Karl Gottfried H
v na %ßi\ nun ds as hcnnz-erurhen eines’
Rechts gebort n\m einmal ♦ n&cJ
feste begriffliche Gebundenheit und bestii.
R^btsv^rhälini»se gegeneinander 4 * (S* 2*
— viellncbt t»ogar zu weit gehenden J
griff selbst in der Theorie v. Dorigern^
seWerstef Fehler.
W ie i*edeutäuin dieae — an sieh i
fallenden — Fragen für die hisf*
gerade un den beiden Schriften, die w
suchung Veranlassung boten, teigem Es
wie die liehandlozig der Quellen bei F
Kocht«begriff beeinflußt ist
leb stimme mit Frb. v. Dongeni na
Beschaffenheit unserer ini ttdajterlieheu t
Rechmostanden bedeutende Schwierigkeit*
log es vielfach auiter ihrem Gtisichtskreis,
uinliereii; und nichts wäre verkehrter, uh
ru uherungpri a 1.1 ei n weitgehende Sdxhlf
Frlu v, Düngern (S. 42.) »das Verstehen
der Zeit heraus*, ihre Wertung f uach der
Zeitgenossen machen konnten und solltet
Wahrheit, von der mir nur unerfindlich
Windung der Scholastik* m tun bat
Nim liegen aber fUr unsere Frage l
QüeUenÄeuginase vor, welche ♦nneß unbedin
Verwandten oder gur der Abbömmlhige Kai
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Verh&Ufti.-.- .v*.*vbr;i /'• ; ;■; ;*•.
eines Secsssia» ei sehr genau prüfen müssen, ob adeh in ihnen die herrschend
in einmal * zia-db Frk n fcge. oder eine oppositionelle, fremde, etwa kanonische Rechtsill
deniieir xndf Üs?tsEa ausprägt. Aber bezeichnend ist es, wie v. Düngern mit die
»Ar dfy» ,/SL lu £* äfai Zeugnissen sich abfindet
weit FgEzulmE-* »Wie konnte Eike um die Mitte (?) des 13, Jahrhunde
< -ie t repf kommen, schlechthin Freiheit für das jedenfalls doch eher
das passive Wahlrecht, zu normieren? ‘ (8. 38V Düngern b
diese Frage in, wie ich gerne zngebe, scharfsinniger Weise a
^ dividuellen Standeslage Eikes. Und wenn wir sicher wüßten, di
.. " && u ' : das passive Wahlrecht auf die Dynasten oder die Abkömmlj
* :Lr die fes* f * des Großen oder auf einen noch engeren Kreis beschränkt wa
^hrzfbeJL. die % & gewiß diese Erklärung für die abweichende Formulierung
t . n zeiiT&iL Es jäfääp’ durchaus annehmbar. Was aber befremdet, ist der TJttni
< -e*Vn Jfcfc : : Büngern die Formulierung Eikes gur nicht als ein gv
: " d !Eh*urh sprechendes Argument werfet Daß sich .zur Not. mi
d*ß* &*', gcraeinea Sechiaüberzeugung ins Gesicht schlagende Formulier
' üaeifcs > ßke erkättB ist doch kein Grund diAtakjniien solch
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4
Inhalt des XXXVL Bandes.
Seite
Der deutsche Staat des Mittelalters. Von Alfons Dopsch ... 1
Über Losungsbftcher and Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter.
Von Karl Beer.31
Die Rächstagspermanenz im Oktober 1848. Von Hugo Traub 96
Politische Umwälzungen unter den Slowenen vom Ende des sechsten Jahr¬
hunderts bis zur Mitte des neunten. Von Ludmil Hauptmann . 229
Dm Brondolo-Privileg Leo’s IX. Von Emil y. Ottenthal. (Mit zwei
Wein). 288, 404
Über das Testament des hL Franz von Assisi. Quellenkritische Studie von
Vlastimil Kybal.312
War Deutschland ein Wahlreich? Von Karl Gottfried Hugelmann . 405
Die Urkundensammlung des Codex Udalrid. Von Hans Hussl . 422
Die Don Carlos-Frage. Von Viktor Bibi.448
Beiträge zur Interpretation der Kapitularien zur Lex S&lica. Von Emil
Goldmann. L Teil..575
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel im Zeitalter der
Jagellonen. Von Oskar R. y. Halecki.595
Kleine Mitteilungen:
Ein deutscher GeneralYikar Ludwigs des Bayern in der Lunigiana, Von
Viktor 8amanek.156
Zur Geschichte Ragusas im 14. Jahrhundert Von Margarethe
Rothbarth.161
Zur Prälatenhilfe fttr die Wiener UniYersität im XVL Jahrhundert Von
Johann Loserth.162
Ein Brief des Matthäus von Krakau Aber die Judenfrage (um 1400).
Von GustaY 8ommerfeldt.341
Beiträge zur historischen Topographie OberAsterreichs. Von Konrad
8chiffmann.346
Zn dem FArsten(Pairs)-gericht Von Ernst Mayer .... 497
IV
Seite
Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien. Von Carl v. Peez . 498
Rin Schreiben der Ungarn an die Kurie aus der letzten Zeit des Ta¬
tareneinfalles (2. Februar 1242). Von Fedor Schneider . 661
S. Florian und Rosdorf. Yon Julius Strnadt.671
iteratur und Notizen:
Auerbach, La France et le Saint Empire Romain Germanique döpuis la
paix de Westphalie jusqu* ä la rßvolution fran 9 aise (v. Srbik) 728. —
Aufsätze, Historische Karl Zeumer zum sechzigsten Geburtstage als
Festgabe dargebracht von Freunden und Schülern (v. Wretschko)
166. — Baethgen, Hie Regentschaft Papst Innozenz III. im König¬
reiche Sizilien (Laube-Husak) 746. — Bahnson, Stamm- und Re¬
gententafeln zur politischen Geschichte (Forst-Battaglia) 736. —
Barone, Un documento del aecolo XI impugnato di falsitä e difeso
nella curia del capellano maggiore (Erben) S. 667. — Ders., Intorno
alle studio dei diplomi dei re Aragonesi di Napoli (Erben)
568. — Becker, Das Königtum der Thronfolger im deutschen
Reich des Mittelalters (v. Düngern) 686. — Beschreibung des
Oberamts Münsingen (Tumbült) 736. — Beyerle, Die Urkunden¬
fälschungen des Kölner Burggrafen Heinrich IU. von Arberg
(Stowasser) 360. — Briefwechsel zwischen König Johann von
Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I.
von Preußen, herausgeg. von Johann Georg, Herzog von Sachsen,
unter Mitwirkung von H. Ermisch (Bittner) 656. — Canz, Philipp
Fontana, Erzbischof von Ravenna, ein Staatsmann des XIII. Jahr¬
hunderts (Schneider) 632. — Cartellieri, Heinrich VL auf dem
Höhepunkt der staufischen Kaiserpolitik (Laube-Husak) 745. —
Ders., Die Schlacht bei Bouvines (27. Juli 1214) im Rahmen der
europäischen Politik (Laube-Husak) 746. — Chevalier, Jean de
Berain, Archevöque de Vienne 1218—1266 (Laube-Husak) 747. —
Cohn, Das Amt des Admirales in Sizilien unter Kaiser Friedrich H.
(Laube-Husak) 747. — Diehl, Inscriptiones Latinae (Weiss) 566. —
Dürrer, Ein Fund von rätischen Privaturkunden aus karolingischer
Zeit (Redlich) 400. — Ewald, Siegelkunde. Angefügt: Wappen¬
kunde von F. Hauptmann (Philippi) 510. — Fehr, Die Rechtsstellung
der Frau und der Kinder in den Weistümem (v. Voltelini) 695. —
Festgabe der Berliner juristischen Fakultät für Otto Gierke zum
Doktorjubiläum (v. Wretschko) 165. — Festgabe für Gerold Meyer
von Knonau (J. K. Mayr) 396. — Festgabe, Kirchengeschicht¬
liche Anton de Waal zum goldenen Priesteijubiläum dargebracht,
herausgeg. von F. X. Seppelt (Tomek) 620. — Festschrift Heinrich
Brunner zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von Schülern und
Verehrern (v. Wretschko) 165. — Festschrift Otto Gierke zum sieb¬
zigsten Geburtstag dargebracht von Schülern, Freunden und Ver¬
ehrern (v. Wretschko) 166. — Festschrift des Akad. Historiker-
Klubs Innsbruck (J. K. Mayr) 398. — Festschrift des Akad.
Vereins deutscher Historiker in Wien. 398. — Finkenwirth, Die
Entwicklung der Landeshoheit der Vorfahren des Fürstenhauses
71
801 AA A 30
y
R am 1122—1329 (Laube-Husak) 748. — Forst, Ahnenverlust und
nationale Gruppen auf der Ahnentafel des Erzherzogs Franz Fer¬
dinand (Heydenreich) 393. — Frie, Die Entwicklung der Landes¬
hoheit der Mindener Bischöfe (Laube-Husak) 748. — Gercke und
Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft (Bretholz) 664. —
Ger lach, Die Entstehungszeit der Stadtbefestigungen in Deutsch¬
land (Coulin) 529. — Geyer, Klemens HL 1187—1191 (Laube-
Husak) 745. — v. Grienberger, Himilzora 402. — Grunwald, Samuel
Oppenheimer und sein Kreis, (v. Srbik) 732. — Guglia, Die Geburt»-,
Sterbe- und Grabstätten der römisch-deutschen Kaiser und Könige
(Kretschmayr) 744. — Hartung, Karl V. und die deutschen Reichs¬
stände von 1546—1555 (Bonwetsch) 371. — Heidrich, Karl V. und
die deutschen Protestanten am Vorabend des Schmalkaldischen
Krieges (Bonwetsch) 371. — Hellmann, Wie studiert man Ge¬
schichte? (v. Srbik) 563. — v. Hengeimüller, Franz Räköczi und sein
Kampf für Ungarns Freiheit 1703—1711, 1. Bd. (Th. Mayer) 375. —
Hohenlohisches Urkundenbuch, hgg. von K. Weller u. Ch. Belschner
1IL BcL (Tumbült) 368. — y. Hornstein-Grüningen, Die von Horn¬
stein und von Hertenstein (Stowasser) 401. — Jahncke, Guilelmus
Neubrigensis. Ein pragm. Geschichtsschreiber des 12. Jahrh. (Laube-
Husak) 746. — Jakflch-Fest8chrift (J. K. Mayr) 393. — Köhler,
Die Ketzerpolitik der deutschen Kaiser und Könige in den Jahren
1152—1254 (Laube-Husak) 746. — Konstantin der Große und seine
Zeit. Gesammelte Studien. Festgabe zum Konstantins-Jubiläum 1913
und zum goldenen Priesterjubiläum von Msgr. Dr. A. de Waal,
herpusgeg. von F. J. Dölger (Tomek) 520. — Konstanzer Häuserbuch.
H. B<L, 1. Hälfte (Bretholz) 708. — Kowalski, Die deutschen Köni¬
ginnen und Kaiserinnen von Konrad UI. bis zum finde des Inter¬
regnums (v. Düngern) 690. — Kralik, österreichische Geschichte
Guglia) 559. — Kralik und Schiitter, Wien. Geschichte der Kaiser¬
stadt und ihrer Kultur (Guglia) 559. — Lahusen, Die Siegel der
Grafen von Freiburg (Stowasser) 401. — Lehmann, Vom Mittel-
alter und von der lateinischen Philologie des Mittelalters (Redlich)
568. — Loew, The Beneventan script, a history of the south italian
minuacule (v. Ottenthal) 204. — Matuszkiewicz, Die mittelalterliche
Gerichtsverfassung des Fürstentums Glogau (Kunkel) 531. — v. Mitis,
Studien zum älteren österreichischen Urkundenwesen. 4. u. 5. Heft
(Stemacker) 352. — v. Müller, Bayern im Jahre 1866 und die Be¬
rufung des Fürsten Hohenlohe (Bittner) 657. — Nagl, Die Rechen¬
tafel der Alten (Sturm) 619. — v. Peez u. Dehn, Englands Vor¬
herrschaft aus der Zeit der Kontinentalsperre (Herrmann) 551. —
Rerquin, Recueil g£n£ral des chartes anglosaxonnes (Redlich) 400.
— Ders^ Le Pofcme Anglo-Saxon de Beowulf (Luick) 401. — Platz-
hoff^ Frankreich und die deutschen Protestanten in den Jahren 1570
—1573 (Hasenclever) 373. — Poetsch, Die Reichsjustizreform von
1495, insbeM>ndere ihre Bedeutung für die Rechtsentwicklung
(▼. Voltelini) 541. — Prou, Manuel de pallogr&phie latine et fran-
9“« (v. Ottenthal) 566. — Quellenstudien ans dem historischen
Seminar der Universität Innsbruck, heraosgeg. von W. Erben
VI
Seite
(Steinherz) 197. — Reinitz, Das Österreichische Staatsschnldenwesen
von seinen Anfängen bis zur Jetztzeit (v. Srbik) 547, 751. —
Reynaud, Les origines de 1’ influence Fran9aise in Allemagne (Kern)
402. — Riezler-Festschrift (J. K. Mayr) 395. — Schambach, For¬
schungen zur Geschichte Rainalds von Dassel als Domherrn von
Hildesheim (Laube-Husak) 745. — Schiaparelli, Note paleografiche
(v. Ottenthal) 567. — Schönherr, Die Lehre vom Reiclisfürsten-
stande des Mittelalters (v. Düngern) 692. — Seeliger, Urkunden
und Siegel in Nachbildungen für den akademischen Unterricht.
II. Papsturkunden, bearbeitet von A. Brackmann. ID. Privat¬
urkunden, bearb. von 0. Redlich und L. Groß. IV. Siegel, bearb. von
F. Philippi (Erben) 676. — Scignobos, Politische Geschichte des
modernen Europa (Kretschmayr) 552. — Sohm, Die Schule Johann
Sturms und die Kirche Straßburgs in ihrem gegenseitigen Ver¬
hältnis 1530—1681 (Elkan) 724. — Steinert, Das Territorium der
Reichsstadt Mühlhausen i. Thür. (Heydenreich) 370. — Stur, Die
slawischen Sprachelemente in den Ortsnamen der deutsch-öster¬
reichischen Alpenländcr zwischen Drau und Donau (Unterforcher)
622. — Stutz, Höngger Mciergerichtsurteile des 16. und 17. Jahr¬
hunderts (Peterka) 702. — SzekfÜ, A szamüzött Räköczi (Der
verbannte Riikdczi) (Eckhart) 378. — v. Thalldczy, Studien zur
Geschichte Bosniens und Serbiens im Mittelalter (Jirecek) 722. —
Tigges, Die Entwicklung der Landeshoheit der Grafen von Arns¬
berg (Laube-Husak) 748. — Übersbcrger, Rußlands Orientpolitik
in den letzten zwei Jahrhunderten, I. Bd. (v. Landwehr) 542. —
Ulbricht, Weltmacht und Nationalstaat, vollendet und hcrausgeg.
von G. Rosenhogen (Kretschmayr) 652. — v. Voltelini, Die An¬
fänge der Stadt Wien (Bretholz) 703. — Weißenborn, Mühlhausen
i. Thür, und das Reich (Heydenreich) 368. — Weistümer, öster¬
reichische, gesammelt von der kais. Akademie der Wissenschaften
in Wien, 10. u. 11. Bd. (Peterka) 700. — Wiclif, Die kirchen¬
politischen Schriften (Uhlirz) 711. — Wolkan, Der Briefwechsel
des Eneas Silvios Piccolomini, H. Abteilung (v. Ankwicz) 721. —
Württembergische Geschichtsquellen XIH. Bd.: Urkundenbuch der
Stadt Stuttgart, bearb. von A. Rapp (Tumbült) 367. — Zwingmann,
Der Kaiser in Reich und Christenheit im Jahrhundert nach dem
westfälischen Frieden (Redlich) 724.
Nachtrag zu Stowasser, Die österreichischen Kanzleibücher vornehmlich
des 14. Jahrhunderts.
Erwiderung von Georg Müller.
227
403
Berichte:
Kommisson für neuere Geschichte Österreichs 1914
Monomenta Germaniae historica 1914 .
Kommission für neuere Geschichte Österreichs 1915
213
569
572
Personalien
224
Nekrologe:
Earl Uhlirz (E. v. Ottenthal) .
Thaddäus Smißiklaa (C. JireSek)
Franz Martin Mayer (A. y. JakBch)
P. Florian Watzl 0. C. (V. Schindler) .
Iyo Ltmtz und Milos Yystyd (0. Redlich)
Ferdinand y. Strobl (0. Redlich)
Fritz Grüner (0. Redlich)
vn
Seite
214
217
217
221
222
22S
223
. 224, 673, 749
Eingelaufene Bücher .
Der deutsche Staat des Mittelalters.
Von
Alfons Dopsch.
Seit langer Zeit hat die Geschichte- und Staatswissenschaft sich
mit der Schilderung des deutschen Reiches im Mittelalter befaßt, vor¬
nehmlich auch um den Gegensatz hervorzuheben, der zwischen diesem
und dem Staate neuerer Zeiten besteht Der Gegensatz zu den Verhält¬
nissen vor 1500 ist ja sehr frühe schon nach verschiedenen Richtungen
hin empfunden und bewußt geworden. Auf religiösem Gebiete in der
Beformation *) bereits, aber auch auf juristischem in der Receptions-
periode, ja sogar auf wirtschaftlichem schon bei Bodinus 8 ). Bei ihm
finden wir ferner auch bereits erste Ansätze einer Gegenüberstellung
in politischer Beziehung und es ist längst von anderer Seite bemerkt
worden, wie so Manches hier schon angedeutet wird, was dann bei
Montesquieu im IS esprit des lois eingehender und durchgreifender
auageführt erscheint In der französischen Aufklärungsliteratur ist denn
auch im Kampfe gegen Kirche und Feudalgewalten jenes Bild vom
«Mittelalter* zustandegekommen, das man als Inbegriff der alten pa¬
triarchalischen und privaten Ordnung dem nunmehr scheinbar ganz
neu sich erhebenden „Staate* gegenüberstellte 8 ). Auch die historische
Schule in der Rechtswissenschaft war davon zunächst am Anfang des
f ) VgL H. Günter, Das Mittelalter in der späteren Gesch. Betrachtung. Hist.
Jahrb. 24, 1 fL (1908).
*) Vgl. Methodus c. 7 (Ende).
») Vgl. dazu die Bemerkungen N. Jorgas, Lea bases nöcessaires d’ dune nou
veile histoire du mojen äge. Bucarest (1913) S. 8 f.
2
Alfons Dopsch.
19. Jahrhunderts z. T. noch beeinflußt; doch bahnte die rechtshistorische
Betrachtungsweise schon einen Wandel in der Beurteilung jenes Ab¬
schnittes der historischen Entwickelung, den man seit der 2. Hälfte des
17. Jahrhunderts als eine zusammenhängende, ja ihrem Charakter nach
einheitliche „mittlere“ Geschichtsperiode abgrenzte, mehr und mehr an.
Dem Aufblühen der sog. historischen Hilfswissenschaften kam dabei
eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Je mehr man auf die
ursprünglichen Quellen, besonders urkundlicher Art zurückgriff und sie
für die historische Erkenntnis verwerten lernte, desto mehr konnte
auch die induktive Methode gegenüber der dogmatischen Geschichts¬
betrachtung Baum gewinnen und eine entwicklungsgeschichtliche Er¬
fassung der Vergangenheit sich durchsetzen. Immer deutlicher stellte
sich heraus, daß auch die Zeiten des sog. Mittelalters in lebendigem Zu¬
sammenhänge mit den später folgenden Bildungen, ja der Gegenwart selbst
stehen, daß der starre Gegensatz, den eine dogmatische Geschiehts- und
Bechtsphilosophie angenommen hatte, der Wirklichkeit nicht entspreche.
Allerdings war diese Vertiefung der historischen Forschung noch
lange Zeit auf Einzelfragen rechtswissenschaftlicher Art beschränkt. Das
zentrale Hauptproblem, ob es im Mittelalter denn überhaupt einen Staat
gegeben habe, oder vielmehr statt seiner private Gewalten Träger des
öffentlichen Hechtes von heute gewesen seien — harrte noch durch¬
greifender wissenschaftlicher Klärung. Hier fand die ältere Negations¬
theorie an der aufblühenden Wirtschaftsgeschichte neuen Nährboden.
Denn diese führte naturgemäß von ihrem nächsten Ausgangspunkt, der
Agrargeschichte, her, vorerst zu einer starken Betonung der Grund¬
herrschaft, sowie der von ihr abhängigen sozialen Entwicklungsmo¬
tive. Das Hauptergebnis der wirtschaftsgeschichtlichen Erforschung des
sog. Mittelalters war doch kurzer Hand: „Die Grundherrschaft ist der
Embryo des modernen Staates* 1 ).
Noch heute besitzt diese, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
allgemein herrschende sog. grundherrschaftliche Theorie, nach welcher
die Grundherrschaft der Ausgangspunkt und die Unterlage aller wirt¬
schaftlich-sozialen, dann aber auch der politisch-staatlichen Entwicklung
gewesen ist, nicht wenige Anhänger.
Einer der ersten und erfolgreichsten Kämpfer wider diese Auf¬
fassung, Georg v. Below, tritt nun mit einem zusammenfassenden
Werke, betitelt „Der deutsche Staat des Mittelalters* an dieses
*) So K. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im MA. 1, 669. Ähnlich die
älteren wie G. L. v. Maurer, Einl. z. Gesch. d. Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtver-
fassung und der öffentl. Gewalt 1864, Vorwort p. IV.
Der deutsche Staat des Mittelalters.
3
wichtige Problem der Yerfassungsgeschichte von neuem heran. Der In¬
halt desselben verlohnt hier ob seiner allgemeinen Bedeutung näher
besprochen zu werden, als es etwa in Form einer Rezension geschehen
könnte *).
R hat mit der ihm eigenen Klarheit seine Aufgabe von vome-
herein fest umschrieben. Er will „den Nachweis für den staatlichen
Charakter der deutschen Verfassung des Mittelalters erbringen, indem
er die spezifisch staatlichen Elemente in derselben aufsucht und die
Grenzen ermittelt, innerhalb deren private Beziehungen von der Ver¬
femung Besitz ergriffen haben*. (Vorwort S. VII £).
Der erste Teil des vorliegenden Bandes bietet zunächst eine aus¬
führliche Literaturgeschichte des Problems, in der einmal die allge¬
meinen Schilderungen des mittelalterlichen Staates seit C. L. v. Hallers
»Restauration der Staatswissenschaft* (2. AufL Winterthur 1820 ff.)
(S. 1—37), dann die monographische Literatur seit Rogges 1820 er¬
schienenen Schrift „Über das Gerichtswesen der Germanen“ (S. 38—
100), endlich (3. Kap.) die neuesten zusammenfassenden Darstellungen
des alteren deutschen Rechts (S. 101—111) auf die Frage nach einem
öffentlichen Recht im Mittelalter untersucht und besprochen werden.
Diese m. E. kritisch sehr lehrreiche Übersicht gipfelt in Schlußbe¬
merkungen über die Zulässigkeit einer Unterscheidung zwischen öffent¬
lichem und privatem Recht im MA. Der Standpunkt v. B.s ist durchaus
zu billigen, wenn er es tadelt, daß moderne Vorstellungen in die Ver¬
gangenheit hineingetragen, moderne Ausdrücke auf Institutionen der
alten Zeit angewandt werden, die auf sie tatsächlich nicht passen
(S. 109). Nichtsdestoweniger ist die Behandlung verfassungsgeschicht-
lieher Probleme sicherlich ohne Kenntnis und Anwendung juristischer
Begriffe und Methodik unmöglich (S. 108). Dabei wird aber stets —
das möchte ich zu B.s Ausführungen noch besonders betonen — auch auf
die Unterscheidungen zu achten sein, welche die gleichzeitigen Quellen
selbst machen, u. zw. vorzugsweise jene urkundlichen Charakters. Die
erzählenden Quellen sind terminologisch oft ebenso unbestimmt wie —
die modernen Historiker vielfach!
Wie überaus klärend und läuternd diese Bestimmtheit der Begriffe
auf die geschichtliche Erkenntnis und Beurteilung der Vergangenheit
gewirkt hat, lehrt wohl als klassisches Beispiel Heinrich Brunner für
die fränkische Zeit und ebe j — G. v. Below für die nachfolgende Pe¬
riode des hohen und späteren Mittelalters. Wie kaum ein zweiter
l ) 1. Band: Die allgemeinen Fragen. 1914. Quelle & Meyer. Leipzig
8 *. XX n. 387 S. — Dieser Aufsatz dient zugleich als Rezension des Buches.
!•
4
Alfons Dopsch.
deutscher Gelehrter war v. B. denn auch berufen diese Methode prak¬
tisch mit Herausarbeitung des oben erwähnten leitenden Gesichtspunktes
durchzuführen. Damit beschäftigt sich der zweite und Hauptteil, die
systematische Darstellung.
Zunächst werden die wirtschaftlichen Voraussetzungen
der deutschen Verfassung des MA. ins Auge gefaßt B. be¬
schränkt sich hier auf einige Hauptpunkte, die besonders durch die
grundherrliche oder hofrechtliche Theorie stark in den Vordergrund ge¬
rückt worden waren, insbesondere die Verbreitung der Unfreiheit sowie
der wirtschaftlichen Abhängigkeit in Landwirtschaft und Gewerbe. B. macht
gegen die Anschauung Front als ob die Masse der Gemeinfreien
Grundherren gewesen seien, die von den Zinsen abhängiger Bauern
lebten (Knapp, Wittich, Hildebrand). Er betont nicht nur das Vor¬
handensein zahlreicher Freien allüberall, sondern vor allem auch die
große wirtschaftliche Bewegungsfreiheit dieser Leute. Die Grund¬
herrschaft war keineswegs so geschlossen, als die alte Lehre an¬
nahm. Sie ließ auch den ihrem Kreise ungehörigen Unfreien be¬
trächtlichen Spielraum eigener wirtschaftlicher Betätigung. Ich will
hier zur Unterstützung der Darlegungen B.s nur auf eines noch hin-
weisen. In den Quellen der älteren Zeit ist vielfach von einem Han¬
delsbetrieb durch Unfreie (servi) die Bede. Die ältere Lehre hat dies
sofort in der Weise ausgelegt, daß jene Unfreie für Rechnung der
Herrschaft gehandelt hätten, Handelsangestellte dieser grundherrschaft¬
lichen Großfirmen gewesen seien. Ich habe dagegen Belege aus Capi-
tularien und Konzilsbeschlüssen vorgebracht, nach welchen gar kein
Zweifel bestehen kann, daß Unfreie auch eigene Handelsgeschäfte be¬
trieben und speziell den Überschuß ihrer Wirtschaftsproduktion nach
Begleichung des Zinses an den Grundherrn selbständig verkaufen
konnten 1 ). Das übersehen auch jene Anhänger der alten Lehre, die
das schöne, aber haltlos gewordene Dogma von der * geschlossenen *
Hauswirtschaft nun einschränkend mit der ebenso unbewiesenen Hypo¬
these retten wollen, der Bedarf des täglichen Lebens sei eben noch
nicht außerhalb der „geschlossenen“ Wirtschaft arbeitsteilig produziert
worden (So L. M. Hartmann in Vjschr. £ Soz. und WG. 12, 318).
Die Schlußfolgerung, zu der B. auf Grund dieser Nachweise ge¬
langt, ist zwingend. Da die Grundherrschaft nicht jene alles absor-
*) In meiner »Wirtechafteentwicklung der Karolingerzeit« 2, 223 f. Vgl. dazu
neuestens auch Ad. Zycha, Ans dem alten Reichenhall, Festschrift d. Erzherzog
Rainer Real-Gymn. in Wien 1914, S. 147, sowie desselben Verf. Prag, ein Beitrag
z. RG. Böhmens im Beginn d. Kolonisat.-Zeit (1912) S. 28 und 125.
