächen  der  Muskel. 

Um  den  Mund  herum  sitzt  ein  knöcherner  Ring,  der  die 
Arme  trägt.  Er  ist  von  einem  derben  runden  Beutel  nach 
oben  abgeschlossen.  In  diesem  Beutel  steckt  der  Magen.  Die 
Wirbel  sind  ringsum  mit  kleinen  Schutzplättchen  bedeckt,  die 
bei  der  Biegung  der  Gelenke  sich  ineinander  und  auseinander 
schieben,  ohne  jemals  die  Muskeln  ganz  preiszugeben.  Beson- 
dere, spitze  Plättchen  schützen  die  Füßchen  oder  Tentakel, 
die  an  den  beiden  Seiten  der  Unterfläche  paarweise  zutage 
treten.     Jeder  Wirbel    trägt   auf    der    Unterseite    eine  Furche, 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  9 


3^30  ^^^  Schlangensterne. 

in  der  der  Radialnerv  zu  liegen  kommt,  der  die  Arme  von  der 
Wurzel  bis  zur  Spitze  durchzieht.  Wie  bei  den  Seeigeln  schließt 
sich    das  Radialnervensystem    um   den  Mund  zu   einem  Ringe. 

Sowohl  anatomisch  wie  physiologisch  gewinnt  man  ein 
übersichtliches,  wenn  auch  stark  vergröbertes  Bild  des  Nerven- 
systems, wenn  man  sich  einen  jeden  Radialnerven  aus  zwei 
Röhren  bestehend  denkt,  von  denen  eine  nach  links,  eine  nach 
rechts  zum  nächsten  Arme  umbiegt.  Auf  diese  Weise  be- 
trachtet, setzt  sich  das  Zentralnervensystem  aus  fünf  einfachen 
Schleifen  zusammen,  die  mit  ihrer  Mitte  den  Mund  umgreifen, 
in  jedem  Arme  aber  paarweise  nebeneinander  liegen.  Alle  Röhren 
seien  in  ihrem  ganzen  Verlauf  durch  kleine  Öffnungen  mit- 
einander verbunden.  Dieses  Bild  soll  der  Ausdruck  für  die 
Tatsache  sein,  daß  das  Zentralnervensystem  aus  einem  Netz 
besteht,  in  dem  sich  einige  Hauptleitungsbahnen  befinden,  die 
immer  die  sich  zugekehrten  Seiten  zweier  Nachbararme  mit- 
einander verbinden. 

Dürfen  wir  die  Radialnerven  der  Schlangensterne  in 
Parallele  zu  den  Radialnerven  der  Seeigel  setzen,  und  was  ent- 
spricht dem  Hautnervensystem  der  Seeigel?  Darauf  ist  zu 
antworten,  daß  die  Schlangensterne  kein  Hautnervennetz  be- 
sitzen. Ein  Wirbel  steht  mit  dem  anderen  nur  durch  den 
Radialnerven  in  leitender  Verbindung.  Dafür  haben  aber  die 
Radialnerven  der  Schlangensterne,  weil  sie  die  Repräsentanten 
der  Wirbelmuskeln  beherbergen,  direkte  Beziehungen  zu  den 
Muskeln  gewonnen,  die  sie  beim  Seeigel  nicht  besaßen. 

Bei  den  regelmäßigen  Seeigeln  bilden  die  Saugfüße  ein 
abgeschlossenes  Organsystem  für  sich,  das  noch  nicht  genügend 
erforscht  ist.  So  viel  läßt  sich  aber  doch  aussagen,  daß  die 
Reizung  einiger  Saugfüßchen  die  getroffenen  Füßchen  zum 
Zurückziehen  bringt,  die  Nachbarfüßchen  aber  vortreibt.  Bei 
dem  Schlangenstern  Ophiotrix  fragilis  zeigt  sich  ein  ganz  ab- 
gesondertes Zusammenarbeiten  der  Saugfüßchen  oder  Tentakel, 
welche  ebenfalls  mit  Flüssigkeit  gefüllte  Muskelschläuche  sind. 
,,Die  Armmuskulatur  beteiligt  sich  gar  nicht  am  Erfassen  der 
Beute,  sondern  die  bei  ihr  besonders  ausgebildeten  Tentakel 
(siehe  Hamann)  schieben  sich  gegenseitig  die  kleinen  Nah- 
rungsbrocken zu,  die  im  Zickzack  von  der  Armspitze  zum 
Mittelkörper  wandern." 


Die  Schlangensterne.  131 

Bei  Ophioglypha  ist  der  Ablauf  des  Freßreflexes  ein 
anderer.  Die  Erregung  greift  vom  gereizten  Tentakel  auf  die 
nächsten  Muskeln  der  gleichen  Seite  über  und  veranlaßt  erst 
diese,  dann  die  nächsten,  zentraler  gelegenen,  zur  Kontraktion 
und  so  fort  bis  hinab  zum  Munde.  Dadurch  wird  der  Arm 
einseitig  eingerollt;  ähnlich  wie  bei  den  Tentakeln  des  Sipun- 
culus  zeigt  sich  dabei  eine  deutliche  Trennung  des  Reflexes 
nach  den  Reizarten.  Der  stärkste  mechanische  Reiz  bringt 
nur  den  getroffenen  Tentakel  zur  Verkürzung,  erzeugt  aber 
niemals  eine  Erregung  der  Wirbelmuskeln.  Diese  wird  nur 
von  dem  chemischen  Nahrungsreiz  ausgelöst.  Das  einseitige 
Einrollen  des  Armes,  das  sehr  schnell  abläuft,  bringt  jeden 
Bissen,  der  die  Tentakel  gereizt  hat  und  vom  Arm  umfaßt 
wurde,  unfehlbar  zum  Munde.  Der  Magen  oder  der  Nerven- 
ring um  den  Mund  haben  hierauf  keinerlei  Einfluß,  denn  das 
Einrollen  geht  immer  noch  vor  sich,  auch  wenn  der  Radial- 
nerv irgendwo  durchschnitten  war.  Bis  zur  Durchtrennungs- 
stelle läuft  die  Einrollung  stets  mit  der  gleichen  Sicherheit  ab. 
Da  nun  die  Schlangensterne  sich  der  Nahrung  gegenüber  ganz 
anders  benehmen,  wenn  sie  hungrig  oder  satt  sind,  so  wäre 
es  interessant  zu  untersuchen,  auf  welche  Organe  die  Sättigung 
eigentlich  einwirkt. 

Das  Einrollen  läuft  ganz  selbständig  ab,  ohne  die  sehr 
charakteristischen  Eigenschaften  der  übrigen  Reflexe  zu  zeigen. 
Man  hat  daher  allen  Grund  anzunehmen,  daß  dieser  Reflex 
eine  ganz  gesonderte  nervöse  Basis  besitzt,  und  daß  die  Bahnen, 
die  von  den  Tentakeln  zu  den  Wirbelmuskeln  gehen,  ihre 
eigenen  Verbindungen  mit  den  Muskeln  besitzen,  unabhängig 
von  den  beschriebenen  Hauptbahnen  der  zentralen  Netze.  Eine 
mehrfache  Innervation  eines  Muskels  von  verschiedenen  Seiten 
aus  ist  bei  den  W^irbellosen  nichts  Ungewöhnliches.  Der  Re- 
traktor  des  Sipunculus  weist  allein  drei  auf. 

Die  Schlangensterne  zeigen  allen  Arten  der  mechanischen 
Reizung  gegenüber  verschiedenartige  deutlich  ausgesprochene 
Reaktionen.  Sehr  starke  allgemeine  Reize,  wie  das  Hinwerfen 
des  ganzen  Sternes  auf  eine  Marmorplatte,  besonders  wenn  es 
mehrfach  wiederholt  wird,  ruft  in  allen  Muskeln  eine  lang- 
dauernde Sperrung  hervor.  Der  Schlangenstern  bleibt  dann 
mit  gerade  gestreckten  Armen  liegen,  die  sich  wie  steife  Stock- 


■IQ 2  Die  Schlangensterne. 

chen  anfühlen.  In  dieser  Verfassung  kann  man  an  ihnen  jede 
Operation  ausführen,  ohne  befürchten  zu  müssen,  daß  die 
Autotomie  den  operierten  Arm  beseitigt. 

Ein  schwacher  Reiz,  der  sich  über  eine  größere  Haut- 
partie erstreckt,  wie  er  von  einem  übergestülpten  Gummirohr  aus- 
geht, ruft  dauernde  Abwehrbewegungen  hervor.  Die  beiden  Nach- 
bararme biegen  sich  wiederholt  sehr  stark  zum  gereizten  Arme 
hin  und  strecken  sich,  dort  angelangt,  gerade,  dabei  streifen 
sie  das  Gummirohr  endlich  ab. 

Ein  Wollenfaden,  langsam  aber  kräftig  um  einen  Arm  ge- 
schnürt, ruft  anfangs  die  gleiche  Abwehrbewegung  hervor.  Da 
der  Hautreiz  aber  dabei  wenig  ausgedehnt  ist,  so  hören  die 
Abwehrbewegungen  bald  auf  und  der  Stern  bleibt  ruhig  liegen. 
Dann  zeigt  sich  aber  eine  andere,  höchst  merkwürdige  über- 
dauernde Wirkung  des  Reizes.  Lokale  Reizungen,  die  einem 
solchen  Tier  verabfolgt  werden,  rufen  wohl  noch  Fluchtbewe- 
gungen  hervor,  aber  diese  sind  so  ungelenk  und  so  gehemmt, 
daß  man  den  Eindruck  erhält,  das  ganze  Tier  sei  in  Brei 
geraten. 

Geschieht  das  Zubinden  des  Wollenfadens  zu  schnell,  so  daß 
ein  plötzlicher  heftiger  Reiz  einsetzt,  so  autotomiert  der  Arm 
und  löst  sich  zentralwärts  vom  Reizort  von  seiner  Basis  ab. 
Je  stärker  der  lokal  angesetzte  Reiz  ist,  um  so  leichter  stellt 
sich  die  Autotomie  ein.  Man  kann  die  Reizintensität  steigern, 
indem  man  ein  bis  zwei  Minuten  an  die  Unterseite  des  Armes 
von  Ophioderma  longicauda  (die  sich  der  langen  Arme  wegen 
besonders  zu  diesen  Experimenten  eignet)  einen  Salzkristall  an- 
preßt, dann  lösen  sich  die  zentral  von  der  Reizstelle  gelegenen 
Arm  Wirbel  mit  Leichtigkeit  voneinander  ab.  Die  Autotomie  der 
Schlangensterne  besteht  also  in  einer  Erschlaffung  der  Muskeln, 
welche  zentralwärts  vom  Reizort  liegen.  Zugleich  ist  eine  Steige- 
rung der  Kontraktion  und  Sperrung  peripher  vom  Reizort  alle- 
zeit nachweisbar.  Es  tritt  also  auf  den  lokalen  Reiz  einerseits 
eine  Vermehrung,  andererseits  eine  Verminderung  der  Muskel- 
tätigkeit ein.  Auf  der  einen  Seite  steigt  die  Sperrschwelle, 
auf  der  anderen  sinkt  sie.  Ich  nenne  eine  derartige  Reaktion 
eine  ,, Reflexspaltung*'.  Die  Reflexspaltung  ist  nichts  Un- 
gewöhnliches bei  den  Wirbellosen.  Wir  sind  ihr  bereits  bei 
den  Ringmuskeln  der  Aktiniententakel  begegnet.     Wir  werden 


Die  Schlangensterne.  133 

sie  beim  Schleifenreflex  des  Blutegels  wiederfinden.  Über  die 
Ursache  der  Reflexspaltung  kann  uns  vielleicht  das  Fließ- 
präparat  des  Sipunculus  Aufschluß  geben.  Bei  ihm  werden 
wir  Gelegenheit  finden,  zu  beobachten,  daß  an  der  Reizstelle 
Kontraktion  eintritt,  wenn  die  Erregung  nicht  weitereilen 
kann.  Ist  ihr  aber  die  Möglichkeit  gegeben,  den  Reizort 
schnell  zu  verlassen,  um  einem  entfernten  Ziele  zuzustreben, 
so  rufi  sie  in  den  dem  Reizort  zunächst  liegenden  Muskeln 
Erschlaffung  hervor.  Es  gibt  zwei  Ursachen,  die  für  diese 
sonderbare  Erscheinung  verantwortlich  gemacht  werden  können. 
Einmai  ruft  ein  heftiger  Reiz  im  Zentralnervensystem  eine 
Instantanwirkung  hervor,  die  wir  mit  einer  plötzlichen  Steige- 
rung des  Druckes  vergleichen  können.  Zugleich  ist  die  Er- 
regung selbst  fortgeeilt  und  die  nächstUegenden  Muskelzentren 
(Repräsentanten)  sind  dem  Druck  allein  preisgegeben,  ohne  die 
entsprechende  Erregungsmenge  zu  erhalten.  Sie  antworten 
daher  mit  einer  Lähmung  statt  mit  einer  aktiven  Tätigkeit. 
Infolgedessen  erschlaffen  auch  ihre  Gefolgsmuskeln.  Die  zweite 
Ursache  für  die  Erschlaffung  der  am  Reizorte  gelegenen  Mus- 
keln kann  darin  gesucht  werden,  daß  die  Erregung  beim  Vor- 
beifließen an  den  Repräsentanten  aus  ihnen  ihre  Erregung  an- 
saugt, anstatt  in  sie  hineinzudringen.  Beim  Sipunculus  spielt 
wahrscheinlich  die  erste  Ursache  die  Hauptrolle.  Bei  den 
Schlangensternen  dagegen,  die  eine  echte  Reflexspaltung  besitzen, 
genügt  die  zweite  Ursache  vollkommen,  um  alle  Erscheinungen 
verständlich  zu  machen. 

Die  Reflexspaltung,  die  bei  starker  Reizung  zur  Auto- 
tomie  führt,  ist  auch  bei  ganz  schwacher  lokaler  Reizung  eines 
einzelnen  Armes  noch  sichtbar.  Sie  tritt  aber  in  diesem  Falle 
nur  auf  einer  Armseite  auf.  Die  Muskeln  der  gereizten  Seite, 
die  peripher  vom  Reizorte  liegen,  verkürzen  sich  und  die  Arm- 
spitze  macht  eine  Bewegung  zum  Reizort  hin.  Es  kommt  aber 
zu  keiner  Berührung  mit  dem  reizenden  Gegenstande,  weil  die 
zentralen  Muskeln  an  der  gereizten  Seite  erschlaffen  und  dadurch 
ihren  Antagonisten  auf  der  anderen  Seite  Gelegenheit  geben, 
sich  zu  verkürzen,  worauf  die  Wurzel  des  Armes  vom  Reizorte 
fortschlägt. 

Weder  die  stärkste  Reizung,  die  zur  Autotomie  führt, 
noch  die  schwächste,  deren  Wirkung  den  gereizten  Arm  nicht 


^34  ^^^  Schlangensterne. 

Überschreitet,  sind  geeignet,  die  normalen  Gehbevvegungen  des 
Schlangensternes  einzuleiten.  Dazu  ist  eine  mittelstarke  Reizung 
erforderlich. 

Die  mittelstarke  Reizung,  die  den  gereizten  Arm  beider- 
seitig erfaßt,  wie  das  bei  jedem  Zugreifen  seitens  eines  Feindes 
geschieht,  erweckt  einen  Rhythmus  im  Zentralnervensystem, 
der  ganz  besonders  interessant  ist.  Die  im  gereizten  Arm 
erzeugte  Erregung  läuft  nicht  bloß  als  einfache  dynamische 
Welle  ab,  die  eine  einmalige  Armbewegung  hervorruft,  sondern 
es  entsteht  eine  Reihe  von  Erregungsschwankungen,  die  wir 
der  statischen  Erregung  zuweisen  müssen.  Es  läuft  also  auf 
«einen  mittelstarken  Reiz  eine  Erregungswelle  im  zentralen  Netz 
der  Schlangensterne  ab,  durch  die  zugleich  die  dauernd  vor- 
handene statische  Erregung  in  ein  rhythmisches  Hin-  und 
Herschwingen  versetzt  wird.  Vergegenwärtigen  wir  uns,  was 
vom  Bau  des  Zentralnervensystems  am  Anfang  gesagt  wurde, 
so  sehen  wir  bei  der  doppelseitigen  mittelstarken  Reizung  eines 
Armes  eine  Erregungswelle  entstehen,  die  in  den  beiden  Röhren 
nach  links  und  rechts  zu  den  nächsten  Armen  weiterläuft. 
Darauf  erfolgt  eine  Kontraktion  in  den  von  der  Erregungs- 
welle  direkt  getroffenen  Muskeln.  Die  Nachbararme  schlagen 
infolgedessen  zum  Reizorte  hin  und  bleiben  bei  dauernder 
Reizung  durch  ein  übergestülptes  Gummirohr  auch  in  seiner 
Nähe.  Ist  die  Reizung  aber  eine  vorübergehende,  so  schlagen 
die  Nachbararme  gleich  wieder  vom  Reizorte  fort.  Warum 
tun  sie  das?  Es  liegt  doch  scheinbar  gar  keine  Ursache  dafür 
vor.  Ist  jedoch  eine  Ursache  vorhanden,  so  muß  sie  auch 
maßgebend  sein  für  den  ganzen  ferneren  Verlauf  der  Geh- 
bewegungen. 

Wir  wissen  von  den  Seeigeln,  daß  die  belasteten  und  er- 
schlafften Stachelmuskeln  die  Erregung  an  sich  zu  ziehen  vermögen, 
während  alle  Muskeln,  die  eine  normale  Sperrschwelle  besitzen, 
die  Erregung  nicht  einlassen.  Es  galt  zu  prüfen,  ob  auch  bei 
den  Schlangensternen  die  gleiche  Ursache,  d.  h.  die  Erschlaffung 
der  Muskeln  wirksam  war.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  ein 
Schlangenstern  durch  starke  Reizung  zum  Abwerfen  von  vier 
Armen  bewogen.  Gegenüber  dem  Ansatz  des  fünften  Armes 
wurde  der  Nervenring  durchschnitten,  um  sicher  zu  sein,  daß 
jede    Erregung    ihm    nur    einseitig    zufloß.      Es    war    bekannt, 


Die  Schlangensterne.  135 

daß  die  Dauerreizung  der  Haut  die  Nachbararme  immer  dem 
Reizort  zuführt,  weil  die  anatomische  Lage  der  leitenden 
Hauptbahnen  dieses  bedingt.  Wie  soll  in  der  Tat  die  Erre- 
gung, die  wie  in  einem  Rohr  einfach  weiterfließt,  um  zu  be- 
stimmten Muskeln  zu  gelangen,  fähig  sein,  andere  Muskeln  als 
diese  zu  erregen?  Aber  die  Bahnen  im  Zentralnervensystem 
sind  keine  peripheren  Nerven,  welche  die  Erregung  bestimmten 
Muskeln  unweigerhch  zuführen  müssen.  Für  die  Erregung, 
die  in  einen  peripheren  Nerv  eingetreten  ist,  gibt  es  freihch 
keinen  Ausweg.  Anders  liegt  der  Fall,  wenn  die  leitenden 
Bahnen  Teile  eines  allgemeinen  Nervennetzes  sind  und  daher 
der  Erregung  ein  Ausweg  in  andere  Bahnen  freisteht.  Und 
in  der  Tat  gelingt  es,  wenn  man  am  besprochenen  Präparat  den 
Nervenring  anstatt  der  Hautnerven  direkt  elektrisch  reizt,  die 
Erregung  nicht  in  die  ihnen  anatomisch  nahehegenden  Muskeln, 
sondern  in  deren  gedehnte  Antagonisten  zu  senden.  Wenn 
man  vor  der  Reizung  den  antwortenden  Arm  nach  einer  Seite 
zu  schlaff  herabhängen  läßt,  so  wird  die  Dehnung  der  Muskeln 
bestimmend  für  den  Erregungsablauf.  Zwar  schlägt  der  Arm 
stärker  aus,  wenn  Reizort  und  gedehnte  Muskeln  auf  der 
gleichen  Seite  liegen,  aber  es  gehngt  doch  auch  mit  Sicherheit, 
die  Erregung  in  die  gedehnten  Antagonisten  zu  treiben.  Wenn 
man  nach  einigen  Versuchen  die  richtige  Stromstärke  gefunden 
hat,  bei  der  die  gedehnten  Muskeln  antworten,  so  erhält  man 
ganz  zweifellose  Resultate.  Freilich  muß  man  sich  dabei  stets 
vergegenwärtigen,  daß  man  einen  physiologischen  Faktor  gegen 
einen  anatomischen  ausspielt.  Das  ist  beim  normalen  Ablauf 
der  Erregung  nicht  der  Fall.  Da  antwortet  erst  die  anato- 
misch begünstigte  Seite  und  der  Arm  bewegt  sich  zum  Reiz- 
ort hin.  Durch  diese  Bewegung  werden  die  Antagonisten  erst 
gedehnt,  nachdem  die  Reizung  bereits  aufgehört  hat,  und  nun 
hindert  die  Erregung  nichts  mehr,  nach  der  physiologisch  be- 
günstigten Seite  hinüberzufließen.  Ist  einmal  der  Schlangen- 
stern im  Gang,  so  kommt  nur  noch  der  physiologische  Faktor 
der  Muskeldehnung  in  Frage,  weil  die  Antagonisten  bei  ihrer 
wechselseitigen  Dehnung  die  Erregung  immer  hin  und  her  treiben. 
Der  bewegende  Faktor  ist  dabei,  wie  überall,  ein  Zentrum. 
In  diesem  Falle  sind  es  die  Repräsentanten,  die  von  ihren  ge- 
dehnten Gefolgsmuskeln  ein  Sinken  ihres  Erregungsniveaus   er- 


136  ^^^  Schlangensterne. 

fahren  und  dabei  die  Erregung  aus  dem  Netz  an  sich  saugen. 
Sind  sie  mit  Erregung  gefüllt,  so  geben  sie  diese  ihren  Muskeln 
wieder  ab,  die  sich  daraufhin  verkürzen.  Die  Repräsentanten 
sind  während  ihres  höchsten  Füllungsgrades  gegen  die  Erre- 
gungen im  zentralen  Netz  relativ  refraktär.  Es  entsteht 
dabei  nur  ein  relativer  Rhythmus  im  Gegensatz  zu  dem  der 
Medusen,  der  ein  absoluter  ist.  Eine  jede  Unebenheit  des 
Bodens,  die  die  Dehnung  der  Arme  verändert,  eine  jede  neue 
Erregung  vermag  den  relativen  Rhythmus  zu  ändern  und  ihn 
den  wechselnden  Bodenverhältnissen  anzupassen.  Dagegen  ist 
im  freien  Wasser  der  absolute  Rythmus  der  Medusen  besser 
am  Platze.  In  einem  wichtigen  Punkte  unterscheidet  sich  der 
Rhythmus  der  Schlangensterne  ebenfalls  von  dem  der  Medusen. 
Der  Rhythmus  der  Medusen  mußte  immer  wieder  von  neuem 
durch  einen  neuen  Reiz  erzeugt  werden  und  blieb  daher  ein  rein 
dynamischer  Rhythmus,  der  aus  einer  Reihe  regelmäßig  wieder- 
kehrender dynamischer  Erregungswellen  sich  aufbaute.  Bei 
den  Schlangensternen  spielt  die  dynamische  Welle  bloß  die 
einleitende  Rolle,  dann  wird  durch  die  Dehnung  der  Muskel 
die  statische  Erregung  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Während 
die  statische  Erregung  bemüht  ist,  den  durch  die  dynamische 
Welle  gestörten  Gleichgewichtszustand  wiederherzustellen,  ge- 
rät sie  selbst  in  Schwingungen,  die  nur  langsam  abklingen. 

Die  Dauer  dieser  Hin-  und  Herbewegung  ist  einmal  ab- 
hängig von  der  Stärke  des  Reizes  und  zweitens  von  dem 
Widerstand,  den  die  xA.rmbewegungen  in  der  Außenwelt  finden, 
niemals  aber  von  einem  höheren  Zentrum,  wie  wir  das  bei  den 
Libellen  finden  werden. 

Wir  sind  jetzt  in  der  Lage,  den  Erregungsablauf  in  einem 
schreitenden  Schlangenstern  zu  verfolgen.  Die  normale  Ophio- 
glypha  ruht  niemals  mit  dem  Mittelkörper  am  Boden,  sondern 
auf  ihren  fünf  Armen,  die  alle  leicht  nach  unten  gekrümmt 
sind.  Das  ist  die  Lage,  in  der  alle  Muskeln  gleichmäßig  mittel- 
stark gesperrt  erscheinen.  Eine  gleichmäßige  statische  Engerie 
beherrscht  alle  Muskeln.  Der  Körper  ruht  dabei  auf  den 
Armen  wie  auf  fünf  C-Federn  und  lastet  auf  den  dorsalen 
Muskeln.  Ist  keine  statische  Energie  vorhanden,  so  geben  die 
Muskeln  nach  und  der  Mittelkörper  sinkt  zu  Boden. 

Faßt    man    einen    Arm    eines    normalen    Schlangensternes 


Die  Schlangensterne.  137 

plötzlich  an  und  hält  ihn  einen  Augenblick  am  Boden  fest, 
so  schlagen  alle  Arme  nach  rückwärts,  d.  h.  alle  belasteten 
Muskeln  kontrahieren  sich  gleichzeitig.  Da  auch  der  gefaßte 
Arm  sich  rückwärts  krümmt,  so  hebt  er  das  ganze  Tier  empor 
und  dieses  schlägt,  sobald  man  den  gefaßten  Arm  losgelassen 
hat,  einen  Purzelbaum. 

Auch  bei  einem  mit  dem  Rücken  nach  unten  ins  Wasser 
geworfenen  Schlangenstern  werden  die  dorsalen  Muskeln  der 
Arme  durch  das  schnellere  Hinabsinken  des  Mittelkörpers  ge- 
dehnt und  kontrahieren  sich  gemeinsam.  Dadurch  verwandelt 
sich  die  Ophioglypha  in  eine  Art  Hohlkugel,  deren  Schwer- 
punkt durch  den  Mittelkörper  gegeben  ist.  Dieser  trifft  denn 
auch  immer  zuerst  am  Boden  ein  und  das  Tier  befindet  sich 
in  normaler  Lage. 

Was  den  normalen  Gang  betrifft,  so  haben  wir  bisher  die 
beiden  wichtigsten  Faktoren  kennen  gelernt,  die  ihn  beherrschen: 
die  anatomische  Verbindung  der  Nerven  und  die  physiologische 
Dehnung  der  Muskeln.  Diese  Faktoren  machen  es  wohl  ver- 
ständlich, daß  die  Arme  auf  einen  mittelstarken  Reiz  hin  und 
her  pendeln.  Aber  ein  einfaches  Hin-  und  Herpendeln  erzeugt 
noch  keine  Fortbewegung.  Dazu  gehört,  daß  die  Arme  sich 
vom  Boden  erheben  und  die  Hinbewegung  im  freien  Wasser, 
die  Herbewegung  aber  am  Boden  ausführen.  In  der  Tat  be- 
sitzen die  Arme  vier  Muskeln,  die  einen  jeden  Wirbel  auf 
seinem  Nachbar  kreisen  lassen.  Läge  ein  einfaches  Kugelgelenk 
vor,  so  wäre  nicht  einzusehen,  warum  das  Kreisen  der  Arme 
immer  in  der  richtigen  Richtung  erfolgen  sollte,  wie  es  stets 
der  Fall  ist.  Denn  eine  Ophioglypha,  die  man  auf  den  Rücken 
geworfen  hat,  und  die,  bevor  sie  sich  umdreht,  eine  Reihe  von 
Gehbewegungen  in  dieser  anormalen  Lage  ausführt,  bewegt 
sich  immer  auf  den  Reiz  zu,  anstatt  vor  ihm  zu  fliehen.  Das 
beweist,  daß  irgendein  Zwang  vorliegen  muß,  der  die 
Richtung  der  Armbewegungen  festlegt.  Betrachtet  man  die 
Wirbelgelenke  genauer,  so  findet  man  kein  regelmäßiges  Kugel- 
gelenk, sondern  ein  Zweizapfengelenk.  Während  die  Muskeln 
bestrebt  sind,  den  größeren  Zapfen  in  seiner  Pfanne  kreisen 
zu  lassen,  verhindert  der  dorsal  gelegene  kleine  Zapfen  die 
volle  Ausbildung  der  Kreisbewegung.  Möge  die  Kreisbewegung 
links  herum  oder  rechts  herum  ablaufen,  immer  wird  sie  vom 


j^38  ^^®  Schlangensterne. 

oberen  Zapfen,  der  als  Anschlag  dient,  nach  unten  hin  abge- 
lenkt. Das  hat  zur  Folge,  daß  jeder  schreitende  Arm,  sobald 
er  gestreckt  und  gehoben  ist,  mit  der  Bewegung  von  oben 
nach  unten  einsetzt.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  dies  bei  den 
Bewegungen  eines  Schlangensternes,  dem  man  aller  Arme  bis 
auf  einen  beraubt  hat.  Dieser  Arm  schlägt,  wenn  er  eine 
Fluchtbewegung  ausführt,  einmal  nach  links  und  einmal  nach 
rechts  aus.  Er  senkt  sich  jedesmal,  wenn  er  gestreckt  ist,  zu 
Boden  und  schlägt  dann  seitlich  aus.  Alle  Armwirbel  voll- 
führen dabei  eine  liegende  Acht.  Auf  diese  Weise  gelingt  es 
auch  einem  einzigen  Arm,  den  Körper  vorwärts  zu  schleppen. 

Solange  noch  zwei  Arme  vorhanden  sind,  arbeiten  sie  immer 
derart  zusammen,  daß,  solange  der  eine  nach  rechts  schlägt, 
sich  der  andere  nach  links  bewegt.  Es  verkürzen  sich  auch  dabei 
alle  vier  Muskeln  der  Wirbel  nacheinander.  Nur  verkürzen  sie 
sich  auf  der  einen  Seite  stärker  als  auf  der  anderen.  Die  Seite 
der  stärkeren  Verkürzung  ist  immer  die  dem  Reizorte  zu  ge- 
legene, welche  die  erste  dynamische  Welle  erhielt  und  deren 
Muskeln  daraufhin  die  zum  Reizorte  hinführende  Anfangs- 
bewegung ausführten.  Infolge  davon  wird  die  Herbewegung 
des  Armes,  die  zum  Reizort  geht,  am  Boden  entlang  geführt 
und  trägt  das  Tier  vom  Reize  fort. 

Warum  schlagen  aber  zwei  arbeitende  Arme  ohne  Aus- 
nahme immer  nach  der  einen  Seite  hin  aus  und  niemals  nach 
beiden  Seiten,  wie  das  der  allein  arbeitende  Arm  tut?  Die 
Ursache  dafür  ist  im  Erregungsablauf  selbst  zu  suchen,  der 
eine  labile  Bewegungskoordination  bewirkt.  Die  labile  Ko- 
ordination zweier  Arme  ist  eines  der  interessantesten  Pro- 
bleme dieser  Tiere.  Beim  Gehen  zeigen  die  Schlangensterne 
zwei  typische  Bewegungsarten.  Da  die  Arme  immer  paar- 
weise miteinander  arbeiten,  bleibt  der  fünfte  Arm  als  unpaar 
übrig.  Dieser  wird  beim  Gehen  entweder  nach  vorn  oder 
nach  hinten  getragen.  Während  des  Gehens  schlägt  häufig  der 
eine  Gangtypus  in  den  anderen  über.  Die  Ursachen  dieses 
Umschlagens  sind  immer  nur  äußerer  und  niemals  innerer  Art. 
Marschiert  z.  B.  ein  Schlangenstern  ,, unpaar  hinten",  wobei 
zwei  Nachbararme  das  vordere  Paar  bilden,  so  bedarf  es  bloß 
eines  kleinen  Hindernisses,  das  den  einen  Vorderarm  in  seiner 
Bewegung    hemmt,    während    er    gerade  gestreckt  ist,    um  ihn 


Die  Schlangensterne.  139 

sofort  in  einen  vorderen  unpaaren  zu  verwandeln.  Hinter  ihm 
wechseln  die  Partner  und  der  bisherige  hintere,  unpaare  schließt 
sich  dem  Gang  an.  Kinematographische  Aufnahmen  der 
Schlangensterne  belehren  uns  darüber,  daß  die  beiden  gehen- 
den Paare  in  leidlichem  Takt  arbeiten.  Wenn  auch  die  Ampli- 
tude des  vorderen  Gangpaares  stets  größer  ist,  als  die  des 
zweiten  Paares,  so  gehen  dennoch  alle  vier  Arme  gleichzeitig 
vor  und  zurück. 

Der  vordere  unpaare  kann  jederzeit  zum  energischen  Gehen 
angeregt  werden,  wenn  er  beim  Vorbeistreichen  an  einem 
äußeren  Hindernis  gedehnt  wird.  Je  nachdem  er  nach  rechts 
oder  nach  links  gedehnt  wird,  verwandelt  er  sich  in  einen 
linken  oder  rechten  vorderen  Gangarm.  Zugleich  fällt  hinten 
der  fünfte  überflüssig  werdende  Arm  als  hinterer  unpaarer  aus 
der  Gehbewegung  heraus  und  wird  nur  passiv  mitgetragen. 

Ich  glaube,  daß  die  hier  geschilderte  Erscheinung  der 
labilen  Koordination  sich  aus  den  besprochenen  Vorgängen  im 
Zentralnervensystem  ohne  weiteres  ableiten  läßt.  Betrachten 
wir  zuerst  die  Erregungs Vorgänge  beim  Typus  „unpaar  hinten**. 
Er  entsteht  immer,  wenn  der  Reiz  einem  Arme  appliziert 
wurde.  Dann  bleibt  der  gereizte  Arm  unbeweglich,  während 
die  Erregung  sowohl  nach  links  wie  nach  rechts  im  Nerven- 
ring weitereilt,  überall  in  die  zunächst  liegenden  Armseiten  ein- 
dringend. Diese  schlagen  stark  reizwärts  aus,  und  damit  ist 
der  Bewegungstypus  für  alle  Arme  gegeben.  Nun  kreisen  in 
jedem  Wirbel  die  vier  Muskeln  in  der  angegebenen  Weise  und 
die  Erregung  kreist  dementsprechend  in  ihren  Repräsentanten. 
Ganz  wie  bei  den  Stacheln  der  Seeigel  sind  alle  Muskeln,  die  nach 
der  gleichen  Richtung  hinschauen,  durch  eigene  Bahnen  mit- 
einander verbunden.  Ferner  stehen,  wie  wir  wissen,  alle  Mus- 
keln der  gleichen  Armseite  mit  der  zunächst  liegenden  Seite 
des  anderen  Armes  in  besonders  guter  Verbindung.  Dadurch 
wird  nicht  allein  ein  gleichmäßiges  Kreisen  der  Erregung  in 
allen  Wirbeln  des  gleichen  Armes  hervorgerufen,  sondern  auch 
eine  Abhängigkeit  der  einander  gegenüberliegenden  Seiten  der 
Nachbararme  voneinander  gewährleistet. 

Das  vorderste  Armpaar,  das  viel  größere  Ausschläge  macht, 
als  das  hintere,  und  die  Hauptarbeit  leistet,  ist  stets  so  ge- 
koppelt, daß  die  beiden  nach  vorne  sehenden  Armseiten  immer 


140  -^^^  Schlangensterne. 

die  gleiche  Erregung  besitzen.  Während  nun  an  dem  vorderen 
Gangpaar  die  gegenüberUegenden  Seiten  das  gleiche  Vorzeichen 
tragen  (wenn  man  von  Plus-  und  Minus- Erregung  sprechen 
will),  so  zeigen  die  Arme  der  gleichen  Seite,  die  hintereinander 
und  nicht  gegeneinander  arbeiten,  auf  den  gegenüberiiegenden 
Seiten  das  umgekehrte  Vorzeichen. 

Die  Durchschneidung  des  Nervenringes  an  einer  behebigen 
Stelle  macht  das  hierdurch  nervös  getrennte  Armpaar  ganz 
unfähig  als  vorderes  Gangpaar  zu  wirken.  Die  beiden  Arme 
setzen  wohl  noch  richtig  ein,  wenn  der  Reiz  sie  von  hinten 
gleichmäßig  trifft,  sie  sind  aber  ganz  außerstande,  das  gleiche 
Tempo  dauernd  beizubehalten.  Das  beweist,  daß  die  Erregungen 
sich  gegenseitig  beeinflussen  müssen.  Faßt  man  den  Punkt 
des  Nervenringes,  der  gerade  mitten  zwischen  den  beiden  Gang- 
armen liegt,  ins  Auge,  einen  Punkt,  der  keine  Repräsentanten, 
sondern  bloß  Bahnen  enthält,  so  zeigt  dieser  Punkt  eine  wechselnde 
Flut  und  Ebbe  der  Erregungen,  die,  von  beiden  Seiten  kommend, 
hier  zusammentreffen.    Ich  nenne  ihn  den  Pulsationspunkt. 

Die  gleichzeitig  einsetzende  Erregungsflut  an  der  Ver- 
bindungsstelle der  beiden  Vorderarme  hemmt  das  Weiterfließen 
der  Erregung  sowohl  nach  links,  wie  nach  rechts,  und  er- 
leichtert es  den  gedehnten  Muskeln,  an  der  hinteren  Seite  der 
Arme  die  Erregung  an  sich  zu  ziehen.  Das  scheint  mir  die 
Ursache  zu  sein,  warum  niemals  ein  Vorderarm,  der  noch  einen 
Partner  besitzt,  die  beiderseitigen  Ausschläge  ausführt,  wie  es 
der  einzelne  Arm  tut.  Der  Pulsationspunkt  ist  nicht  ein  für 
allemal  festgelegt,  sondern  wandert  beim  Umschlagen  des  Gang- 
typus. Tritt  nämlich  der  Gang  ,,unpaar  vorne"  ein,  so  ver- 
breitert sich  der  Pulsationspunkt  über  die  gesamten  Verbindungs- 
bahnen des  vorderen  unpaaren.  Es  ist  auf  den  ersten  BUck 
auffallend,  daß  ein  Arm,  der  von  beiden  Seiten  Erregungen 
erhält,  ruhig  bleiben  kann.  Man  wird  dabei  an  den  Mundstiel 
von  Carmarina  erinnert,  der  sich  auch  nicht  rührt,  wenn  man 
ihm  von  allen  Seiten  gleichzeitig  Erregung  zufließen  läßt. 

Das  Tempo  des  Gangrhythmus  hängt  lediglich  von  dem 
vorderen  Gangpaare  ab.  Die  hinteren  Arme  folgen  den  vorderen 
und  sind  nicht  voneinander  abhängig,  da  man  den  Nerven- 
ring zwischen  ihnen  durchtrennen  kann,  ohne  sie  in  ihrer  Tätig- 
keit zu  stören. 


Die  Schlangensterne.  141 

Der  Typus  ,,unpaar  voran"  wird  hervorgerufen,  wenn  ein 
Reiz  den  Mittelkörper  gerade  zwischen  zwei  Arm  wurzeln  trifft. 
Er  ist  deshalb  der  seltenere. 

Es  ist  also  der  Reizort  bestimmend  für  die  Anfangsstellung 
der  Arme  beim  Gehen,  weil  von  ihm  aus  die  dynamische  Er- 
regungswelle in  die  Hauptleitungsbahnen  eindringt  und  weiter- 
läuft. Der  Rhythmus  des  Gehens  entsteht  aber  nur,  wenn  es 
der  Muskeldehnung  ermöglicht  wird,  ohne  Hemmnis  die  statische 
Erregung  in  Schwingung  zu  versetzen.  Eine  dauernde,  wenn 
auch  schwache  Quelle  für  dynamische  Wellen,  wie  sie  von 
einem  Wollenfaden  ausgehen,  hemmt  die  freie  Ausbildung  des 
Rhythmus.  Der  rhythmische  Erregungsablauf  bestimmt  die 
Amplitude  der  Bewegung.  Sie  gestattet  einem  einzelnen  Arm 
eine  Doppelellipse  zu  beschreiben ,  während  jeder  paarige  Arm 
nur  eine  einfache  Ellipse  beschreibt.  Der  Bau  des  Gelenkes 
bestimmt  die  Richtung  der  Fortbewegung,  indem  er  festlegt, 
daß  die  reibende  Bewegung  des  Armes  am  Boden  immer  er- 
folgen muß,  nachdem  der  Arm  gestreckt  und  gehoben  ist.  Die 
Stärke  des  Reizes  bestimmt,  ob  es  zur  Autotomie,  zur  Abwehr- 
bewegung, zur  einfachen  Armbewegung  oder  zum  Gangrhythmus 
kommen  soll.  Die  äußeren  Hindernisse  bestimmen,  ob  der 
vorhandene  Gangtypus  beibehalten  oder  geändert  werden 
soll,  und  setzen  zugleich  mit  der  Reizstärke  die  Dauer  des 
Ganges  fest.  Ganz  abseits  steht  der  Einrollreflex,  der  von 
den  Tentakeln  ausgeht. 

Selten  ist  der  Ablauf  der  Erregungen  von  so  durchsichtiger 
Klarheit,  weil  er  von  lauter  wohlübersehbaren  Faktoren  ab- 
hängt, die  zum  Teil  in  der  Außenwelt  selbst  liegen.  Ein  frei 
im  Wasser  in  normaler  Lage  aufgehängter  Schlangen stern  ver- 
liert, wenn  seine  Arme  der  Schwere  nach  abgesunken  sind,  die 
Fähigkeit,  den  normalen  Gangrhythmus  zu  finden,  weil  die 
anormalen  Dehnungs Verhältnisse  alles  durcheinander  bringen. 

So  ist  der  Schlangenstern  mit  Rezeptoren  und  Effektoren 
in  höchst  empfindlicher  Weise  in  seine  Umgebung  eingehängt. 
Er  ist  nicht  eine  selbständige  Antwortmaschine  (wie  Rhizo- 
stoma  oder  Sipunculus),  die  ihre  fertigen  Antworten  bereit  hat 
und  nur  auf  die  ihren  Rezeptoren  entsprechenden  Fragen  der 
Umwelt  wartet,  um  die  Antwort  unbeeinflußt  vom  Erfolg  mit 
eindeutiger  Sicherheit  abzugeben.    Der  Schlangenstern  ist  viel- 


2^42  Sipunculus. 

mehr  ein  geschmeidiger  Apparat,  dessen  Bewegungen  einer 
dauernden  direkten  und  indirekten  Regulierung  durch  die  Gegen- 
stände der  Umgebung  unterliegt.  Die  Umwelt,  die  auf  die 
Rezeptoren  wirkt,  zeichnet  sich  aus  durch  ihre  zahlreichen  Ab- 
stufungen in  der  Reizstärke,  im  übrigen  ist  sie  aber  sehr  ein- 
fach. Fällt  plötzlich  ein  Schatten  auf  ein  ruhendes  Tier,  das 
seine  Armspitzen  im  Wasser  flottieren  läßt,  so  schlagen  sie 
alle  gleichzeitig  herab  und  die  blaßsandfarbene  Haut  wird 
plötzlich  um  eine  Nuance  dunkler.  Ferner  wirken  die  Riech- 
stoffe der  Nahrung  stark  auf  die  Tentakel  ein,  die  ihre  Er- 
regungen in  einem  abgesonderten  Teil  des  Zentralnerven- 
systems erzeugen.  Sonst  kommen  fast  nur  mechanische  Reize 
in  Betracht,  deren  Erregungen  sich  als  ein  reichbewegtes  Innen- 
leben in  den  Hauptbahnen  und  Netzen  des  Zentralnerven- 
systems abspielen.  Dynamische  Wellen  werden  von  den 
Schwingungen  der  statischen  Erregung  abgelöst.  Die  Re- 
präsentanten und  ihre  Muskeln  stehen  in  stetigem  Erregungs- 
austausch. Die  Erregungen  kommen  und  gehen  nicht  bloß 
beherrscht  von  den  Befehlen  der  Rezeptoren,  sondern  gleich- 
falls sanft  gelenkt  vom  Zustande  der  Muskeln,  die  sich  der 
Außenwelt  anpassen  müssen.  So  findet  bei  den  Schlangen- 
sternen die  Umgebung  zwei  offene  Tore  und  vermag  den  Tieren 
nicht  bloß  das  ferne  Ziel  zu  weisen,  sondern  auch  jeden  Schritt 
zu  lenken. 


Sipunculus. 

Da  alle  Lebewesen  funktionelle  Einheiten  sind,  ist  die 
Kenntnis  der  Funktion  der  wahre  Schlüssel  für  das  Verständnis 
der  Organisation.  Die  Gesamtheit  der  Funktionen  eines  Orga- 
nismus nennen  wir  sein  Leben.  Mit  der  Erkenntnis,  daß  ein 
Tier  lebt,  ist  aber  noch  nichts  gewonnen,  denn  ein  jedes 
lebt  auf  seine  Weise.  Es  ist  also  die  Kenntnis  der  Teil- 
funktionen, die  das  Leben  zusammensetzen,  das  wirklich  Wissens- 
werte. Diese  sind  bei  jedem  Tier  andere  und  fügen  sich  auf 
andere  Art  zusammen. 

Je  weniger  Teilfunktionen  vorhanden  sind,  desto  einfacher 
ist    der    Bauplan    des  Tieres.     Je   leichter    die    einzelnen   Teil- 


Sipunculus.  143 

funktionell  sich  voneinander  anatomisch  sondern  lassen,  desto 
übersichtHcher  ist  der  Bauplan  des  Tieres.  Einfach  und  über- 
sichtlich ist  z.  B.  der  Bauplan  der  Medusen  und  Anemonen.  Aber 
gerade  diese  Einfachheit  ist  schuld  daran,  daß  wir  über  den 
Aufbau  des  Nervensystems  aus  ihnen  nicht  viel  neues  lernen 
können.  Im  Gegensatz  zu  den  Medusen  beansprucht  Sipun- 
culus unser  volles  Interesse  deshalb,  weil  seine  Teilfunktionen 
sehr  reich  ausgebildet  sind,  ohne  ihre  Übersichtlichkeit  zu  ver- 
lieren. 

Sipunculus  ist  ein  Wurm  von  der  Größe  und  Form  einer 
mittleren  Zigarre,  der  am  Grunde  des  Meeres  lebt.  Seine  Haupt- 
aufgabe besteht  darin,  Löcher  in  den  Sand  zu  stoßen,  in  denen 
er  weiter  kriechen  kann.  Es  weist  die  gleichen  Leistungen  auf 
wie  eine  Tunnelbohrmaschine.  Dieser  Hauptaufgabe  seines 
Lebens  sind  alle  muskulösen  und  nervösen  Einrichtungen  unter- 
geordnet. Sie  beherrscht  ihn  dermaßen,  daß  er  selbst  aufge- 
schnitten und  auf  die  Präparierschale  gespießt  mit  den  Stoß- 
bewegungen unbekümmert  noch  stundenlang  fortfährt.  Wie 
das  isolierte  und  blutleere  Froschherz  stundenlang  automatisch 
weiterarbeitet,  so  arbeitet  auch  der  Sipunculus  weiter  in  voller 
Unabhängigkeit  von  allen  äußeren  Einflüssen  durch  das  selbst- 
ständige Getriebe  seiner  inneren  Apparate. 

Die  Anatomie  von  Sipunculus  ist  einfach.  Er  ist  ein  ein- 
facher Muskelsack,  dessen  Vorderende  sich  schlauchförmig  ver- 
längert. Dieser  Schlauch  läßt  sich  wie  ein  Handschuhfinger 
ein-  und  ausstülpen.  Die  Amerikaner  nennen  ihn  deshalb 
Introvert,  auf  Deutsch  sagt  man  weniger  passend  Rüssel. 
Das  Ausstülpen  des  Rüssels  geschieht  durch  die  Zusammen- 
ziehung der  gesamten  Muskulatur  des  Sackes,  die  den  Binnen- 
druck des  flüssigen  Inhaltes  bis  auf  6  cm  Quecksilber  treibt. 
Der  Rüssel  fliegt  hinaus  und  bildet  prall  gefüllt  ein  wider- 
standsfähiges Instrument,  wohlgeeignet,  um  Löcher  in  den  Sand 
zu  stoßen.  Steckt  der  Rüssel  tief  im  Sande  drin,  so  beginnt 
er  sich  zu  verkürzen  und  zieht,  da  er  an  der  Spitze  mit  kleinen 
Häkchen  im  Sande  festsitzt,  den  ganzen  Körper  mit  nach 
vorn.  Hierauf  erschlafft  die  gesamte  Muskulatur,  der  Binnen- 
druck fällt  auf  Null  und  der  Rüssel  wird  durch  vier,  Retraktoren 
genannte  Muskeln  nach  innen  zurückgezogen. 

Es    zerfällt,    wie    man    hieraus   ersieht,    der  Sipunculus  in 


\4:4:  Sipunculus. 

zwei  getrennte,  hintereinander  liegende  Apparate,  in  den  vor- 
deren Stoßapparat  und  den  hinteren  Druckapparat,  der  bloß 
einen  einfachen,  kontraktilen  Muskelsack  darstellt.  Um  vor 
allen  Dingen  die  Eigenschaften  der  Muskeln  kennen  zu  lernen, 
empfiehlt  es  sich,  den  Stoßapparat,  d.  h.  Rüssel  und  Retraktoren, 
abzuschneiden  und  den  hinteren  Muskelsack  an  ein  Steigrohr  zu 
binden,  nachdem  man  das  Zentralnervensystem  (Bauchstrang), 
das  als  derber  roter  Faden  der  Kriechseite  des  Tieres  entlang 
läuft,  herausgerissen  hat.  Dann  füllt  man  das  Steigrohr  bis 
zur  Hälfte  mit  Seewasser  und  taucht  Sack  und  Steigrohr  in  ein 
Aquarium.  Nun  zeigt  sich  eine  merkwürdige  Eigenschaft  der 
lebenden  Muskulatur,  welche  alle  Vergleiche  mit  Gummiblasen 
und  ähnUchen  anorganischen  Materialien  ad  absurdum  führt. 
Versucht  man  nämhch,  den  Meniskus  im  Steigrohr  mit  der 
Wasseroberfläche  in  eine  Ebene  zu  bringen,  so  wird  man  bald 
gewahr,  daß  dieses  nicht  gelingt.  Immer  zeigt  sich  der  gleiche 
Überdruck  im  Steigrohr.  Mag  man  das  Rohr  hoch  hinauf- 
ziehen, wobei  der  Muskelsack  durch  den  Binnendruck  des 
Wassers  sich  stark  dehnt,  oder  mag  man  das  Rohr  tief  ein- 
tauchen, wobei  der  Muskelsack  sich  stark  verengt  und  ver- 
kürzt, immer  zeigt  sich  der  gleiche  Überdruck  im  Steigrohr. 

Was  bedeutet  dieser  Überdruck?  Er  zeugt  davon,  daß 
die  Muskeln  bei  jeder  physiologischen  Länge  imstande  sind, 
den  gleichen  Wasserdruck  auszubalancieren.  Das  beweist  uns, 
daß  die  Muskeln  unabhängig  von  ihrer  Verkürzung  die  Fähig- 
keit der  Sperrung  besitzen.  Die  beiden  Funktionen  zeigen  hier 
völlige  physiologische  Unabhängigkeit  voneinander  ohne  nach- 
weisbare automatische  Trennung  der  Bewegungs-  und  Sperr- 
apparate wie  bei  den  Seeigeln. 

Auch  der  normale  Muskel  des  Seeigelstachels  wies  eine 
dauernde  Sperrschwelle  auf,  die  ihn  befähigte,  einem  ent- 
sprechenden Drucke  die  Wage  zu  halten.  Wurde  dieser  Druck 
überschritten,  so  trat  Erschlaffung  ein  und  man  konnte  mit 
dem  geringsten  Übergewicht  den  Muskel  bis  auf  seine  ana- 
tomische Länge  dehnen.  Ganz  das  gleiche  lehrt  uns  der  Ver- 
such am  Sipunculus.  Ist  ein  gewisser  Überdruck  im  Steigrohr 
vorhanden  und  versucht  man  diesen  Überdruck  zu  erhöhen, 
indem  man  das  Steigrohr  emporhebt,  so  gibt  die  Muskulatur 
widerstandslos  nach,  sie  ist  sofort  in  voller  Erschlaffung.     Der 


Sipunculus.  145 

kleinste  Überschuß  an  Druck  dehnt  sie  bis  auf  ihre  anatomische 
Länge.  Andererseits  zeigt  sich,  ebenso  wie  beim  Seeigel,  daß 
die  Verkürzungsapparate  sofort  in  Tätigkeit  geraten,  sobald 
man  ihre  normale  Belastung  aufhebt.  Versucht  man  durch 
Herabdrücken  des  Steigrohres  den  inneren  Druck  herabzusetzen, 
so  beginnen  sogleich  die  Muskeln  sich  zusammenzuziehen.  Wir 
dürfen  das  als  einen  Beweis  dafür  ansehen,  daß  die  Erregung, 
die  bisher  die  Sperrapparate  versorgte,  bei  deren  Entlastung 
zu  den  Verkürzungsapparaten  hinübertritt  und  diese  in  Tätig- 
keit versetzt.  Kaum  \^'ird  mit  der  Entlastung  innegehalten, 
so  hört  die  Verkürzung  wieder  auf  und  die  Erregung  geht 
wieder  in  die  Sperrapparate. 

Es  findet  also  ein  freier  Austausch  der  Erregung  zwischen 
Sperr-  und  Bewegungsapparaten  statt,  ohne  daß  die  nervösen 
Zentren  dabei  beteiligt  sind.  Das  sieht  man  beim  Sipunculus 
so  besonders  deutlich,  weil  man  sein  Zentralnervensystem  ohne 
weiteres  entfernen  kann. 

Trotzdem  bleibt  wie  beim  Seeigel  auch  hier  das  Nerven- 
system die  einzige  Quelle  der  Erregung.  Der  nervöse  Ursprung 
der  Sperrschwelle  zeigt  sich  bei  Sipunculus  mit  ganz  einzig  da- 
stehender Deutlichkeit.  Man  hat  es  nämlich  völlig  in  der 
Hand,  die  Sperrschwelle  beliebig  hoch  ausfallen  zu  lassen,  wenn 
man  den  Muskelmantel  kurz  vor  Entfernung  des  roten  Zentral- 
nervenfadens  durch  eine  allgemeine  Hautreizung  reflektorisch 
zu  hoher  Kontraktion  und  Sperrung  gebracht  hat.  Je  größer 
die  Reflexwirkung  war,  um  so  höher  wird  die  Sperrschwelle 
ausfallen.  Bei  den  Retraktoren  des  Vorderendes  ist  diese  Er- 
scheinung noch  deutlicher.  Hier  glaubt  man  geradezu  zu  sehen, 
wie  die  Erregung,  die  den  Muskeln  verkürzt  und  sperrt, 
durch  den  Schnitt,  der  das  Zentralnervensystem  entfernt,  wie 
in  einer  Falle  gefangen  wird.  Ich  nenne  deshalb  dieses  Phä- 
nomen den  Erregungsfang.  Der  Erregungsfang  lehrt  uns,  daß 
die  in  den  Muskel  gelangte  Erregung  nicht  wieder  erlöschen 
kann,  wenn  kein  Zentrum  vorhanden  ist,  das  sie  in  sich  auf- 
zunehmen vermag. 