Der deutsche Staat das Mittelalter
i«u-rende Bedeutung hatte, wie die alte Lehre armafain, muß dem Staate
mehr Baun* xugekommen sein, als ?oß deteo Vetteteni bisher mir zu-
gegeben worden ist
Natürlich hätten in dieses: wirtachaftege^^ .Kapitel noch
eine Reihe anderst Fragen ein bezogen werden können* Vor allem jene,
• b die noch immer yoü der alten grnndherrlichen Theorie abhängigen
<>öschichtek«ustruk1aonen Ui^ih — die mau aber nicht «eiten hm zur
tränkÖKihen Periode ibtid&uern läßt* — äudh wirklich kritischer Unter-
^sehung siaüdhalten. Hat denn der m grauer ür&eit mögliche Zu-
siand völliger Gleichheit und ungeteilten; Gemebueig m Grund und
Buden wirilicfi;- 'noch durch. Mo eilten: chriailiclien. Jidsdknnderte fort-
Stehen tö&Ben t \ SicheriÄ hat die öntndherr&chaffc nach, den von
Casar und T^tus/fe «oralen- Ztotanden damals schon, IM den
ifeauaneu bettenden. Wie wichtig diese Frage gerade ihr das hier
^hegende Ge^anirprobJem iit, werdeu wir alsbald erkeuhtfn, wenn wir
an«: nun den weiteren Darlegung? tj &f über die Ve.mvssung des
Reiches zuwenden. Oft 1 .ßezeieliinmgen -flir.' Au», BÄichsgehiet'lassen'
rond> kernen Anhaltspunkt’ d&ffit 'gewinnen.^ daß der politische Verband
priratrechtlteh anfgcfaßt W«r<te (& 131)* Die Scbwierigkett einiger-
üiatfeu sicherer Erkenntnis hegt hier au E. in dem Mangel entsprechen--
4*r Quellen, sowie der Eigenart der • überhaupt vorhandenen Zeugnisse*
• leibt unentschieden, m* unter den von den Römern Übernommenen
iateimscheii Tenninis im Eim&elfaUe jemals ver^tönden worden i&i Hier
wird doch fühlbar, daß & die Schriften der inittelalterbdieu Theoretiker
prinzipiell nicht berflcä^ichügt hui, wiewohl seine Gründe kiefur ver¬
meidlich genug sind (Vorw, & IX), Vielleicht hätten unter solchen
Umstandim- die TeUnngsurfeimden der Karolingerzeit Beftchtetig verdient,
•Li deren Terminologie den Begriff imptrtum ;*k das CtDsaxnürbiatsge-
biet im Gegensatz zu den einzelnen Teile«, als „ßekh* im späteren
Sinne, Itereits verwendet
Auch die -and Embleme
keinen Beleg
wurde Catet df*& tior : *«.- 2^ir*};w^
der frühkaiolingfcvi^i • ZU Vuwäiw sqÜj
»Koni#» die vornehme Ahfouit
* . . -o: vVßcawSi
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6
Alfons Dopsch.
stehenden Rechte erst seit dem Inyestiturstreite in Deutschland recht
aufgekommen sei Es sind aber langst die Nachweise dafür erbracht
worden, und v. B. kennt sie sicher auch sehr gut, daß solche Begalien
bereits in der fränkischen Zeit vorhanden waren. Auch in meinem
Buche über «Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit“ ist ein
besonderer Paragraph darüber enthalten 1 ). Die ronkalischen Beschlüsse
(S. 148—155) wird man in ihrer allgemeinen Bedeutung nicht über¬
schätzen dürfen. Sicher ist zutreffend, was B. dabei als bedeutsam
konstatiert: der Grundbesitz spielt nicht mehr die namhafte Bolle wie
früher. Ich möchte darin aber nicht eine «neue Situation« erblicken
(B. S. 155). Das war auch in der Karolingerzeit schon z. T. ähnlich^
da die viel verbreitete Anschauung, als ob Karl d. Gr. den Schwerpunkt
des ganzen Finanzwesens in die Verwaltung der kgL Domänen verlegt
habe, eine jener schönen Hypothesen K. W. Nitzschs ist, die immer wieder
von anderen, mit Vorliebe in Handbücher, übernommen wurden, gleich¬
wohl aber mit den Quellen in Widerspruch stehen 8 ).
Allgemeines Interesse kommt der Entwicklung der Reichsper¬
sönlichkeit zu. B. pflichtet für die Urzeit der Meinung Wilhelm
Sickels bei, daß es an Einrichtungen fehlte, die den Staat unabhängig
von seinen Mitgliedern erscheinen ließen (S. 159). Er hat hier, wie
mir scheint, die Konsequenzen aus seinen eigenen richtigen Beobach¬
tungen nicht voll gezogen. Denn er hat ja durchaus zutreffend selbst
unmittelbar darauf doch schon aufmerksam gemacht, daß die Landes¬
gemeinde in wichtigen Handlungen von öffentlicher, allgemein verbind¬
licher Bedeutung (Beschlüsse über Krieg und Frieden, Vornahme von
Wahlen, Freilassung zur Vollfreiheit, Wehrhaftmachung u. a. m.) nicht
nur als Gesamtheit aller einzelnen Mitglieder, sondern als selbständig
für sich stehendes Gemeinwesen auftritt (S. 160). Auch das was Tacitus
über das Verhältnis der principes zur Volksgemeinde berichtet, spricht
durchaus dafür. Sie üben ihre Gewalt im Namen und Auftrag dieser
(c. 11) und B. hat deshalb auch die deutsche Verfassungsform der
Urzeit mit der Republik in Parallele gesetzt (S. 161 £). Vielleicht wäre
es allerdings besser gewesen, hier noch nicht von dem König und einer
Monarchie zu sprechen, wie es B. gleichzeitig doch tut. Aus diesen
principes und den älteren Königen (— Beamten) entwickelte sich dann
dos selbständige Königtum, auf das die Rechte der alten Volksgemeinde
*) 2. Bd. S. 323—344 (§ 14).
*) Vgl. darüber mein Buch 1, 22 und dagegen die Nachweise 1, 110 ff. sowie
1, 166 (geringer Ertrag!).
Der deutsche Staat des Mittelalters.
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immer mehr und mehr übergehen 1 ). Verschwand damit die alte ge¬
nossenschaftliche Verfassung mehr und mehr, oder trat sie doch stark
zurück, so ging gleichwohl der Charakter des Staates nicht verloren.
Denn das Prädikat JStaat 4 ist nicht auf die Genossenschaften zu be¬
schranken, wie hauptsächlich 0. Gierke gelehrt hatte. Darin stimme
ich den Ausführungen B.s durchaus zu. Nur wird seine Motivierung
vielleicht nicht ganz befriedigen. «Man behielte eine gar zu geringe
Zahl Ton Staaten übrig, wenn man einen so engen Maßstab anlegen
wollte* (S. 166). v. B. bekämpft diese Lehre vornehmlich theoretisch
durch Heranziehung der Darlegungen Otto Mayers über «die juristische
Person und ihre Verwertbarkeit im öffentlichen Recht* (1908), sowie
eine Analyse der Staatstheorie Albrechts (Gotting. GeL Anz. 1837). Auch
quellenmäßig läßt sich der Nachweis, daß mit dem Zusammenfällen von
staatlichen und königlichen Beziehungen in der fränkischen Zeit keines¬
wegs ein privatrechtlicher Charakter des Reiches gezeitigt worden sei,
deutlich begründen. Das, was man hauptsächlich für den privatrecht¬
lichen Charakter des kgl Erbrechtes angeführt hat, die karolingischen
Teilungen, lassen noch viel weiter reichende Einschränkungen der privat
geltenden Grundsätze erkennen, als v. B. selbst andeutet (S. 178). Nicht
zwar im Sinne H. Brunners, dessen Auffassung jener Teilungen als
Teilungen der Reichsverwaltung, nicht des Reiches selbst, auch ich mit
Waitz VG. und K. v. Amira (GGA. 1896) bestreiten möchte. Wir
brauchen, glaube ich, zu dieser Hypothese gar nicht unsere Zuflucht
zu nehmen, um zu beweisen, daß «theoretisch eine Gesamtherrschaft
bestand und der Gedanke der Reichseinheit lebendig blieb* (Brunner,
RG. 2, 26). Die Ordinatio Imperii Ludwigs d. Fr. von 817 sichert
für den Fall des Todes des Kaisers dessen ältestem Sohne Lothar aus¬
drücklich eine Obergewalt zu, durch welche die Einheit des Reiches
nach Außen und Innen bewahrt werden sollte 8 ).
Auch andere Argumente für den angeblich privatrechtlichen Cha¬
rakter der königl. Regierungsgewalt der fränkischen Zeit, welche die
ältere Lehre vorgebracht hat, sind nicht stichhaltig. Man hat die Um¬
fahrt des Königs nach seinem Regierungsantritt als privatrechtliche
Form der Besitzergreifung ähnlich dem Erwerbe von Grundstücken hin-
gestellt Schon Rieh. Schröder hat richtig betont 8 ), daß dieselbe nicht
bloß «einen Akt der Besitzergreifung darstellte, sondern auch der Ent-
*) Für diese Verstärkung der Rechtsstellung des Königtums hätte ich statt
aaf A. Meisters VG. doch lieber auf die trefflichen Ausführungen Rieh. Schröders
iDie Franken und ihr Recht) verwiesen. Zu B. S. 164 n. 1.
*) VgL Waiti VG. 4*, 668, sowie 660 n. 1. Dazu mein Buch 2, 337.
J ) DBG* 8. 112.
8
Alfons Dop8ch.
gegennahme der Huldigung diente 0 . Selbst wenn sie ursprünglich *
etwas anderes bedeutete, — nach Bich. Schröder würde sie auf ehemalige J
Priesterstellung hinweisen *) — so wurde sie doch bezeichnenderweise i
bereits am Ausgang der Merowingerzeit als leeres Attribut eines schatten- :
haften Königtums angesehen, wie der bekannte Bericht Einhards in :
der vita Karoli Magni beweist (c. 1).
Die Darlegungen v. B.s von der Staatlichkeit der Verfassung jener ■
königlichen Frühzeit lassen sich auch sonst noch weiter stützen. Denn
er gibt auch hier der priyatrechtlichen Auffassung stellenweise mehr )
zu als nötig ist Wenn er sagt, es gebe damals „noch keinen Reichs- i
tag oder sonst eine Instanz, die das Reich neben dem König darstellt 0 ,
(S. 183), so hat er selbst doch die Richtigkeit dieser Auffassung bereits <
widerlegt, indem er im nächsten Paragraphen schon auf eine von Waitz ;
angeführte Quelle der merowingischen Zeit verweist 8 ), nach der die
Großen des Reiches mit dem König pro utüitate regia et saltUe patriae ,
eine Versammlung abhielten. Näheres über den Reichstag der frän¬
kischen Zeit haben W. Sickel (in dieser Ztschr. Erg.-Bd. I und II),
Waitz VG. 3*, 554 ft, sowie H. Brunner (RG. II, 130) ausgefübrt
Sicherlich hat die Zeit des Investiturstreites die Unterscheidung,
ja Gegenüberstellung der Begriffe „Kaiser* und „Reich* lebhaft ge¬
fördert. Allein die Unterscheidung zwischen eigentlichem Reichsgut
(re# publica) und königl. Privatvermögen (res privata), auf die v. B.
bei dieser Gelegenheit hinweist (S. 185), ist viel älter. Sie kommt zur
Karolingerzeit bereits auch vor, wie ich im Anschluß an A. Heusler
dargelegt habe 8 ).
Wir werden somit die Idee der Reichspersönlichkeit nicht mit
0. Gierke erst seit dem Siege des Wahlprinzipes anzusetzen haben. Ich
schließe mich hier den Darlegungen v. B.s ebenso an, wie in der Auf¬
fassung der großen Reidisreform am Ausgang des MA. Die These
Gierkes, daß das Reich seit dieser eine freie Einung darstelle, halte
auch ich für unvereinbar mit dem notorischen Bestreben der Reichs¬
stände, die Macht im Reiche dem König abzunehmen und an sich zu
ziehen (v. B. S. 189).
Sehr bedeutsam für das Entwicklungsproblem der Reichspersön-
lichkeit scheint mir endlich noch die Ausbildung der Landeshoheit
zu sein. v. B. ist darauf hier nicht eingegangen. Vielleicht bringt
uns der 2. Bd., der u. a. von der Landeshoheit handeln dürfte, dazu
noch Ergänzungen. Wie im Investiturstreit tat sich jetzt wieder ein
*) Ebda. S. 31 n. 16.
>) A. a. 0. S. 191 n. 3.
8 ) Die Wirtschaflsentwicklung der Karolingerzeit 1, 150 tf.
Der deutsche Staat des Mittelalters.
9
Gegensatz zwischen dem Königtum und Fürstentum auf, jenes aber hat
bei dem nun folgenden Kampfe wider die Landesherren mit viel politischem
Geschick die Reichsgewalt in den Vordergrund gerückt, obwohl die
Staufer in ihren Stammesgebieten durchaus wie die anderen Landes¬
haren auffcraten 1 ). Gerade bei den nutzbaren und ertragreichen Hoheits¬
rechten der neuaulkommenden Territorialgewalten wird die Lehens-
rührigkeit vom Reiche in kaiserlichen Diplomen der Stauferzeit nach¬
drücklich betont 2 ). Ein drastisches Beispiel für jenen großen Kampf
ist der Konflikt Friedrichs II. mit dem letzten Babenberger in österreich-
Steier. Der König-Kaiser entzieht dem Herzog seine wichtigsten Ein¬
kunftsquellen, indem er Wien, das bisher eine landesfürstliche Stadt
war. reichsunmittelbar macht Er nimmt wie es in dem Diplom heißt
die Stadt und deren Bürger in seine und des Reiches Gewalt mit
der bezeichnenden Motivierung aus seinem Berufe, gegenüber den Be¬
drückungen des Herzogs für das Wohl des Volkes kraft der ihm über¬
tragenen Staatsfürsorge (cura rei publice) einzutreten 8 ).
Hier ist zugleich auch ein beachtenswerter und meines Wissens
nicht verwerteter Beleg für ein anderes greifbares Kriterium des Staates
gegeben, das Vorhandensein eines Staatszweckes. Er ergänzt die
Ton B. vorgebrachten Quellenstellen, aus welchen hervorgeht daß das
Reich des MA. bestimmte Gemeinschaftszwecke verfolgt habe. Es wurde
im MA. stets als Pflicht des Herrschers ganz allgemein angesehen, das
Wohl des Reiches wahrzunehmen. Allerdings fragt es sich, was da¬
runter zu verstehen ist v. B. wendet sich, glaube ich, mit Recht gegen
r. Inama-Stemegg, der in solchen Wendungen (utilitas regni, salus
populi) bloß einen römischen Nachklang, eine abgelemte römische
Phrase sehen wollte (S. 200). Schon Heinrich Brunner hat den „mittel¬
alterlichen Staat 8 als Kriegs- und Rechtsanstalt definiert 4 ) und als
dessen Aufgabe bezeichnet 5 ), den Frieden im Innern und nach außen
zu schützen.
f ) VgL darüber H. Hirsch, Die Kloßterimmunität seit dem Investiturstreit
(1913) S. 116 ft
*) Vgl. die Urk. Kais. Friedr. I. von 1189 für Freising (über Herzog Leopold V.
von Österreich) Font. rer. Austr. il. 31, 121; dazu meine Beitr. z. Gesch. d. Finanz-
Verwaltung Österreichs in dieser Ztechr. 18, 237 n. 3.
*) Quod nostra interest, co nissum nobis populum utpots qui pro eiu8 Salute
ac de comiesa nobis reipublice cvra et univereitatis regimine generali tenemur eumntu
regi reddere rciiionem . Schwinc. -Dopsch, Ausgew. Urkk. z. VG. österr. S. 75.
«) Sitz.-Ber. d. Wiener Akad. 47, 316 (1864).
*) Quell, and Gesch. d. deutschen Rechts in Holtzendorfls Encyklop&die d.
RechtswiÄ. 1, 235.
10
Alfons Dopsch.
y. B. vertritt dieselbe Auffassung. Ob der Staat des MA. aber
nicht doch auch mehr positive Zwecke sich gesetzt hat? Mit der
8alus oder utüxtas publica nicht doch auch die öffentliche Wohlfahrts¬
pflege gemeint sein konnte? v. B. leugnet es (S. 200£). Aber sind
nicht die bekannten Maßnahmen Karls d. Gr. wider den Preiswucher
(Preissatzungen von 794 und 806) in Zeiten großer Teuerung, sind
nicht die fortgesetzten Bemühungen der fränkischen Könige gegen die
Bedrückung des kleinen Mannes durch die Großen und Mächtigen l ),
ist vor allem auch die nachdrückliche Übung der Verwaltungsgerichts-
barkeit nicht doch »etwas wie moderne Sozialpolitik*? Von Ludwig
d. Fr. rühmen seine Lobredner, daß er gleich nach seinem Regierungs¬
antritt eine besondere Untersuchung angeordnet habe, um dem Un¬
recht in der Justiz zu steuern und sozialer Depression entgegenzu¬
wirken.
Jedenfalls hat die Staatsauffassung in den germanischen Reichen
durch die kirchlichen Einflüsse eine Steigerung erfahren, v. B.
bezeichnet diese als »eine wohltätige Einwirkung der Kirche“ auf dem
Gebiete des Staatsrechts (S. 195). Das ist gewiß zutreffend. Nur möchte
ich doch nicht unerwähnt lassen, wie sehr die Kirche dabei auch im
eigenen Interesse handelte. Je mächtiger der Träger der öffentlichen
Gewalt, desto wirksamer war auch der Schutz, den er ihr angedeihen
lassen konnte. Seit Begründung des Einkönigtums unter Clodovech
wußte sie ja sehr zielbewußt als eine wichtige Aufgabe dieses König¬
tums auch den Schutz der Kirche immer wieder hervorzukehren. Und
genau dasselbe können wir nach den Zeiten des Verfalles königlicher
Gewalt, der ihr doch nur vorübergehend Nutzen, bald aber schwere
Einbuße brachte, dann wieder bei Aufrichtung des Kaisertums be¬
obachten. Es ist schon mehrfach bemerkt worden, daß »der Kaiser der
Kirche noch näher stand und seine Gewalt kirchlichen Zwecken noch
mehr dienstbar machte als der König* (v. B. S. 196). M. E. ward er
dazu durch eine großzügige Politik der Kirche selbst geführt. Sie wußte
es so zu gestalten, daß der deutsche Imperialismus stets auch ihr zu
statten kam. Damit soll keineswegs verkannt werden, wie sehr auch
der Staat sich der Mithilfe der Kirche bei Durchführung seiner Ziele
wirksam bediente und durch sie streckenweise ebenso mächtig gefordert
ward. Gerade in dieser Verbindung und gegenseitigen Durchdringung
der beiden Gewalten liegt ja ein gutes Stück Eigenart der mittelalter¬
lichen Verfassung beschlossen. Hier macht sich in dem Werke v. B.s
*) Vgl. die Quellenbelege in meiner , Wirtschaften twicklung der Karolinger¬
zeit« 2, 15 ff sowie 266 f.
Der deutsche Staat des Mittelalters.
11
doch fühlbar, daß ein Kapitel über das Verhältnis von Staat und Kirche
im MA_ fehlt.
Der staatliche Charakter des deutschen Reiches im MA. kommt ferner
in der rechtlichen Natur der allgemeinen Abhängigkeit»- und Herrschaffce-
rerhaltnisse zum Ausdruck (§ 5. Der Untertanenverband und
die Natur der staatlichen Herrschaft S. 207ff). Denn diese
and nicht auf privatrechtliche Beziehungen zu reduzieren, wie die An .
bänger der Theorie vom Patrimonialstaate glauben machen wollten.
t. B. schließt sich der von Waitz, P. Roth und Sohm vertretenen An¬
sehauung an, daß die Grundlage des Reiches ein allgemeines staats¬
rechtliches Verhältnis, die Abhängigkeit jedes freien Einwohners von
dem gemeinsamen Staatsoberhaupt, bildete, die Verfassung auf der all¬
gemeinen Dienstpflicht der Freien beruhte (S. 210). Das Abhängig¬
keitsverhältnis wurde durch einen Treueid bekräftigt Über diesen hat
E. Mühlbacher eine lehrreiche Untersuchung veröffentlicht 1 ), die B.s
Auffassung noch verstärkt. Daß leudesamio das allgemeine staatsrecht¬
liche Verhältnis der Reichsinsassen zum König bezeichnet und nicht
bloß auf engere persönliche Beziehungen zu diesem deute, wie H. Brunner
annimmt, hatte auch Heinr. Siegel kräftig betont 8 ). Zur Unterstützung
der Ausführungen v. B.s möchte ich noch auf eine sehr wichtige histo¬
rische Erscheinung hinweiseil, die in diesem Zusammenhänge bis jetzt
nicht gewürdigt wurde. Die fränkischen Könige haben wiederholt jede
fönnng verboten, die nicht dem Gemeinwohl diente. Man hat ganz
allgemein die Erklärung dieser Einungsverbote damit gegeben, daß diese
privaten Einungen gegen den allgemeinen Fidelitätseid verstießen. Das
allgemeine Verpflichtungsverhältnis gegen den Staat schloß also jede
private Einung aus, sofeme sie mit dessen Interessen unvereinbar war.
Eine Anomalie gegenüber dem allgemeinen Staatsbürgertum stellt
in dem germanischen Reiche des MA. das Gefolgschaftswesen
dar. Dieses besondere Dienst- und Treueverhältnis wird häufig für den
privatrechtlichen Charakter des mittelalterlichen Reiches ins Treffen ge¬
führt. v. B. betont mit Recht, daß man das persönliche Element, das
der alten Verfassung eigen ist, nicht mit dem privatrechtlichen gleich-
setxen dürfe (S. 221). Das eine konnte neben dem andern, dem all¬
gemeinen Untertanverhältnis, bestehen, wie etwa nach dem preußischen
Landrecht Militär- und Zivilb* diente außer den allgemeinen Untertanen-
pflichten dem Oberhaupte res Staates besondere Treue und Gehorsam
schuldig sind. Ich füge noch hinzu, daß im Falle eines Konfliktes der
’) Die Treupflicht in den Urkk. Karls d. Gr. Diese Ztechr. Erg.-Bd. 6, 871 ff.
*) Deutsche Bechtagesch. (1886) 3. 164.
12
Alfons Dopsch.
Dienstpflicht des Vasallen mit den öffentlichen Untertanpflichten das
fränkische Königtum die Ansprüche des öffentlichen Dienstes, etwa bei
Nichtteilnahme des Herren an der Heerfahrt, doch geltend gemacht hat 1 ).
Dabei soll nicht verkannt werden, daß die [Realisierung dieser Ansprüche
freilich von der tatsächlichen Machtgewalt des Königs abhing, über
welche er den Gefolgsherren gegenüber gerade verfügte.
Am stärksten vielleicht erscheint die Staatlichkeit der Verfassung
des deutschen Beiches im MA. durch die Theorie vom Geschlechter¬
staat in Frage gestellt, die besonders durch H. v. Sy bei vertreten
wurde. Die Annahme, daß der Staat aus dem Geschlecht, Verbänden,
die auf der Gemeinsamkeit des Blutes beruhten (Familie, Sippe), her-
vorgegangen sei, ist heute gerade von den Bechtshistorikem verlassen,
oder doch mindestens deren Gültigkeit in die prähistorische Zeit zu¬
rückgeschoben worden. Wie Heinr. Brunner gegen Sybel, so hat sich
Stutz gegen 0. v. Zallinger, der ihr noch anhing, mit überzeugenden
Argumenten gewendet Auch Bich. Schröder ist der Meinung, daß die
Geschlechter für das öffentliche Becht keine Bedeutung hatten und
diese sich auf die Ortsgemeinde, sowie wirtschaftliche und flurpolizei¬
liche Angelegenheiten beschränkte 2 ).
Sicherlich hat das erkennt B. an (S. 224), die Bedeutung des
Geschlechtes auch in das öffentliche Leben hiueingereicht aber den
Bahmen für die Verfassung hat es in der hier betrachteten Zeit (etwa
seit Beendigung der Wanderungen) nicht gebildet
Auch das Vorkommen von Bezeichnungen wie angelsächs. ecddor -
man oder burgundisch sinista (d. Älteste) für den Hohenpriester kann
nicht zum Beweise dienen, oder gar die Theorie von einem Patriarchal¬
staate begründen helfen, da sie noch nicht besagen, daß die Einrich¬
tungen, auf welche sie zurückweisen, auch noch zu der Zeit bestanden
haben, in welcher sie weiter gebraucht wurden. Das hatte schon Waitz
gegenüber Sybel zutreffend geltend gemacht Hier noch zwei besonders
drastische Beispiele aus der Gegenwart Der Bürgermeister von Laibach
führt noch heute die slovenische Bezeichnung Zupan (— senior rülae,
magister villae ) 3 ) und der oberste Komitatsbeamte in Ungarn heißt
Ober-Gespan, ein Wort, das aus derselben slavischen Wurzel entstanden
ist 4 ). Kein Mensch wird daraus hier und dort für heute die Fort-
*) Vgl. H. Brunner RG. 2, 269.
*) Deutsche RG. * S. 19.
8 ) Vgl. J. Peißker, Die ältere Sozial- und Wirtschafteverfassung der Alpen¬
slaven, Vierteljahrechr. f. Soz. u. Wirt-Gesch. 7, 327.
4 ) Vgl. Miklosich, Die slav. Elemente im Magyarischen, Denkschr. d. Wiener
Akad. 21, 63 n. 955.
Der deutsche Staat des Mittelalters.
13
datier eines Patriarchal Staates, oder einer Geschlechterverfassung folgern
wollen.
Der staatliche Charakter der deutschen Verfassung in
fränkischer Zeit mag erwiesen sein. Aber er wurde, so kann man
entwenden, doch alsbald aufgelöst. Auch Forscher, die einen allge¬
meinen Untertanenverband für jene frühere Zeit annahmen, wie P. Roth,
lasen am Ausgang der Karolingerzeit eine «Lähmung aller öffentlichen
Funktionen* eintreten, die durch das Seniorat erfolgte. Hier setzte
nun die Feudalisierung der Verfassung ein, von einem allgemeinen
Untert&neneid ist nichts mehr wahrzunehmen. v. B. tritt gegen diese
Anschauungen auf. Daß jetzt nicht mehr alle Reichsinsassen, sondern
bloß die Großen den Eid leisten, bedeute keinen Übergang des Unter-
ianenverbandes in den Lehensverband, denn die Mitglieder des neuen
Beichsfürstenstandes, welche so einen Untertaneneid empfangen, bilden
bloß einen Teil der Zwischeninstanzen zwischen Reichsoberhaupt und
Volk. Neben ihnen gibt es noch viele andere, deren Stellung zum
Beiche nicht durch das Lehensband dargestellt ist, so die nichtfürst-
lichen Landesherren und die Städte. Aber auch innerhalb der fürst¬
lichen Gebiete ist ein großer Teil der Exekutivgewalt, die Richter über
eausae maiores, dem König eidlich verbunden, da sie von ihm die
Bannleihe einzuholen haben. Endlich tritt auch noch am Ausgang
des MA. der allgemeine Untertanenverband in gewissen Steuerforderungen
de* Königs (gemeiner Pfennig*) zu Tage. Die Ausbildung der Landes¬
hoheit, welche einen neuen Untertaneneid in den einzelnen Territorien
schafft, bedeutet nach B. nicht eine Auflösung, sondern nur eine Durch¬
brechung des alten Untertaneneides. Das Band, das die Landes¬
herren mit dem Reiche (König) verbindet, war ein öffentlichrechtliches
(B. & 241).
Man wird also doch nur von einer teilweisen Feudalisierung der
deutschen Verfassung im MA. sprechen können; und das gibt ja auch
B. zu (a 235). Übrigens kann schon hier kräftig betont werden,
was v. B. wahrscheinlich auch dem 2. Bd. seines Werkes vorbehielt, — daß
gerade die Ausbildung der Landeshoheit dann ja das Lehenswesen in¬
nerhalb der Territorien gebrochen hat Die Gerichte und Verwaltunga-
imter wurden hier nicht mehr zu Lehen gegeben, sondern durch ein
Undesf&rsÜiches Dienertum (Landrichter, Vögte, Amtleute) ersetzt, dessen
Bestellung nicht mehr lehe. rechtlich, sondern amtsrechtlich begründet
ward!). So setzt, nachdem die Umwandlung der alten Ämter in Lehen
*) Besonders deutlich in Österreich, vgl. meine Darlegungen über > Re form-
kirche und Landesherriichkeit in Österreich« in Festachr. d. akad. Ver. deutscher
14
Alfons Dopsch.
einen nichtigen Anstoß zur Ausbildung der Landeshoheit gegeben hatte,
gerade mit dieser eine Bückbildung des Feudalisierungspro¬
zesses der deutschen Verfassung ein.
Es ist nun wichtig festzustellen, wie weit in Deutschland diese
Feudalisierung gediehen war, welchen Charakter sie hier gewonnen
hatte. Gerade der Umstand, daß Hoheitsrechte, vor allem Gerichtsbe¬
zirke, aus der Hand des Königs an Private übergingen und mit ihnen
auch die Herrschaft über Untertanen, hat ja wesentlich dazu beige¬
tragen, die älteren Anschauungen von der Staatlosigkeit der Verfassung
des MA. hervorzubringen. Und das umsomehr, als die Veräußerung in
Formen vor sich ging, die dem Privatrechtsverkehr (bes. Inmobilien¬
verkehr) entlehnt waren, Verlehnung und Verpfändung. Das Privat¬
recht hatte also, so sagte man, vom Staate Besitz genommen, der Staat
ist nach Analogie des Grundeigentums behandelt worden.