Dieses  Abfangen  der  Erregung  mittels  einer  Nervendurch- 
trennung erscheint  uns  deshalb  so  paradox,  weil  es  sich  beim 
Sipunculus  um  eine  reflektorisch  zum  Muskel  gelangte  Erregung 
handelt,    die    als   djmamische  Erregung  nur  von  kurzer  Dauer 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  10 


X46  Sipunculus. 

sein  sollte.  Bei  statischer  Erregung  ist  dieser  Vorgang  nichts 
Unerhörtes.  Durch  trennt  man  beim  Seeigel  die  Seitennerven 
des  Radialsystems,  so  bleiben  die  außen  gelegenen  Repräsentanten 
im  gleichen  Erregungsniveau  stehen,  welches  das  beherrschende 
Zentralniveau  im  Moment  der  Durchschneidung  besaß.  War 
der  Radialnerv  mit  Nikotin  vergiftet,  so  verbleiben  alle  Stachel- 
muskeln in  dauerndem  Sperrkrampf.  Das  vergiftete  Radial- 
system mag  sich  längst  wieder  entgiftet  haben,  der  Zustand 
der  Repräsentanten  und  ihrer  Muskeln  ändert  sich  nicht  mehr. 
Die  übermäßige  Erregung  bleibt  in  ihnen  gefangen. 

Im  Gegensatz  zu  diesen  dauernden  Verschiebungen  der 
statischen  Erregung  stehen  die  vorübergehenden  Erregungs- 
wellen der  dynamischen  Erregung,  wie  wir  sie  aus  allen  Re- 
flexen kennen.  Aber  überall  dort,  wo  sich  an  den  einfachen 
Reflex  eine  langdauernde  Bewegung  anschließt,  wie  beim  Gehen 
der  Schlangensterne,  hat  man  bereits  mit  einer  Verschiebung 
der  statischen  Energie  zu  rechnen. 

Wir  unterscheiden,  wie  bereits  ausgeführt,  reflektorische, 
rhythmische  und  automatische  Bewegungen,  die  auf  eine  drei- 
fache Art  des  Erregungsablaufes  hinweisen.  Beim  Reflex  ent- 
steht die  Erregung  im  Rezeptor  und  erlischt  im  Muskel.  Dies 
ist  ein  rein  dynamischer  Vorgang.  Beim  Rhythmus  entsteht 
die  Erregung  gleichfalls  im  Rezeptor,  aber  sie  erlischt  nicht 
gleich  beim  ersten  Male  im  Muskel,  sondern  fließt,  nachdem 
sie  den  Agonisten  verkürzt  hat,  zum  gedehnten  Antagonisten 
und  wieder  zurück,  immer  vom  gedehnten  Muskel  angezogen. 
Dies  geschieht  längere  oder  kürzere  Zeit,  je  nach  der  Stärke 
des  ersten  Anstoßes.  Es  kann  sich  dabei  nicht  bloß  um  eine 
flüchtige  Erregungs welle  handeln,  sondern  auch  die  statische 
Erregung  muß  mit  in  Schwingungen  geraten.  Die  automa- 
tische Bewegung  unterscheidet  sich  vom  Rhythmus  durch 
zweierlei.  Einmal  ist  sie  unabhängig  von  der  Muskeldehnung 
und  zweitens  steht  ihre  Dauer  in  gar  keinem  Verhältnis  zur 
Stärke  des  auslösenden  Reizes  und  der  von  ihm  erzeugten  Er- 
regungswelle. Dieses  zweite  Merkmal  kann  als  Beweis  dafür 
gelten,  daß  bei  der  automatischen  Bewegung  die  statische  Er- 
regung die  Hauptrolle  spielt. 

Nun  ist  der  Sipunculus  ein  ausgesprochen  automatisch  arbei- 
tendes Tier,  deshalb  nehmen  bei  ihm  die  einfachen  Reflexe  einen 


Sipunculus.  247 

ganz  anderen  Charakter  an.  Will  man  die  Reflexe  des  hinteren 
Muskelsackes  studieren,  so  braucht  man  ihn  bloß  an  der 
Rückenseite  der  Länge  nach  aufzuschneiden  und  aufzuhängen. 
Dann  erhält  man  ein  lebendes  Vheß,  das  sehr  merkwürdige 
Eigenschaften  zeigt.  Man  mag  die  Haut  dieses  Vließes  mecha- 
nisch reizen  an  welcher  Stelle  man  wolle,  immer  fheßt  die 
Erregung  nach  einer  ganz  bestimmten  Stelle  hin  und  setzt 
dort  die  Muskeln  in  Tätigkeit.  Diese  Stelle  des  Muskelmantels 
heißt  der  Griff.  Sie  unterscheidet  sich,  soweit  die  Anatomie 
der  Muskeln  in  Betracht  kommt,  in  nichts  von  den  übrigen 
Muskelpartien.  Auch  physiologisch  läßt  sich  kein  Unterschied 
erkennen.  Gedehnt  oder  erschlafft  sind  die  Muskeln  des 
Griffes  sicher  nicht.  Es  muß  also  die  Ursache,  welche  die 
Erregung  hierherführt,  im  Nervensystem  gesucht  werden.  Die 
Histologie  läßt  uns  wie  immer  im  Stich.  So  sind  wir  denn 
darauf  angewiesen,  bei  irgendeiner  Analogie  Hilfe  zu  suchen, 
wenn  wir  uns  diesen  Vorgang  veranschaulichen  wollen.  Am 
naheliegendsten  ist  es  natürlich  an  Wasser  zu  denken,  das 
immer  ins  Tal  hinabfließen  muß,  einerlei,  wo  es  herkommt. 
So  habe  ich  denn  diesen  Erregungsvorgang  die  Erscheinung 
des  Erregungstales  genannt. 

Es  fragt  sich  nun,  ist  das  Hinfließen  der  Erregung  nach 
dem  Tale  noch  ein  Reflex  zu  nennen?  Vom  Reflex  wissen 
wir,  daß  jede  Erregung  erlischt,  wenn  der  Bogen,  den  sie  zu 
durchlaufen  hat,  irgendwo  durchschnitten  wird.  Nicht  so  beim 
Erregungstal.  Wird  der  Nervenfaden  zwischen  Reizort  und 
Griff  durchschnitten,  so  fließt  die  Erregung  einfach  in  die  der 
Schnittstelle  zunächstliegenden  Muskeln  und  bringt  diese  in 
Tätigkeit.  Genau  wie  das  zu  Tal  fließende  Wasser  durch  ein 
Hindernis  abgefangen  werden  kann  und  sich  an  der  neuen 
tiefsten  Stelle  sammelt. 

War  der  Reiz  etwas  stärker,  so  ist  es  mit  der  einfachen 
Erregung  der  Griffmuskeln  nicht  getan,  sondern  es  tritt  eino 
rückläufige  Strömung  der  Erregung  ein,  die  nacheinander  vom 
Griff  beginnend  alle  Muskeln  bis  zur  Reizstelle  und  darüber 
hinaus  zur  Kontraktion  bringt.  Ist  das  Vordertier  nicht  ab- 
getrennt worden,  so  sehen  wir,  wie  jetzt  die  Erregung  auf  die 
Stoßapparate  übergreift,  um  dann,  nach  Ablauf  der  Stoßbe- 
wegung,   zum  Griff    zurückzueilen    und    das   Spiel   von    neuem 

10* 


\4:S  Sipunculus. 

beginnen.     Es  tritt  dann  eine  lang  anhaltende  Bewegungsfolge 
auf,  die  durch  keine  äußeren  Eingriffe  zu  hemmen  ist. 

Die  vom  Reiz  ausgehende  erste  Erregungswelle  war  nur  der 
Anstoß,  der  die  ganze  Maschine  in  Gang  brachte.  Der  Gang 
dieser  Nervenmaschine  besteht  offenbar  in  einem  Hin-  und  Her- 
schwingen der  statischen  Erregung,  ähnlich  wie  wir  das  beim 
Schlangenstern  gesehen  haben.  Beim  Sipunculus  ist  aber  die 
Trennung  der  anstoßgebenden  dynamischen  von  der  dauernd 
arbeitenden  statischen  Erregung  möglich.  Das  zeigt  folgende 
Beobachtung.  Die  vom  Reiz  ausgelöste  Erregungswelle  bringt, 
bevor  sie  zum  Erregungstal  weiterfließt,  das  dem  Reizort  zunächst- 
liegende Muskelband  zur  Erschlaffung.  Diese  Erschlaffung  tritt 
nicht  ein,  wenn  die  Erregung  nach  der  Durchschneid ung  des  Nerven- 
fadens gehindert  ist,  weiter  fortzufließen.  Dann  kontrahieren 
sich  die  Muskeln,  die  sonst  erschlafft  waren.  Auch  hier  werden 
wir  darauf  hingewiesen,  daß  die  Erregung  in  zwei  Komponenten 
zerfällt,  welche  die  entgegengesetzte  Wirkung  ausüben  können. 
Am  weitesten  kommt  man,  w^enn  man,  die  Analogie  mit  dem 
Wasser  weiterführend,  von  Erregungsdruck  und  Erregungsmenge 
spricht.  Erlangt  durch  besondere  Umstände,  wie  hier  durch 
deu  Abfluß  der  Erregungsmenge  in  das  Tal  der  Druck 
ein  Übergewicht  über  die  Menge,  so  werden  von  ihm  die 
nächstliegenden  Reservoire  gedehnt  und  dadurch  ihre  Gefolgs- 
muskeln  zur  Erschlaffung  gebracht.  Wird  der  Abfluß  der  Er- 
regung gehindert,  so  gleicht  sich  der  Widerstreit  der  beiden 
Faktoren  zugunsten  der  Menge  aus,  und  sowohl  die  Repräsen- 
tanten wie  ihre  Muskeln  setzen  mit  der  normalen  Tätigkeit  ein. 

Die  lokale  Erschlaffung  tritt  aber  nur  im  Anschluß 
an  eine  neu  auftretende  Erregung  ein,  sie  ist  daher  rein 
dynamischer  Natur  und  kommt  im  weitern  Ablauf  der 
statischen  Vorgänge  nicht  wieder  vor.  So  läßt  sich  denn 
hier  die  dynamische  Erregung  durch  ihren  hohen  Druck 
ganz  gut  von  den  statischen  Erregungsverschiebungen  unter- 
scheiden. Ferner  läßt  sich  aus  dem  ganzen  Verhalten  der 
Erregung  entnehmen,  daß  die  reflektorisch  erzeugte  Erregung, 
die  sich  im  Tale  sammelt,  zum  größten  Teil  aus  statischer 
Erregung  besteht,  die  nur  durch  den  Anstoß  der  dyna- 
mischen Welle  in  Bewegung  geraten  ist,  um  dann  selbständig 
weiter   zu    arbeiten.     Ist   dieses  richtig,   so  ist  der  Erregungs- 


Sipunculus.  149 

fang  kein  so  abenteuerlicher  Vorgang  mehr,  denn  die   statische 
Erregung  kann  immer  durch  Nerventrennung  abgefangen  werden. 

Es  fragt  sich  nun,  welche  Aufgabe  hat  das  Erregungstal 
zu  erfüllen,  das  scheinbar  ohne  Grund  im  Beginn  des  letzten 
Drittels  des  Muskelsackes  gelegen  ist.  Wir  wissen,  daß  die 
Zusammenziehung  des  Muskelsackes  den  hohen  Binnendruck 
erzeugt,  der  den  Rüssel  hinausfhegen  läßt  und  ihm  die  nötige 
Widerstandskraft  verleiht.  Da  ist  es  natürlich  sehr  wichtig, 
daß  sich  alle  Muskeln  mögUchst  gleichzeitig  verkürzen.  Zu 
diesem  Zweck  müssen  sie  möglichst  gleichzeitig  ihre  Erregung 
erhalten.  Es  wäre  unvorteilhaft  gewesen,  das  Erregungstal  an 
das  Ende  des  Tieres  zu  verlegen,  weil  dann  die  zurückstauende 
Erregung  zu  spät  zu  den  vorderen  Muskeln  gelangte.  Deshalb 
ist  das  Erregungstal  so  gelagert,  daß  die  Rückstauung  nach 
beiden  Seiten  gleichmäßig  fortschreiten  kann,  wodurch  ein 
gleichzeitiges    Zusammenarbeiten    aller    Muskeln    erreicht    wird. 

Ist  die  vom  Erregungstal  zurückgestaute  Erregung  bis  an 
den  Rüssel  gelangt,  so  hört  sie  auf  wie  bisher  die  beiden 
Muskelschichten,  aus  denen  der  Körper  besteht,  gleichzeitig  zur 
Tätigkeit  zu  bringen,  sondern  tritt  von  nun  ab  nur  noch  in 
die  Ringmuskeln  ein.  Am  ganzen  übrigen  Körper  sind  Ring- 
und  Längsmuskeln  sauber  voneinander  geschieden  und  bilden 
ein  zierliches  Gitterwerk  von  sich  rechtwinklig  kreuzenden 
Bändern.  Nur  am  Rüssel  ist  diese  deutliche  anatomische 
Trennung  nicht  mehr  vorhanden.  Hier  gerade  ist  statt  dessen 
die  physiologische  Trennung  durchgeführt.  Die  Erregung  ergreift 
langsam,  von  der  Wurzel  zur  Spitze  des  Rüssels  fortschreitend, 
einen  Ringmuskelring  nach  dem  anderen.  Schneidet  man  den 
Rüssel  in  so  viel  Ringe  auseinander  als  zuführende  Nerven- 
paare vorhanden  sind,  so  sieht  man  deutlich  einen  Ring  nach 
dem  anderen  in  strenger  Reihenfolge  schmal  und  lang  werden. 
In  der  Rüsselgegend  hat  sich  der  rote  Nervenfaden  des  Bauch- 
strangs von  der  Muskulatur  losgelöst  und  schwebt  frei  in  der  Leibes- 
höhle durch  seine  langen  Seitennerven  mit  der  Rüsselmuskulatur 
verbunden.  Erst  an  der  Spitze  des  Rüssels  tritt  er  wieder  dicht  an 
die  Körperwand  heran.  Man  kann  ohne  Schwierigkeit  einzelne 
Seitennerven  durchschneiden,  das  ändert  an  dem  Ablauf  der 
Muskelkontraktion  nichts.  Es  fällt  bloß  der  nicht  innervierte 
Ring  aus  der  Reihe  aus.     Nach  einer  kleinen  Pause,  die  sonst 


150  Sipunculus. 

auf   seine   Innervation  verwandt  worden  wäre,  antwortet  dann 
der  nächstfolgende  Ring. 

Während  dieser  langsam  fortschreitenden  Kontraktion  der 
Ringmuskeln  erschlaffen  gleichzeitig  die  Längsmuskeln  des 
Rüssels  und  die  vier  Retraktoren.  Die  Erschlaffung  der  Längs- 
muskeln ist  nicht  erstaunhch ;  da  sie  nicht  erregt  sind,  können 
sie  von  den  kontrahierten  Ringsmuskeln  wiederstandslos  ge- 
dehnt werden.  Anders  steht  es  um  die  Retraktoren.  Am 
aufgeschnittenen  Tier  kann  man  sich  überzeugen,  daß  die  Er- 
schlaffung der  Retraktoren  völlig  unabhängig  von  jedem  mecha- 
nischen Zug  eintritt.  Man  kann  den  Rüssel  in  Ringe  schneiden, 
ja  man  kann  den  ganzen  Rüssel  abschneiden  —  immer  wird 
zu  der  Zeit,  da  die  Kontraktion  der  Ringmuskeln  im  normalen 
Ablauf  der  automatischen  Bewegungen  eintreten  sollte,  die  Er- 
schlaffung der  Retraktoren  eintreten. 

Das  beweist,  daß  die  Erschlaffung  der  Retraktoren  durch 
irgendeine  Vorrichtung  im  Nervensystem  mit  der  Kontraktion 
der  Ringmuskeln  verbunden  ist.  Bisher  kannten  wir  bloß 
den  Antagonismus  der  Muskeln,  der  es  vermochte,  den  einen 
Muskel  zu  dehnen,  während  der  andere  sich  verkürzte.  Jetzt 
springen  an  Stelle  der  Muskeln  ihre  Repräsentanten  ein.  Außer 
dem  mechanischen  Zug  vermag  nur  der  Repräsentant  seine 
Gefolgsmuskeln  zur  Erschlaffung  zu  bringen.  Deshalb  müssen 
die  Repräsentanten  an  dieser  auf  nervösem  Wege  hervorge- 
rufenen Erschlaffung  der  Retraktoren  verantwortlich  sein. 

Da  wir  wiederum  ohne  jeden  histologischen  Anhalt  sind, 
müssen  wir  wiederum  die  Analogie  zu  Hilfe  nehmen,  die  dies- 
mal besonders  nahe  liegt.  Wir  stellen  uns  am  einfachsten  den 
Antagonismus  der  Repräsentanten  ebenso  vor,  wie  den  Anta- 
gonismus der  Muskeln  und  nehmen  an,  daß  die  Repräsentanten 
der  Retraktoren  von  den  Repräsentanten  der  Ringmuskeln 
mechanisch  gedehnt  werden.  Die  Repräsentanten  sind,  wie 
wir  wissen,  Erregungsreservoire.  Während  das  eine  Reservoir 
sich  zusammenzieht,  um  die  Erregung  in  seine  Gefolgsmuskeln 
zu  treiben,  dehnt  es  zugleich  das  antagonistische  Reservoir. 
Die  Dehnung  eines  Reservoirs,  mag  diese  durch  den  Erregungs- 
druck oder  durch  den  Zug  seines  Antagonisten  veranlaßt  sein, 
zieht  immer  die  Erschlaffung  der  Gefolgsmuskeln  nach  sich. 
Dies  ist  wohl  ein  grobes  und  rohes  Bild,  aber  es  ist  doch  eins. 


Sipunculus,  151 

Ist  die  Erregung  am  vorderen  Ende  des  Bauchstranges 
angelangt,  so  kehrt  sie  wieder  um  und  bringt  in  schnellem 
Tempo  die  Längsmuskeln  des  Rüssels  und  die  Retraktoren 
gleichzeitig  zur  Verkürzung.  Da  die  Retraktoren  weiter  hinab 
reichen  als  die  Wurzeln  des  Rüssels,  so  unterstützen  sie  nicht 
bloß  die  Verkürzung  des  Rüssels,  sondern  rollen  ihn  schließlich 
nach  innen  ein.  Während  des  Einrollens  hat  die  Erregung 
die  Längsmuskeln  bereits  wieder  verlassen  und  ist  auf  dem 
Wege  nach  dem  Erregungstal  begriffen.  Dort  angelangt,  be- 
ginnt sie  das  Spiel  von  neuem.  Damit  ist  der  Erregungskreis- 
lauf nach  erfolgreicher  Ausführung  der  Stoßarbeit  zu  seinem 
Ursprungsort  zurückgekehrt. 

Es  gibt  aber,  unabhängig  von  der  Stoßarbeit,  noch  einen 
Reflex,  der  mancherlei  Interessantes  bietet.  Nicht  immer 
arbeitet  das  Tier  als  Stoßmaschine.  In  den  Pausen  liegt  es 
in  seinem  selbstgeschaffenen  Tunnel  ruhig  da  mit  ausgestrecktem 
Rüssel,  an  dessen  Spitze  kleine  Büschel  muskulöser  Tentakel 
sitzen,  die  den  Mund  umgeben.  Die  Tentakel  sind  in  nervöser 
Verbindung  mit  einem  doppelten  Ganglienknoten  in  der  Leibes- 
höhle, der  dem  Anfangsstück  des  Darmes  dorsal  aufsitzt.  Man 
nennt  diesen  Ganglienknoten  das  Hirn.  Dem  Hirn  gegenüber, 
auf  der  Ventralseite  des  Darmes,  befindet  sich  das  Vorderende 
des  Bauchstranges.  Vom  Hirn  führt  links  und  rechts  um 
den  Darm  herum  je  eine  Kommissur  zum  Bauchstrang.  In 
der  Mitte  jeder  Kommissur  treten  die  Nerven  für  je  ein  Paar 
Retraktoren  gemeinsam  aus.  Wird  eine  der  Kommissuren 
zwischen  Bauchstrang  und  Retraktorennerv  durchschnitten,  so 
zeigt  sich  eine  deutliche  Erschlaffung  in  den  beiden  zugehörigen 
Retraktoren.  Wogegen  die  Durchschneidung  der  Kommissur 
auf  der  Hirnseite  keine  solchen  Folgen  hat.  Hieraus  muß 
man  schUeßen,  daß  die  Repräsentanten  der  Retraktoren  nur 
im  Bauchstrang  sitzen  und  durch  ihre  Tätigkeit  die  Sperr- 
schwelle dauernd  beeinflussen.  Wenn  die  Sperrschwelle  in  den 
Retraktoren  ad  maximum  gestiegen  ist,  zeigt  die  Kommissuren- 
durchschneidung  keinen  Einfluß  und  die  Erregung  bleibt  ge- 
fangen. 

Die  Verbindung  der  Retraktoren  mit  dem  Hirn  ist  nur 
sekundärer  Natur  und  dient  nur  dem  Tentakelreflex.  Werden 
die  Tentakel  mechanisch   gereizt,  so  kontrahieren  sich  die  Re- 


1q2  Sipunculus. 

traktoren.  Zugleich  kontrahieren  sich  die  Längsmuskeln  im 
Rüssel,  während  die  Ringmuskeln  ganz  unberührt  bleiben.  Der 
Tentakelreflex  hat  nur  die  Aufgabe,  bei  mechanischer  Reizung 
durch  einen  etwaigen  Feind  den  Rüssel  blitzschnell  zurück- 
zuziehen. 

Dieser  Reflex  kann  aber  durch  Reizung  des  Bauchstranges 
gehemmt  werden.  Und  zwar  braucht  die  Erregung,  die  von 
der  Bauchstrangreizung  ausgeht,  gar  nicht  bis  zum  Retraktor 
zu  gelangen,  wenn  sie  nur  auf  das  Hirn  selbst  einwirken  kann. 
Trennt  man  auf  einer  Seite  die  Kommissur  zwischen  Retrak- 
torennerv  und  Bauchstrang,  so  werden  die  Retraktoren  dieser 
Seite  durch  die  Reizung  des  Bauchstranges  nicht  mehr  berührt. 
Trotzdem  wird  der  Tentakelreflex  durch  die  Bauchstrangreizung 
auch  für  sie  unterdrückt.  Dies  ist  ein  besonders  merkwürdiger 
Fall,  denn  die  Erregung,  die  sich  bloß  auf  der  einen  Seite  be- 
findet, wirkt  auf  die  andere  Seite  hemmend  ein,  ohne  selbst 
hinüber  zu  fUeßen.  Wir  sind  auch  hier  wieder  gezwungen, 
auf  eine  mechanische  Vorrichtung  zu  schheßen,  die  von  einer 
Hirnhälfte  auf  die  andere  hinüberwirkt.  Wird  Hnks  die  Re- 
flextür zugemacht,  so  schließt  sich  zwangsmäßig  auch  die  Tür 
auf  der  anderen  Seite.  Jedenfalls  haben  solche  Fälle  das  Gute, 
uns  davor  zu  warnen,  Hemmung  und  Hemmung  für  iden- 
tisch zu  halten.  Hemmung  mit  Erschlaffung  der  Muskeln 
ist  offenbar  etwas  ganz  anderes  wie  die  Hemmung  ohne  Er- 
schlaffung. 

Vom  Sipunculus  läßt  sich  mit  einiger  Übertreibung  be- 
haupten, er  bestehe  aus  zwei  Tieren,  einem  Bewegungstier  und 
einem  Freßtier,  die  niemals  gleichzeitig  in  Funktion  treten 
können.  Entweder  man  bewegt  sich,  dann  wird  nicht  gefressen, 
und  umgekehrt.  Das  Bewegungstier  haben  wir  genauer  kennen 
gelernt.  Über  das  Freßtier  sind  nur  wenige  Worte  zu  sagen. 
Es  besteht  im  wesentlichen  aus  dem  langen,  mit  Sand  ge- 
gefüllten Spiraldarm  und  hat  mit  dem  Bewegungstier  nur  die 
Tentakel  gemeinsam,  die  den  Mund  umsäumen.  Die  musku- 
lösen Tentakel  dienen  dem  ruhig  daliegenden  Tiere  dazu,  die 
Sandkörner  mit  dem  anhaftenden  Detritus  in  den  Mund  zu 
befördern.  Bei  dieser  Aufgabe  können  sie  eines  Chemorezep- 
tors  nicht  entbehren.  In  der  Tat  lassen  sich  die  Tentakel 
durch    chemische    Reize    in    ausgiebige    Bewegung    versetzen. 


Sipunculus.  153 

Damit  der  Freßakt  die  Bewegung  nicht  störe,  ist  folgende 
geistreiche  Einrichtung  getroffen.  Die  chemischen  Reize  werden 
nicht  nach  dem  Hirn  und  den  Retraktoren  übertragen,  sondern 
nur  die  mechanischen.  Es  müssen  die  Rezeptorennerven,  die 
zum  Hirn  führen,  impermeable  Hüllen  besitzen.  Wir  wissen 
darüber  natürhch  nichts. 

Während  das  Freßtier  im  Sande  seiner  Arbeit  obUegt,  sinkt 
im  Bewegungstier  die  statische  Erregung  immer  mehr  und  mehr, 
bis  die  Muskeln  vöUig  erschlafft  sind.  Der  Körper  verliert 
seinen  kreisrunden  Durchschnitt  und  legt  sich  als  flaches  Oval 
auf  den  Boden.  Die  Haut  wird  dabei  ganz  dünn  und  ist 
dann  zur  Atmung  besonders  befähigt.  Die  roten  Blutkörper- 
chen fallen  alle  der  Schwere  nach  zu  Boden  und  kommen 
dabei  mit  dem  Außenwasser  in  nahe  Berührung.  Aber  die 
kleinen  bewimperten  Urnen,  die  gleich  Infusorien  die  Leibeshöhle 
durchschwimmen,  lassen  ihnen  keine  Ruhe  und  hetzen  sie  immer 
wieder  auf.  Dadurch  kommt  ein  ganz  einzigartiger  Blutkreislauf 
zustande. 

Ein  solches  Tier  ist  völlig  schlapp  und  bewegungsunfähig. 
Es  muß  erst  durch  allgemeine  Hautreize  geladen  werden. 
Darauf  zieht  es  seinen  Rüssel  ein  und  nimmt  durch  die  gleich- 
mäßige Verkürzung  aller  Muskeln  des  Sackes  die  typische 
Zigarrenform  an.  Nach  längerer  oder  kürzerer  Zeit  beginnen 
dann  die  Bohrbewegungen. 

Das  Innenleben  von  Sipunculus  zeichnet  sich  vor  allen 
Wirbellosen  aus  durch  seine  große  Unabhängigkeit,  nicht  allein 
von  der  Umgebung,  das  tun  auch  die  Medusen,  sondern  auch 
von  seinen  eigenen  Bewegungen.  Dadurch  gewinnen  seine 
Handlungen  eine  Geschlossenheit  und  Hartnäckigkeit,  die  einzig 
dasteht  —  ein  bohrender  Sipunculus  bohrt  weiter,  einerlei, 
ob  etwas  dadurch  erreicht  wird  oder  nicht. 

Packt  man  ihn  während  des  Bohrens  mit  einer  Pinzette 
fest  am  Rüssel,  so  schlägt  plötzlich  die  Bewegungsform  um. 
Alle  Ringmuskeln  verkürzen  sich  sowohl  am  Rüssel  wie  am 
ganzen  Körper  und  die  Längsmuskeln  beginnen  sich  abwechselnd 
links  und  rechts  zu  verkürzen,  wodurch  der  Wurm  in  eine 
halb  schlagende,  halb  schlängelnde  Bewegung  gerät,  die  es  ihm 
ermöglicht,  frei  im  Wasser  zu  schwimmen.  Dabei  schwingt 
die  statische  Erregung  zwischen  den  Repräsentanten  der  Längs- 


j^54  Sipunculus. 

muskeln  hin  und  her,  während  die  Ringsmuskelrepräsentanten 
dauernd  geladen  bleiben. 

Die  Faktoren  der  Umwelt,  die  auf  das  Tier  einwirken, 
wie  das  Sonnenlicht,  das  als  allgemeiner  Hautreiz  wirkt,  und 
die  Berührung  der  Oberseite  durch  den  Boden,  wenn  der  Wurm 
auf  den  Rücken  zu  Hegen  kommt  (die  ihn  veranlaßt,  sich  nach 
der  gereizten  Seite  zu  krümmen  und  dadurch  in  die  normale 
Lage  zurückzuschlagen)  —  spielen  eine  bloß  nebensächliche 
Rolle  im  Leben  des  Tieres.  Das  Innenleben  konzentriert  sich 
auf  ein  selbsttätiges  Hin-  und  Herschwingen  der  statischen  Er- 
regung, die  beim  Schwimmen  der  Quere  nach,  beim  Bohren 
der  Länge  nach  erfolgt.  Eine  solche  Loslösung  von  der  Außen- 
welt ist  nur  dann  angebracht,  wenn  die  Umgebung,  in  der 
das  Tier  lebt,  eine  äußerst  einförmige  ist  und  keinerlei  Wechsel 
zeigt,  dem  ein  so  einförmiges  und  unbeeinflußbares  Tier  ganz 
wehrlos  gegenüberstünde.  Der  Meeressand  bildet  eine  solche 
gleichförmige  Umgebung.  Da  das  Schwimmen  nur  ganz  aus- 
nahmsweise geschieht,  wird  auf  das  Wasser  mit  all  den  Ge- 
fahren, die  es  beherbergt,  keine  weitere  Rücksicht  genommen. 
Im  Meeressand  gibt  es  keine  Maulwürfe,  die  dem  Regenwurm 
des  Meeres  gefährlich  werden  könnten.  Seine  Feinde,  die 
Krabben  und  Krebse,  können  sich  wegen  der  Erstickungsgefahr 
nicht  so  tfef  in  den  Sand  hineinwagen,  und  die  anderen  Sand- 
bewohner sind  wie  die  Ringelwürmer  und  die  Herzigel  ganz 
harmlose  Nachbarn. 

So  erhält  das  Bewegungstier  im  Sipunculus  während  des 
größten  Teiles  seines  Daseins  keinerlei  Reize  und  besitzt  dann 
sozusagen  keine  Umwelt.  Daher  gleicht  der  Sipunculus  mehr 
als  alle  anderen  Tiere  einer  Dampfmaschine,  die  ja  auch  nur 
vom  Heizmaterial  abhängig  ist,  sich  im  übrigen  aber  um  die 
Eindrücke,  die  sie  erhält  oder  austeilt,  nicht  im  mindesten 
kümmert. 

Man  kann  daher  gespannt  darauf  sein,  welche  Art  von 
Seele  die  vergleichenden  Psychologen  dem  Sipunculus  zuschreiben 
werden. 


Der  Regenwurm.  155 

Der  Regenwurm. 

Die  Gestalt  des  Regenwurms  ist  jedermann  bekannt.  Sie 
liefert  uns  die  Anschauung,  die  wir  der  Vorstellung  ,,wurm- 
förmig"  ganz  allgemein  zugrunde  legen.  Eine  sehr  langgestreckte 
Walze,  die  an  beiden  Enden  zugespitzt  ist,  so  zergliedert  man 
für  gewöhnlich  die  Form  des  Wurmes.  Die  vordere  Spitze 
trägt  den  Mund,  der  von  einer  feinen  muskulösen  Greifüppe 
überragt  wird.  Die  hintere  Spitze,  an  der  der  Darm  endigt, 
ist  meist  ein  wenig  gekrümmt.  Die  Walze  besteht  aus  hundert 
bis  zweihundert  Ringen  einer  inneren  Segmentierung  ent- 
sprechend, die  sowohl  am  Darm  wie  am  Nervensystem  aus- 
gebildet ist.  Von  den  Muskeln  sind  nur  die  Ringmuskeln 
segmental  angeordnet,  während  vier  Längsmuskelbänder  un- 
gegliedert durch  den  ganzen  Wurm  von  vorne  nach  hinten 
ziehen. 

Die  Muskulatur  bildet  den  Mantel,  der  die  übrigen  Organe 
umschheßt  und  dem  Tiere  seine  im  Leben  wechselnden  Formen 
verleiht.  Die  Ringmuskeln  sind  in  der  Vorderhälfte  viel  stärker 
ausgebildet  als  weiter  nach  hinten  zu,  weil  sie  zur  Lang- 
streckung des  Vorderendes  beim  Tasten  dienen  müssen.  Die 
Muskulatur  ist  von  der  Haut  umldeidet,  welche  reichlichen 
Schleim  produziert,  damit  das  Tier  stets  schlüpfrig  bleibe. 
Spärhche  Borsten  stehen  in  vier  Längsreihen  über  den  Zwischen- 
räumen der  Längsmuskeln.  Die  Borsten  sollen  verstellbar  sein 
und  je  nach  der  Gangrichtung  nach  vorne  oder  nach  hinten 
gerichtet  werden. 

Das  Nervensystem  ist  in  der  Mittellinie  der  Bauchseite 
gelegen  und  bildet  eine  lange  Kette  von  Doppelganglien,  die 
den  Segmenten  entsprechen.  Am  Vorderende  bildet  sich  wie 
gewöhnlich  ein  nervöser  Ring  aus,  der  den  Schlund  umfaßt 
und  sowohl  über  wie  unter  dem  Schlünde  ein  paar  größere 
Ganglien  trägt. 

Bemerkenswert  ist  der  muskulöse  Schlundkopf,  der  bis  an 
das  Vorderende  vorgeschoben  und  zurückgezogen  werden  kann. 
Er  bildet  eine  Art  innerlichen  beweglichen  Stempel.  Die 
übrigen  Organe,  besonders  den  sehr  komplizierten  Darm,  über- 
gehen wir,  weil  sie  nicht  unmittelbar  in  das  Bewegungsleben 
des  Tieres  eingreifen. 


256  ^^^  Regenwurm. 

Über  die  normalen  Gehbewegungen  des  Regenwurmes  sind 
wir  durch  Friedländer  und  Biedermann  eingehend  unter- 
richtet worden.  Immer  beginnt  die  Vorderspitze  mit  einer 
Ringmuskelkontraktion,  die  das  Vorderende  stark  verlängert. 
In  Ausnahmefällen  kann  die  Ringmuskelkontraktion  sich  bis  an 
das  Hinterende  hin  fortsetzen,  ehe  eine  Längsmuskelkontraktion 
eintritt.  Schneidet  man  einem  Wurm  den  Kopf  ab  und  zieht 
durch  das  neue  Vorderende  einen  Faden,  mit  dem  man  ihn  leise 
dehnt,  so  wird  diese  Dehnung  immer  reflektorisch  eine  Ring- 
muskelkontraktion auslösen,  die  dann  gleichfalls  von  vorne  nach 
hinten  weiterläuft.  Durch  die  Ringmuskelkontraktion  wird  der 
Leib  verlängert  und  die  Längsmuskeln  gedehnt,  die  alsdann 
gleichfalls  mitzuarbeiten  beginnen.  Meist  setzen  sie  bereits  ein, 
bevor  die  Ringmuskelkontraktion  weit  nach  hinten  geeilt  ist. 
Dann  folgt  auf  die  Verdünnungswelle  der  Ringmuskeln  eine 
Verdickungswelle  der  Längsmuskeln.  Auf  der  Verdickungswelle 
lastet  der  Wurm.  Wenn  er  in  seiner  eigenen  Höhle  steckt, 
fassen  die  kleinen  Borsten  von  der  Verdickungswelle  allseitig 
an  die  Wand  gepreßt  fest  an  und  tragen  dazu  bei,  die  Reibung 
zu  erhöhen.  Beim  normalen  Kriechen  folgen  sich  mehrere 
Verdünnungs-  und  Verdickungs wellen  regelmäßig  miteinander 
abwechselnd.  Die  Verdünnungs  welle  wird  durch  eine  reflek- 
torisch im  Bauchstrang  erzeugte  Erregung  hervorgerufen.  Diese 
Erregung  fließt,  wenn  sie  vorne  begonnen,  den  ganzen  Bauch- 
strang entlang  nach  hinten  ab.  Der  Ablauf  der  Erregung  wird 
dadurch  unterstützt,  daß  der  Zug,  den  die  vorwärts  schreiten- 
den Partien  des  Wurmes  auf  die  hinteren  ausüben,  immer  von 
neuem  reflektorische  Ringmuskelkontraktionen  erzeugt. 

Dies  kann  dadurch  bewiesen  werden,  daß  man  einen  Wurm 
in  zwei  Hälften  zerlegt  und  sie  dann  mit  einem  Bindfaden  an- 
einander bindet.  Dann  erzeugt  die  vordere  marschierende  Hälfte 
mittels  des  Zuges  des  Bindfadens  einen  genügenden  Reiz  in 
der  zweiten  Hälfte,  um  hier  reflektorisch  eine  Verdünnungs- 
weUe  hervorzurufen,  die  gleichfalls  von  vorne  nach  hinten  ab- 
läuft. Andererseits  konnte  auch  bewiesen  werden,  daß  der 
Bauchstrang  allein  genügt,  um  die  Erregungswelle  von  vorne 
nach  hinten  zu  leiten.  Aach  hier  sehen  wir,  wie  so  oft  zwei 
Faktoren  im  gleichen  Sinne  wirken,  um  das  planmäßige  Resultat 
möglichst  sicher  zu  stellen. 


Der  Regenwurm.  157 

Es  ist  die  Frage,  ob  die  zweite  und  die  folgenden  Ver- 
dünnungswellen, die  beim  Gehen  vorne  entstehen,  immer  eines 
neuen  Reizes  bedürfen  oder  ob  die  in  den  Ringmuskeln  durch 
die  Verdickungswelle  erzeugte  Dehnung  nicht  allein  ausreicht, 
um  nach  dem  allgemeinen  Erregungsgesetz  ihre  Tätigkeit  aus- 
zulösen. 

Nur  der  Reiz  des  sanften  Zuges  ist  imstande,  Ring- 
muskelkontraktion zu  erzeugen.  Jeder  stärkere  mechanische 
Reiz,  wie  Stich  oder  Schnitt,  ruft  Längsmuskelkontraktion  an 
der  getroffenen  Stelle  hervor  und  außerdem  eine  Ringmuskel- 
kontraktion an  dem  Vorderende  des  Wurms,  die  eine  neue 
Gangperiode  einleitet.  Es  muß  sich  daher  am  vorderen  Ende 
des  Bauchstranges  ein  Erregungstal  befinden,  wie  wir  es  bei 
Sipunculus  kennen  lernten.  Denn  jede  mechanische  Reizung 
des  Tieres  in  seinem  ganzen  Verlaufe  erzeugt  immer  eine  Ver- 
dünnungswelle am  Vorderende. 

Wie  werden  sich,  nachdem  was  wir  jetzt  wissen,  die  beiden 
Hälften  eines  durchschnittenen  Regenwurms  benehmen?  An 
der  Schnittstelle  herrscht  beiderseits  heftige  lokale  Längsmuskel- 
kontraktion, in  der  vorderen  Hälfte  außerdem  noch  eine  Ring- 
muskelkontraktion, welche  die  normalen  Gehbewegungen  einleitet 
und  die  lokale  Kontraktion  der  Längsmuskeln  überwindet.  An  der 
hinteren  Hälfte  fehlt  diese  Korrektur  und  die  erregten  Längs- 
muskelbündel  werden  abwechselnd  sich  und  die  Ringmuskeln 
dehnen.  Die  gedehnten  Muskeln  werden  darauf  mit  Kontraktion 
und  Kontradehnung  antworten.  Auf  diese  Weise  entsteht  aber 
keine  geordnete  Bewegung,  sondern  das  charakteristische  Win- 
den des  Wurms. 

Auch  der  Wurm  krümmt  sich,  wenn  er  getreten  wird,  sagt 
ein  bekanntes  Sprichwort.  Man  hat  immer  im  Winden  des 
Wurmes  wenn  nicht  ein  Zeichen  des  Zornes,  so  doch  des 
Schmerzes  sehen  wollen,  bis  Norman  auf  das  verschiedene 
Verhalten  der  beiden  Hälften  eines  geteilten  Regenwurms  auf- 
merksam machte  und  darauf  hinwies,  daß,  wenn  eine  Hälfte 
von  Rechts  wegen  Schmerz  empfinden  sollte,  es  die  vordere  sein 
müßte,  die  das  Hirn  beherbergt.  Nun  läuft  aber  gerade  diese 
Hälfte  ruhig  davon,  als  ob  nichts  passiert  wäre.  Jennings 
versucht  diesen  Einwand  zu  widerlegen,  indem  er  das  Winden 
der   hinteren  Hälfte   als    eine   beschleunigte  Fortbewegung  an- 


•[qQ  Der  Regenwiirm. 

sieht,  die  aber  nur  in  der  engen  Höhle  des  Wurmes  zu  ersprieß- 
licher Wirksamkeit  gelangen  könne.  Mir  scheint  die  Bewegung 
der  hinteren  Wurmhälfte  eine  gänzHch  unkoordinierte  und 
zwecklose  zu  sein.  Sie  wird  aber  sofort  koordiniert  und  plan- 
mäßig, wenn  man  sie  nach  dem  Vorgange  Friedländers  an 
die  vordere  Hälfte  anbindet.  Die  Frage  nach  der  Empfindung 
des  Wurmes  läßt  man  lieber  unerörtert,  denn  man  sieht,  zu 
welchen  Paradoxen  man  sofort  gelangt. 

Der  Regenwurm  lebt  in  einer  selbst  verfertigten,  kanalartigen 
Höhle,  deren  Wände  ringsum  mit  Exkrementkügelchen,  die 
durch  Schleim  miteinander  verklebt  sind,  verschmiert  werden. 
Diese  unebenen,  aber  doch  nicht  rauhen  Flächen  gestatten  ihm, 
mit  Leichtigkeit  auf-  und  abzugleiten,  denn  sie  geben  ihm  den 
nötigen  Halt  ohne  seine  Haut  zu  verletzen.  In  seiner  Röhre 
muß  der  Wurm  vorwärts  wie  rückwärts  schlüpfen.  Es  ist  in 
der  Tat  möglich,  den  Regenwurm  durch  einen  starken  Reiz  am 
Vorderende  zu  antiperistaltischen  Bewegungen  zu  veranlassen. 
Dann  beginnt  eine  Reihe  von  Verdünnungswellen  am  Hinter- 
ende und  läuft,  während  der  Wurm  nach  hinten  kriecht,  zur 
vorderen  Spitze  hin.  Es  muß  also  auch  am  Hinterende  ein 
zweites,  wenn  auch  unbedeutendes  Erregungstal  vorhanden  sein, 
das  nur  selten  in  Aktion  tritt. 

Am  Grunde  der  Röhre  befindet  sich  eine  kleine  Erweite- 
rung, die  dem  Regenwurm  Gelegenheit  bietet,  sich  umzudrehen, 
wenn  er  behufs  der  Defäkation  mit  dem  Hinterende  aus  der 
Röhre  hinausragen  muß.  Die  peristal tische  Bewegungsart  ist 
keineswegs  auf  den  Regenwurm  beschränkt.  Alle  drehrunden 
Würmer,  die  in  engen  Kanälen  wohnen,  bewegen  sich  stets 
auf  diese  Weise.  Überall  passen  Wohnort  und  Bewegungsart 
genau  zusammen. 

Aber  die  Bewegungsmittel  der  Verdünnungs-  und  Ver- 
dickungs wellen  sind  nicht  die  einzigen,  deren  der  Regenwurm 
fähig  ist.  Es  ist  zwar  nur  einmal  eine  andere  Bewegungsart 
beobachtet  worden,  aber  von  einem  so  zuverlässigen  Forscher, 
daß  darüber  kein  Zweifel  walten  kann.  Ich  setze  die  merk- 
würdige Beobachtung,  die  H.  Eisig  mitteilt,  mit  seinen  Worten 
hierher. 

,,Als  ich  früh  an  einem  Herbstmorgen  im  erwähnten  Garten 
an  einem  abgeräumten  Gemüsebeet  vorbeiging,  wurde  plötzlich 


Der  Regenwurm.  ]^59 

meine  Aufmerksamheit  durch  ein  Geräusch  auf  dieses  Beet  ge- 
lenkt, und  da  sah  ich  eine  ca.  20  bis  30  cm  lange  Lumbricide 
mit  einer  Geschwindigkeit  sich  fortbewegen,  die  mit  der  sonst 
diesen  Tieren  eigentümhchen  ziemlich  trägen  Kriechbewegung 
seltsam  kontrastierte.  Diese  Fortbewegung  war  eine  undula- 
torische,  aber  es  handelte  sich  nicht  um  die  für  die  Polycheten 
typische  laterale,  sondern  vertikale  Undulation.  Wenn  ich  mich 
recht  erinnere,  waren  ca.  drei  Bögen  zu  zählen,  also  sehr  lange 
und  steile  Bögen,  welche  an  die  hohen  Schleifen  der  spamier- 
raupenähnhchen  Bewegung  erinnerten.  Dicht  hinter  dem  Wurme 
kam  aber  aus  demselben  Erdloch  ein  Maulwurf  hervor,  und 
trotz  seines  mehrere  Meter  betragenden  Vorsprunges  wurde 
ersterer  vom  letzteren  eingeholt,  gepackt  und  verspeist,  und 
zwar  vor  meinen  Augen.  Erst  nachdem  er  seine  Beute  ver- 
schluckt hatte,  zog  sich  der  Maulwurf  wieder  in  seine  Galerie 
zurück.  Kurz  bevor  dies  aber  geschah,  war  eine  zweite  Lum- 
bricide von  ungefähr  derselben  Größe  und  wohl  von  derselben 
Art  in  ebenso  rascher  vertikaler  Undulation  erschienen  und 
hinter  ihr  her  auch  ein  zweiter,  aber  im  Gegensatz  zum  ersten 
ausgewachsenen,  sehr  jugendlicher  (etwa  halb  so  großer)  Maul- 
wurf. Und  in  diesem  Falle  gelang  es  der  Lumbricide  dank 
ihrer  raschen  Bewegung  zu  entkommen;  denn  der  Verfolger, 
welcher  offenbar  ihre  Spur  verloren  hatte,  geriet  weit  von  ihr 
ab  in  ein  benachbartes  mit  Salat  bepflanztes  Beet.  Er  ließ 
mich  ganz  nah  herankommen  und  nahm  die  von  mir  inzwischen 
eingefangene  Lumbricide  aus  der  Hand  und  verschlang  sie." 

In  diesem  interessanten  Fall  hatten  die  Regenw^ürmer  ihre 
gesamten  Ringmuskeln  in  dauernde  Kontraktion  versetzt  und 
ließen  die  Längsmuskeln  der  Ober-  und  Unterseite  paarweis 
gegeneinander  spielen.  Ganz  dasselbe  haben  wir  beim  Sipun- 
culus  gesehen,  der  auch  auf  diese  Weise  vom  Kriechen  zum 
Schwimmen  übergeht.  Wir  werden  beim  Blutegel  ein  ähnliches 
Umspringen  der  einen  Bewegungsart  in  die  andere  kennen  lernen. 
Nur  ist  beim  Blutegel  dies  bereits  zu  einer  dauernden  Ein- 
richtung gev/orden.  Aus  der  Zergliederung  der  Gehbewegungen 
des  Regenwurmes  sieht  man,  wie  wenig  die  anatomische  Seg- 
mentierung des  Zentralnervensystems  mit  den  physiologischen 
Leistungen  zu  tun  hat.  Nur  die  Lagerung  der  Repräsentanten 
entspricht    insofern   der  Segmentierung,    daß  alle  Muskelfasern 


1  (30  ^^^  Regenwurm. 

eines  Segmentes  ihre  Repräsentanten  im  gleichen  Segment  des 
Bauchstranges  sitzen  haben.  Aber  das  allgemeine  Netz,  das 
von  vorne  nach  hinten  den  ganzen  Bauchstrang  durchzieht, 
zeigt  ganz  andere  Einteilungen.  Es  ist  besonders  für  eine  leichte 
Verbindung  zwischen  den  Repräsentanten  der  Ringmuskeln  ge- 
sorgt, denn  sonst  könnte  die  Erregung  nicht  mit  so  großer 
Leichtigkeit  von  vorne  nach  hinten  laufend  immer  nur  die 
Ringmuskeln  in  Tätigkeit  versetzen.  Erst  nachdem  die  Längs- 
muskeln durch  die  Kontraktion  der  Ringmuskeln  gedehnt  und 
erschlafft  sind,  tritt  die  Erregung  auch  zu  ihnen.  Außer  dieser 
Verbindung  mit  dem  allgemeinen  Netz  müssen  die  Repräsen- 
tanten der  Längsmuskeln  noch  eigene  direkte  Bahnen  besitzen. 
Denn  es  treten  nicht  selten  Zuckungen  auf,  die  nur  von  den 
Längsmuskeln  ausgeführt  werden  und  die  zu  einem  blitzartigen 
Zurückschnellen  des  Vordertieres  führen.  Ferner  müssen  die 
Repräsentanten  der  Längsmuskeln  mit  den  zunächstliegenden 
Rezeptoren  in  besondere  Verbindung  gebracht  sein,  da  jede 
stärkere  Hautreizung  immer  nur  mit  einer  lokalen  Längsmuskel- 
kontraktion beantwortet  wird.  Bei  der  Flucht  vor  dem  Maul- 
wurf ist  eine  so  große  Erregung  im  ganzen  Nervensystem  vor- 
handen, daß  die  Ringmuskeln  dauernd  in  Tätigkeit  bleiben  und 
die  noch  übrige  Erregung  rhythmisch  zwischen  den  Längs - 
muskeln  nach  dem  Erregungsgesetz  hin  und  her  schwankt. 

Die  Repräsentanten  aller  Muskeln  sitzen  im  Bauchstrang, 
denn  sobald  der  Bauchstrang  entfernt  wird,  hört  jede  Bewegung 
der  Muskeln  in  den  zugehörigen  Segmenten  auf.  Die  Bewegung 
des  Hautmuskelschlauches  auf  Dehnung,  die  Straub  beobachtete, 
ist  wohl  mit  den  Bewegungen  des  Hautmuskelschlauches  des 
Sipunculus  bei  wechselnder  Dehnung  identisch. 

Es  bietet  demnach  das  Zentrahiervensystem  des  Regen- 
wurmes wohl  einige  ihm  eigentümliche  Verbindungen  der  zen- 
tralen Netze  unter  sich  und  mit  den  Rezeptoren  aber  keine 
prinzipiellen  neuen  Einrichtungen.  Alle  bisher  betrachteten 
Bewegungen  lassen  sich  auf  die  bekannten  Gesetze  beim  Fließen 
der  Erregung  in  einfachen  Netzen  mit  einem  oder  zwei  Er- 
regungstälern zurückführen. 

Beim  Einbohren  in  den  Erdboden  kommen  noch  weitere 
Einrichtungen  zum  Vorschein.  Das  sind  vor  allem  die  Be- 
wegungen des  Schlundkopfes,  der  gleich  einem  inneren  Stempel 


Der  Regenwurm.  161 

hin  und  her  fliegt  und  dabei  die  Erde  ringsum  wegdrängt.  Diese 
Art  des  Einbohrens  ist  aber  nur  möghch,  wenn  die  Erde  einiger- 
maßen locker  ist.  Bei  zugestampftem  Boden  bleibt  dem  Wurm 
nichts  anderes  übrig,  als  sich  in  die  Erde  hineinzufressen,  was 
freihch  über  24  Stunden  in  Anspruch  nehmen  kann.  Eine  be- 
sondere Bewegungsart  wird  beim  Tasten  angewandt,  das  nur 
mit  dem  Vorderkörper  geschieht.  Die  vorderste  Spitze  dient 
als  Rezeptor  für  den  Berührungsreiz.  Dieser  Tangorezeptor 
wird  durch  Rings-  und  Längsmuskelbewegung  an  den  Gegen- 
ständen entlang  geführt  und  vermag  die  Formen  der  Gegen- 
stände in  beschränktem  Maße  zu  unterscheiden.  Bevor  ^vir  auf 
dieses  interessante  Kapitel  eingehen,  haben  wir  noch  kurz  die 
anderen  Reizwirkungen  zu  betrachten. 

Ein  tastender  langgestreckter  Vorderkörper,  der  nach  links 
gebogen  ist,  wird,  wie  Jennings  berichtet,  auf  jeden  Be- 
rührungsreiz, einerlei  wo  dieser  ansetzt,  nach  rechts  schlagen  und 
umgekehrt.  Es  verhält  sich  also  der  gestreckte  Wurm  neuen 
Erregungen  gegenüber  genau  so  wie  der  Arm  eines  Schlangen- 
sternes, d.  h.  es  fließt  die  Erregung  den  am  meisten  gedehnten 
Längsmuskeln  zu.  Es  ist  möglich,  daß  auch  der  Lichtreiz 
ähnlich  wirkt,  denn  alle  Versuclie  über  Photorezeption  haben 
bisher  keine  befriedigende  Antwort  auf  die  Frage  gegeben,  ob 
der  Regenwurm  durch  das  Licht  bloß  gereizt  oder  auch  ge- 
richtet wird.  Sichergestellt  ist  nur,  daß  die  meisten  Würmer, 
wenn  sie  bei  Nacht  aus  ihrer  Höhle  hervorschauen,  auf  Be- 
leuchtung sich  zurückziehen,  manche  blitzschnell,  manche  lang- 
sam. Sind  sie  aber  zur  Zeit  mit  Fressen  oder  Bauen  der  Röhre 
beschäftigt,  so  bleiben  sie  für  den  Lichtreiz  völlig  refraktär. 
Es  scheint  ferner,  daß  die  Lichtstärke  des  Mondlichtes  sie  aus 
den  Höhlen  hervorlockt,  während  das  intensive  Sonnenlicht  sie 
zurücktreibt. 

Interessant  ist  auch  festzustellen,  daß,  wenn  ein  Regen- 
wurm, der  geradeaus  fortschreitet,  an  der  Spitze  von  einem 
Reiz  getroffen  wird,  zurückfährt,  still  steht,  sich  seitlich  wendet 
und  dann  in  einer  neuen  Richtung  vorwärts  kriecht,  also  alle 
Phasen  des  Motorreflexes  von  Paramaecium  wiederholt. 

Das  Witterungsvermögen  des  Regenwurmes  ist  nicht  un- 
bedeutend, denn  er  findet  vergrabene  Kohl-  oder  Zwiebelblätter 
mit    Sicherheit,    wenn    der    Erdboden    locker    ist.      Der    ganze 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  11 


1Q2  I^®^  Regenwurm. 

Körper  ist  sehr  empfindlich  für  Salze.  So  findet  man,  daß  ein 
Regenwurm,  den  man  mit  nur  einem  kleinen  Klümpchen  Erde 
auf  trockenen  Seesand  gesetzt  hat,  den  Erdklumpen  nicht  mehr 
verläßt.  Sehr  ausgebildet  sind  spezielle  Gusto-Rezeptoren,  das 
sind  sehr  speziaUsierte  chemische  Rezeptoren,  die  bei  der 
Nahrungsaufnahme  in  Funktion  treten.  Beim  Regenwurm 
spielen  sie  noch  eine  besondere  Rolle,  indem  sie  es  ihm  er- 
leichtern, die  Form  der  Blätter  zu  unterscheiden. 

Und  nun  wenden  wir  uns  der  bedeutungsvollen  Frage  zu, 
welche  Gegenstände  der  Umgebung  vermag  der  Regenwurm  in 
seine  Umwelt  aufzunehmen?  Charles  Darwin  hat  in  seinem 
schönen  Buche  über  die  Bildung  der  Ackerkrume  auch  die 
merkwürdige  Fähigkeit  der  Regenwürmer  Formen  zu  unterscheiden, 
aufmerksam  gemacht,  und  Elise  Hanel  hat  die  von  Darwin 
angestellten  Versuche  auf  das  glücklichste  weitergeführt. 

Die  Regenwürmer  hegen  tagsüber  mit  dem  Vorderende 
nahe  der  Öffnung  ihrer  Höhle.  Die  Mündung  der  Höhle  ver- 
stopfen sie  zu  ihrem  Schutz  mit  allem  umhegenden  losen 
Material,  am  liebsten  mit  Blättern,  aber  auch  mit  Federn  oder 
Steinchen.  Die  Blätter  werden  an  ihrem  Rande  mit  der  Lippe 
gefaßt  und  in  die  Höhle  gezogen  bis  die  Mündung  vollgestopft 
ist.  Die  Steinchen  werden  ergriffen,  indem  erst  die  Lippe  sich 
fest  andrückt,  wobei  der  Schlundkopf  vorgeschoben  ist.  Dann 
wird  der  Schlundkopf  zurückgezogen.  Dadurch  entsteht  ein 
luftleerer  Raum  vor  dem  Munde  und  nun  vermag  der  Regen- 
wurm mit  seinem  in  einen  Saugnapf  verwandelten  Vorderende 
die  kleinen  Steinchen  beliebig  zu  versetzen.  Um  die  Form  der 
Steinchen  kümmert  sich  der  Regenwurm  nicht.  Sie  werden  in 
unregelmäßigen  Häufchen  vor  die  Höhle  gelagert. 

Mit  den  Blättern  verhält  es  sich  schon  anders,  denn  diese 
werden  bis  in  die  Höhle  hineingezogen.  Nun  ist  es  ohne  weiteres 
verständlich,  daß  ein  herzförmiges  Lindenblatt,  wenn  es  am 
Stiel  gepackt  wird,  nicht  in  die  enge  Höhle  hineingeht.  Wird 
es  dagegen  an  der  Spitze  gefaßt,  so  rollt  es  sich  ohne  Schwierig- 
keit zusammen,  während  es  die  Mündung  der  Höhle  passiert. 
Tatsächhch  ergreifen  die  Regenwürmer  alle  Lindenblätter  aus- 
nahmslos an  ihrem  Vorderrand  nahe  der  Spitze.  Elise  Hanel 
konnte  zeigen,  daß  bei  diesem  Vorgehen  die  Regenwürmer  von 
einem  chemischen  Reize  geleitet  werden.    Denn  wenn  man  mit 


Der  Regenwurm.  163 

der  Schere  ein  Lindenblatt  derart  herzförmig  zuschneidet,  daß 
die  Herzspitze  nach  dem  Stengel  zu  sieht,  so  wird  nicht  die 
neue  Herzspitze  erfaßt,  sondern  die  neue  Herzbasis,  d.  h.  eine 
der  Form  nach  ganz  ungeeignete  Stelle.  Beim  Lindenblatt 
spielt  also  die  Form  keine  Rolle. 

Nimmt  man  dagegen  zwei  aneinanderhängende  Kiefernadeln, 
die  vom  Regenwurm  immer  an  der  Basis  gepackt  w^erden,  und 
bindet  sie  mit  einem  Faden  zusammen,  so  w^erden  sie  immer 
noch  an  der  Basis  ergriffen,  obgleich  jetzt  für  das  Einführen 
beide  Enden  gleich  gut  geeignet  sind.  Schneidet  man  aber 
eine  Nadel  von  der  Basis  ab,  die  man  an  der  anderen  Nadel 
läßt,  so  wird  nicht  mehr  die  Basis  gepackt,  sondern  die  zu- 
sammengebundenen Spitzen.  Hierbei  tritt  die  Wirkung  der 
Form  deutlich  zutage,  die  sogar  den  chemischen  Reiz,  der 
von  der  Basis  ausgeht,  über^^dndet. 

Noch  überzeugender  sind  die  Versuche  mit  Papierschnitzeln, 
denen    man    die    Form    eines    gleichschenkligen    Dreieckes    mit 
kurzer  Basis    und  langen  Schenkeln   gegeben   hat.     Stets  wird 
von  den  Regenwürmern  die  zwischen  den  beiden  langen  Schen- 
keln gelegene  Spitze  als  Angriffspunkt  gewählt,  und  zwar  ohne 
Herumprobieren,    sondern    mit    großer    Sicherheit    nach    einem 
bloßen  Abtasten  des  Dreieckes.     Hanel   schreibt  zur  Deutung 
dieser  Vorgänge:     ,, Bleibt    uns    nichts    anderes    übrig,    als   den 
Vorgang    in    eine    Kette    einfacher    Reize    aufzulösen.      Stellen 
wir  uns  vor,  daß  die  drei  Spitzen  eines  Dreieckes,  gleichgültig 
ob   sie   alle   untereinander  verbunden  sind  wie  bei  den  Papier- 
stückchen   oder    teilweise    wie    bei   den   Kiefemadeln,    bei   der 
Bewegung    eines    Regenwurmes     in    gewissen    Abständen    oder 
Zeiträumen  seinen  Körper  berühren  und  so,  einander  sukzessive 
folgend,  kombiniert  auf  ihn  w  irken.    Nimmt  man  jede  Strecke, 
die  der  Wurm  von  einer  Ecke,  resp.  Spitze  zur  anderen  zurück- 
legt, als  einfachen  Reiz  an,    so  kann  man  sich  vorstellen,  daß 
es  die  verschiedene  Kombination  in  der  Aufeinanderfolge  dieser 
einfachen  Reize    ist,    die   den   verschiedenen  Effekt   hervorruft. 
Wenn  wir  den  Reiz,   welcher  ausgeübt  wird,    wenn  der  Wurm 
an  der  Langseite  eines  Dreieckes  kriecht:  a,  und  diejenigen,  die 
durch   Kriechen    an  der  kurzen  Seite  bewirkt  wird:  b  nennen, 
so  können  wir  uns  vorstellen,  daß  die  Reize  in  der  Aufeinander- 
folge:   b  -f-  Spitze  -f-  a  -|-  Spitze  den  Reflex  des  Hineinziehens 

11* 


\ß^  Der  Regenwurm. 

auslösen,  was  dann  natürlich  zur  Folge  hat,  daß  nur  das 
spitzeste  Ende  erfaßt  wird.  Hingegen  würden  die  Reize  in 
der  Aufeinanderfolge :  a  -[-  Spitze  -|-  b  -[-  Spitze  in  den  meisten 
Fällen  gar  keinen  oder  nur  einen  Hemmungsreiz  ausüben,  der 
Effekt  wird  also  der  negative  des  Nichteinziehens  sein." 

So  außerordentlich  dankenswert  es  auch  ist,  daß  die  Ver- 
fasserin sich  von  jeder  psychologischen  Deutung  ferngehalten 
hat,  die  von  Darwin  noch  ohne  jedes  Bedenken  angewandt 
wurde,  so  kann  doch  die  von  ihr  ausgeführte  Analyse  des  Vor- 
ganges nicht  als  beendet  angesehen  werden,  solange  bloß  die 
Zustände  der  Umgebung  in  Rechnung  gezogen  werden  ohne 
Rücksicht  auf  die  rezeptorischen  Organe  des  untersuchten  Tieres. 
Ein  Vorgang  in  der  Außenwelt  wird  erst  durch  seine  physio- 
logische Wirkung  auf  den  Rezeptor  zum  Reiz,  sonst  bleibt  er 
ein  bloßer  physikahscher  Faktor.  So  kann  eine  zurückgelegte 
Strecke  nicht  als  Reiz  angesprochen  werden.  Nur  die  Muskel- 
bewegung, die  der  Wurm  ausübt,  um  diese  Strecke  abzutasten, 
kann  man  unter  Umständen  als  Reiz  deuten.  Es  ist  freilich 
für  die  niederen  Tiere  überhaupt  nicht  bewiesen,  ob  ihre  eigenen 
Bewegungen  zu  Reizen  werden  können.  Bei  den  Medusen  ist 
sogar  ein  besonderer  Rezeptor,  der  von  der  Bewegung  erregt 
wird,  eingefügt,  offenbar  weil  die  Bewegung  der  Muskeln  nicht 
direkt  als  Reiz  auf  das  zentrale  Netz  zu  wirken  vermag.  Aber 
für  den  Regenwurm  möge  fürs  erste  angenommen  werden,  daß 
seine  eigenen  Bewegungen  ihm  als  Reiz  dienen. 

Auch  die  Spitze  ist  an  sich  kein  Reiz,  sondern  nur  ihre 
Wirkung  auf  den  Tastapparat.  Die  Spitze  wirkt  nach  der 
Darstellung  von  Elise  Hanel  nicht  auf  die  Muskeln,  sondern 
auf  den  Tangorezeptor.  Demnach  würde  die  Hanelsche  Reiz- 
kette ins  Physiologische  übersetzt  folgendermaßen  lauten:  Schwa- 
cher Muskelreiz  -(-  Tangoreiz  -|-  starker  Muskelreiz  -f-  Tangoreiz 
gebe  eine  wirksame  Reizkombination.  Wie  sollen  wir  uns 
diesen  Vorgang  im  Zentrum  weiter  vorstellen? 

Apparate,  die  die  Fähigkeit  haben,  verschiedene  aufeinander- 
folgende Reize  aufzunehmen,  können  wir  uns  nur  anschaulich 
machen,  indem  wir  für  jeden  Reiz  eine  gesonderte  räumlich 
getrennte  Aufnahmeeinrichtung  annehmen.  Es  müßte  also  im 
Zentralnervensystem  des  Wurmes  ein  Komplex  von  vier  Zentren 
vorhanden    sein,    entsprechend    den    vier    wirksamen    Reizen. 


Der  Regenwurm.  165 

Diese  vier  Zentren  müssen  außerdem  in  bestimmter  Reihenfolge 
im  Raum  nebeneinanderliegen,  damit  nur  die  richtige  Reihen- 
folge der  Reize  den  Zentrenkomplex  in  Erregung  versetzen 
kann.  Mit  anderen  Worten:  die  Hanelsche  Reizkette  verlangt 
die  Annahme  eines  entsprechenden  räumhchen  Schemas  im 
Zentralnervensystem. 

Die  Frage  nach  dem  Vorhandensein  räumlicher  Schemata 
im  Zentralnervensystem  ist,  wie  wir  später  sehen  werden,  von 
grundlegender  Wichtigkeit  für  den  Aufbau  des  Gehirnes  aller 
höheren  Tiere.  Erst  wenn  äußere  Formverhältnisse  durch  innere 
räumliche  Verhältnisse  wiedergespiegelt  werden,  kann  man  im 
strengen  Sinne  vom  Vorhandensein  von  Gegenständen  in  der 
Umwelt  eines  Tieres  reden.  Nun  gibt  es  ein  Raum  Verhältnis, 
das  bei  allen  bilateralen  Tieren  mit  Sicherheit  unterschieden 
wird,  das  ist :  ,, Links"  und  „Rechts".  Überall  findet  sich 
eine  Teilung  der  höheren  GangHen  in  eine  linke  und  rechte 
Hälfte,  und  bei  allen  einfacheren  Tieren  nimmt  das  Unke  Gang- 
lion alle  rezeptorischen  Fasern  der  linken  HäKte  auf  und  das- 
selbe tut  die  rechte  Hälfte. 

Wenn  ein  Regenwurm  einem  Papierschnitzel  entlang  tastet, 
das  mit  einer  Spitze  zu  ihm  sieht,  so  wird  er  die  eine  Kante 
mit  der  hnken  Seite  der  Lippe  berühren,  die  andere  mit  der 
rechten.  Dadurch  sind  die  beiden  Kanten  sicher  unterschieden. 
Es  braucht  jetzt  nur  die  Dauer  der  Reizung  des  Tastorganes 
durch  eine  Intensitätssteigerung  sich  dem  Zentralnervensystem 
kundzutun,  um  so  die  Unterscheidung  der  langen  Kante  von 
der  kurzen  Kante  durchzuführen.  Daß  diese  auf  das  Mindest- 
maß reduzierte  Erklärungs weise  genügt,  will  ich  durchaus 
nicht  behaupten.  Die  Entscheidung  können  nur  neue  Versuche 
bringen.  Aber  auch  in  diesem  allereinfachsten  Falle  sehen 
wir,  daß  mindestens  zwei  räumhch  getrennte  Zentren,  eines 
auf  der  Unken  und  das  andere  auf  der  rechten  Hemisphäre, 
nötig  sind  zur  Unterscheidung  der  Form.  Daher  werden  wir 
dem  Zentralnervensystem  des  Regenwurmes  die  Existenz  rudi- 
mentärer Schemata  nicht  abstreiten  dürfen. 

Wir  haben  noch  einen  Blick  auf  die  Lebensgewohnheiten 
der  Regenwürmer  zu  werfen,  welche  Darwin  so  anschauUch 
schüdert.  Zur  Nachtzeit  kommen  die  stülen  Tiere  aus  ihren 
Höhlen  heraus,  meist  bleiben  sie  mit  dem  gekrümmten  Schwanz- 


j[ßß  Der  Regenwurm. 

ende  in  der  Mündung  der  Höhle  eingehakt.  Wagen  sie  sich 
weiter  hinaus,  so  finden  sie  ihr  Haus  nicht  mehr  wieder,  son- 
dern müssen  sich  ein  neues  bauen.  Sie  nähren  sich  mit  Vor- 
liebe von  Kohlblättern.  Im  übrigen  sind  sie  aber  durchaus 
omnivor.  Sie  verspeisen  gerne  Speck  und  verschmähen  eigent- 
lich keine  Nahrung.  Eine  Haupttätigkeit,  die  ihre  große  Wir- 
kung auf  die  Bildung  der  Ackerkrume  erklärt,  besteht  im 
Verschlucken  der  Erde,  die  sie  dann  als  geringelte  Exkrement- 
kügelchen  vor  der  Mündung  ihrer  Höhle  deponieren.  Auch 
Kannibalismus  kommt  gelegentlich  vor,  denn  die  Regenwürmer 
verschmähen  es  nicht,  sich  an  toten  Kollegen  zu  vergreifen. 
Zum  Schutze  ihrer  zahlreichen  Feinde,  zu  denen  besonders  die 
Amseln  gehören,  verstopfen  sie  ihre  Höhlen.  Auch  schützt 
sie  der  Blätterwall  vor  dem  Eindringen  der  Hundertfüße,  die 
ihnen  sehr  gefährhch  sein  sollen.  Ebenso  haben  sie  eine  Fliege 
zu  fürchten,  die  ihre  Eier  unter  die  Haut  der  Regenwürmer 
legt,  damit  ihre  junge  Larve  immer  frisches  Fleisch  zur  Ver- 
fügung habe.  Schließhch  ist  der  Maulwurf  wohl  ihr  größter 
Feind  und  Vertilger,  der  wie  sie  unter  der  Erde  heimisch 
ist.  Trotz  dieser  großen  Zahl  von  Feinden,  denen  die  Regen- 
würmer wehrlos  preisgegeben  sind,  ist  ihre  Zahl  doch  ganz 
ungeheuer  groß  und  ihre  geographische  Verbreitung  fast  unbe- 
schränkt, soweit  der  Boden  nicht  salzig  ist.  Das  beweist,  wie 
gut  sie  trotz  allem  in  ihre  Umgebung  eingepaßt  sind.  Einmal 
ist  es  ihr  geschmeidiger  Bau,  der  es  ihnen  gestattet,  alle 
Schlumpf Winkel  auszunutzen,  der  sie  zu  so  hervorragend  geeig- 
neten Erdbewohnern  macht.  Dann  kommt  die  Fähigkeit  dazu, 
sich  eine  wohnliche  Höhle  in  die  Erde  fressen  zu  können. 
Das  beweist  auch  ihren  unstillbaren  Appetit.  Die  Leistungen 
des  Regenwurmdarmes  sind  geradezu  erstaunlich,  wenn  man 
die  Masse  unverdauUcher  Substanz  in  Betracht  zieht,  die  ihn 
dauernd  passiert.  In  der  Fähigkeit,  aus  dem  spärlichsten 
Erdboden  genügende  Nahrungsmittel  zu  gewinnen,  stehen  die 
Regenwürmer  konkurrenzlos  da.  Die  Auswahl  wirksamer  Fak- 
toren aus  der  Umgebung,  die  als  Reize  wirkend  die  dyna- 
mischen Erregungswellen  erzeugen,  bietet  dem  Verständnis 
keine  besonderen  Schwierigkeiten.  In  der  Innenwelt  des  Ner- 
vensystems ziehen  während  des  Gehens  die  statischen  Erregungen 
von    vorne   nach  hinten,   die  Repräsentanten  der  Ringmuskeln 


Der  Regenwurm.  167 

füllend ;  unterstützt  durch  die  von  der  leichten  Dehnung  reflek- 
torisch erzeugten  dynamischen  Wellen.  Hinten  angelangt, 
kehrt  die  statische  Erregung  durch  das  Netz  zum  Erregungs- 
tal am  Vorderende  zurück,  was  auch  alle  dynamischen  Wellen 
tun,  die  durch  irgendeinen  starken  Reiz  hervorgerufen  werden. 
Die  Längsmuskeln  werden  von  den  dynamischen  Wellen  nur 
lokal  erregt,  während  die  statische  Erregung  immer  in  ihre 
Repräsentanten  eintritt,  sobald  die  Längsmuskeln  durch  eine 
Ringmuskelkontraktion  gedehnt  worden  sind.  Auf  diese  Weise 
werden  die  Zwischenräume  zwischen  zwei  Verdünnungswellen 
stets  durch  eine  Verdickungswelle  ausgefüllt.  Diesem  sicht- 
baren Teil  des  Erregungskreislaufes,  der  von  vorne  nach  hinten 
zieht,  entspricht  ein  unsichtbarer,  der  von  hinten  nach  vorne 
geht.  So  erhalten  wir  das  Bild  eines  zu  seinem  Ursprung 
zurückkehrenden  Stromes.  Das  ist  ein  normaler,  durch  Muskel- 
kontraktionen unterstützter  Rhythmus,  der  keine  automatischen 
Eigenschaften  voraussetzt.  Denn  er  kann  durch  jeden  äußeren 
Einfluß  verändert  und  reguliert  werden.  Auch  fehlen  ihm  die 
Anzeichen  einer  echten  refraktären  Periode,  die  auf  die  An- 
wesenheit eines  Unterbrechers  schließen  ließe. 

Dieser  Art  von  Rhythmus,  der  aller  Beeinflussung  von 
außen  offen  bleibt,  gestattet  es,  einen  ausgebreiteten  Gebrauch 
von  Rezeptoren  zu  machen,  die  durch  neue  Erregungen  nütz- 
liche Abweichungen  in  der  Gangrichtung  hervorrufen.  Daher 
besitzt  der  Regenwurm  eine  viel  reichere  Umwelt  als  Sipun- 
culus.  Er  sucht  die  bescheidene  Helle  des  Mondes  und  flieht 
das  Licht  des  Tages.  Er  sucht  die  bekömmliche  Nahrung 
und  flieht  vor  den  Erschütterungen,  die  der  wühlende  Maul- 
wurf hervorruft.  Das  alles  geschieht  durch  lokale  dynamische 
Erregungen,  welche  von  den  Rezeptoren  aus  einfachen  Reizen 
erzeugt  werden.  Seinen  übrigen  Feinden  gegenüber  besitzt  der 
Regenwurm  nur  das  Hilfsmittel  des  Höhlenbaues.  Wir  haben 
gesehen,  wie  gerade  hierbei  die  ersten  höheren  Anlagen  seines 
Innenlebens  sich  kundtun,  die  dieses  kleine  Kunstwerk  bis 
an  die  Pforten  des  höheren  Tierreiches  bringen  und  in  seiner 
Umwelt  zum  erstenmal  etwas  Neues  neben  den  Reizen  ent- 
stehen lassen,  nämlich  die  Form. 


2gg  Die  Blutegel. 


Die  Blutegel. 

Der  Ehrgeiz  eines  jeden  Biologen  wird  stets  darauf  gerich- 
tet sein,  sein  Untersuchungsobjekt,  sei  es  ein  Organ  oder  ein 
ganzes  Tier,  in  seine  Grundfaktoren  zu  zerlegen,  um  aus  ihnen 
durch  eine  planvolle  Ordnung  das  Ganze  wenigstens  in  Ge- 
danken wieder  aufzubauen.  Der  Begriff  eines  Grundfaktors 
bedarf  einer  kurzen  Erläuterung.  Für  gewöhnlich  versteht  man 
unter  den  aufbauenden  Faktoren  eines  Tieres  seine  Organe. 
Nun  ist  der  Umfang  dessen,  was  wir  als  Organ  bezeichnen, 
ebenso  unsicher  wie  der  Begriff  des  Grundfaktors,  denn  wir 
nennen  sowohl  unsere  Arme  als  auch  die  in  ihnen  enthaltenen 
Muskeln  unsere  Organe.  Dahingegen  wird  die  einzelne  Muskel- 
zelle nicht  mehr  als  Organ  angesprochen.  Sicher  sind  aber 
alle  Zellen  Grundfaktoren  des  Tieres.  Eine  jede  Zelle  ist,  wie 
wir  wissen,  das  Produkt  des  Protoplasmas  und  besteht  außer 
dem  strukturlosen  Protoplasma  aus  einem  strukturierten  Teile, 
der  nicht  bloß  Nahrung  aufnimmt,  wächst  und  abstirbt,  d.  h. 
ein  Eigenleben  führt,  sondern  auch  eine  spezifische  Funktion 
ausübt,  die  dem  Ganzen  zugute  kommt.  Dank  ihrer  spezi- 
fischen Struktur  wird  die  Zelle  zu  einem  Grundfaktor  des  Tier- 
körpers, denn  die  spezifische  Struktur  verhilft  der  Zelle  zu 
einer  selbständigen  Leistung  zum  Nutzen  des  Ganzen.  Und 
von  einem  Grundfaktor  müssen  wir  verlangen,  daß  seine 
Leistungen  ihn  zu  einem  stelbständigen  GHede  im  Aufbau  des 
Ganzen  machen.  Nun  arbeiten  einzelne  Zellen  niemals  allein, 
sondern  bilden  mit  ihren  Artgenossen  eine  Vereinigung,  in  der 
sie  gemeinsam  ihre  Leistungen  ausüben.  Solche  funktionelle 
Vereinigungen  der  Zellen  nennt  man  Organe.  Auf  diese  ein- 
fachen Organe  oder  Gewebe,  die  aus  gleichartigen  Zellen  be- 
stehen, genügt  es  zurückzugreifen,  wenn  man  sich  ein  an- 
schauliches Bild  vom  Zusammenwirken  der  Grundfaktoren 
machen  will. 

Die  Blutegel  eignen  sich,  soweit  ihre  Geh-  und  Schwimm- 
bewegungen in  Betracht  kommen,  vortreffHch  zur  Zerlegung 
in  die  einfachen  Grundfaktoren.  An  erster  Stelle  stehen  natürlich 
die  Bewegungsorgane,  d.  h.  die  einzelnen  Muskelstränge.  Nun 
sind  die  Muskelstränge,  wenn  man  sie  für  sich  allein  betrachtet. 


Die  Blutegel.  169 

noch  keine  Grundfaktoren  des  Körpers.  Sie  besitzen  wohl  eine 
bestimmte  Leistung,  aber  diese  muß  erst  in  Beziehung  zum 
Ganzen  gebracht  werden,  ehe  sie  ihre  Funktion  ausüben  kann. 
Erst  der  Ort  im  Körper,  an  dem  die  Leistung  zur  Wirkung 
gelangt,  macht  sie  zu  einem  Baustein  des  Ganzen.  Daraus 
ergibt  sich  ohne  weiteres  die  doppelte  Betrachtungsweise,  die  wir 
bei  jedem  Elemente  des  Tierkörpers  anzuwenden  haben.  Einmal 
betrachten  wir  die  Leistung  der  einzelnen  Teile  als  etwas  vöUig 
Selbständiges  (Physiologie),  ein  andermal  untersuchen  wir,  wie 
die  selbständige  Leistung  durch  den  Ort,  an  dem  sie  sich  ent- 
faltet, höheren  Aufgaben  dient  (Biologie).  Leistung  und  Ort 
zusammen  ergeben  erst  die  integrierende,  d.  h.  die  auf  das  Ganze 
gerichtete  Funktion  der  Grundfaktoren.  Handelt  es  sich  im 
wesenthchen  um  lauter  gleichartige  Elemente,  so  bleibt  nur 
der  Ort  nach,  der  als  entscheidend  und  unterscheidend  in 
Frage  kommt.  Dies  ist  dann  ein  besonders  glückhcher  Fall, 
denn  er  setzt  uns  in  die  Lage,  durch  ein  paar  einfache  Experi- 
mente, die  sich  auf  die  örtlichen  Beziehungen  erstrecken,  ein 
Bild  der  funktionellen  Anordnung  zu  gemnnen. 

Einen  solchen  günstigen  Fall  bieten  uns  die  Blutegel.  Bei 
ihnen  genügt  es,  eine  Analyse  der  Bewegungen  ihrer  verschie- 
denen Muskelstränge  zu  geben,  um  bereits  ein  anschauhches 
Bild  ihres  Innenlebens  davon  ableiten  zu  können.  Die  Blut- 
egel sind  bekannthch  drehrunde,  gestreckte  Würmer,  die  vorn 
und  hinten  einen  Saugnapf  besitzen.  Die  Körpermuskulatur 
besteht  aus  drei  getrennten  Muskellagen:  aus  einer  Ring- 
muskelschicht,  die  dicht  unter  der  Haut  liegt  und  deren 
Tätigkeit  den  Körper  lang  und  dünn  macht,  dann  folgt  nach 
innen  die  Längsmuskelschicht,  die  in  deutliche  Stränge 
zerfäUt,  sie  macht  den  Körper  kurz  und  dick.  Endlich  gibt 
es  noch  dorsoventrale  Muskelstränge,  die  den  Rücken  des 
Tieres  der  Bauchfläche  nähern  und  dadurch  das  ganze  Tier 
abplatten.  Ein  einfaches,  leiterförmiges  Zentralnervensystm 
durchläuft  das  ganze  Tier  an  der  Bauchseite  (Bauchstrang). 
In  ihm  sind  aUe  Repräsentanten  enthalten. 

Der  Blutegel  besitzt  zwei  Arten  der  Fortbewegung,  das 
Schwimmen  und  das  Gehen.  Schneidet  man  einem  Blutegel 
den  Kopf  ab,  so  kann  er  nur  noch  schwimmen  und  gar  nicht 
gehen.     Durch  diese  Operation  verliert  der  Blutegel  die  Fähig- 


I'^Q  Die  Blutegel. 

keit,  seine  Ringmuskeln  in  Bewegung  zu  setzen  und  ohne  Ring- 
muskeln  kann  nicht  gegangen  werden.  Es  schaltet  die  Durch- 
schneidung des  Bauchstranges  am  Vorderende  das  Nervennetz 
der  Ringmuskeln  mit  ihren  Repräsentanten  völlig  aus.  Daher 
muß  das  Nervennetz  der  Ringmuskeln  im  Verlauf  des  ganzen 
Bauchstranges  von  den  übrigen  nervösen  Elementen  völlig  isoliert 
sein  und  nur  am  Vorderende  mit  ihnen  in  Verbindung  stehen. 
Beim  Schwimmen  spielen  nur  die  dorsoventralen  und  die  Längs - 
muskeln  eine  Rolle.  Auf  jeden  Reiz  hin  verkürzen  sich  die  dorso- 
ventralen Muskeln  von  vorne  nach  hinten  fortschreitend  und  ver- 
wandeln den  Blutegel  in  ein  plattes  Band.  Dieses  Band  führt  wellen- 
artige Bewegungen  aus,  mit  deren  Hilfe  es  vorwärts  schwimmt. 
Denkt  man  sich  in  den  Blutegel  wie  in  ein  plattes  Gummirohr 
eine  Falte  geschlagen,  so  ist  die  Außenseite  der  Falte  gedehnt, 
ihre  Innenseite  dagegen  zusammengedrückt.  Es  wirken  daher 
die  Längsmuskeln  der  Rückenseite  als  Antagonisten  gegen  die 
ihnen  gerade  gegenüberliegenden  Längsmuskeln  der  Bauchseite. 
In  solchen  Fällen  tritt  bekanntlich  sehr  leicht  ein  Hin-  und 
Herpendeln  der  statischen  Erregung  ein,  sobald  durch  eine 
dynamische  Welle  der  Anlaß  zur  ersten  Kontraktion  gegeben 
wurde.  Durch  das  Hin-  und  Herschwanken  der  statischen  Er- 
regung, welche  die  Antagonisten  nach  dem  allgemeinen  Erre- 
gungsgesetz abwechselnd  zur  Kontraktion  bringt,  wird  die  Falte 
im  Blutegel  bald  nach  oben,  bald  nach  unten  geschlagen.  Das 
Auf-  und  Abschlagen  einer  Falte  in  einem  Bande  erzeugt  aber 
stets  durch  den  Zug,  den  sie  auf  ihre  Nachbarseite  ausübt, 
eine  fortschreitende  Welle,  die  sich  von  der  primären  Falte 
nach  beiden  Seiten  hin  fortsetzt.  Entsteht  wie  beim  Blutegel 
die  primäre  Faltung  immer  am  Vorderende,  so  läuft  nur  eine 
Welle  von  vorne  nach  hinten  ab.  Die  Welle,  die  über  dem 
Blutegel  abläuft,  besitzt,  wie  jede  fortschreitende  Welle,  eine 
Vorderseite  und  eine  Rückseite.  Die  Vorderseite  der  Welle 
vermag  je  nach  ihrer  Größe  und  Schnelhgkeit  einen  gewissen 
Druck  auszuüben.  Ist  daher  das  wellenschlagende  Band  frei 
im  Wasser  suspendiert,  so  wird  die  Vorderseite  der  Welle  auf 
das  umgebende  Wasser  drücken  und  daher  das  Band  selbst, 
entgegen  der  Abiaufrichtung  der  Welle,  forttreiben.  Läuft  die 
Welle  im  Tier  von  vorne  nach  hinten  ab,  so  muß  das  Tier 
von  hinten  nach  vorne,  d.  h.  Kopf  voran,  schwimmen. 


Die  Blutegel.  171 

Verhindert  man  das  mechanische  Fortschreiten  der  Welle 
über  das  Tier,  indem  man  unter  Schonung  des  Nervensystems 
ein  so  großes  Stück  Muskulatur  wegschneidet,  daß  eine  ge- 
nügende Zugwirkung  über  die  Lücke  hinweg  nicht  mehr  statt- 
hat, so  bleiben  die  Schwimmbewegungen  an  der  Lücke  stehen, 
d.  h.  es  schwimmt  nur  das  vordere  Ende,  während  das  hintere 
Ende  passiv  mitgeschleppt  wird.  Dabei  ist  das  Hinterende 
ebenso  platt  geworden  wie  das  Vorderende,  denn  die  nervöse 
Leitung  ist  erhalten  geblieben  und  es  tritt  auf  jeden  Reiz  am 
Vorderende  erstens  ein  Plattwerden  auf,  das  sich  über  den  ganzen 
Wurm  erstreckt,  und  zweitens  eine  Längsmuskelkontraktion, 
welche  die  erste  Falte  der  Welle  schlägt,  welche  an  der  Lücke 
erlischt.  Sowohl  für  die  dorso ventralen  Muskeln  wie  für  die 
Längsmuskeln   ist  ein  Erregungstal   am  Vorderende  vorhanden. 

Die  Durchschneidung  des  Bauchstranges  hebt  die  Möglich- 
keit der  Schwimmbewegungen  an  beiden  nervös  getrennten 
Teilen  nicht  auf.  Beide  Teile  können,  wenn  sie  gereizt  wurden, 
noch  Schwimmbewegungen  ausführen,  aber  es  kommt  zu  keiner 
Koordination.  Die  Durchschneidungsstelle  des  Bauchstranges 
wirkt  als  neues  Vorderende,  von  dem  aus  die  neue  Falten- 
bildung selbständig  ausgeht,  einerlei,  in  welcher  Bewegungs- 
phase sich  das  Vordertier  befindet. 

Die  Erregungs Vorgänge  beim  Schwimmen  bieten  nach  dem, 
was  uns  bereits  von  anderen  Tieren  bekannt  ist,  keine  weiteren 
Schwierigkeiten.  Die  vom  Reiz  erzeugte  dynamische  Erregungs- 
welle läuft  nach  dem  Erregungstal  hin,  das  sich  am  Vorder- 
ende befindet.  Ist  dieses  abgetrennt,  so  tritt  die  Erregung  an 
der  Durchschneidungsstelle  in  die  Muskeln  über,  und  zwar 
sowohl  in  die  Dorsoventralmuskeln  wie  in  die  Längsmuskeln. 
Aus  diesen  und  anderen  Gründen  ist  es  ratsam,  außer  den  drei 
Netzen  mit  ihren  Repräsentanten  für  die  drei  Muskelarten  ein 
allgemeines  verbindendes  Nervennetz  anzunehmen,  das  sich  durch 
den  ganzen  Bauchstrang  erstreckt,  aber  keine  Repräsentanten 
enthält.  Die  dorso  ventralen  Muskeln  besitzen  keine  Antagonisten 
und  sind  daher  außerstande,  einen  Rhythmus  hervorzubringen. 
Sie  können  sich  bloß  dauernd  kontrahieren.  Die  Dauerkon- 
traktion spricht  dafür,  daß  es  besondere  Reservoire  für  die 
statische  Erregung  in  ihrem  Nervennetz  geben  muß,  welche 
durch   die  dynamische  Welle  in  Tätigkeit  versetzt  werden  und 


2  72  ^^^  Blutegel. 

einen   dauernden  Erregungsdruck  hervorbringen,  der  die  Sperr- 
schwelle der  verkürzten  dorso ventralen  Muskel  dauernd  erhöht. 

Viel  interessanter  gestalten  sich  die  Dinge,  wenn  wir  die 
Gehbewegungen  in  Augenschein  nehmen.  Beim  Gehen  spielen 
die  dorso  ventralen  Muskeln  nicht  mehr  mit.  Dafür  springen 
die  Ringmuskeln  ein,  die  als  Antagonisten  der  Längsmuskeln 
wirken.  Die  Längsmuskeln  antworten  alle  gleichzeitig,  mögen 
sie  zu  den  ventralen  oder  dorsalen  Strängen  gehören.  Es  be- 
steht daher  beim  Gehen  kein  Antagonismus  zwischen  den  dor- 
salen und  ventralen  Längsmuskeln. 

Ein  jeder  Schritt  besteht  aus  zwei  Kontraktions-  und 
zwei  Erschlaffungsperioden.  Er  beginnt,  während  der  Blutegel 
mit  dem  hinteren  Saugnapf  am  Boden  festsitzt,  mit  einer  Ring- 
muskelkontraktion, die  vom  Vorderende  ausgehend  (weil  sich 
dort  ebenfalls  ein  Erregungstal  für  die  Ringmuskeln  befindet) 
sich  langsam  über  den  ganzen  Körper  erstreckt  und  verwandelt 
diesen  in  ein  langes  dünnes  Rohr.  Dann  faßt  der  vordere 
Saugnapf  plötzlich  Fuß.  Sobald  beide  Saugnäpfe  gleichzeitig 
festsitzen,  wird  die  gesamte  Muskulatur  von  einer  Erschlaffung 
befallen,  die  sofort  einer  Kontraktion  Platz  macht,  sobald  sich 
ein  Saugnapf  vom  Boden  ablöst.  Ist  der  vordere  Saugnapf 
frei,  so  herrscht  im  Körper  Ringmuskelkontraktion,  ist  der 
hintere  Saugnapf  frei,  so  tritt  Längsmuskelkontraktion  ein. 
Sind  sie  beide  frei,  so  treten  Schwimmbewegungen  auf. 

Nach  der  ersten  Erschlaffungsperiode  beginnt  die  zweite 
Hälfte  des  Schrittes.  Der  langgestreckte  erschlaffte  Egel  löst 
den  hinteren  Saugnapf  vom  Boden  los  und  darauf  beginnt 
wieder  von  vorne  anfangend  die  Kontraktion  der  Längsmuskeln, 
die  den  Wurm  kurz  und  dick  macht.  Dadurch  kommt  der 
hintere  Saugnapf  nach  vorne  und  faßt  nahe  dem  vorderen 
Saugnapf  Fuß.  Sobald  beide  Saugnäpfe  haften,  tritt  die  zweite 
Erschlaffungsperiode  ein,  aus  der  die  Muskulatur  erwacht,  wenn 
der  vordere  Saugnapf  sich  abgelöst  hat  und  damit  die  Ring- 
muskelkontraktion einleitet. 

Es  läßt  sich  zeigen,  daß  es  bloß  darauf  ankommt,  daß 
die  freie  Fläche  des  Saugnapfes  konkav  werde,  um  die  Er- 
schlaffung hervorzurufen,  daß  dagegen  die  konvexe  Form  des 
Saugnapfes  immer  den  Eintritt  einer  Kontraktionsperiode  be- 
stimmt.    Hängt    man    einen  Blutegel  mit  einem  Häkchen,  das 


Die  Blutegel.  173 

nahe  dem  hinteren  Saugnapf  durch  die  Rückenhaut  gesteckt 
ist,  frei  auf,  so  treten  Schwimmbewegungen  ein,  bis  man  dem 
vorderen  Saugnapf  einen  leichten  Gegenstand  zu  fassen  gibt. 
Auf  das  Zufassen  des  vorderen  Saugnapfes  tritt  sofort  Längs- 
muskelkontraktion ein,  die  den  Gegenstand  in  die  Höhe  hebt. 
Berührt  man  jetzt  den  hinteren  Saugnapf  mit  der  Spitze  eines 
Stäbchens,  an  der  er  nicht  haften  kann,  so  wird  der  Saug- 
napf für  einen  Augenblick  in  die  konkave  Form  umschlagen, 
um  gleich  darauf  wieder  konvex  zu  werden.  Während  dieser 
Zeit  sieht  man  in  den  kontrahierten  und  gesperrten  Längs- 
muskeln vom  hinteren  Saugnapf  aus  beginnend  eine  tiefe  Er- 
schlaffung eintreten.  Ist  der  hintere  Saugnapf  noch  recht- 
zeitig zurückgeschlagen,  ehe  die  Erschlaffung  das  Vorderende 
ergriffen  hat,  so  sieht  man  am  Vorderende  einen  Rest  Längs- 
muskelkontraktion bestehen  bleiben,  der  sich  allmählich  wieder 
nach  hinten  zu  ausbreitet,  d.  h.  die  fortgeflossene  Erregung 
fließt  wieder  in  die  Längsmuskeln  zurück.  Es  öffnet  also  der 
Saugnapf,  wenn  er  in  die  konkave  Form  umschlägt,  eine  Pforte 
für  die  Erregung,  die  sich  im  Längsmuskelnetz  befindet,  worauf 
diese  hinausstürzt,  um  in  das  allgemeine  verbindende  Nerven- 
netz überzufließen.  Dort  bleibt  die  Erregung  unsichtbar,  bis 
sie  wieder  ins  allgemeine  Erregungstal  gelangt  ist  und  von 
dort  aus  in  eines  der  drei  Nervennetze  eintritt.  Ganz  das 
gleiche  zeigt  sich  am  vorderen  Saugnapf.  Solange  er  konvex 
ist,  herrscht  Ringmuskelkontraktion,  wird  er  konkav,  so  stürzt 
die  Erregung  in  das  allgemeine  Verbindungsnetz  und  wird  erst 
wieder  sichtbar,  wenn  sie  in  die  Längsmuskeln  eingedrungen 
ist.  Am  Hinterende  des  Blutegels  geht  die  Erregung  aus  dem 
Längsmuskelnetz  ins  Verbindungsnetz  über,  am  Vorderende 
dagegen  aus  dem  Ringmuskelnetz  ins  Verbindungsnetz.  Auf 
diese  Weise  entsteht  ein  Kreislauf  der  Erregung,  der  nur 
darum  nicht  so  deutlich  in  die  Erscheinung  tritt,  weil  die 
Erregung  während  der  Erschlaffungsperiode  in  der  sie  sich 
im  Verbindungsnetz  befindet,  immer  nach  dem  Vorderende  in 
das  Erregungstal  fließt. 

Die  Erregungspforte  am  Vorder-  und  Hinterende  stellt 
man  sich  am  besten  unter  dem  Bilde  eines  Ventiles  vor,  das 
ja  auch  die  Flüssigkeit  nur  in  einer  Richtung  hin  durch- 
läßt.    Dieses  Ventil  kann  aber  durch  die  Bewegung  des  Saug- 


;[74  -^^^  Blutegel. 

napfes  nach  der  anderen  Richtung  hin  geöffnet  werden.  Ich 
habe  die  merkwürdige  Tatsache,  daß  eine  einfache  Muskel- 
bewegung einem  Reflex  die  Pforten  öffnen  kann,  die  Reflex- 
führung  genannt.  Man  gewinnt  den  Eindruck,  als  seien  die 
Repräsentanten  der  führenden  Muskeln  direkt  in  die  Haupt- 
leitungsbahnen eingebaut  und  bildeten  dort  das  Ventil.  Irgend- 
eine weitergehende  Andeutung  wage  ich  nicht  zu  geben. 

Die  Kenntnisse,  die  wir  über  die  Erregungsvorgänge  beim 
Gehen  der  Blutegel  gewonnen  haben,  gestatten  uns  eine  Tat- 
sache der  Muskelphysiologie  ihrem  ganzen  Umfange  nach  zu 
würdigen,  die  sonst  nicht  die  genügende  Beachtung  finden 
würde.  Es  ist  dies  die  ,, Unterstützungshemmung".  Be- 
trachten wir  einen  Blutegel,  der  nahe  an  seinem  hinteren 
Saugnapf  aufgehängt  ist  und  dauernd  eine  leichte  Last  trägt 
(man  kann,  um  jede  Störung  zu  vermeiden,  den  hinteren  Saug- 
napf abschneiden,  der  sonst  gerne  die  gehobenen  Gegenstände 
erfaßt),  so  ist  der  Blutegel  in  diesem  Moment  nichts  anderes 
als  ein  Längsmuskelband,  das  verkürzt  ist  und  eine  Last  trägt. 
Die  Antagonisten  spielen  gar  nicht  mit,  denn  solange  der 
hintere  Saugnapf  nicht  konkav  wird,  bleibt  die  Erregung  im 
Netz  der  Längsmuskeln  eingesperrt.  Die  eingesperrte  statische 
Erregung  bringt  die  Längsmuskeln  zur  Kontraktion  und  Sper- 
rung, und  zwar  reicht  die  Sperrung  gerade  aus,  um  die  jeweilige 
Last  zu  tragen.  Wenn  wir  uns  den  Hautmuskelsack  von 
Sipunculus  ins  Gedächtnis  zurückrufen,  so  konnte  dieser  auch 
nach  Verlust  des  Zentralnervensystems  eine  bestimmte  Last 
tragen.  Wurde  die  Last  schwerer,  so  erschlafften  die  Muskeln, 
wurde  sie  leichter,  so  verkürzten  sie  sich.  Die  Größe  dieser 
Last  war  ein  für  allemal  durch  die  Sperrschwelle  gegeben, 
die  in  den  Muskeln  herrschend  blieb,  nachdem  das  Zentral- 
nervensystem entfernt  war.  Es  können  also  die  Muskeln  auch 
ohne  ihre  Repräsentanten  ihre  Länge  selbst  regulieren,  wenn  sie 
sich  auf  ein  bestimmtes  Gewicht  eingestellt  haben,  das  gerade 
ihrer  Sperrschwelle  entspricht.  Auf  verschiedene  Gewichte  ver- 
mögen sich  die  Muskeln  ohne  Hilfe  des  Zentralnervensystems  aber 
nicht  einzustellen.  Dies  aber  vermögen  die  Längsmuskelstränge 
des  Blutegels  solange  sie  mit  ihrem  Repräsentantennetz  in  Ver- 
bindung stehen.  Die  Fähigkeit,  die  Sperrschwelle  je  nach  der 
Größe   des  Gewichtes   zu  wechseln,   wird   am  besten  durch  die 


Die  BlutegeL  175 

Unterstützungshemmung  erläutert.  Man  gebe  einem  hängenden 
Blutegel  ein  Reagensgläschen  zu  heben.  Dann  unterstütze 
man  das  gehobene  Gewicht  eine  Zeitlang  und  gebe  es  sanft 
wieder  frei.  Sofort  wird  das  gleiche  Grewicht,  das  bisher  an- 
anstandslos  getragen  wurde,  die  Längsmuskeln  bis  auf  ihre 
anatomische  Länge  dehnen.  Ist  das  geschehen,  so  beginnen 
die  Muskeln  das  Gewicht  von  neuem  zu  heben. 

Kjiüpft  man  einem  marschierenden  Blutegel  ein  Schnür- 
chen an  das  Hinterende  und  zieht  an  der  Schnur  während 
der  Kontraktionsperiode  der  Längsmuskeln,  so  werden  diese 
wie  bei  der  Unterstützungshemmung  ohne  weiteres  nachgeben 
und  der  Wurm  wird  lang  und  schlaff,  um  gleich  darauf  wieder 
mit  der  Längsmuskelkontraktion  von  neuem  zu  beginnen. 
Reizt  man  kurz  vorher  das  hintere  Ende  des  Blutegels  mecha- 
nisch, so  gibt  er  dem  Zug  nicht  mehr  nach.  Dann  besitzen 
seine  Muskeln  eine  Sperrschwelle,  die  höher  ist  als  die  Last 
des  Körpers.  Es  benehmen  sich  die  Muskeln  des  Blutegels 
in  diesem  Falle  wie  die  Retraktoren  des  Sipunculus  nach  dem 
Erregungsfang.  Denn  nun  sind  sie  nicht  mehr  in  der  Lage, 
sich  verschiedenen  Gewichten  durch  Verschiebung  ihrer  Sperr- 
schwelle anzupassen,  sondern  sind  dauernd  auf  eine  Maximal- 
last eingestellt.  Dieselbe  Gesetzmäßigkeit  zeigt  sich  bereits  bei 
den  Seeigelstacheln.  Auch  sie  erhalten  durch  starke  Reizung 
eine  hohe  und  unabänderhche  Sperrschwelle,  während  sie  beim 
normalen  Arbeiten  sich  durch  Verschiebung  ihrer  Sperrschwelle 
allen  möghchen  Gewichten  anpassen  können.  Die  maximale 
Sperrschwelle  läßt  sich  bei  den  Muskeln  der  Seeigelstacheln 
dauernd  erreichen,  wenn  man  die  Haut,  in  der  sich  der  zen- 
trale Nervenring  befindet,  ablöst. 

Aus  all  diesen  Beispielen  läßt  sich  schUeßen,  daß  die  An- 
sammlung übermäßiger  Erregung  im  Muskel  ebenso  wirkt  wie 
die  Abtrennung  des  Zentralnervensystems,  das  heißt,  daß  nur 
bei  normalen  Erregungs Verhältnissen  die  Herrschaft  der  Re- 
präsentanten über  ihre  Gefolgsmuskeln  gewährleistet  ist.  Diese 
Herrschaft  besteht  in  der  Verschiebung  der  Sperrschwelle  sowohl 
nach  oben  wie  nach  unten,  je  nach  Maßgabe  der  angehängten 
Last.  Die  Sperrschwelle  selbst  ist,  wie  wir  wissen,  jener  Zu- 
stand der  Sperrmuskulatur,  der  es  ihr  ermögUcht,  einer  be- 
stimmten Last    bei    jeder    beliebigen    Länge    des    Muskels    das 


]^76  ^^^  Blutegel. 

Gleichgewicht  zu  halten.  Zu  jeder  Last  gehört  eine  bestimmte 
Sperrschwelle.  Die  richtige  Sperrschwelle  für  eine  beliebige 
Last  wird  stets  mit  Sicherheit  gefunden,  weil  die  Erregung, 
die  zu  den  Verkürzungsrauskeln  fließt,  so  lange  in  die  Sperr- 
muskeln übergeht,  bis  diese  die  genügend  hohe  Sperrschwelle  er- 
reicht haben,  um  es  den  Verkürzungsmuskeln  zu  ermöglichen, 
die  Muskelbewegung  auszuführen,  worauf  der  weitere  Zufluß 
zu  den  Sperrapparaten  aufhört.  Soweit  hatte  uns  die  Analyse 
der  Seeigelstacheln  gebracht.  Nun  zeigt  es  sich,  daß  zur  Er- 
reichung der  richtigen  Sperrschwelle  ein  zentraler  Apparat  ge- 
hört, denn  alle  Muskeln,  die  nur  ihren  peripheren  Nerv  allein 
besitzen,  sind  immer  nur  auf  eine  einzige  Sperrschwelle  ein- 
gestellt, die  für  jede  Last  vorhalten  muß.  Die  Verschiebung 
der  Sperrschwelle  bedarf  eines  Zentrums,  d.  h.  des  Repräsen- 
tanten im  Nervensystem.  Die  Zentren  besitzen  alle  die  Fähig- 
keit, die  statische  Erregung  zu  verschieben  und  Druck  mit 
Gegendruck  zu  beantworten.  Es  scheint  daher  am  einfachsten, 
die  Wirkung  der  Repräsentanten  darin  zu  erbhcken,  daß  sie 
den  Erregungsdruck,  mit  dem  die  Sperrmuskulatur  arbeitet,  so 
lange  steigert,  bis  die  richtige  Sperrschwelle  erreicht  ist,  die 
der  Last  das  genügende  Gegengewicht  liefert.  Es  schickt  dem- 
nach der  Repräsentant  die  Erregung  zum  Muskel.  Diese  tritt 
in  die  Verkürzungsapparate.  Hängt  eine  Last  am  Muskel,  so 
können  die  Verkürzungsapparate  nicht  funktionieren.  Es  muß 
erst  das  genügende  Gegengewicht  durch  die  Sperrmuskeln  ge- 
hefert  sein.  Um  dieses  zu  erreichen,  sendet  der  Repräsen- 
tant immer  neue  Erregung  zum  Muskel  unter  immer  steigen- 
dem Druck,  bis  die  Sperrschwelle  erreicht  ist,  die  der  Last 
das  Gegengewicht  hält.  Dann  können  die  Verkürzungsmuskeln 
anstandslos  arbeiten.  Wird  die  Last  ausgehängt,  so  saugt  der 
Repräsentant  die  Erregung  wieder  an  sich,  die  Sperrschwelle 
sinkt  und  es  tritt  bei  Fortnahme  der  Unterstützung  durch  den 
neuen  Zug  der  Last  vollkommene  Erschlaffung  ein.  Unter 
diesem  Bilde  können  wir  uns  die  Unterstützungshemmung 
einigermaßen  verständlich  machen.  So  fügt  sich  langsam  Stein 
an  Stein  in  der  Erkenntnis  der  schwierigen  Verhältnisse,  welche 
bei  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  aller  statischen  Erregung 
Geltung  haben. 


Die  Manteltiere.  177 

Die  Manteltiere. 

(Cyona  intestinalis.) 

Wie  die  Medusen  die  Meeresoberfläche  abweiden,  indem 
sie  das  Seewasser  unfiltriert  aufnehmen  und  filtriert  entlassen, 
so  finden  sich  zahlreiche  Tiere,  die  dieses  Geschäft  in  der 
Tiefe,  am  Meeresgrunde  betreiben  und  dabei  reichlich  auf 
ihre  Kosten  kommen.  So  wenig  es  angebracht  wäre,  sich  nur 
vom  Staube  der  Luft  zu  nähren,  so  reichlich  lohnt  es  sich, 
im  Staube  des  Meeres  seine  Nahrung  zu  suchen.  Denn  der 
Meeresstaub  ist  großenteils  lebendig  und  besteht  aus  mikro- 
skopischen Pflanzen  und  Tieren,  die  alle  zur  Nahrung  geeignet 
sind.  Man  muß  nur  eine  genügend  große  Anzahl  von  ihnen 
vertilgen. 

Abgesehen  von  den  zahllosen  Schwämmen,  die  auf  diese 
Weise  ihr  Leben  fristen,  sind  wohl  die  Manteltiere  oder  Tuni- 
katen  die  interessantesten  Filtriermaschinen.  Während  die 
Schwämme  infolge  ihrer  primitiven  Leibesbeschaffenheit  (sie 
sind  mehr  Zellkolonien  als  Individuen)  zu  diesem  primitiven 
Nahrungsfang  prädestiniert  erscheinen,  besitzen  die  Manteltiere 
eine  so  hohe  Organisation,  daß  sie  auch  zu  einem  höheren 
Dasein  befähigt  wären.  Und  in  der  Tat  haben  die  Mantel- 
tiere in  ihrer  Jugend  ein  reiches  Leben  geführt  und  eine  reiche 
Umwelt  besessen.  Die  freischwimmenden  Larven,  im  Besitze 
von  Auge  und  Statolithen,  mit  einer  Art  Rückenmark  ver- 
sehen, das  von  einer  Chorda  dorsalis  gestützt  wird,  nähern 
sich  bereits  den  einfachen  Fischen  und  berechtigen  zu  den 
schönsten  Hoffnungen.  Und  dann  dieser  Rückschlag!  Die 
festsitzende  Lebensweise  und  die  Art  des  Nahrungsfanges  scheint 
auf  diese  Tiere  degenerierend  einge\^'irkt  zu  haben.  Ja,  sie 
wirken  in  dieser  moraHschen  Beleuchtung  fast  wie  ein  warnendes 
Beispiel. 

Und  doch  ist  diese  ganze  Auffassung  lächerlich.  Die  er- 
wachsenen Tunikaten  sind  ihrer  Umgebung  und  ihrem  Dasein 
genau  so  gut  angepaßt,  wie  ihre  Larven.  Daß  sie  es  ver- 
mögen, so  hohe  Differenzierungen  in  ihren  Larvenorganen  zu 
zeitigen,  beweist  nur,  wie  mannigfaltig  das  ganze  Tier  ist  und 
gewiß   nichts   gegen  seine  Vollkommenheit.     Denn  ein  Tier  ist 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  12 


■j^YS  I^iö  Manteltiere. 

nicht  bloß  eine  momentane  Einheit,  sondern  eine  höhere  Zu- 
sammenfassung aller  in  der  Zeitfolge  sich  ablösenden  momen- 
tanen Einheiten.  Bei  allen  anderen  Tieren  wird  man  leicht 
dazu  verleitet,  in  dem  erwachsenen  Tier  das  Ziel  der  indivi- 
duellen Entwicklung  zu  sehen.  Die  Manteltiere  belehren  uns 
eines  Besseren.  Das  ganze  Leben,  mag  es  sich  in  der  Larve 
oder  dem  Erwachsenen  abspielen,  bleibt  sich  stets  allein  Selbst- 
zweck. Es  gibt  keine  Entwicklung  vom  Schlechteren  zum 
Besseren,  vom  Unvollkommeneren  zum  Vollkommeneren.  Be- 
reits das  Ei  ist  vollkommen  vollkommen. 

Wir  müssen  uns  zu  einem  übermomentanen  Standpunkt 
erheben,  wenn  wir  die  Tiere  richtig  beurteilen  wollen.  Von 
diesem  Standpunkt  aus  erscheint  auch  das  Auf-  und  Absteigen 
im  Leben  der  Manteltiere  als  eine  zusammengehörige  Einheit, 
als  eine  planmäßige  Melodie.  Auch  wenn  sie  nicht  mit  einer 
Steigerung    endigt,   bewahrt   sie   dennoch    ihre   volle  Schönheit. 

Wir  haben  es  hier  nur  mit  der  momentanen  Einheit  zu 
tun,  die  uns  das  erwachsene  Tier  zeigt  und  wollen  auf  sie 
und  ihre  dürftige  Umwelt  einen  kurzen  Blick  werfen.  Cyona 
intestinalis  ist  ein  Sack,  der  etwa  handgroß  werden  kann.  In 
diesen  Sack  führen  zwei  Öffnungen:  die  eine,  der  Mund,  nimmt 
das  Seewasser  auf,  die  andere,  die  Kloake,  entläßt  es  filtriert. 
Der  Filtrierapparat  befindet  sich  gleich  unterhalb  der  Mund- 
öffnung, es  ist  der  sogenannte  Kiemenkorb.  ,,Bei  den  Aszidien", 
schreibt  Ludwig,  ,,ist  die  ganze  Wand  der  Kiemenhöhle  von 
in  Quer-  und  Längsreihen  angeordneten  und  so  ein  Gitter  bil- 
denden, zahlreichen  Spalten  durchbrochen.  An  den  Rändern 
dieser  bewimperten  Spalten  verlaufen  die  Blutgefäße  der 
Kieme.  Durch  die  Spalten  gelangt  das  durch  den  Mund  auf- 
genommene Atemwasser  in  einen  den  Kiemensack  umgebenden 
Raum  (Peribranchialraum),  welcher  eine  Nebenhöhle  des  Kloaken- 
raumes ist;  aus  letzterem  wird  das  Atemwasser  dann  zusammen 
mit  den  Exkrementen  und  Geschlechtsprodukten  durch  die 
Kloakenöffnung  entfernt.  —  An  der  Bauchseite  der  Kiemenhöhle 
verläuft  in  der  Mittellinie  eine  eigentümliche  bewimperte  Rinne, 
die  Bauchrinne.  —  Die  Seitenränder  der  Bauchrinne  besitzen 
zahlreiche  Drüsenzellen.  —  Die  Drüsenzellen  der  Rinne  sondern 
einen  Schleim  ab,  an  welchem  die  durch  das  Atemwasser  in 
die  Kiemenhöhle  gebrachten  Nahrungsteile  hängen  bleiben  und 


Die  Manteltiere.  179 

dann  durch  die  Tätigkeit  der  Wimpern   zur  Speiseröhre   beför- 
dert werden." 