Demgegenüber hat B. eine Beihe wichtiger Beobachtungen ins
Treffen geführt Der staatliche Charakter bleibt an den veräußerten
Bechten haften. Der veräußerte Gerichtsbezirk hört nicht ganz auf,
staatlicher Gerichtsbezirk zu sein, er verlieh vielmehr demjenigen, der
ihn erhielt eine staatliche Stellung (B. S. 247). Der Übergang eines
solchen an einen Privaten hebt diesen sofort aus der Sphäre der pri¬
vaten Verhältnisse heraus. Ich möchte gerade hier daran erinnern, daß
auch Vertreter der sog. grundherrlichen Theorie z. T. schon zu ähn¬
lichen Annahmen sich gedrängt fühlten, wie z. B. Karl Lamprecht doch
mehrfach von „halbstaalichen Gewalten * solcher Grundherren gesprochen
hatte, die öffentliche Bechte erwarben.
v. B. stellt nun direkt die These auf: »Gerichtsbesitz adelt 41 . Es
wird, glaube ich, noch näherer Belege bedürfen, diese These so allge¬
mein zu erhärten. Denn der Umstand, daß die Familien, welche öffent¬
liche Gerichtsbezirke erwerben, später den sog. hohen Adel darstellen,
erscheint mir noch nicht beweiskräftig genug. Man könnte nämlich
diesen Satz m. E. sehr wohl auch umkehren: Hohe Gerichtsbarkeit haben
vor allem doch solche Familien erworben, die bereits eine bevorzugte
Stellung besaßen, wie z. B. in Österreich die Ministerialen. Es geschah
auch innerhalb der Landesherrschaften, ohne daß also überall die Er¬
werbung der Landesherrschaft sich daran hätte anschließen können.
Gleichwohl bleibt unbestreitbar, daß die Erwerbung der öffentlichen
Gerichtsbarkeit den Einfluß und die Stellung ihrer Inhaber wesentlich
hob und verstärkte.
Historiker in Wien 1914, S. 25 ff. sowie Beitr. z. Gesch. d. Finanz Verwaltung
Österreichs im 13. Jh. in dieser Zisch. 18, 2öö ff. bes. 333 f.
Der deutsche Staat des Mittelalters.
15
Gegen die priyatrechtliche Theorie und zu Gunsten der Below’schen
Auffassung möchte ich noch zwei Momente geltend machen. Diese
öffentlichen Gerichtsbarkeiten konnten nicht von jedem Grundherrn er¬
worben werden, sondern es war deren Erwerbung an bes timm te Stan-
desquali taten geknüpft, in Österreich mindestens an das sog. freie
(Herren) Eigen, cL h. aber Grund und Boden, der niemandem (außer
dem Landesherm) pflichtig ist 1 ). Es trat auch das veräußerte Gericht
nicht auf eine Stufe mit dem Grundbesitz schlechthin. Man unter¬
schied dieses öffentliche Gericht bezeichnenderweise als hohes Gericht
von dem niederen und rein grundherrlichen *). Anderseits aber bediente
sich die öffentliche Gewalt (Landesherrschaft) dieser grundherrlichen In¬
haber der veräußerten Gerichtsbarkeit auch weiterhin zur Durchführung
staatlicher Funktionen, wie Steuereintreibung, Truppenaufgebot und
Polizei Es waren also diese Hoheitsrechte dem Staate tatsächlich auch
nach der Veräußerung an Private nicht ganz abhanden gekommen, oder
seiner Einflußsphäre entrückt Und das erklärt sich m. E. zum guten
Teil auch daraus, daß die Veräußerung jener Hoheitsrechte ja vielfach
zunächst vorwiegend wegen der nutzbaren Seite derselben erfolgt war.
Auf die Nutzung der daraus fließenden Abgaben war das Hauptaugen¬
merk der Erwerber doch gerichtet, wie das bei der Verpfändung von
Hoheitsrechten besonders deutlich wird.
Wohl schoben sich mit diesen Veräußerungen von Hoheitsrechten
an Private Zwischenglieder zwischen den König und das Volk, aUein
sie bildeten doch keine starre Scheidewand, sondern vermittelten zu¬
gleich auch eine Durchwirkung von oben nach unten. Ich meine, die
ältere Forschung hat die Bedeutung der Ämter-Feudalisierung in
Deutschland ebenso überschätzt, wie jene der Immunitätsverlei¬
hungen auch. Denn man hat die Folgewirkungen beider mehr
theoretisch konstruiert, als praktisch in concreto, d. h. an der Hand
der Quellen, nachgewiesen. Erst die neueren Untersuchungen haben
da klarere Einsicht geschaffen. Die Immunität bedeutet keineswegs
rollen Austritt aus dem Grafschaftsverband und auch keine völlige Be¬
freiung von allen öffentlichen Lasten. Dazu war, wie schon Theodor Sickel
dargelegt hatte, noch ein besonderes königliches Privileg notwendig.
Daher möchte ich auch nicht mit Waitz und v. B. (S. 254) annehmen,
daß «die Zuweisung der Gebühren und Abgaben das primäre Moment
bei der Immunität gewesen* sei, sondern, wie ich schon vor 10 Jahren
* i VgL 8. Adler, Zur Rechtageschichte des adeligen Grundbesitzes in Öster¬
reich & 43.
*) VgL H. Hirsch a. &. 0. 8. 96 und die dort zitierte Spezialliteratur.
16 Alfons Dopsch.
in dieser Zeitschrift betont habe (26, 347), das Verbot des iniroitus
iudicis publict.
Die Immunität hat auch, vorab in der Karolingerzeit, keine scharfe
Spitze gegen den Staatsverband gehabt, sondern ist vielmehr, wie
Kroell zutreffend ausgefiihrt hat, eine Form gewesen, durch welche ein
Teil des fränkischen Reiches von staatswegen bestimmt geordnet wurde,
u. zw. eingegliedert in den Staat Die alten Privilegien der Erteilung
von Königschutz verschwinden seit Karl d. Gr. mehr und mehr, an
ihre Stelle traten die Immunitätsverleihungen. Sie gewähren, wie ich
dargetan habe, stellenweise auch Schutz wider Bischöfe und Laienge¬
walten mit direkter Unterstellung unter den König l ). Die Immunität
wendet sich also z. T. geradezu gegen die feudalen Gewalten. Sie schafft
was nicht übersöhen werden darf, auch die Reichsabteien, deren freie
Stellung in der deutschen Verfassung kein unwesentliches Glied ge¬
bildet hat Und als nach den staatsfeindlichen Zeiten des sog. In¬
vestiturstreites das Königtum daran geht, den für seine Machtgewalt
so gefährlichen Bund der Reformkirche mit den süddeutschen Dynasten
zu brechen, da tritt als ein Hauptziel die Schaffung und Förderung der
Reichskirche hervor 2 ). Zu der staufischen Zisterzienservogtei muß man
aber auch die zahlreichen Urkundenfälschungen des 12. Jahrhunderts
aus den deutschen Reichsabteien hinzuhalten, will man jenen großen
und wichtigen Verfassungsprozeß richtig werten. Sie suchen ihre Reichs¬
freiheit gegenüber dem Druck der feudalen Gewalten (Bischöfe und
Adel) dadurch zu sichern, daß sie falsche Immunitätsprivilegien auf
den Namen karolingischer Könige anfertigten und der kgL Kanzlei zur
Bestätigung vorlegten 8 )!
Ich habe absichtlich diese Bemerkungen der Darstellung v. B. hin¬
zugefügt, weil, sie das, was Kroell für die Karolingerzeit behauptet
hat, auch für das 12. Jahrhundert in Deutschland bezeugen: die Im¬
munität hat keineswegs nur negative Wirkungen gezeitigt, sie ist nicht
bloß ein Motiv der Auflösung des Staates gewesen, sondern mitunter
auch ein Mittel positiver Förderung staatlicher Ziele.
0. Gierke hat die These aufgestellt, daß das Feudalsystem durch
die freie Einung durchbrochen worden sei, diese als Prinzip der
Freiheit den Feudalismus ablöse, der die Abhängigkeit alles Rechts
vom Grund und Boden, Knechtschaft und Dienst, darstelle. Auch da
tritt m. E. so recht der große Fortschritt zu Tage, den die verfassungs-
*) Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit 2, 110 ff.
*) Vgl. H. Hirsch, Die Klosterimmunität seit dem Investiturstreit S. 111 11*.
s) Vgl. meine Ausführungen in dieser Ztschr. 17, 25 ff. sowie 19, 597 ff.
Der deutsche Staat des Mittelalters.
17
geschichtlichen Studien der letzten Jahre gezeitigt haben. Die ein¬
gehende Bearbeitung der einzelnen Territorien hat gelehrt, daß die
Einung sehr oft geradezu feudalen Zwecken diene (B. 262). Gerade in
der Zunftverfassung, einem charakteristischen Attribut des Feudalstaates,
hat die Einungsbewegung ihr bevorzugtes Feld gehabt Mit Recht be¬
tont B-, daß die Einung verfassungsgeschichtlich mehr negativ wirksam
wurde, als positiv staatsbildend. Selbsthilfe gegenüber Bedrohung von
außen! Sei es der Städte gegen die Fürsten, sei es einzelner Standes¬
klassen sonst zur Aufrechthaltung ihrer Rechte (z. B. der Ritter). Die
Einungen haben keineswegs die Landtage hervorgebracht wie Gierke
meinte, sondern vielfach feudalistische Zwecke (Standesvorrechte) zu
verwirklichen gesucht.
v. B. nimmt an, daß der mittelalterliche Staat im wesentlichen
eine Einungsfreiheit anerkannt habe. Es entspreche das dem losen Ge¬
füge desselben (S. 271). Ich kann ihm darin nicht beipflichten. Denn
das Königtum hat nur die Einungen zugelassen, die den Interessen
des Staates nicht zuwiderliefen. So sind die Einungsverbote der frän¬
kischen Könige, von welchen oben schon die Rede war x ), gerichtet so
ist auch Kaiser Heinrich V. wider eine Einung der Bürger von Cambrai
(gegen den Bischof dort) mit der charakteristischen Motivierung auf¬
getreten, daß sie gegen die Rechte des Reiches gehandelt hätten 2 ).
Ganz ebenso haben später im Territorialstaate die Landesherren alle
Einungen verboten, die nicht auf das Wohl des Landes gerichtet waren,
wie das österr. Landrecht von 1266 sagt (§ 63): Wir seczen und ge -
pieten, das iemand er sei hoch oder nider kain ainigung icht habe , noch
mit aiden besame icht sweren, an das den leuten und dein lande gut
sri und nuczper gemaincleich 8 ).
Lehenswesen, Immunität und Einung haben dem Reiche im MA
Hoheitsrechte in großer Menge entzogen. Von einer absoluten Herr¬
schaft des Lehenswesens aber kann gleichwohl in Deutschland zu keiner
Zeit die Rede sein (B. 276). Auch v. B. erblickt den Höhepunkt der
Beeinflussung der Verfassung durch das Lehenswesen in der allgemein
dafür angesetzten Zeit, am Ende des 12. Jahrhunderts. Die Behandlung
des geistlichen Fürsten als Lehensfürsten, die Begründung der Heer¬
schildtheorie und des neueren Reichsfürstenstandes wie die Entwicklung
der Landeshoheit gelten als bekannte Kennzeichen dafür. B. schlägt
*) Siehe oben S. 11.
*) Vgl Waitz VG. 7, 397.
*) v. Schwind-Dopsch, Ansgew. Urkk. z. VG. österr. im MA. S. 101, sowie
i^eme Bemerkungen dazu im Arch. f. österr. Gesch. 79, 63. r
18
A Ilona Dopsch.
nun vor, man solle zwischen Lehensstaat und Feudalstaat ganz be¬
stimmt unterscheiden, „Feudalstaat ist, sagt B., der weitere Begriff, er
hat sein vornehmstes Charakteristikum in der Veräußerung der Hoheits¬
rechte im allgemeinen, in der relativen Selbständigkeit der lokalen
Gewalten; in dem Dasein von „Staaten im Staate«, in der Privilegierung
der lokalen Gewalten, die wiederum zum großen oder größeren Teil auf
der Veräußerung öffentlicher Hechte beruht Der Lehensstaat kommt
zum Ausdruck in der Beeinflussung der Verfassung speziell durch das
Lshenswesen. Wenn das Lehenswesen gleichfalls eine Entfremdung
von Hoheitsrechten bewirkt, so rechnen wir aus dieser doch nur die¬
jenigen Erscheinungen zum Lehensstait, die gerade durch das Lehens¬
wesen bedingt sind« (B. 280).
B. will die klassische Zeit des Feudalismus dort beginnen lassen,
wo der Lehensstaat seinen Höhepunkt erreicht hat, am Ende des
12. Jahrhunderts. Die Parallele aus dem Sprachgebrauche, daß das lateinische
Wort für Lehen, beneficium, mit dem 13. Jahrhunderte durch die Be¬
zeichnung feudum verdrängt wurde (B. 281 n. 1), trifft freilich nicht
ganz zu. Denn hatte schon Scheffer-Boichorst x ) nachgewiesen, daß dieser
Wandel sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vollziehe, so
zeigt das Ebersheimer Dienstrecht, daß er bereits in der ersten Hälfte
dieses Säkulums einsetzt 2 ).
Ob mit einer solchen Unterscheidung auch viel gewonnen ist? B.
bemerkt, da er die für den Feudalismus charakteristischen Erscheinungen
aufzählt, doch selbst: „Neben allem behaupten sich wichtige lehens¬
rechtliche Einrichtungen« (S. 281). Und er gibt auch zu, daß das, was
am Ausgang des 15. Jahrhunderts dem Feudalismus ein Ende gesetzt haben
soll, die Rückgewinnung der veräußerten Hoheitsrechte, doch auch vorher
schon wiederholt vom Königtum angestrebt worden ist. Nicht nur unter
den Staufern und Rudolf von Habsburg tritt das zu Tage (B. 282), auch
König Albrechts Kampf mit den rheinischen Kurfürsten wäre da zu neDnen.
Ebenso wurden in den Territorien nicht erst „seit dem 15. Jahrhunderte
die verpfändeten Gebietsstücke zurückgewonnen und ein Feldzug gegen
den Feudalismus auf den mannigfaltigsten Gebieten begonnen«, das ist
z. B. in Österreich auch schon weit früher, im 13. Jahrhunderte, der
Fall gewesen 8 ).
*) Ztßchr. f. d. Gesch. d. Ob.-Rheins NF. 4, 299.
*) Vgl. meine Bemerkungen in dieser Ztschr. 19, 605. Dazu auch Wentske,
Ztschr. f. Gesch. d. Ob.-Rheins 25, 60.
B ) Vgl. meine Ausführungen über die Bedeutung Herzog Albrechts L (1282
—98) für die Ausbildung der Landeshoheit in österr. Bll. d. Ver. f. Landesk. v.
Nö. 1893.
Der deutsche Staat des Mittelalters.
19
Andererseits aber wird man nicht übersehen dürfen daß gerade
das, was dem Feudalismus ein Ende gesetzt haben soll, die Reichs-
reform von 1495, tatsächlich an dem Widerstande der Stande gescheitert
ist; daß auf sie das Beichsregiment von 1500 folgte, das durchaus die
Signatur der klassischen Zeit des Feudalismus an sich trägt 1 ). Auch
die großen Verwaltungsreformen Maximilians I., die sich zu Gunsten der
Annahmen Bn noch anf&hren ließen, weisen, wie Walther m. E. zutreffend
betont hat 2 ), sehr stark den ständischen Einschlag und Einfluß auf
Die Ursachen des Verfalles des Feudalismus sind kaum nur ver-
fassungsgeschichtlicher Art gewesen. Sicherlich haben auch die großen
wirtschaftlichen Veränderungen im 15. und 16. Jahrhundert
dazu mitgewirkt Man wird bei der Erörterung dieses wichtigen Prob¬
lems an ihnen nicht ganz Vorbeigehen dürfen. Vielleicht hätte hier
auch die von französischen Forschem neuerdings wieder vorgetragene
These Erwähnung verdient, daß der starke Bückgang der Einkünfte der
feudalen Gewalten (Kirche und Adel) in Folge fortgesetzter Münzver-
fchlechterung am Ausgang des MA. ein außerordentlich wirksames
Motiv für den Buin des Feudalismus gewesen sei 8 ).
Ein wesentliches Charakteristikum des Feudalstaates im MA. ist
die Buntscheckigkeit der Verfassung, die mannigfaltigen Un¬
gleichheiten von Bechten und Pflichten, die Privilegierung der Klassen
und Stände. Sie hängen z. T. mit der Veräußerung öffentlicher Kechte
z usammen, dem verschiedenen Ausmaße, auf welches sich diese erstreckte.
Es wurde ja nicht in gleichem Maße allgemein veräußert, sondern es
wird eine Abstufung bemerkbar, die in naher Beziehung steht zu der
Standesbildung (S. 285). Zum richtigen Verständnis dieser eigenartigen
Erscheinung ist es, glaube ich, notwendig, die Darlegungen v. B.s noch in
einer Richtung zu ergänzen. Die Veräußerung der öffentlichen Bechte
darf nicht bloß als Negativum aufgefaßt werden, als »Mißgeschick«
des deutschen Reiches, das «aus der Not seiner politischen Lage heraus
zu Veräußerungen von öffentlichen Bechten schreiten“ mußte (B. 292
u. 293). Wir wollen nicht übersehen, daß sie auch eine hohe, nicht zu
unterschätzende positive Bedeutung besaß. Gerade darin ruht m. E.
die große Einseitigkeit der Beurteilung mittelalterlicher Verhältnisse, in
der die ältere Lehre befangen war. Auch da haben, meine ich, erst
*) VgL K. Kaser, Deutsche Gosch, i. Ausgange des MA. 2 (1486—1519), 227.
*) Die Ursprünge der deutschen Behördenorganisation im Zeitalter Maxi¬
milians L (1913) S. 19 ff. Dazu meine Bemerkungen in der Deutsch. Literatur¬
zeitung (P. Hinneberg) 1914, Nr. 13 Sp. 822.
*) VgL A. Landiy, essai öconomique sur las mutationa des monnaies dans
r ancienne France de Philippe le Bel ä Charles VIL (1910) 8. 210.
20
Alfons Dopsch.
die neueren Verfassungen und wirtschaftsgeschichtlichen Spezialunter-
suchnngen uns rechte Einsicht vermittelt Die Veräußerung von Hoheits¬
rechten erfolgte nämlich vielfach doch zu dem Zwecke, um staatliche
Aufgaben durchzuführen, öffentlichen Erfordernissen und Notwendig¬
keiten Erfüllung zu gewähren. An einem Punkte hat doch auch v. B.
diese Seite etwas berührt wenn er sagt: „Die Veräußerung der Hoheits¬
rechte war ferner ein direktes Mittel der Führung der Regierung: sie
stand der Verwendung der ordentlichen Einkünfte fast parallel* (S. 283).
M. E. erklärt sich aus diesem positiven Gesichtspunkt aber noch viel
mehr, nämlich geradezu auch die Eigenart der Standesvorrechte der
einzelnen privilegierten Klassen des MA. Die Steuerfreiheit der Ritter¬
lichen hat v. B. selbst doch auch als Unterstützung dafür erklärt daß
sie den für den Staat so wichtigen Reiterdienst zu leisten vermögen
(S. 284). Ferner scheint mir auch die Privilegierung der Bürger (Stapel-
und Bannrechte) so geartet. Sie wurden damit zur Erfüllung ihrer
hohen wirtschaftlichen Funktionen im Staate erst recht befähigt Hierher
wäre auch zu ziehen, was B. in anderem Zusammenhänge später über
die günstigen Folgen des Lehenswesens ausgeführt hat: daß das Lehens¬
system sich innerhalb gewisser Grenzen „als eine für das kgL Interesse
nutzbare Form des Staatsorganismus erwiesen hat* (B. 307). Wie an
der Westgrenze des Reiches die zum Abfalle bereiten Landesherren eben
durch das Lehensband mit dem Herrscher verknüpft wurden, so ward
auch die Ordnung der inneren Reichsverfassung dadurch gefördert, daß
Heinrich L die Herzoge vermochte, ihr Herzogtum von ihm zu Lehen
zu nehmen. In ähnlicher Weise wirkte später das Lehens wesen infolge
Auftragung von bisher eigenkirchlichen Rechten durch die geistlichen
und von Allodien durch die weltlichen Fürsten zusammenhaltend, nicht
bloß auflösend (B. 309). Ja, der Lehenserwerb der kirchlichen Vogteien
durch Friedrich I. hat großen Teils die Grundlage zur Schaffung der
staufischen Hausmacht mitgebildet (B. 310).
Der tiefere Sinn, der bei diesen Veräußerungen von Hoheitsrechten
durch das Königtum ursprünglich mitwirkte, war also, davon soviel
und das an die einzelnen Standesklassen zu überlassen, als zur Er¬
füllung ihrer öffentlichen Aufgaben nötig war. Direkt ausgesprochen
findet sich dieser Grundsatz bei der Erteilung der ältesten Münz- und
Marktprivilegien an geistliche Große durch die letzten Karolinger l ).
Natürlich hat diese Überlassung alsbald dann mit der steigenden po¬
litischen Macht der feudalen Gewalten bei diesen das Bestreben er-
Vgl. J. Lechner in dieser Ztschr. 22, 389 (mil Druckfehler: .Reichszinsfuß«
statt Reichs m ü n z fuß!).
Der deutsche Staat des Mittelalters.
21
weckt, soviel als möglich an nutzbaren Hoheitsrechten in ihre Hände
zu bringen.
Durch die oben gegebene Auffassung der Veräußerung von Hoheits¬
rechten durch das Königtum an Private erklärt sich nun auch die oft
hervorgehobene „Vermischung* von öffentlichen und pri¬
vaten Hechten im MA~, das Ineinanderfließen beider, v. B. wendet
sich gegen diese Art der Darstellung. Der Ausdruck ist tatsächlich
auch nicht zutreffend. Es ist, sieht man schärfer zu, keine «Ver¬
mischung* eingetreten, vielmehr läßt, wie B. mit Recht betont (S. 290),
die Terminologie der Eechtsausdrücke des MA. eine bewußte Unter¬
scheidung verschiedenartiger Berechtigungen erkennen. Man wußte
privatrechtliche und öffentlichrechtliche Befugnisse, auch wenn sie in
die gleiche Hand kamen, zu trennen.
Immerhin möchte ich nicht leugnen, daß eine nähere Beziehung
und ein Ineinandergreifen von privatrechtlichen und öfientlichrechtlichen
Befugnissen zu beobachten ist Ob aber Solches nur dem Mittelalter
eigen ist? Vor allem sollte man, glaube ich, die gewöhnlich, ja am
meisten berufene Verwendung öffentlicher Einnahm en des Herrschers
zu privaten Zwecken, sowie die Deckung öffentlicher Ausgaben durch
private Mittel desselben (v. B. 296) nicht dafür ins Treffen führen.
Wird denn nicht auch heute ein guter Teil der „Zivilliste* moderner
Herrscher (mit Bewilligung des Parlaments) aus öffentlichen Ein¬
nahmen gespeist und umgekehrt aus deren Privatmitteln (in Österreich
„aus der Privatschatulle* des Kaisers) reichlich für öffentliche Zwecke
gespendet?
Daß man in der Karolingerzeit zwischen öffentlichem und Privat¬
gut des Königs sehr wohl zu unterscheiden wußte, ist oben bereits
bemerkt worden 1 ). Und schon Mitte des 12. Jahrhunderts stellte der
bekannte geistliche Publizist Gerhoch v. Beichersberg den Satz auf: De
regni autem facuUate , quae est res publica, non debet a rege fieri do¬
natio privata. Est enim et regibus in p^sterum successuris integre
conservanda aut communicato principum consilio donanda. De re autem
privata tarn a regibus quam a ceteris principibus potest fieri donatio
privata 2 ).
Als eine Eigentümlichkeit des mittelalterlichen Reiches hat man
nicht selten auch das lose Gefüge der Verfassung bezeichnet und
hervorgehoben, daß das Verhältnis der einzelnen Teile zum Reichsober-
haupt nicht durch sichere Rechtsgrundsätze bestimmt, sondern ohne
*) Siehe oben S. 8 n. 3.
*) De aedificio Dei c. 10 vgl. Waitz YG. 8, 243.
22
Alfons Dopsch.
genauere Feststellung schwebend gewesen sei. „Die Feudalmonarchie
entstand, sagt Stahl in seiner Philosophie des Rechts, als ein Band
wechselseitiger Treue, privatrechtlicher Art, als eine Abstufung gleich¬
artiger Herrscher.“ v. B. macht dieser Auffassung auffallend viele Kon¬
zessionen. Aber so Manches, was er als Zeugnis für die geringere
Kraft des Staatswillens anführt, wird auch anders erklärt werden können.
Vor allem möchte ich den Abschluß von Verträgen des Königs mit
Gliedern seines Reiches auch über öffentliche Verhältnisse nicht so un¬
bedingt dazu rechnen. Man wird da mindestens zu unterscheiden haben
zwischen der älteren und späteren Zeit des MA. In letzterer, wohin
jedenfalls das Gros solcher Verträge fällt, dürfte sich vieles wohl doch
auch aus dem veränderten staatsrechtlichen Gefüge der Verfassung er¬
klären. Das Reich von damals läßt sich gar nicht auf eine Stufe mit
unserem modernen Staate stellen, weil der König aus der Mitte gleich¬
berechtigter Fürsten gewählt wurde und seine Machtstellung einer Wahl
verdankte, deren Ergebnis von einer zuvor abgeschlossenen Wahlkapi¬
tulation mit diesen abhängig war.
Auch die erneute Bestätigung von Privilegien seitens der Könige,
durch welche bereits anerkannte Rechtssätze wiederholt werden, wird
man heute mit Vorsicht behandeln müssen. Denn nach den Aus¬
führungen H. Brunners über die altere deutsche Schenkung wird man
auch diese Privilegien aus der Eigenart des deutschen Rechtes zu er¬
klären haben. Das waren Rechte, die als Belohnungen für Treue und
Dienst vom König erteilt wurden, deren Rechtsbestand abhing von der
Fortdauer der rechtlichen Voraussetzungen, unter denen sie zustande
gekommen waren. Ich möchte in der Bestätigung der Privilegien um¬
soweniger ein Schwächezeichen des Staatswillens sehen, als der König
und in den Territorien dann die Landesherren eben daran ein Mittel
zur Durchsetzung ihres Willens besaßen. Sie hängen ja bis zu einem
gewissen Grade auch mit dem fürstlichen Gnadenrechte zusammen, in
dem B. selbst eine Erbschaft des Königtums als Nachfolger der alten
Landgemeinde erblickt 1 ).
Noch mehr als v. B. würde ich die Bedeutung des Gewohn¬
heitsrechtes betonen. Denn so Manches von dem, was man immer
noch als Usurpation bezeichnet, ist doch eigentlich tatsächliche Übung,
gegen die keine Einsprache erfolgte. So scheint mir auch das jüngere
Stammesherzogtum weniger „durch Usurpation aufgekommen* (B. 309),
denn nie ganz abgekommen, älteren Ursprunges zu sein.
') S. 217 ff.
Oer deutsche Staat des Mittelalters.
23
Man hat vielfach den Staat des MA^ besonders seit Haller, als
Patrimonialstaat bezeichnet. Die Herrschaft sei in erster Linie
eine Gewalt über das Gebiet, die Staatsangehörigen Zubehör von Grund
und Boden. Auch da wird mit v. B. schärfer zu scheiden sein. Die
große Bedeutung des Grundbesitzes in der älteren Zeit kann zugegeben
werden, ohne daß man darin die Grundlage der Verfassung sehen müßte.
t. B. erinnert sehr treffend daran, daß der deutsche König gerade in
der Zeit, als der Feudalismus die Reichsverfassung am schärfsten erfaßt
hatte, fast landlos war (S. 316). Diejenigen Elemente der alten Ver¬
fassung, die man tatsächlich als patrimonial ansprechen könnte (grund-
herrliche Gerichtsbarkeit und Eigenkirchenrecht) sind nach v. B. (319)
«doch viel zu gering, um die Bezeichnung des mittelalterlichen Staats
als eines Patrimonialstaats zu rechtfertigen*. Vielleicht ließe sich zu
Gunsten der Auffassung v. B.s noch ein Moment geltend machen. Wir
können nämlich fortlaufend geradezu einen Gegensatz der sog. patri-
monialen Gewalten zu dem Träger der ßeichsgewult beobachten. Die
obaste Gerichtsbarkeit im Reiche wird nicht auf Grund des Landbe¬
sitzes, sondern in Vertretung der Gemeinschaftszwecke gegen die pri¬
vaten Grundherren ausgeübt (Appellationsinstanz!).