Auf  diese  Weise  wird  die  doppelte  Filtrierung  vorge- 
nommen. Der  Sauerstoff  des  Seewassers  wird  von  den  Blut- 
gefäßen ergriffen,  während  die  suspendierten  Nahrungsteilchen 
von  den  engen  Spalten  des  Kiemenkorbes  abgesiebt  werden 
und  in  den  Verdauungskanal  gelangen.  Das  Wasser  selbst 
streicht  unaufhörlich  vom  Munde  in  den  Kiemenraum,  vom 
Kiemenraum  in  den  Kloakenraum  und  gelangt  dann  ins  Freie. 
Die  gesamten  Eingeweide  von  Cyona  sind  von  einer  doppelten 
Muskelschicht  umgeben,  einer  äußeren  Längsmuskelschicht  und 
einer  inneren  Ringmuskelschicht.  Die  Kontraktion  der  Längs- 
muskeln verkürzt  das  Tier,  die  kontrahierten  Ringmuskeln  ver- 
längern es.  Beim  Ejektionsreflex  kontrahieren  sich  beide  Mus- 
kelarten zusammen  und  werfen  den  flüssigen  Inhalt  des  Kiemen- 
korbes durch  die  Kloakenhöhle  nach  außen. 

Der  Schutzreflex  besteht  im  Verschluß  der  beiden  Atem- 
öffnungen oder  Siphonen  und  dient  dazu,  stark  reizende  Gegen- 
stände vom  Kiemenkorb  fernzuhalten.  Meist  kommt  es  zugleich 
zu  einer  Kontraktion  der  Längsmuskeln,  die  das  Tier  vom 
Reizort  wegführt.  Das  auffallendste  beim  Schutzreflex  ist  die 
Tatsache,  daß  bei  der  geringsten  Berührung  der  einen  Öffnung 
sich  auch  die  andere  schheßt.  Nun  liegt  zwischen  beiden 
Öffnungen  ein  Ganglion,  über  dessen  Eingreifen  in  den  Reflex 
viel  geschrieben  worden  ist.  Jordan  hat  als  letzter  darauf 
hingewiesen,  daß  bei  Entfernung  des  Ganglions  auch  ein  großer 
Teil  der  direkten  Verbindungsbahnen,  die  von  einem  Sipho 
zum  anderen  füliren,  mit  durchtrennt  wird.  Loeb  hatte 
bereits  behauptet,  das  Ganglion  bedeute  nichts  mehr  als  die 
schnellste  nervöse  Verbindung  von  einer  Öffnung  zur  anderen. 
Seine  Versuche  sind  aber  als  nicht  beweisend  zurückgewiesen 
worden.  Dagegen  ist  es  Jordan  in  einer  großen  Anzahl  von 
Fällen  gelungen,  die  Mundöffnung  so  nachhaltig  zu  reizen,  daß 
man  die  Ausbreitung  der  Erregung  nach  Entfernung  des  Gang- 
Hons  erst  am  Munde  selbst,  dann  am  Rumpf  und  schließhch 
an  der  Kloake  verfolgen  konnte.  Es  existiert  also  außer  dem 
Schutzreflex,  der  schnell  und  energisch  von  einer  Öffnung  zur 
anderen  eilt,  auch  noch  ein  allgemeiner  ,, genereller"  Reflex, 
der  sich  mit  starkem  Dekrement  über  die  gesamte  Muskulatur 

12* 


IQQ  Die  Mantel tiere. 

ausbreitet.  Dadurch  wird  das  Vorhandensein  eines  allgemeinen 
Nervennetzes  bewiesen,  das  sich  über  die  ganze  Muskulatur 
hinzieht.  Von  den  Muskeln  sprechen  die  Längsmuskeln  schwerer 
an  als  die  Ringmuskeln,  deren  Hauptaufgabe  es  ist,  die  Kieme 
und  den  Kloakenraum  zusammenzupressen. 

Das  Ganglion  selbst  hat  nach  Jordan  nur  eine  regulie- 
rende Funktion,  ähnlich  den  Zentren  der  Radialnerven  bei  den 
Seeigeln.  Es  beherrscht  als  gemeinsames  Reservoir  für  die 
statische  Erregung  das  ganze  Netz  mit  seinen  Repräsentanten. 
Während  aber  die  Radialnerven-Reservoire  im  normalen  Leben 
mehr  Erregung  an  die  Peripherie  abgeben  als  in  sich  auf- 
nehmen, benimmt  sich  das  GangHon  von  Cyona  ganz  anders. 
Es  dient  der  Hauptsache  nach  dazu,  die  überschüssige  Erre- 
gung an  sich  zu  ziehen.  Die  Manteltiere  liefern  daher  das 
erste  Beispiel  einer  Bremsmaschine.  Wird  das  Ganglion  ent- 
fernt, so  verfallen  die  Muskeln  langsam  mehr  und  mehr  einer 
dauernden  Sperrung.  Im  übrigen  regulieren  die  Muskeln  sich 
selber.  Wird  durch  eine  dynamische  Erregung  vom  Mund- 
sipho  aus  der  ganze  Muskelsack  in  Tätigkeit  gesetzt,  während 
sich  zugleich  die  beiden  Öffnungen  schließen,  so  steigt  der 
Binnendruck  schnell  und  wirkt  seinerseits  auf  die  Muskeln 
dehnend  und  die  Erregung  herabsetzend.  Jordan  hat  aber 
an  ausgeschnittenen  Muskeln  zeigen  können,  daß  die  Er- 
schlaffung durch  Dehnung  anders  verläuft  bei  Anwesenheit  als 
nach  Entfernung  des  Ganglions.  Ist  das  nervöse  Reservoir 
noch  vorhanden,  so  findet  sich  im  allgemeinen  Netz  weniger 
statische  Erregung  vor,  denn  diese  wird  vom  Ganglion  dauernd 
abgesaugt.  Daher  ist  die  Erschlaffung  der  Muskeln  infolge 
der  Dehnung  eine  schnellere  als  bei  einem  Nervennetz,  das 
viel  Erregung  beherbergt,  welche  es  nicht  mehr  abgeben  kann. 
Ist  aber  ein  bestimmter  Grad  der  Dehnung  erreicht,  bei  dem 
das  Erregungsniveau  der  Repräsentanten  unter  dasjenige  des 
Zentralreservoirs  sinkt,  so  vermag  dieses  mit  seiner  Erregung 
helfend  einzuspringen,  während  ein  zentrales  Netz,  das  dieses 
Hilfsmittels  beraubt  ist,  der  Erschlaffung  wehrlos  preisge- 
geben ist. 

Cyona  besitzt  dauernd  eine  relativ  hohe  Sperrschwelle  in 
der  gesamten  Muskulatur.  Daher  ist  sie  in  der  Norm  hoch 
aufgerichtet.     Diese    Haltung    steht    unter    nervöser   Kontrolle 


Aplysia.  181 

des  Ganglions.  In  den  Nervennetzen  können  beim  Schutz- 
wie  beim  Ejektionsreflex  dynamische  Wellen  ablaufen.  Damit 
ist  das  ganze  Innenleben  des  Manteltieres  in  seinen  Grund- 
zügen gegeben. 

Wir  haben  nur  noch  einen  Blick  auf  die  Umgebung  zu 
werfen  und  ihre  Umwandlung  durch  die  Rezeptoren.  Die 
Manteltiere  tragen  ihren  Namen  nach  einer  mantelartigen  Um- 
hüllung, welche  die  Muskeln  umgibt  und  die  bei  verschiedenen 
Arten  knorpelhart  bis  lederartig  werden  kann.  Manchmal  ist 
der  Mantel  durch  Säure  produzierende  Drüsen  besonders  ge- 
schützt. Der  Mantel  schließt  jeden  Außenreiz  vom  Körper  ab. 
So  bleiben  nur  die  Ränder  der  beiden  Öffnungen  als  rezipierende 
Organe  übrig,  abgesehen  von  der  inneren  Auskleidung  der 
Kiemenhöhle,  deren  Reizung  den  Ejektionsreflex  veranlaßt. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  bei  einem  festsitzenden  Tiere, 
das  nur  das  Wasser  ein-  und  ausströmen  läßt,  besondere  Re- 
zeptoren für  die  Nahrungsunterscheidung  nicht  am  Platze 
sind.  Es  finden  sich  in  der  Tat  nur  solche  Rezeptoren  vor, 
die  auf  Schädlichkeiten  mechanischer  oder  chemischer  Art  ein- 
gestellt sind,  welche  sich  im  Wasserstrom  befinden  und  durch 
den  reflektorischen  Schluß  der  Siphonen  ausgeschaltet  werden. 

Die  Umwelt  von  Cyona  besteht  also,  wenn  man  sie  allein 
vom  Standpunkte  des  Innenlebens  im  Zentralnervensystem 
beurteilt,  bloß  aus  Schädlichkeiten,  die  als  Reize  wirken  und 
die,  sobald  sie  auftreten,  eine  dynamische  Erregung  erzeugen, 
welche  den  Schutzreflex  hervorruft.  Alle  gute  Nahrung  wandert 
reizlos  in  den  Körper. 


Aplysia. 

Von  den  großen  Nacktschnecken  des  Meeres  ist  Aplysia  sicher 
die  interessanteste.  Ihre  Größe  und  ihre  Haltung  hat  ihr  den 
Namen  Seehase  eingetragen.  In  der  Tat  sieht  sie  einem  kleinen 
schwarzen  Kaninchen  nicht  unähnhch,  das  am  Boden  sitzend, 
den  Hals  emporstreckt  und  die  Ohren  spitzt,  bevor  es  fort- 
hüpft. Die  Ohren  sind  aber  in  Wirklichkeit  die  Augenstiele 
des  Seehasen  und  von  Forthüpfen  ist  geA^dß  keine  Rede.  Denn 
der   Seehase    kann    nur    langsam    am   Boden   entlang   kriechen 


182  Aplysia. 

oder    auch    schwimmen,    indem    er    zwei    seitliche   Hautlappen 
schwingend  bewegt. 

Der  Körper  von  Aplysia  besteht  aus  einem  derben  musku- 
lösen Sacke,  der  eine  geräumige  Leibeshöhle  birgt.  Die  Leibes- 
höhle ist  mit  der  leicht  opaliszierenden  Blutflüssigkeit  gefüllt. 
In  ihr  liegen  die  Eingeweide  und  Nerven  in  seltener  Klar- 
heit da. 

Um  ein  richtiges  Verständnis  für  die  Bewegungen  der 
Schnecken  zu  erlangen,  muß  man  sich  eine  deutliche  Vorstellung 
von  der  Anatomie  des  muskulösen  Sackes  gemacht  haben,  der 
Aplysia  von  allen  Seiten  einhüllt.  Wir  verdanken  die  Grund- 
lagen unserer  Kenntnisse  Jordan.  Er  zeigte,  daß  die  eigent- 
liche Masse  des  Körpersackes  durch  Bündel  glatter  Muskel- 
fasern gebildet  wird.  Jede  einzelne  Muskelfaser,  sowie  die 
ganzen  Bündel  werden  vom  Bindegewebe  eingehüllt,  so  daß 
überall  Bindegewebe  an  Bindegewebe  stößt.  Das  Bindegewebe, 
das  viele  elastische  Formen  enthält,  bildet  keine  zusammen- 
hängende Schicht,  sondern  umgibt  ein  reiches,  weitverästeltes 
Lakunensystem  mit  vielen  größeren  Höhlungen.  Das  Lakunen- 
system  wird  von  Blut  durchspült,  das  durch  den  wechselnden 
Binnendruck,  der  im  Innern  des  Körpersackes  herrscht,  überall 
hingetrieben  wird.  Kontrahiert  sich  irgendwo  eine  größere 
Muskelpartie,  so  werden  dadurch  die  innerhalb  der  kontrahierten 
Muskelpartie  liegenden  Lakunen  und  Hohlräume  vom  übrigen 
Lakunensystem  abgesperrt  und  erhalten  einen  selbständigen 
Binnendruck.  Dieser  Binnendruck  steigt  bei  steigender  Kon- 
traktion der  Muskeln  schnell  an,  weil  die  Wände  der  Lakunen 
nicht  behebig  nachgeben,  sondern  durch  den  Reichtum  an 
elastischen  Fasern  fähig  sind,  dem  auf  sie  ausgeübten  Druck 
einen   kräftigen  Gegendruck  entgegenzusetzen. 

Dem  hohen  Binnendruck  in  den  Lakunen  kommt  eine 
große  Bedeutung  zu,  weil  er  es  ist,  der  die  verkürzten  Muskeln 
nach  Aufhören  der  Reizung  wieder  auseinandertreibt.  Alle 
Muskeln  arbeiten  gegen  ein  elastisches  Widerlager,  das  bereit 
ist,  sie  in  jedem  Moment  wieder  auszudehnen.  Bei  erhöhtem 
Binnendruck  des  ganzen  Sackes  drücken  sich  die  einzelnen  in 
der  kontrahierten  Muskelpartie  gelegenen  Lakunen  nach  außen 
vor  und  bilden  recht  ansehnliche  Pro  tuberanzen. 

Die    einzelnen  Muskelbündel  sind    auf  der  Oberfläche   des 


Aplysia.  183 

Körpersackes  ziemlich  wirr  verteilt.  Nur  am  Fuß  und  an  den 
Flügeln  zeigt  sich  eine  größere  Regelmäßigkeit  in  der  Anordnug. 
Am  Fuß  zerfallen  die  Muskeln  in  längs-  und  querlaufende 
Bündel,  die  in  unregelmäßigen  Schichten  alternierend  über- 
einanderliegen.  ,,In  den  Flügeln",  schreibt  Jordan,  „verlaufen 
die  Hauptbündel  den  Außenwänden  parallel,  und  zwar  sind 
die  einen  parallel  mit  der  Ansatzlinie  der  Flügel,  die  anderen 
stehen  senkrecht  oder  schräg  auf  dieser  Linie." 

Der  ganze  Muskelsack  ist  von  einem  dichten  Nervennetz  um- 
sponnen, in  das  sich  die  Nerven,  die  von  den  Ganglien  kommen, 
einsenken.  Diese  Nerven  muß  man  pseudoperiphere  nennen, 
weil  sie  in  Wirklichkeit  intrazentrale  Bahnen  sind,  die  zwei 
Zentralstationen  miteinander  verbinden. 

Der  Beweis,  daß  es  sich  um  ein  allgemeines  Nervennetz 
handelt,  ist  von  Bethe  erbracht  worden.  Er  schreibt:  ,,Bei 
Reizung  eines  peripheren  Nerven  bleibt  der  Effekt  nicht  auf 
die  direkt  innervierte  Muskulatur  beschränkt,  sondern  er  dehnt 
sich  je  nach  Stärke  des  Reizes  auf  weitere  Teile  und  schließ- 
lich auf  die  ganze  Muskulatur  aus,  trotzdem  das  gesamte 
zentrale  Nervensystem  (d.  h.  die  Ganglien)  herausgenommen  ist. 
Es  hängt  also  jeder  Nerv  durch  das  Nervennetz  indirekt  mit 
der  gesamten  Muskulatur  zusammen." 

Da  ein  jedes  Stück  des  Muskelsackes,  solange  es  noch  ein 
wenig  äußere  Haut  beherbergt,  noch  eines  vollen  Reflexes  fähig 
ist,  so  ist  dadurch  auch  die  Anwesenheit  von  Repräsentanten 
im  zentralen  Netz  bewiesen.  Da  die  Repräsentanten  einerseits 
durch  die  Dehnung  der  Muskeln,  andererseits  durch  die  zen- 
tralen Erregungsänderungen  beeinflußt  werden,  so  ist  es  leicht 
verständlich,  daß  die  schwache  elektrische  Reizung  der  pseudo- 
peripheren Nerven  sehr  wechselnde  Resultate  gibt.  Bald  wird 
ein  Teil  der  Repräsentanten  durch  die  in  ihnen  enthaltene 
gesteigerte  Erregung  relativ  refraktär  sein,  bald  ein  anderer 
Teil  durch  die  Wirkung  des  elastischen  Widerlagers  gedehnte 
Gefolgsmuskeln  besitzen  und  daher  ein  niedriges  Erregungs- 
niveau zeigen,  in  das  die  dynamischen  Erregungswellen  leicht 
Eingang  finden.  Bethe  beschreibt  die  Wirkung  der  Nerven- 
reizung folgendermaßen:  ,,Nur  bei  sehr  starker  faradischer 
Reizung  sieht  man  einigermaßen  andauernde  und  dann  sehr 
ausgedehnte  Kontraktion  eintreten.  —  Bei  allen  submaximalen 


184  Aplysia. 

Reizungen  wechselt  während  der  Reizung  Kontraktion  und 
Erschlaffung  miteinander  ab  und  der  Effekt  bleibt  auf  ein 
kleineres  Gebiet  beschränkt." 

Die  langen  pseudoperipheren  Nerven,  die  durch  die  große 
Leibeshöhle  des  Sackes  ziehen,  verbinden  das  zentrale  Muskel- 
netz mit  einem  paarigen  Ganglion,  das  unter  dem  Schlünde 
liegt  und  Pedalganglion  heißt.  Es  erhebt  sich  wieder  die 
Frage,  inwieweit  ist  das  Pedalganglion  bloß  als  Durchgangs- 
station für  die  Erregung  anzusehen,  und  welche  Eigenschaften 
besitzt  es  außerdem?  Jordan  hat  ein  Tier  durch  einen  Median- 
schnitt in  zwei  Hälften  geteilt  und  die  Hälften  einmal  durch 
ein  Stück  Muskelsack,  das  andere  Mal  durch  die  Ganglien  mit- 
einander in  Verbindung  gelassen.  Dann  wurde  die  eine  Tier- 
hälfte abwechselnd  belastet  und  entlastet,  während  die  andere 
HäKte  mit  einem  Registrierapparate  in  Verbindung  stand. 
Jordan  fand:  „daß  die  Belastung  (Dehnung)  der  einen  Tier- 
hälfte in  der  anderen  den  Tonus  herabsetzt,  und  zwar  so,  daß 
ein  Teil  des  peripheren  Nervennetzes  die  Kommunikation 
bildet,  diese  Herabsetzung  eine  geringfügige  ist ;  wenn  dagegen 
das  Zentralnervensystem  die  Brücke  bildet,  so  erfolgt  bei  Be- 
lastung ein  prompter  Tonusfall,  bei  Entlastung  eine  ebenso 
ausgesprochene  und  schnelle  Steigerung".  Daraus  läßt  sich 
schUeßen,  daß  die  Bahnen,  die  durch  das  Pedalganglion  gehen, 
eine  viel  bessere  Verbindung  der  verschiedenen  Teile  des  Muskel- 
sackes untereinander  bilden,    als  das   allgemeine  nervöse  Netz. 

Das  Pedalganglion  zeigt  außerdem  sehr  ausgesprochene 
zentrale  Eigenschaften.  Durchschneidet  man  die  Bahnen,  die 
vom  Pedalganglion  zu  den  Muskeln  führen,  so  bemerkt  man 
bald,  daß  die  gesamte  Muskulatur  einer  dauernden  Verkürzung 
und  Sperrung  anheimfällt.  Genau  wie  bei  Cyona  ist  bei  Aplysia 
das  den  Muskelschlauch  beherrschende  Ganglion  ein  aufsaugen- 
des Reservoir,  das  der  dauernden  Überproduktion  an  Erregung 
im  Nervennetz  ein  Ziel  setzt. 

Auch  bei  den  Landschnecken,  welche  die  gleiche  Trennung 
von  Nervennetz  und  Ganglien  zeigen,  herrscht  die  gleiche  Ein- 
richtung, wie  Biedermann  schreibt.  ,, Neben  der  Rolle  eines 
motorischen  Hauptzentrums  hat  das  Pedalganglion  auch  noch 
die  weitere,  nicht  minder  wichtige  Aufgabe,  den  Tonus  der  ge- 
samten Fußmuskulatur  dauernd  zu  beherrschen,   und  zwar  im 


Aplysia.  185 

Sinne  einer  stetigen  Hemmung.  Jede  dem  Einfluß  des  ge- 
nannten Ganglions  entzogene  Muskelpartie  gerät  in  einen  Zu- 
stand stärkster,  dauernder  Kontraktion  (Tonus)." 

Die  Reizung  der  pseudoperipheren  Nerven  erzeugt  immer 
einen  Erregungszuwachs  im  zentralen  Netz,  und  niemals  eine 
Hemmung.  Bei  den  Landschnecken  kann  man  sich  über  die 
Wirkung  der  Reizung  täuschen,  denn  die  vorher  verrunzelte 
Sohlenfläche  wird  glatt.  Das  ist  aber  bloß  eine  Wirkung  der 
Muskelkontraktion,  welche  die  Blutflüssigkeit  in  das  Lakunen- 
system  unter  die  Haut  preßt.  Bei  Aplysia  ist  die  Kontraktion 
der  Muskeln  immer  über  jeden  Zweifel  erhaben. 

,, Teile  (von  Aplysia),  die  nicht  mehr  mit  einem  lebenden 
Pedalganglion  in  Verbindung  sind,  behalten  durch  Hautreiz 
zugeführten  Tonus  auffallend  lange",  schreibt  Jordan. 

Wir  haben  nach  alledem  im  Pedalganghon  ein  Reservoir 
zu  sehen,  das  die  überschüssige  Erregung  aus  dem  Netz  dauernd 
an  sich  saugt  und  dadurch  die  Muskeln  unter  normalen  Be- 
dingungen erhält.  Das  Saugreservoir  kann  aber  jederzeit,  wenn 
sein  Erregungsniveau  höher  wird  als  das  der  Repräsentanten, 
Erregung  an  das  Netz  abgeben.  Sobald  in  irgendeiner  Form 
Erregung  in  die  Verbindung  der  pseudoperipheren  Nerven  tritt, 
^\de  es  bei  direkter  Nervenreizung  geschieht,  so  geht  die  Er- 
regung ins  Netz  über.  Es  gibt  also  keine  Hemmungsnerven 
und  die  Hemmung  erfolgt  bloß  durch  Absaugung  der  Erregung. 
Die  Abtragung  des  Pedalganglions  hat  denselben  Einfluß,  wie 
die  Reizung  der  pseudoperipheren  Nerven,  beide  steigern  die 
Erregung  in  den  Repräsentanten.  Ist  nun  eine  normale  Be- 
wegung im  Gang,  so  kann  diese  sowohl  durch  den  Verlust  des 
Pedalganglions,  wie  durch  Reizung  der  pseudoperipheren  Nerven 
gehemmt  werden.  In  diesem  Fall  bedeutet  Hemmung  bloß 
eine  Störung  des  Ablaufes  der  normalen  Erregungen.  Bethe 
schreibt  über  Aplysia:  ,,Das  normale  Tier  kriecht  nur,  wenn 
der  Körper  schlaff  ist;  im  Kontraktionszustande  laufen  keine 
Wellen  über  die  Sohle." 

Es  w^äre  sehr  lehrreich,  sich  darüber  ein  Bild  zu  machen, 
was  für  heterogene  Dinge  unter  dem  Wort  ,, Hemmung"  zu- 
sammengefaßt werden.  Man  würde  bald  zur  Überzeugung  ge- 
langen, daß  faßt  jede  Abweichung  von  der  Norm  irgendwelcher 
Bewegung,  aus  welchem  Grunde  sie  auch  erfolge,  als  Hemmung 


186  Aplysia. 

bezeichnet  werden  kann.  Hier  handelt  es  sich  um  die  Frage, 
ob  durch  Reizung  der  pseudoperipheren  Nerven  eine  Erschlaffung 
in  den  Muskeln  hervorgerufen  werden  kann.  Jordan  hat  die 
Nerven  von  herausgeschnittenen  Muskelpartien,  die  ihren  Kon- 
traktionszustand direkt  aufschrieben,  mit  den  verschiedensten 
Reizen  behandelt  und  niemals  etwas  anderes  als  Verkürzung 
erhalten.  Der  Versuch  Biedermanns,  in  den  Nerven  der 
Schnecken  Erschlaffungsfasern  nachzuweisen,  ist  als  gescheitert 
anzusehen.  Da  solche  Fasern  in  keinem  der  von  uns  be- 
handelten Tiere  nachzuweisen  waren,  brauchen  wir  uns  nicht 
weiter  um  sie  zu  bekümmern. 

Die  Bewegungen  der  Schnecken  können  auch  vom  Nerven- 
netz nach  Verlust  des  Pedalgangüons  ausgeführt  werden,  wenn 
die  Erregungssteigerung  nicht  allzu  heftig  auftritt.  Bethe 
schreibt:  ,, Schneidet  man  einem  solchen  Tier  (limax  cinereus 
oder  variegatus)  den  Kopf  ab,  so  zeigen  sich  die  Wellen  in 
unveränderter  Regelmäßigkeit  (Kunkel)."  Auch  an  Aplysia  ist 
in  günstigen  Fällen  ein  Überdauern  der  normalen  Bewegungen 
nach  Entfernung  des  Pedalganglions  zu  beobachten. 

Die  Bewegungen  der  Flügel  von  Aplysia,  die  sich  wie  das 
Gewand  einer  Serpen tintänzerin  benehmen  (Jordan),  sind 
leicht  zu  verstehen,  denn  es  kontrahieren  sich  die  einzelnen 
Muskelbündel  nacheinander  von  vorne  nach  hinten  fortschreitend. 
Das  ist  eine  Bewegungsart,  die  sich  an  die  Schwimmbewegungen 
der  Blutegel  eng  anschUeßt. 

Die  Bewegungen  an  der  Sohle  von  Aplysia  setzen  sich 
aus  zwei  Wellen  zusammen.  Eine  Verdünnungs welle  (Kon- 
traktion der  Querfasern)  läuft  von  vorne  nach  hinten,  wodurch 
die  vorderste  Sohlenpartie  sich  verdünnt  und  nach  vorne  schiebt. 
Sobald  diese  am  Boden  haftet,  tritt  eine  Verdickungswelle 
(Längsmuskelkontraktion)  auf,  welche  die  nächste  Partie  der 
Sohle  nach  vorne  zieht.  Genau  wie  beim  Regenwurm  ziehen 
Verdünnungs-    und  Verdickungs wellen    von  vorne  nach  hinten. 

Auch  an  Landschnecken  hat  Biedermann  das  Vor- 
kommen dieser  Bewegungsart  beobachtet.  Dagegen  zeigt  die 
Sohle  der  Landschnecken  außerdem  noch  einen  ganz  neuen 
Bewegungstjrpus,  der  völlig  aus  der  Reihe  alles  bisher  Be- 
kannten herausfällt.  Jede  Welle,  die  ein  Tier  im  freien  Wasser 
vorwärts  treibt,  läuft  immer  von  vorne  nach  hinten  ab,   denn 


Aplysia.  187 

es  Übt  die  fortschreitende  Vorderseite  der  Welle  einen  Druck 
auf  das  Wasser  aus.  Geht  die  Bewegung  am  Boden  vor  sich, 
so  tritt  gleichfalls  eine  Welle  auf,  die  von  vorne  nach  hinten 
läuft,  wie  wir  das  beim  Regenwurm  gesehen  haben.  Die  Ver- 
dünnungswelle,  die  den  Körper  verlängert,  muß  unter  allen 
Umständen  am  Vorderende  beginnen,  damit  dieses  voranschreite. 
Begänne  die  Verdünnungswelle  am  Hinterende,  so  würde  dieses 
vorangehen.  Nun  zeigen  sich  auf  der  Sohle  der  Landschnecken 
Wellen,  die  von  hinten  nach  vorne  laufen  und  trotzdem  das 
Tier  vorwärts  tragen.  Wodurch  kommt  diese  merkwürdige 
Umkehr  zustande? 

Am  besten  ist  es,  man  vereinfacht  sich  die  Vorstellung 
der  Schneckensohle  durch  folgendes  Bild,  das  die  mechanischen 
Verhältnisse  in  allen  wesentlichen  Punkten  wiedergibt.  Ein 
langer  muskulöser  Strick  sei  von  einer  schwammigen,  elastischen 
Masse  umgeben,  die  mit  Flüssigkeit  vollgesogen  ist.  Nach 
außen  sei  das  ganze  zyhnderförmige  Gebilde  von  einer  elasti- 
schen Haut  überzogen.  Beginnt  der  muskulöse  Strang  sich 
an  einem  Ende  zu  verkürzen,  so  wird  er  zugleich  an  dieser 
Stelle  dicker  und  die  Flüssigkeit  in  der  schwammigen  Masse 
bildet  einen  nach  außen  vorspringenden  Wulst,  der  mit  der 
fortschreitenden  Kontraktionswelle  von  einem  Ende  zum  anderen 
mit  fortschreitet.  Der  Wulst  in  der  schwammigen  Masse, 
welche  in  ihren  gedehnten  elastischen  Wänden  eine  Flüssigkeit 
von  hohem  Binnendruck  einschließt,  hat  die  Aufgabe,  die  über 
ihm  Hegende  Partie  des  muskulösen  Strickes,  sobald  die  Kon- 
traktion geschwunden  ist,  wieder  auszudehnen  und  ihr  die  An- 
fangslänge wiederzugeben.  Das  Fortschreiten  des  Wulstes  über 
den  ganzen  Zylinder  wird  aber  nur  dann  zu  einer  Fortbewegung 
des  Zylinders  führen,  wenn  seine  Oberfläche  nach  Art  eines 
Sperrades  am  Boden  haftet,  das  die  Bewegung  nur  in  der 
Richtung  des  fortschreitenden  Wulstes  freigibt,  in  der  anderen 
aber  hemmt.  Wenn  das  nicht  der  Fall  ist  und  die  Reibung 
am  Boden  nach  beiden  Seiten  hin  die  gleiche  ist,  so  käme  nur 
ein  wirkungsloses  Hin-  und  Herbewegen  an  der  gleichen  Stelle 
zustande.  In  der  Tat  ist  eine  solche  äußere  Sperrwirkung  vor- 
handen. Man  kann  eine  Gartenschnecke,  die  auf  einer  Glas- 
platte kriecht,  wenn  man  sie  an  ihrer  Schale  gefaßt  hat,  ganz 
leicht  nach  vorne,  aber  viel  schwerer  nach  hinten  ziehen. 


188  Aplysia. 

Die  ganze  Sohle  der  Landschnecken  ist  als  ein  einziger 
Saugnapf  anzusehen.  Entsteht  an  irgendeiner  Stelle  ein  er- 
habener Wulst,  so  löst  er  in  einem  kleinen  Bezirk  die  Saug- 
fläche vom  Boden  los  und  ermöglicht  dadurch  eine  wirkliche 
Verschiebung  der  Sohlenfläche  am  Boden.  Diese  Verschiebung 
wird  durch  die  Zusammenziehung  der  Längsmuskeln  und  durch 
ihre  Wiederausdehnung  mittels  der  schwammigen  Masse  hervor- 
gerufen. Der  feste  Punkt  für  diese  teils  ziehende,  teils  stoßende 
Bewegung  liegt  immer  vorne  und  der  bewegte  hinten.  Diese 
theoretische  Betrachtung  wird  durch  die  Beobachtung  aufs 
schönste  bestätigt.  Wir  besitzen  von  Biedermann  eine  ein- 
gehende Beschreibung  des  Vorganges:  ,,Man  kann  sich  leicht 
davon  überzeugen,  daß  ein  bestimmter  Punkt  der  Schnecken- 
sohle immer  in  dem  Momente  eine  beschleunigte  Vorwärts- 
bewegung erfährt,  wo  eine  der  Kontraktionswellen  darüber  hinzieht. 
Betrachtet  man  die  Sohlenfläche  einer  großen  Helix  Pomatia 
von  unten  her  durch  eine  Glasplatte,  auf  welcher  das  Tier  fort- 
gleitet, bei  Lupen  Vergrößerung,  so  sieht  man  dieselbe  übersät 
mit  zahllosen  weißlichen  Pünktchen,  die,  wie  die  mikroskopische 
Untersuchung  lehrt,  kleinen  Drüschen  entspricht.  Faßt  man 
ein  solches  Pünktchen  als  Merkzeichen  ins  Auge,  so  ist  leicht 
festzustellen,  daß  es  in  dem  Augenbhck,  wo  eine  Welle  darüber 
hinläuft,  einen  Ruck  nach  vorwärts  erhält  und  sozusagen  durch 
die  Welle  vorwärts  geschoben  wird.  Solange  es  sich  dann  im 
Bereiche  des  Zwischenraumes  zwischen  je  zwei  Wellen  befindet, 
liegt  es  völlig  ruhig,  um  bei  der  nächsten  Welle  wieder  um 
eine  gleiche  Strecke  vorzurücken.  ...  Es  wird  hiernach  jeder 
Punkt  der  Sohlenfläche  in  streng  rhythmischer  Folge  durch  die 
Wellen  in  der  Richtung  ihres  Fortschreitens  ruckweise  nach 
vorne  bewegt,  um  dann  in  der  neuen  Lage  so  lange  zu  ver- 
harren, bis  eine  folgende  Welle  ihn  in  gleicher  Weise  vorschiebt." 
Trotzdem  ist  Biedermann  der  Meinung,  daß  diese  Wellen- 
bewegung nicht  imstande  ist,  die  Sohle  vorwärts  zu  treiben, 
denn  er  schreibt:  ,,An  sich  ist  nun  freihch  die  Wellenbewegung 
der  Sohle  noch  nicht  vermögend,  ein  stetiges  Fortgleiten  des 
Schneckenkörpers  zu  bedingen.  Es  gehört  dazu  vielmehr  noch 
eine  Kraft,  durch  welche  die  Muskeln  am  Vorderende  der  Sohle 
nach  jedesmaUger  Kontraktion  wieder  passiv  gedehnt  und  nach 
vorne  in  der  Richtung  des  Kriechens  verlängert  werden."   Diese 


Aplysia.  189 

verlängernde  Wirkung  auf  die  kontrahierenden  Muskelfasern  geht 
vom  Binnendruck  des  Wulstes  aus  und  ist  an  der  ganzen 
Sohlenfläche,  nicht  bloß  am  Vorderende  vorhanden.  Die  Dehnung 
am  Vorderende  bringt  dieses  um  die  Breite  einer  Welle  am 
Erdboden  vorwärts. 

So  kann  es  geschehen,  daß  durch  das  Fortschreiten  der 
Kontraktionswellen  der  Längsmuskeln  allein  mit  Hilfe  ihrer 
passiven  Wiederausdehnung  die  Sohle  von  hinten  nach  vorne 
geschoben  wird.  Was  wir  an  Verschiebungen  der  Teilchen  bei 
der  Beobachtung  zu  sehen  bekommen,  ist  eine  gemeinsame 
Wirkung  der  Kontraktion  und  Wiederausdehnung,  die  beide 
im  gleichen  Sinne  wirken,  weil  eine  äußere  Sperrvorrichtung 
vorhanden  ist.  Worin  die  Sperrvorrichtung  besteht,  die  jeder 
Bewegung  der  Sohlenfläche  eine  bestimmte  Richtung  anweist, 
ist  noch  nicht  aufgeklärt;  vielleicht  ist  die  Schleimsekretion  in 
irgendeiner  Weise  daran  beteiligt. 

Es  ist  noch  mit  einem  Worte  darauf  hinzuweisen,  daß 
sich  die  Wellen  stets  in  regelmäßigen  Abständen  folgen.  Da 
sich  keinerlei  Vorrichtung  in  der  Muskulatur  auffinden  läßt, 
die  dieses  Verhalten  verursachen  könnte,  so  sind  \vir  gezwungen, 
anzunehmen,  daß  das  zentrale  Netz,  welches  die  Repräsentanten 
verbindet,  so  gebaut  ist,  daß  sich  immer  diejenigen  Repräsen- 
tanten, die  um  einen  Wellenzwischenraum  voneinander  entfernt 
sind,  in  besonders  inniger  nervöser  Verbindung  befinden,  und 
daß  infolgedessen  der  Beginn  des  Wellenspieles  an  einer  Stelle 
sogleich  ausschlaggebend  wird  für  das  Entstehen  neuer 
Wellen  in  bestimmten  Distanzen. 

Es  kann  keinem  Zw^eifel  unterliegen,  daß  das  ganze  Wellen- 
spiel auf  Bewegungen  der  statischen  Erregung  zurückzuführen 
ist,  welches  sich  immer  dann  frei  entfaltet,  wenn  keine  dyna- 
mischen Wellen  störend  eingreifen.  Wir  sind  leider  noch  nicht 
in  der  Lage,  den  Parallelismus  zwischen  dem  Ablauf  der  Muskel - 
bewegung  und  der  Nervenerregung  mit  derjenigen  Sicherheit 
darzulegen,  wde  es  etwa  bei  den  Herzigeln  der  Fall  war.  Aber 
daß  es  sich  auch  hier  um  ein  Kreisen  der  Erregung  in  den 
zentralen  Bahnen  handelt,  das  sowohl  von  der  unbekannten 
Verbindungsart  der  Bahnen,  wie  vom  Zustand  der  Muskeln 
abhängig  ist,  scheint  mir  sicher  zu  sein. 

Zeigte    das    allein    gelassene  Nervennetz  nicht  allzu  große 


190  Aplysia. 

Neigung,  einen  dauernden  Erregungszuwachs  7ai  produzieren, 
so  könnte  auch  Aplysia,  wie  das  einzehie  Landschnecken  tun, 
ohne  Gangüen  ihre  normalen  Bewegungen  ausführen.  So  aber 
muß  sie  von  dem  großen  Erregungsreservoir  des  Pedalganglions 
dauernd  gebremst  werden,  sonst  gerät  sie  in  Dauererregung. 
Merkwürdigerweise  besitzen  die  Schnecken  noch  eine  zweite 
Bremsvorrichtung,  von  der  es  ungewiß  ist,  ob  sie  direkt  das 
zentrale  Netz  oder  das  Pedalganglion  bremst.  Diese  zweite 
Bremsvorrichtung  befindet  sich  in  dem  über  dem  Schlund  ge- 
legenen paarigen  Zerebralganghon. 

Eine  Aplysia,  der  das  Zerebralganghon  entfernt  wurde, 
verfällt  zwar  nicht  mehr  einer  Dauerkontraktion,  dafür  ist  sie 
aber  immer  in  Bewegung  und  schwimmt  oder  kriecht  rastlos 
umher.  Jordan  schreibt  hierüber:  ,,Eine  Schnecke  (Aplysia) 
ohne  Zerebralganglion  bewegt  sich  stets,  mit  Zerebralganghon 
wenig.  Diese  Hemmung  ihrerseits  findet  jedoch  nur  statt,  so- 
lange der  aktive  Zustand  des  Ganghons  ein  geringer  ist.  Je  mehr 
dieser  jedoch  steigt,  desto  mehr  nimmt  das  Tier  den  Habitus 
eines  zerebrallosen  an,  wie  wir  sagen:  Das  Tier  setzt  sich  eben- 
falls in  Bewegung.  Es  steigt  aber  dieser  aktive  Zustand  höchst- 
wahrscheinhch  durch  Erregung  der  Hauptsinnesnerven." 

Versuchen  wir  die  Wirkungsart  beider  Ganghen  mit- 
einander zu  vergleichen,  so  zeigt  sich,  daß  das  Pedalganglion 
die  Aufgabe  hat,  das  Niveau  der  statischen  Erregung  im  Netz 
herabzudrücken,  daß  das  Zerebralganglion  aber  die  Bewegungen 
der  statischen  Erregung  unterdrückt.  Beides  ist  notwendig, 
da  der  große  Muskelsack  überall  von  der  rezipierenden  Haut 
überzogen  ist,  die  dauernd  dynamische  Wehen  erzeugt.  Diese 
Wellen  steigern  das  Erregungsniveau,  und  wenn  diese  Wirkung 
verhindert  wird,  rufen  sie  immer  von  neuem  Schwingungen 
der  statischen  Erregung  hervor.  Wir  sind  leider  nicht  ge- 
nügend über  die  Beziehungen  der  beiden  Ganghen  untereinander 
aufgeklärt,  um  uns  ein  zuverlässiges  Bild  vom  Eingreifen  des 
Zerebralganglions  zu  machen.  Nur  soviel  läßt  sich  mit  Sicher- 
heit über  die  biologische  Aufgabe  des  Zerebralganghons  sagen: 
Es  dient  dazu,  daß  die  Reizung  der  höheren  Rezeptoren,  wie 
des  Auges  und  der  Witterungsorgane,  ihren  Einfluß  auf  den 
Muskelsack  ausübe.  Der  mit  dem  Pedalganghon  allein  ver- 
bundene  Muskelsack  zeigt,  sich  selbst    überlassen,    so  viel   Er- 


Die  Gegenwelt.  191 

regungs Vorgänge,  daß  die  Wirkung  der  höheren  Rezeptoren  not- 
wendig einen  Wirrwarr  hervorbringen  müßten,  wenn  nicht  vor- 
her die  Erregungsströmungen  abgedämpft  werden.  Die  Erregung, 
die  von  den  höheren  Rezeptoren  ausgeht,  übt  ihren  Einfluß 
aber  gar  nicht  nach  Art  eines  Reflexes  aus,  sondern  wirkt  auf 
den  Muskelsack  nur  indirekt,  indem  sie  die  Bremsvorrichtung 
des  Zerebralganghons  für  bestimmte  Teile  stillstellt  und  den 
unterdrückten  Erregungen  die  Möghchkeit  voller  Entfaltung 
bietet.  Die  Wirkung  des  Lichtreizes  z.  B.  besteht  darin,  daß  die 
von  ihm  hervorgerufene  Erregung  in  den  rezeptorischen  Nerven 
weiterläuft,  bis  sie  zur  Bremsvorrichtung  im  Zerebralganglion 
gelangt.  Dort  stellt  sie  bestimmte  Teile  des  Bremsapparates 
fest  und  ermöghcht  dadurch  der  unterschwellig  vorhandenen 
Erregung  im  zentralen  Netz,  ihre  Wirkung  auf  bestimmte 
Muskeln  zu  entfalten.  Die  Wirkung  ist  genau  dieselbe,  als 
wenn  die  Erregung  vom  Rezeptor  zum  Effektor  geeilt  wäre. 
Die  Schnecken  gleichen  solchen  Maschinen,  die  in  allen 
Teilen  einen  Überschuß  an  Dampf  produzieren,  der  durch  zahl- 
reiche Ventile  dauernd  entlassen  wird.  Die  Maschine  wird 
gelenkt,  indem  man  bald  das  eine,  bald  das  andere  Ventil 
schheßt  und  auf  diese  Weise  der  Maschine  jede  gewünschte 
Richtung  gibt. 

Die  Gegenwelt. 

Unsere  bisherigen  Betrachtungen  der  Innenwelt  der  Tiere 
befaßten  sich  hauptsächlich  mit  den  motorischen  Funktionen 
des  Nervensystems.  Bei  den  einfacheren  Tieren  liegt  das 
Schwergewicht  der  nervösen  Organisation  im  motorischen  Teil. 
Die  Leistungen  der  muskulösen  Apparate  sind  oft  schon  hoch- 
kompliziert, während  die  rezeptorischen  Organe  noch  äußerst 
einfach  sind.  Der  Ablauf  der  Erregungen  im  zentralen  Netz 
ist  entweder  durch  den  Rhythmus  der  Muskeln  indirekt  be- 
stimmt, oder  der  Bau  des  Nervensystems  bestimmt  selbst 
diesen  Rhythmus.  Die  Teilungen  des  zentralen  Netzes  haben 
dann  bloß  die  Aufgabe,  besondere  Gruppen  oder  Arten  von 
Muskelfasern  näher  miteinander  zu  verbinden,  um  sie  den 
dynamischen  Wellen,  die  aus  bestimmten  Rezeptoren  stammen, 
gleichmäßig  zugänglich  zu  machen  unter  Ausschluß  der  übrigen 


J92  ^^®  Gegonwelt. 

Muskulatur.  In  jedem  Falle  sehen  wir,  daß  die  Komplikationen 
des  nervösen  Aufbaues  sich  unmittelbar  auf  die  motorischen 
Tätigkeiten  des  Tieres  beziehen. 

Das  ändert  sich  bei  den  höheren  Tieren.  Der  motorische 
Apparat  zeigt  bei  ihnen  keine  prinzipiellen  Neuerungen  außer 
einer  immer  weitergehenden  Subordination  von  zahlreichen 
motorischen  Netzen  unter  einzelne  beherrschende  Netze  oder 
Zentralstationen.  Der  rezeptorische  Apparat  dagegen  beginnt 
sich  immer  mehr  und  mehr  zu  entfalten.  Nicht  allein  durch 
die  Rezeptionsorgane  selbst,  die  immer  zahlreicher  und  mannig- 
faltiger werden,  sondern  auch  durch  ihre  Verwertung  im  zen- 
tralen Netz,  die  eine  ganz  andere  und  reichere  wird. 

Alle  Rezeptoren  haben,  wie  wir  wissen,  die  gleiche  Auf- 
gabe: die  Reize  der  Außenwelt  in  Erregungen  zu  verwandeln. 
Es  tritt  also  im  Nervensystem  der  Reiz  selbst  nicht  wirklich 
auf,  sondern  an  seine  Stelle  tritt  ein  ganz  anderer  Prozeß,  der 
mit  dem  Geschehen  der  Umwelt  gar  nichts  zu  tun  hat.  Er 
kann  nur  als  Zeichen  dafür  dienen,  daß  sich  in  der  Umwelt 
ein  Reiz  bsfindet,  der  den  Rezeptor  getroffen  hat.  Über  die 
Qualität  des  Reizes  sagt  er  nichts  aus.  Es  werden  die  Reize 
der  Außenwelt  samt  und  sonders  in  eine  nervöse  Zeichen- 
sprache übersetzt.  Merkwürdigerweise  tritt  für  alle  Arten  von 
äußeren  Reizen  immer  wieder  das  gleiche  Zeichen  auf,  das 
nur  in  seiner  Intensität  entsprechend  der  Reizstärke  wechselt. 
Die  Reizstärke  muß  erst  eine  gewisse  Schwelle  überschritten 
haben,  ehe  ein  Erregungszeichen  auftritt.  Dann  aber  wächst 
die  Stärke  der  Erregung  mit  der  Stärke  des  Reizes. 

Die  Einfügung  der  Schwelle  ist  ein  sehr  wirksames  Mittel, 
das  dem  Organismus  erlaubt,  die  Reize  der  Umwelt  auszu- 
schalten oder  auszuwählen.  Wenn  aber  das  Nervensystem  bei 
allen  Reizen  nur  das  gleiche  Zeichen  erhält,  wie  wird  es  dann  mög- 
lich, die  Reizarten  zu  unterscheiden?  Dies  geschieht  durch  die 
Benutzung  besonderer  Nervenbahnen,  für  die  besonders  unter- 
schiedenen Reizarten.  Jedes  Rezeptionsorgan  verfügt  über 
eine  sehr  große  Anzahl  zentripetaler  Bahnen  und  ist  dadurch 
in  den  Stand  gesetzt,  auch  sehr  feine  Unterschiede  in  der 
Reizart  ebenso  sicher  wie  die  gröbsten  zu  differenzieren,  indem 
es  für  jede  Reizart  eine  besondere  Nervenbahn  bereithält. 

Auch    bei    den    niederen  Tieren   zeigt   sich   schon  die  An- 


Die  Gegen  weit.  I93 

Wendung  besonderer  Bahnen  für  die  verschiedenen  Rezeptoren. 
Sobald  aber  diese  Bahnen  in  das  allgemeine  Nervennetz  ein- 
münden, geht  die  Differenzierung  wieder  verloren  und  das 
Nervensystem  unterscheidet  die  Reize  der  Außenwelt  nicht 
mehr  ihrer  Art  nach,  sondern  nur  entsprechend  ihrer  Stärke. 
Bleiben  die  zentripetalen  Bahnen  isoliert,  so  ergibt  sich  die 
Möglichkeit,  auch  die  Reizarten  in  ihrer  Wirkung  auf  den 
Organismus  getrennt  zu  verwerten. 

Bei  den  höheren  Organismen  treten  verschiedene  zentripetale 
Bahnen,  die  bestimmten,  häufig  vorkommenden  Reizkombina- 
tionen entsprechen,  in  isolierten  Netzen  zusammen  und  dienen 
den  entsprechenden  Erregungskombinationen  als  Sammelstelle. 
Dadurch  wird  dem  Organismus  die  Möglichkeit  geboten,  auch 
Reizkombinationen  differenziert  zu  behandeln.  Man  könnte 
solche  Reizkombinationen  kurzerhand  als  Gegenstände  an- 
sprechen und  dementsprechend  das  Nervensystem  eines  Tieres, 
das  auf  verschiedene  Reizkombinationen  verschieden  reagiert, 
für  fähig  halten,   Gegenstände  zu  unterscheiden. 

Mir  schien  dieser  Schluß  bisher  unabweislich.  Je  mehr 
ich  mich  aber  mit  der  Frage  beschäftigte :  Welche  mechanische 
Einrichtungen  muß  ein  Nervensystem  besitzen,  damit  es  ver- 
schiedene Gegenstände  seiner  Umwelt  verschieden  behandelt, 
um  so  mehr  kam  ich  zur  Überzeugung,  daß  einfache  Erregungs- 
kombinationen dazu  nicht  ausreichen.  Ein  jeder  Gegenstand 
ist  vor  allem  charakterisiert  durch  seine  räumliche  Aus- 
dehnung. 

Für  die  niederen  Tiere  ist  es  sicher,  daß  sie  dieses  Cha- 
rakteristikum nicht  benutzen.  Die  Verbindung  eines  mecha- 
nischen Reizes  mit  einem  chemischen  Reiz  genügt  zum  Beispiel 
dem  Seeigel  vollauf,  um  den  feindlichen  Seestern  von  allen 
übrigen  Wirkungen  der  Umwelt  sicher  zu  unterscheiden.  Aber 
bei  den  höheren  Organismen  ist  das  nicht  mehr  der  Fall.  Sie 
begnügen  sich  nicht  mehr  mit  dieser  primitiven  Einteilungs- 
maschinerie. Sie  unterscheiden  dank  ihrer  höheren  Organi- 
sation auch  die  räumlichen  Umgrenzungen  der  Gegenstände. 
Bereits  der  Regenwurm  lieferte  die  erste  Probe  davon. 

Hier  tritt  auf  einmal  das  Raumproblem  in  seiner  ganzen 
Schwierigkeit  an  uns  heran.  Jede  einzelne  Reizqualität  kann 
durch    Anwendung    einer    isolierten    Nervenbahn    im    Zentral- 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  13 


194  ^^®  Gegenwelt. 

nervensystem  durch  ein  besonderes  Zeichen  isoliert  festgehalten 
werden,  einerlei,  welchen  Weg  die  Nervenbahn  einschlagen 
mag.  Die  räumliche  Anordnung  der  Reize  aber  geht  verloren, 
wenn  sie  nicht  durch  eine  gleichartige  Anordnung  der  Nerven- 
bahnen festgehalten  wird.  Nun  zeigt  es  sich,  welche  Bedeu- 
tung es  für  den  Organisationsplan  des  Zentralnervensystems 
hat,  daß  die  Reizarten  nicht  durch  verschiedene  Erregungs- 
arten in  der  gleichen  Nervenfaser  wiedergegeben,  sondern  durch 
Anwendung  verschiedener  Nervenfasern  festgehalten  werden. 
Die  Erregungsarten  könnte  man  gar  nicht  räumlich,  den  Formen 
der  Gegenstände  entsprechend,  ordnen,  die  Nervenfasern  aber 
wohl. 

Die  Nervenfasern  kann  man  ordnen,  indem  man  sie  in 
einer  Fläche  nebeneinander  legt  und  auf  diese  Weise  eine 
räumliche  Anordnung  schafft,  die  der  äußeren  Anordnung  der 
Reize  in  der  Umwelt  entspricht.  Dadurch  erlangt  das  Zentral- 
nervensystem die  Möglichkeit,  in  ganz  neue  und  viel  intimere 
Beziehungen  zu  seiner  Umgebung  zu  treten,  als  dies  durch 
die  bloßen  Reizkombinationen  der  Fall  war.  In  welcher  Weise 
wir  uns  die  Anordnung  der  Nervenfasern  denken  wollen,  ob 
einem  Kreise  in  der  Umwelt  eine  kreisförmige  oder  dreieckige 
Anordnung  der  Nervenbahnen  entsprechen  soll,  oder  umgekehrt, 
ist  ganz  gleichgültig.  Die  Hauptsache  ist,  daß  die  Unter- 
scheidungen der  räumlichen  Umgrenzungen  der  Gegenstände 
durch  die  höheren  Zentralnervensysteme  und  Hirne  eine  feste 
räumliche  Verteilung  der  Nervenbahnen  verlangt.  Man  kann 
behaupten,  die  höheren  Gehirne  kennen  die  Umwelt  nicht  bloß 
durch  eine  Zeichensprache,  sondern  sie  spiegeln  ein  Stück 
Wirklichkeit  in   der   räumlichen  Beziehung   ihrer   Teile   wieder. 

Durch  Einführung  dieses,  wenn  auch  sehr  vereinfachten 
Weltspiegels  in  die  Organisation  des  Zentralnervensystems  hat 
der  motorische  Teil  des  Nervensystems  seine  bisherigen  Be- 
ziehungen zur  Umwelt  verloren.  Es  dringen  keine  in  Erregungs- 
zeichen verwandelte  Außenreize  mehr  direkt  zu  den  motorischen 
Netzen.  Diese  erhalten  alle  Erregungen  nur  noch  aus  zweiter 
Hand,  aus  einer  im  Zentralnervensystem  entstandenen  neuen 
Erregungswelt,  die  sich  zwischen  Umwelt  und  motorischem 
Nervensystem  aufrichtet.  Alle  Handlungen  der  Muskelappa- 
rate  dürfen   nur   noch  auf  sie  bezogen  und  können  nur  durch 


Die  Gegen  weit.  196 

sie  verstanden  werden.  Das  Tier  flieht  nicht  mehr  vor  den 
Reizen,  die  der  Feind  ihm  zusendet,  sondern  vor  einem  Spiegel- 
bilde des  Feindes,  das  in  einer  Spiegelwelt  entsteht. 

Um  aber  durch  die  Anwendung  des  Wortes  ,,  Spiegel  weit" 
keine  Mißverständnisse  herbeizuführen,  weil  ein  Spiegel  viel 
mehr  tut,  als  bloß  einige  räumliche  Verhältnisse  in  sehr  ver- 
einfachter Form  wiederzugeben,  nenne  ich  diese  im  Zentral- 
nervensystem der  höheren  Tiere  entstandene  neue  Eigenwelt 
die  Gegenwelt  der  Tiere. 

In  der  Gegenwelt  sind  die  Gegenstände  der  Umwelt  durch 
Schemata  vertreten,  die  je  nach  dem  Organisationsplan  des 
Tieres  sehr  allgemein  gehalten  sein  und  sehr  viele  Gegenstands- 
arten zusammen  fassen  können.  Es  können  die  Schemata 
aber  auch  sehr  exklusiv  sein  und  sich  nur  auf  ganz  bestimmte 
Gegenstände  beziehen.  Die  Schemata  sind  kein  Produkt  der 
Umwelt,  sondern  einzelne,  durch  den  Organisationsplan  gegebene 
Werkzeuge  des  Gehirnes,  die  immer  bereitliegen,  um  auf 
passende  Reize  her  Außenwelt  in  Tätigkeit  zu  treten.  Ihre 
Anzahl  und  ihre  Auswahl  läßt  sich  nicht  aus  der  Umgebung 
des  Tieres,  die  wir  sehen,  erschließen.  Sie  lassen  sich  nur 
aus  den  Bedürfnissen  des  Tieres  folgern.  Wenn  die  Schemata 
auch  räumliche  Spiegelbilder  der  Gegenstände  darstellen,  so  ist 
dennoch  die  Form  und  die  Zahl  dieser  Bilder  Eigentümlich- 
keit des  Spiegels  und  nicht  des  Gespiegelten. 

Die  Schemata  wechseln  mit  den  Bauplänen  der  Tiere. 
Dadurch  ergibt  sich  eine  große  Mannigfaltigkeit  der  Gegen- 
welten, die  die  gleiche  Umgebung  darstellen.  Denn  nicht  ist 
es  die  Natur,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  welche  die  Tiere  zur 
Anpassung  zwingt,  sondern  es  formen  im  Gegenteil  die  Tiere 
sich  ihre  Natur  nach  ihren  speziellen  Bedürfnissen. 

Wenn  wir  die  Fähigkeit  besäßen,  die  Gehirne  der  Tiere 
vor  unser  geistiges  Auge  zu  halten,  wie  wir  ein  Glasprisma 
vor  unser  leibliches  Auge  zu  halten  vermögen,  so  würde  uns 
unsere  Umwelt  ebenso  verändert  erscheinen.  Nichts  Anmutigeres 
und  Interessanteres  dürfte  es  geben,  als  solch  ein  Blick  auf 
die  Welt  durch  das  Medium  der  verschiedenen  Gegenwelten. 
Leider  bleibt  uns  dieser  Anblick  versagt  und  wir  müssen  uns 
mit  einer  mühsamen  und  ungenauen  Rekonstruktion  der  Gegen- 
jWelten  begnügen,  wie  sie  uns  durch  eingehende  und  schwierige 

13* 


1QQ  Die  Gegenwelt. 

Versuchsreihen  wahrscheinlich  gemacht  werden.  Ein  leitender 
Gedanke  gibt  uns  die  Hoffnung,  aus  diesem  unsicheren  Mate- 
rial etwas  Brauchbares  aufzubauen,  das  ist  die  Gewißheit,  daß 
die  Natur  und  das  Tier,  nicht  wie  es  den  Anschein  hat,  zwei 
getrennte  Dinge  sind,  sondern  daß  sie  zusammen  einen  höheren 
Organismus  bilden.  Die  Umgebung,  die  wir  um  das  Tier  aus- 
gebreitet sehen,  ist  selbstverständlich  ein  anderes  Ding  als  die 
Tiere;  aber  dafür  ist  sie  auch  nicht  ihre  Umwelt,  sondern 
unsere.  Die  Umwelt,  wie  sie  sich  in  der  Gegenwelt  des  Tieres 
spiegelt,  ist  immer  ein  Teil  des  Tieres  selbst,  durch  seine  Or- 
ganisation aufgebaut  und  verarbeitet  zu  einem  unauflöslichen 
Ganzen  mit  dem  Tiere  selbst.  Man  kann  sich  wohl  die  von 
uns  gesehene  Umgebung  des  Tieres  wegdenken  und  sich  ein 
Tier  isoliert  vorstellen.  Man  kann  sich  aber  nicht  ein  Tier 
soliert  von  seiner  Umwelt  denken,  denn  diese  ist  nur  als  eine 
Projektion  seiner  Gegenwelt  richtig  zu  verstehen.  Und  die 
Gegenwelt  ist  ein  Teil  seiner  eigensten  Organisation. 

Nachdem  wir  von  der  Bedeutung  der  Gegenwelt  einen 
allgemeinen  Eindruck  gewonnen,  wollen  wir  es  versuchen,  uns 
darüber  Rechenschaft  zu  geben,  welche  Anschauung  nach  unseren 
jetzigen  Kenntnissen  der  Gegenwelt  am  besten  entspricht. 
Dieses  kann  nur  andeutungsweise  geschehen  und  muß  not- 
wendigerweise sehr  unvollständig  bleiben,  bis  mehr  Beobach- 
tungsmaterial gesammelt  ist.  Aber  in  jedem  Falle  wird  eine 
anschauliche  Vorstellung  von  Nutzen  sein,  weil  sie  uns  einer- 
seits zu  einer  klaren  Fragestellung  verhilft,  andererseits  uns 
einen  allgemeinen  Zusammenhang  ahnen  läßt.  Ist  die  Gegen- 
welt einmal  entstanden,  so  übt  sie  eine  bedeutende  Anziehungs- 
kraft auf  alle  Rezeptoren  aus,  welche  nach  und  nach  ihre 
direkten  Beziehungen  zum  allgemeinen  Nervennetz  fallen  lassen 
und  sich  mit  dem  rezeptorischen  Netz  der  Gegenwelt  verbinden. 

Als  Ausgangspunkt  unserer  Betrachtung  kann  uns  der 
Regenwurm  dienen,  der  zum  ersten  Male  eine  sichere  Unter- 
scheidung der  Form  kundgibt.  Das  zentrale  Netz  des  Regen- 
wurmes tritt  am  Vorderende  in  die  beiden  Oberschlundganglien 
ein.  Die  Oberschlundganglien  müssen,  um  den  einfachsten 
Unterschied  von  links  und  rechts  an  einem  Gegenstand  zu 
machen,  mindestens  zwei  getrennte  Zentren  beherbergen.  Diese 
beiden  Zentren  müssen  in  fester  Verbindung  miteinander  stehen, 


Die  Gegenwelt.  197 

wenn  sie  auf  eine  bestimmte  Gegenstandsform,  die  viel  links, 
aber  wenig  rechts  reizt,  eine  bestimmte  Muskelbewegung  er- 
folgen lassen.  Jedes  dieser  Zentren  will  ich  in  geringer  Ab- 
weichung von  der  Ausdrucksweise  in  meinem  ,, Leitfaden" 
einen  ,, Erregungskern"  nennen.  Die  beiden  zusammen- 
arbeitenden Zentren  bilden  ein  gemeinsames  Schema.  Der 
Regenwurm  besäße  demnach  die  einfachste  Form  eines  Schemas, 
das  aus  zwei  Erregungskemen  und  ihrer  leitenden  Verbindung 
besteht.  Dieses  Schema  kann  als  der  erste  Ansatz  zu  einer 
Gegen  weit  angesehen  werden. 

Die  nächst  höhere  Stufe  der  Gegenwelt  treffen  wir  bei 
den  Tieren,  deren  Augen  eine  Bewegung  übermitteln,  oder,  um 
mit  Nuel  zu  reden,  der  Motorezeption  dienen.  In  diesem 
Falle  müssen  wir  uns  bereits  eine  Fläche  vorstellen,  die  zahl- 
reiche Erregungskerne  enthält.  Die  Erregungskerne  lösen  nur 
dann  eine  wohldefinierte  Muskeltätigkeit  aus,  wenn  sie  gruppen- 
weise nacheinander  in  Erregung  geraten,  sobald  eine  Erregungs- 
welle über  sie  hinweggeht,  gleich  einer  Welle  über  ein  Ähren- 
feld. Feste  nervöse  Verbindungen,  die  zur  Bildung  von 
Schematen  führen,  bestehen  noch  nicht  zwischen  den  einzelnen 
Kernen.  In  ihrer  Umwelt  ist  das  ein  Gegenstand  zu  nennen, 
,,was  sich  zusammen  bewegt"  ohne  jede  Rücksicht  auf  die 
Form. 

Die  nächst  höhere  Gegenwelt  finden  wir  dort,  wo  vom 
Auge  bereits  Bilder  unterschieden  werden,  wo  die  einfachste 
Ikonorezeption  auftritt.  Dort  treten  im  Felde  der  Erre- 
gungskerne bereits  die  ersten  Schemata  auf,  welche  groben 
Umrißzeichnungen  der  auf  die  Retina  entworfenen  Bilder 
gleichen.  In  diesem  Falle  kann  man  bereits  von  räumhchen 
Schematen  reden.  Diese  werden  erregt,  sobald  sich  ein  dem 
Schema  entsprechender  Gegenstand  dem  Tiere  nähert.  Räum- 
lichen Schematen  in  der  Gegenwelt  entsprechen  fest  umgrenzte 
Gegenstände  in  der  Umwelt. 

Zwischen  die  beiden  Gegen  weiten  der  Moto-  und  der 
Ikonerezeption  schiebt  sich  die  Gegen  weit  der  Chromorezep- 
tion,  welche  die  Unterscheidung  von  farbigen  Gegenständen 
ohne  Rücksicht  auf  ihre  Form  ermöglicht.  Hierbei  müssen 
Gruppen  von  verschieden  stark  erregten  Erregungskernen  moto- 
risch   wirksam    werden.     In    der  Umwelt    solcher   Tiere  lautet 


198  "  ^^®  Gegenvvelt. 

die  Definition    für    den  Gegenstand :    ein    Gegenstand    ist   das, 
was  die  gleiche  Farbe  besitzt. 

Wie  man  sieht,  sind  auf  diese  Weise  die  drei  Charakte- 
ristika, die  wir  jedem  gesehenen  Gegenstand  in  der  Umgebung 
der  Tiere  zuschreiben,  auseinander  gefaltet.  Die  Einzelteile, 
die  einen  gesehenen  Gegenstand  zusammensetzen,  haben  einen 
gemeinsamen  Umriß ,  in  der  Regel  eine  gemeinsame 
Farbe,  und  eine  gemeinsame  Bewegung.  Wie  groß  ist 
hier  bereits  der  Fortschritt  gegenüber  den  niederen  Tieren,  die 
von  der  Einheit  der  Gegenstände  nur  darum  etwas  erfahren, 
weil  diese  ein  einheitliches  Parfüm  haben,  einen  einheit- 
lichen Schatten  werfen  oder  einen  einheitlichen  Stoß 
versetzen. 

Wenn  wir  auch  mit  Recht  die  drei  erstgenannten  Formen 
als  einen  großen  Fortschritt  betrachten,  so  dürfen  wir  ihre 
Fähigkeiten  auch  nicht  überschätzen.  Wohl  gestatten  sie,  auf 
räumliche  Unterscheidungen  gestützt,  die  Gegenstände  in  be- 
schränktem Maße  widerzuspiegeln.  Aber  von  einer  Ordnung 
der  Gegenstände  zueinander  und  einer  Beziehung  zu  ihrer 
Lage  im  Raum  spüren  wir  noch  nichts.  Jedes  angeschlagene 
Schema  wirkt  wie  jede  Reizkombination  die  zugehörige  Muskel- 
tätigkeit auslösend  und  damit  fertig. 

Unterdessen  hat  sich  in  der  Tierreihe  mit  Hilfe  eines 
anderen  Rezeptors  eine  neue  Beziehung,  wenn  auch  nicht  zum 
Räume,  so  doch  zum  Erdmittelpunkt  ausgebildet.  Das  ist 
der  Statolith.  Die  Wirkung  des  Statolithen  auf  das  zentrale 
Netz  ist  von  Anfang  an  eine  ganz  andersartige  wie  diejenige 
der  übrigen  Rezeptoren,  die  einen  Außenreiz  in  eine  dyna- 
mische Erregung  verwandeln.  Wir  müssen  weit  zurückgreifen, 
wenn  wir  seine  eigentümliche  Stellung  verstehen  wollen.  Die 
Last  eines  jeden  GHedes  und  des  ganzen  Körpers  wird  dauernd 
ausbalanciert  durch  die  dauernde  Tätigkeit  der  Sperrmuskeln, 
die  ihre  Erregung  der  dauernden  Beeinflussung  durch  die  sta- 
tische Erregung  des  zentralen  Netzes  verdanken.  Die  statische 
Erregung  im  Netz  war  ihrerseits  das  Werk  der  mit  statischer 
Erregung  gefüllten  zentralen  Reservoire.  Der  Einfluß  des  Stato- 
lithen, der  den  Körper  dauernd  unter  den  gesteigerten  Einfluß 
der  Schwerkraft  bringt,  wirkt  auf  diese  zentralen  Reservoire  in 
noch  unbekannter  Weise  ein,   aber  erzeugt  nur  ausnahmsweise 


Die  Gegen  weit.  199 

dynamische  Wellen.  Bei  den  niederen  Tieren,  deren  Körper 
im  Leben  die  gleiche  Lage  zum  Erdmittelpunkt  einnimmt 
wie  im  Tode,  fehlt  für  gewöhnlich  der  Statolith  oder  scheint, 
wenn  vorhanden,  anderen  Funktionen  zu  dienen.  Ich  brauche 
bloß  an  die  Medusen  zu  erinnern.  Das  Ausbalancieren  des 
Körpers  beim  Gehen  oder  Kriechen  wird  von  den  belasteten 
Muskeln  ohne  Beihilfe  besorgt,  da  der  Körper  dank  seines 
Schwerpunktes  stets  von  selbst  nach  der  normalen  Lage  zurück- 
strebt. Bei  jenen  Tieren  aber,  die  in  einem  künstlichen 
Gleichgewichte  erhalten  werden,  bedürfen  die  Muskeln  eines 
dauernden  Korrektivs.  Dieses  Korrektiv  liefert  ihnen  der 
kleine  Stein,  der  auf  feinen  Haaren  balancierend  stets  jenes 
Haar  erregt,  das  im  Augenblicke  senkrecht  zum  Erdmittelpunkte 
steht.  Von  hier  aus  werden  die  statischen  Reservoire  derjenigen 
Seite  beeinflußt,  die  momentan  in  Gefahr  steht ,  den  Ände- 
rungen des  Schwerpunktes  nachzugeben,  weil  dieser  stets  aus  der 
physiologischen  in  die  physikalische  Lage  strebt.  Die  Muskeln 
allein  reichen  dazu  nicht  aus,  denn  einer  so  anhaltenden  Dauer- 
belastung geben  sie  immer  nach,  wenn  nicht  speziell  für  ihren 
Erregungsnachschub  gesorgt  ist.  Der  Statohth  veranlaßt  eine 
dauernde  Sperrung  der  Muskeln.  Wird  er  entfernt,  so  fällt 
in  den  Muskeln  die  Sperrschwelle,  die  der  Belastung  das  Gegen- 
gewicht hielt,  und  die  Tiere  sind  unfähig,  ihre  physiologische 
Lage  einzunehmen,  sondern  fallen  immer  wieder  in  die  physi- 
kalische Lage  zurück.  Der  Statohth  sorgt  also  für  die  Erhal- 
tung einer  gleichmäßigen  normalen  Körperhaltung  und  gewinnt 
dadurch  Beziehungen  zur  Gegenwelt.  Ganz  besonders  eng 
werden  diese  Beziehungen  bei  jenen  Tieren,  deren  Statohthen 
die  Stellung  der  Augen  beherrschen.  Es  gibt  Krebse,  die  mit 
ihren  Augenstielen  die  Bewegungen,  die  ihr  Körper  nach  einer 
Seite  macht,  durch  eine  sogenannte  kompensatorische  Bewegung 
nach  der  anderen  Seite  hin  wieder  ausgleichen  und  auf  diese 
Weise  ihren  Augen  ermöghchen,  ein  unverrücktes  Bild  der 
Außenwelt  auf  der  Retina  zu  entwerfen.  Dies  gibt  ihnen  die 
MögUchkeit,  den  verwirrenden  Einfluß  der  eigenen  Körper- 
bewegungen auf  die  Gegenwelt  in  weiten  Grenzen  auszuschalten, 
um  den  durch  die  Bewegungen  der  Gegenstände  herbeigeführten 
Motoreflex  rein  zur  Geltung  kommen  lassen. 

Bei    den    Insekten    werden    die   kompensatorischen    Bewe- 


200  -^^®   Gegen  weit. 

gungen  der  Augen  durch  einen  Motoreflex  von  den  Augen 
selbst  ausgelöst.  Sobald  sich  das  ganze  Bild  der  Umgebung 
auf  der  Retina  verschiebt,  löst  die  in  den  Kernen  der  Gegen- 
welt hervorgerufene  Erregung,  die  mit  der  Verschiebung  des 
Bildes  zu  wandern  beginnt,  eine  kompensatorische  Verkürzung 
der  Halsmuskeln  hervor  und  das  Auge  behält  eine  ruhende 
Außenwelt,  auch  wenn  der  Körper  sich  neigt. 

Damit  sind  wir  zum  schwierigsten  Punkt  des  ganzen  Pro- 
blems gelangt:  Welchen  Einfluß  haben  die  eigenen  Bewegungen 
auf  die  Gegen  weit?  Bisher  haben  wir  nur  gesehen,  daß  die 
Augenbewegungen  dazu  verwendet  werden,  den  Einfluß  der 
Körperbewegungen  auf  die  Gegen  weit  aufzuheben.  Aber  es  ist 
sicher,  daß  die  Augenbewegungen  auch  noch  andere  Aufgaben 
zu  erfüllen  haben.  So  folgt  das  Auge  vieler  Tiere  einem  vorbei- 
ziehenden Gegenstande.  Dies  kann  nur  den  Zweck  haben, 
dem  Gegenstande  die  Möglichkeit  zu  bieten,  durch  einen  dau- 
ernden und  gleichmäßigen  Einfluß  auf  die  Retina  sein  Schema 
mit  Sicherheit  anklingen  zu  lassen.  Dies  sind  aber  nicht  die 
einzigen  Vorteile  der  Augenbewegungen. 

Manches  gestielte  Facettenauge  der  Arthropoden  gleicht 
in  seinem  Bau  einem  beweglichen  Tastorgan,  das  viele  Ein- 
drücke gleichzeitig  aufnehmen  kann  und  daher  wohl  geeignet 
ist,  nicht  bloß  die  einzelnen  Gegenstände,  sondern  auch  die  sie 
trennenden  Zwischenräume  abzutasten. 

Wenn  wir  uns  vorstellen,  daß  die  Ebene  der  Gegenwelt,  in  der 
die  zentralen  Erregungskerne  liegen,  nicht  bloß  dem  Sehfeld,  son- 
dern dem  ganzen  Bhckfeld  entspricht,  so  werden  die  Bewegungen 
der  Augen  keine  Störungen  in  der  Gegenwelt  hervorrufen,  sondern 
bloß  immer  neue  Teile  der  Gegen  weit  in  Aktion  treten  lassen. 
Beherbergt  eine  solche  Gegenwelt  mehrere  Schemata,  so  wird  sie 
fähig  sein,  das  gleichzeitige  Vorhandensein  verschiedener  rezipier- 
barer Gegenstände  festzustellen  und  zugleich  ein  Maß  besitzen  für 
die  Entfernung  der  Gegenstände  voneinander,  das  einfach  durch 
die  Zahl  der  Erregungskerne  gegeben  ist,  die  bei  der  Bewegung 
des  Auges  von  einem  Gegenstande  zum  andern  in  Aktion  treten. 

Damit  hat  sich  die  Umwelt  der  Tiere  wieder  um  ein  Be- 
trächtliches geändert.  Die  einfache  Gegen  weit,  bei  der  einmal 
dieses,  einmal  jenes  Schema  ansprach,  besaß  noch  keine  An- 
deutung  einer   Spiegelung   des  Raumes,   der   die  Tiere   umgibt. 


Die  Gegenwelt.  201 

Jedes  Schema  wirkte  bloß  als  einfache  Reizkombination  und 
die  räumliche  Entfernung  der  einzelnen  Teile,  die  das  Schema 
ausmachen,  unterlag  noch  keiner  Unterscheidung.  Das  wird 
anders,  sobald  die  Gegen  weit  nicht  bloß  der  Retina,  sondern 
dem  Blickfeld  entspricht.  Dann  kommt  durch  die  Augen- 
bewegung ein  neues  Moment  hinein,  das  ganz  nahe  Beziehungen 
zum  Räume  hat.  Zwar  handelt  es  sich  immer  noch  nicht  um 
den  dreidimensionalen  Raum,  aber  doch  um  eine  Fläche,  die 
durchmessen  wird.  Diese  Fläche  kann  durch  eine  Bewegung 
von  oben  nach  unten  und  eine  zweite  Bewegung  von  links 
nach  rechts  vollständig  durchwandert  werden.  Sie  gibt  daher 
schon  ein  leidliches  Spiegelbild  einer  zwiefachen  räumlichen 
Ausdehnung.  Die  Lage  eines  jeden  Gegenstandes  der  Umwelt 
wird  durch  die  Zahl  der  Erregungskerne,  die  das  Auftreten 
seines  Schemas  von  dem  dauernd  in  Erregung  befindlichen 
Schema  des  Horizontes  trennt,  gemessen.  Erst  die  Tiere,  die 
eine  Akkomodation  besitzen,  können  eine  Gegenwelt  beherbergen, 
die  nicht  bloß  eine  Fläche  ausmacht,  sondern  bereits  eine  gewisse 
Tiefe  besitzt,  deren  Kerne  also  nicht  bloß  nebeneinander,  sondern 
auch  hintereinander  gelagert  sind.  Aber  auch  in  diesem  Falle  wird 
man  noch  zögern  müssen,  von  einer  Spiegelung  des  dreidimensio- 
nalen Raumes  zu  sprechen.  Denn  was  das  Tier  mit  dem  Hilfs- 
mittel der  Gegen  weit  unterscheidet,  ist  nicht  der  Raum,  sondern 
bloß  die  räumlichen  Beziehungen  der  Gegenstände  untereinander. 

Erst  bei  den  Wirbeltieren  tritt  das  Organ  auf,  das  wir 
nach  der  schönen  Entdeckung  von  Cyon  als  das  eigentliche 
Raum  Organ  ansprechen  dürfen  und  das  geeignet  ist,  die 
Gegenwelt  zu  einem  Gegenraum  zu  machen. 

Dies  Organ  ist  der  Bogengangapparat.  Da  ich  keine 
Wirbeltiere  besprechen  will,  so  kann  ich  mich  über  die  Lei- 
stungen dieses  merkwürdigen  Apparates  kurz  fassen.  Die  beiden 
ßogengangapparate  bestehen  aus  je  drei  ringförmigen  Kanälen. 
Man  denkt  sich  die  drei  Ringkanäle  am  besten  in  die  drei 
Flächen  eines  Würfels  gelagert,  die  an  einer  Ecke  zusammen- 
stoßen. Alle  drei  stehen  rechtwinklig  aufeinander  und  ihre 
Ebenen  liegen  entweder  in  oder  doch  wenigstens  parallel  zu 
den  drei  Hauptteilungsebenen,  durch  die  der  Kopf  in  eine 
rechte  und  linke,  eine  obere  und  untere  und  eine  vordere  und 
hintere  Hälfte  geteilt  wird. 


202  -^i®  Gegenwelt. 

Die  beiderseitige  Operation  der  gleichen  Kanäle  ruft  ein 
Hin-  und  Herpendeln  der  Augen  in  einer  dem  entfernten 
Kanal  entsprechend  gelegenen  Ebene  hervor.  Die  Augen  suchen 
dabei  in  dieser  Ebene  das  ganze  Blickfeld  ab  ohne  eine  feste 
Einstellung  finden  zu  können.  Das  Pendeln  hört  erst  wieder 
auf,  nachdem  die  Augen  ihre  Einstellung  auf  bestimmte  Gegen« 
stände  wiedergefunden  haben,  die  ihnen  durch  die  Operation 
genommen  wurde.  Dann  gewinnen  auch  die  Körperbewegungen, 
die  gleichfalls  durch  die  Operation  schwere  Koordinations- 
störungen erlitten  haben,  ihre  Sicherheit  wieder.  In  der  Dunkel- 
heit freilich  bleiben  sie  dauernd  gestört.  Daraus  läßt  sich  mit 
Sicherheit  schließen,  daß  die  Bogengänge  als  Einstellungs-  oder 
Meßapparate  für  die  zentrale  Lokalisation  dienen. 

So  außerordentliche  begriffliche  Schwierigkeiten  es  macht, 
wenn  man  die  Wirkungen  der  Bogengänge,  wie  das  Cyon 
getan,  direkt  auf  die  Vorstellung  des  Raumes  in  der  mensch- 
lichen Psyche  bezieht,  so  außerordentlich  einfach  erscheinen 
diese  Wirkungen,  wenn  man  sie  zur  dreidimensionalen  Gegen- 
welt in  Beziehung  setzt.  In  diesem  Falle  liefern  die  Bogen- 
gänge die  Erregungen,  welche  ein  ganz  einfaches  Schema  in 
Aktion  treten  lassen.  Man  braucht  bloß  anzunehmen,  daß  die 
Gegenwelt  von  langen  Bahnen  durchsetzt  ist,  die  zusammen 
ein  einfaches  Koordinatensystem  bilden.  Das  Koordinaten- 
system unterscheidet  sich  in  nichts  von  den  anderen  Schematen, 
die  den  Umrissen  der  Gegenstände  entsprechen.  Nur  wird  das 
Koordinatenschema  nicht  durch  das  Auge,  sondern  durch  die 
Bogengänge  in  Erregung  versetzt.  Diese  Erregung  ist  eine 
dauernde.  Nach  Cyons  Ansicht  werden  die  Bogengänge  durch 
die  schwächsten  Geräusche  und  Töne  dauernd  gereizt  und  er- 
zeugen daher  dauernd  Erregung. 

Wie  dem  auch  sei,  wir  haben  in  der  Gegenwelt  ein  fast 
mathematisch  genau  gebautes  Koordinatenschema  anzunehmen, 
das  als  Ausgangsbasis  für  die  Bestimmung  der  Lage  der  je- 
weilig auftauchenden  erregten  Gegenstandsschemata  dient.  Die 
Zahl  der  Erregungskerne  von  der  gereizten  Stelle  aus  bis  zu 
den  drei  Koordinaten  bestimmt  mit  Sicherheit  die  Lage  des 
erregten  Punktes. 

Hier  ist  der  Ort,  um  eine  Schwierigkeit  wegzuräumen,  die 
sich   leicht   einem   jeden   aufdrängt :    Wie   ist    es   möglich,    daß 


Die  Gegenwelt.  203 

das  gleiche  Schema  eines  Gegenstandes  an  den  verschiedensten 
Stellen  der  Gegenwelt  erregt  werden  kann,  obgleich  es  als  dauern- 
der Strukturteil  des  Zentralnervensystems  einen  bestimmten  Platz 
einnehmen  muß?  Diese  Frage  wird  am  besten  durch  die  Annahme 
beantwortet,  daß  bei  den  höheren  Hirnen  die  Schemata  selbst 
nicht  mehr  innerhalb  des  von  Erregungskernen  ausgefüllten  Gegen- 
raumes gelagert  sind,  sondern  sich  in  einiger  Entfernung  davon 
befinden  und  nur  durch  Influenz  erregt  werden,  wenn  eine  Gruppe 
von  Erregungskernen  in  Aktion  tritt.  Die  Gruppe  der  erregten 
Kerne  gibt  durch  ihre  festen  Beziehungen  zum  Koordinatensystem 
die  Lage  —  das  durch  Influenz  erregte  Schema  die  Form  des 
Gegenstandes  wieder.  Auf  diese  Weise  kann  ein  Gegenstand  sowohl 
seiner  Form,  wie  seiner  Lage  nach  von  der  Gegenwelt  festgehalten 
und  registriert  werden.  Solange  die  Gegenwelt  noch  kein  Koor- 
dinatenschema besitzt,  muß  die  Lage  der  jeweilig  gereizten 
Stelle  auf  solche  Schemata  bezogen  v/erden,  die  von  dauernden 
äußeren  Einwirkungen  herstammen,  wie  z.  B.  der  Horizont. 
Ein  solcher  Maßstab  bleibt,  selbst  wenn  die  größten  Vorsichts- 
maßregeln ergriffen  sind,  das  Auge  vor  der  Beeinflussung  durch 
die  Körperbewegungen  zu  bewahren,  stets  ungenau  und  ungewiß. 
Dem  gegenüber  bietet  das  vom  Bogengang  gelieferte  Maßsystem 
sehr  große  Vorteile,  da  es  stets  in  der  gleichen  Stärke  vor- 
handen ist,  gleichgültig  wohin  das  Auge  sich  richtet  und  welche 
Lage  der  Körper  einnimmt.  Dazu  kommt,  daß  das  Koor- 
dinatenschema im  Dunkeln  ebenso  vorhanden  ist  wie  im  Hellen 
und  auch  den,  durch  die  Tastorgane  erzeugten  Schematen  die 
gleichen  Dienste  zu  leisten  vermag,  wie  den  durch  das  Auge 
entworfenen.  Die  Gemeinsamkeit  der  Gegenwelt  für  Tast-  wie 
für  Gesichtsschemata  gestattet  diese  beiden  Arten  von  Ein- 
drücken zu  verbinden  und  auf  diese  Weise  in  der  Umwelt 
Gegenstände  entstehen  zu  lassen,  deren  Formen  eine  feste 
Körperlichkeit  besitzen.  Treten  die  anderen  von  den  Gegen- 
ständen der  Umgebung  ausgehenden  Reize  hinzu,  und  werden 
die  von  ihnen  erzeugten  Erregungen  zu  den  kombinierten  Photo- 
und  Tangoschematen  geleitet,  so  nimmt  die  Umw^elt  immer 
mehr  an  Mannigfaltigkeit  zu  und  gleicht  schließhch  der  von 
uns  wahrgenommenen  Umgebung  wie  eine  Zeichnung,  in  der 
die  Farben  durch  besondere  Merkzeichen  angegeben  sind,  einem 
Gemälde. 


204  ^^^  Gegenwelt. 

Auf  diese  Weise  vereinigen  sich  alle  Wirkungen  der  Re- 
zeptoren in  der  Gegenwelt  wie  in  einem  Brennspiegel.  Kein 
Wunder,  daß  auch  die  Wirkung  des  Statolithen  als  dauernder 
Faktor  in  der  Gegenwelt  auftritt  und  sich  nicht  mehr  damit 
begnügt  den  Körper  und  die  Augen  zu  richten.  Mitten  durch 
die  Gegenwelt  zieht  sich  seine  Erregungslinie,  die  zu  allen  Zeiten 
die  Stellung  der  Gegenwelt  zum  Erdmittelpunkte  anzeigt.  Sie 
bildet  das  nötige  Korrektiv  zu  dem  Koordinatenschema,  das 
mit  der  Gegenwelt  fest  verwachsen  ist.  Ein  festes  Schema  für 
die  Statolithenwirkung  braucht  nicht  vorhanden  zu  sein,  da  diese 
bei  jeder  Lage  des  Kopfes  wechselt  und  keine  Umgrenzung  besitzt. 

Wenn  wir  diese  glänzende  Entwicklung  der  Gegenwelt  aus 
einem  einfachen  rezeptorischen  Netz  betrachten,  so  drängt  sich 
uns  von  selbst  die  Frage  auf :  Ist  dem  motorischen  Netz  eine 
ähnliche  Entfaltung  beschieden?  Anfangs  will  es  scheinen,  als 
werde  die  Ausbildung  der  motorischen  Netze  ganz  andere  Wege 
gehen.  Es  tritt  eine  große  Zahl  von  Komplikationen  im  mo- 
torischen Netze  auf,  die  wir  als  Unterbrecher,  Erregungstal, 
Reflexspaltung  und  ähnliches  mehr  beschrieben  haben.  Alle 
diese  Einrichtungen  regeln  den  Ablauf  der  Muskelbewegungen 
in  der  Zeit;  sie  sorgen  dafür,  daß  eine  dem  Bauplan  des  Tieres 
entsprechende  Folge  von  Bewegungen  sich  regelmäßig  abspiele. 
Bald  erzeugen  sie  einen  gleichzeitigen  Rhythmus  der  gesamten 
Muskulatur  (Unterbrecher),  bald  einen  gleitenden  Rhythmus,  an 
dem  die  verschiedenen  Teile  des  Tieres  nacheinander  teilnehmen 
(Erregungstal),  bald  erzeugen  sie  eine  gleichzeitige,  aber  gegen- 
sätzliche Wirkung  der  benachbarten  Muskeln  (Reflexspaltung). 
In  jedem  Falle  wird  eine  Regelung  der  zeitlichen  Beziehungen 
in  der  Muskeltätigkeit  durchgeführt. 

Um  eine  dauernde  räumliche  Gruppierung  der  tätigen  Muskeln 
nachzuweisen,  müssen  wir  bis  zu  den  Aktinien  hinabsteigen,  bei 
denen  die  einfachen  Nervennetze  der  Längs-  und  Ringmuskeln 
getrennt  innerviert  sind,  wodurch  die  erste  Andeutung  einer  räum- 
lichen Zusammenfassung  der  Muskelfasern  gegeben  ist.  Aber  die 
Nervennetze  entbehren  noch  jeder  weiteren  Verbindung.  Denken 
wir  uns  nun  das  Nervennetz  der  Längs-  und  Ringmuskeln  jedes 
für  sich  in  einem  Punkte  zusammengerafft  und  mit  einem  höheren 
Zentrum  verbunden,  so  erhalten  wir  Verhältnisse,  wie  sie  im 
Gehirn  des  Oktopus  verwirklicht  sind.    In  einem  höheren  Ganglion 


Die  Gegen  weit.  205 

sind  alle  höheren  Zentren  vereinigt,  die  ganz  bestimmten  Muskel- 
gruppen entsprechen,  während  im  niederen  Ganglion  die  Repräsen- 
tanten undifferenziert  nebeneinander  liegen.  Diese  Anordnung  zeigt 
eine  unverkennbare  Ähnlichkeit  mit  dem  Aufbau  der  Gegenwelt. 
Auf  der  einen  Seite  haben  wir  als  unverarbeitetes  Material  die 
große  Zahl  gleicher  Erregungskerne,  auf  der  anderen  eine  gleich- 
falls sehr  große  Zahl  gleichartiger  Repräsentanten.  Wie  es  nun 
Schemata  gibt,  die  eine  bestimmte  Gruppierung  von  Erregungs- 
kernen zusammenfassen,  so  gibt  es  andererseits  Strukturen,  die 
bestimmte  Gruppen  der  Repräsentanten  vereinigen.  Werden  diese 
höheren  Einheiten  durch  einfache  Nervenbahnen  leitend  verbunden, 
so  kann  auf  das  Erscheinen  eines  ganz  bestimmten  Gegenstandes  der 
Umwelt  eine  ganz  bestimmte  wohldifferenzierte  Handlung  erfolgen. 
Eine    solche    Art    des    Zusammenwirkens    der   motorischen 
Zone  und  der  rezeptorischen  Gegenwelt  kann  gewiß  eine  große 
Mannigfaltigkeit  gewinnen  und  sehr  hohen  Ansprüchen  genügen. 
Auch   ist    es   wohl   sicher,    daß    kein    einziges    wirbelloses   Tier 
diese    Entwicklungsstufe    des    Innenlebens    überschreitet,    aber 
ebenso   sicher   ist   es,    daß    diese   Stufe   nicht   die  höchste   sein 
kann.     In  allen  behandelten  Fällen  gleichen  die  Tiere  gewissen 
zweiteihgen    Maschinen,    in    die    man    vorne    das    Rohmaterial 
hineinwirft,  während  sie  das  verarbeitete  Material  auf  der  an- 
deren Seite  wieder  hervorbringen.     Auf  der  einen  Seite  kommen 
die  Reize  hinein,    auf  der  anderen  Seite  entstehen  die  Muskel- 
bewegungen.   Frage  und  Antwort  werden  von  zwei  verschiedenen 
nervösen  Organen  bearbeitet,   die   nur  durch  den  gemeinsamen 
Bauplan  miteinander  zusammenhängen.     So  sehen  wir,  daß  bei 
den   höchsten   Wirbellosen,    den   Arthropoden    und   Oktopoden, 
ein    sehr    kunstvoller    Bau    der    motorischen   Netze   alle   Bewe- 
gungen   der   Gliedmaßen    beherrscht.      Die    motorischen   Netze 
reichen  bei  den  Oktopusarmen  und  den  Krebsbeinen   bis  nahe 
an  die  Peripherie  hinan.     Wenn   die   motorischen   Zentren   der 
GHedmaßen  bei  den  Insekten  schon  im  Bauchstrang  sitzen  und 
die  Zentren  der  Mantelbewegung  bei  den  Oktopoden  bis  in  die 
Schlundganglien  gerückt  sind,  so  erfährt  dennoch  nirgends  der 
rezeptorische  Apparat   auch   nur   das   geringste  von   der  Tätig- 
keit  der   motorischen   Apparate.      Ob   die   Antwort   ordnungs- 
mäßig erteilt  wurde,  wird  der  Gegenwelt,  welche  die  Frage  zu 
formulieren  hatte,  niemals  mitgeteilt. 


206  ^^®  Gegen  weit. 

In  der  ganzen  Reihe  der  wirbellosen  Tiere,  vom  niedersten 
bis  zum  höchsten,  liegt  die  Einheit  des  Zentralnervensystems 
ausschließHch  im  Bauplan.  Die  Funktionen  bilden  bloß  eine 
hindurchlaufende  Kette,  die  sich  nirgends  zum  Kreise  schließt. 
Daher  erreichen  diese  Tiere  nirgends  die  höchste  Stufe  der  Ver- 
einheithchung.  Nur  die  Medusen  haben  bisher  von  allen  Tieren 
eine  Ausnahme  gemacht,  nur  sie  empfangen  ihre  eigenen  Be- 
wegungen als  Reiz  zurück,  freiUch  auf  Kosten  der  Umwelt, 
von  der  sie  keine  Reize  erhalten.  So  unbedeutend  dieser 
einfache,  in  sich  zurückkehrende  Reflexring  auch  sein  mag, 
gegenüber  dem  reich  verzweigten  Reflexstrom,  der  durch  die 
höheren  Wirbellosen  fließt,  so  zeigt  er  doch  das  Mittel  an, 
welches  die  Natur  anwendet,  wenn  sie  die  erfolgte  Antwort- 
bewegung den  rezeptorischen  Netzen  kundgeben  will.  Sie  ver- 
wendet die  eigene  Bewegung  als  Reiz. 

Wenn  eine  Handlung  immer  wieder  die  nächstfolgende 
auslöst,  so  muß  eine  Kette  von  Handlungen  entstehen,  die 
kein  Ende  besitzt.  Das  mag  für  die  einfachen  Medusen  ganz 
am  Platze  sein.  Für  die  höheren  Tiere  kann  ein  so  einfacher 
Mechanismus  nicht  in  Frage  kommen,  obgleich  auch  bei  ihnen 
die  Bewegung  selbst  wieder  zum  Reize  wird.  Bei  den  Tieren 
mit  einem  allesbeherrschenden  motorischen  Netz  ist  die  Ver- 
■svendung  der  Eigenbewegung  als  Reiz  deshalb  nicht  erforder- 
lich, weil  die  Repräsentanten  je  nachdem,  ob  ihre  Gefolgs- 
muskeln  angesprochen  haben  oder  nicht,  auf  die  Erregung  im 
allgemeinen  Netze  verschieden  reagieren,  wodurch  das  Zentral- 
nervensystem unmittelbar  Kunde  von  der  Ausführung  der  Ant- 
wortbewegung erhält.  Bei  den  Tieren,  die  eine  sehr  entwickelte 
Gegenwelt  besitzen  und  deren  motorisches  Netz  sich  zu  gliedern 
begonnen,  fehlt  die  Rückwirkung  der  Einzelbewegung  auf  die 
höchsten  Zentralteile.  Diese  bleiben  ohne  Kenntnis  davon,  ob 
die  Antwort  ausgeführt  wurde  oder  nicht.  Man  könnte  an- 
nehmen, daß  das  Auge  geeignet  wäre,  die  Eigenbewegungen 
des  Körpers  zu  kontroUieren.  Aber  erstens  ist  das  Auge  immer 
so  gestellt,  daß  es  möglichst  wenig  vom  eigenen  Körper  zu 
sehen  bekommt,  und  zweitens  fehlt  uns  zu  dieser  Annahme 
eine  wesentliche  Voraussetzung,  nämlich  die  Kenntnis  des  Mittels, 
durch  welche  eine  photorezipierte  Eigenbewegung  von  fremden 
Bewegungen  unterschieden  werden  kann. 


Die  Gegen  weit.  207 

Wir  wissen  von  den  Seeigeln  her,  daß  die  Natur  besondere 
Mittel  anwenden  muß,  um  es  zu  verhindern,  daß  die  Tiere  sich 
selbst  auffressen.  Und  doch  kommt  es  nicht  selten  vor,  daß 
Oktopoden,  die  einen  kränklichen  Eindruck  machen,  ihre  eigenen 
Arme  benagen.  Wenn  selbst  bei  einem  so  hoch  organi- 
sierten Tiere,  das  so  geschlossene  Gesamthandlungen  des  ganzen 
Körpers  auszuführen  vermag,  die  photorezeptorische  Unter- 
scheidung des  eigenen  Körpers  nicht  vorhanden  ist,  wie  wird 
es  dann  erst  mit  den  übrigen  Wirbellosen  bestellt  sein? 

Also  bleibt  nur  die  Annahme  einer  Reizerzeugung  durch 
die  Muskel  Verkürzung  selbst  übrig,  die  durch  zentripetale  Bahnen 
dem  Zentralnervensystem  übermittelt  wird.  Aber  die  Antwort 
besteht  ja  gar  nicht  in  einer  Verkürzung  einzelner  Muskeln, 
sondern  in  einer  gerichteten  Gesamtbewegung  von  bestimmter 
Größe.  Es  kann  daher  die  Antwort  ihrem  eigentlichen  Wesen 
nach  erst  dann  dem  Zentralnervensystem  bekannt  gemacht 
werden,  wenn  dieses  im  Besitze  einer  räumhchen  Gegenwelt  ist. 
Aber  selbst  in  einer  Gegenwelt,  die  ausschließHch  eine  Gegenwelt 
des  Auges  ist,  deren  räumUche  Ausmessung  auf  die  Lage 
äußerer  Bilder  wie  des  Horizontes  angelesen  ist,  können  die 
Größe  und  die  Richtung  der  Eigenbewegungen,  die  ein  ganz 
anderes  Maß  verlangen,  gar  nicht  ermittelt  werden.  Erst  durch 
die  Einführung  der  Bogengänge  und  ihres  Koordinatenschemas 
wird  die  Gegenwelt  sozusagen  neutralisiert  und  der  Allein- 
herrschaft des  Auges  entzogen.  Jetzt  kann  sie  wirklich  zum 
gemeinsamen  Feld  für  alle  räumlichen  Messungen  werden,  die 
sowohl  für  das  Auge  und  die  Tastorgane  als  auch  für  die  Be- 
wegungen der  Gliedmaßen  gelten.  Natürlich  bleibt  dabei  eine 
offene  Frage,  auf  welchem  Wege  die  ausgeführten  Bewegungen 
eine  Spiegelbewegung  in  der  Gegenwelt  hervorzurufen  imstande 
sind.  Es  hat  nicht  an  Versuchen  gefehlt,  die  Bogengänge  selbst 
als  ein  Rezeptionsorgan  für  die  Eigenbewegungen  des  Kopfes 
anzusprechen.  Doch  wird  man,  wenn  es  sich  um  Gliedmaßen- 
bewegung handelt,  nicht  ohne  die  Annahme  der  direkten  sen- 
siblen Reizung,  welche  von  den  Muskeln,  Sehnen  oder  Gelenk- 
bändern ausgeht,  auskommen  können. 

Nimmt  man  die  Antenne  eines  Krebses,  die  mit  regel- 
mäßigen Tastborsten  besetzt  ist,  und  fährt  mit  einem  Gegen- 
stande über  die  Borsten  dahin,  so  mrd  von  jeder  Borste  eine 


208  ^^®  Gegen  weit. 

Erregung  zu  den  allgemeinen  Netzen  fließen.  Die  Erregungen 
unterscheiden  sich  nur  dadurch  voneinander,  daß  jede  in  einer 
anderen  Nervenbahn  abläuft.  Nehmen  wir  nun  an,  daß  ein 
Teil  des  allgemeinen  Netzes  sich  an  dieser  Stelle  bereits  ab- 
gespalten habe,  um  als  einfaches  rezeptorisches  Netz  zru  dienen, 
so  wäre  hier  bereits  die  Möglichkeit  einer  Verwendung  dieses 
Netzes  als  Gegen  weit  gegeben,  wenn  sich  in  ihm  entsprechend 
der  Anzahl  der  Borsten  eine  Anzahl  von  Erregungskernen  aus- 
gebildet hat.  Das  Netz  könnte  dann  der  Moto-Tango-Rezeption 
dienen,  und  wenn  bestimmte  Gruppen  von  Borsten  durch  be- 
stimmte Gruppen  von  Erregungen  vertreten  wären,  die  sich  zu 
einem  Schema  zusammenschließen,  so  wäre  damit  auch  eine 
Ikono -Tango -Rezeption  gegeben. 

Nun  ist  eine  solche  Antenne  niemals  mit  dem  übrigen 
Körper  fest  verbunden,  sondern  stets  auf  ein  Gelenk  gesetzt, 
das  durch  Muskeln  bewegt  wird.  Dadurch  erhebt  sich  vor 
uns  plötzhch  eines  der  aUerschwierigsten  physiologischen  Pro- 
bleme :  Wie  vereinigt  sich  die  Moto-Rezeption  der  stillstehenden 
Borsten  mit  den  Bewegungen  der  Antenne?  Um  die  Frage  in 
voller  Klarheit  zu  sehen,  stelle  man  sich  vor,  daß  die  Antenne 
nur  eine  einzige  Tastborste  besäße.  Wie  ist  es  möglich,  daß 
die  Berührung  dieser  Tastborste  einen  anderen  Erfolg  hat,  je 
nachdem  welche  Muskeln  der  Antenne  im  gegebenen  Augenblick 
verkürzt  sind.  An  der  Tatsache  ist  gar  nicht  zu  zweifeln,  nur 
bleibt  das  Zusammenarbeiten  der  beiden  Erregungen,  von  denen 
die  eine  der  Tastborste,  die  andere  dem  Muskelapparat  ent- 
stammt, für  uns  vorläufig  unverständlich.  Wir  können  nur 
feststellen,  daß  die  Wirkung  des  einen  durch  die  Antenne  be- 
wegten Tasthaares  derjenigen  von  hundert  Tasthaaren  gleicht, 
wenn  sie  unbewegt  auf  der  Oberfläche  einer  Kugelschale  stehend 
gedacht  werden,  welche  der  Aktionsfläche  der  Antenne  ent- 
spricht. Ebenso  gibt  es  Tiere,  die  nur  ein  einziges  Retina- 
element an  der  Spitze  eines  beweghchen  Augenstieles  besitzen. 
Die  Bewegung  des  Augenstieles  ersetzt  eine  Retina  von  hundert 
Elementen,  die  dem  Aktionsradius  des  Augenstieles  entspricht. 
In  beiden  Fällen  wird  durch  die  Bewegung  des  Stieles  die  Zahl 
der  bewegten  Rezeptoren,  mögen  sie  sich  in  der  Einzahl  oder 
Vielzahl  befinden,  mögen  sie  der  Photo-  oder  Tango-Rezeption 
dienen,  um  ein  Vielfaches  vergrößert.    Die  Bewegung  der  Augen 


Die  Gegen  weit.  209 

vergrößert  das  Sehfeld  zum  Blickfeld,  die  Bewegung  der 
Antenne  vergrößert  das  Berührungsfeld  zum  Tastfeld. 

Der  Vorteil,  den  die  Einführung  des  Bewegungsmechanis- 
mus vor  der  bloßen  anatomischen  Vervielfältigung  der  rezi- 
pierenden Elemente  bietet,  ist,  wie  wir  bereits  sahen,  ein 
doppelter.  Einmal  vermag  er  durch  eine  kompensatorische  Be- 
wegung die  Wirkungen  der  Körperbewegungen  auszuschalten. 
Zweitens  ermöghcht  er  es,  einen  vorbeiziehenden  Gegenstand 
durch  eine  mitgehende  Bewegung  dauernd  zu  photo-  oder  tango- 
rezipieren. Dieser  zweite  Vorteil  kommt  bei  der  Tangorezeption 
der  Antenne  hauptsächhch  in  Frage,  die  für  die  Motorezeption 
gebaut  ist  und  wohl  kaum  für  die  Ikonorezeption  in  Betracht 
kommt. 

Wenn  man  einen  Gegenstand  zehnmal  immer  wieder  in 
gleichen  Abständen  vor  einen  Spiegel  stellt,  oder  zehn  gleiche 
Gegenstände  in  denselben  Abständen  vor  den  Spiegel  hält, 
immer  erhält  man  die  Wirkung,  daß  zehnmal  das  gleiche 
Spiegelbild  in  gleichen  Abständen  auftritt.  Es  ist  dabei  ganz 
gleichgültig,  welchen  Gegenstand  man  ergreift,  immer  wird  der 
gleiche  Erfolg  eintreten.  Die  Form  des  Spiegelbildes  spielt  gar 
keine  Rolle,  nur  die  Lage  der  Spiegelbilder  ist  ausschlaggebend. 
Die  Lage  der  Bilder  im  Spiegel  gibt  die  Lage  der  Gegenstände 
in  der  Außenwelt  in  irgendeiner  Form  wieder,  welche  Bauart 
der  Spiegel  selbst  haben  möge.  Sowohl  im  Planspiegel,  wie 
im  Konvex-  oder  Konkavspiegel  wird  stets  ein  räumliches  Ver- 
hältnis durch  ein  anderes  räumliches  Verhältnis  wiedergegeben. 
Ebenso  müssen  wir  nicht  nur  für  die  Retina  nach  einem  Gegen- 
raum suchen,  was  uns  jetzt  selbstverständlich  erscheint,  sondern 
wir  müssen  auch  für  die  wechselnde  Lage  des  Tangoreizes  eine 
gleichfalls  räumUche  Gegenwelt  annehmen,  wenn  wir  den  Tat- 
sachen gerecht  werden  wollen. 

Wie  nahe  die  beiden  Gegenwelten  für  die  Photo-  und 
Tangorezeption  zusammenhängen,  das  habe  ich  an  einem  Ein- 
siedlerkrebs beobachten  können.  Ein  dunkles  Stäbchen  wurde 
in  weitem  Bogen  vor  dem  Tier  langsam  vorbeigeführt.  Die 
Augen,  die  das  Bild  des  Gegenstandes  aufnahmen,  blieben  ganz 
unbewegHch.  Dafür  folgte  erst  die  eine  Antenne,  solange  das 
gleichseitige  Auge  das  Bild  aufnahm,  der  Bewegung  des  Stäb- 
chens.    Als    das   Stäbchen   sich  gerade  zwischen  beiden  Augen 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  14 


2;1^0  ^^^  Gegen  weit. 

befand,  schlugen  beide  Antennen  gleichzeitig  zusammen.  Dann 
folgte  die  andere  Antenne  allein  dem  Gegenstand  von  vorn 
nach  hinten. 

Verlassen  wir  jetzt  für  einen  Augenbhck  die  Wirbellosen, 
um  noch  einen  Schritt  weiter  zu  tun,  indem  wir  jedoch  immer 
noch  die  Antenne  zum  Ausgangspunkt  wählen.  Besitzt  die 
Antenne  zahlreiche  Tastborsten  in  einer  Ebene  vereinigt,  so 
können  wir  uns  die  zahlreichen  Tastborsten  durch  eine  einzige 
ersetzt  denken,  wenn  die  Antenne  noch  ein  zweites  beweghches 
GHed  erhält.  Denn  eine  einzige  Tastborste  kann  durch  ihre 
Bewegungen  hundert  festsitzende  Borsten  vertreten.  Für  den 
zentralen  Apparat  würde  das  keinen  Unterschied  machen. 
Die  Gegenwelt  mit  ihren  zahlreichen  Erregungskernen  ist  ge- 
eignet, jede  Art  von  Bewegungen  widerzuspiegeln.  Solche  zwei- 
oder  mehrghederige  Antennen  erkennen  wir  auch  in  den  Ghed- 
maßen  der  Wirbeltiere  wieder  und  verstehen  plötzlich,  wie  es 
möglich  wird,  daß  auch  die  Lagen  der  GHedmaßen  sich  in  der 
allgemeinen  Gegenwelt  spiegelt.  Der  Körper  mit  seinen  zahl- 
reichen flächenartig  ausgebreiteten  Tango  -  Rezeptoren  gleicht 
der  Retina,  während  die  Gliedmaßen  mit  den  eng  zusammen- 
gedrängten Rezeptoren  an  der  Spitze  den  Antennen  ähneln. 
Aber  während  die  Tango-Rezeptoren  des  Körpers  nur  durch 
eine  gleichgroße  Anzahl  von  Erregungskernen  in  der  Gegenwelt 
vertreten  zu  sein  brauchen,  verlangen  die  Tango-Rezeptoren 
der  beweghchen  Gliedmaßen  eine  ihrem  Bewegungsumfang  ent- 
sprechend gesteigerte  Anzahl  von  Kernen.  Die  ganze  Gegen- 
welt muß  daher  das  gesamte  Berührungsfeld  des  Körpers  und 
der  Gliedmaßen  plus  dem  Tastfeld  der  Ghedmaßen  umfassen 
und  dieses  muß  wieder  mit  dem  Sehfeld  plus  Blickfeld  der 
Augen  vereinigt  sein.  Das  ganze,  vom  Koordinationsschema 
durchzogen  und  vom  Statolithen  gerichtet,  gibt  uns  eine  Vor- 
stellung, die  wir  fürs  erte  nur  in  den  gröbsten  Umrissen  erkennen 
können. 

Kehren  wir  nun  zu  den  Wirbellosen  zurück,  so  finden  wir 
viel  einfachere  Verhältnisse  vor,  die  leichter  zu  überschauen 
sind.  Von  einer  Gegen  weit  der  Gliedmaßen  ist  keine  Rede. 
Das  Zentralnervensystem  eines  Krebsbeines  ist  ein  sehr  ein- 
facher und  sehr  selbständiger  Apparat.  Das  motorische  Netz 
behauptet    noch    durchaus   das   Übergewicht   und  in  ihm  allein 


Die  Gregenwelt.  211 

liegen  die  Komplikationen.  Die  nervösen  Bahnen  der  Rezep- 
toren zeigen  sehr  einfache  Verhältnisse.  Die  Reflexe,  die  von 
der  Reizung  des  Beines  selbst  ausgehen,  bleiben,  solange  sie 
schwach  sind,  im  Bein  selbst.  Erst  wenn  sie  stärker  werden, 
greifen  sie  auf  die  anderen  Beine  über  und  rufen  allgemeine 
Bewegung  hervor.  Außerdem  stehen  die  motorischen  Netze 
unter  der  Herrschaft  der  rezeptorischen  Netze  in  den  Schlund- 
ganglien.    Diese  allein   beherbergen  Photo-  und  Tango -Welten. 