Ebensowenig sind die Bezeichnungen des mittelalterlichen Reiches
als Lehensstaat oder Bundesstaat zutreffend. Das Reich ist keines¬
wegs vom Lehensnexus ganz erfüllt Die Grafschaften waren z. T.
allodiai, die Reichsstädte waren nicht Lehen des Königs, ja nicht ein¬
mal alle Reichsritterschaften waren es. Aus demselben Grunde stellen
auch die Unterverbände mit eigenen Untertanenschaften, wollte man
sie als Gliedstaaten eines Bundesstaates auffassen, keine geschlossene
Gruppe dar, weil neben ihnen noch große Kreise sonst am allgemeinen
politischen Leben, vor allem der Reichsvertretung (Reichstag) teilhaben,
wie die Ritter und Städte. Ihre Rechte gegenüber dem Reiche waren
zudem ungleich (gesonderte Kollegien auf dem Reichstag, Viril- und
Kurialstimmen). Erst am Ausgang des MA. lenkte das Reich mit der
Reichsreform in die bundesstaatliche Verfassung ein (B. 326).
Die Ursachen des Feudalismus sind verschiedener Art Eine
Röhe von Forschern hat sie in den wirtschaftlichen Verhältnissen
sehen wollen. Sie haben sicher auch darauf eingewirkt, die eigentliche
Ursache können sie nicht gewesen sein. Denn bei annähernd gleichen
wirtschaftlichen Verhältnissen haben andere Staaten, wie England und
Frankreich, doch einen anderen Charakter der Verfassung, eine starke
Zentralgewalt, hervorgebracht. Und in Deutschland selbst fällt die
Blütezeit der deutschen Städte, „der Stolz Europas* (B. 329), in die
Regierung K. Friedrichs HL, die als Schulbeispiel einer schwachen
24
Alfons Dopsch.
Zentrulgewalt dient Mit ßecht wendet sich v. B. gegen die Sucht ge¬
wisser Forscher, überall Gesetzmäßigkeiten entdecken und nachweisea
zu wollen. Zutreffend betont B.: „von einem besonders gearteten
wirtschaftlichen Zustand aus lassen sich verschiedene Wege zur Ver¬
fassung finden“. Der Feudalstaat ist nicht eine bei allen Völkern unter
bestimmten wirtschaftlichen Voraussetzungen stets vorkommende Ver¬
fassungsform (S. 332). Hier bringt v. B. sehr beherzigenswerte Mah¬
nungen über die vergleichende Geschichtsbetrachtung. Die besonders
geistreich sein wollende Manier, aus gewissen äußeren Ähnlichkeiten
eine volle Übereinstimmung möglichst entfernter Entwicklungskreise zu
konstruieren, um daraufhin die Theorie von einer streng gesetzmäßigen
Entwicklung der Völker aufbauen zu können, erfährt hier durch v. B.
eine scharfe Abfuhr. Ich möchte mich mit B. um so nachdrücklicher
gegen diese Mechanisierungsbestrebungen der Geschichte aussprechen,
als deren Vertretern jedes Verständnis für die ungeheure Mannig¬
faltigkeit geschichtlichen Werdens, die durch den fruchtbaren Einfluß
der Persönlichkeit erzeugt wird, völlig abgeht Jene Richtung bedeutet
mit einseitig kollektivistischer Betrachtungsweise m. E. geradezu eine
Pauperisierung der Geschichtswissenschaft
Auch die Heeres- und Ämterverfassung des deutschen
Feudalismus weist sicherlich einen gewissen Zusammenhang mit den
wirtschaftlichen Verhältnissen auf. Aber es wäre m. E. verkehrt sie
nur aus ihnen erklären zu wollen, v. B. bekennt sich zu der weitver¬
breiteten Theorie H. Brunners, der die Anfänge des Lehenswesens in
der politischen Nötigung zur Aufstellung schwerer Reiterei wider die
Araber sah (S. 337). Ich halte dieselbe nicht für richtig, da die grund¬
legende Voraussetzung, daß die Germanen vor Karl Martell keine Reiter¬
truppen gehabt haben, sicher unzutreffend ist
Und auf der andern Seite! Das Söldnerwesen ist ebensowenig
durch das Aufkommen der Geldwirtschaft bedingt, wie das Lehensheer
durch die Naturalwirtschaft, v. B. hat darüber hier noch nicht ge¬
handelt Die Söldner traten nicht erst Ende des MA. auf, wie die
ältere Forschung z. T. meinte, oder mit Erfindung des Schießpulvers,
was noch heute vereinzelt angenommen wird. Sie kommen vielmehr
schon im 12. Jahrhundert und besonders auch im deutschen Territorial¬
staat vor. Gerade da aber ist auch die Wurzel zu finden, und zwar
verfassungsrechtlich, bedingt durch die Beschränkung der militärischen
Verpflichtungen der Stände auf die Verteidigung des Landes selbst
Das nötigte die Fürsten, für ihre Angriffskriege sowie die Untemeh-
Der deutsche Staat des Mittelalters.
25
mungen über die Landesgrenzen hinaus, Söldner zu gewinnen 1 ). Also
die landständische Verfassung, nicht die Wirtschaft war hier die Ur¬
sache davon. Gerade im 15. Jahrhunderte, im Zeitalter ausgebildeter
Geldwirtschaft, hat Kaiser Friedrich III. die Söldner nie bezahlen können
und die Landstande waren es, die deren Abschaffung vom Kaiser auf
den Landtagen immer wieder verlangten 2 ).
Auch die Argumentation, daß die Hoheitsrechte deshalb veräußert
werden mußten, weil dem Staate noch keine Steuer zur Verfügung
stand, ist m. E. nicht zutreffend Denn tatsächlich hat im Merowinger¬
reich. das man sich doch vorwiegend naturalwirtschaftlich vorstellt, eine
Staatssteuer bestanden. Ich habe den Nachweis versucht, daß sie auch
im Karolingerreich vorhanden war 8 ). Und auch die späteren Versuche
eine Staafcssteuer wieder einzuführen — unter Heinrich IV. hat nicht
nur der König daran gedacht, — sind nicht aus wirtschaftlichen Gründen
gescheitert, sondern aus politischen, wie B. (S. 339) mit Recht betont.
Das Fürstentum wollte keine starke königliche Gewalt aufkommen
lassen.
Mitunter ist der Feudalismus als nationale Erscheinung aus
dem Germanentum heraus erklärt worden. Das ist soweit unrichtig,
als der Feudalismus einmal keine urgermanische Einrichtung ist. Er ist
aber auch nicht spezifisch deutsch, da schon im spätrömischen Reich
die Feudalisierung der öffentlichen Gewalten bemerkbar wird, wie Max
Webers und Rostowzew’s wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen dar¬
getan haben. Man wird also heute kaum mehr die These Roths und
Fickers zu halten vermögen, als ob der romanischen Zentralisation die
germanische Vielgestaltigkeit gegenüberstehe.
Die Ausdehnung des Reiches hat sicherlich auf die Selbst¬
ständigkeit der lokalen Gewalten einen gewissen Einfluß. Allein die Zen¬
tralgewalt ist doch nicht von der Ländergröße so abhängig, als manche
Forscher angenommen haben. Auch v. B. scheint mehr dieser Gruppe
zuzuneigen (S. 346). Aber er hat doch selbst Beispiele dafür namhaft
gemacht, daß große Herrscherpersönlichkeiten diese Schwierigkeiten
glücklich überwanden. Am markantesten wohl Karl d. Gr., dessen
*) VgL d feterr. Landre^ht Art. 55, Schwind-Dopsch, Ausgew. Urkk. z. VG.
Osterr. L Ma. 8. 68 sowie LRU. d 45 ebda. 102.
7 ) VgL Ad. Bachmann, V iutsche Reichsgeech. im Zeitalter Friedrichs III.
1. 314 f.
•) v. B. (8. 339) meint: »in dem ostfränkischen Reich, das sich von dem karo¬
lingischen abteilte, waren die Bezirke mit entwickelterem wirtschaftlichen Leben
zunächst viel zu klein, als daß an eine Steuer zu denken gewesen wäre«. Ygl. da¬
gegen mein Bach 2, 337 ff.
26
Alfons Dop sch.
Reich an Ausdehnung im MA. nie wieder erreicht worden ist. Auch
Frankreich bietet in der gewaltigen Ausdehnungspolitik des 13. —
15. Jahrhunderts ein Beispiel, wie gerade eine starke Zentralgewalt auch
im MA. expansiv wirksam werden konnte. Dazu lassen sich noch Ungarn
unter Ludwig <L Gr., Byzanz und z. T. die Araberreiche des MA. ins
Treffen führen.
Damit sind wir denn auch schon zu dem Einfluß der Persön¬
lichkeit des Herrschers gelangt Gerade das Aufblühen der wirfc-
schaftsgeschichtlichen Studien in Deutschland hat begreiflicherweise zu
einer Überschätzung der wirtschaftlichen Einflüsse auf die Gesamtent¬
wicklung Anlaß gegeben. Hatte man früher alles aus der Herrscher¬
persönlichkeit erklären wollen, so verfielen zahlreiche Historiker neuerer
Zeit in den Fehler des Gegenteils. Immer deutlicher, scheint mir, bricht
sich jetzt eine richtigere universalistische Geschichtsauffassung Bahn.
Mit besonderem Nachdruck hat neuerlich D. Schäfer die Bedeutung der
Emzelpersönlichkeit für die geschichtliche Entwicklung hervorgehoben.
Ihm schließt sich v. B. denn auch in seinem Schlußkapitel an, das die
vielumstrittene Frage der deutschen Kaiserpolitik im MA. be¬
rührt (S. 351 ff.).
Allerdings will mir scheinen, als ob B. die Auffassung Schäfers
stellenweise mehr zugespitzt hätte, als sie vielleicht verträgt. Schäfer
vertritt die Anschauung, daß im Falle einer Wahl Heinrichs des Stolzen
das deutsche Königtum, gestützt auf dessen starke Hausmacht und deren
sächsische Position auch weiter noch bei den Aufgaben im Nordosten
festgehalten worden wäre, während die schwäbische Macht der Staufer
damals, eingekeilt zwischen Sachsen und Baiem, sich naturgemäß über
die Alpen wenden mußte l ). Das ist eine Auffassung, die jedenfalls
sehr beachtenswert ist, selbst wenn man für möglich hält, daß vom
Standpunkt der 1138 vorhandenen politischen Lage auch noch andere
Gesichtspunkte für das deutsche Königtum in Betracht kommen konnten
als dieser. Die Formulierung B.s gibt jener Auffassung m. E. einen
viel exklusiveren Charakter 8 ), zumal er damit auch gleich noch eine
andere Äußerung Schäfers verbindet, daß Deutschland sich nicht von
den Höhen der schwäbischen Alb und den Berghängen der oberrheinischen
Ebene her regieren ließ 8 ). Schäfers Urteil, die leitende Gewalt Deutsch¬
lands gehörte an die ausgesetzten, die entwicklungsfähigen Grenzen,
i) Deutsche Geschichte 1, 267.
*) S. 361: »Das Königtum wurde abgezogen von den Autgaben, die ihm im
Nordosten gestellt waren; nahegelegt dagegen wurde ihm die Wendung nach
Italien«.
*) Deutsche Gesch. 1, 326.
Der deutsche Staat des Mittelalters.
27
ist offensichtlich durch die Erfolge bestimmt, die nachher dort tatsächlich
erreicht worden sind. Das deutsche Königtum war um 1138 sicherlich
aber auch von der geschichtlichen Entwicklung beeinflußt, die das
Beich bis dahin genommen hatte. In dieser aber hatte gerade die ober¬
rheinische Tiefebene eine sehr bedeutungsvolle Bolle gespielt, wie
schon K. W. Nitzsch in einem seiner berühmtesten Aufsätze auseinander
gesetzt hat l ).
Daß auch gleichzeitig sehr urteilsfähige Staatsmänner eine ähnliche
Auffassung wirklich besaßen, beweist doch ein Ausspruch des größten
deutschen Geschichtsschreibers jener Zeit, Ottos v. Freising. Er hat,
indem er von dem Land zwischen Basel und Mainz spricht, geradezu
die Bemerkung gemacht 2 ): »wo ja bekanntlich die Hauptmacht des
Reiches liegt“.
Übrigens hängt die Beantwortung dieses bedeutungsvollen Problems
m. E. von der Entscheidung der ungleich wichtigeren Vorfrage ab, ob
im Jahre 1138 ein starkes Königtum in Deutschland überhaupt möglich
gewesen sei. War dies jetzt nach dem Ausgang des Investiturstreites nicht
der Fall, wie eben die ja keineswegs zufällige Wahl Konrads HL doch
anzudeuten scheint — ihn brachte die kirchliche Partei aus Furcht vor
der starken Hausmacht Heinrichs des Stolzen auf den Thron (!) —
dann ist, glaube ich, die Problemstellung überhaupt anders zu fassen.
Die Lösung der im Osten, nicht bloß Nordosten (!) damals gestellten
Aufgaben, wurde durch jene Wahl keineswegs vereitelt, als Träger der
deutschen Expansion an dieser von Schäfer mit Eecht als entwicklungs¬
fähig bezeichneten Ostgrenze tritt vielmehr jetzt eine Mehrzahl von
Fürsten hervor, die als neue »Landesherren 8 sich jenen Aufgaben mit
voller Konzentration aus eigenem Interesse widmen konnten: lm Norden
und NO. eben Heinrichs des Stolzen Sohn Heinrich der Löwe und
Albrecht der Bär (Askanier), in der Mitte die Wettiner und die Pfe-
mysliden, im SO. aber die Babenbeiger von Österreich—Steier. Sie alle
erfreuten sich bei ihrer so erfolgreichen Arbeit der Unterstützung des
staufischen Königtums. Gerade durch die Wahl des Staufers wurde die
Verselbständigung der askanischen Macht in Brandenburg gegenüber
dem welfisch-sächsischen Herzogtum ebenso gefördert, wie jene der
Babenberger im Süden ggeu dieselbe Macht in Baiem; sie konnten
daraufhin sich doch erst recht entfalten. Deshalb möchte ich auch
nicht mit TL Lindner una v. Below glauben, daß ein konsequentes
*) Die oberrheinische Tiefebene und das deutsche Reich im MA. Preus». Jbb.
30. Bd. (1872).
f ) Ubi masima vis regni esse dinoscitur Gesta Frider. imp. 1 c. 12.
28
Alfons Dopsch.
Vordringen der Deutschen nach dem Osten durch die italienische Politik der
deutschen Kaiser ernstlich behindert worden sei (S. 366 £). Fortgesetzt
greifen sie auch nach Heinrich H. —, es sei nur an Heinrich HL er¬
innert, — im Osten ein, sie benützen die Thronstreitigkeiten der Pfemys-
liden und Arpaden im 12. Jahrhundert, um das böhmisch-mährische
und ungarische Eeich in fester Abhängigkeit vom Reiche zu halten. Im
J. 1157 unternimmt K. Friedrich L unterstützt von dem Böhmenherzog und
den mährischen Fürsten einen Feldzug nach Polen, von dem ein neuerer
Geschichtsschreiber urteilt 1 ), daß er die dauernde Sicherung Branden¬
burgs, Pommerns und Schlesiens für die deutsche Kulturarbeit be¬
deutet habe.
Mähren wird mit Erhebung zur Markgrafschaft (1182) direkt dem
Reich sverbande einverleibt und 1187 auch das Prager Bistum reichs-
unmittelbar. Ich kann nicht zugeben, daß es sich da um „ vereinzelt
gebliebene Eingriffe* der deutschen Kaiser gehandelt habe (B. 367).
Durch die Festigung der politischen Beziehungen im 12. Jahrhunderte
wurde doch erst jene großartige deutsche Kolonisation ermöglicht, die
wir im 13. Jahrhundert allüberall im Osten aufsprießen sehen: In
Böhmen, Mähren und Schlesien, bis nach Polen und Ungarn hinein.
Deutsches Recht, deutsches Städtewesen und auch die Kolonisation des
platten Landes haben ungeahnte Fortschritte dort zu verzeichnen. Aber
auch der deutsche Adel dringt als Großgrundbesitzer nach dem SO. vor,
bis nach Friaul hinab! Ich behaupte geradezu: Rudolfs von Habsbnrg
spätere Ausdehnungspolitik im Osten wäre unmöglich gewesen, ohne
jene große Vorarbeit, die im 12., ja bereits teilweise auch im 11. Jahr¬
hunderte vom deutschen Königtum aus geleistet wurde. Die ganze
Ostmarkenpolitik der Staufer, die in der Lösung und Verselbständigung
der Marken hier deutlich wird (1156 Österreich, 1180 Steiermark, 1181
Meranien) war in letzter Linie doch durch die „unglückliche* Wahl
Konrads IH. bedingt Aber selbst die Zeiten des Investiturstreites, der
unglückseligsten Behinderung des deutschen Königtums durch dessen
italienische Politik, haben in Böhmen unter Herzog Wratislaw eine
feste Verbindung mit dem Reiche gezeitigt und auch im SO. (in Kärnten,
Krain und Istrien) deutsche Adelsgeschlechter wie die Eppensteiner und
Spanheimer (von der Mosel!) zu Macht und Einfluß gehoben 2 ).
Die deutsche Ausdehnungspolitik vollzog sich nicht etwa wie in
Frankreich auf zentralistischer Grundlage, sondern durcn die neu auf-
*) Bretholz, Geach. Böhmens und Mährens bis zum Aussterben der Prem^rs-
lyden (1912) S. 256.
*) Vgl. F. M. Mayer, Die öetl. Alpenländer im Investiturstreite bes. S. 90 ff
Der deutsche Staat des Mittelalters.
29
strebenden landesherrlichen Gewalten, deren Förderung (jüngeres Herzog-
und Fürstentum!) aber doch gerade einer der wesentlichen Programm¬
punkte der staufischen ßeichspolitik geworden ist.
Ich halte deshalb auch jene Auffassung für verkehrt oder min¬
destens sehr einseitig, die in der großen Wandlung des deutschen
Reiches vom Zentralismus zum Territorialismus stets nur ein großes
nationales Unglück sieht und die Schattenseiten davon bloß hervorkehrt.
Dieses deutsche Landesfürstentum hat doch, das wird jetzt erst immer
deutlicher im einzelnen klar, auch positiv ungeheuer viel geleistet und
z. T. jene Aufgaben gelöst, die das Königtum selbst nicht durchzu¬
führen vermochte. Unter anderm auch die Ausdehnung nach dem Osten,
aber nicht nur die Expansion, auch die innere Kolonisation ist sein
Werk, eine Leistung, zu der eine Zentralgewalt kaum ebenso befähigt
gewesen wäre.
Aus dieser Auffassung heraus ergibt sich dann auch die Beurteilung
dar vielumstrittenen deutschen Kaiserpolitik seit Otto I. Ich meine,
nac h den Ergebnissen der neueren Forschung wird objektive Betrachtung
weder Sybel noch Ficker ganz beipflichten können. Beurteilt man sie
nur vom deutschen Standpunkt aus, dann hat Sybel ohne Zweifel darin
Recht, daß sie Deutschland viel Schaden und Nachteile gebracht hat.
So urteilt, wenn ich ihn recht verstehe, auch v. B. (S. 356). Viele
von den durch Ficker und neuere Forscher zur Rechtfertigung jener
Politik vorgebrachten Argumenten schaffen, selbst wenn sie richtig sind^
jene Tatsache nicht aus der Welt. Sicherlich war die Beherrschung
Roms und des Papsttums nicht deshalb nötig, um der deutschen Bischöfe
mächtig zu sein, wie B. (S. 358) richtig darlegt Allerdings möchte
ich hier doch auch nicht die Nachteile ganz unberücksichtigt lassen,
die damals Deutschland schon hätten erwachsen können, wenn eine*
fremde Macht das Papsttum beherrschte.
Sicherlich hat Sybel die üblen Folgen jener Politik übertrieben
wie schon Waitz betonte und auch B. zugibt (S. 363). Manches war
schon vorher im Gange, wie das Aufkommen der bischöflichen Fürsten-
znaeht Anderes hat nicht nur die üblen Folgen gezeitigt, welche
Sybel bloß sah. Das ist für die Umbildung der Verfassung seit dem
Investitursireit oben bereits ausgeführt worden.
Endlich möchte ich die Nachwirkungen der historischen Tradition
nicht ganz außer Acht lass m. Auch D. Schäfer hat dem eine wichtige
Bedeutung da beigemessen *). Die frühere Zugehörigkeit Italiens zum
t) A. &. 0. 8.161: »Und doch kann kein Zweifel sein, daß diese Erinn<rrung
an die Vorfahren] eine Hanpttriebfeder bildete«.
30
Alfons Dopßch.
Reiche war doch noch in lebhafter Erinnerung. Weiters bot der Empfang
der Kaiserkrone in Rom aber auch wichtige Vorteile verfassungsrecht¬
licher Art im Tun ern. Es konnte bereits bei Lebzeiten des Kaisers mit
Bestellung eines Königes die Nachfolge geordnet werden, was doch
schon unter Otto H geschah und in der Folge ob der Verhältnisse in
Deutschland noch mehr Bedeutung gewann. So hätte, wie die Be¬
strebungen Friedrichs des Rotbarts und die erbkönigliche Politik Kaiser
Heinrichs VL andeuten, vielleicht gerade die Verbindung mit Italien eine
feste Zentralgewalt auch in Deutschland wieder aufrichten lassen, wenn
Heinrich VI. nicht vorzeitig gestorben wäre.
Doch ich will mich nicht in Eventualitäten verbreiten, die durch
die tatsächliche Entwicklung überholt sind. Das Urteil Sybels muß,
selbst wenn man seinem Grundgedanken beipflichtet, jedenfalls stark
eingeschränkt werden. Es ist, weil zu einseitig, ganz besonders unzu¬
länglich für die spätere Entwicklung des Reiches.
v. Belows neues Werk bekrönt seinen bereits seit längerer Zeit
wider die grundherrliche Theorie geführten Kampf Es dürfte voraus¬
sichtlich zu erneuter Diskussion Anlaß geben und damit anregend fort¬
wirken. Denn es steht zu erwarten, daß nunmehr von der Gegenseite
gerade jene Fragen in den Vordergrund gerückt werden, die entweder
noch der Einbeziehung harren, oder aber noch derart ungeklärt sind,
daß eine verschiedene Beurteilung möglich ist Möge aus dem »Für*
und „Wider“ auch fruchtbare Erkenntnis reifen!
Über Losungsbücher und Losungswesen böhmischer
Städte im Mittelalter.
Von
Karl Beer.
I. Vorbemerkungen.
Seit dem 14. Jahrhundert waren hierzulande die Stadtbücher
ebenso eine allgemeine Erscheinung wie draußen „im Seiche**). An¬
finge lassen sich auch in Böhmen bis ins 13. Jahrhundert zurückver-
*) Im 22. Bd. der Mitteil, des Ver. f. Gesch. d. Deutschen i. Böhm. S. 56 ff.
hat Prochaska, die bis dahin bekannten Stadtbücher in Übersichtlicher Weise
besprochen. Wenn er meint (8. 69), daß sich in Böhmen nur wenige Stadtbücher
erhalten haben, so kt dem erfreulicherweise nicht ganz so. Es wären jetzt, um
eine vollständigere Übersicht zu gewinnen, einzusehen die Archivskataloge von
Celakovsk/ für Prag und von Siegl für Eger. Weiters Celekovsky,
Codex iurk mtmicip. LL XXIV—XXX. und in Pamätky arch. X (1877): V^skum
▼ archivech zemö Ceskd (Forschung in den Archiven Böhmens). Auf mehrere
Pilsner Stadtbücher verweist Strnad in seinem: Listär kräl. mgsta Pilzng L
X—XL In den oben erwähnten MitteiL behandelt Schlesinger ein Stadtbuch
von Brüx (BdL 20, 104ff), Hieke eines von Leitmeritz (Bd. 28, 334ff.),
Hallwich das von Dux (Bd. 32, 104ff), Katzerowsky ein zweites Buch von
Leitmeritz (BcL 33, lOOff), Rietsch ein solches von Falkenau (Bd. 33,
8. 242 ff) and Horcicka ein interessantes in deutscher Sprache abge&ßtes
Stadtbuch von B.-Kamnitz (Bd. 46, 39ff). Für die Stadt Budweis kommen
neben den Auszügen des Domherrn Pingas, die ans dem verloren gegangenen
Über L vetnstknmns stammen, noch in Betracht ein wertvoller Liber contractuum
erritatk vom Jahre 1396 und eine Liber contract II. Dazu kommen die im nach¬
stehenden behandelten Rechnungsbücher, im besonderen Losungsbücher ver¬
schiedener Städte.
32
Karl Beer.
folgen. Die Anlage des ältesten Prager Stadtbuches, das leider nicht
auf uns gekommen ist, fallt in die Zeit von 1273—1280. Doch läßt
sich noch feststellen, daß in Prag damals schon die verschiedenen Ma¬
terien, wie sie in die Stadtbücher aufgenommen zu werden pflegten,
abgeschieden waren. In den quaterni contractuum vel obligationum,
wie dieses älteste Buch bezeichnet worden war, fanden sich nur Auf¬
zeichnungen privatrechtlicher Natur 1 ).
Auch bezüglich einzelner kleinerer Gemeinwesen steht es fest, daß
man zunächst innerhalb ein und desselben Buches den Stoff nach be¬
stimmten Materien zu scheiden bestrebt war. So lesen wir in dem
alten Stadtbuch von Neubydschow vom Jahre 1311: Et iste libellus
duas habit distincciones. Prima pars est de vendicione hereditatum et
possessionum, secunda de excessibus *). Oder im Prachatitzer Stadtbuch
von 1373 heißt es: ... ordinatus vero per Nycolaum civitatis notarium*
natum Chunradi de Netholicz, ita videlicet, quod in prindpio istius libri
continetur hereditas resignanda et adepta, in medio vero jura civitatis
diversa, in fine autem continentur inhibiciones varie et pejuria 3 ).
In anderen Städten jedoch war man um diese Zeit noch nicht so
weit Im Gerichtsbuch der Stadt Mies (1362—1386) wie in dem der
Stadt Pilsen (1407—1411) finden sich zivil- und strafrechtliche Falle
neben- und untereinander gebucht wie sie eben in den einzelnen Ge¬
richtsverhandlungen an die Reihe gekommen sind, und im Stadtbuch
von Falkenau, das einer noch späteren Zeit (1483—1528) angehört
folgen Privilegien, Statute, zivilrechtliche Eintragungen, Abrechnungen*
Quittungen, Aufzeichnungen über Zinsen u. dgl. unmittelbar aufeinander*
ohne daß irgendwelche strengere Scheidung sichtbar würde. Doch wurde
im Laufe der Zeit hier früher, dort später, ein Schritt vorwärts getan*
indem man bei weiterer Entwicklung der Gemeinwesen und der dami t
zusammenhängenden Mehrung der Aufzeichnungen eine Differenzierung
des Stoffes in der Art platzgreifen ließ, daß für bestimmte Gruppen
gleichartiger Aufzeichnungen ein eigenes Buch angelegt wurde, wo¬
mit in größeren Städten eine ganze Reihe von Büchern mit besonderen
Titeln in die Erscheinung tritt
Und diese Bücher und Titel mehren sich, je weiter man nach der
neueren Zeit vordringt 4 ). Dabei kann man freilich die Beobachtung
! ) Siehe Redlich, Die ältesten Nachrichten über die Prager Stadtbücher und
die böhmische Landtafel. Mitteil. d. Institutes 32, 165 ff.
*) Ed. Kapras: Liber conscientiae civitatis Novobydzoviensis a. a. MCCCXI—
MCCCCLXX. (1907). fol. 13.
») Pam. arch. X (1877) S. 804.
4 ) Vgl. Redlich, Die Privaturkunden des Mittelalters S. 189 ff.
Losungsbüeher und Losungswösen böhmischer Städte im Mittelalter. 33
machen, daß auch in späterer Zeit noch oft Eintragungen in Bücher
hineingeraten sind, wo sie ihrer Natur nach nicht gesucht würden:
einerseits eine Nachwirkung des älteren Usus, der eine weitergehende
Scheidung des Stoffes nicht gekannt hatte, andererseits wohl aus jener
Lässigkeit zu erklären, mit der man mitunter Stadtbücher geführt hat.
ln einer Handschrift des Präger Metropolitankapitels aus der Mitte
des 15. Jahrhunders, auf die man schon öfters verwiesen hat, zahlt ein
Notar nicht weniger als 10 verschiedene Arten von Stadtbüchem auf,
die er in einer der Prager Städte, vermutlich der Neustadt, kennen
gelernt hatte l ). Darunter begegnen wir auch einem „registrum ber-
narum*, <L L Steuerregister oder Steuerbuch, und dies lenkt uns- zu jener
Gruppe der städtischen Kechnungsbücher hin, die man mit gutem
Grunde als Losungsbücher, d. i. Steuerbücher, zu bezeichnen
pflegt Tille 2 ) hat vor mehreren Jahren darauf hingewiesen, daß die
Forschung die zahlreich vorhandenen Rechnungen, Register und Bücher
noch lange nicht genug gewürdigt hat: das gilt auch hinsichtlich der
Losungsbücher, die sich in Böhmen erhalten haben und denen die
nachfolgenden Zeilen gelten sollen.