Die  Ausdehnung  und  die  Aufnahmefähigkeit  der  Gegenwelt 
können  nur  durch  eine  fortgesetzte  Reihe  eingehender  Versuche 
bestimmt  werden.  Wir  werden  in  den  folgenden  Kapiteln  er- 
fahren, wieviel  darüber  schon  bekannt  ist.  Sind  sie  aber  ein- 
mal festgelegt,  so  ermöglichen  sie  uns  auch  ein  Bild  der  Um- 
welt zu  entwerfen.  Obgleich  die  Umwelt  vom  Standpunkt  des 
Tieres  aus  rein  subjektiver  Art  ist  und  nur  durch  die  Gruppie- 
rung aller  Einzelheiten  um  das  Subjekt  des  Tieres  einen  Sinn 
erhält,  so  ist  sie  doch  vom  Standpunkt  des  Beobachters  aus 
ein  objektiver  Faktor,  der  in  objektiven  Beziehungen  zum  be- 
obachteten Objekt  steht.  Alle  subjektiven  Spekulationen,  die 
die  Seele  des  Beobachters  in  dieses  objektive  Bild  hineinziehen, 
fälschen  seinen  wahren  Charakter  und  machen  es  wertlos. 
Schon  sind  wdr  durch  die  Beobachtungen  Rädls,  Bohns, 
Minkiewitschs  und  Lyons,  die  sich  auf  Schnecken,  Krebse, 
Insekten  und  Fische  beziehen,  tief  in  die  Kenntnis  der  ob- 
jektiven Beziehungen  zwischen  Subjekt  und  Umwelt  einge- 
drungen. Ich  will  hier  nur  auf  die  Arbeiten  Lyons  an  Fischen 
eingehen,  auf  die  ich  sonst  keine  Gelegenheit  habe,  zurück- 
zukommen: Im  einem  ringförmigen  Glasrohr,  das  mit  Wasser 
gefüllt  ist,  befindet  sich  ein  Fisch,  der  ruhig  an  einer  Stelle 
stehen  bleibt,  solange  sich  die  Umgebung  nicht  ändert.  Die 
Umgebung  ist  selbst  ein  halb  offener  Kanal,  der  das  Glasrohr 
an  den  Seiten  und  unten  umgibt.  Sie  kann  im  Kreise  rotiert 
werden  und  ahmt  in  einfacher  Weise  den  Grund  eines  Baches 
nach.  Sobald  man  mit  der  Bewegung  der  Umgebung  beginnt, 
so  folgt  der  Fisch  der  Bewegung  und  durchschwimmt  im 
gleichen  Tempo  die  ganze  gläserne  Röhre.  Er  ist  gleichsam 
mit  seinen  Augen  an  der  Umgebung  aufgehängt  und  wird  an 
ihnen  vorwärtsgezogen. 

So  dient  denn  auch  das  Auge  mit  seiner  räumlichen  Gegen- 

14* 


212  Carcinus  maenas. 

weit  nur  dazu,  dem  Tiere  neue  Anknüpfungspunkte  zu  ver- 
schaffen. Wie  die  niederen  Tiere  sich  die  passenden  chemischen 
und  physikalischen  Reize  aussuchen,  so  sucht  sich  das  höhere  Tier 
mit  seinem  entwickelten  Augenapparat  die  passenden  Formen, 
Farben  und  Bewegungen  aus,  die  seinen  Reflexen  als  An- 
knüpfungspunkte dienen  können  und  von  denen  es  allein  ab- 
hängt, unbekümmert  und  sicher  schwebend  in  der  Unermeßlich- 
keit der  Außenwelt.  Die  Reize  der  Umwelt  bilden  zugleich 
eine  feste  Scheidewand,  die  das  Tier  wie  die  Mauern  eines 
selbstgebauten  Hauses  umschließen  und  die  ganze  fremde  Welt 
von  ihm  abhalten. 


Carcinus  maenas. 

Von  den  Krebsen  des  Meeres  ist  die  gemeine  Krabbe  am 
besten  erforscht.  Wir  verdanken  vor  allem  Bethes  histologisch 
wie  physiologisch  gleich  wertvollen  Untersuchungen  die  Grund- 
lage unserer  Kenntnisse.  Der  Körper  der  Krabbe  gleicht  von 
oben  gesehen  einem  Rechteck,  dessen  vordere  Seite  bogen- 
förmig vorspringt.  Die  hintere  Seite,  die  etwas  kürzer  ist  als 
die  beiden  Seitenlinien,  dient  als  Ansatz  für  den  kurzen  Schwanz, 
der  dauernd  nach  unten  geklappt  ist.  Die  bogenförmige  Vorder- 
seite trägt  die  Hauptrezeptoren:  die  Augen  und  die  beiden 
Fühlerpaare,  von  denen  das  eine,  das  der  Witterung  dient, 
stetig  in  Bewegung  ist,  während  das  äußere  die  Tastbewegungen 
vollführt.  Jederseits  kommen  die  fünf  Gliedmaßenpaare  zum 
Vorschein,  die  an  der  Bauchseite  entspringen.  Zuvorderst 
sitzen  die  kräftigen  Scheren.  Dann  kommen  die  vier  Bein- 
paare, von  denen  das  letzte  ein  verbreitertes  Endglied  trägt, 
dessen  Bewegungen  dem  Herabschweben  im  Wasser  dienen. 
Denn  von  einem  ausgebildeten  Schwimmen  ist  bei  Carcinus 
nicht  die  Rede. 

Die  Beine  bestehen  aus  sieben  hintereinander  liegenden 
Chitinröhren  des  Außenskelettes.  Jede  Röhre  ist  mit  ihren  Nach- 
baren durch  ein  einfaches  Scharniergelenk  verbunden  und  birgt  in 
ihrem  Inneren  zwei  Muskeln,  die  mit  ihrem  sehnigen  Ende 
am  Rand  der  Nachbarröhre  befestigt  sind.  Die  letzte  Röhre, 
welche  die  Spitze  des  Beines  bildet  und  blind  geschlossen  ist, 
enthält  keine  Muskeln,  sondern  wird  von  den  Muskeln  des  vor- 


Carcinus  maenas,  213 

letzten  Gliedes  bewegt.  Dieses  gehorcht  seinerseits  den  Mus- 
keln des  drittletzten  Gliedes  und  so  fort.  Die  Achsen  der 
Gelenke  liegen  in  verschiedenen  Ebenen  und  gestatten  dem 
Bein  eine  große  Bewegungsfreiheit  nach  allen  Richtungen,  ohne 
die  Sicherheit  der  Führung  in  der  Hauptebene  zu  gefährden, 
welche  senkrecht  auf  die  Längsachse  des  Körpers  gerichtet  ist. 
Da  die  Krabben  fast  ausnahmslos  seitwärts  laufen,  kann  man 
in  jedem  Gelenk  Flexoren,  d.  h.  Muskeln,  die  das  Bein  zum 
Körper  heranziehen,  und  Extensoren,  die  das  Bein  vom  Körper 
Wegstrecken,  unterscheiden. 

Die  nervösen  Verhältnisse  im  Krebsbein  lassen  sich  nur 
an  großen  Langusten  mit  Hilfe  der  elektrischen  Reizung  er- 
forschen. Da  zeigt  es  sich,  daß  drei  Faktoren  eine  entschei- 
dende Rolle  spielen:  L  die  anatomische  Verbindung  der  Nerven- 
fasern, 2.  die  Stärke  des  Reizes  (Biedermann),  3.  die  Deh- 
nung der  Muskeln. 

Ich  mache  mir  auf  Grund  der  von  Groß  und  mir  ge- 
wonnenen Erfahrung  folgendes  Bild  vom  Nervensystem  der 
Krebsbeine.  Als  Grundlage  dient  ein  allgemeines  motorisches 
Netz,  das  die  Erregung,  die  vom  Bauchmark  her  eintrifft, 
überallhin  zu  leiten  vermag,  während  die  rezeptorischen  Nerven 
als  gesonderte  Bahnen  direkt  bis  zum  Bauchmark  gehen.  Das 
motorische  Netz  leitet  die  Erregung  nach  dem  allgemeinen  Ge- 
setz immer  den  gedehnten  Muskeln  zu.  Damit  ist  die  Mög- 
üchkeit,  rhythmische  Gehbewegungen  auszuführen,  gegeben. 
Um  nun  besonders  die  äußersten  Gheder  auch  für  nicht  rhyth- 
mische Handlungen  zu  verwerten,  sind  die  Repräsentanten, 
die  den  Muskeln  nahe  ansitzen,  auf  verschieden  starke  Erre- 
gungen eingestellt.  So  findet  eine  schwache  Erregung  andere 
Pforten  offen  als  eine  starke,  analog  den  Verhältnissen  bei  den 
Pedicellarien  der  Seeigel.  Schheßlich  sind  noch,  um  prompte 
Antworten  zu  erhalten,  besondere  Bahnen  vom  Bauchmark 
durch  das  Netz  zu  den  Repräsentanten  geführt.  Aber  auch 
sie  sind  keine  peripheren,  sondern  intrazentrale  Nerven,  denn 
auch  die  in  ihnen  ablaufende  Erregung  bleibt  wirkungslos, 
wenn  sie  nicht  die  richtige  Intensität  besitzt,  auf  welche  die 
Repräsentanten  abgestimmt  sind. 

Leider  sind  wir  nicht  imstande,  im  einzelnen  nachzuweisen,, 
wie  das  Bauchmark  dieses   komphzierte   System   regiert.     Nur 


214  Carcinus  maenas. 

für  einen  einzigen  Reflex  läßt  sich  die  Analyse  weit  genug 
führen,  um  einen  Einblick  in  das  Getriebe  dieses  von  allem 
Bekannten  so  sehr  abweichenden  Nervensystem  zu  erhalten. 

Bethe  beschreibt  folgenden  charakteristischen  Reflex,  der 
besonders  bei  kräftigen  Männchen  von  Carcinus  maenas  als 
Antwort  auf  die  Annäherung  eines  fremden  Gegenstandes  häufig 
beobachtet  wird.  Er  nennt  ihn  den  Aufbäumereflex:  ,,Die 
Beine  strecken  sich  ganz  aus,  das  erste  Paar  greift  schräg 
nach  vorne,  das  zweite  und  dritte  nach  der  Seite  und  das 
vierte  nach  hinten,  so  daß  sich  das  Tier  in  sehr  stabilem 
Gleichgewicht  befindet.  Die  Scheren  werden  gespreizt  und  er- 
hoben ....  Nähert  man  den  Gegenstand  bis  auf  einige  Zen- 
timeter, so  schlagen  die  Scheren  mit  Gewalt  auf  ihn  ein.  Ja 
der  Reflex  kann  sich  so  steigern  ....  daß  das  Tier  hoch- 
springt und  nach  dem  Gegenstande  stößt." 

Das  besonders  Merkwürdige  an  diesem  Reflex  liegt  in  der 
deutlich  zutage  tretenden  Unabhängigkeit  in  der  Tätigkeit  der 
äußersten  Scherengheder  von  den  Bew^egungen  der  Basalgheder. 
Die  beiden  äußersten  Scherenglieder  verharren  in  dauernder 
Extension,  während  die  basalen  Glieder  starke  Flexionsbewe- 
gungen machen.  Diese  Unabhängigkeit  wäre  bei  einem  Wirbel- 
tier nichts  Auffallendes,  dessen  Muskeln  durch  periphere  Nerven 
direkt  mit  einem  hochkomplizierten  Zentralnervensystem  ver- 
bunden sind.  Für  einen  Krebs  aber,  dessen  zentrales  Netz 
bis  in  die  Beine  hinabreicht,  ist  das  bereits  eine  Leistung,  die 
besondere  Vorrichtungen  erheischt.  Nun  hat  schon  Bieder- 
mann gezeigt,  daß  nach  sehr  heftiger  Nervenreizung  die  Krebs- 
schere, die  während  der  Reizung  geschlossen  wurde,  sich  im 
Moment  der  Beendigung  der  Reizung  öffnet  und  längere  Zeit 
in    Öffnungssperrung  verharrt. 

Groß  und  ich  sind  diesem  Phänomen  am  Scherenfuß  der 
Languste  nachgegangen  und  haben  feststellen  können,  daß  nach 
Durchschneidung  des  Schließmuskels  (Flexor)  die  Erregung 
schon  während  der  Reizung  in  den  Öffner  (Extensor)  fließt. 
In  diesem  Falle  bleibt  die  nachträgliche  Sperrung  aus.  Man 
kann  jedoch  die  normale  Reiz  Wirkung  sofort  wieder  eintreten 
lassen,  wenn  man  den  Scherenfuß  während  der  Reizung  durch 
einen  ganz  geringen  Fingerdruck  geschlossen  hält  und  derart 
die    Wirkung    des    durchschnittenen    Flexors    ersetzt.      Daraus 


Carcinus  maenas.  215 

geht  hervor,  daß  die  extreme  Dehnung  des  Öffners  während 
der  Reizung  die  Erregung,  die  ihm  sonst  zufließen  würde,  nach 
einem  anderen  Orte  hin  ablenkt,  aus  dem  sie  sofort  hervor- 
bricht, nachdem  die  extreme  Dehnung  aufgehört  hat.  Es  ist 
also  sicher  ein  Erregungsreservoir  vorhanden,  das  die  Erregung 
zu  speichern  und  wieder  auszustoßen  vermag,  je  nachdem  die 
ihm  unterstellten  Muskeln  seinen  Zufluß  resp.  Abfluß  ver- 
schheßen  oder  öffnen.  Ähnliche  Rückwirkungen  der  Muskeln 
auf  den  Abfluß  der  Erregung  im  Nervensystem  haben  wir 
bereits  bei  den  Blutegeln  kennen  gelernt. 

Da  die  Wirkung  des  Reservoirs  sowohl  beim  ersten  wie 
beim  zweiten  Gelenk  zum  Vorschein  kommt,  war  die  Möghch- 
keit  gegeben,  das  Reservoir  direkt  zu  reizen.  In  der  Tat  ge- 
hngt  es,  wenn  man  den  Nerven  im  zweiten  Ghede  reizt,  eine 
ganz  umschriebene  Wirkung  auf  den  Extensor  des  dritten 
Ghedes  allein  zu  erhalten.  Diese  streng  lokahsierte  Wirkung 
eines  peripher  angesetzten  Reizes  kann,  da  es  sonst  im  ganzen 
abgeschnittenen  Bein  keine  Reflexe  gibt,  so  scheint  es  mir,  nur 
auf  direkte  Reizung  des  Reservoirs  bezogen  werden. 

Die  Existenz  eines  Reservoirs  für  die  Extensoren  des 
ersten  und  zweiten  Gelenkes  ermöglicht  es  der  Schere,  sich 
noch  einer  starken  Erregung  auf  Stoß  einzustellen  und  läßt 
zugleich  den  Basalgliedern  die  volle  Freiheit,  durch  Flexoren- 
bewegung  den  Stoß  wirklich  auszuführen.  Analog  Heße  sich 
auch  das  Springen  beim  Aufbäumereflex  analysieren,  denn 
auch  die  Beine  zeigen  die  gleiche  umschriebene  Extensorwirkung 
bei  Reizung  im  zweiten  Ghede. 

Wir  wenden  uns  jetzt  einem  zweiten,  sehr  merkwürdigen 
Reflex  der  Krabbenbeine  zu,  dessen  Erforschung  wir  Frede- 
ric q  verdanken  —  der  Autotomie.  Denkt  man  sich  an 
der  Begrenzungsebene  zweier  Glieder  Gelenk  und  Gelenkhäute 
verschwunden,  so  werden  hier  die  benachbarten  Skeletteile  in 
ihrer  ganzen  Ausdehnung  hart  aneinanderstoßen  und  nur  noch 
durch  einen  engen  Spalt  getrennt  bleiben.  Beide  Gheder  werden 
zusammen  den  Eindruck  eines  festen  Stabes  machen  und  ge- 
meinsam von  den  Muskeln,  die  das  basale  Glied  bewegen,  hin 
und  her  geführt  werden.  Dieser  Stab  kann  aber  jederzeit 
auseinanderbrechen,  wenn  er  mit  dem  vorderen  Ende  an  ein 
Hindernis  stößt  und  die  Muskeln  trotzdem  in   ihrer  Bewegung 


2'IQ  Carcinus  maenas. 

fortfahren.  Denn  jetzt  wird  ein  Zug  auf  den  Spalt  ausgeübt, 
dem  er  nachgeben  muß. 

Dies  ist  denn  auch  die  Art  und  Weise,  wie  die  Krabbe 
durch  Spaltung  ihres  Beines  zwischen  dem  fünften  und  sechsten 
Gliede  sich  ihrer  Gliedmaßen  entledigt.  An  der  Spaltstelle 
schließt  eine  vorgebildete  Membran  die  Wunde  ab,  so  daß 
jeder  Blutverlust  vermieden  wird. 

Fredericq  weist  darauf  hin,  daß  zwei  Faktoren  vor- 
handen sein  müssen,  damit  die  Autotomie  eintrete:  1.  der  Reiz, 
der  einer  Verletzung  des  Beines  entspringen  kann,  und  2.  das 
Hindernis,  das  als  Stütze  beim  Abbrechen  des  Beines  nötig 
ist.  Die  Krabbe  benutzt  ihr  vorspringendes  Rückenschild  als 
Stützpunkt,  um  das  Bein  abzuwerfen,  sobald  es  durch  einen 
Scherenschnitt  in  das  zweite  Glied  verletzt  wurde. 

Die  Ausführungen  Fredericqs  sind  durch  die  Versuche 
Morgans  am  Einsiedlerkrebs  auf  das  schönste  bestätigt  worden. 
Der  Einsiedlerkrebs,  der  keine  harte  Schale  besitzt,  benützt 
als  Stützpunkt  bei  der  Autotomie  eines  verletzten  Beines 
seine  Schere,  mit  der  er  das  Bein  packt  und  festhält  bis  die 
Muskeln  des  letzten  Basalgliedes  den  Spalt  auseinanderreißen 
und  den  Stab  zerbrechen.  Auch  beim  Einsiedlerkrebs  wird 
der  ganze  komplizierte  Reflex  nur  vom  Bauchmark  ausgeführt, 
ganz  unabhängig  vom  Gehirn.  Morgan  konnte  zeigen,  daß 
das  Hinfassen  der  Schere  ausbleibt,  wenn  das  Bein  zentral 
vom  Spalt  gereizt  wird.  Demnach  liegen  die  Rezeptoren,  welche 
die  Autotomie  auslösen,  im  Gebiet  des  zweiten  bis  zum 
fünften  Gliede  des  Beines. 

Der  Gang  von  Carcinus  maenas  und  die  ihn  beherrschenden 
Faktoren  sind  von  Bethe  sorgfältig  untersucht  worden.  Am 
häufigsten  sieht  man  unter  Wasser  den  reinen  Seitwärtsgang. 
Dabei  schreiten  auf  jeder  Seite  das  erste  mit  dem  dritten  und 
das  zweite  mit  dem  vierten  gemeinsam.  Diese  Verbindung  ist 
aber,  wie  Groß  und  ich  gefunden,  durch  keine  anatomische 
Struktur  festgelegt,  denn  nach  der  Autotomierung  eines  Beines, 
z.  B.  des  zweiten,  schlägt  der  Gang  um,  und  es  marschieren 
jetzt  das  erste  und  vierte  gemeinsam,  während  das  dritte  allein 
arbeitet.  Es  muß  also  ein  physiologischer  Grund  vorhanden 
sein,  der  es  verbietet,  daß  zwei  Nachbarbeine  zusammen  aus- 
schreiten. Wir  werden  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  den  Erregungs- 


Carcinus  maenas.  217 

ablauf  dafür  verantwortlich  machen.  Leider  fehlen  uns  die 
näheren  Daten,  um  uns  ein  Bild  des  Vorganges  machen  zu 
können. 

Die  Beine  der  beiden  Seiten  machen  beim  normalen  Tier 
in  der  Zeiteinheit  die  gleiche  Anzahl  gleichgroßer  Schritte, 
wobei  die  Beine  auf  der  vorwärts  gerichteten  Körperseite  den 
Körper  ziehen,  während  die  rückwärts  schauenden  ihn  schieben. 
Die  Korrelation  der  beiden  Seiten  wird  merkwürdigerweise  durch 
die  Otozysten  aufrecht  erhalten.  Die  Otozysten  sind  kleine 
mit  Flüssigkeit  gefüllte  Bläschen,  die  im  Basalglied  der  inneren 
Fühler  stecken.  An  Stelle  eines  Steines  enthalten  sie  lange 
Haare,  die  Kornähren  gleichend  durch  ihr  Herabneigen  nach 
der  jeweilig  zu  unters t  gelegenen  Körperseite  hin  die  Lage  des 
Erdmittelpunktes  angeben.  Die  Entfernung  einer  Otozyste 
setzt  die  Sperrung  hauptsächlich  in  allen  Flexoren  der  Beine 
auf  der  gleichen  Körperseite  herab.  Da  auch  die  Durchschnei- 
dung einer  Komissur,  die  vom  Gehirn  zum  Bauchmark  geht, 
die  gleiche  Wirkung  im  verstärkten  Grade  zeigt,  so  kann  man 
daraus  schließen,  daß  jederseits  im  Gehirn  ein  Erregungsreser- 
voir sitzt,  das  dauernd  von  den  Otozysten  aus  mit  Erregung 
gespeist  wird.  Vom  Erregungsreservoir  im  Gehirn  sind  die 
Reservoire  der  statischen  Erregung  im  Bauchmark  abhängig 
und  ihr  Niveau  fällt,  wenn  das  Niveau  im  Hirnreservoir  sinkt. 
Wird  das  Hirnreservoir  ganz  entfernt,  so  sinkt  das  Niveau  der 
Bauchmarkreservoire  noch  stärker.  Dadurch  werden  auch  die 
Repräsentanten  in  Mitleidenschaft  gezogen  und  vermögen  die 
Muskeln  nicht  mehr  mit  der  genügenden  Erregung  zu  speisen. 
Nun  haben  die  Flexoren  der  Beine  auf  der  voranschreitenden 
Seite  die  größte  Arbeit  zu  verrichten,  weil  sie  normalerweise 
den  Körper  nach  vorwärts  ziehen.  Dazu  gehört  nicht  bloß 
Verkürzung,  die  ja  leicht  auszuführen  ist,  sondern  auch  Sperrung, 
um  die  Last  auszugleichen.  Genügt  die  Sperrung  auf  der  voran- 
schreitenden Seite  nicht,  um  den  Körper  zu  ziehen,  so  müssen 
die  Beine  auf  der  rückwärts  liegenden  Seite  doppelte  Arbeit 
leisten  beim  Schieben  des  Körpers.  Auf  diese  Weise  läßt  sich, 
wie  mir  scheint,  die  von  Bethe  gefundene  Tatsache  deuten, 
daß  nach  Verlust  einer  Otozyste  die  Korrelation  der  beiden 
Beinseiten  verloren  geht,  wenn  die  Beine  der  verletzten 
Seite    voranschreiten.      Und    zwar    zeigt    sich   der   Verlust   der 


218  Carcinus  maenas, 

Korrelation  darin,  daß  die  hintere  Beinseite  schnellere  und 
kleinere  Schritte  ausführt,  während  die  vordere  Seite  die  gleichen 
Schritte  wie  sonst  ausführt,  ihre  Sperrfähigkeit  aber  einge- 
büßt hat. 

Die  Entfernung  der  Otozysten,  besonders  nach  beiderseitiger 
Operation,  hat  einen  bedeutenden  Einfluß  auf  die  Augenbe- 
wegungen. Denkt  man  sich,  daß  bei  jeder  Bewegung  des  Körpers, 
die  ihn  in  eine  andere  Lage  zum  Erdmittelpunkte  bringt,  eine 
andere  Kornähre  in  der  Otozyste  sich  herabneigt,  so  kann  man 
eine  kompensatorische  Bewegung  des  Augenstiles  wohl  verstehen. 
Es  braucht  in  diesem  Falle  immer  nur  eine  ganz  bestimmte 
Muskelgruppe  anzusprechen,  die  allein  von  jenem  bewegten 
Haar  aus  ihre  Erregung  erhält.  Es  wird  dann  jede  Art  Senkung 
des  Körpers  mit  einer  entgegengesetzten  Hebung  des  Auges 
beantwortet  und  dadurch  kompensiert. 

Kr  ei  dl  ist  es  gelungen,  bei  langschwänzigen  Krebsen,  welche 
Sandkörnchen  in  ihren  OtozjT-stenhöhlen  auf  feinen  Haaren  ba- 
lancieren (die  sie  sich  nach  jeder  Häutung  selbst  mit  den 
Scheren  hineinstopfen),  die  Sandkörnchen  durch  Eisenfeilspäne 
zu  ersetzen.  Diese  eisernen  Otoliten  ließen  sich  durch  einen 
Elektromagneten  beeinflussen  und  in  der  Otozyste  bewegen. 
Die  Antwort  war  stets  eine  kompensatorische  Bewegung  des 
ganzen  Körpers,  die  natürlich  in  diesem  Falle  zu  einem  falschen 
Resultat  führte.  Man  sieht  aber  daraus,  daß  von  den  Oto- 
zysten aus  die  kompensatorischen  Bewegungen  überhaupt  ge- 
lenkt und  der  Lage  des  Erdmittelpunktes  angepaßt  werden. 

Die  kompensatorischen  Bewegungen  der  Beine  treten  auf, 
wenn  der  Krebs  auf  eine  Unterlage  gesetzt  wird,  die  man  nach 
verschiedenen  Richtungen  hin  senkt.  Die  kompensatorischen 
Bewegungen  der  Augen  treten  auf,  wenn  der  Körper  des  Tieres 
sich  nach  verschiedenen  Richtungen  hinsenkt.  Die  ersten  haben 
den  Zweck,  das  Tier  vor  dem  Umfallen  zu  bewahren,  die  zweiten 
dienen  dazu,  der  Retina  einen  ruhigen  Hintergrund  zu  ver- 
schaffen. 

Wir  werden  bei  Besprechung  der  Libellen  Gelegenheit  haben, 
näher  auf  die  Bedeutung  der  kompensatorischen  Augenbewe- 
gungen einzugehen  und  ihre  Beziehungen  zu  der  von  Rädl 
entwickelten  Lehre  der  Lichtgleichung  einzugehen. 

Entsprechend  dieser  Lehre,  die  von  Bohn  eine  ausreichende 


Carcinus  maenas.  219 

experimentelle  Begründung  erhalten  hat,  müssen  wir  annehmen, 
daß  Carcinus  maenas  sich  in  einer  Welt  befindet,  die  sich  bloß 
aus  helleren  und  dunkleren  Flächen  zusammensetzt,  deren  Kon- 
turen gar  keine  RoUe  spielen.  In  dieser  Welt  stellt  sich  Car- 
cinus immer  so  ein,  daß  er  möglichst  viel  dunkle  Flächen 
hinter  sich  und  möglichst  viel  helle  Flächen  vor  sich  hat.  Ist 
er  einmal  so  eingestellt,  so  bewahrt  sein  Auge,  dank  der  kom- 
pensatorischen Bewegungen,  das  eingestellte  Feld  in  Ruhe  um 
sich.  Auf  diesem  ruhenden  Felde  spielen  sich  dann  Einzel- 
bewegungen ab,  auf  die  Carcinus  mehr  oder  weniger  deutUch 
reagiert. 

Aus  den  Labyrinth  versuchen  von  Yerkes  scheint  hervor- 
zugehen, daß  eine  regelmäßige  Wiederholung  der  Veränderungen 
im  Lichtfelde,  die  jeder  Krebs  erfährt,  wenn  er  sich  auf  die 
Wanderung  begibt,  sich  dem  Gehirn  des  Krebses  einprägen 
kann.  Denn  die  Krabben  finden  bei  häufiger  Wiederholung 
den  Weg  aus  einem  einfachen  Labyrinth  schneller  als  am  Anfang. 

Die  verschiedenen  Umrisse  und  Formen  der  Gegenstände 
werden  von  Carcinus  nicht  unterschieden,  nur  die  Bewegungen 
von  Dunkelheiten  gegen  die  helleren  Lichtfelder  werden  mit 
einer  Scherenbewegung  beantwortet,  die  ziemhch  gut  lokalisiert 
ist.  Es  müssen  daher  verschiedene  Gruppen  von  Lichtkegeln 
der  Augen  gesonderte  Bahnen  besitzen,  die  nach  den  Ganglien 
der  Scheren  im  Bauchmark  führen.  Bethe  hat  den  Weg, 
den  diese  Nerven  im  Gehirn  einschlagen,  verfolgen  körmen. 
Außer  diesen  feineren  Reaktionen  der  Lichtkegel  gibt  es  noch 
eine  ganz  grobe  Reaktion,  die  von  der  ganzen  Retina  wie  von 
einem  einzigen  Rezeptor  ausgehen.  Die  Retina  eines  Auges, 
gleichgültig  an  welcher  Stelle  sie  gereizt  wird,  sendet  Erregungen 
zu  den  Beinganglien  im  Bauchmark,  die  eine  Fluchtbewegung 
der  Beine  auslösen.  Diese  Flucht  bringt  das  Tier  immer  von 
dem  gereizten  Auge  fort.  Wird  das  linke  Auge  mit  Asphalt- 
lack geschwärzt,  so  wirkt  jede  dunkle  Annäherung  nur  noch 
auf  das  rechte  Auge.  In  diesem  Falle  flieht  die  Krabbe,  gleich- 
gültig in  welcher  Richtung  sich  das  Dunkle  befindet,  nur 
nach  links. 

Während  die  Augen  bei  Carcinus  nur  eine  untergeordnete 
Rolle  spielen,  sind  sie  bei  anderen  Krabben  ein  wichtiges  Hilfs- 
mittel zur  Erforschung  der  Umgebung  geworden.     Ich  bin  selbst 


220  Carcinus  maenas. 

Zeuge  eines  sehr  anmutigen  Schauspieles  gewesen,  wie  eine  große 
tropische  Landkrabbe  sich  der  wütenden  Angriffe  eines  Dachs- 
hundes erwehrte.  Von  welcher  Seite  her  sich  der  Hund  auf 
die  Krabbe  stürzen  mochte,  stets  starrte  ihm  bereits  eine  weit- 
geöffnete Schere  entgegen.  Es  war  interessant,  zu  sehen,  mit 
welcher  Sicherheit  die  Krabbe  den  blitzschnellen  Bewegungen 
des  Hundes  zu  folgen  vermochte. 

Wenn  man  auch  in  diesem  Falle  noch  von  einer  Reaktion 
auf  Bewegungen  reden  kann ;  für  die  gelben  Sandkrabben  von 
Makatumbe  bei  Daressalam  muß  man  schon  die  Umrisse  der 
Gegenstände  als  wirksam  annehmen,  mit  solcher  Sicherheit 
vermochten  sie  es,  ihre  Scheren  in  die  Lefzen  des  sie  ver- 
folgenden Hundes  zu  setzen.  Diese  Krabben  autotomierten 
ihre  Scheren,  nachdem  sie  zugeschnappt  hatten,  wie  die  See- 
igel ihre  Giftzangen,  und  der  Dachshund  kam  heulend  zurück, 
eine  festgeklammerte  Zange  in  den  Lippen. 

Die  Einsiedlerkrebse  verfolgen  mit  großer  Sicherheit  die 
Bewegungen  eines  feinen  Stäbchens,  indem  ihre  Tastfühler  dem 
Gegenstande  folgen.  Dagegen  sind  sie  ganz  unfähig,  auf  ein 
Fleischstückchen,  das  ihnen  durch  optische  und  nicht  durch 
chemische  Reize  wahrnehmbar  gemacht  wird,  mit  dem  Freß- 
reflex  zu  reagieren.  Mit  der  Nahrungsaufnahme  scheinen  die 
Augen  bei  keinem  Krebs  etwas  zu  tun  zu  haben,  denn  die 
Nahrung  tut  sich  den  Krebsen  nur  durch  chemische  und  mecha- 
nische Wirkungen  kund. 

Dagegen  zeigen  die  Augen  von  Maja,  wie  neuerdings  Min- 
kiewicz  in  einer  schönen  Arbeit  gezeigt  hat,  eine  hohe  Emp- 
findlichkeit für  Farben.  Maja,  deren  Körper  über  und  über 
mit  Spitzen  und  Haken  besetzt  ist,  zeigt  die  Eigentümlichkeit, 
alles,  wessen  sie  habhaft  werden  kann,  an  ihrem  Körper  zu 
befestigen.  Lebt  sie  unter  braunen  Algen,  so  trägt  sie  ein 
braunes  Kleid,  lebt  sie  unter  grünen  Algen,  so  ist  ihr  Kleid 
grün.  Dies  Verhalten  läßt  noch  auf  keine  Farbenunterscheidung 
schließen.  Aber  Minkiewicz  konnte  zeigen,  daß  in  einem 
Bassin,  das  mit  rotem  Papier  ausgeschlagen  war  und  an  dessen 
Boden  sich  Wollenfäden  in  verschiedenen  Farben  befanden,  die 
Maja  sich  immer  nur  die  roten  Fäden  aussuchte,  um  sich  damit 
zu  bekleiden. 

Es  würde    zu   weit  führen,   auf   die   höchst   merkwürdigen 


Die  Kephalopoden.  221 

Ergebnisse  des  genannten  Forschers  bei  Chromatophoren  tra- 
genden Krebsen  einzugehen,  die  uns  einen  ganz  ungeahnten 
Einfluß  der  Häutung  auf  das  Reflexleben  offenbaren. 

Um  auf  Carcinus  zurückzukommen,  so  scheint  in  seiner 
Umwelt  weder  Form  noch  Farbe  eine  Rolle  zu  spielen,  nur 
beleuchtete  Flächen  und  gelegenthche  Verdunkelungen  spielen 
in  ihr  eine  Rolle.  Die  Verdunkelungen,  wenn  sie  sich  bewegen 
werden  mit  dem  Flucht-  oder  Aufbäumereflex  beantwortet. 
Die  Nahrung  wird  am  chemischen  Reiz  und  am  Härtegrad 
bereits  von  den  Scheren  erkannt  und  dann  dem  Mund  zu- 
geführt. Über  das  Geschlechtsleben  und  die  Rolle  des  Gehirnes 
dabei  hat  uns  Bethe  unterrichtet.  Leider  ist  aber  die  Mehrzahl 
Reflexe  noch  nicht  weit  genug  analysiert,  um  uns  ein  Bild  vom 
Ablauf  des  Innenlebens  mittels  der  uns  geläufigen  Vorstellungen 
zu  machen.  Es  sind  zwar  überall  Ansätze  vorhanden,  aber  es 
formt  sich  noch  nicht  zum  Ganzen.  Es  bleibt  uns  daher  nichts 
übrig,  als  von  künftigen  Arbeiten  das  abschließende  Resultat 
zu  erhoffen. 


Die  Kei)lialopodeiL 

(Eledone  moschata.) 

Eledone  moschata  und  Octopus  vulgaris  sind  die  beiden 
bekanntesten  Vertreter  der  achtarmigen  Kephalopoden  oder 
Kopffüßer.  Der  Name  lehrt  uns  bereits,  daß  die  Ghedmaßen 
dem  Kopf  ansitzen.  Die  acht  Füße,  oder  besser  Arme,  um- 
stehen im  Kreise  den  Mund.  Der  Mund  sitzt  an  dem  durch 
zwei  große  Augen  geschmückten  Kopf,  der  sich  deuthch  vom 
übrigen  Körper  abhebt.  Der  Körper  selbst  ist  sackförmig  und 
steckt  in  einem  kräftigen  muskulösen  Sack  oder  Mantel,  mit 
dem  er  nur  stellenweise  verwachsen  ist. 

Faßt  man  einen  langarmigen  Kephalopoden,  etwa  Oktopus 
macropus,  am  Halse  und  hält  ihn  frei  in  die  Luft,  so  werden 
die  windenden  Bewegungen  der  Arme,  die  ihre  Saugnapfreihen 
vorstrecken,  den  Eindruck  eines  Schlangennestes  machen,  aus 
dem  überall  kleine  uud  große  Schlangen  ihre  Köpfe  hervor- 
strecken. Man  wird  dabei  deutlich  an  die  Sage  des  Medusen- 
hauptes gemahnt. 


222  ^^^  Kephalopoden. 

Auch  die  abgeschnittenen  Arme  zeigen  noch  lebhafte  Be- 
wegungen, denn  eine  große  Zahl  von  Reflexen  ist  völlig  un- 
abhängig vom  Gehirn,  das  fernab  in  der  knorpeligen  Schädel- 
kapsel verborgen  liegt.  Leider  sind  wir  über  die  Beziehungen 
zwischen  Muskeln  und  Nervensystem  im  Arm  der  Kephalopoden 
noch  nicht  genügend  aufgeklärt,  um  uns  ein  deutliches  Bild 
ihrer  Wechselwirkungen  zu  machen.  Selbst  eine  genügende 
Analyse  der  Bewegungen  der  Saugnäpfe  fehlt  noch.  Im  großen 
und  ganzen  läßt  sich  sagen,  daß  es  hauptsächlich  Längsmuskel- 
stränge  sind,  die  den  Arm  von  der  Basis  bis  zur  Spitze  durch- 
ziehen. Sie  umschheßen  den  nervösen  Achsenstrang,  der  aus 
einem  dorsalen  Nervenpaar  und  einem  ventralen  Nervennetz 
besteht,  das  seitlich  von  Ganglienzellen  umsäumt  ist.  Über 
den  Saugnäpfen  schwillt  der  Achsenstrang  zu  kleinen  Ganglien 
an.  Die  dorsalen  Nerven  übermitteln  keine  Reflexe,  sondern 
stellen  bloß  die  Verbindung  zwischen  dem  Gehirn  und  den 
Chromatophoren  der  Haut  her.  Ihre  Reizung  erzeugt  immer 
nur  eine  peripher  von  der  ReizsteUe  auftretende  Verdunkelung 
der  Haut.  Durch  diese  Einrichtung  ist  die  Verfärbung  unter 
den  direkten  Oberbefehl  des  Gehirns  gestellt  und  den  lokalen 
Zentren  des  Armes  entzogen. 

Viel  schwieriger  ist  es,  die  Leistungen  des  Nervennetzes 
zu  erkunden.  Soviel  kann  als  sicher  gelten,  daß  vom  Nerven- 
netz aus  überall  kurze,  motorische  Fasern  zu  den  Längsmuskeln 
und  kurze  rezeptorische  Fasern  zur  Haut  ziehen.  Die  direkte 
Reizung  des  Nervennetzes  erzeugt  sowohl  periphere  wie  zentrale 
Wirkungen  auf  die  Muskeln.  Ob  das  Erregungsgesetz  gültig 
ist,  ist  noch  nicht  festgestellt  worden.  Die  Saugnäpfe  neigen 
sich,  wenn  zwischen  ihnen  das  Nervennetz  gereizt  wird,  dem 
Reizorte  zu.  Dies  alles  wäre  nicht  schwer  zu  verstehen  und 
ergibt  sich  aus  den  allgemeinen  Eigenschaften  eines  jeden 
Nervennetzes.  Die  Schwierigkeit  beginnt  erst  bei  der  Frage: 
Wie  beherrscht  das  Gehirn  diesen  zentralen  Apparat,  der  so 
außerordentlich  selbständig  in  seinen  Leistungen  ist?  Einer- 
seits kann  jeder  Arm  jede  Bewegung  mit  seinen  Muskeln 
und  Saugnäpfen  ausführen,  auch  wenn  er  abgeschnitten  ist, 
andererseits  kann  ihm  vom  Gehirn  aus  jede  Bewegung  diktiert 
werden. 

Im  Gegensatz    zu   den  Armen  beherbergt  der  Atem-  oder 


Die  Kephalopoden.  223 

Mantelsack  der  Kephalopoden  kein  eigenes  Zentrum  mehr,  das 
Reflexe  vermitteln  könnte,  sondern  untersteht  direkt  dem  Ge- 
hirn. Denn  die  sogenannten  Stellarganglien,  die  sich  gerade 
an  der  Stelle  befinden,  wo  die  vom  Gehirn  kommenden  großen 
Mantelnerven  rechts  und  links  im  Mantel  anlangen,  vermitteln 
keine  Reflexe.  Nur  bei  Vergiftung  mit  Nikotin  treten  Erregungen 
von  einer  Bahn  zur  anderen  über,  die  sonst  streng  isoliert 
bleiben.  Die  mechanische  Erregbarkeit  der  Stellarnerven,  die 
vom  Stellarganglion  aus  nach  den  Mantelmuskeln  strahlen, 
steht,  wie  Fröhlich  und  Löwy  gefunden,  in  besonderer  Ab- 
hängigkeit vom  Ganglion.  Ist  dieses  mit  Nikotin  vergiftet 
worden  und  wird  dann  schnell  abgetrennt,  so  bleibt  die  erhöhte 
Erregbarkeit  für  mechanische  Reizung  noch  mehrere  Minuten 
in  den  Stellarnerven  stecken.  Das  ist  ein  Erregbarkeitsfang, 
der  wohl  auf  einen  abgefangenen  statischen  Erregungsdruck 
zurückzuführen  ist. 

Die  Mantelmuskulatur  zeigt  drei  ausgesprochene  Richtungen 
ihrer  Faserzüge.  Zu  äußerst  und  zu  innerst  hegt  eine  dünne 
Schicht  von  Längsmuskeln,  die  den  Mantel  von  vorne  nach 
hinten  durchziehen.  Zwischen  ihnen  eingebettet  und  recht- 
winklig zu  ihnen  angeordnet  liegen  die  mächtigen  Ringmuskeln. 
Schließlich  finden  sich  noch  feine,  transversale  Muskelstränge, 
welche  die  Innenseite  des  Mantels  mit  seiner  Außenseite  ver- 
binden. Die  transversalen  Muskeln  dienen  der  Einatmung, 
welche  von  den  Längsmuskeln  eingeleitet  wird.  Werden  die 
Transversalmuskeln  vom  Gehirn  aus  innerviert,  so  verwandeln 
sie  den  Mantel  in  einen  aufgeblasenen  Ballon,  dessen  Wände 
stark  verdünnt  und  erweitert  sind.  Die  Ringmuskeln  verengern 
bei  ihrer  Kontraktion  das  Lumen  des  Mantelsackes  und  werfen 
das  in  ihnen  enthaltene  Wasser  hinaus.  Sie  dienen  daher  der 
Ausatmung.  Dank  ihrer  starken  Entwickelung  sind  sie  fähig, 
das  Wasser  mit  einem  so  starken  Ruck  nach  außen  zu  werfen, 
daß  das  ganze  Tier  dadurch  rückwärts  getrieben  durchs  Wasser 
schießt.  Dies  ist  denn  auch  die  normale  Schwimmbewegung 
der  achtarmigen  Kephalopoden  oder  Oktopoden.  Der  Mantel- 
sack ist  mit  seinem  Rückensaum  am  Tierkörper  angewachsen 
und  hat  seinen  freien  Rand  an  der  Bauchseite  des  Tieres.  Nun 
liegt  unter  dem  Kopf  eine  trichterförmige  Röhre,  die  mit 
ihrem    weiten  Ende  in  den  Mantelsack  reicht,    mit  dem  engen 


224  ^^^  Kephalopoden. 

Ende  aber  frei  nach  vorn  ins  Wasser  schaut.  Beim  Ausatmen 
legt  sich  der  Mantelrand  erst  fest  an  den  Trichter  an,  worauf 
die  Kontraktion  der  gesamten  Ringmuskeln  erfolgt,  die  das 
Wasser  durch  den  Trichter  treibt.  Durch  Neigen  des  freien 
Trichterendes  nach  links  oder  rechts  vermag  das  Tier  den 
Wasserstrom  einigermaßen  zu  dirigieren  und  seine  Steuerung 
zu  unterstützen. 

Die  Atembewegungen  werden  durch  einen  doppelten  Reflex 
reguliert:  Der  Druck  auf  die  in  der  Mantelhöhle  hegenden 
Kiemen  erzeugt  reflektorisch  die  Öffnung  des  Mantelrandes  und 
die  Inspiration.  Die  Dehnung  des  Mantelrandes  dagegen  er- 
zeugt Schheßung  des  Mantels  und  Exspiration.  Diese  Reflexe 
wirken,  wie  wir  sehen  werden,  auf  den  nervösen  Atemapparat 
im  Gehirn. 

Die  Muskelfasern  der  Oktopoden  sind  keine  glatten  mehr. 
Sie  besitzen  wie  die  quergestreiften  Muskeln  eine  bestimmte 
Anfangslänge,  zu  der  sie  immer  wieder  zurückkehren,  und  sind 
daher  viel  unabhängiger  von  ihren  Repräsentanten  geworden. 
Trotzdem  spielen  die  Repräsentanten  eine  sehr  wichtige  Rolle 
im  Gehirn.  Alle  muskulösen  Organe  zeigen  sich  im  Gehirne  der 
Oktopoden  doppelt  vertreten,  einmal  ihrer  Lage  nach,  und  ein 
andermal  ihrer  Leistung  nach.  Die  Vertretung  der  Muskel- 
fasern ihrer  Lage  nach  übernehmen  die  Repräsentanten.  So 
finden  wir  in  dem  paarigen  Viszeralganglion  des  Gehirnes  den 
ganzen  Mantel  beinahe  in  situ  vertreten,  denn  man  kann  durch 
punktförmige  Reizung  des  ViszeralgangHons  den  Mantel  alle 
möglichen  kleinen  Falten  schlagen  lassen.  Jede  Reizung  wird 
die  Erregung  zu  einer  lokal  begrenzten  Stelle  schicken,  welche 
bald  mehr  die  eine,  bald  mehr  die  andere  Muskelschicht  zur 
Kontraktion  bringt.  Es  liegen  also  im  Viszeralganglion  die 
Zentren  so  beieinander,  wie  die  Tasten  in  einem  Klavier:  der 
räumlichen  Ausbreitung  der  Saiten  entspricht  die  räumliche 
Anordnung  der  Tasten.  Es  bildet  die  eine  Hälfte  des  Mantel- 
sackes mit  dem  Mantelnerv  und  dem  zugehörigen  Viszeral- 
ganglion bereits  ein  in  sich  abgeschlossenes  Reflexsystem.  Aber 
die  Leistungen  des  Viszeralganglions  gehen  noch  darüber  hinaus, 
denn  es  vermag,  abgetrennt  von  dem  übrigen  Gehirn,  die  ganze 
Atmung  zu  besorgen.  Es  beherbergt  an  zwei  wohl  definierten 
Stellen  höhere  Zentren,    bei  deren  Reizung  man  keine  lokalen 


Die  Kephalopoden.  225 

Muskelbewegungen,  sondern  allgemeine  Aus-  oder  Einatmungs- 
bewegungen erzielt.  Es  ist  also  auf  dem  Klavier  noch  eine 
Einrichtung  vorhanden,  welche  alle  weißen  Tasten  einerseits 
und  alle  schwarzen  Tasten  andererseits  vereinigt,  so  daß  ein 
Druck  genügt,  um  alle  weißen  Tasten,  ein  zweiter  Druck,  um 
alle  schwarzen  Tasten  anzuschlagen. 

Im  Viszeralganglion  treten  alle  Repräsentanten  der  aus- 
atmenden Ringmuskeln  durch  besondere  Bahnen  mit  einem  höher 
gelegenen  Zentrum  in  Verbindung  und  ebenso  treten  die  Repräsen- 
tanten der  einatmenden  Längs  und  Trans versalmuskeln  zu 
einem  anderen  höheren  Zentrum  in  Beziehung.  Diese  höhere 
Vereinigungsweise  läßt  sich  als  eine  weitgehende  Differenzierung 
im  zentralen  Netz  verstehen.  Schon  bei  den  Aktinien  fanden 
wir,  daß  die  Repräsentanten  der  verschiedenen  Muskelschichten 
ihre  besonderen  Spezialnetze  besaßen.  Bei  den  Oktopoden  ver- 
einigen sich  alle  Bahnen  dieser  Spezialnetze  in  zwei  höheren 
statischen  Atemzentren.  Diese  Zentren  haben  aber  nicht  die 
Aufgabe,  die  überschüssige  Erregung  abzusaugen,  wie  das  bei 
den  Schnecken  der  Fall  ist,  denn  mit  ihrer  Erregung  werden 
die  gestreiften  Muskeln  allein  fertig.  Dafür  haben  sie  die  Auf- 
gabe, ihre  Erregung  unter  einander  auszutauschen.  Es  findet 
also  ein  Hin-  und  Herfließen  der  Erregung  zwischen  dem  Aus- 
und  dem  Einatmungszentrum  statt.  Sobald  die  Erregung  ein 
statisches  Zentrum  erfüllt  hat,  wirkt  sie  auch  auf  alle  mit  ihm 
verbundenen  Repräsentanten  und  deren  Gefolgsmuskeln  ein. 

Die  pendelnde  Bewegung  der  Erregung  wird  reguliert  und 
in  Gang  gehalten  durch  die  beiden  besprochenen  Reflexe:  Die 
extreme  Einatmungsbewegung  wird  zum  Reiz,  der  eine  Erregung 
zum  Ausatmungszentrum  sendet  und  ebenso  wirkt  die  extreme 
Ausatmungsbewegung  erregend  auf  das  Einatmungszentrum. 
Hier  finden  wir  die  uns  bereits  von  den  Medusen  her  bekannte 
Einrichtung  wieder,  daß  die  ausgeführte  Bewegung  selbst  wieder 
zum  Reize  wird.  Nur  wurde  bei  den  Medusen  eine  einzige 
Bewegung  aktiv  durch  Muskeln  ausgeführt,  die  andere  geschah 
passiv  durch  den  Gallertschirm.  Infolgedessen  kam  auch  nur 
ein  einziger  Reiz  in  Frage,  der  die  Erregung  allen  Muskeln  zu- 
sandte. Bei  den  Oktopoden  handelt  es  sich  um  zwei  aktive 
Muskelbewegungen,  zwei  Reize  und  zwei  Erregungen.  Auch 
wird    die    innerste   Station    nicht   durch  ein  bloßes  Nervennetz 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  15 


226  ^^^  Kephalopoden. 

gebildet,  sondern  durch  zwei  statische  Zentren,  die  allein  schon 
fähig  sind,  automatisch  zu  arbeiten,  indem  sie  sich  gegenseitig 
die  Erregung  zuschieben,  sobald  sie  die  von  ihnen  abhängigen 
Repräsentanten  mit  Erregung  gefüllt  haben.    Der  automatische 
Rhythmus,   der  mit  der  Tätigkeit  zweier  verkuppelten  Ballons 
zu   vergleichen   ist,    ist   an   keinen  Unterbecher  gebunden,    wie 
das    bei    den    Medusen    der  Fall   ist,    denn   der  Atemrhythmus 
der  Kephalopoden  ist  jederzeit  anpassungsfähig,  und  wenn  eine 
refraktäre  Periode  nachgewiesen  werden  sollte,  so  ist  sie  sicher 
nur  relativ  und  nicht  absolut.    Ein  Erregungsrhythmus  zwischen 
Ein-   und   Ausatmungszentrum    ist    also    sicher    vorhanden,    er 
kann    aber    jederzeit   verstärkt,    beschleunigt   oder  verlangsamt 
werden,  und  zwar  paßt  sich  das  Viszeralganglion  der  einen  Seite 
mit  langsamem  Rhythmus  immer  dem  anderen  Viszeralganglion 
an,    wenn    dieses    einen    schnelleren    Rhythmus    aufweist.      Es 
müssen  also  gute  Verbindungen   zwischen   den  Atmungszentren 
beider  Seiten  bestehen.    Der  Rhythmus  in  den  Viszeralganglien 
kann  durch  höher  gelegene  Zentren  beeinflußt  werden.     Bevor 
wir  auf  die  Wirkungsweise  dieser  Zentren  eingehen,  müssen  wir 
einen  kurzen  Überbhck  über  das  ganze  Gehirn  gewonnen  haben. 

Das  Gehirn  besteht  aus  lauter  paarweis  angeordneten 
Ganglien.  Unter  Ganghen  versteht  man  kompakte  Nerven- 
netze, die  von  Ganglienzellen  umsäumt  sind.  Die  Größe  und 
Form  der  Ganglien  ist  sehr  wechselnd.  Ich  unterscheide  bei 
den  Oktopoden  drei  Arten  von  Ganglien:  1.  periphere,  2.  zen- 
trale und  3.  zerebrale  Ganglien.  Die  peripheren  Ganglien  ent- 
senden periphere  Nerven,  die  zentralen  verbinden  die  peri- 
pheren Ganglien  miteinander  und  die  zerebralen  sind  den 
zentralen  aufgelagert. 

Da  das  Gehirn  von  der  Speiseröhre  durchbohrt  ^vird,  so 
entsteht  eine  über  dem  Schlünde  und  eine  unter  dem  Schlünde 
gelegene  Ganglienmasse.  Die  Unterschlundmasse  besteht  aus 
drei  peripheren,  paarigen  Ganglien,  die  hintereinander  liegen. 
Zuvörderst  liegt  das  Armganglion,  das  die  Armnerven  auf- 
nimmt. Ihm  folgt  das  Trichterganglion  (Pedalganglion),  das 
den  Trichter  mit  Nerven  versorgt,  und  schließhch  kommt  das 
besprochene  Viszeralganglion,  das  die  Mantelnerven  abgibt. 

Während  die  drei  Unterschlundganglien  in  einer  Ebene 
liegen,    erhebt    sich    die    Oberschlundmasse    zu    einem   kleinen 


Die  Kephalopoden.  227 

Berge.  Die  Basis  des  Berges  wird  von  vier  Ganglien  gebildet. 
Zuvörderst  liegt  das  Buccalganglion,  so  genannt,  weil  es  Nerven 
zur  Mundmasse  oder  Bucca  entsendet.  Dann  folgen  hinter- 
einanderliegend  die  drei  Zentralganglien.  Den  Gipfel  des  Berges 
bilden  die  beiden  gleichfalls  hintereinanderliegenden  Zerebral- 
ganglien. 

Ober-  und  Unterschlundganglien  sind  sowohl  am  vorderen 
wie  am  hinteren  Ende  durch  Kommissurenpaare  miteinander 
verbunden.  Die  hintere  Kommissur  verbindet  jederseits  das 
Viszeralganglion  mit  dem  dritten  Zentralganglion.  Es  kann 
daher  nicht  wundernehmen,  daß  die  höheren  Ganglien,  welche  die 
Atmung  beeinflussen,  in  der  dritten  Zentrale  gelegen  sind.  Hier 
finden  sich  in  der  Tat  ausgesprochene  Stellen,  von  denen  aus 
man  je  eine  Phase  der  Atembewegung  isoUert  beeinflussen  kann. 
Besonders  deutlich  läßt  sich  eine  reine  Streckung  des  Mantels 
und  eine  ausgesprochene  Ballonform  durch  Reizung  bestimmter 
Orte  erzielen. 

Durch  die  Einfügung  dieser  höheren  Zentren  vdvd  dem 
Tier  die  Möglichkeit  gewährt,  bei  besonderen  Gelegenheiten  die 
eine  oder  die  andere  Phase  des  Atemrhythmus  allein  vor- 
herrschen zu  lassen.  Am  Boden  der  dritten  und  dem  an- 
schließenden Teil  der  zweiten  Zentrale  befindet  sich  eine  Region, 
die  auf  Reiz  hin  das  Atmen  in  Schwimmen  verwandelt.  Es 
macht  den  Eindruck,  als  wenn  hier  ein  großes  Erregungs- 
reservoir läge,  das  auf  dynamische  Erregung  hin  einen  sehr 
verstärkten  Rhythmus  auszuspielen  beginnt,  den  es  den  Atem- 
zentren im  Viszeralganglion  aufzwingt.  Damit  ist  der  Kreis 
der  Mantelbewegungen  erschöpft.  Deutlich  zeigt  sich,  daß  der 
Unterschied  zwischen  niederen  und  höheren  Zentren  darin  be- 
steht, daß  die  niederen  einzelne  Muskelkontraktionen  auslösen, 
während  die  höheren    einer  ganzen  Körperbewegung  vorstehen. 

Die  gleiche  Trennung  der  Zentren  in  lokal  wirksame  und 
funktionell  zusammenfassende  zeigt  sich  auch  bei  den  Bewegungs- 
zentren der  Arme.  Wir  sahen,  daß  in  dem  Achsenstrang  der 
Arme  ein  Nervennetz  vorhanden  ist,  das  die  Repräsentanten 
der  Muskeln  enthält,  die  sich  noch  im  gleichen  Querschnitt 
mit  ihren  Gefolgsmuskebi  befinden.  Die  Zusammenfassung  der 
Repräsentanten  unter  höhere  Zentren  geschieht  erst  im  Gehirn. 
Das  Nervensystem  der  Arme  zerfällt  in  zwei  deuthch  getrennte 

15* 


228  ^^^  Kephalopoden. 