Die Losungsbücher geben dem Historiker nach vielfacher Richtung
hin, besonders wenn er finanzgeschichtlichen und statistischen Fragen
nahetritt, recht dankenswertes Material an die Hand. Freilich erscheint
(fies mitunter ein wenig spröde, aber wenn sorgfältig gesammelt, ge¬
sichtet und durch anderes, etwa urkundliches Material ergänzt wird, so
kann man zumeist einen recht befriedigenden Einblick in das Getriebe
und Leben der mittelalterlichen Stadt und in ihre Verwaltungsverhält-
nisse gewinnen *). Die alten Losungsbücher enthalten ja nicht allein die
Namen der steuerpflichtigen Stadtbewohner, Vermögensangaben schlecht¬
hin oder die der Steuer unterworfenen Vermögensobjekte nach ihrem
Kapitalwerte und die jeweiligen Losungsbeträge, sondern auch mehr
oder minder detaillierte Verzeichnisse all jener Ausgaben (distributa,
exposita), die mit den Losungsgeldern gedeckt worden sind.
Wenn gleichwohl in der heimischen Literatur Losungsbücher nur
selten zitiert erscheinen, so hat dies darin seinen Grund, daß bis heute
keines dieser Bücher durch Publikation zugänglich geworden ist 4 ). Und
*) Rößler, Deutsche Rechtsaltertümer 1. Bd. L—LL
*) Deutsche Geschichtsblätter Bd. 1, S. 66 ff.
*} Vgl. Bretholz, Geschichte der Stadt Brünn L 8. 383.
4 ) Anders in Deutschland. Hier sind die Rechnungsbücher mehrerer Städte
durch großangelegte Editionen einer allgemeinen Benützung erschlossen worden.
Wir verweisen auf: Knipping, Die Kölner Stadtrechnungen des Mittelalters. 2 Bde.
Bonn 1897—98; Koppmann, Kammereirechnungen der Stadt Hamburg. 7 Bde.
Hamb. 1869—94, u. a. m. Von österreichischen Städten dürfte sich als erste
Mitte ilmifon XXXVI. 3
doch muß in Böhmen Quellenmaterial dieser Art höher eingeschätzt
werden denn anderwärts, weil es hier recht rar ist Selbst die Landes¬
hauptstadt Prag kann an Bechnungsbüchem älterer Zeit, wie ein Blick
in Öelakovsk^s Archivskatalog besagt, nur wenig an die Hand geben*).
Das Schicksal der städtischen Losungsbücher erinnert stark an das jener
Begister, die einstmals bei der Erhebung der allgemeinen Landsteuer
(bema generalis) als Grundlage dienten. Die in den einzelnen Kreisen
des Landes verwendeten Begister müssen einst nach Tausenden gezählt
haben und doch vermögen wir heute nur noch mehr auf 1 Exemplar
zu verweisen 2 ). Dies diente im Jahre 1379 den Kollektoren des Pilsner
Kreises ab Bichtschnur. Ein ähnliches Begister des gleichen Jahres
rührt von den Organen des Prages Erzbischofs her, der auf seinen Gütern
die Erhebung der Generalbema selbst durchführen ließ und eine Pau¬
schalsumme abführte 8 ). Neben dem, daß verheerende Kriege und Brände
den gleichfalb zahlreichen städtischen Losungsbüchem arg mitspielten,
hat man letztere sicherlich auch noch absichtlich der Vernichtung anheim¬
gegeben, da sie ja einen Inhalt bargen, der sie im Gegensatz zu anderen
Stadtbüchem, wie etwa Kontrakten- und Testamentenbüchem, noch am
ehesten gegenstandslos erscheinen ließ. So ist denn auch die Zahl der
aus dem Mittelalter erhaltenen Losungsregister und -bücher eine be¬
scheidene.
Neben dem ansehnlichen, kostbaren Bestand der Egerer Losungs¬
bücher, die die Zeit von 1390 bb 1760 illustrieren, ermittelten wir
noch weitere 14 Losungsbücher, bezw. Losungsregbter. Davon entfallen
auf Prag-Altstadt und Neustadt je 1 Buch, Pilsen 2, Budweb 2 Bücher
und 2 Begister, Mies 4 Bücher und Chrudim 2 Begbterfragmente.
Die ältesten dieser Aufzeichnungen stammen aus der zweiten Hälfte
des 14 Jahrhunderts, also aus jener Zeit, in der das wirtschaftsge¬
schichtliche Quellenmaterial überhaupt reichlicher zu fließen beginnt
Daß es schon viel früher Aufzeichnungen über Städtesteuer gegeben
Brünn mit einer Ähnlichen Edition anreihen, da Bretholz, der jüngste Geschichts¬
schreiber dieser Stadt, deren Losungsbücher, die zu den ältesten Stücken dieser
Stadt zählen, zu edieren versprochen hat (Ders., a. a. 0. VII).
*) Wenn auch nicht gerade aus städtischen, so dürfte doch aus anderen Ar¬
chiven des Landes noch manches hieher zu zählende Quellenstück ans Licht kommen.
Vgl. Lukawsky, Raciones silvarum arcis Carlstein de annis 1428—1431. Prag 1911.
J. Susta, Purkrabekä tiöty panstwi Novohradskäho z let 1390—1391. (Burggrafen¬
rechnungen der Herrschaft Gratzen aus den Jahren 1390—91). Hist. Archiv der
böhm. Franz Joseph-Akademie n. 36. Prag 1909.
*) Emler, Ein Bernaregister des Pilsner Kreises vom Jahre 1379. Abh. der
kgl. bühm. Gesellsch. der Wiss. v. J. 1875/76, 6. Folg. 8. Bd.
») Von ebendems. mitgeteilt im Auszug in Pam. arch. VIII. S. 30 ff.
Loeungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 35
hat, daran ist nicht zu zweifeln. Ist doch letztere eine in der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts deutlich hervortretende Einrichtung. Da¬
mals schon wurde zumindest von den Bewohnern kgl. Städte Losung
erhoben, damit man einerseits die Steuerforderungen des Königs er¬
füllen, andererseits aber auch die verschiedenen kommunalen Bedürfnisse
befriedigen könne. In Prag z. B. wird im Jahre 1299 eine Steuer zu
diesem doppelten Zwecke erhoben und im Zusammenhang damit auch
der Stadtschreiber Magister Petrus erwähnt Da der Stadtschreiber
überall bei dem Losungsgeschäfte nur Schreibgeschäfte versah, während
die Entgegenahme der Steuer die Losungsherren selbst besorgten, so
darf man füglich annehmen, daß es sich damals schon um eine be¬
scheidene Fixierung der Losung handelte. An Steuerbücher freilich
darf deshalb noch nicht gedacht werden, sondern wie anderwärts sind
es wohl auch hier Pergamentstreifen, Bollen oder bescheidene Papier¬
register gewesen, die die Namen der Pflichtigen mit den anderen not¬
wendigsten Notizen enthielten 1 ).
Es sollen nunmehr die erhaltenen Losungsbücher vorgenommen
and nach Anlage und Inhalt in Kürze charakterisiert werden. Wir
glauben, schon durch eine solche Zusammenstellung dem Freunde wirt-
sehaftsgeschichtheher Forschung einen Dienst zu erweisen. Eine er¬
schöpfende Verwertung and Ausnützung dieser Bücher muß als Auf¬
gabe der Zukunft angesehen werden.
IL Die erhaltenen Losungsbücher.
1. Mies.
Wenn wir die Losungsbücher dieser Stadt voranstellen, so hat dies
darin seinen Grund, daß das älteste der erhaltenen Bücher aus ihr
stammt und daß gerade ihre Losungsbücher einer eingehenderen Durch¬
sicht unterzogen werden konnten.
Unter den zahlreichen und zum Teile recht wertvollen Stadtbüchern
der alten Bergstadt, die heute im Musealarchiv zu Pilsen aufbewahrt
werden, sind, soweit das Mittelalter in Frage kommt, 4 Exemplare als
Losungsbücher zu bezeichnen. Wenn wir uns für diesen Namen
entscheiden, so ist dies auch gerechtfertigt. Wohl waren in Alt-Mies
für diese Bücher verschiedene Bezeichnungen zu treffen; man sprach
von einem »über losungaiom*, „registrum* oder „liber bemarum“,
»registrum exactionis* oder „steure*. Am öftesten jedoch wurde die
t) VgL Schönberg, Technik des Finanzhanshaltes der deutschen Städte im
Mittelalter. Münchener Volkswirtschaft! Studien. 103. Stück. S. 97.
36
Karl Beer.
Bezeichnung „über losungarum“, d. L Losungsbuch, angewendet. Man
sieht, daß es sich hinsichtlich der Bücherbenennung um eine ähnliche
Mannigfaltigkeit handelt wie sie rücksichtlich der Termini für die Stadt¬
steuer nachweisbar ist Da ist die Bede von einer: collecta, steura,
bema, losunga, exaccio und selbst bema regalis. Letztere Bezeichnung
wird nur dadurch verständlich, daß die Steuer, die an die kgl. Kammer
abzuftihren war, den wichtigsten Posten unter den Ausgaben repräsen¬
tierte, die aus der Stadtsteuer gemacht wurden.
In ihrem Äußeren stimmen die M. Losungsbücher so ziemlich
überein. Es sind Papierkodizes, ausgestattet mit starken Holzdeckeln
und starken eisernen Schließen. Doch sind Deckel wie Schließen heute
nicht mehr durchaus intakt und das ist ganz begreiflich. Die Bücher,
die einstmals im Mieser Bathaus in einer Lade (ladula) wohl geborgen
waren, haben gerade in neuerer Zeit ihren Aufbewahrungsort, der selbst
nicht immer zweckentsprechend war, mehrmals wechseln müssen.
Die einzelnen Losungsbücher umfassen folgende Zeiten:
Nr. 174 im Pilsner Musealarchiv: 1380—1392. Größe: 20 cm X
28 cm, 96 Blätter, davon 11 unbeschrieben.
Nr. 175 ebendort, 1402—1411. Größe: 22 cm X 30 cm, 169Blätter.
Dazu kommt in diesem Buch noch ein Verzeichnis der Ausgaben einer
Kollekte von 1400. Das Buch wurde um 14 Groschen erstanden.
Nr. 176 ebendort, 1411—1419. Größe: 20 cm X 30 cm, 184 Blätter,
durchaus beschrieben. Der Kodex wurde um 18 Groschen erworben.
Nr. 177 ebendort, 1445—1502. Größe: 20 cm X 30 cm, 360 be¬
schriebene Blätter.
Die Sprache, deren sich die Losungsbücher bedienen, ist die latei¬
nische. Auffallend ist es, daß selbst in vorhusitischer Zeit mehrfach
tschechische Wortelemente eingestreut sind 1 ). Daß das Stadtregiment
in Mies in jener Zeit vornehmlich in deutschen Händen lag, ist nicht
zu bezweifeln; aber ebenso fest steht es auch, daß die städtische Be¬
völkerung einen namhaften tschechischen Einschlag aufzuweisen hatte.
Wenn man bei der Überprüfung der älteren Steuer Verzeichnisse jene
Namen ausscheidet, bei denen eine nationale Zugehörigkeit kaum zu
entscheiden ist, so wird man doch bei dem restlichen Teil der Namen
noch zu jenem Schlüsse kommen müssen.
*) Dies ist vor allen in den Ausgabenverzeichnissen, von denen noch des
näheren gesprochen werden soll, der Fall; mitunter aber auch in den Namenslisten
der Pflichtigen. So heißt es z. B. in der Liste von 1388 (Nr. 174, fol. 69*»): Jan
Koudrle de domo Raczonis znamenyteho iijß. oder ebd. fol. 72 b : Venceslaus trifcu
lator maly iijß u. s. w.
Losungsbücher und Loeungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 37
Und nun zum Inhalte dieser Bücher!
Sie enthalten yor allem die Verzeichnisse der steuerpflichtigen
Stadtbewohner und jener Dorfbewohner, die der Stadt untertan waren.
Die Namen der Pflichtigen sind alphabetisch angeführt und zwar
so, daß zuerst die Bewohner der älteren Stadt, dann die der Neustadt
(nova civitas, praeurbani, suburbani) und schließlich die der Stadtdörfer
folgen. Eine Änderung dieser Anordnung erfolgte im Jahre 1474. Da¬
mals wurde die Stadt in 4 Viertel (quadrae) zerlegt Von nun ab hat
man zunächst die Hausbesitzer innerhalb dieser Viertel, dann die In¬
wohner (inqilini) in ihnen, hernach die Steuerträger auf der Neustadt
und schließlich die pflichtigen Dorfbewohner gebucht
Wir zählten bei der ersten Losung des Jahres 1380 336 pflichtige
Mieser. 1418 betrug ihre Zahl 312 und im Jahre 1445: 286. Für
die Jahre 1474 und 1502 entnahmen wir dem 4. Losungsbuche fol¬
gende Zahlen:
1474 1502
Hausbesitzer im I. Viertel
46
46
» » H. »
57
56
» > HI. >
64
64
> > iv. >
50
52
Inwohner der 4 Viertel
39
35
Steuerträger der Neustadt
43
52
Mälzer
—
7
Summe aller Pflichtigen
299
312
Die Losung zahlten also nicht bloß die Bürger, sondern auch die
Inwohner oder sie traf, wie man gerne sagte, arm und reich (tarn pau-
peres quam divites). Neben reichen Bürgern, die yon mehr als
100 Schocken Losung gaben, begegnen wir Knechten, Fischern, Hirten
xl a. im, die mit 1 bis 2 Sch. eingeschätzt waren. Vom Jahre 1474
ao treten uns die Inwohner im Losungsbuch als eine gesonderte Gruppe
der Stadtbewohnerschaft entgegen. Für die frühere Zeit läßt sich ihre
Zahl nicht genauer ermitteln, so wünschenswert dies wäre. Ohne Zweifel
aber sind alle jene Pflichtigen unter die Inquilini zu rechnen, die mit
entsprechenden Zusätzen registriert wurden, wie: Laurencius sutor in
domo Jeklini Lencz jß oder Wenczeslaus tritulator in domo Czumeri jß.
Man könnte in solchen Fallen allenfalls auch an Pächter denken, aber
dann müßten wohl die Schätzungssummen höher lauten.
Wenn man schon oft darauf verwiesen hat, daß in der mittel¬
alterlichen Stadt Einrichtungen des modernen Staates vorgebildet waren,
so haben wir es hier unzweifelhaft mit einer solchen zu tun; die cha¬
rakteristischen Merkmale moderner Besteuerung: Allgemeinheit und
38
Karl Beer.
Gleichmäßigkeit, sie sind auch hier zu finden. Daß man in Mies an
der Auffassung, der Klerus müsse steuerfrei bleiben, nicht unbedingt
festgehalten hat, zeigt die Nennung des Priors der Kreuzherrenkommende
unter den Pflichtigen (1380). Auch die Juden der Stadt hatten die
Losung mitzutragen.
Durch sämtliche Bücher hindurch läßt sich der Usus verfolgen, daß
rechts vom Namen des Steuerträgers die Schockzahl vermerkt wurde,
die den Kapitalwert der pflichtigen Vermögensobjekte ausdrückte.
Der Stadtlosung war in erster Linie das unbewegliche Vermögen
unterworfen, das vornehmlich bestand in: Wohnhäusern, Ställen, Scheunen,
Verkaufsbänken und Buden, Bädern, Hausgärten, Wein- und Hopfen¬
gärten, Äckern, Wiesen und auch Wäldern. Nur in wenigen Fällen
wurden im 14 Jahrhundert und in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts
die einzelnen Objekte gesondert ersichtlich gemacht, etwa in der Weise:
Michahel judex de aratro in Tyechlewicz xij ß et de domunculata penes
Franconem et stabulo iiiijß (1388, n. 174, fol. 70 b ). Erst in der
2. Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde eine solche Spezifikation zur
Kegel.
Neben dem unbeweglichen war aber auch das bewegliche Ver¬
mögen, das Bargeld, der Losung dienstbar, wie man aus nachstehender
Buchung erkennen mag. Bohuslaus de Sweyssyn de j lan. quondam
Fridrici xxiijß et de parata pecunia de xxijß (1388, n. 174, fol. 75).
Doch hat die Heranziehung des beweglichen Vermögens, die mit der
Selbsteinschätzung rechnen mußte, keine allgemeine und konsequente
Durchbildung und Durchführung erfahren.
Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß auch in Mies in jener Früh¬
zeit, da mit der Stadtlosung der Anfang gemacht wurde, all jene Ver¬
mögensobjekte, die der Losung dienen sollten, einer Taxierung unter¬
zogen wurden. Die Werte, die damals ermittelt wurden und sicherlich
im ältesten Losungsbuch (Register) Aufnahme fanden, haben aber später
Korrekturen erfahren. Zu solchen kam es, wenn sich bei Kauf und
Verkauf neue Werte herausstellten. Daß in der Folgezeit nicht mehr
der ursprüngliche Schätzungswert die Grundlage für die Losung abgeben
mußte, sondern nach dem letzten Kaufwerte gefragt wurde, tun zahl¬
reiche Notizen der Losungsbücher dar, wie etwa folgende: Mesco Hunticz
xviijß et de j quart, quod emit ad Vlricum vjß et viijf'. Wie jeder
Liegenschaftsverkehr zu Änderungen im Losungsbuche führte, das läßt
sich gerade in unserem Falle gut verfolgen, weil zu einigen Jahr an
des ältesten Losungsbuches (1380—1392) die Aufzeichnungen des alten
Gerichtsbuches (1362—1386) parallel laufen. — Kommt es zu einem
Kauf, bezw. Verkauf, so wird das Vermögen des Verkäufers um den
Losungsbücher und Lostmgswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 39
Kaufpreis vermindert, das des Verkäufers aber erhöbt, hier wird bei¬
geschrieben, dort abgeschrieben.
Links von der Namenreihe der Losunggebenden wird in irgend¬
einer Art ersichtlich gemacht, ob die Losung auch entrichtet wurde.
Ursprüglich bediente man sich ganz einfacher Zeichen (C O H-)i später
zog man Buchstaben heran oder aber setzte ein d t (dedit) vor. An der
Spitze der Namensverzeichnisse wurde immer in einem Vermerke ge¬
sagt, wann die Losung beschlossen wurde, wer die Losunger waren und
wie viel Groschen vom Schocke zu geben waren. Auch wird, weil ein
und dasselbe Namensregister bei mehreren Losungen und daher auch
verschiedenen Losungem als Grundlage zu dienen pflegte, bemerkt,
unter welchem Zeichen (signum) oder Buchstaben die jeweiligen Losungs¬
herren die erfolgte Abfuhr der Steuer buchten, bezw. durch den ihnen
an die Hand gehenden Stadtschreiber buchen ließen. Der Stadtschreiber
war es auch, der die Register anlegte (registrum renovare) und dafür
eine angemessene Entlohnung in Empfang nahm. In Mies war es zu¬
meist der Schulmeister (rector scolarum), der das Amt des Stadtschreibers
mitversah; auch in vielen anderen Städten des Landes war dies der Fall.
Nicht erwähnt wird im 14. Jahrhundert, über wessen Beschluß
jeweils die Losung erhoben wurde. Doch dürfte damals schon der Rat
ebenso maßgebend gewesen sein wie im 15. Jahrhundert. Freilich hat
man es in Jahren, in denen die Steuerkraft der Bürger ausgiebiger in
Anspruch genommen werden mußte, nicht unterlassen, die Zustimmung
der Gemeinde einzuholen. So lesen wir z. B. zum Jahre 1492: Ex
consensu communitatis totius pro exolucione iudicii civitatis
nostre et thelonei a dho Kameniczky, quod idem impetraverat a regia
maiestate, exposita est steura per providos viros, magistrum
civium et ceteros consules de sexagena per iiig, cuius collectores
sunt etc. Aus diesem Zitate erhellt übrigens auch, daß man im
15. Jahrhundert in dem Vermerke, der das Namensverzeichnis ein¬
leitete, angab, welchem Zwecke die Losung in erster Linie zu dienen
batte. Eine Abweichung, die sich in ebendiesem Jahrhundert einstellte
(von 1445 ab), war es auch, daß man zu jeder Losung ein neues Ver¬
zeichnis der Pflichtigen schreiben ließ, während man in älterer Zeit, wie
bereits erwähnt, ein und dasselbe Verzeichnis oft für 4 bis 5 Losungen
benützt hatte.
Daß in berücksichtigungswerten Fallen Befreiungen von der Losung
eintraten, wird man begreiflich finden. So notiert das Losungsbuch
Nr. 177, foL 322
Anno domini MCCCCXCIX feria VI ante festurn s. Georgij pro steura
exsumenda dominorum electi seniorum Kaubko braseator et concivium Am-
40
Karl Beer.
brosius doliator, qui eam exsumere debent ex istis, quibns ignis, dum ci-
vitas exusta fuit, nullum fecit nocumentum; hiis itaque, qui ab igne ma-
gnum nocumentum receperunt, hec steura integre est parsa ex consensu
dominorum in pleno consilio.
Was die Zahl der Losunger anlangt, so gab es in Mies ihrer
immer zwei. Einer von ihnen wurde aus dem Rate und der andere
aus der Gemeinde erwählt Es waren zumeist angesehene Bürger, die
zu diesem Amte ausersehen wurden. Männer, die sich eines besonderen
Vertrauens erfreuten, kamen wiederholt zu diesem Amte. Ausnahms¬
weise geschah es, daß der Bürgermeister mit dem Rate die Losung
entgegennahm. Die Losungsherren haben in der älteren Zeit die Steuer¬
gelder nicht bloß einkassiert, sonders auch verausgabt Dies taten sie
das eine Mal auf eigene Verantwortung, ein ander Mal über Auftrag
der Ratsherren (ex mandato dominorum). Selbst der Bürgermeister, der
hier wie in anderen Städten des Landes einen Monat hindurch seines
Amtes waltete, wendet sich an die Losungsherren, wenn er im Interesse
der Stadt irgendwelche Auslagen zu machen hat
Die Losunger werden für ihre Mühewaltung insofeme entschädigt
als sie während ihrer Amtszeit auf Kosten der Stadt zehren. Bevor
sie die Entlastung erhalten, haben sie vor dem Rate und der Gemeinde
Rechnung zu legen. Zumeist hat man es bei dem Losungsgeschäfte so
gehalten, daß alles Geld, das durch die Losung hereinkam, durch die
Losungsherren gleich wieder ausgegeben wurde; es handelte sich zu¬
meist um eine ganze Reihe von Zahlungsverpflichtxmgen, die sich nicht
mehr aufschieben ließen. Unter solcher Voraussetzung werden Ein¬
tragungen der Bücher verständlich, wie die folgende:
Anno domini millesimo CCCLXXXXI proxima feria sexta post fe^tum
pasche fecit Jehlinus pistor et Frenczlinus Stauffer racionem in pretorio
coram pleno consilio et conciuitate de losunga de sexag. per medium al-
terum grossum tarn de perceptis quam de expositis ita, quod summa
utraque concordauit. Est autem summa in universo CXLIII^ß.
(Losungsb. Nr. 174, foL 90 Ä ).
Betont will es sein, denn dies ist für die Stellung der königlichen
Städte gegenüber dem Landesherm charakteristisch, daß die Geldge-
bahrung der Losunger auch noch einer Überprüfung durch landesherr¬
liche Beamte unterworfen war. Alljährlich pflegte der Hofrichter und
ein oder mehrere Notare des Unterkämmerers einzutreffen, um den ge¬
samten Finanzhaushalt der Stadt einer Kontrolle zu unterziehen. Ein¬
tragungen, wie die nachstehende, finden sich in den Mieser Losungs-
büchem etliche:
Loffungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 41
Anno domini millesrmo CCCCIX 0 dominiea vocem iocunditatis dominus
Laureneius judex curiae civitatum regalium et dominus Johannes notarius
domini subCamerarii visitaverunt oivitatem et perceperunt racionem
tarn perceptorum quam distributorum, bernarum et aliorum
jnrium, ita quod in Omnibus summa concordauit (Losungsbuch Nr. 17 5,
foL 141*).
Die Ansage der Steuer erfolgte in der Stadt durch den Büttel
(praeco); auf die Stadtdörfer wurden Boten (cursores) hinausgeschickt,
um die nötige Mitteilung zu machen. Die Entgegennahme der Losung
erfolgte auf dem Bathause und nahm mehrere Tage in Anspruch. Gerne
pflegten sich die Losunger auf den letzten Blättern der Losungsbücher
anzumerken, wie groß die Eingänge an den einzelnen Tagen waren.
Die Höhe der von der Bewohnerschaft geforderten Losung sowie
auch die Zahl der Losungen, die in einem Jahre durchgeführt wurden,
richtete sich nach den jeweiligen Bedürfnissen der Stadt Auf jene
beiden Momente muß man Bücksicht nehmen, wenn man die Belastung
der Steuerträger richtig beurteilen will.
Man verlangte vom Schock Vat li lVg, 2, ja selbst 3 und 4 Groschen.
Da in den Listen alles steuerpflichtige Vermögen im Kapital werte und
zwar in Schocken ausgedrückt war, so ließen sich die Losungsbeträge
der einzelnen leicht ermitteln. Wenn es Jahre gab, in denen man nur
einmal Losung forderte, so gab es auch solche, wo man 2, ja 3 mal an
die Steuerzahler herantrat Im allgemeinen kann man sagen, daß das
damals in Übung stehende Steuersystem viel Anpassungsfähigkeit an
die jeweiligen Erfordernisse besaß; es hat der Städter nach Jahren
stärkerer Inanspruchnahme doch auch wieder Jahre der Erleichterung
verzeichnen können. Doch noch eines erhellt aus den Mieser Büchern:
mit vorrückender Zeit werden die Steuerforderungen größer. Zur Be¬
leuchtung des Gesagten fügen wir 3 Tabellen bei, die die Steuerver¬
haltnisse in vorhusitischer Zeit veranschaulichen sollen. In der folgen¬
den Zeit ist die Steuerlast der Stadt nur noch größer geworden.
Nach dem Losungsbuch von 1380—1392.
li 1
Vg» Vg» i
i, V*. 1*1*
3
42
Kail Beer.
Jahr
Zahl der jähr¬
lichen Losungen
Die bei den einzelnen Ijosungen
geforderte Anzahl von Groschen
Die im Jahre ge¬
forderte Anzahl von
Groschen (bezogen
auf das Schock)
1383
1
IV,
i V,
1384
2
i% V.
2
1385
2
1V„ 1‘/,
3
m
2
1. 1
2
raj
1
1
1
1388
1
V.
V,
1389
2
V„ 1
i 1 !*
1390
2
1, l 1 /.
1391
2
If 1
2
1392
2
1, 1
2
Es sind demnach in der Zeit von 1380—1392 25 Losungen
durchgeführt worden. Dabei kommen 7 Verzeichnisse der Pflichtigen
in Anwendung und zwar in folgender Verteilung:
Ein 1. Verzeichnis dient 4 Losungen als Grundlage
2 .
4
» »
8 .
»
3 »
» »
4 .
»
4
> »
5 . »
»
1 Losung
» »
6 . »
2 Losungen
» >
7 . »
»
7
» »
Nach dem
Losungsbuch von 1402—1411.
Jahr
Zahl der jähr¬
lichen Losungen
Die bei den einzelnen Losungen
geforderte Anzahl von Groschen
Die im Jahre ge¬
forderte Anzahl von
Groschen (bezogen
auf das Schock)
1402
3
2, 2, 2
6
1403
3
2, 1, 1
4
1404
4
2, 1, 2, 1
6
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 43
Jahr
Zahl der jähr¬
lichen Losungen
Die bei den einzelnen Losungen
geforderte Anzahl von Groschen
Die im Jahre ge¬
forderte Anzahl von
Groschen ([bezogen
auf das Schock)
1405
3
2, 1, 1
4
1406
4
2, 1, 1V 8 , 1
5 7*
1407
2
1, 1
2
1408
4
1, 1, 1, 1
4
1409
3
I 1 /*, 1, 1 Vs
4
1410
3
i7„ i, 17»
4
1411
3*)
i, i, i
3
+ 2
i, i
2
Nach dem Losungsbuch von 1411—1419.
Jahr
Zahl der jähr¬
lichen Losungen
Die bei den einzelnen Losungen
geforderte Anzahl von Groschen
Die im Jahre ge¬
forderte Anzahl von
Groschen (bezogen
auf das Schock)
1411
2
i, i
•>
1412
2
2 l /s* 11 |a
4
1413
4
i. iV*. 7», i7»
47,
1414
5
17», i7*. i, iV», i7*
7
1415
3
2, 17», 2
5 7»
1416
2
1'/», 2
37»
1417
3
17», 2, 2
57»
1418
3
—— - r
1 7», 2, 2
57»
1419
2
2, 2
4
*) Für das Jahr 1411 sind auch im 3. Losungsbuch 2 Losungen rgjistriert.
44
Karl Beer.
Wenn im Jahre 1380 vom Schocke Vermögen 1 Groschen ver¬
langt wurde, so ergab sich eine Losung von ungefähr 90 Schock
Groschen. — Wird um das Jahr 1445 gleichviel vom Schock gefordert,
so ergibt sich der halbe Betrag. Aus der verschiedenen Anzahl der
Steuerzahler allein (1380:336, 1445:286) kann diese auffallende Diffe¬
renz nicht erklärt werden, sondern wir müssen auch noch annehmer^
daß die Steuerkraft der Mieser Bevölkerung nachgelassen hat oder anders
gesagt, daß ihr Besitzstand, ihr Vermögen nicht mehr so groß waren
wie in vorhusitischer Zeit.
Es hatten Losung zu geben
Im Jahre 1380
Im Jahre 1445
von 1— 2 Schock
130
125
108
106
von 10— 20 Schock
44
30
von 20— 30 Schock
18
15
von 30— 40 Schock
12
4
von 40— 50 Schock
6
2
von 50— 60 Schock
2
2
von 60— 70 Schock
6
1
von 70— 80 Schock
1
—
von 80— 90 Schock
2
—
von 90—100 Schock
1
—
von 100—150 Schock
3
1
von 150—200 Schock
Summe
3
336
286
In den älteren Losungsbüchem (Nr. 174, 175 und 176) finden sich
ausführliche Verzeichnisse aller Ausgaben, die die Losungsherren aus
den eingenommenen Geldern machten. An der Spitze der Verzeichnisse
erscheinen die Titel: Distributa, Exposita oder Tradita.
Losungsbücher und Losungswestn böhmischer Städte im Mittelalter. 45
Anders im Losungsbuch von 1445—1502. Hier sind nur mehr
ganz kurze Notizen zu finden, die besagen, welche Losungsbeträge die
Losunger an den jeweiligen Bürgermeister abgeführt haben. Damit
schwindet aus den Losungsbüchern ein interessantes kulturgeschicht¬
liches Material, um uns jedoch andernorts wieder zu begegnen.
In der Hand des jeweiligen Bürgermeisters laufen nunmehr die
verschiedenartigen Einnahmen der Stadt zusammen, der sie genau bucht
und ein gleiches mit den zahlreichen Ausgaben tut, die unter seiner
Amtsführung notwendig wurden. So ist es denn kein Zufall, daß in
Mies in der Zeit, da die Losungsbücher aufhören, Ausgabenverzeichnisse
zu bringen, eine andere Büchergruppe hervortritt, welche über alle
Einnahmen und Ausgaben der Bürgermeister Aufschluß gibt Die Losungs¬
herren haben eben in dem Maße als Finanzorgane der Stadt eingebüßt,
als das Bestreben, Einnahmen und Ausgaben in der Hand des Bürger¬
meisters zu zentralisieren, gestiegen ist
Das älteste erhaltene Buch der neuen Gruppe umfaßt die Zeit von
1466—1471. Daß es nicht das erste gewesen ist, geht aus dem Titel
hervor, der sich auf foL 1 findet: Registra continuata. Ein zweites
Buch dieser Art gibt über die Jahre 1494 bis 1517 Aufschluß. Wie
aus diesen Büchern erhellt, hat jeder Ratsherr, der das Amt des Bürger¬
meisters (dignitas prothoconsulatus) innegehabt hatte, bei seinem Rück¬
tritt vor dem gesamten Ratskollegium Rechnung gelegt, wobei er sich
auf die erwähnten Bücher stützte. War in der Kasse bei der Rech¬
nungslegung Bargeld vorhanden, so ging dies an den nächsten Bürger¬
meister über. Doch kam es nicht selten vor, daß der abtretende Proto-
konsul mehr Geld ausgelegt hatte, bezw. hatte auslegen müssen, als er
eingenommen hatte. Daraus erklären sich Eintragungen wie die fol¬
gende: Tenentur ei (d. i. dem gewesenen Bürgermeister) domini post
racionem factam 1*| 2 ß et V 2 g (1466).
Und nun wollen wir noch einen Blick in die Ausgabenverzeich¬
nisse der älteren Losungsbücher tun, um ihrem Inhalt etwas näher
zu treten.
Da fallt uns zunächst eine Jahr für Jahr wiederkehrende Steuer
auf, die gewöhnlich an zwei Terminen (Maria Lichtmeß, bezw. Georgi
und Martini) an den Unterkämmerer des Königs unmittelbar durch die
Stadt abgeführt wird. Die Ijosungsbücher nennen diese Steuer bema
regalis (regia), kurzweg ber a oder auch summa regis.
Wenn der König ursprünglich neben der allgemeinen Landessteuer
(bema generalis) fallweise mit Steuerforderungen an die königlichen
Städte und Klöster, die als zur königlichen Kammer gehörig angesehen
wurden, herangetreten war, so wurde im Laufe des 14. Jahrhunderts
46
Karl Beer.
aus dieser außerordentlichen Steuer von schwankender Hohe eine ordent¬
liche Jahressteuer, die fiir jede königliche Stadt und jedes königliche
Kloster in bestimmter Höhe fixiert wurde. Ein Verzeichnis, das aus
den letzten Jahren des Königs Wenzel IV. (1418—19) stammt, laßt
uns jene fixen Steuerleistungen deutlich erkennen« Mies entrichtete
darnach 140 Sch. Gr. im Jahre. Man sollte nun meinen, an der Hand
der Losungsbücher diesen alljährlichen Steuerbetrag leicht nachweisen
und verfolgen zu können. Doch nein, aus diesen Büchern läßt sich
nur das eine Faktum ableiten, daß alljährlich eine Steuer an die
königliche Kammer abgeiührt wurde, deren Höhe jedoch sich nach
Addition der gebuchten Einzelposten fast von Jahr zu Jahr verschieden
darstellt Wir müßten eben auch einen Einblick in die ganze Kor¬
respondenz und in all die Verhandlungen haben, wie sie hinsichtlich
der Steuer zwischen Stadt und Kammer vor sich zu gehen pflegten,
dann würden uns die Abweichungen von jener Summe, ob sie sich
nach oben oder unten hin bewegen, verständlich werden« Da wurde
dem König oder dem Unterkämmerer zuliebe das eine Mal die Steuer
zum Teile oder ganz im voraus bezahlt und ein anderes Mal wieder
handelt es sich um Rückstände oder um Steuernachlaß; auch der Um¬
stand vermehrt die Übersicht nicht, daß die ganze Jabressteuer oder
Teile derselben für längere oder kürzere Zeit durch den König irgend¬
welchen Gläubigem verschrieben worden waren. So floß die Mieser
Königssteuer häufig den benachbarten Herren von Schwanberg zu 1 ).
Eine häufige Erscheinung der Losungsbücher ist es, daß bei der
Abfuhr der Losung mit den Parteien Abrechnungen vorgenommen
wurden. Zumeist waren es Handwerker, die nach gelieferter Arbeit
Ansprüche an die Stadt hatten und die nun bei Entrichtung der Losung
beglichen wurden, indem man jene Beträge von der Losung abrechnete
(defalcare).
Nicht selten hat der Bat, wenn er in finanzieller Verlegenheit war,
bei reicheren Bürgern Anleihen gemacht Auch solche Gelder wurden
gelegentlich der Abfuhr der Losung auf obige Weise zurückerstattet Auch
die Judenschaft der Stadt wie nicht minder die von Eger und Pilsen
hat den Miesem Geld vorgestreckt, wodurch diese in unliebsame Ab¬
hängigkeit von jenen Faktoren kamen. Die von der Judenschaft ge¬
forderten Zinsen waren in jener Zeit sehr beträchtlich und so wird
man es begreiflich finden, wenn es zwischen christlicher und jüdischer
*) Ygl. auch Celakovsky, Codex jur. municip. II. n. 801 u. 842.
Lofftmgsbäcber und Lorangswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 47
Bevölkerung in Mies wie anderwärts nicht selten zu Reibungei
kam l ).
Die königliche Jahressteuer bildete, wie gesagt, den Hauptposten
unter den Ausgaben der Losungsbücher; durch sie wurde aer größte
Teil der Einnahmen aufgebraucht
Für den König hieß es weiter auch Auslagen bestreiten, wenn er
die Stadt mit seinem Besuche beehrte, wie dies 1380 und 1381 der
Fall war. Was er hiebei mit seinem Gefolge (cum familia) verbrauchte
und verzehrte, das ging auf Rechnung der Stadt Diese ließ es weiters
nicht daran fehlen, durch Ehrungen und Geschenke die Gunst des Königs
zu erlangen und zu erhalten. Da wanderte manches Fäßchen Wein
oder Bier nach den königlichen Residenzen Pürglitz (Purglems) oder
Bettlern (Mendicum) in der Voraussetzung, daß diese Dinge beim «Herrn
König* An klang finden würden.
Neben dem König nahmen dessen Beamte im Aufwand der Stadt
Tiel Raum ein. Obenan stehen die Forderungen und Ansprüche (jura)
des Unterkämmerers, an den sich die Stadt aber auch in all ihren An¬
liegen wendet Dem Unterkämmerer kommen Abgaben zu, wenn er
sein Amt antritt und wenn er scheidet, wenn die Steuer abgeführt
wird und wenn die Ratsemeuerung vor sich geht
Ähnliches gilt vom Hofrichter, auf dessen Funktion bereits ver¬
wiesen wurde. Aber auch das Personale (familiae), das den genannten
Beamten unterstand, machte Ansprüche geltend. Kommen landesherr¬
liche Organe in die Stadt oder durch die Stadt, so besorgt diese für
eine angemessene Strecke die Fahrgelegenheit oder stellt die Pferde bei.
Dem Unterkämmerer gegenüber ließ man es außerdem auch an Ge¬
schenken nicht fehlen.
Dazu kommen die vielfältigen Ausgaben, die im unmittelbaren In¬
teresse des städtischen Haushaltes zu machen waren. Da müssen zu¬
nächst die Ansprüche der verschiedenen städtischen «Diener* befriedigt
werden: es sind die3 der Stadtschreiber, Schulmeister, Schreiber des
Biehters, Büttel, Boten, Wächter (Turm-, Tor-, Flur- und Wegwächter),
Henker u. s. w. Auch die Gesandten, die an den König oder den
Ünterkämmerer abgehen oder über Aufforderung des Königs (ex mandato
f ) HiefÜr auch ein Beleg einem Formelbuch (Sig: C nr. 1) des fürstlichen
Schwarxenberg’schen Archives in Wittingau: Vobis judici et iuratis in Myza auc-
toritate domini noetri regis et virtute officij nobis commissi stricte praecipiendo
mandamua, quatenus judeum Trostlinum ibidem dictum Nigrum in aliquo non
uztpediatis ipsum in pace persedere dimittentes. (fol. 78 b ; aus der Zeit König
Wenzels IV.).
48
Earl Beer.
oder iussu regis) am Landtage teilnehmen, erhalten ihre Reiseent¬
schädigung.
Daran reihen sich die Handwerker und Arbeiter, die für die Stadt
Bauten und Reparaturen durchführen (Maurer, Zimmerleute, Fuhrleute,
Bnmnenmeister, Wegmacher u. s. w.). Die Herstellung der Stadtbe¬
festigung (Mauern, Türme, Tore, Brücken) und deren Instandhaltung
macht große Beträge aus und bildet eine ständige Rubrik. Dasselbe
gilt von der Instandhaltung der Brunnen, des Pflasters und der Wege
innerhalb und außerhalb der Stadt
Auch über Schule und Kirchen finden sich interessante Eintragungen;
sie betreffen deren Bau, Reparaturen und Einrichtung. Da heißt es
z. B. zum Jahre 1390: Item domino Egidio monacho iussu tocius con-
silii pro comparandis libellis sermocinalibus XVg.
Die verschiedenen Angaben, die das Rathaus (praetorium) betreffen,
gestatten uns auch von diesem ein beiläufiges Bild: der Grund, auf dem
es steht, ist bereits zweckmäßig kanalisiert, das Dach ist mit Ziegeln
gedeckt, eine Uhr dient ihm zum äußeren Schmucke wie es im Innern
an Wandmalereien nicht fehlte (Ausgang des 14. Jahrhunderts).
Wie die Ratsherren selbst wenn sie im Amte waren, auf Speise
und Trank (Wein, Bier, Brot) nicht vergaßen und die Ausgaben dafür
auf Rechnung der Stadt buchen ließen, so geizten sie auch niemals mit
der „Propina*, wenn Gäste aus einer der Nachbarstädte erschienen
waren.
Besondere Ausgaben erheischte schließlich die volle Wehrhaftigkeit
der Stadt Was da für Waffen, Munition, Geschütze und Rüstungen,
für Proviant und Sold ausgegeben wurde, bildet ganz erkleckliche
Summen. Es war ja nicht allein Sache der Stadtbewohner, ihr eigenes
Heim gegen den Feind zu schützen, sondern sie haben auch an der
Bekämpfung äußerer Feinde und an der Landfriedenswahrung regen
Anteil genommen.
Schließlich wollen wir nur noch erwähnen, daß sich in den rück¬
wärtigen Partien der Losungsbücher, zumeist wenig übersichtlich, ver¬
schiedene Eintragungen finden, die mit der Losung mehr oder minder
enge Zusammenhängen: so über die an den einzelnen Tagen einge¬
gangenen Losungsgelder, über Schuldforderungen der Stadt an einzelne
Bürger und umgekehrt, über die Hohe der Stadtschuld u. a. m.
2. Budweis.
Eine alte Nachricht, die mit dem Steuerwesen in Budweis zu¬
sammenhängt, gehört in das Jahr 1346 x ). Ihr zufolge erwählten die
*) Celakovks?, a. a. 0. no. 207.
Losungsbücher und Losungsweeen böhmischer Städte im Mittelalter. 49
Bewohner der Stadt und der Stadtdörfer eine achtgliedrige Kommission
;4 Mitglieder aus dem Bäte, 4 aus der Gemeinde), deren Aufgabe es
sein sollte, Hofstätten (areas seu fundos domorum) und Grundbesitz
(agros sen hereditates) der Städter wie auch den Grundbesitz bei den
Stadtdörfem gewissenhaft abzuschätzen. Mi!; dieser Schätzung sollte
sich jedermann zufrieden geben, widrigenfalls ihn Strafe treffen müßte.
Wenn es auch nicht gesagt wird, so ist doch kein Zweifel zu hegen,
daß durch diese Taxierung die Grundlage für die fernere Erhebung der
Lesung in der Stadt und in den zu ihr gehörigen Dörfern gegeben war.
Ans dem Jahre 1384 datiert sodann das älteste der erhaltenen
Losnngsregister. Es ist dies ein Papierheft von 11 Blättern
(1 Blatt wurde herausgeschnitten), von einer Höhe von 21 und einer
Breite von 15 cm. Auf fol. 1 lesen wir an der Spitze des Namens-
Terzeichnisses der Pflichtigen: Hec collecta inposita est die dominica
Adorate colligenda per tres grossos per Marschonem et Henslinum cer-
donem juratos, Johlinum Chamneri et Pitlawerum conciues. Anno do-
mini Millesimo CCCCLXXX 0 quarto. Darauf folgen, nach den Häusern
der 4 Viertel geordnet, zunächst die Namen der Bürger und jener In¬
wohner, die Grundbesitz aufzuweisen hatten; daran schließen sich die
Vorstadter, die Inwohner ohne Grundbesitz und die losungspflichtigen
Bewohner der 12 Stadtdörfer. Wir zählten:
im Quartale Pacawerj.
79
Pflichtige
» > judicis.
90
» » Dratlini.
77
»
» , Stephlini.
90
>
in der Vorstadt (praeurbium) ....
30
»
Inquilini (Inwohner).
180
Summe aller Pflichtigen in der Stadt
546
Die Übersicht über die einzelnen Berufsgruppen, wie sie unter dem
Titel , Inquilini* angeführt werden, gestaltet sich folgendermaßen:
Pistores (Bäcker): 13
Lanifices (Wollarbeiter): 3
Institores (Krämer): 16
Cerdones (Gerber): 2
Vectores (Puhrwerker): 5
Sutores (Schuster): 11
Bntseatores (Mälzer): 8
Sartores (Schneider): 20
Currifices et fabri (Wagner und
Schmiede): 13
Salsatores (Salzfischhändler): 13
Penestici (Hökler): 16
Pmimifrces (Tuchmacher): 10
Punifices (Strickmacher): 3
Pincemae (Schankwirte): 16
Corrigiatores et pellifices (Riemer und
Kürschner): 11
Linitrices (Leineweber): 6
Gladiatores, frenatores, sellatores
(Schwertfeger, Zäumer, Sattler): 2
Inquilini: 10
Textores (Weber): 4
Picariatores (Pecherer): 3
Ferratores (Eisenarbeiter): 2
Calcariatoree (Sporer): 1
Orlogista (Uhrmacher): 1
4
50
Karl Beer.
Das die beruflichere Gliederung der ärmeren Bevölkerung, der In¬
wohner.
Die Zahlen der Pflichtigen in den Stadtdörfem waren folgende:
Strodanicz (Strodenicx): 23
Ladans (Lodus): 7
Brod (Brod): 16
Puhurt (Puh arten): 5
Yeler (Dirnfellern): 6
Lines (Hlinz): 11
Dubicz (Dubiken): 9
Schintlhoff (Schindlhöf): 11
Wess (Wes); 5
Husen (Hakelhöf): 9
Wrbye (Böhm.-FeUern): 7
Leutmanicz (Leitnowitz): 15
Rechts von der Namenreiche der Pflichtigen erscheint das unbe¬
wegliche Vermögen, ohne weiter spezifiziert zu sein, in Schockzahl an¬
gegeben. Das bewegliche schließt sich an. Doch es ist die Budweiser
Losung nicht lediglich Vermögenssteuer, sie trifft auch, wie aus der
Liste erhellt, Gewerbe und HandeL
Links von der Namenreibe wurde durch ein d t (dedit) ersichtlich
gemacht ob die Abfuhr richtig erfolgt ist Randliche Bemerkungen,
wie »vadium dedit 4 besagen, daß Pflichtige, die nicht sofort zu zahlen
vermochten, Pfänder zu geben pflegten.
Es gaben im Jahre 1387 zu Budweis Losung
von 1 — io Schock .... 472 Pflichtige
» 10 d 0 > .... 6o >
» 50— 100 » und darüber 9 >
Aus dieser Zusammenstellung erhellt zur Genüge, daß sich da«
Gros der Budweiser Bevölkerung in bescheidenen Vermögens Verhält¬
nissen betand und daß die Z^hl der Wohlhabenden gi gftnüicb gering
gewesen ist ln Mies, das heute gegen Budweis stark zurücksteht,
zahlten 1380 nicht weniger als 18 Pflichtige, also gerade zweimal so
viel als in Budweis. von mehr als 50 Schock Grosch. Losung.
IVr Gegensatz, der in den Vermögensverhaltnissen der stadischen
Re\oikeruug sichtbar wird. ist den Bewohnern der Stadtdörfer fremd.
Di ese Iw tiuJen sich durchwegs in besserer und gleichartigerer Ver-
uu gvusUge. K:ue \\ ahrtiehmung. die sich auch in den Mieser Büchern
au tUt äugte.
Aut die laste der Pflichtigen folgen: Percepta collecte pre miss e.
Hu r werden die Losuugsbecrage verzeichnet, wie sie die Lostmger an
dcu fllr vi'.e Abtuhr an beraumten Ta^en enti^jengenommen haben. Das
lv^uugsgescn.itt sog s:ch hier durch 'Wochen bin
l\uaut folgt das interessante Kapitel der Ausgaben, welche die
l osungierten aus detu Steuergeld gemacht haben. Die Bemerkungen,
vue wu su d'osem Punkte bei Jen Mieser Büchern gemacht haben,
Losungsbücher und Loeungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 51
treffen auch hier zu. Nur auf den einen Ausgabeposten möchten wir
besonders verweisen, der dartut, daß auch in der königlichen Stadt
Budweis aus dem Losungsgeld jene Beträge genommen wurden, die als
königliche Steuer an den Unterkämmerer alljährlich abgeführt wurden.
So heißt es zum Jahre 1384: Item dedimus domino Jure CLX senag.
et dedimus sibi VH senag. Die Stadt hat ihre Steuer direkt an den
Unterkämmerer geleitet: 1384: Item dedimus juratis et conciuibus
Pragam pro expensis, dum pecuniam portassent, TL senag. et XLYIg.
Ganz ähnlich erweist sich nach Anlage, Führung und Inhalt ein
anschließendes Begister von 1385; nur der Größe nach unterscheidet
es sich: es mißt 29 cm in der Höhe und 22 cm in der Breite. Das
breitere Folio gestattete, zwei Beihen von Namen auf einer Seite unter¬
zubringen. Eine spätere Hand hat an die Spitze das irreführende Jahr
1380 gesetzt Ein genauerer Vergleich mit dem Begister von 1384
ergibt jedoch, daß dieses zweite ins Jahr 1385 gehört.
Das erste und älteste Losungsbuch umfaßt die Zeit von 1396
—1416. Der stattliche Papierkodez zählt 248 Blätter, 29:21 cm. Seine
starken Holzdeckel sind mit Leder überzogen und mit je 5 Messing¬
buckeln verziert Ein kleines Schloß gestattete, das Buch zu versperren.
Am Bücken des Buches hat man in neuerer Zeit eine Aufschrift an¬
gebracht die jedoch nicht ganz zutreffend ist: Gewerb- und Haussteuer
Bepartition Buch. An.: 1395 bis 1416. Die Bezeichnung, die dem
Buche in Alt-Budweis eigen war, lesen wir gleich auf foL 1: Liber
losungarum Ciuitatis Budweis. Für die Zeit von 1396 (nicht aber
schon 1395) bis 1399 ist für jedes Jahr ein eigenes Namenregister
eingetragen. In folgender Zeit ist man von dieser Ordnung abgegangen,
in der Weise, daß drei weitere Begister einer ganzen Beihe von Jahren
als Grundlage dienten. So erschienen zusammengefaßt die Jahre 1400
—1406, 1407—1411 und 1412—1416. In den Bubriken, die vor den
Namenreihen angelegt wurden, sind die Buchstaben a, b, c etc. ein¬
gesetzt unter welchen Buchstaben die einzelnen Losungskollegien ihre
Geschäfte abwickelten.
Ein Vergleich mit den zwei alten Begistem (1384, 1385) zeigt
daß die Grundlagen, auf denen sich die Budweiser Losung bewegte, die
gleichen geblieben sind. Bei jeder Losung wird festgesetzt wieviel
Groschen vom Schock zu erheben sind. Die Losung wird innerhalb
dieser Zeit mindest einmal im Jahre verlangt, aber auch zwei- und
dreimal. Gleichgeblieben ist auch die Zahl der Losungsherren; es waren
immer 2 Mitglieder aus dem Bäte und 2 aus der Gemeinde im Amte.
Sie heben die Losung ein, verausgaben sie, führen über Einnahmen und
52
Karl Beer.
Ausgaben Buch und legen vor dem Rate wie auch dem Unterkämm ?rer
Rechnung.
Die Anordnung der Steuerzahler hat in der Liste insofeme eine
Änderung erfahren, als nunmehr innnerhalb der Viertel auch Plätze
und Gassen genannt werden, was der Topographie von Alt-Budweis sehr
zugute kommt Weiters werden jetzt die Inwohner mit Grundbesitz,
die in den alten Registern mit den Bürgern zusammen genannt wurden»
gesondert geführt.
Ein weiteres Losungsbuch gibt Aufschluß über die Zeit von 1482
—1513. Papierkodex mit Holzdeckeln, an den Ecken Messingbeschläge,
Messingverschluß; 42:29 cm, 85 Blätter, bis auf wenige beschrieben.
Der wichtigste Unterschied dieses Buches gegenüber seinem Vorgänger
liegt darin, daß hier die Kapitsl „Distributa* k*ine ausführlichen Aus-
gabenverznehnisse mehr darstellen, sondern nur in Kürze angeben,
welche Losungsbeträge die Losungsherren an die jeweiligen Bürger¬
meister abgeführt haben. Eine Wahrnehmung, wie wir sie bei den
Mieser Büchern yerzeichneten. Die Losunger haben auch hier im
15. Jahrhundert aufgehört, mit dem Losungsgelde Ausgaben zu machen,
sie treten auch hier als Finanzorgane der Stadt gegen die Bürgermeister
zurück.
In Kürze möchten wir hier auf einige andere alte Rechnungs¬
bücher der Stadt Budweis verweisen. Wenn sie auch, strenge genommen,
nicht zu unserem Gegenstände gehören, so möchten wir sie doch be¬
rücksichtigen, erstens, weil sie einen ähnlichen Inhalt bergen und
zweitens, weil bislang meines Wissens städtische Bücher dieser Art und
Führung nicht genannt worden sind.
Wir denken dabei an zwei alte Zinsbücher (Register). Das
ältere hievon bezieht sich auf die Zeit von 1446—1482. (Papierkodex,
41:25 cm, Holzdeckel mit Leder überzogen, 110 BL). Es scheint das
älteste Buch dieser Art zu sein. Denn zuvor benützte man kleine,
handliche Papierregister. Ein Fragment eines solchen ist nämlich noch
vorhanden; auf ihm lesen wir: Nota. Sub anno domini MCCC°LIII 0 do-
minica proxima ante festum sancti Galli proclamatus est census
regius. Collectores Petrus Hofleich juratus et Johl in circulo de con-
ciuitate sub signo z. Zum Jahre 1444 bringt es eine ähnliche Notiz.
Das Zinsbuch trägt am Rücken die Aufschrift aus späterer Zeit:
K: Zinssteuer der Stadt- und Dörfer Buch mit Repartition. A. 1446
—1458. Das Jahr 1458 ist nicht mit Recht hieher gesetzt worden: es
laufen die Eintragungen bis 1482.
Dieses Buch nun gibt uns guten Aufschluß über eine Institution,
die in allen königlichen Städten des Landes wohl bekannt war, über
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 53
den Eönigszin8 (census regius). In Budweis waren zu seiner Zahlung
alle jene verpflichtet, die Grund und Boden, Höfe und Mühlen inne-
hatten. Ähnlich wie bei der Losung, so waren auch hier Kollektoren
tätig; es waren ihrer zwei, die alljährlich, meist zu Martini, den Zins
einhoben und verrechneten. Die Anordnung der Pflichtigen ist im
Zinsbuch analog der in den Losungsbüchern gestaltet Die Stadt er¬
scheint in 4 Viertel zerlegt und innerhalb der Viertel geht man wie¬
derum nach Plätzen und Gassen vor. Der Kreis der Pflichtigen war
natürlich viel kleiner als der der Losunggebenden.
Wichtig ist es auch, darauf zu verweisen, daß der Schlüssel, nach
welchem bei der Einkassierung des Königszinses vorgegangen wurde,
von dem der Losung ganz verschieden war. Bei der Zinserhebung ent¬
scheidet das Ausmaß an Grund und Boden und der Umfang gewisser
Realitäten. Zur näheren Beleuchtung lassen wir jene Norm folgen,
nach welcher sich die Kollektoren zu richten hatten (auf fol. 1 des
genannten Zinsbuches):
Item 1 laneus facit XXVJLUg
Item j. laneus facit XUIIg
Item 1 quartale facit VII g
Item j quartale facit Illjg
Item 1 jugerum facit jg
Item j. jugerum facit Hfl- altera vice 3 hal.
Item molendinum de quatuor rotis facit XXVlüg
Item XXX (?) jugera faciunt laneum [durchstrichen]
Item 4 quartalia faciunt laneum.
Ein zweites Zinsbuch (Register) bezieht sich auf die Jahre 1482
—1512. Auch hier ist auf foL 1 eine Tabelle, wie die vorhergehende
ist, zu lesen. Nur wird in ihr 1 laneus gleichgesetzt 56 jugera 1 ).
Außerdem weist das Budweiser Stadtarchiv zwei ältere auf das in
der Stadt erhobene Ungeld bezügliche Register auf Das ältere ent¬
hält Aufzeichnungen zu den Jahren 1392 und 1393. Was die Un¬
gelter (ungeltarii), deren es mehrere gegeben hat, einkassiert und den
Schöffen abgeliefert haben, das ist hier registriert. Daneben sind aber
auch die Ausgaben (distributa) eingetragen, welche die Schöffen mit
dem Ungelde gedeckt haben.