Abschnitte.  Von  den  äußersten  Spitzen  beginnend  bis  zu  den 
Armwurzeln  (die  einem  muskulösen  Becher  aufsitzen,  in  welchem 
die  Bucca  frei  beweglich  liegt)  verbindet  das  allgemeine  Nerven- 
netz die  Repräsentanten  miteinander.  An  der  Armwurzel  greifen 
die  Nervennetze  durch  Verbindungsbrücken  von  einem  Nachbar- 
arm zum  anderen  über.  Und  jede  peripher  auftretende  Er- 
regung ist  fähig,  von  einem  Arm  zum  anderen  hinüberzufheßen. 
In  dieses  allgemeine  Nervennetz  strahlen  die  vom  Gehirn 
kommenden  Bahnen  ein  und  verbinden  sich  in  noch  unerforschter 
Weise  mit  den  Repräsentanten.  Sicher  ist  nur,  daß  diese 
Bahnen  nicht  im  allgemeinen  Nervennetz  aufgehen,  denn  niemals 
greift  eine  zentrale,  in  die  Armwurzeln  einbrechende  Erregung, 
auf  die  Nachbararme  über,  obgleich  das  allgemeine  Netz  hier 
seine  Verbindungsbrücken  geschlagen  hat. 

Die  Arme  haben  drei  verschiedene  Aufgaben  zu  erfüllen, 
und  dementsprechend  kann  man  ihnen  drei  verschiedene 
Funktionen  zuschreiben:  1.  Abwehrbewegungen,  besonders  zum 
Schutze  des  Mantels,  2.  Bewegungen,  die  der  Orts  Veränderung 
dienen,  beim  Kriechen,  Klettern  oder  Schwimmen,  3.  Fang-  oder 
Freßbewegungen,  Die  Bewegungen,  die  der  einzelne  Arm  bei 
Ausübung  dieser  drei  Funktionen  macht,  sind  immer  die 
gleichen.  Sie  bestehen  aus  Windungen  nach  allen  Seiten  hin, 
aus  Zufassen  und  Loslassen  der  Saugnäpfe.  Es  ist  vöUig  aus- 
sichtslos, verschiedene  Typen  der  Armbewegungen  nach  den 
verschiedenen  Funktionen  aufstellen  zu  wollen.  Trotzdem  ver- 
mag man  nachzuweisen,  daß  im  Gehirn  für  jede  dieser  drei 
Funktionen  gesonderte  Gruppen  von  Zentren  vorhanden  sind. 
Die  verschiedenen  Zentren  benutzen  also  nicht  bloß  das  gleiche 
Organ,  sondern  auch  die  gleichen  Bewegungen  des  einzelnen  Organes, 
nur  in  verschiedener  Zusammenstellung  mit  den  Bew^egungen 
seiner  Nachbarn,  um  ihre  spezielle  Leistung  durchzusetzen. 

Zur  Ausführung  der  Abwehrbewegungen,  die  auf  Reizung 
des  Mantels  eintreten  und  in  einem  Zurückschlagen  der  Arme 
nach  der  gereizten  Stelle  hin  bestehen,  bedürfen  die  Oktopoden 
nur  eines  einfachen  Reflexes,  der  im  Pedalganglion  gipfelt. 
Die  rezeptorischen  Nerven  treten  durch  die  Mantelnerven  und  das 
Viszeralganglion  zum  Pedalganglion  über  und  finden  dort  ihre 
Verkoppelung  mit  den  motorischen  Bahnen,  die  das  Armganglion 
durchsetzen  und  zum  Achsenstrang  weiterziehen. 


Die  Kephalopoden.  229 

Von  den  Lokomotionsbewegungen  sind  die  Steuerbewegun- 
gen beim  Schwimmen  am  besten  bis  auf  ihren  Ursprung  zu 
verfolgen.  In  der  gleichen  Region  der  zweiten  und  dritten 
Zentrale,  deren  Reizung  die  Schwimmbewegung  auslöst,  ent- 
steht auch  die  Erregung,  welche,  die  hintere  Kommissur  durch- 
eilend, im  Pedalganghon  ihre  Verkoppelung  mit  jenen  moto- 
rischen Nerven  erfährt,  die  ein  Loslassen  der  Saugnäpfe  und 
ein  Zusammenschheßen  der  Arme  zu  einem  Bündel  veranlassen. 
Beim  Schwimmen,  dessen  Richtung  nur  ungenügend  durch 
die  Biegung  des  Trichters  reguHert  wird,  wirkt  ein  Hin- 
und  Herpendeln  des  ganzen  Armbündels  wie  ein  effektvolles 
Steuer.  Vom  Boden  der  dritten  Zentrale  gehen  ferner  die 
Erregungen  aus,  die  dem  Klettern  und  Kriechen  dienen.  Auch 
ihr  Weg  führt  durch  die  hintere  Kommissur  zum  Pedalganglion 
und  von  dort  in  den  Achsenstrang.  Sie  sind  noch  nicht  ge- 
nügend untersucht. 

Merkwürdigerweise  nehmen  die  Bahnen  derjenigen  Zentren, 
die  das  Fressen  beherrschen,  ihren  Weg  nicht  durch  die  hin- 
teren, sondern  durch  die  vorderen  Kommissuren.  Wie  die 
Armbewegung,  welche  das  Schwimmen  unterstützt,  von  der 
gleichen  Region  ihre  Erregung  enthält  wie  die  Schwimmbewe- 
gung selbst,  so  erhält  die  hauptsächliche  Bewegung  beim  Fressen, 
nämlich  das  Zufassen  der  Saugnäpfe,  besonders  an  der  Arm- 
wurzel seinen  Impuls  aus  der  gleichen  Region,  die  das  Zubeißen 
der  kräftigen,  in  der  Bucca  gelegenen  Kiefer  auslöst.  Am 
Boden  der  ersten  Zentrale  finden  sich  Zentren,  die  einerseits 
durch  das  Buccalganglion  ihre  Nerven  zur  Bucca  entsenden, 
andererseits  ihre  Nerven  durch  die  vordere  Kommissur  zum 
Armganglion  schicken.  Dort  werden  sie  mit  den  motorischen 
Bahnen  des  Achsenstranges  verkoppelt.  Auf  diese  Weise  ist 
dafür  gesorgt,  daß  die  Bewegungen  der  verschiedensten  Or- 
gane, wenn  sie  nur  die  gleiche  Aufgabe  gemeinsam  zu  erfüllen 
haben,  von  einem  eng  zusammenhängenden  Zentrenkomplex 
ausgelöst  werden. 

Außerhalb  der  Schädelkapsel  liegt  links  und  rechts  ein 
weiteres  großes  peripheres  Ganglion,  das  aber  rezeptorischer  Natur 
ist.  Es  ist  das  Augenganglion.  Mit  dem  Gehirn  steht  es  durch 
den  derben  Tractus  opticus,  der  oberhalb  der  hinteren  Kom- 
missur mündet,  in  Verbindung.  Mit  dem  Auge  ist  das  Ganglion 


230  ^i®  Kephalopoden. 

durch  eine  dichte  Reihe  zarter  Optikusfasern  verbunden.  Vom 
Auge  aus  werden  während  des  normalen  Lebens  dauernd 
Reflexe  ausgelöst,  die  besonders  die  Verfärbung  der  Haut  be- 
treffen, mit  der  die  Bewegungen  der  sehr  beweglichen  Ober- 
haut Hand  in  Hand  gehen.  Es  ist  daher  sehr  auffallend, 
daß  die  Reizung  der  Optikusfasern  gar  keinen  Effekt  hat.  Erst 
die  Reizung  des  Ganglions  selbst  wirkt  auf  die  Haut  und  die 
Chromatophoren.  Dieser  Unterschied  kann  nur  darin  gesucht 
werden,  daß  im  Gegensatz  zum  motorischen  Gebiet  des  Ge- 
hirnes, wo  jede  Reizung  Erfolg  hat  (es  sei  denn,  daß  man  zu- 
fällig zwei  antagonistisch  wirkende  Fasern  gleich  stark  erregte), 
im  rezeptorischen  Gebiete  die  Reizung  erst  dann  Erfolg  hat, 
wenn  ein  anatomisch  und  funktionell  zusammengehöriger  Kom- 
plex von  Bahnen  und  Zentren  erregt  wird.  Bei  der  elektrischen 
Reizung  der  Optikusfasern  wird  man,  wie  leicht  einzusehen, 
niemals  den  richtigen  Erregungskomplex  auslösen,  den  ein  Bild 
auf  der  Retina  ohne  weiteres  hervorruft.  Im  Augenganghon 
kann  man  schon  eher  darauf  hoffen,  einen  nervösen  Komplex 
zusammenzuerregen,  wenn  er  sehr  einfacher  Art  ist.  So  ge- 
lingt es  vom  Augenganglion  aus  einige  einfache  Farbenreflexe 
und  manchmal  Schwimmbewegungen  hervorzurufen,  also  die 
primitivsten  Flucht-  und  Verfärbungsreaktionen,  keineswegs 
aber  höhere  Bewegungungskoordinationen. 

An  der  Stelle,  wo  der  Pedunculus  opticus  aus  dem  Augen- 
ganglion austritt,  sitzt  ein  stecknadelkopfgroßes  GangUon,  dessen 
Reizung  mit  Sicherheit  eine  tiefe  Schwärzung  des  ganzen 
Tieres  veranlaßt.  Die  Verdunkelung  der  Haut  ist  ein  sicheres 
Mittel,  von  hier  aus  den  Weg  der  Kolorationsnerven  durch 
die  dritte  Zentrale  in  die  hinteren  Kommissuren  zu  verfolgen, 
wo  sie  teils  durch  das  Viszeralganglion  in  die  Mantelnerven, 
teils  durch  das  Pedalganglion  in  den  Achsenstrang  ziehen. 
Ob  das  Ganglion  pedunculi  ein  besonderes  Erregungsreservoir 
für  die  Kolorationsnerven  darstellt,  ist  ungewiß,  jedenfalls  trägt 
es  bereits  einen  motorischen  Charakter. 

Sehr  auffallend  ist  ferner  die  Tatsache,  daß  die  beiden 
Zerebralganglien,  die  den  Zentralganglien  aufsitzen,  genau  wie 
die  Optikusfasern  für  jede  künstliche  Reizung  völHg  refraktär 
sind.  Dadurch  allein  charakterisieren  sie  sich  bereits  als  re- 
zeptorische Ganglien,  welche  nur  erregt  werden  können,  wenn 


Die  Kephalopoden.  231 

ihre  Zentren  in  der  richtigen  Form  und  in  der  richtigen  Reihen- 
folge gereizt  werden. 

Das  Hauptkennzeichen  einer  höheren  Organisation  sahen 
wir  in  dem  Auftreten  der  Gegen  weit,  d.  h.  einer  Neubildung 
im  rezeptorischen  Teil  des  Zentralnervensystems.  Es  ist  durch 
Beobachtung  an  Oktopoden  genugsam  festgestellt,  daß  sie  auf 
die  Form  der  photorezipierten  Gegenstände  reagieren.  Es  kann 
aber,  wie  wir  sahen,  die  Form  eines  Gegenstandes  nur  dann 
als  Reiz  wirken,  wenn  im  Gehirn  eine  entsprechende  Form  im 
Bau  der  Nervenbahnen  und  Zentren  vorgebildet  ist.  Die  Form 
der  Anordnung  der  Nervenbahnen  kann  man  als  Transformator 
für  die  Form  der  Gegenstände  im  weitesten  Sinne  auffassen 
und  muß  sie  daher  dem  rezeptorischen  Teil  des  Zentralnerven- 
systems zurechnen.  Es  besitzen  die  Oktopoden  sicher  eine 
Gegen  weit,  und  wo  sollte  diese  passender  ihr  Zelt  aufschlagen 
können,  als  in  den  Zerebralganghen  ?  Diese  sind  so  gelagert, 
daß  sie  von  allen  Rezeptoren  gleich  weit  entfernt  sind  und 
alle  äußeren  Eindrücke  auf  dem  kürzesten  Wege  erhalten. 
Ferner  liegen  sie  den  Zentralganglien  auf,  welche  die  höchsten 
motorischen  Stationen  beherbergen,  von  denen  aus  die  Ge- 
samthandlungen des  ganzen  Tierkörpers  dirigiert  werden.  Wenn 
wir  diesen  Gedanken  weiter  verfolgen,  so  hegt  in  den  Zerebral- 
ganghen die  gesamte  Umwelt  des  Tieres  in  Form  von  nervösen 
Schematen  aufgespeichert  und  jedes  Schema  ist  bereit,  sobald 
ihm  die  Erregung  in  der  ihm  allein  zusagenden  Form  zuge- 
sandt wird,  seine  Verbindungen  mit  den  höchsten  motorischen 
Zentren  spielen  zu  lassen.  Auf  diese  Weise  allein  gehngt  es, 
ein  anschauhches  Bild  von  den  Vorgängen  im  Gehirn  zu  er- 
langen, das  halbwegs  den  allgemeinen  Erfahrungen  am  Tiere 
entspricht. 

Leider  können  wir  mit  unseren  rohen  Reizen  nicht  die 
einzelnen  Schemata  rein  anklingen  lassen,  und  nur  dann  dürfte 
man  auf  Erfolg  hoffen.  Alle  Versuche  an  Kunstschlössern,  die 
nur  auf  ein  bestimmtes  Kennwort  sich  öffnen,  sind  vergebliche 
Mühe,  wenn  man  das  Wort  nicht  kennt.  Man  erzielt  mit 
allen  Umstellungen  gar  nichts.  Dagegen  ist  es  sehr  leicht, 
Bewegungen  der  Riegel  zu  erzielen,  wenn  man  im  Uhrwerk 
des  Schlosses  an  den  Rädern  selbst  herumprobiert.  So  ist  es 
auch   mit  den  Reizen   im  rezeptorischen   und   motorischen  Ge- 


232  ^^^  Kephalopoden. 

biet.    Die   ersten  geben  gar  keine,  die  anderen  immer  Effekte, 
die  freilich  oft  ganz  unnormal  sind. 

Die  Vorstellung  der  Gegenwelt  eröffnet  auch  für  die  Okto- 
poden  ganz  neue  Fragestellungen.  Man  weiß,  daß  ein  Okto- 
pus  die  Krabbe,  die  man  ihm  an  einen  Faden  hängend  zuwirft, 
an  ihrer  Form  erkennt ;  sobald  er  sie  erblickt,  verfärbt  er  sich 
und  stürzt  auf  sie  los.  Das  Auge  liefert  ein  tadelloses  Bild 
der  äußeren  Gegenstände  in  der  Retina  und  vermag  sogar  aus- 
gezeichnet zu  akkomodieren.  Aber  wie  genau  die  Schemata 
der  Gegen  weit  sind,  ist  noch  gar  nicht  untersucht  worden.  Ob 
etwa  ein  Schlangenstern  ebenso  behandelt  würde,  wie  eine 
Krabbe,  oder  ob  die  künstliche  Färbung  der  Krabbe  die  Wir- 
kung der  Form  aufhebt,  darüber  ist  noch  nichts  bekannt. 

Das  Abtragen  der  Zerebralganglien  ist  ebenso  erfolglos  wie 
die  künstHche  Reizung.  Wenigstens  bleiben  alle  koordinierten 
Bewegungen  erhalten  und  können  durch  Reizung  der  rezep- 
torischen Nerven  reflektorisch  ausgelöst  werden.  Es  bleibt 
also  das  zentrale  Innenleben  durch  diese  Operation  unberührt. 
Die  höchsten  motorischen  Zentren  sind  unverletzt  geblieben 
und  lassen  den  komplizierten  Bewegungsapparat  mit  der  gleichen 
Sicherheit  spielen,  gleichgültig  woher  sie  ihren  nervösen  Impuls 
erhalten.  Da  im  normalen  Leben  es  jederzeit  nötig  werden 
kann,  einen  der  motorischen  Apparate  möglichst  schnell  in 
Tätigkeit  zu  setzen,  so  kann  es  nicht  wundernehmen,  daß 
von  den  Rezeptoren  direkte  Bahnen  zu  den  höchsten  moto- 
rischen Zentren  verlaufen.  Es  ist  daher  das  Bestehenbleiben 
der  gesamten  Bewegungsfähigkeit  nach  Abtragung  der  beiden 
Zerebralganglien  nicht  so  auffallend.  Zusammengehalten  aber 
mit  der  völligen  Unfähigkeit  auf  künstliche  Reize  zu  reagieren, 
wird  diese  Tatsache  leicht  zum  Glauben  verführen,  als  be- 
säßen die  Zerebralganglien  lediglich  hemmende  Eigenschaften. 
Wenn  von  ihnen  aus  tatsächhch  auch  hemmende  Wirkungen 
auszugehen  scheinen,  so  ist  damit  ihre  Bedeutung  kaum  an- 
gedeutet. Wie  Hemmungszentren  wirken,  wissen  wir  jetzt 
aus  den  Versuchen  an  Schnecken,  deren  Tätigkeit  ganz  anderer 
Art  ist. 

In  neuester  Zeit  hat  die  Analyse  der  Reaktionen  bei 
höheren  Tieren  die  Annahme  einer  Gegenwelt  im  Zentralnerven- 
system notwendig  gemacht,  und  wir  haben  die  Unerregbarkeit 


Die  Kephalopoden.  233 

der  Schemata  durch  künstiiche  Reize  plausibel  machen  können. 
Ebenso  plausibel  ist  der  Mangel  an  Ausfallserscheinungen  nach 
Entfernung  der  Gegenwelt,  wenn  die  Rezeptoren  direkte  Ner- 
venbahnen zu  den  motorischen  Zentren  senden.  Die  Wichtig- 
keit der  Zerebralganglien  mit  ihrer  Gegenwelt  wird  dadurch 
nicht  im  geringsten  berührt.  Es  zerfällt  eben  das  Innenleben 
der  Oktopoden  in  zwei  Hauptteile,  in  ein  zentrales  und  ein 
zerebrales  Innenleben 

Das  zentrale  Innenleben,  das  eine  völlig  geschlossene  Ein- 
heit bildet,  lehnt  sich  unmittelbar  an  das  Innenleben  der 
niederen  Tierformen  an.  Rezeptor  —  Netz  —  Effektor  ist 
auch  hier  der  Weg  der  Reflexe,  nur  ist  eine  höhere  Ausbildung 
im  motorischen  Teile  des  Netzes  vorhanden.  Die  Umwelt,  die 
für  das  zentrale  Innenleben  in  Frage  kommt,  besteht  nicht 
aus  Gegenständen,  sondern  aus  einzelnen  physikalischen  oder 
chemischen  Wirkungen,  die  vielleicht  eine  gewisse  Gruppierung 
im  rezeptorischen  Netzteil  erfahren.  Mit  der  zentralen  Innen- 
welt allein  können  die  Oktopoden  noch  leben,  denn  kein  unent- 
behrhcher  Maschinenteil  ist  ausgeschieden,  der  Organismus  funk- 
tioniert noch  immer  als  ein  Ganzes. 

Auch  im  zerebralen  Innenleben  kann  nichts  anderes  ge- 
schehen, als  daß  auf  äußere  Reize  hin  Bewegungsreaktionen 
erfolgen.  Die  Rezeptoren  und  Effektoren  bleiben  dieselben 
und  nur  die  rezeptorischen  Bahnen  erleiden  eine  Umgestaltung. 
Diese  Umgestaltung  verändert  aber  nicht  so  sehr  den  eigenen 
Organismus  als  vor  aUen  Dingen  die  Umwelt,  die  vom  Grund 
auf  umgestaltet  wird,  durch  die  Einführung  von  räumlichen 
Formen  und  die  Erzeugung  von  wirkhchen  Gegenständen. 
Welche  Gegenstände  das  sind  und  wie  weit  sie  sich  mit  den 
von  uns  in  der  Umgebung  des  Tieres  erkannten  Gegenständen 
decken,  darüber  müssen  uns  noch  geeignete  Experimente  auf- 
klären. Octopus  vulgaris  baut  sich  selbst  ein  Haus  aus  Steinen 
und  Felsblöcken,  und  das  verlangt  immerhin  eine  gewisse 
Kenntnis  der  Formen  der  verwendeten  Bausteine. 

Augenblicklich  werden  in  Amerika  interessante  Versuchs- 
reihen an  verschiedenen  Tierarten  angestellt,  die  sich  auf  die 
Entstehung  von  Gewohnheiten  (Yerkes)  beziehen.  Man  hofft 
dabei  einen  Beweis  für  das  Wirken  einer  Psyche  zu  finden. 
Insofern  eine  Neubildung   von  Gewohnheiten  auf  Neubildungen 


234  ^i®  Kephalopoden. 

im  Gehirn  selbst  schließen  läßt,  ist  allerdings  aus  diesen  Ver- 
suchen zu  schließen,  daß  ein  übermaschineller  Faktor  im  Ge- 
hirn tätig  ist.  Ich  sehe  aber  keine  Veranlassung,  diesen  Faktor 
eine  Psyche  oder  ein  Psychoid  zu  nennen,  denn  die  Struktur- 
bildung ist  eine  maschinell  nicht  auflösbare  Eigenschaft  des 
ungeformten  Protoplasmas,  das  gerade  durch  diese  Eigenschaft 
sich  von  allen  übrigen,  geformten  und  ungeformten  Stoffen 
unterscheidet.  Inwieweit  eine  Neubildung  im  Oktopodengehirn 
anzunehmen  ist,  ist  noch  nicht  sichergestellt.  Wohl  wird  ein 
Oktopus  vulgaris,  der  sich  auf  einen  Torpedo  gestürzt  hat 
und,  von  dessen  Schlägen  verjagt,  wieder  am  Ufer  sitzt,  den 
Torpedo  eine  Zeitlang  in  Ruhe  lassen.  Ob  daraus  aber  eine 
dauernde  Gewohnheit  wird,  ist  noch  nicht  untersucht. 

Ich  habe  an  hungernden  Exemplaren  von  Eledone  moschata 
gefunden,  daß  sie  sich  gerne  auf  Einsiedlerkrebse  stürzen. 
Trägt  aber  das  Gehäuse  des  Krebses  eine  Aktinie,  an  der  sich 
Eledone  verbrennt,  so  gibt  sie  die  vergeblichen  Versuche  bald 
auf.  Sie  hört  aber  dann  überhaupt  zu  fressen  auf  und  nimmt 
auch  die  beliebten  Krabben  nicht  mehr  an,  sondern  geht  elend 
zugrunde.  Dieser  Versuch  lehrt,  daß  die  sogenannte  Plastizität 
des  Gehirnes  von  Eledone  eine  geringe  ist,  denn  die  neue  Er- 
fahrung zeitigt  keine  neue  Gewohnheit,  sondern  zerreißt  die 
Gegenwelt. 

Im  Gegensatz  zu  Yerkes  und  Driesch,  die  in  den  proto- 
plasmatischen Leistungen  des  Gehirnes  einen  Beweis  für  die 
Psyche  suchen,  glauben  Loeb  und  neuerdings  Bohn  in  der 
Existenz  eines  assoziativen  Gedächtnisses  den  Beweis  einer 
Psyche  sehen  zu  dürfen.  Nun  ist  ein  assoziatives  Gedächtnis, 
wenn  man  damit  eine  objektive  Leistung  eines  Tieres  bezeichnet, 
durchaus  keine  übermaschinelle  Fähigkeit.  Wir  können  uns  sehr 
gut  Maschinen  vorstellen,  in  denen  die  Auslösung  einer  ge- 
wissen Radstellung  dauernd  den  Gang  der  Maschine  beeinflußt. 
Dieser  Versuch,  die  Psyche,  die  ja  identisch  mit  dem  Empfin- 
dungsleben ist,  objektiv  zu  beweisen,  scheint  mir  daher  noch 
weniger  geglückt. 

Die  Existenz  eines  assoziativen  Gedächtnisses,  das  auch 
bei  der  Entstehung  von  Gewohnheiten  eine  große  Rolle  spielt, 
ist  für  die  Oktopoden  wohl  wahrscheinlich  gemacht,  aber  nicht 
streng    bewiesen.      Überhaupt   fehlt    noch    der  Aufbau    unserer 


Libellen.  235 

Kenntnisse  nach  dieser  Seite  hin  völlig.  Ich  glaube  aber,  daß 
der  Weg  zu  einer  einwandfreien  Anordnung  unserer  Erfah- 
rungen nur  auf  Basis  der  Begriffe  von  Umwelt  und  Gegenwelt 
erfolgen  kann. 

Libellen. 

Die  Kephalopoden  haben  uns  eine  grundlegende  Tatsache 
eröffnet,  indem  sie  uns  lehrten,  daß  es  im  selben  Tier  zwei 
verschiedene  Innenwelten  geben  kann,  eine  zentrale  und  eine 
zerebrale.  Die  zerebrale  Innenw^elt  ist  das,  was  mr  als  Gegen- 
welt zu  bezeichnen  haben,  weil  in  ihr  die  Formen  der  Gegen- 
stände durch  die  Formen  der  Schemata  widergespiegelt  werden. 
Die  Umwelten  sind  den  beiden  Innenwelten  entsprechend  völlig 
verschieden,  obgleich  für  beide  die  gleichen  Rezeptoren  die 
Erregungs quelle  bilden.  Es  zerfällt  also  der  z.  B.  durch  das  Auge 
aufgenommene  Ausschnitt  der  Umgebung  in  zwei  fundamental 
verschiedene  Teile.  Wird  dieser  Umstand  nicht  beachtet,  so 
verwickelt  man  sich  in  unvermeidhche  Widersprüche,  die  bei 
der  Betrachtung   der   Insekten    besonders   empfindlich   werden. 

Durch  Rädl  sind  wir  vor  allem  auf  die  zentrale  Umwelt 
der  Insekten  aufmerksam  geworden  und  er  hat  eindringHch  die 
Umw^elt  der  Insekten  als  ein  Lichtfeld  beschrieben,  dem  gegen- 
über sich  das  fliegende  Insekt  in  einer  Art  Lichtgleichung 
befindet.  Dieses  Lichtfeld  wirkt,  wie  Parker  zeigen  konnte, 
nur  durch  die  Augen  auf  das  Tier  ein  und  die  Lichtgleichung 
wird  nur  auf  reflektorischem  Wege  aufrecht  erhalten. 

Wir  verdanken  den  Versuchen  Bohns,  die  er  mit  seinem 
,,Revelateur"  an  verschiedenen  Mollusken  angestellt  hat,  die 
erste  Anschauung  über  das  Lichtfeld.  Der  Revelateur  ist  ein 
Apparat,  der  aus  Schirmen  verschiedener  Form  und  Größe 
besteht,  die  mit  weißem  und  schwarzem  Papier  beklebt  sind. 
Mit  Hilfe  dieser  Schirme  ist  es  Bohn  gelungen,  um  verschie- 
dene kleinere  Schnecken  ein  Lichtfeld  zu  schaffen,  das  der  Ex- 
perimentator behebig  verändern  kann  und  das  ihm  die  Möghch- 
keit  gibt,  das  Versuchstier  behebig  hin-  und  herzuleiten.  Leider 
ist  es  viel  schwieriger,  einen  Revelateur  für  ein  fliegendes  Objekt 
herzustellen.  Doch  läßt  sich  schon  jetzt  sagen,  daß  man  mit 
einem  solchen  Apparat  erstaunhche  Wirkungen  auf  die  Insekten 


236  Libellen. 

erzielen  würde.  Parker  und  Cole  haben  nämlich  an  Schmetter- 
lingen nachweisen  können,  daß  die  Intensität  des  Lichtes  gar 
nicht  in  Frage  kommt  gegenüber  der  Größe  der  beleuch- 
teten Flächen. 

Es  kommen  für  die  Orientierung  der  Insekten  in  ihrer 
Umwelt  weder  die  Intensität  des  Lichtes,  noch  die  Formen  der 
Umrisse,  noch  die  Farbe  der  Gegenstände  in  Betracht,  sondern 
lediglich  die  Größe  und  die  Verteilung  der  Dunkelheiten  auf 
einen  hellen  Grund.  Die  einfachste  Art  dieser  Orientierung 
hat  Parker  beim  Trauermantel  gefunden,  der  sich  beim  Hin- 
setzen immer  so  orientiert,  daß  seine  beiden  Augen  gleich  stark 
von  der  Sonne  beleuchtet  sind.  Fällt  aber  ein  Schatten  auf 
ihn,  so  verläßt  er  seinen  Platz  und  fliegt  nach  der  größten 
beleuchteten  Fläche  hin,  niemals  aber  nach  der  Sonne.  Diese 
Beobachtungen  sind  von  Parker  in  allen  Einzelheiten  durch 
Experimente  nachgeprüft  und  bestätigt  worden. 

Radi  konnte  zeigen,  daß  sich  spielende  Müc kenschwärme 
auf  den  Hut  des  Beobachters  einstellen  und  ihm  folgen.  Sehr 
lehrreich  ist  auch  der  von  ihm  zitierte  Versuch  Foreis,  welcher 
Ameisen  auf  eine  hell  beleuchtete  Landstraße  warf,  an  der 
sich  keine  größeren  Gegenstände  befanden  und  die  nun  dem 
Experimentator  folgten,  weil  sie  sich  auf  das  dunkle  Feld  ein- 
gestellt hatten,  durch  das  sich  sein  Körper  vom  allgemeinen 
Lichtfeld  abhob.  Sobald  sie  sich  den  ersten  Bäumen  des  Wald- 
randes näherten,  verheßen  die  Ameisen  den  Menschen  und 
folgten  diesen  neuen  Orientier ungs flächen. 

In  einer  schönen  Arbeit  hat  Cole  nachgewiesen,  daß  mit 
geringen  Ausnahmen  alle  Tiere,  die  das  Licht  fliehen  (negativer 
Heliotropismus),  durch  die  Intensität  des  Lichtes  geleitet  werden, 
während  die  Tiere,  die  das  Licht  suchen  (positiver  Hehotropismus), 
durch  die  Größe  der  beleuchteten  Felder  ihrer  Umgebung  ge- 
lenkt sind.  Das  Licht  suchen  und  das  Licht  fliehen  sind,  wie 
zuerst  Loeb  gefunden,  keine  unveränderlichen  Eigenschaften 
der  Tiere.  Sie  können  durch  alle  möglichen  Änderungen  der 
Umgebung  umschlagen,  je  nach  der  Lebensweise  des  Tieres. 
So  werden  viele  Tiere,  die  Lichtsucher  sind,  Uchtflüchtig  im 
Moment,  da  die  Temperaturerniedrigung  sie  zum  Winterschlaf 
einlädt,  für  den  sie  dann  eine  dunkle  Höhle  aufsuchen.  Es 
wäre   nun   äußerst   dankenswert,    wenn    der  Nachweis  versucht 


Libellen.  237 

würde,  ob  auch  beim  gleichen  Tier  während  der  Periode  des 
Lichtsuchens  immer  nur  die  Extensität,  in  der  Periode  des 
Lichtfliehens  aber  die  Intensität  des  Lichtes  die  führende  Rolle 
übernimmt. 

Die  Forscher  versuchen  in  anerkennenswerter  Weise  die 
Wirkung  des  Lichtes  auf  die  Organismen  in  ihre  einzelnen  phy- 
siologischen Faktoren  zu  zerlegen.  So  betrachten  sie  das  Licht 
erstens  als  bewegungsauslösend,  zweitens  als  die  Körperstellung 
richtend,  drittens  als  die  Bewegungsrichtung  bestimmend. 

Rädl  hat  gefunden,  daß  bei  einigen  Süßwasserkrebsen  der 
Lichteinfall  ihre  Lage  beim  Schwimmen  völlig  ändert,  denn  die 
Tiere  stellen  sich  immer  so  ein,  daß  das  Auge  nach  der  Licht- 
quelle gerichtet  ist,  einerlei,  wo  sich  dieselbe  befindet.  Kommt 
das  Licht  von  unten,  so  liegen  sie  umgekehrt  im  Wasser.  Dies 
ist  bei  den  Insekten  natürhch  nicht  der  Fall.  Ihre  Stellung 
beim  FHegen  ist  durch  die  Schwere  des  Körpers  und  den  Ansatz 
der  Flügel  gegeben.  Dafür  ist  aber  ihre  Flugrichtung,  ihre 
Steigen,  Fallen  und  Stehenbleiben  im  Flug  abhängig  vom 
Lichtfeld,  der  Anstoß  zum  Flug  mag  gewesen  sein,  welcher 
€r  wolle. 

Unerklärliche  Versuche  hat  bekannthch  Bethe  angestellt, 
als  er  die  Fähigkeit  der  Bienen,  ihr  Heim  wiederzufinden,  unter- 
suchte. Die  Bienen  finden  stets  mit  der  größten  Sicherheit 
die  Stelle  im  Räume  wieder,  von  der  sie  ausgeflogen  sind,  nicht 
aber  ihren  Stock,  wenn  dieser  unterdessen  ein  wenig  von  der 
Stelle  gerückt  wurde.  Dadurch  wird  bewiesen,  daß  die  Bienen 
nicht  durch  das  Bild  ihres  Stockes  geleitet  werden,  sondern  von 
einem  anderen  Agens,  das  bisher  unerklärhch  w^ar.  Nun  scheint 
die  Lehre  Radis  von  dem  Lichtfeld  und  der  Lichtgleichung 
dieses  offenbar  sehr  komplizierte  Problem  seiner  Lösung  einiger- 
maßen näher  zu  führen.  Radi  schreibt:  ,,Eigentümhch  ist 
aber,  daß  die  Insekten  nicht  nur  nach  Hause  fliegen,  sondern 
auch  nach  Orten,  auf  welchen  sie  wenige  Momente  ausge- 
ruht haben. 

Man  kann  aich  davon  oft  an  einem  Schmetterling,  einer 
Libelle,  oder  auch  an  anderen  Insekten  überzeugen,  welche  an 
behebigen  Orten  sitzen:  Wenn  man  sie  nicht  zu  hurtig  auf- 
scheucht, kehren  sie  nach  einigem  Herumflattern  zu  der  Stelle, 
welche    sie    eben    verlassen    haben,    zurück.      Ich    habe    (1901) 


238  Libellen. 

mehrere  solche  Erscheinungen  durch  den  Satz  ausgedrückt,  daß 
die  Insekten  auf  irgendeine  Art  an  die  Stelle  gebunden  sind, 
welche  sie  willkürlich  verlassen  haben  ....  In  diesen  Fällen 
wird  man  gewiß  schon  fühlen,  daß  von  einem  guten  Gedächt- 
nis oder  etwas  Ähnlichem  zu  sprechen  gar  nichts  erklärt;  es 
ist  aber  sehr  wahrscheinlich,  daß  diese  Erscheinungen  nur  ein 
spezieller  Fall  von  der  Heimkehrfähigkeit  der  Tiere  überhaupt 
sind." 

Am  besten  wird  man  durch  die  Worte  Radis,  mit  denen 
er  sein  grundlegendes  Buch  abschließt,  zum  Verständnis  der 
Umwelt  der  Insekten  gelangen,  soweit  diese  auf  das  zentrale 
Leben  einwirkt:  ,,In  der  Lehre  von  den  Tropismen  ist  uns  eine 
neue  experimentelle  Basis  für  die  Orientierung  der  Erscheinungen 
im  Organismenreiche  geboten.  Wir  finden,  daß  es  bei  den 
Tieren  keine  ,, Orientierung  überhaupt"  gibt,  sondern  daß  es 
äußere  Umstände  sind,  welche  das  Tier  orientieren,  besonders 
das  Licht,  die  Schwerkraft,  der  Oberflächendruck  der  Körper 
und  vielleicht  noch  anderes.  Wir  sehen,  daß  die  Orientierung 
eines  Tieres  darin  besteht,  daß  dasselbe  in  bezug  auf  irgend- 
eine äußere  Kraft  im  Gleichgewicht  steht,  wobei  dieses  Gleich- 
gewicht sich  nicht  nur  auf  die  Lage  des  Organismus,  sondern 
auch  auf  seine  physiologischen  Funktionen  bezieht;  wir  haben 
gesehen,  daß,  wenn  die  Richtung  der  wirkenden  Kraft  geändert 
wird,  auch  der  Organismus  seine  Orientierung  ändert  und  den 
neuen  Verhältnissen  anpaßt. 

Auf  Grund  dieser  Untersuchungen  können  wir  behaupten, 
daß  der  Raum  für  die  Organismen  ein  System  richtender  Kräfte 
ist,  von  denen  eine  jede  den  Organismus  in  ein  Gleichgewicht 
gegen  sich  stellt.  Dieses  Gleichgewicht  ist  die  Orientierung  des 
Tieres.  Die  Räume  verschiedener  Organismen  sind  nicht  einander 
gleich:  Während  bei  einigen  mehr  ein  Lichtraum  entwickelt 
ist,  ist  bei  anderen  ein  Schwerkraftraum  und  bei  anderen  ein 
Flächenraum  und  wieder  bei  anderen  ein  Druckraum  besser 
ausgebildet;  es  ist  wahrscheinlich,  daß  immer  mehrere  solche 
Räume  bei  demselben  Organismus  vorhanden  sind,  daß  aber 
hier  der  eine,  dort  der  andere  überhand  nimmt."  Rädls  in- 
teressante Ausführungen  würden  verständlicher  sein,  wenn  er 
an  Stelle  des  Wortes  ,,Raum"  das  Wort  ,, Um  weit"  ge- 
wählt hätte. 


Libellen.  239 

Auch  die  bereits  von  Darwin  aufgeworfene  Frage,  warum 
die  Motten  wohl  in  die  Kerze,  aber  nicht  in  den  Mond  fliegen, 
scheint  sich  durch  Anwendung  der  Lichtgleichung  lösen  zu 
lassen.  Der  Mond  bescheint  große  Flächen,  die  wegen  ihrer 
Extensität  in  der  Lichtgleichung  stärker  wirken,  als  sein  inten- 
sives Licht.  Die  Kerze  vermag  keine  so  hellen  Flächen  hervor- 
zurufen, die  ihr  selbst  Konkurrenz  machen  könnten,  daher  bleibt 
sie  in  der  Lichtgleichung  als  einziger  wirksamer  Faktor  übrig 
und  die  lichtsuchenden  Tiere  stürzen  in  ihr  Verderben. 

Die  Wirkung  heller  und  dunkler  Flächen  auf  die  Retina 
beider  Augen  der  Insekten  ruft,  so  scheint  es,  einen  Wettstreit 
der  beiden  Augen,  vielleicht  auch  verschiedener  Partien  im 
gleichen  Auge  hervor,  der  durch  reflektorische  Wirkung  auf  die 
Hals-  und  Flügelmuskeln  den  Augen  immer  neue  Stellungen  gibt, 
bis  sich  ein  Kompromiß  ergeben  hat,  d.  h.  bis  ein  labiles  Gleich- 
gewicht gefunden  ist,  bei  dem  die  von  allen  Teilen  der  Retina 
ausgehenden  Wirkungen  sich  entweder  gegenseitig  aufheben  — 
dann  bleibt  das  Insekt  in  der  Luft  stehen  —  oder  sich  zu 
einer  gemeinsamen  Wirkung  vereinigen  —  dann  fliegt  das  Insekt 
in  einer  bestimmten  Richtung  davon.  Ob  es  einfach  die  Aus- 
dehnung der  hellen  Flecke  auf  der  Retina  ist,  von  denen  jeder 
eine  zum  Reizort  hinzielende  Bewegung  zu  veranlassen  sucht, 
und  dabei  in  Konflikt  gerät  mit  jenen  Bewegungen,  die  von  den 
anderen  Flecken  veranlaßt  werden  —  und  ob  es  dabei  bloß 
auf  die  Zahl  der  beUchteten  Retinaelemente  ankommt,  um  den 
Ausschlag  im  Wettstreit  zu  geben  —  das  läßt  sich  wohl  ver- 
muten, aber  nicht  beweisen. 

Wenn  in  einem  Insektenauge  aUe  beHchteten  Retinakegel 
reflektorisch  auf  die  Halsmuskeln  wirken  und  diese  von  allen 
Seiten  schwächere  und  stärkere  Erregungen  erhalten,  die  sie 
nur  insoweit  mit  Verkürzung  beantworten  können,  als  es  ihre 
gleichfalls  erregten  Antagonisten  gestatten,  so  muß  der  Kopf 
des  Tieres  dadurch  eine  bestimmte  Stellung  im  Raum  ein- 
nehmen, der  sich  auch  der  übrige  Körper  anzupassen  hat.  Es 
versteht  sich  von  selbst,  daß  jede  passive  Drehung  des  Kopfes 
die  Lichtgleichung  stört  und  daher  durch  eine  entgegengesetzte 
Bewegung  der  Halsmuskeln  wieder  gut  gemacht  werden  muß. 
Solche  Bewegungen  nennt  man  kompensatorische. 

Die  Einstellung  des  Auges  nach  der  Lichtgleichung  macht 


240  Libellen. 

die  Tiere  zu  Sklaven  ihrer  Umgebung.  Es  werden  ihnen  durch 
die  Lichtgleichung  nur  ganz  wenige  Punkte  in  der  Natur  als 
Aufenthaltsorte  angewiesen.  So  sieht  man  verschiedene  Fliegen 
und  Mücken  auf  enge  Bezirke  zusammengedrängt  unter  Bäumen 
in  einem  schmalen  Sonnenstrahl  schweben. 

Die  Libellen  scheinen  unabhängiger  von  der  Lichtgleichung 
zu  sein.  Zwar  habe  ich  eine  Aeschna  beobachten  können,  die 
einen  ganz  bestimmten  Wechsel  besaß  und  unermüdlich  über 
eine  halbe  Stunde  die  gleichen  Büsche  in  der  gleichen  Richtung, 
in  der  gleichen  Höhe  umflog.  Aber  für  die  stillsitzenden,  auf 
Raub  lauernden  Bachlibellen  dürfte  der  Nachweis,  daß  sie  ihre 
Stellung  lediglich  der  Lichtgleichung  verdanken,  schwer  zu 
führen  sein.  Trotzdem  führt  ihr  Kopf  ausgesprochene  Kom- 
pensationsbewegungen aus.  Jede  passive  Verschiebung  des 
Körpers  nach  oben  oder  unten,  nach  rechts  oder  links  wird 
durch  eine  entgegengesetzte  Bewegung  der  Halsmuskeln  aus- 
geglichen. Es  ist  nicht  notwendig,  diese  Erscheinung  auf  die 
Lichtgleichung  zurückzuführen,  weil  eine  jede  Erregung,  die 
beim  Wandern  eines  Retinaeindrucks  über  die  Nervenendigungen 
hinweggleitet,  eine  elektrische  Wellenbewegung  erzeugt,  die  an 
der  zentralen  Endigung  der  Optikusfasern  ebenso  zum  Vorschein 
kommen  muß,  wie  an  der  retinalen.  Diese  Wellenbewegung, 
die  in  einer  durch  den  äußeren  Vorgang  gegebenen  Richtung 
über  das  zentrale  Ende  des  Sehnervenfaserbündels  dahingleitet, 
ist  durchaus  fähig,  in  bestimmten  zur  Bewegungsrichtung 
gleichgelagerten  Fasern  des  zentralen  Netzes  eine  Erregung 
durch  Induktion  hervorzurufen,  die  dann  die  zugehörigen 
Muskeln  in  Tätigkeit  versetzt,  während  alle  anderen  Teile  des 
Nervennetzes  unberührt  bleiben.  Auf  diese  Weise  kann  eine 
kompensatorische  Bewegung  auch  ohne  Beziehung  zur  Licht- 
gleichung zustande  kommen.  Die  biologische  Bedeutung  der 
kompensatorischen  Bewegungen  ist  sehr  groß,  denn  sie  ver- 
schaffen dem  Tiere,  selbst  wenn  es  auf  einem  schwankenden 
Blatte  rastet,  einen  ruhigen  Hintergrund,  von  dem  sich  die 
bewegten  Beutetiere  mit  Sicherheit  abheben. 

Wie  die  Gesamtheit  der  auf  der  Retina  abgebildeten  Um- 
risse der  Gegenstände,  wenn  sie  in  Bewegung  gerät,  einen  Reflex 
auslösen  kann,  so  kann  dies  auch  ein  einzelner  Umriß  voll- 
bringen.    Hier  erst  beginnt   im  strengen   Sinne  die  von   Nuel 


Libellen.  241 

SO  bezeichnete  Motorezeption,  d.  h.  die  Wirkung  der  Bewegung 
eines  Gegenstandes  aus  der  Umgebung  auf  das  Auge  des  Tieres. 
Die  Bewegung  sämtlicher  Umrisse  auf  der  Retina  tritt  nur  ein, 
wenn  die  Libelle  selbst  bewegt  ist,  die  Bewegung  eines  Um- 
risses allein  wird  stets  durch  einen  vom  Tier  unabhängigen 
Vorgang  hervorgerufen.  Wenn  trotzdem  die  Bewegung  eines 
einzelnen  Umrisses  mit  einer  kompensatorischen  Bewegung  be- 
antwortet wird,  so  hat  das  den  Vorteil,  daß  die  Libelle  eine 
vorbeifliegende  Beute  auf  einer  bestimmten  Stelle  der  Retina 
zu  fixieren  vermag. 

Meist  aber  tritt  ein  anderer  Reflex  ein,  die  Libelle  stürzt 
sich  auf  den  bewegten  Gegenstand  und  ergreift  ihn,  wenn  er 
eine  Beute  ist.  Ich  habe  häufig  beobachten  können,  daß 
Aeschna  sich  auf  ein  langsam  herabfallendes  kleines  Blatt 
stürzte.  Kaum  gelangte  sie  aber  in  die  Nähe  des  Blattes,  so 
bog  sie  ab  ohne  es  zu  berühren.  Es  ist  mir  auch  gelungen, 
im  Einklang  mit  den  Angaben  von  Exner,  Aeschna  durch 
das  Fliegenlassen  von  Papierschnitzel  zu  täuschen,  was  bei  der 
gewöhnlichen  See  Jungfer  Caleopleryx  keinen  Erfolg  hatte. 

Die  Beobachtungen  an  Aeschna  lehren  unmittelbar,  daß 
hier  zwei  Reflexe  vorliegen :  ein  Reflex ,  der  durch  die  Be- 
wegung eines  Umrisses  auf  der  Retina  hervorgerufen  wird, 
und  ein  zweiter,  der  durch  die  Form  des  Umrisses  erzeugt 
wird.  Den  ersten  nennen  wir  Moto-,  den  zweiten  Ikono- 
reflex.  Beim  normalen  Beutefang  müssen  die  beiden  Reflexe, 
die  beim  Papierschnitzelversuch  so  deutlich  auseinander  fallen, 
sich  gegenseitig  ergänzen  und  eine  einheitliche  Handlung  her- 
vorrufen. Der  Motoreflex  erzeugt  das  Hinstürzen,  der  Ikono- 
reflex   das  Zufassen.     Beide   zusammen   bilden   den   Beutefang. 

Ich  nehme  an,  daß  der  Ikonoreflex  ähnlich  dem  Moto- 
reflex zustande  kommt.  Jeder  Umriß,  der  auf  der  Retina 
entworfen  ist,  erzeugt  in  allen  jenen  Nervenendigungen,  die  er 
mit  seiner  Fläche  bedeckt,  eine  Nervenerregung,  die  sich  bis  an 
das  zentrale  Ende  des  Optikusbündels  fortsetzt.  Die  erregte 
Fläche  auf  der  zentralen  Ebene  des  Bündels  vermag  dank 
ihrer  elektrischen  Eigenschaften  eine  Induktionswirkung  auf 
das  zentrale  Netz  auszuüben,  vorausgesetzt,  daß  sich  daselbst 
eine  Fasern anordnung  befindet,  die  der  Form  der  erregten 
Fläche    entspricht.      Diesen    den    Umrissen    der    Gegenstands- 

V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere.  16 


242  Libellen. 

bilder  auf  der  Retina  entsprechend  geformten  zentralen  Bahnen- 
komplex nenne  ich  ein  Schema  und  behaupte,  daß  gerade 
so  viel  Gegenstandsarten  der  Umgebung  vom  Tier  unter- 
schieden werden,  als  Schemata  in  seiner  Gegenwelt  vorhan- 
den sind. 

Es  ist  hier  der  geeignete  Ort,  eine  kurze  Übersicht  über 
die  Wirkung  des  Lichtes  und  die  Gegenwirkung  der  Organis- 
men zu  geben.  Bei  den  Tieren,  die  keine  optischen  Apparate 
besitzen,  kann  nur  die  Intensität  des  Lichtes  wirksam  sein. 
Auf  unseren  Körper  z.  B.  wirkt  nur  die  Intensität  des  Sonnen- 
hchts,  das  eine  Seite  beleuchtet,  während  die  andere  im  Schatten 
liegt.  Ob  und  welche  beleuchteten  Flächen  oder  Gegenstände 
sich  in  unserer  Umgebung  befinden,  kann  unser  Körper  nicht 
wahrnehmen,  es  sei  denn,  daß  ein  Schatten  auf  ihn  fiele. 
Dementsprechend  antwortet  Centrostephanus  nur  auf  die  Be- 
leuchtung irgendeiner  Partie  seines  Körpers  und  auf  Schatten. 
Jede  sonstige  Lichtwirkung  geht  an  ihm  spurlos  vorbei. 

Erst  der  Besitz  eines  optischen  Apparates,  der  ein  Bild  zu 
entwerfen  vermag,  befähigt  das  Tier,  auf  die  beleuchteten 
Flächen  der  Umgebung  zu  reagieren  und  in  eine  Lichtgleichung 
einzutreten.  Der  Besitz  eines  optischen  Apparates  ist  aber 
noch  lange  kein  Beweis  dafür,  daß  die  Tiere  bereits  Bewe- 
gungen oder  gar  Umrisse  in  Erregung  zu  verwandeln  ver- 
mögen. Diese  Einsicht  erleichtert  uns  auch  das  Verständnis 
dafür,  daß  z.  B.  die  Pilgermuschel  Hunderte  von  ausgebildeten 
Augen  besitzt,  obgleich  sie  bei  ihrem  schwerfälligen  Schwimmen 
gar  nicht  fähig  ist,  auf  ein  Ziel  loszusteuern,  und  in  ihrem 
allereinfachsten  Nervenetz  sicher  keine  Gegen  weit  beherbergt. 
Es  ist  aber  durchaus  möglich,  daß  (nachdem  das  Sonnenlicht 
sie  zum  Schwimmen  angeregt  hat)  ein  jedes  unter  ihr  aus- 
gebreitete Lichtfeld  je  nach  seiner  HeUigkeit  auf  die  Dauer  der 
Schwimmbewegungen  einwirkt  und  sie  derart  bis  zu  einer  Stelle 
gelockt  wird,  welche  ihr  günstige  Lebensbedingungen  bietet. 

Sehr  bald  zeigen  sich,  wenn  wir  uns  den  Krebsen  zuwenden, 
die  ersten  Wirkungen  der  Farben  und  der  einfachsten  Formen. 
Damit  ist  dann  der  Weg  gebahnt,  auf  dem  durch  Ausgestal- 
tung der  Gegenwelt  eine  immer  eingehendere  Erforschung  der 
Umgebung  möglich  wird,  indem  sich  eine  immer  reichere  Um- 
welt   ausbildet.      Wir    haben    gesehen,    in    welch    interessanter 


Libellen.  243 

Weise  die  Wirkung  der  eigenen  und  der  fremden  Bewegung 
mit  der  Bildmrkung  zusammenklingen,  um  bei  den  Libellen 
die  komplizierte  Handlung  des  Beutefangs  zu  ermöglichen. 

Man  kann  die  Entwicklung  der  optischen  Umwelt  bei  den 
Tieren  sich  am  anschaulichsten  zum  Bewußtsein  führen,  w^enn 
man  einem  Maler  zusieht,  der  das  Bild  einer  Landschaft  ent- 
wirft. Erst  ent^\irft  er  die  großen  Flächen,  die  dem  Bild  eine 
Art  Lichtgleichung  geben.  Wenn  er  der  Flächen  Wirkung  ganz 
sicher  ist,  setzt  er  immer  neue  Farbentöne  immer  genauere 
L^mrisse  ein,  bis  schließlich  farbige,  beleuchtete  Gegenstände 
vor  uns  entstehen. 

Bei  den  Libellen  nimmt  die  Gegenstandswelt  bereits  einen 
breiten  Raum  ein,  und  weil  das  reichere  Hilfsmittel  immer 
das  geringere  verdrängen  wird,  beginnt  bei  ihnen  die  Wirkung 
des  Lichtfeldes  bereits  abzublassen.  Es  ist  zweifelhaft,  ob  die 
Libellen  bloß  eine  zentrale  Umwelt  besitzen,  die  aus  Licht- 
feldern und  Flecken  besteht,  oder  ob  sie  in  einer  zerebralen 
Umwelt  lebt,  in  der  sich  bereits  Rasen,  Busch  und  Wasser  be- 
finden. Freihch  muß  man  sich  bei  Anwendung  dieser  Worte 
bloß  an  das  ungefähre  Aussehen  dieser  Gegenstände  halten 
und  durchaus  vergessen,  was  wir  sonst  von  diesen  Dingen 
wissen. 

Da  wir  leider  keine  Aussicht  haben,  die  Schemata  der 
Gegenwelt  in  den  zerebralen  Hirnpartien  kennen  zu  lernen, 
sind  wir  darauf  angewiesen,  durch  Vereinfachung  der  Gegen- 
stände, auf  welche  die  Insekten  mit  Sicherheit  reagieren,  die 
notwendigen  Faktoren  sowohl  der  Form,  wie  der  Farbe,  me 
der  Bewegung  experimentell  festzustellen.  Wie  weit  darf  ein 
bestimmtes  Beutetier  vereinfacht  werden,  damit  es  von  einer 
Libelle  noch  mit  Sicherheit  ergriffen  wird?  Ich  glaube,  hier 
eröffnen  sich  hochinteressante  Versuchsreihen.  Man  braucht 
nur  an  die  künsthchen  Fliegen  zu  denken,  die  aus  ein  paar 
Federn  hergestellt  werden  und  dennoch  den  Anglern  vortreff- 
liche Dienste  leisten.  Diese  von  der  Praxis  gelieferten  Erfah- 
rungen sollte  man  im  Sinne  einer  möglichst  weitgehenden 
Vereinfachung  weiter  ausbilden,  um  auf  diese  Weise  eine  An- 
schauung der  tierischen  Umwelt  zu  erhalten,  von  der  aus  man 
auf  die  Gegenwelt  zurückschließen  kann. 