Das zweite größere Papierregister ist in Pergament gebunden. Seine
Eintragungen gehören den Jahren 1390—1394 an. Es erhellt aus
ihnen, daß die Ungelter einen Teil ihrer Einnahmen an den jeweiligen
l ) Erwähnen wollen wir noch, daß hier nicht alle im Budweiser Stadtarchiv
vorhandenen LosungsbÜcher und Zinsregister berücksichtigt sind, sondern lediglich
die ins Mittelalter gehörigen Stücke.
54
Karl Beer.
Bürgermeister abgegeban haben, der damit kommunale Bedürfnisse be¬
friedigte. Die Bürgermeister, die dem Bäte Rechnung legen mußten,
buchten alle in den einzelnen Wochen erfolgten Empfange wie auch
alle daraus erfolgten Ausgaben. Kurz gesagt: die Ungelter nehmen
Geld ein, sind aber nicht befugt, solches auch auszugeben, wie dies
Recht den Losungern zustand. Sie führen vielmehr ihre Einnahmen
teils an die Schöffen, teils an den jeweiligen Bürgermeister ab, deren
Sache es auch war, über diqse Gelder'Rechnung zu führen und zu legen.
3. Eger.
Über die Losung dieser Stadt geben uns seit dem Beginne des
14 Jahrhunderts einige Urkunden bescheidene Auskunft l ). Sie betonen,
daß jeder, der in der Stadt oder in den Vorstädten sitzt, mit der
Stadt leiden müsse und daß die städtische Losung keine Schmälerung
erfahren dürfe.
Genaueren Einblick in das Losungswesen Egers erlangen wir erst
mit dem Jahre 1390. Denn mit diesem Jahre setzt die stattliche, fast
lückenlose Reihe der Losungsbücher ein, die bis ins Jahr 1758 herauf¬
leiten. Einen besonderen Vorzug dieser Bücher macht es aus, daß in
ihnen fast ausschließlich die deutsche Sprache zur Anwendung kommt
Wir fassen hier nur jene Bücher ins Auge, die noch dem Mittelalter
angehören. Es sind dies durchwegs Papierkodizes in Quartformat, in
Schweinsleder gebunden. Der ansehnliche Umfang der Listen der
Pflichtigen wie auch der angeschlossenen ausführlichen Ausgabenver¬
zeichnisse macht es erklärlich, daß für jede Losung — es war im Jahre
hier eine üblich — ein eigener Kodex in Anspruch genommen wurde
Das älteste Buch trägt vorne am Deckel die Aufschrift: „1390 Loszung
das Erst“. Am ersten Blatt findet sich ein Vermerk, wie er in anar
loger Fassung an der Spitze aller weiteren Namensverzeichnisse wieder¬
kehrt: „Nota. Anno MCCC nonagesimo am nehsten montage voi
Barthelme wart die losung angebaben, ie von hundert pfunden eil
pfunt* 2 ). Damit wird einerseits der Termin angegeben, an welchem di<
Kollekte einsetzte, andererseits aber auch der Schlüssel angedeutet
welcher bei jener zur Anwendung kam. Wie ersichtlich, wurde u
diesem Jahre von allem steuerpflichtigen Vermögen 1 °| 0 gefordert.
*) S. Oelakovsky, a. a. 0. II. n. 82, 369, 432 und 544.
*) Nach einer Mitteilung, die der Verf. dem Archivar kaiserl. Rat Dr. Sieg
dankt, da ihm selbst bei einem Besuche des Egerer Archivs das älteste Losung!
buch nicht zugänglich war.
LocungsbÜcher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 55
Welches die Vermögensobjekte waren, die in Eger der Losung
unterworfen sein sollten, das sagt uns nachstehende bei der Selbstein¬
schatzung der Pflichtigen zur Anwendung kommende Eidesformel, die
och auf der Innenseite des rückwärtigen Deckels des Losungsbuches
von 1390 und mit einiger Abweichung im Losungsbuch von 1396
findet Sie lautet:
»daz du dein gut | daz du hast | ez sei an erbe | an varater habe |
an kauffinanschafft | an bereitschafft | an saczunge | an schuld, an leipdinge
oder woran du daz hast, im lande oder auz dem lande | mit den pfen-
ninge | die da ligent | recht verlosunget | vnd daz du dem Bat gehorsam
vnd vntertenig bist | on geuerde, bit | dir got czu helffen vnd alle heiligen.
Die Egerer Losung basierte, wie angedeutet, auf der Selbstein-
schätzung der Bewohner. Zumeist ging die Abfuhr der Steuer unter
Ablegung des Eides vor sich, sodaß man auch von einer Eidsteuer
sprechen kann. Aber man hat den Eid auch häufig erlassen und die
Losung auf Treu und Glauben hingenommen. In diesem Falle hat der
Bat einen Beweis seines Vertrauens in die tüchtige und ehrliche Ge¬
sinnung der Bewohnerschaft gegeben. Freilich ging man deswegen in
Eger noch nicht so weit, wie in mancher anderen deutschen Stadt, z. B.
in Nürnberg, wo die Pflichtigen nach Ableistung des Schwures ihre
Steuer in die bereitstehende Kasse legten, ohne daß ein Losunger deren
Hohe, die der Pflichtige durch Selbsteinschätzung festgelegt hatte, einer
Kontrolle unterzogen hätte 1 ). .
Beachtet will es auch sein, daß zu Eger ein Unterschied zwischen
dem beweglichen Vermögen, der „parschaft*, und dem unbeweglichen
Vermögen, dem «erbe*, gemacht wurde. Das Ausmaß der Steuer war
bei diesen Vermögenskategorien ein verschiedenes und stellt sich zu¬
meist in dem Verhältnis 2:1 der (parschaft: erbe). So beißt es z. B.
mm Jahre 1396: Nota. Da nam man ein die losung von yedem mann
je von XX V schocken ein schock an parschaft vnd von erbe je von
fimfeig schocken ein schock . .. *).
Die Losungspflichtigen werden in den Listen immer in derselben
Reihenfolge namhaft gemacht und hiebei, was wiederum für die Fest¬
legung des Städtebildes von Alb-Eger von größtem Werte ist, nach Plätzen
and Gassen vorgenommen. Mit den Bewohnern des Bingplatzes wird
der Anfang gemacht. Mit Zuhilfenahme anderer Aufzeichnungen —
*) S. Zentner, Die deutschen Städtesteuem (Schmoller, Staats- und sozial-
wiwenyhaftL Forsch. 1. Bd. 2. Heft, 1878) 8. 69 und Schönberg, a. a. 0. 8. 37.
*) Diesem Unterschied in der Belastung, der übrigens leicht erklärlich ist, be¬
regnen wir auch in Leitmeritz (CelakovskJ, a. a. 0. u. 69 n. 12ö) und in Brünn
Bretholz, Gesch. der 8tadt Brünn I. 8. 276) und in anderen Orten.
56
Karl Beer.
der Urkunden- und Kontraktenbücher, die über den Liegenschaftsver¬
kehr Aufschluß geben — ist man hier in der Lage, die Eigentümer
eines Hauses vom 14. Jahrhundert bis in unsere Zeit herauf zu ver¬
folgen und festzustellen.
Neben den Namen der Losungspflichtigen ist in vielen Jahrgängen
lediglich die Höhe der Steuer ersichtlich gemacht und an den Blatt¬
rand ein d* (dedit) gesetzt, das die erfolgte Abfuhr anzeigen solL In
anderen Büchern und Jahren aber sind neben die Namen der Pflich¬
tigen auch „erbe“ und „parschaft“ in Wert und Höhe imgemerkt und
daneben die entfallende Steuer und das erwähnte dedit gesetzt Seit
der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts kommt es bei der Angabe der
Struerobjekte zu einer weitergehenden Spezifikation, also zu einer Er¬
scheinung, die sich um diese Zeit auch in den Büchern anderer Städte
findet Da werden in ihrem Werte, bezw. Höhe genannt: Häuser,
„Stadtei“, Zinsen, Barschaften, Verkaufsbänke, Gärten, Ackerland, Vieh¬
bestände u. a. m.
Wie erwähnt, wurde in Eger alljährlich einmal Losung gegeben
An einen bestimmten Termin war diese nicht gebunden. Einkassierung
und Verwaltung des Losunggeldes war ursprünglich Sache einiger Rats¬
herren ; zumeist waren es ihrer zwei, manchmal auch drei. Erst geger
Ende des 15. Jahrhunderts pflegen neben zwei Ratsherren auch zwe
Gemeindemitglieder zum Losungsamt erwälilt zu werden. Männer be¬
sonderen Vertrauens gelangen auch hier wiederholt zu diesem wichtiger
Amte. Die Losungsherren erhalten für ihre Mühewaltung eine Ent
Schädigung in Geld, sie haben aber auch auf Kosten der Stadt gezehrt
So lesen wir z. B. zum Jahre 1391: Item unser Ion und dei
puteln im Ion und verczert und czu trinckgelder geben und all
sache hundert und xviiij lb H (h Wie anderwärts so waren aucl
hier die Losunger verpflichtet, nach Ablauf ihrer Amtszeit Rechnung
zu legen „zu reiten“. Büttel und Stadtschreiber haben die Losunge
bei Ausübung ihres Amtes in ihrer Weise unterstützt
Bis zum Jahre 1440 enthalten die Egerer Losungsbücher die be
kannten Ausgabenverzeichnisse; von nun ab wurden die Ausgaben de
städtischen Haushaltes in einer neuen Art von Büchern, kurzweg Aus
gabsbücher genannt, registriert Somit können wir auch hier au
jenen Wandel verweisen, der sich um die Mitte des 15. Jahrhundert
in Mies, Budweis und anderwärts in der städtischen Buchführung durch
gesetzt hat
Was die Währung anlangt, deren sich die Losungsbücher bedienei
so steht die Egerer Münze im Vordergrund und wer einmal deren Gt
schichte schreiben will, der wird in den Losungsbüchern die beste Fund
Losungsbüeher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 57
grabe besitzen; neben der Egerer kommt aber auch Regensburger und
böhmische Währung zur Anwendung 1 ),
Erwähnt sei noch, daß das Archiv von Eger auch noch eine an¬
dere sehr interessante Gruppe von Steuerbüchern besitzt, die sogenannten
Klosteuerbücher, die über die Steuer der Landbevölkerung Auf¬
schluß geben und die mit dem Jahre 1392 einsetzen. Das älteste Exemplar
dieser Gruppe (1392) verwahrt das k. k. Statthaltereiarchiv in Prag. Es
leitet sich ein mit dem Vermerk: Nota, daz buch hat man gemacht
czu der landes stewre da man czalte von Cristes gehurte dreyczehen-
hundert jar darnach in dem czwey und newnczigisten jare an sant Jo¬
hannes tage des Teuffers czu Sünwenden.
4. Chrudim.
Aus dieser königlichen Leibgedingstadt sind die Fragmente zweier
Losungs- und Zinsregister erhalten, die jetzt im Musealarchiv
zu Prag aufbewahrt werden. Das eine Fragment bezieht sich auf die
Jahre 1399 und 1400, das andere auf 1401 und 1402.
Beide Register sind aus Papier hergestellt, 30:21 cm. Sie geben
über zweierlei Auskunft: über die Losung fder Stadt und über den
Zins, der alljährlich an die Kammer der Königin abzuführen war. Leider
weist keines der Fragmente mehr die ganze Liste der losungs- und
zinspflichtigen Chrudimer auf; auch ergänzen sich die Bruchstücke
nicht in der Art, daß die Übersicht über alle Pflichtigen zu gewinnen
wäre.
Die Chrudimer sind im Register nach Berufsgruppen gegliedert:
es lassen sich noch zählen: Mälzer (braseatores) 5, Tuchmacher (pan-
nifices) 150, in der Schmiedgasse (platea fabrorum) 46, Binder (dolea-
tores) 8, Schuster (sutores) 48, Bäcker (pistores) 38, Fleischhacker
(carnifices) 48, Kürschner (pellifices) 9, Schneider (sartores) 12, Krämer
(institores) 20, Wirte (pincemae) 26, Fuhrleute, Salzfischhändlerinnen
(vectores, salsatrices) 50, Kuchenbäcker und Fischer (colaczerii et pis-
eatores) 24, Gärtner (ortulani) 30, Müller (molendinatores) 5. Dazu
kommen noch 3 Stadtdörfer.
Zu bemerken ist, daß bei den einzelnen Berufsgruppen nicht durch¬
wegs an Angehörige ein und desselben Gewerbes zu denken ist, sondern
es erscheinen verwandte Pi ofessionisten unter einem Titel zusammen¬
gefaßt So finden wir z. B. unter den sutores auch cerdones (Gerber)
i) Das Kapitel »Das Münzwesen in Eger« in Pröckls »Eger nnd das Egerland«
(1845) S. 261 kann kaum mehr als hinlänglich bezeichnet werden.
58
Karl Beer.
und unter den pincemae auch sroter (Schrotter) und braxatores (Brauer).
Auch war die Schmiedgasse nicht durchgehends von Schmieden be¬
wohnt: es wird auch eines Goldschmieds (aurifaber), Seilers (funifex),
Wagners (currifex), Zimmermanns (carpentarius) u. a. Erwähnung getan.
Wir haben es hier jedenfalls mit einer Erscheinung zu tun, die sich
an die zünftische Gliederung des Handwerkes anlehnte.
Die Angehörigen der einzelnen Berufsgruppen wieder sind in
alphabetischer Reihenfolge genannt. Ihre Namen füllen die mittlere
Kolumne der einzelnen Seiten. Gleich neben den Namen der Pflich¬
tigen sind die der Losung unterworfenen Objekte mit Angabe ihres
Kapital wertes verzeichnet Es sind dies wiederum: Wohnhäuser, Brauereien,
Mälzereien, Verkaufsbänke and Verkaufsstände (staciones), Höfe (curiae),
Gärten und Felder. Maße für letztere sind Lahn und Hut3. Die Werte
des Lahnes bewegen sich zwischen 12 und 24 Schock, die der Häuser
zwischen 1 und 4 Schock Groschen. Der Namenreihe der Pflichtigen
sind Rubriken vorgesetzt in denen durch Eintragung des Losungsbo-
trages oder auch nur des bekannten d t die Entrichtung der Steuer aii-
gezeigt wurde.
Die Losungsbeträge wurden ermittelt indem auch hier wiederum
von Losung zu Losung festgesetzt wurde, wie viel Groschen von der
Mark Vermögen zu geben war.
Dem Kollegium der Losungsherren gehörten Kats- und Gemeinde¬
mitglieder an: doch war ihre Zahl keine feste. Lber die Anzahl der
jährlichen Losungen, der jeweils geforderten Groschen und Losungen
gestatten die Fragmente nachstehendes Bild:
1399: 1 Losung, 2 Grosch. y. Schock., 2 Losunger aus dem Kate,
3 aus der Gemeinde.
1400: 3 Losungen, jedesmal 2 Grosch. v. Schock, 2 Losunger aus
dem Bäte, 2 aus der Gemeinde.
1401: 1 Losung
1402: 1 Losung, 2 Grosch. v. Schock, 3 Losunger aus dem Rate,
3 aus der Gemeinde.
Die Losunger hatten aber hier nicht nur die Aulgabe, die Losung
einzuheben und zu verwalten, sondern sie mußten auch den Kammer¬
zins einkassieren. Über letzteren unterrichten jene Angaben des Re¬
gisters, die rechts von der Namenreihe der Pflichtigen, in einer eigenen
Kolumne eingetragen sind. Da finden sich die Zinsobjekte wie auch
die alljährlich fälligen Zinsbeträge angemerkt. Zins war in Chrudim
nicht nur von Grund und Boden (Äckern, Gärten u. s. w.) zu geben,
sondern auch von städtischen Realitäten (Häusern, Brauereien, Fleisch¬
bänken u. 8. w.). Die Armen, die zur Losung durchschnittlich von
Losungsbücker und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 59
1 Schock steuerten, werden vom Zinse nicht betroffen. Der Kreis der
Zinszahlenden ist auch hier kleiner als der der Losungspflichtigen.
Der Aufwand der Stadt wurde, wie die erhaltenen Ausgaben Ver¬
zeichnisse «kennen lassen, vornehmlich mit Losungsgeldem bestritten.
Aus diesen wurden auch jene alljährlichen Steuersummen genommen,
die neben dem Jahreszins an die Kammer der Königin abgingen. Die
Jahressteuer bezifferte sich in der Zeit von 1399—1401 auf 170 Schock
Grosck Die Sprache der Registerfragmente ist die lateinische.
5. Prag,
a) Altstadt.
ln der Altstadt reichen Nachrichten über eine städtische Steuer
bis ins 13. Jahrhundert zurück; freilich ist diese älteste Überlieferung
als spärlich zu bezeichnen. Zu den Jahren 1234 und 1267 werden
Befreiungen von der Stadtsteuer erwähnt, die der König einzelnen ver¬
dienten Bürgern zuteil werden ließ l ). Wie den anderen königlichen
Städten stand auch der Altstadt das Recht der Selbstbesteuerung zu
und bildete einen integrierenden Bestandteil städtischer Autonomie 2 ).
Aber das konnte den König, von dem jenes Recht ausgegangen war,
nicht hindern, einzelne Personen von der Bestreitung der Gemeinde¬
steuern zu befreien 8 ).
Die erste ausführlichere Nachricht über die Alcstädter Gemeinde¬
steuer bringt ein Statut des Rates aus dem Jahre 1299 4 ). Damals
wurde vom Rate und der Gemeinde ein Kollegium gewählt, das aus
einigen Schöffen und drei Bürgern bestehen und eine Kollekte für
den König und die Stadt erheben sollte. Es liegt hier die erste un¬
zweideutige Nachricht über eine Steuererhebung vor, die der Forderung
des Königs und dem Verwaltungsaufwand der Gemeinde Rechnung
tragen sollte. Die Höhe der Gesamtsumme belief sich an 1000 Mark
Silber. Daß die Losunger ihres Amtes treulich walten, ließ man sie
in der Kirche zum hL Nikolaus einen Schwur auf das Kreuz ablegen.
Nach welchem Modus jedoch jene Kollekte durchgeführt wurde, darüber
sagt das Statut nichts. Nur das eine wird betont, daß bei der Steuer-
*) Zjcha, Prag. Ein Beitrag zur Rechtegeschich te Böhmens im Beginne der
Kotausi tionazeit. Mitteil. d. V. 1. G. d. Deutschen L B. Bd. 50. S. 183. 514 und
Tomek, Geschichte der Stadt Pr g (1866) S. 321 ff.
*) Ganz ausdrücklich wird das Recht der Selbstbesteuerung ausgesprochen für
Saaz (CelakoYBky, a.a.0.11, nr. 364: ürk. v. J. 1357) und für Brüx (ebd. nr. 445,
Uik. ▼. J. 1371) u. s. w.
*) Vgl Celakorsky, &. &. 0. L nr. 61 u. IL nr. 216.
«) Ebd. I, nr. 7.
60
Karl Beer.
erhebung alle List und Benachteiligung fern sein müßte und daß die
Losungsgelder zum Nutzen aller Stadtbewohner, der armen und reichen,
Verwendung finden sollten. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß in
vorausgegangener Zeit nach diesen Bichtungen hin zu wünschen übrig
geblieben war.
Die gleiche Quelle berichtet weiter, daß man d*m Stadtschreiber
eine passende Wohnung im Rathaus wie auch bestimmte Bezüge sichern
wollte, dann würde er — so war es die Meinung der Stadtväter — es
nicht lieber sehen, daß alljährlich Losung erhoben werde — zum
Nachteile der Gemeinde. Da der Stadtschreiber — es war damals Mar¬
ti
gister Petrus — wo er in Verbindung mit Losungsgeschäften genannt
wird, immer nur die einschlägigen Schreibgeschäfte zu führen hatte, so
dürfen wir mit gutem Grunde annehmen, daß in Prag damals schon
für eine schriftliche Fixierung des Stauergeschäftes gesorgt war. Zudem
wird es ausdrücklich als des Stadtschreibers Aufgabe bezeichnet: „col¬
lect a s et literas civium fideliter conscribendo “. Freilich wird diese
ältest* Registrierung nicht weit gegangen sein, aber die Namen der
Pflichtigen, die Höhe der zu zahlenden Beträge und ob diese abge¬
führt wurden, diese wichtigsten Elemente dürften wohl ersichtlich ge¬
macht worden sein.
Wie anderwärts so zeigt sich auch in Prag Adel wie Klerus be¬
strebt, für seinen städtischen Besitz Steuerfreiheit durchzusetzen 1 ).
In dem Streite, der zwischen dem Prager Domkapitel und der Ge¬
meinde wegen der Abgabenfreiheit des Teinhofes schwebte, wird auf
eine alljährliche städtische Kollekte indirekt verwiesen. Die Bürger¬
schaft hatte verlangt, daß der jeweilige Pächter des dem Kapitel ge¬
hörigen Teinhofes außer der Steuer, die er von seinem sonstigen Besitz
(de bonis et rebus suis) der Stadt zu entricht?n hat und unabhängig
davon, ob der König von der Stadt eine Steuer verlangt oder nicht,
von den Erträgnissen (de lucris) des Hofes alljährlich 10 Mark an die
Stadt abführe 2 ). Der König hat (1298) zu Gunsten des Kapitels ent¬
schieden, indem er darauf hinwies, daß der ehemalige herzogliche Hof
immer abgabenfrei gewesen sei. Doch soll der jeweilige Pächter, so
ist es des Königs Wille, von seinem anderweitigen Besitz alle Lasten
mit den Bürgern tragen 8 ). Mit der Kommende des deutschen Ordens
zu St Benedikt kommt es zu einem Kompromiß. Obwohl der Orden
von der Überzeugung erfüllt ist, daß sein städtischer Besitz das Recht
*) S. Zycha, a. a. 0. S. 515.
*) Rößler, Deutsche Rechtedenkmäler I. S. 171 f.
*) Emler, Reg. IL nr. 1814.
Los angeblicher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 61
der Steuerfreiheit beanspruchen könne, entschließt er sich doch zu einer
alljährlichen Zahlung von 10 Mark Silber (1306) 1 ).
Die Bolle, welche die Losung im städtischen Leben spielte, war
eine ganz bedeutsame. Sie stand in innigem Zusammenhänge mit
Bfirgeranfhahme und Bürgerrecht
Wer in Prag das Bürgerrecht erwarb, der war für Jahr und Tag
Ton aller Losung frei Diese Vergünstigung wird in den Ratsstatuten
einige Male herrorgehoben *). Wer aber das Bürgerrecht nicht erwarb,
der mußte gleich die nächstfolgende Losung auf sich nehmen. Wenn
wir daneben im altan Stadtbuch von 1310 bei den neuauigenommenen
Böigem immer wieder vermerkt finden, daß sie mit der Stadt Gutes
und Übles zu leiden (stare in prosperiis et adversis) versprachen, so
bedeutet dies ja noch nicht einen Widerspruch zu dem Vorausgesagten.
)hm hat eben an die Losung nicht allein zu denken.
Besitz, bezw. Mangel des Bürgerrechtes schufen innerhalb der städti¬
schen Bevölkerung zunächst zwei Gruppen: cives — Bürger und in-
eolae — Inwohner. Beide Gruppen wie alle übrigen Leute (homines),
die in der Stadt ihren Unterhalt fanden, hatten zur Losung beizu¬
tragen 1 ). Diese Auffassung blieb die herrschende und wird durch ein
Statut des ausgehenden 14. Jahrhunderts nochmals bestätigt 4 ). Eine
Ausnahme sollte neben dem Adel und Klerus nur noch mit den fremden
Kaufleuten gemacht werden 5 ).
Aber gerade die Tatsache, daß alle in der Stadt Lebenden mit ihr
leiden mußten, hat wohl dahin geführt, daß der Begriff des „Bürgers*
noch zu Ende des 14. Jahrhunders einen geänderten und zwar weiteren
Sinn erhielt. Bürger sollte nunmehr in Prag ein jeder sein, der sich
durch vier Wochen bei eigenem Herde in der Stadt halt oder aber die
Tochter eines Bürgers heimführt und die Losung mitbestreitet 6 ). Der¬
jenige, der das Bürgerrecht (jus civile) nach alter Weise förmlich er¬
warb, der sollte als bevorrechteter Bürger über den andern Bürgern
(cives sine jure civili) stehen. Wenn wir zu Beginn des 14. Jabr-
») Ibid. n. pag. 905.
*) Rößler, a. a. 0. Statut 22 u. 139.
•) Celakov&ky, a. a. 0. I. nr. 40 (1341). König Johann bestimmt, quod
omnes et singuli eines et incole et homines domos et domicilia eorum ibidem in
enritate et rab proteedone et regimine duitatis ipsius habentes .... alle Lasten
der Stadt zu tragen haben.
«) Rößler, a. a. 0. Statut ±25.
*) Celakovsky, a. a. 0. L nr. 52 (1349).
*) Rößler, a. a. 0. Stat 139: Item qui sedet in dvitate quatuor septimanis
cum pro prio igne, re pu t a t ur statim pro dve. item qui dudt fiüam dvis alicuiu^
ctam reputatur pro dve. Vgl. wdtere Statut 135.
62
Karl Beer.
hundert« den Kreis der Bürger mit dem der Hausbesitzer im allgemeinen
identifizieren dürfen, so kommt am B?ginne des 15. Jahrhunderts der
Bürgertitel auch dem großen Kreise der Mietleute, der Inwohner zu,
ja wir begegnen mehreren derselben, die ausdrücklich als im Besitze
jenes besseren Bürgerrechtes angeführt werden 1 ).
Auch die Zeugenschaft vor Gericht wurde mit der Losung in Ver¬
bindung gebracht Wer z. B. bei Totschlag als Zeuge fungieren will,
der soll ein Vermögen von 10 Schock haben und „vorlosungen* *).
Handelt es sich um Judenschuld, so war es nötig, daß der Zeuge „ge-
sezzen sei ze hyndert schocken“ u. s. w. ®). — Wer ins Feld zog, war
von der Losung frei 4 ).
Gerade aber diese Bestimmungen, die seit Beginn 6 ) des 14. Jahr¬
hunderts Yon einem bestimmten Vermögen sprechen, das in Schock
oder Mark ausgedrückt ist lassen deutlich erkennen, daß in der Prager
Stadtgemeinde eine Vermögenssteuer üblich war. Und wie ander¬
wärts, so wurde sicher auch hier Yon Losung zu Losung eine bestimmte
Zahl von Groschen vom Schocke gefordert
Wenn wir daneben anläßlich der Aufnahme des Bürgers Nikolaus,
genannt Syrscha, in dem oberwähnten Stadtbuche (foL 15 a) die Nach¬
richt finden, daß er von nun ab (1330) alljährlich zur Zeit der Losung
(quolibet anno a data presentium per unum annum tem¬
pore collecte) 10 Schock Losung (pro collecta sua) zu entrichten
habe, so wollen wir deswegen nicht annehmen, daß die Losung der
Bürger in bestimmten Jahresbeträgen fixiert gewesen wäre. Hier handelt
es sich offenbar um ein spezielles Abkommen, wie solche späterhin
deutlicher hervortreten. So z. B. trifft 1430 der neu aufgenommene
Bürger Andreas Stuk die Vereinbarung, daß er alljährlich zu Georgi
und Galli je 1 Schock an die Stadt als Steuer (racione collectarum)
geben wolle (Altstädter Losungsbuch von 1427, foL 9 und 72) 8 ).
Die Übung jener Zeit wird uns viel mehr und richtiger durch ein
Statut aus dem Jahre 1346 beleuchtet: Darnach bestimmten die Schöffen
und die Gemeinde, daß ein jeder, der vor das Losungskollegium kommt,
l ) Siehe weiter unten S. 68.
*) Rößler, a. a. 0. Statut 50.
•) Ebd. Stat. 16.
*) Ebd. XCVII.
•) Celakovsky, a. a. 0. I. nr. 8 enthalt eine ähnliche Bestimmung zum Jahre
1304 bereits.
•) Eine ähnliche Fixierung der Jahreslosung nimmt König Wenzel IV. 1410
betreffe des Adels vor, der Landbesitz hat und in Prag Bürgerrecht erwirbt :
dieser soll »allerwege von hundert schocken czinses oder erbes werte czehen schock
grossen« der Stadt als Losung abtühren.
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 63
auf Treu und Glauben 3 Groseben von jeder Mark als Losung zu ent¬
richten habe. Wenn es für die Losungsherren den Anschein hat, daß
der Pflichtige genug getan, dann sollen sie sich mit dessen Selbst¬
einschätzung zufrieden geben; wird aber zu wenig gereicht, dann
sollen die Losungsherren soviel zugeben, als sie unter Berufung auf
ihren Eid für recht erkennen l ).