Das    Gehirn    der  Libellen    ist    seiner    Kleinheit    wegen    zu 

16* 


244  Libellen. 

Reizversuchen  wenig  geeignet,  daher  lassen  sich  die  zerebralen 
Partien  schwer  von  den  zentralen  abgrenzen.  Doch  gibt  die 
Reizung  des  Gehirnes  immerhin  einige  interessante  Resultate. 
Bemerkenswert  ist  es,  daß  das  Schlagen  mit  den  Flügeln,  wenn 
es  durch  Hirnreizung  ausgelöst  wird,  die  Reizung  um  ein  Be- 
trächtliches überdauert,  im  Gegensatz  zur  Reizung  der  unter 
den  Flügeln  gelegenen  Bauchstrangganglien,  die  den  Flügel- 
schlag nur  so  lange  hervorruft,  als  die  Reizung  dauert.  Eine 
geköpfte  Libelle  läßt  auf  Druckreizung  ihres  letzten  iVbdominal- 
gliedes  die  Unterlage  los,  an  der  sie  sich  festgeklammert  hat, 
und  beginnt  mit  den  Flügeln  zu  schlagen.  Der  Flug  endigt 
aber  sofort  nach  Aufhören  des  Druckreizes.  Eine  normale 
Libelle  läßt  auf  den  gleichen  Reiz  gleichfalls  die  Unterlage 
fahren  und  fliegt  davon,  sie  hört  aber  mit  dem  Flügelschlag 
erst  auf,  nachdem  sie  sich  wieder  gesetzt  hat.  Das  beweist, 
daß  in  den  Ganglien  des  Bauchstranges  der  gesamte  nervöse 
Apparat,  der  die  Flügelbewegungen  beherrscht,  fertig  vorliegt 
und  mit  dem  Apparat  für  die  Entklammerung  fest  verbunden  ist. 
Der  zentrale  Flugapparat  kann  von  jeder  Erregungs welle 
in  Tätigkeit  versetzt  werden,  gleichgültig,  welcher  Rezeptor 
den  Reiz  empfangen  hat.  Das  Gehirn  besitzt  außerdem  ein 
Erregungereservoir,  das  nach  Reizung  des  Auges  dauernd  in 
Tätigkeit  tritt  und  so  lange  den  Flugapparat  mit  Erregungs - 
wellen  versorgt,  bis  es  durch  den  erneuten  Klammerreflex  der 
Füße  still  gestellt  wird.  Wie  diese  Verkoppelung  von  Still- 
stellung der  Flugbewegung  mit  dem  Klammerreflex  zustande 
kommt,  dafür  besitzen  wir  auch  einen  Hinweis.  Es  zeigt 
sich  nämlich,  daß  eine  geköpfte  Libelle  einen  dauernden  Klam- 
merreflex besitzt,  der  nur  während  der  Flugbewegung  ausgC' 
schaltet  wird.  Eine  normale  Libelle  zeigt  den  Klammerreflex 
nur  vorübergehend.  Daraus  geht  hervor,  daß  im  Gehirn  eine 
Bremsvorrichtung  für  den  Klammerreflex  vorhanden  ist.  Eine 
solche  Bremsvorrichtung  stellen  wir  uns  nach  Analogie  mit 
Aplysia  als  ein  Erregungsreservoir  mit  tiefem  Niveau  vor,  das 
dauernd  den  Erregungsüberschuß  der  ihm  unterstellten  Gang- 
lien absaugt.  Es  muß  dieses  Reservoir  mit  tiefem  Niveau, 
das  den  Klammerreflex  aufhebt,  irgendwie  mit  dem  Reservoir 
mit  hohem  Niveau,  das  die  Flugbewegungen  hervorruft,  ver- 
koppelt   sein,   um   das   exakte  Ineinandergreifen  beider  Reflexe 


Libellen.  245 

nach  Beedigung  des  Fluges  zu  gewährleisten;  während  die  Aus- 
schaltung des  Klammerreflexes  beim  Beginn  des  Fluges  eine 
spezielle  Vorrichtung  in  den  Bauchstrangganglien  verlangt. 

Der  Gang  wird  von  einem  der  beiden  Vorderbeine  ein- 
geleitet. Die  Hinterbeine  folgen  dem  wechselnden  Zug  der 
Vorderseite  nach  dem  allgemeinen  Gesetz  der  Erregungsleitung. 
Infolgedessen  braucht  man  für  die  GangUen  der  Hinterbeine 
bloß  ein  nervöses  Netz  anzunehmen,  in  das  besondere  Bahnen 
für  den  Klammerreflex  einmünden.  Die  Vorderbeine  sind  für 
den  normalen  Gang  unerläßlich,  sie  dienen  ferner  zum  Putzen 
des  Kopfes. 

Die  Flugbewegungen  sind  von  Lendenfeld  in  eingehen- 
der Weise  analysiert  worden.  Die  Darstellung  seiner  Resultate 
ist  aber  selbst  mit  seinen  Abbildungen  schwer  verständlich. 
Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß  die  ausgezeichnete  Arbeit 
Lendenfelds  durch  chronophotographische  Bilder  noch  nach- 
träglich illustriert  würde. 

Die  Bewegungen  des  elfgliedrigen  Abdomens  sind  mannig- 
fach und  dienen  verschiedenen  Aufgaben.  Das  Ein-  und  Aus- 
schieben der  Bauchplatten  dient  der  Atmung.  Beim  Fhegen 
ist  das  Abdomen  gerade  weggestreckt  und  dient  als  Balancier- 
stange. Seitliche  Bewegungen  wirken  bei  der  Steuerung  mit 
und  können  durch  Hirnreizung  ausgelöst  werden.  Die  Rolle 
des  Abdomens  bei  der  Begattung  ist  fein  reguhert  und  von 
großer  Präzision.  Die  nervöse  Grundlage  dafür  ist  leider  noch 
völlig  unbekannt. 

Betrachten  wir  die  Libelle  als  ein  Ganzes,  so  fällt  uns 
zunächst  die  große  Mannigfaltigkeit  ihrer  verschiedenen  Glieder 
in  die  Augen.  Nur  die  Seeigel  haben  einen  ähnlichen  Reich- 
tum an  Organen  aufzuweisen.  Alle  Organe  der  Seeigel  sind 
aber  im  Gegensatz  zu  den  Libellen  in  so  großer  Anzahl  vor- 
handen, daß  jede  Erregung,  die  ins  allgemeine  Nervennetz  ein- 
tritt, überall,  wohin  sie  sich  auch  wenden  möge,  alle  Organe 
vorfindet,  die  dann  nach  ihrer  Bauart  verschieden  auf  die  Er- 
regung reagieren.  So  ist  durch  die  räumhche  Anordnung  der 
Reflexpersonen  bereits  der  zeitliche  Ablauf  ihrer  Handlungen 
mit  bestimmt.  Das  gleiche  ist  bei  all  den  Tieren  der  Fall, 
die  aus  lauter  gleichartigen  hintereinander  hegenden  Segmenten 
bestehen.     Auch   hier   braucht   die   Erregung   keine   besonderen 


246  Libellen. 

Wege  einzuschlagen ;  seiner  räumlichen  Anordnung  entsprechend 
antwortet  ein  Segment  nach  dem  anderen,  wenn  der  Erregungs- 
strom  im  zentralen  Netz  an  ihm  entlang  fUeßt.  Eine  gewisse 
Regulierung  des  Erregungsstromes  kann  hierbei  durch  Ein- 
fügung eines  Erregungstales  oder  gewisse  ventilartige  Ein- 
richtungen in  den  Hauptbahnen  herbeigeführt  werden.  Zur 
Errichtung  einer  Zentralstelle,  von  der  jedes  einzelne  Organ 
direkt  abhängig  wäre,  liegt  in  diesen  Fällen  weder  das  Bedürf- 
nis, noch  die  strukturelle  Möglichkeit  vor. 

Anders  sind  die  Verhältnisse,  wenn  zwar  gleichfalls  ver- 
schiedenartige Reflexorgane  vorliegen,  die  aber  nur  in  wenig 
Exemplaren  vorhanden  sind  und  diese,  obgleich  sie  nicht  nach 
Funktionen  gruppiert  sind,  dennoch  gemeinsame  Handlungen 
vollführen  müssen.  In  diesem  Fall  befinden  sich  sowohl  die 
Kephalopoden  wie  die  Libellen.  Die  Kephalopoden  helfen 
sich,  indem  sie  aus  jedem  peripheren  Reflexorgan  je  ein  zum 
Ablauf  des  Reflexes  notwendiges  Zentrum  entfernen  und  aus 
diesen  Zentren  räumlich  verbundene  Gruppen  im  Gehirn  bilden. 
Diese  Gruppen  von  Zentren  werden  von  den  Erregungen,  die 
ihnen  aus  den  Zerebralganglien  zufließen,  gemeinsam  getroffen 
und  erzeugen  in  ihren  Organen  eine  gemeinsame  Handlung. 
Auf  diese  Weise  sorgt  wiederum  die  räumhche  Anordnung  der 
Struktur  für  den  zeitlichen  Ablauf  der  Handlung. 

Bei  den  Libellen  ist  ein  anderer  Weg  eingeschlagen  worden. 
Die  Reflexorgane  bleiben  in  der  Peripherie  ungeteilt  bestehen. 
Skelett,  Muskeln,  Nerven  und  Zentren  verharren  in  ihrem  Zu- 
sammenhang, kleinen,  durchgebildeten  Apparaten  ähnlich,  die 
bloß  eines  Anstoßes  bedürfen,  um  tadellos  in  Gang  zu  kommen. 
Aber  der  Anstoß  geht  nicht  mehr  direkt  von  den  rezeptorischen 
Zentralteilen  aus,  sondern  von  besonderen  Apparaten,  welche 
die  Fähigkeit  haben,  die  Erregungsdauer  zu  verlängern  oder 
zu  verkürzen.  Diese  besonderen  zentralen  Reservoire  sind 
wiederum  räumUch  miteinander  verbunden  und  so  wird  auch 
hier  schheßhch  die  räumliche  Anordnung  der  Struktur  maß- 
gebend für  den  zeitlichen  Ablauf  der  Handlung. 

Es  herrschen  also  durchgehend  rein  maschinelle  Struktur- 
verhältnisse vor,  wie  bei  einer  Drehorgel  der  zeitliche  Ablauf 
des  Musikstückes  durch  die  räumliche  Anordnung  der  Stifte 
an  der  Walze  bestimmt  ist. 


Libellen.  247 

Die  Libellen  gleichen  in  der  Dezentralisation  ihrer  Reflex- 
organe den  niederen  Wirbellosen  mehr  als  den  Kephalopoden. 
Auch  bei  ihnen  sind  die  Repräsentantengruppen,  mögen  sie  in  sich 
noch  so  kompHziert  sein,  unmittelbar  an  das  allgemeine  Nerven- 
netz angeschlossen.  Aber  durch  die  Einfügung  der  Gehirn- 
reservoire, welche  die  Dauer  des  Erregungsablaufes  beherrschen, 
gewinnen  sie  eine  Unabhängigkeit  von  ihrer  Umgebung,  die 
die  niederen  Tiere  nicht  besitzen.  Bei  einem  Seeigel  oder 
Schlangenstern  bestimmen  die  Intensität  des  Reizes  und  die 
äußeren  mechanischen  Hindernisse  die  Dauer  des  Erregungs- 
ablaufes im  Inneren.  Bei  den  Libellen  ist  die  Dauer  des  Er- 
regungsablaufes einem  inneren  Faktor  unterstellt.  Auch  der 
Sipunkulus  ist  in  seinen  Bewegungen  von  der  Umgebung  unab- 
hängig, denn  er  besitzt  Reservoire  der  statischen  Erregung,  die 
sein  Nervennetz  anhaltend  mit  Erregung  zu  speisen  vermögen, 
genau  wie  bei  der  Libelle. 

Bei  der  Libelle  aber  unterstehen  die  Erregungsreservoire 
ihrerseits  den  rezeptorischen  Zentren  der  Gegenwelt.  Durch 
diese  beiden  Faktoren  gewinnt  die  Libelle  erstens  eine  Unab- 
hängigkeit von  der  Stärke  des  jeweiligen  Reizes,  und  zweitens 
eine  neue  Abhängigkeit  vom  Zustand  ihrer  Umgebung,  welche 
durch  das  Auge  auf  die  zentralen  wie  zerebralen  Teile  des  Ge- 
hirnes einzuwirken  vermag.  So  ist  die  Libelle  trotz  ihrer  Unab- 
hängigkeit doch  wiederum  in  ihre  Umwelt  eingehängt,  die  sich 
dank  ihren  zerebralen  Fähigkeiten  sehr  erweitert  und  verfeinert 
hat.  Gewiß  ist  sie  im  Verlauf  ihres  Lebens  vöUig  von  dieser 
Umwelt  abhängig.  Aber  ihre  Umwelt  ist  wiederum  bis  in  alle 
Einzelheiten  ihr  eigenes  Werk.  So  gleicht  ihr  Dasein  durch- 
aus nicht  einer  Knechtschaft,  welche  ihr  der  sogenannte  Kampf 
ums  Dasein  aufzwingt,  sondern  vielmehr  dem  freien  Wohnen 
im  eigenen  Haus. 


248  ^^^  Beobachter. 

Der  Beobachter. 

Wir  nahen  uns  dem  Ende.  Die  vorgeführten  Bilder  ein- 
zelner Tierarten  geben  bereits  die  großen  Richtungslinien  an, 
welche  zu  den  letzten  Folgerungen  führen,  deren  die  Biologie 
überhaupt  fähig  ist. 

Werfen  wir  erst  einen  Blick  zurück  auf  die  Umwelten 
der  verschiedenen  Tiere,  die  wir  betrachtet  haben,  so  erkennen 
wir,  daß  überall  unsere  eigene  Umgebung  die  gemeinsame  Basis 
für  alle  Betrachtungen  abgegeben  hat.  Die  Welt,  die  uns  um- 
gibt, ist  die  objektive  Wirklichkeit,  mit  der  wir  es  allein  zu 
tun  haben,  wenn  wir  objektive  Naturforschung  treiben.  Sie 
besteht  aus  zahlreichen  farbigen  und  vielfach  gegliederten  Gegen- 
ständen und  ist  voller  Töne  und  Duft.  In  der  gleichen  Welt 
leben  scheinbar  auch  alle  Tiere.  Jedoch  besitzt  keines  von 
ihnen  auch  nur  annähernd  eine  so  reiche  Wechselwirkung  mit 
all  den  Gegenständen,  mit  denen  unsere  Rezeptionsorgane  dauernd 
in  Berührung  kommen. 

Jedes  Tier  besitzt  seine  eigene  Umwelt,  die  immer  größere 
Verschiedenheiten  mit  der  unseren  aufweist,  je  weiter  es  sich  in 
seiner  Organisation  von  uns  entfernt.  Wir  haben  gesehen,  daß 
die  höheren  Insekten  in  einer  Welt  leben,  die  der  unsrigen 
•  noch  einigermaßen  ähnhch  ist:  Büsche,  Bäume  und  Wasser- 
flächen treten  auch  in  ihrer  Welt  als  wirksame  Faktoren  auf. 
Aber  schon  bei  den  niederen  Insekten  und  Krebsen  ändert  sich 
die  Umwelt  bedeutend:  die  Umrisse  und  Farben  des  Hinter- 
grundes verschwinden  und  nur  die  Größe  der  beleuchteten 
Flächen  dient  ihnen  zur  Führung.  Auch  die  Zahl  der  Umrisse, 
mit  der  die  nächsten  Gegenstände  unterschieden  werden,  die 
noch  bei  dei  den  Kephalopoden  bedeutend  ist,  nimmt  immer 
mehr  ab.  Manche  Krebse  scheinen  nur  noch  von  Farben  und 
nicht  mehr  von  Formen  umgeben  su  zein. 

Je  weiter  man  die  Tierreihe  hinabgeht,  desto  mehr  ver- 
schwindet die  Welt  des  Auges  mit  ihren  farbigen  und  geformten 
Gegenständen  —  immer  mehr  verwandelt  sich  die  Umwelt  in 
eine  Welt  von  Gerüchen  und  mechanischen  Widerständen,  die 
je  nach  dem  Bauplan  anziehende  oder  abstoßende  Wirkungen 
ausüben,  bis  schließlich  in  der  Umwelt  der  Tunikaten  nur  noch 
einige  schädliche  Reize  vorhanden  sind.     Bei  Rhizostoma  wird 


Der  Beobachter.  249 

die  ganze  Umwelt  nur  von  den  eigenen  reizerzeugenden  Be- 
wegungen ausgefüllt.  Während  noch  alle  Würmer  und  Seeigel 
eine  Umwelt  besitzen,  die  auf  ihre  ganze  reizbare  Oberfläche 
einwirkt  und  die  daher  gleichzeitig  nebeneinander  angreifende 
Reize  empfangen  können,  sind  die  Tunikaten  auf  ein  einziges 
Einfallstor  angewiesen,  durch  das  die  Reize  auf  sie  einwirken. 
Ihre  Umwelt  besteht  daher  bloß  aus  einem  Nacheinander  von 
schädhchen  Reizen.  AUes  RäumHche  ist  aus  ihrer  Umwelt  ver- 
schwunden. 

In  dieser  Hinsicht  ist  die  Umwelt  der  Tunikaten  sogar 
einfacher  als  die  der  Amöben,  die  aus  einem  Klumpen  gleich- 
mäßig reizbarer  Substanz  bestehen  und  die  daher  gleichzeitig 
nebeneinander  wirkende  Reize  aufnehmen. 

Mit  der  einen  Ausnahme  der  Tunikaten,  die  sich  daraus 
erklärt,  daß  ihr  Nervensystem  eine  ganz  besonders  unter- 
geordnete Rolle  im  Bauplan  spielt,  kann  man  sagen,  daß,  je 
einfacher  ein  Tier  gebaut  ist,  desto  einfacher  auch  seine  Um- 
welt sein  wird.  Die  Umwelt  ist  immer  nur  jener  Teil  der 
Umgebung,  der  auf  die  erregbare  Substanz  des  Tierkörpers 
wirkt,  und  mit  der  Vereinfachung  der  ganzen  Bauart  verein- 
facht sich  auch  die  Bauart  der  erregbaren  Substanz. 

Während  die  Umwelt  sich  ändert,  bleibt  die  Umgebung 
im  wesentlichen  unverändert,  weil  sie  eben  die  Umwelt  des 
Beobachters  und  nicht  des  Tieres  darstellt.  Den  Wirkungen 
der  Umgebung  ist  der  tierische  Körper  auch  dort  ausgesetzt, 
wo  er  keine  reizbare  Substanz  beherbergt.  Manchmai  nimmt 
der  nicht  reizbare  Teil  des  Tierkörpers  den  größeren  Teil  der 
Oberfläche  ein,  wie  bei  den  Tunikaten  und  bei  Rhizostoma. 
Die  nicht  reizbaren  Partien  des  Tierkörpers  sind  den  anorga- 
nischen Körpern  gleichzusetzen,  sie  sind  aber  wie  diese  nicht 
unveränderlich;  sowohl  ihre  mechanische  wie  ihre  chemische 
Struktur  wird  von  den  Agentien  der  Umgebung  beeinflußt. 
Es  liegt  nahe,  auch  diese  Beziehungen  zwischen  Objekt  und 
Umgebung  unter  dem  Bilde  der  Umwelt  zu  betrachten,  ob- 
gleich in  diesem  Falle  der  Organismus  nicht  anders  als  ein 
jeder  leblose  Stein  der  Außenwelt  gegenüber  steht.  Auch  auf 
einen  jeden  Stein  können  die  Faktoren  der  Umgebung  von 
allen  Seiten  sowie  nacheinander  einwirken.  Seine  Umwelt 
wird    daher    sowohl    räumliche    als    zeitliche    Ausdehnung    be- 


250  -^^^  Beobachter. 

sitzen.  Da  er  chemische,  thermische  und  mechanische  Ver- 
änderungen erleiden  kann,  wird  man  seiner  Umwelt  ent- 
sprechende Wirkungen  zuschreiben.  Gelingt  es  nun,  alle  diese 
Veränderungen  auf  die  Bewegungen  seiner  Molekularstruktur 
zurückzuführen,  so  wird  man  auch  in  der  Umwelt  nichts  anderes 
als  bewegte  Teilchen  in  Raum  und  Zeit  nachweisen  können. 
Dies  ist  denn  auch  die  Anschauung,  zu  der  die  Wissenschaft 
der  anorganischen  Materie  gelangt  ist,  und  sie  ist  auf  alle 
organische  Materie  in  gleicher  Weise  anwendbar,  soweit  diese 
nicht  reizbar,  d.  h.  nicht  lebendig  ist  oder,  was  dasselbe  sagen 
will,  nicht  aus  Protoplasma  besteht. 

Es  ist  aber  ein  starkes  Stück,  wenn  die  materiahstischen 
Demagogen  uns  einreden  wollen,  daß  diese  ,, Um  weit  der  Steine", 
die  nur  eine  gedankliche  Abstraktion  der  uns  umgebenden 
Wirklichkeit  ist,  wirklicher  sei  als  diese.  Trotzdem  es  in  der 
Umwelt  der  Steine  gar  keine  Gegenstände  gibt,  sondern  nur 
ein  Chaos  tanzender  Punkte,  soll  dieses  blasseste  aller  Gedanken- 
dinge reeller  sein  als  alles,  was  uns  an  wirklichen  Gegenständen 
umgibt.  Es  wäre  wohl  an  der  Zeit,  mit  diesem  Obskuranten- 
tum,  das  eines  Alchimisten  würdig  ist,  endgültig  aufzuräumen. 

Ebenso  lehrreich  wie  die  Vergleichung  der  Umwelten  ge- 
staltet sich  die  Vergleichung  der  Innenwelten.  Während  unsere 
eigene  Umwelt,  die  zugleich  die  Umgebung  für  alle  Tiere  bildet, 
voller  farbiger,  tönender,  duftender  Gegenstände  ist,  ist  unsere 
Gegenwelt  auf  den  Ablauf  der  Erregungen  in  den  vorgebildeten, 
nervösen  Fasergebilden  (Schemata)  unseres  Gehirnes  beschränkt. 
In  ihrer  Form  ähneln  sie  den  Gegenständen,  außerdem  muß 
aber  noch  jede  selbständige  Qualität  der  Gegenstände  durch 
eine  besondere  Nervenperson  vertreten  sein.  Nur  die  Intensität 
des  Reizes  setzt  sich  in  Intensität  der  Erregung  um;  im  übrigen 
sind  Reiz  und  Erregung  etwas  durchaus  Verschiedenes.  Daher 
darf  die  Erregung  nur  als  ein  Zeichen  äußeren  Geschehens  an- 
gesehen werden. 

Die  Gegenwelt,  die  in  unserem  Gehirn  so  reich  ist,  daß 
sie  als  Spiegel  der  Umwelt  dienen  kann,  nimmt  bei  den  Tieren 
schnell  an  Umfang  und  Reichtum  ab.  Während  die  Kephalo- 
poden  noch  große  Zerebralganglien  im  Gehirn  besitzen,  deren 
Aufgabe  es  ist,  die  Gegen  weit  zu  beherbergen  und  die  dem- 
entsprechend besondere  physiologische  Eigenschaften  aufweisen, 


Der  Beobachter.  251 

sind  bei  den  Artropoden  besondere  zerebrale  Ganglien  anatomisch 
nicht  nachweisbar.  Bei  den  einfacheren  Tieren  fehlt  die  Gegenwelt 
völlig  und  es  spielt  sich  das  ganze  Innenleben  nur  in  den  zen- 
tralen Netzen  ab.  Diese  können,  wie  wir  gesehen,  von  den 
Aktinien  bis  zu  den  Blutegeln  eine  Fülle  von  Abwechslung 
bieten;  bei  Rhizostoma  ist  das  Innenleben  auf  ein  einfaches 
Hin-  und  Herfließen  der  Erregung  reduziert.  Bei  den  Amöben 
ist  der  Erregungsablauf  nicht  mehr  so  regelmäßig,  da  keine  festen 
Bahnen  vorhanden  sind  und  die  Erregung  sich  dem  wechseln- 
den Gestaltungsdrang  des  Protoplasmas  anschmiegen  muß. 

Das  Verhältnis  zwischen  Innenwelt  und  Umwelt  ist  bei 
allen  Tieren  ein  unwandelbares,  da  sie  sich  gegenseitig  bedingen. 
Alle  Reize  der  Umgebung  unterliegen,  wie  uns  bekannt  ist, 
erst  einer  Auswahl  durch  die  Rezeptoren.  Ein  großer  Teil  der 
Wirkungen  scheidet  von  vornherein  aus,  der  andere  wird  in 
Erregung  verwandelt.  Werden  aUe  Erregungen  direkt  in  das 
allgemeine  Netz  geleitet,  so  gehen  damit  alle  qualitativen  Unter- 
schiede, die  in  der  Umgebung  vorhanden  sind,  verloren.  Nur 
wenn  bestimmte  Nerven  für  bestimmte  Qualitäten  vorhanden 
sind,  bleiben  sie  der  Umwelt  erhalten.  Ebenso  gehen  die 
räumlichen  Verhältnisse,  welche  wir  an  den  Gegenständen  der 
Umgebung  erkennen,  in  die  Umwelt  des  Tieres  über,  wenn  seine 
Gegen  weit  die  entsprechenden  Schemata  beherbergt. 

Die  Tätigkeit  der  Rezeptoren  ist  stets  eine  dreifache :  Erst 
erfolgt  die  Auslese  aus  den  Wirkungen  der  Umgebung,  wobei  der 
größte  Teil  ausgeschieden  wird,  dann  erfolgt  die  Analyse  des  auf- 
zunehmenden Teiles,  d.  h.  die  Gesamtmenge  der  Reize  wird  in 
Gruppen  gespalten,  die  der  Bauart  des  Rezeptors  entsprechen. 
So  kann  das  Licht  bei  einem  Tier  nur  als  hell  und  dunkel 
wirken,  während  bei  einem  anderen  eine  ganze  Farbenskala 
differenziert  wird.  Als  drittes  folgt  die  Umwandlung  der  ein- 
zelnen Reizgruppen  in  Erregung  des  Nerven. 

Erst  im  Nervensystem  erfolgt  die  Synthese,  wenn  sich  die 
verschiedenen  Nervenpersonen,  von  denen  jede  einer  Reizqua- 
htät  der  Umwelt  entspricht,  zu  hochkomplizierten  Strukturen 
zusammenfinden.  Auf  welche  Weise  diese  Strukturen  auch  als 
Schemata  der  Gegenstände  dienen  können,  ist  ausführhch  dar- 
gelegt worden. 

Je    mehr    sich    die    Innenwelt    durch   den  Ausbau  solcher 


252  ^^^  Beobachter. 

Strukturen  bereichert,  um  so  größer  und  reicher  wird  auch  die 
Umwelt  der  Tiere.  Daher  umfaßt  die  Umwelt  des  nächst 
höheren  immer  wieder  die  Umwelt  des  nächst  niederen.  Und 
wenn  man  sich  die  Tiere  als  Beobachter  denkt,  so  wird  jedes- 
mal die  Umwelt  des  höheren  Tieres  als  die  Umgebung  des 
niederen  Tieres  gelten  können,  in  der  es  von  diesem  beobachtet 
wird.  Dem  Beobachter  stellt  sich  das  niedere  Tier  zusammen 
mit  seiner  Umwelt  als  eine  geschlossene  Einheit  dar,  während 
die  Einheit  des  höheren  Tieres  mit  seiner  Umwelt  niemals  vom 
niederen  Tiere  erfaßt  werden  kann.  Diese  Auffassung  der  Tier- 
reiche erzeugt  die  Vorstellung  von  immer  größeren  Kreisen, 
die  den  nächst  kleineren  umschließen. 

Auch  wir  Menschen  leben  einer  in  der  Umwelt  des  an- 
deren. Es  gibt  zweifellos  Menschen,  in  deren  Umwelt  wir  mit 
unserer  gesamten  Umwelt  wie  von  einer  fremden  Umgebung 
eingeschlossen  leben.  Man  braucht  bloß  die  Bilder  eines  Hol- 
bein  zu  betrachten,  um  sich  davon  zu  überzeugen,  daß  die 
Welt,  in  der  er  lebte,  von  einem  viel  größeren  Reichtum  war 
als  die  unsrige.  Wenn  er  die  einfachsten  Gegenstände  malt, 
so  besitzen  sie  eine  so  unbegreiflich  hohe  Wirklichkeit,  daß 
die  Gegenstände,  die  uns  umgeben,  dagegen  verblassen.  Wenn 
nun  Holbein,  wie  wir  es  mit  den  Tieren  getan,  die  Be- 
ziehungen unserer  Umwelt  zu  unserer  Innenwelt  untersuchen 
wollte,  so  würde  er  in  der  Gegenwelt  unseres  Gehirnes  Sche- 
mata vorfinden,  denen  die  Gegenstände  unserer  Umwelt  ent- 
sprechen. Er  würde  dementsprechend  schließen:  ,,Für  diese 
Wirklichkeiten  ist  dieses  Menschenobjekt  noch  gerade  emp- 
fänglich." Die  Lücken  unserer  Gegenwelt  würden  ihm  aber 
auch  nicht  verborgen  bleiben  und  er  würde  sagen:  ,,Für  jene 
höheren  Wirklichkeiten  ist  das  Objekt  nicht  geschaffen." 

So  wächst  jede  höhere  Umwelt  mit  der  steigenden  Zahl 
von  Wirkungen,  die  sie  enthält,  und  nähert  sich  immer  mehr 
der  Umgebung,  die  sie  umschließt.  Es  ist  ganz  gleichgültig, 
ob  wir  uns  diese  Umgebung  \viederum  als  Umwelt  eines  höheren 
Wesens  denken  wollen  oder  nicht.  Die  Tatsache  bleibt  bestehen, 
daß  wir  von  höheren  Wirklichkeiten  umgeben  sind,  die  wir 
nicht  zu  übersehen  vermögen.  Jenes  Ding,  das  vom  Ei  bis  zur 
Henne  reicht,  und  das  seinen  planmäßigen  Bau  ohne  jede  Lücke 
durch  die  Zeit  erstreckt,  wobei  es  eine  Kette  von  Gegenständen 


Der  Beobachter.  253 

bildet,  ohne  selbst  zum  Gegenstand  zu  werden,  müssen  wir 
wohl  —  wie  Keyserling  eindringUch  darlegt  —  als  existierend 
anerkennen,  ohne  es  erkennen  zu  können.  Wir  sind  eben 
von  zahllosen  WirkUchkeiten  rings  umgeben,  an  die  unser 
Anschauungs vermögen  nicht  heranreicht,  die  ,,unanschauüch'' 
bleiben,  weil  sie  ,, überanschaulich"  sind.  Alle  Lebewesen,  Pflanzen 
wie  Tiere,  gehören  hierher,  wir  besitzen  von  ihnen  nur  das  Bild 
ihrer  momentanen  Erscheinung;  von  ihrem  Dasein,  das  geschlossen 
vom  Keim  zum  Erwachsenen  reicht,  und  von  dem  wir  wissen, 
daß  es  eine  einheitliche  Gesetzmäßigkeit  birgt,  können  wdr  uns 
kein  Bild  machen.  Alle  Tierarten  und  Pflanzenarten,  mit  denen 
wir  wie  mit  bekannten  Größen  operieren,  sind  überanschauliche 
Wirkhchkeiten.  Ja,  wir  selbst  bilden  eine  solche  Wirkhchkeit, 
die  wir  nicht  zu  übersehen  vermögen,  da  wir  uns  nur  von 
Moment  zu  Moment  beobachten  können.  Alle  Völker,  alle 
Staaten  reichen  mit  ihrer  Wirklichkeit  über  unser  Anschauungs - 
vermögen  hinaus.  Wer  jemals  auf  diese  Dinge  seinen  Blick 
gelenkt  hat,  wird  bald  zur  Überzeugung  kommen,  daß  wir 
nicht  in  einer  ,, Umwelt  der  Steine'  leben,  sondern  von  allen 
Seiten  her  von  einer  höheren  Umgebung  umschlossen  sind,  die 
wir  nicht  zu  übersehen  vermögen  und  von  der  wir  selbst  in 
unerkennbarer  Weise  gelenkt  werden.  Und  da  wir  mit  dem 
Worte  ,, Leben"  diese  höhere  Umgebung  mit  umschHeßen,  so 
entgleitet  das  Lebensproblem  immer  wieder  unseren  kurzsichtigen 
Augen. 


.  ",*^ 


\ 


Literatur. 

Nach  einer  oberflächlichen  Schätzung  würde  ein  Forscher, 
der  seine  ganze  Arbeitszeit  der  Lektüre  der  anatomischen  Lite- 
ratur widmen  wollte,  zwei  bis  drei  Jahrhunderte  beschäftigt 
sein,  um  bis  zu  den  heutigen  Arbeiten  vorzudringen.  Mit  der 
biologischen  Literatur  wird  es  in  absehbarer  Zeit  ebenso  bestellt 
sein.  Deshalb  soll  eine  Übersicht  der  Literatur  immer  nur  eine 
Auswahl  darstellen.  So  macht  denn  die  folgende  Aufzählung 
keineswegs  Anspruch  auf  Vollständigkeit,  sondern  gibt  nur  die 
Arbeiten  an,  die  mir  als  besonders  wichtig  erschienen. 

Für  das  Kapitel  Protoplasmaproblem  brauche  ich  nur 
auf  die  Literaturübersicht  zu  verweisen,  die  Biedermann  in 
dem  letzten  Band  der  Ergebnisse  der  Physiologie  (1909)  ge- 
geben hat. 

Amoeba  terricola. 

Die  Literatur  der  Einzelligen  findet  sich  in  seltener  Vollständig- 
keit in: 

Jennings:  Behavior   of  lower  animals.    New  York,  Columbia  imiversity 

press  1906. 
Dellinger:  Locomotion  of  Amoeba.    Journ.  exp.  Zool.,  Vol.  III,   1906. 

Paramaecium  caudatum. 

Nierenstein:  Beiträge  zur  Ernährungsphysiol.  der  Protisten.    Verworns 

Zeitschr.   1905. 
Jennings:  Behavior  of  lower  animals  1906. 
Balbiani:    Observation    sur    le  Didinium    nasutum.     Arch.  Zool.  Exp., 

Vol.  2,   1873. 
Mast:  The  reactions  of  Didinium  nasutima.    Biol.  Bull.,  XVI,   1909. 
Thon:  Über  den  ferneren  Bau  von  Didinium.    Protistenkunde,  Bd.  5 — 6, 

1905. 

Aktinien. 

Lulu   Alienbach:    Some   points  regarding  the   behavior   of  Metridium, 
Biol.  Bull.,  X,   1905. 


Literatur.  255 

Andres:  Die  Aktinien.     Fauna  und  Flora   des  Golfes  von  Neapel,   IX, 

1884. 
Bohn:  Introduetion  ä  la  psych ologie  des  Animaux  ä  symetrie  rayonnee. 

Bull.  Instit.  general  Psychol.   1907. 
O.  und  R.  Hertwig:   Die  Aktinien.  Jen.  Zeitschr.  f.  Mediz.  und  Naturw. 

Bd.  13  und   14,   1880. 
Jennings:    Modifiability    in    Behavior    I,    Behavior    of    Sea    Anemons. 

Journ.  Exp.  Zool.,  Vol.  II,   1905. 
Jordan:   Über  reflexarme  Tiere  II.    Verworns  Zeitschr.,  Bd.  8,   1908. 
Loeb:  Zur  Physiologie  und  Psychologie   der  Aktinien.     Pflügers  Archiv, 

Bd.  59,   1894. 
Nagel:    Experimentelle   sinnesphysiologische  Untersuchungen  an  Coelen- 

teraten.    Pflügers  Archiv,  Bd.  57,   1894. 
Parker,    The   Reactions    of  Metridium    to    food    and    other    Substance. 

Bull.  Mus.  comp.  Zool.  Starv.  Coli.,  XXIX,   1896. 

—  The   reversal   of   the   effective   stroke   of   the  labial  cilia   of  Sea  Ane- 

mones  by  Organic  substances.    Am.  Journ.  Phys.,  Vol.  XIV,   1905. 

—  The  reversal   of   ciliary-movements   in  Metazoans.     Am.  Journ.  Phys., 

Vol.  XIII,   1905. 
Piöron:   Contribution   ä   la   psychologie   des   Actinies.     Bull,  de   l'Instit. 

gen.  Psychol.,  Vol.  VI,   1906. 
UexküU,    Resultats    des    recherches    sur  les   tentacules   de   l'Anemonia 

sulcada.    Bull.  Inst.  Oceanogr.  Monaco   1909. 


Medusen. 

Berger:  Physiology  and  Histology  of  the  Cubomedusae.  Mem.  Biol.  Lab. 

S.  Hopkins  Univ.  Bolt.,  Vol.  4,   1900. 
Bethe:     Allgemeine    Anatomie     und     Physiologie     des     Nervensystems. 

Leipzig,  Thieme,    1903. 
Eimer:    Zoologische   Untersuchimgen.    Verh.   Physik.- Mediz.   Ges.   Würz- 
burg, Bd.  VI,   1874. 
Eisig:  Biologische  Studien  X.  Medusenfressende  Fische.    Kosmos,  Bd.  I, 

1884. 
Loeb:  Einleitung  in  die  vergl.  Gehirnphysiologie.    Leipzig   1899. 
Maas:  Reizversuche  an  Süßwassermedusen.    Verworns  Zeitschr.    1907. 
Nagel:   Experimentelle  sinnesphysiologische  Untersuchungen   an  Coelen- 

teraten.    Pflügers  Archiv,  Bd.  57,    1894. 
Romane s:   Observations   on   the   locomotor   System    of   Medusae.     Phil. 

Trans.,  Vol.  166,   1876,  und  Vol.  167,   1877. 
Uexküll:    Die  Schwimmbewegungen    von   Rhizostoma    pulmo.     Mitteil. 

der  Zool.  Station  Neapel,  Bd.  14,   1901. 
Yerkes:    A  Contribution   to   the  Physiology  of   the  Nervous  System  of 

Medusa   Gonionemus  Murbachii,  I.   Amer.  Journ.  Phys.,  Bd.  6,   1902. 

Part  II,  Bd.  7,    1902. 
—  A   study   of   the   reaction  Time  of   the  Medusa.     Amer.  Journ.  Phys., 

Bd.  9,'  1903. 


256  Literatur. 

Seeigel  —  Herzigel  —  Schlangensterne. 

Fredericq:   Contribution  ä  l'etude  des  Echinides.   Arch.  Zool.  Exp.  1876. 
Glaser:   Movement  and  Problem  solving  in  Ophiura.   Journ.  Exp.  Zool. 

1907. 
Hamann:  Beiträge  zur  Histologie  der  Echinodermen.  Jena,  Fischer,  1887. 

—  Echinodermen  (mit  Ludwig).   Bronns  Klassen  und  Ordnungen,    Leipzig 

1901. 
Prej'^er:    Über  die  Bewegungen  der  Seesterne.    Mitteil,   der  Zool.  Station 

Neapel,  Bd.  7,   1886. 
Romanos     and    Ewart:     Observations     on    the    locomotor    System     of 

Echinodermata.    Phil.  Trans.,  London   1881. 
Sarasin:    Die  Augen    und  das  Integument    der  Diadematiden.      Ceylon, 

Teil  I,    1887/88. 
Uexküll:   Der  Schatten  als  Reiz  für  Centrostephanus.    Zeitschr.  f.  Biol., 

Bd.  XXXIV,  N.  F.  XVI,   1897. 

—  Über  die  Funktion   der  Poli'schen  Blasen.    Mitteil,    der  Zool.  Station 

Neapel,  Bd.  XII,   1896. 

—  Über  Reflexe  bei  den  Seeigeln.    Zeitschr.  f.  Biol.,  Bd.  XXXIV,  N.  F. 

XVI. 

—  Die    Physiologie    der    Pedizellarien.     Zeitschr.  f.  Biol. ,    Bd.  XXXVII, 

N.  F.  XIX,   1899. 

—  Die    Physiologie    des    Seeigelstachels.    Zeitschr.  f.  Biol.,  Bd.  XXXIX, 

N.  F.  XXI,   1900. 

—  Die  Wirkung  von  Licht  und  Schatten  auf  die  Seeigel.  Zeitschr.  f.  Biol., 

Bd.  XL,  N.  F.  XXII,   1900. 

—  Die  Bewegungen  der  Schlangensterne.  Zeitschr.  f.  Biol.,  N.  F.  XXVIII. 

—  Die  Herzigel.    Zeitschr.  f.  Biol.,  Bd.  XLIX,  N.  F.  XXXI. 

Sipunculus. 

Andrews:  Notes  on  the  anatomy  of  Sipunculus.   Biol.  Lab.  S.  Hopkins 

Univ.  Baltimore,  Bd.  IV,   1887. 
Mack:  Das  Zentralnervensystem  von  Sipunculus   nudus.    Zool.  Institut, 

Wien  und  Triest,  Bd.  13,   1902. 
Metalnikoff :  Sipunculus  nudus.  Zeitschr.  wissensch.  Zool.,  Bd.  68,  1900. 
Magnus:  Pharmakol.  Untersuchvmgen  am  Sipunculus  nudus.    Archiv  f. 

exp.  Path.  u.  Pharm.,  Bd.  L. 
Uexküll:    Zur    Muskel-  und   Nervenphysiologie    des   Sipunculus    nudus. 

Zeitschr.  f.  Biol.,  Bd.  33,   1896. 

—  Der  biologische  Bauplan  von  Sipunculus.  Zeitschr.  f.  Biol.,  Bd.  44,  1903. 

Blutegel. 

Biedermann:  Studien  zur  vergleichenden  Physiologie  der  peristaltischen 

Bewegungen  I.    Pflügers  Archiv,  Bd.  102,    1904. 
Bethe:  Ein  neuer  Beweis  für  die   leitende  Funktion  der  Neurofibrillen. 

Pflügers  Archiv,  Bd.  122,   1908. 
Carle t:  Compt.  rend.    1883. 


Literatur.  257 

Guillebeau  und  Luchsin ger:    Fortgesetzte  Studien   zu   einer   allgem. 
Physiologie  der  irritabelen  Substanzen.    Pfiügers  Arch.,  Bd.  28,  1882. 
Uexküll:   Die  Blutegel.    Zeitschr.  f.  Biol.,  Bd.  XLVI,  N.  F.  XXVIII. 

Regenwurm. 

Adams:   On  the  negative  and  positive  Photo tropism  of  the  Earth-worm. 

Amer.  Journ.  Phys.,  Vol.  IX,    1903. 
Biedermann:     Studien    zur   vergl.  Physiologie    der    peristaltischen    Be- 

Bewegimgen  I.    Pflügers  Arch.,  Bd.  102,   1904. 
Ch.   Darwin:    Die    Bildung    der    Ackerkrume    durch    die    Tätigkeit    der 

Regenwürmer. 
Eisig:    Ichthyotomus    sanguinarius.     Fauna    und  Flora    des  Golfes    von 

Neapel,  Bd.  28,   1906. 
Friedländer:    Über  das  Kriechen  des  Regenwiirmes.   Biol.  Zentralblatt, 

Bd.  VIII. 
—  Beiträge  zur  Physiologie  des  Zentralnervensystems  und  der  Bewegungs- 
mechanismus der  Regenwürmer.     Pflügers  Arch.,   Bd.  58,    1894. 
Elise  Hanel:    Ein  Beitrag   zur  ,, Psychologie"  der  Regenwürmer.     Ver- 

worns  Zeitschr.    1904. 
Hesse:   LTntersuchungen  über  die  Organe  der  Lichtempfindung.   I.  Lum- 

briciden.    Zeitschr.  f.  wissensch.  Zool.    1896. 
Jennings:   Factors  determining  direction  and  character  of  movement  in 

the  Earthworm.    Journ.  Exp.  Zool.,  Vol.  III,    1906. 
L  o  e  b :    Beiträge    zur    G^shirnphysiologie    der   Würmer.     Pflügers    Archiv, 

Bd.  56,   1894. 
Nor  mann  :    Dürfen  wir  aus  den  Reaktionen  niederer  Tiere  auf  das  Vor- 
handensein von  Schmerzempfindiuig  schließen?    Pflügers  Archiv  1897. 
Parker  and  Atkin:   The  directive  Influence  of  light  on  the  Earthworm. 

Amer.  Journ.  Phys.,  Bd.  IV,    1901. 
Parker  and  Metcalf :   The  reactions  of  the  Earthworm  to  salts.  Amer. 

Journ.  Phys.,  Vol.  XVII,   1906. 
Straub:  Zur  Muskelphysiologie  des  Regenwurms.    Pflügers  Arch.,  Bd.  79, 

1900. 

Cyona  intestinalis. 

A.  Fröhlich:  Beitrag  zur  Frage  der  Bedeutung  des  Zentralganglions  bei 
Cyona  intestinalis.    Pflügers  Arch,,  Bd.  95,    1903. 

Jordan:   Über  reflexarme  Tiere.   Verworns  Zeitschr.,  Bd.  7,    1907. 

Loeb:  Untersuchungen  z.  physiol.  Morphologie  der  Tiere.  Teil  IL  Würz- 
burg  1891. 

—  Einleitung  in  die  vergl.  Gehirnphysiologie.    Leipzig   1899. 

Magnus:  Die  Bedeutung  des  Ganglions  bei  Cyona  intestinalis.  Mitteil. 
der  Zool.  Station   Neapel,  Bd.  15,    1902. 

Aplysia  limacina. 

Bethe:  Allgem.  Anatomie  und  Physiologie  der  Nervensystems.  Leipzig, 
Thieme,    1903. 


V.  Uexküll,  Umwelt  und  Innenwelt  der  Tiere. 


1 


258  Literatur. 

Biedermann:  Studien  zur  vergl.  Physiologie  der  peristaltischen  Be- 
wegungen. Teil  I.  Pflügers  Arch.,  Bd.  102,  1904.  Teil  II.  Pflügers 
Arch.,  Bd.  107,   1905.    Teil  III.    Pilügers  Arch.,  Bd.  111,   1906. 

Jordan:  Die  Physiologie  der  Lokomotion  bei  Aplysia  limacina.  Inaugural- 
Dissert.    Oldenbourg,  München   1901. 

—  Untersuchungen  zur  Physiologie   des  Nervensystems   bei  Pulmonaten. 

Teil  I.  Pflügers  Arch.,  Bd.  106,   1905.  Teil  II.  Pflügers  Arch.,  Bd.  110, 
1905. 

—  Über  reflexarme  Tiere.  Teil  I.  Vorworns  Zeitschr.,  Bd.  7,  1907.  Teil  II. 

Verworns  Zeitschr.,  Bd.  8,   1908. 

Carcinus  maenas. 

Beer:  Vergl.  physiolog.  Studien  zur  Statozystenfunktion.  Teil  I.  Pflügers 

Arch.   1898.    Teil  II.    Pflügers  Arch.    1899. 
Bethe:  Die  Otozyste  von  Mysis.    Zool.  Jahrb.,  Bd.  VIII. 

—  Das  Nervensystem  von  Carcinus    maenas.     Drei  Mitteilungen.      Arch. 

mikr.  Anat.,  Bd.  50  und  51. 

—  Vergl.  Untersuchungen   über    die   Fiinktion   des   Zentralnervensystems 

der  Arthropoden.    Pflügers  Arch.   1897. 
Biedermann:  Innervation  der  Krebsschere.   Akad.  Wien  1887  und  1888. 
Fr6dericq:  Autotomie.   Dictionnaire  de  Physiologie  (Richet).  Paris  1895. 
Kreidl :  Weitere  Versuche  z.  Physiol.  d.  Ohrlab yrinthes.  Akad.  Wien  1893. 
Minkiewicz:    Analyse  experimentale  de   l'instinct  de  deguisement  chez 

les  Brachyures  oxyrhynques.    Arch.  Zool.  exp.    1907. 
Prentiss:    The  Otocyst  of  Decapod  Crustacea.     Bull.  Mus.  Comp.  Zool. 

Harvard  Coli.,  Vol.  XXXVI,   1901. 
Uexküll    u.   Groß:    Resultats    des    recherches    sur    les    extremites    des 

langoustes  et  des  crabes.    Bull.  Inst.  Oceanogr.  Monaco   1909, 
Yerkes    and    Huggins:    Habit    Formation    in    the    crawfish.    Harvard 

Psychol.  Studies,  Vol.  I. 

Kephalopoden. 

Die  Literatur   ist  vollständig   gesammelt    und    kritisch    gesichtet    in 
der  sehr  verdienstvollen  Arbeit  von  Bauer. 

Bauer:  Einführung  in  die  Physiologie  der  Kephalopoden.  Mitteil,  der 
Zool.  Station  Neapel,  B.  19,   1909. 

Libellen. 

Bohn:  Attractions  et  oscillations  des  animaux  marins  sous  l'influence 
de  la  lumiere.    Mem.  Instit.  psychol.    Paris   1905. 

—  Anemotropisme  et  phototropisme. 

Carpenter:    The    Reactions    of    the    Pomace    fly    to    light.     American 

Naturalist,  Vol.  XXXIX,    1905. 
Cole:    An   experimental   study  of   the  image  forming  powers  of  various 

Types  of  Eyes.    Proc.  American  Acad.  of  Art  and  Sciences,  Vol.  XLII, 

1907. 


Literatvir.  259 

Dahl:  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Baues  und  der  Funktionen  der  Insekten- 
beine.   Inaug.-Dissert.    Berlin  1884. 

Exner:  Physiologie  der  facettierten  Augen.    Leipzig -Wien  1891. 

Graber:   Die  Insekten.  Naturkräfte.  Bd.  21  u.  22.  München,  Oldenbourg. 

Loeb:  Der  Heliotropismus  der  Tiere.   Würzburg  1890. 

V.  Lendenfeld  :  Der  Flug  der  Libellen.  Akad.  Wien,  Bd.  LXXXIII,  1881. 

Leydig:  Tafeln  zur  vergl.  Anatomie.    Tübingen  1864. 

Nuel:  La  Vision.    Bibl.  internat.  de  Psychol.  exper.    Paris   1904. 

Parker:  The  phototropism  of  the  mourning-cloak  Butterfly.  Mark  Ani- 
versary   1903. 

Rädl:  LTntersuchtmgen  über  den  Photo tropismus  der  Tiere.  Leipzig, 
Engelmann,   1903. 

Uexküll:  Die  Libellen.    Zeitschr.  f.  Biol.,  Bd.  L,  N.  F.  XXXII. 

Literatur  zu  den  allgemeinen  Kapiteln,  soweit  sie  nicht 

schon  aufgeführt  ist. 

Bohn:   La  Naissance  de  l'Intelligence.    Paris,  Flammarion,   1909. 
Bethe:  Theorie  der  Zentrenfunktion.    Ergebnisse  der  Physiologie,   1906. 
V.  Cyon:   Das  Ohrlabyrinth.    Berlin,  Springer,   1908. 

Claparede:  Les  animaux  sont-ils  conscients?  Revue  philosophique,  LI, 
1901. 

—  La  Psychologie  est-elle  legitime?    Arch.  de  Psychologie,  V,   1905. 
H.  Graf  Keiserling:  Unsterblichkeit. 

Loeb  :  Concerning  the  Theory  of  Tropisms.  Journ.  Exp.  Zool.,  Vol.  IV,  1907. 
Nuel:  Les  fonctions  spatiales  etc.    Arch.  Internat,  de  Physiologie,  Vol.  I, 

1904. 
Piper:  Über  den  willkürlichen  Muskel  tetanus.  PflügersArch.,  Bd.  119,  1907. 

—  Weitere  Mitteilungen.    Pflügers  Arch.,  Bd.  127,   1909. 
Sherrington:  The  integrative  Actions  of  the  Nervous  System.   London 

constable   1909. 

—  On  plastic  Tonus.   Quarterly  Journ.  Exper.  Phys.,  Vol.  II,   1909. 
Uexküll:  Im  Kampf  um  die  Tierseele. 

—  Leitfaden.    Wiesbaden,  Bergmann. 


17* 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Einleitung 1 

Das  Protoplasmaprobleni 11 

Amoeba  Terricola 32 

Paramaecium 39 

Der  Reflex 54 

Anemonia  sulcata 63 

Medusen 77 

1.  Rhizostoma  pulmo 77 

2.  Carmarina  und  Gonionemus 85 

Die  Seeigel 90 

Die  Muskeln 91 

Die  Zentren 95 

Die  Statik  der  Erregung 98 

Die  Dynamik  der  Erregungen 100 

Die  Rezeptoren 102 

Arbacia  pustulosa  (spezieller  Teil) 105 

Centrostephanus  longispinus 107 

Die  kurzstacheligen  Seeigel 109 

Die  Pedicellarien 112 

Die  Umwelt 117 

Die  Herzigel 119 

Die  Schlangensterne •   .    .    .    .  129 

Sipunculus 142 

Der  Regenwurm 155 

Die  Blutegel 168 

Die  Manteltiere 177 

Aplysia 181 

Die  Gegenwelt 191 

Carcinus  maenas 212 

Die  Kephalopoden 221 

Libellen 235 

Der  Beobachter 248 

Literatur 254 


Druck  von  Oscar  Brandstetter  in  Leipzig. 


Verlag  von  Julius  Springer  in  Berlin. 


Im  Sommer  1909  erschien: 

Die  chemische 

Entwicklungserregung 

des  tierischen  Eies. 

(Künstliche  Parthenogenese) 

Von 

Jacques  Loeb, 

Professor  der  Physiologie  an  der  University  of  California 

in  Berkeley. 

Mit  56  Textfiguren. 
Preis  M.  9, — ,  in  Leinwand  gebunden  M.  10, — . 


Im  Herbst   1909  gelangt  zur  Ausgabe: 

Über  das  Wesen  der  formativen  Reizung,    Vortrag  gehalten  auf 

dem  XVI,  Internationalen  Medizinischen  Kongreß  in  Budapest  1909. 
Von  Professor  Jacques  Loeb,  Berkeley.     Preis  M.  1, — . 

Untersuchungen  über  Aminosäuren,  Polypeptide  und  Proteine. 

(1899  bis  1906.)    Von  Emil  Fischer. 

Preis  M.  16, — ;  in  Leinwand  gebunden  M.  17,50. 

Untersuchungen  in  der  Puringruppe.  (1882—1906.)  Von  Emil  Fischer. 

Preis  M.  15, — ;  in  Leinwand  gebunden  M.  16,60, 

Untersuchungen  über  Kohlenhydrate  undFermente.  (1884—1908.) 

Von  Emil  Fischer.     Preis  M.  22, — ;  in  Leinwand  gebunden  M.  24. — . 

Organische  Synthese  und  Biologie.  Von  Emil  Fischer.  Preis  M.  1,—. 

Biochemie.   Ein  Lehrbuch  für  Mediziner,  Zoologen  und  Botaniker  von 
Prof,  Dr.  F.  Röhmann,  Breslau,   1908.   Mit  43  Textfiguren  und  1  Tafel. 

In  Leinwand  gebunden  Preis  M.  20, — . 

Zu  beziehen  durch  jede  Buchhandlung. 


Verlag  von  Julius  Springer  in  Berlin. 


Ludwig  Darmstaedters 

Handbuch  zur  Geschichte 

der  Naturwissenschaften 
und  der  Technik. 

In  chronologisclier  Darstellung. 
Zweite,  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage. 

Unter  Mitwirkung  von 

Professor  Dr.  R.  du  Bois-Reymond  und  Oberst  z.  D.  C.  Schaefer 

herausgegeben  von 

Professor  Dr.  L.  Darmstaedter. 
In  Leinwand  gebunden  M.  16, — . 

Analyse  und  Konstitutionsermittelung  organischer  Verbin- 
dungen. Von  Dr.  Hans  Meyer,  o.  ö.  Professor  an  der  Deutschen 
Technischen  Hochschule  in  Prag.  Zweite,  vermehrte  und  umge- 
arbeitete Auflage.  Mit  235  Textfiguren.  1909.  Preis  M.  28,—  ;  in 
Halbfranz  gebunden  M.  31, — . 

Die  physikalischen  und  chemischen  Methoden  der  quantitativen 
Bestimmung  organischer  Verbindungen.  Von  Dr.  WilhelmVaubel, 

Privatdozent  an  der  Technischen  Hochschule  zu  Darmstadt.  Zwei 
Bände.  Mit  95  Textfiguren.  1901.  Preis  M.  24.—  ;  in  Leinwand 
gebunden  M.  26,40. 

Lebenserinnerungen  von  Werner  von  Siemens.  Dritte  Auflage, 

dritter  unveränderter  Abdruck.  Mit  dem  Bildnis  des  Verfassers 
in  Kupferätzung.  Preis  M.  5, — ;  in  Halbleder  geb.  M.  7, — .  Wohl- 
feile Volksausgabe.  Achte  Auflage.  Mit  dem  Bildnis  des  Ver- 
fassers in  Kupferätzung.     In  Leinwand  gebunden  Preis  M.  2, — . 

Lebendige  Kräfte.  Sieben  Vorträge  aus  dem  Gebiete  der  Technik  von 
Max  Eyth.  Zweite  Auflage.  Mit  in  den  Text  gedruckten  Ab- 
bildungen.    In  Leinwand  gebunden  Preis  M.  5, — . 


Zu  beziehen  durch  jede  Buchhandlung. 


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