Was nun den Charakter der Altstädter Losung um die Mitte des
14. Jahrhunderts anlangt, so zeigt sich da ein Gemisch von sachlichen
und persönlichen Momenten, worauf einzelne Urkunden recht deutlich
verweisen *).
Der Losung erscheinen unterworfen: Häuser*), Höfe (curiae) 4 ),
Grund und Boden innerhalb und außerhalb der Stadt ß ), nur Weinberge
sollten ausgenommen sein 6 ), Bargeld 7 ), Seelgeräte 7 ), Waisengelder 7 ),
Zinsen *), aber auch Kaufmannsgut und Handwerk (offleium et ars me-
chanica) 9 ). Darnach hatte die Stadtlosung ebenso den Charakter der
Real- wie der Personalsteuer.
Doch es scheint, daß man mit jener Handhabung des Steuerge¬
schäftes, die sich auf Selbsteinschätzung ohne Eid gründete, nicht die
günstigsten Erfahrungen machte. Das Bild das wir uns auf Grund
eines späteren Batsstatuts (1373) zu machen vermögen, weist in einigen
wesentlichen Punkten Abweichungen auf. Wohl ist die Selbstein¬
schätzung noch vorhanden, aber sie wird nicht mehr bei jeder einzelnen
Losung geübt, sondern nur von jenem Pflichtigen verlangt, der zum
osten Male vor die Losunger kommt Gibt jedoch ein solcher Neuling
zu wenig, „so stillen die losunger auf in seczen seine losunge* 1 °). Und
wollte er auf diese Festsetzung nicht eingehen, „so sol er losunge geben
bei seinen ay de“. Die auf solche Weise ermittelte Losung wurde,
! ) Bei Rößler nicht abgedruckt. Stadtb. v. 1310, fol. 69.
*) König Johann erklärt mit Urk. v. 4. Juni 1341 ((elakovsky, a. o. 0., 1.
nr. 40), daß alle Pflichtigen der Altstadt zu tragen haben: omnes eontribuciones,
collectas, faedones seu onera quecunque personaliu, realia atque mizta;
and in einer Urk. v. 7. Juni desselben Jahres (ebd. nr. 41) spricht er von fkccio-
sibus .... contribucionibus quituscunque, tarn realibus, pecuniariis quam
per8onalibu8 etc.
•) Ebd. nr. 17 (1330), tl (1354).
«) Ebd. nr. 17 (1330).
•) Ebd. nr. 17 (1330), 40 (1341), 61 (1364).
•) Ebd. pag. 109 (1358).
») Ebd. nr. 40 (1341).
•) Ebd. IL nr. 328 (1352).
•) Ebd. L nr. 61 (1354).
*•) Rößler, a. a. 0. Statut 104.
64
Karl Beer.
so müssen wir annehmen, im Losungsbuch vermerkt und bei weiteren
Losungen wieder gefordert, denn so heißt es im erwähnten Statut:
»wenne ein man vor die losung kompt, der sol sein losung richten als
er gescriben stet“.
Etwaige Änderungen im Vermögensstand haben die Losungsherren
zur Kenntnis zu nehmen und die Losung darnach einzurichten. Nach
Ankäufen von Erbe soll für die Zeit der ersten Losung eine Ermäßigung
erfolgen. Finden die Losunger, daß jemand einen Teil seines Ver¬
mögens verschwiegen hätte, so soll dieser der Stadt verfallen sein, die
sich damit von ihrer »schuld heißen* soll. Das war die Bestimmung,
die wohl jeden Pflichtigen mahnte, bei der Losung nichts zu hinter¬
ziehen.
Im übrigen hatte jeder, der die Selbsteinschätzung vomahm. fol¬
genden Schlüssel zur Kichtschnur zu nehmen: »Auch sol ein iclicher
man geben von eime phflugs acker zu losung vierzk grosser, und von
einem schok ewiges zins iiii gr. und einem schok varund bab i gr. zu
losung“. Auffällig ist hiebei, aber immerhin begreiflich, wie wenig
beschwert das bewegliche Vermögen sein sollte 1 ). Bemerkt sei auch,
daß nach dem Statut von 1373 jeder Pflichtige anzugeben hatte, wie
viel Ingesinde er habe und ob jemand in seiner Kost sei. Denn auch
solche Personen sollten »beigeschrieben“ und zur Losung herangezogen
werden. Das gleiche gilt von Seelgeräten und Waisengeldern. Für
jede Verheimlichung auch in diesen Belangen war eine bestimmte Buße
vorgesehen. Es ist zu bedauern, daß auch nicht ein Exemplar der
Losungsbücher des 14. Jahrhunderts erhalten ist. Welch guter Einblick
in die Besitzverhältnisse und soziale Gliederung der Prager Bevölkerung
würde sich da erschließen!
Die Zahl der Losunger sollte im 14. Jahrhundert vier betragen;
zwei Losungsherren sollten den Schöffen, zwei der Gemeinde entnommen
werden. Die Kollekte sollte innerhalb eines halben Jahres abge¬
schlossen werden, widrigenfalls die Losunger um ihr Honorar kommen
sollten, das pro Mann 5 Schock ausmachte. Übrigens wurde noch im
14. Jahrhundert diese Entlohnung gestrichen und außerdem strenge
untersagt, daß sich die Losunger auf Kosten der Stadt kleiden oder
auf deren ßechnung zehren 8 ). Änderungen bezüglich der Losungsver¬
pflichtung sollten nur dann vorgenommen werden, wenn alle vier
Losunger zugegen waren. Geschieht eine solche Änderung in Anwesen-
i) In Eger, Leitmeritz, Kaaden, Brünn hat man im Gegensatz zu Prag das
bewegliche Vermögen stärker herangezogen als das unbewegliche. 8. oben S. 55.
Celakovsky a. &. 0. II. nr. 111,126 und Bretholz, Gesch. der Stadt Brünn, I. S. 276.
*) Rößler, a. a. 0. Stat. 110 u. 113.
Losungsbücher und Losungsweeen böhmischer Städte im Mittelalter. 65
heit Ton nur drei Losungem, so ist dies im Rate kundzutun 1 ). Im
Interesse der Rechnungslegung war es gehandelt, wenn die Bestimmung
getroffen war, daß das Amt der Losunger solange währen sollte, als
der Bat verblieb. Die Losunger hatten am Ende ihrer Amtszeit „ein
some" zu „machen des, das sie habm eine genomen und des, das sie
ausgeben haben* 8 ).
Wie ersichtlich, war mit solchen Bestimmungen ein ganz anderes
System als das von 1346 geschaffen. War früher die Selbsteinschätzung
Ton Fall zu Fall üblich gewesen, war fallweise eine bestimmte Zahl
Groschen von der Mark gefordert worden und hatte infolgedessen das
Losungsergebnis von Kollekte zu Kollekte eine verschiedene Höhe auf¬
gewiesen, die man nur beiläufig vorausbestimmen konnte, so war jetzt
das Resultat ziemlich genau im voraus bekannt und ebenso gesichert
als unverschiebbar.
Und abermals eine andere Ordnung ist es, die der Losung der
Altstadt in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts zugrunde liegt; hierüber
unterrichtet uns ein Kodex, der im Prager Stadtarchiv aufbewahrt wird
und, wie seine Aufschrift andeutet, 2 Losungsbücher in sich vereinigt:
In hoc volumine continentur duplices libri collectarum, primus tri um
eoUectarum, secundus vero quatuor collectarum 3 ). Wir gewinnen durch
diesen Kodex einen Einblick in die Losung der Jahre 1427, 1429 und
1433, 1434; daß auch in den dazwischenliegenden Jahren Losung er¬
hoben wurde, erhellt aus einzelnen Marginalnotizen.
Das Recht, Steuern zu beschließen und aufrulegen (imponere), stand
der Gemeinde zu (magna communitas). Sie pflegte je nach den Be¬
dürfnissen des städtischen Haushaltes ein oder mehrere „Kollekten*
oder „Losungen* zu bewilligen. Der Terminus „collecta*, „losunga*
will hiebei so gefaßt sein, daß von 4 Schock 1 Groschen verlangt
wurde 4 ). Man beschloß 1427: 1 Kollekte, 1429: 2 Kollekten, 1433:
2 Kollekten, 1434: 2 Kollekten. Für die Erhebung und Verwaltung
<) Ebd. Stak HO.
*) Ebd. Stak 125.
*) VgL Celafcovaky, Sonpis rukopisft chovanych v archivu m. Prahy I (1907)
S- 52 und Tomek, Zäklady staröho mistopisu Praiköho I (Prag, 1805). Beilage
264 C
4 ) Tomek meint (D^jepis m. Prahy II, 352—53), daß man von »einer Bema«
cpraeh, wenn vom Schock */t Groschen gefordert wurde und verweist, um dies zu
begründen, auf das Altstädter Losungsbuch von 1427—1434. Da unterlief ihm
jedoch ein Irrtum. Im Jahre 1427 wurde »una collecta« beschlossen und „de
quatuor senag. grossorum per 1 g« verlangt. Daraus ergibt sich obige Festsetzung.
Anden auf der Neustadt: hier bedeutete »1 Bema« einen halben Groschen vom
Schock, a unten S. 70.
66
Karl Beer.
der Steuer wurde nunmehr von Fall zu Fall ein Kollegium von sechs
Loßungern erwählt (officium sez dominorum). Zwei der Losungsherren
wurden aus dem Bäte, vier aus der Gemeinde zu dem Amte ausersehen.
1429 waren — das scheint jedoch mit Rücksicht auf obige Amtsbe¬
zeichnung eine Ausnahme gewesen zu sein — bloß 3 Losunger tätig
(1 aus dem Bäte, 2 aus der Gemeinde). Die mit der Losungserhebung
verbundenen Schreibgeschäfte besorgten ein notarius und ein subnotarius
collectarum. Auch ein Steuerbote (nuncius collectarum) ist bezeugt
Amtslokal war stets das Rathaus.
Im ganzen birgt der Kodex 5 wichtige Verzeichnisse. Das erste
nennt die Häuser der Altstadt, die nach den vier Steuervierteln (Tein¬
oder Marien-, Galli-, Leonhardi- und Nikolaiviertel) und innerhalb dieser
wieder nach Plätzen und Gassen geordnet sind. Die Reihenfolge ist
in allen Häuserlisten im wesentlichen dieselbe. Bei den einzelnen
Häusern findet sich fast immer der letzte Kaufpreis angemerkt, nach
dem sich die Losung richtete. Selbstverständlich lernen wir auch die
Namen der Hausbesitzer kennen. Auch die Renten (census), die den
einzelnen Hausbesitzern etwa zukamen, sind verzeichnet. Renten wurden
hinsichtlich der Losung dem unbeweglichen Vermögen gleichgestellt
und bereits seit Mitte des 14. Jahrhunderts besteuert 1 ).
Die Häuserpreise des Losungsbuches stammen aus einer Zeit, in
der Prag einen großen Umsturz erlebt hatte. Gewaltsam hatte man
nach dem Tode des Königs Wenzel (f 16. Aug. 1419) das deutsche
Element aus der Stadt hinausgedrängt und dessen Häuser — sie zahlten
nach hunderten — annektiert Die husitischen Stadtväter verkauften
sie sodann an solche Insassen weiter, die in ihrer treuen Gefolgschaft
erscheinen wollten 8 ). So wird es begreiflich, daß so manches Haus
in obigen Jahren um die Hälfte seines ehemaligen Kaufpreises in neue
Hände überging. Im ganzen zeigt das Losungsbuch deutlicher als
andere Dokumente, wie wenig konsolidiert noch in der Zeit von 1427
—1434 die Verhältnisse in Prag waren: Kauf und Verkauf drängen
sich geradezu nach den Notizen des Losungsbuches.
Was die Höhe der Häuserpreise im allgemeinen anlangt so waren
diese recht verschieden. Neben Häusern, besser gesagt Häuschen, im
Werte von 1 und 2 Schock begegnen wir solchen, deren Wert sich
auf mehrere Hundert Schock belief 8 ).
*) Celakovaky, a. a. 0 . H. nr. 828 (1852)
*) Vgl. Binder, Die Hegemonie der Prager im Husitenkriege. Prager Stadien.
Heft 8. 8. 9 ff. 8. 59, a 63, 8. 71 ff
•) VgL Tomek, a. a. 0. 619—520.
Losungsbücher und Loeungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 67
Über und unter dem Namen des Hauseigentümers finden wir im
Losungsbuch sehr häufig Vermerke, die sich das eine Mal auf Kauf
und Verkauf der Realität beziehen, ein ander Mal den Pächter (con-
?entor) nennen, der das Haus innehatte und neben dem Hauseigen¬
tümer seine besondere Losung zu entrichten hatte. Oft kam es vor,
daß ein Bürger im Besitze mehrerer Häuser war. Noch öfter sehen
wir ein Vorderhaus (domus anterior) und Hinterhaus (domus posterior)
in einer Hand: es liefen nämlich die Häuser vielfach von der einen
Gasse bis zur nächsten Parallelgasse, hatten also eine beträchtliche
Hefe. Benützte der Eigentümer nicht selbst jenes .Hinterhaus 1 , etwa
zur Ausübung eines Gewerbes (Mälzerei, Brauerei u. s. w.), so wurde
es an Mietleute oder an einen Pachter abgelassen.
Auch steuerfreie Häuser nennt die Liste, so z. B. die verschiedenen
Kollegienhauser (Collegium reginae, collegium regis Wenceslai etc.), die
Höfe und Häuser auswärtiger Adelsgeschlechter (z. B. der Rosen¬
berge) und Klöster, die ein Domestikus zu verwalten pflegte, die Pfarr¬
häuser und niederen Schulen. Daß jedoch bei diesen Häusern die Ver¬
anlagung unterblieb, finden wir begreiflich. — Leider ist man bei Ver¬
anlagung des Verzeichnisses nicht ganz konsequent gewesen; manche
steuerfreie Häuser wurden übergangen, ja selbst einzelne zur Losung
verpflichtete Realitäten fehlen. Wenn eine Auszählung im Losungs¬
verzeichnis von 1427 1001 Haus ergibt, so glaubt Tomek für diese
Zeit 1182 Häuser nachweisen zu können*). Doch uns scheint die
Koexistenz so vieler Häuser für die Zeit 1427—1429 doch fraglich.
Da, wo ein Hauseigentümer oder Pächter das Bürgerrecht er¬
worben hatte, findet sich ein darauf bezüglicher Zusatz, zumeist in der
Passung: residet per jus dvile.
Weitere Randbemerkungen beziehen sich auf Steuerbefreiungen,
Nachlasse, Zahlungen von Rückständen oder aber von Abrechnungen
mit jenen Pflichtigen, die auf Grund einer Arbeitsleistung oder Lieferung
Geldansprüche an die Stadt hatten. Solche Beträge wurden von der
Losung abgerechnet (defalcare).
Ein nicht uninteressantes Streiflicht wirft es auf jene Revolutions¬
und Kriegsjahre, wenn wir dem Losungsbuche entnehmen, daß etwa
ein Zehntel aller Häuser in Witwenhänden war. Auch die Zahl der
Häuser, die Waisen (orphani) gehörten, ist keine geringe.
f ) Tomek, Zäklady etc. I. Einl. 2.
5*
68
Karl Beer.
Das erste Verzeichnis diente jedoch nicht allein der Losung des
Jahres 1427 als Grundlage, sondern auch der von 1429. Rechts und
links von der Mittelkolumne, in der die Häuser verzeichnet sind, hat
man die Losungsbeträge gebucht, die auf Grund der bewilligten Bemen
vom Kaufpreis der Realitäten l ) und des Bodens *) und von den Renten
berechnet wurden. Die Losung von 1429 wurde mit dem Zusatze „de
novo“ registriert In einem zweiten Verzeichnis zum Jahre 1429 sind
sodann die Namen aller jener — nach Hausern geordnet — zu finden,
die ihre Losung von 1429 sowie auch etwaige Rückstände früherer
Jahre erlegt haben. Wenn sich bei einer Auszahlung dieser Liste nur
844 Häuser (gegen 1001 im Verzeichnis) ergeben, so hat dies in erster
Linie darin seinen Grund, daß hier die gefreiten Häuser weggelassen
wurden. Dazu kommt noch die Zahl derer, die die Losung nicht ent¬
richtet haben. Und Rückstände (collectae retentae) waren beileibe keine
Seltenheit
Von besonderem Werte ist das 3. Verzeichnis des Losungsbuches.
Es gehört gleichfalls dem Jahre 1429 an und nennt uns die Inwohner
(inquilini) der Altstadt und zwar nach den Steuervierteln und Häusern
daselbst verteilt Was bei Besteuerung der Inquilini die Grundlage
bildete, darüber ist nichts gesagt Wir haben es zumeist mit Klein¬
gewerbetreibenden, Gesellen und Lohnarbeitern zu tun. Höchstwahr¬
scheinlich wurden hier das Gewerbe, der Lohn und Verdienst von der
Steuer getroffen.
Daß die Prager Losung auch als Erwerbsteuer gedacht war und
zwar gerade hins ichtlich der ärmeren Klasse, darüber braucht man keine
Zweifel hegen 8 ). Bemerken wollen wir noch, daß die Handwerker der¬
selben Gattung keineswegs gleichviel Losung gaben. Da zahlt z. B
ein Schuster (sutor) 2, ein anderer 3 und ein dritter 4 Groschen Losung
Die Größe des Geschäftsbetriebes könnte uns diese Verschiedenheit er¬
klären 4 ). Eine Reihe dieser Inleute hatte das Bürgerrecht (jus civile
erworben, was der Vermerk „habet jus civile“ anzeigt Sie zahlten 142£
*) Neben Wohnhäusern werden auch Ställe (stabula), Mälzereien (braseatoria)
Brauereien (braxatoria), Bäder (balnea) einbezogen.
*) Auch Hofstätten (areae) und Gärten (horti) wurden der Losung unter
worfen.
•) Oelakovsky, &. a. 0. L nr. 61 (1364) zeigt deutlich, daß die Handwerkei
(mechanici) auch »de officio et arte mechanica« Losung zu geben hatten.
4 ) Auch in Pilsen ist das Handwerk (artifidum) ein und derselben Ar
verschieden taxiert S. unten 8. 73. — In Neubydachow wieder sollten all
Handwerker ohne Unterschied hinsichtlich ihres Handwerks (de suis arüficiis
mit 3 Mark eingeschätzt sein! S. unten S. 88.
Loenngsbücher und Loeungsweaen böhmisch er Städte im Mittelalter. 69
i barhaupt keine Losung. Jedenfalls hat man diesen minder Begüterten
die erste Losung nach der A ufnahm e ganz erlassen, wie es früher
14. Jahrhundert) bei der Aufnahme von Bürgern allgemein üblich ge¬
wesen war.
Nach diesem Verzeichnis gab es 1429 in der Altstadt 283 Häuser
mit Inwohnern. Es ist kaum anzunehmen, daß Häuser mit pflichtigen
Inwohnern übergangen worden wären und so setzt uns gerade diese
Liste in den Stand, die Dichte der Bevölkerung in der Altstadt zu er¬
schließen und dadurch auch der wahren Bevölkerungsziffer der Stadt
Prag zu Beginn des 15. Jahrhunderts doch wenigstens nahe zu kommen.
Tomek hat die Bevölkerung der Gesamtstadt für diese Zeit mit 100.000
Seelen eingeschätzt — Zu seiner Zeit (c. 1860) kamen auf das Haus
in der Altstadt 41 Bewohner; für jene Frühzeit glaubte er dann gut
die Hälfte setzen zu dürfen, also 21. Hier liegt der wunde Punkt in
der Berechnung Tomeks. Wir wollen hier nur so viel andeuten, daß
mit einem Mittel von 10 Personen pro Haus schon gut gerechnet ist
and daß jene Gesamtvolksziffer um mehr als die Hälfte herabgesetzt
werden muß.
Die Nachrichten zum Jahre 1429 erhalten noch dadurch eine er¬
freuliche Ergänzung, daß ein 4 Verzeichnis im Kodex alle jene Aus¬
gaben aufzählt, die mit den Losungsgeldem dieses Jahres bestritten
wurden. Ein Stück Kulturgeschichte steckt in diesem Verzeichnis!
Wie der Losung der Jahre 1427 und 1429 ein und dasselbe Re¬
gister als Substrat diente, so tut dies ein 5. Verzeichnis für die Jahre
1433 und 1434 Die Häuserzahl ist hier etwas größer: 1052. Die
Übersicht über die Inleute und die Ausgaben liegt zu diesem Jahre
leider nicht vor. Daß aber auch im Jahr 1433 die Inleute die Losung
trugen, ist einer Anmerkung zu entnehmen.
Die Losung Prags hat nach dem Gesagten mehrere Wandlungen
durchgemacht. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts erscheint sie auf eine
neue Grundlage gestellt und man kann sagen auf eine sichere und
durchaus kontrollierbare. Kontrollierbar ist der Wert aller jener Ob¬
jekte, die zu dieser Zeit der Losung dienstbar sein sollten, freilich ist
ihr Kreis auch etwas kleiner geworden. Über den Kaufwert der ver¬
schiedenen Realitäten und Liegenschaften in der Stadt geben die Stadt¬
bücher genugsam Auskunft und auch über die Renten der Pflichtigen
fehlte die Orientierung nicht, denn die unter den Prager Stadtbüchern
vorhandenen „registra censuum* hatten es wohl mit der Buchung der
zahlreichen Ewigzinse der Bewohnerschaft zu tun *).
>) Celakovsky, Soupis .. S. 22.
70
Karl Beer.
b) Neustadt.
Von den Neustädter Losungsbüchem hat sich ein Exemplar er¬
halten, das zu den Jahren 1411—1418 ausführlichere Kunde bringt
Der in Betracht kommende Papierkodex erliegt im Prager Stadtarchiv.
Er tragt am Bücken die Aufschrift: Liber bemarum summarius Nove
civitatis Pragensis. Doch sind es nicht durchwegs Losungsnachrichten,
die der umfäng liche Kodex enthält 1 ).
Wir haben es hier mit einem Hauptsteuerbuch zu tun. Die
Neustadt mit ihrem ansehnlichen Areal war nach dem Stande von 1411
zu Losungszwecken in zwei Teile (partes) zerlegt: Pars Zderasiensis und
Pars Porzicz. Innerhalb dieser größeren Bezirke wurden noch weitere
Viertel (quartae) unterschieden. Für jeden der beiden Hauptteile wurden
eigene Losungsherren erwählt Im Jahre 1411 je ein Schöffe und je
zwei Gemeindemitglieder. Die Losungssummen, welche sie in ihren
Distrikten hereinbrachten, wurden im vorliegenden Buche eingetragen,
aber nur sie, die Verzeichnisse der steuerpflichtigen Be¬
wohner fehlen. Daß aber die Losunger der einzelnen Stadtteile
solche in Händen hatten, daran ist nicht zu zweifeln und es gibt auch
im Hauptbuche genug Anhaltspunkte hiefttr*). Aus diesen kleineren
Handregistem wurden dann die Hauptergebnisse ins große Buch auf¬
genommen, das bei den Abrechnungen des Losungerkollegiums als
Grundlage gedient haben muß. Was aber diesem Neustädter Kodex
seinen Wert gibt, ist das, daß in ihm die aus den Losungssummen
erfolgten Ausgaben gewissenhaft und ziemlich detailliert gebucht wurden.
Da erfahren wir, was die Neustadt an Königssteuer zahlte, was sie an
die königlichen Beamten gab und was sie für ihre eigenen Bedürfnisse
verausgabte, lauter interessante Nachrichten.
Die Steuer aufzulegen, das war Sache der Gemeinde (communitas
imposuit et consensit). Auch auf der Neustadt war es Usus, eine be¬
stimmte Anzahl von „Bemen* zu beschließen, wobei man unter der
„bema* */ 8 Groschen vom Schock verstand. Daß die Inanspruchnahme
der Bevölkerung keine geringe war, zeigt nachstehende Zusammen¬
stellung.
*) Näheres darüber bei Celakovsky, a. a. 0 . 74.
*) So z. B. Vermerke wie folgender: Pro papiro et coopertorio ad regiatnun
iiij g. (fol. 6).
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 71
Jahr
Zahl der
Losungen
Zahl der bei den
einzelnen Losungen
geforderten Bemen
Loeungsergebnis
An die königliche
Kammer abgemhrte
Steuer
1412
3
5, 3, 4
1074 Sch. 19 Gr.
536 Sch.
1413
3
4, 5, 4
1141 Sch. 38 Gr.
476 Sch.
1414
1
4
350 Sch. 33 Gr.
—
1415
3
5, 3, 2
889 Sch. 56 Gr.
879 Sch. 20 Gr.
1516
4
3, 3, 5, 3
1175 Sch. 55 Gr.
467 V, Sch.
1417
2
2, 3
421 Sch. 27 Gr.
279 Sch. 45 Gr.
Neben den Hausbesitzern werden auch die Inwohner (inquilini)
zur Losung herangezogen. Die Losungsgelder dieser Gruppen werden
im Hauptbuche besonders ersichtlich gemacht Wie die Einteilung der
Neustadt zu Steuerzwecken im Laufe der Zeit sich änderte, so änderte
sich auch die Zahl der Losungsherren 1 ). Diese werden in ihrer Am-
tienmg unterstützt durch den Stadtschreiber (notarius civitatis), wie
auch von Bütteln (praecones) und Dienern (famuli). Die Büttel sagen
die Steuer an, mahnen auch zur beschleunigten Abfuhr. Die Diener
holen unter anderem etwaige Pfänder aus der Wohnung des säumigen
Pflichtigen *). Die Losungsherren sind verpflichtet, am Ende ihrer Amts¬
zeit über Einnahmen und Ausgaben, welche letztere sie gemäß dem
Aufträge des B&tes (iuxta mandatum dominorum) zu machen pflegten,
Rechnung zu legen.
Die Rechnungslegung der Losunger erfolgte gewöhnlich vor dem
Rat und der Gemeinde. Zumeist war es auch hier so, daß die Losunger,
daa, was sie einkassiert hatten, gleich wieder verausgabten 8 ). Die
Nachrichten des Hauptbuches gehen jedoch über das Jahr 1418 hinaus.
Zu den Jahren 1434, 1435 und 1436 liegen die Sammlungsergeb-
*) Siehe Tomek, Döjepis mösta Prahy. II. (1871) 353.
*) Da heißt es im Aungabenverzeichisse zum Jahre 1411: Praeconibua II g,
qm ebunaverunt, quod beraa velocius portaretur. Praeconibu« clamantibua pro
texna et famulis, qui vadia portaverunt inpigneracionis beme XLI g.
*) So erklärt sich die Eintragung zum Jahre 1411: Summa omnium percep-
tonnn quatuor quartarum pretactarum CCXXVII ji xxiiij g et tantumdem in di»
tnbutia, de quibus coram consulibus et magna concivitate racio est facta et be
□am com regiariamine liberi sunt dimissi.
72
Karl Beer.
risse vor, doch nicht mehr die Ausgabenverzeichnisse. Das Buch wird
karger.
In den Tagen der husitischen Wirren muß auch die Ordnung im
Losungswesen stark ins Wanken gekommen sein. Im Jahre 1439 fand
man es nämlich nötig, in Erinnerung zu bringen und zu betonen, daß
die Losungsherren zu rechter Zeit über alle Einnahmen und Ausgaben
Rechnung zu legen haben. Zugleich erhielten alle jene Losunger, die
zwischen 1419 und 1439 im Amte gewesen waren, das Absolutoriimi;
so wollte man wieder einen klaren Zustand schaffen.
Vermerke über erfolgte Rechnungslegung der jeweiligen Losungs¬
herren, die wir auch alle mit Namen kennen lernen, führen bis zum
Jahre 1554 herauf. Diese Registrierung war schließlich der alleinige
Zweck des Buches geworden.
Erwähnen wollen wir, daß sich auch in anderen Büchern der Neu¬
stadt gelegentlich kurze Nachrichten über deren Losung finden. Da
erfahren wir, daß 1394 Rat und Gemeinde beschlossen haben, daß auch
Schöffen und Losungsherren von der Steuerzahlung nicht frei sein
sollen 1 ). Wenn man sich erinnert, wie rasch die durch Karl IV. ins
Leben gerufene Neustadt empor gedieh und welch’ lebhaften Zuzug es
da gegeben hatte, so wird man es auffallend finden, daß Rat und Ge¬
meinde 1396 in einem Beschlüsse verlangen mußten, es sollten alle
verlassenen Häuser bekannt gegeben werden, damit sich jene, die ein
Anrecht darauf hätten, melden und diese Häuser wiederherstellen, sodaß
der städtischen Losung kein Abbruch getan werde. Sollte ein halbes
Jahr nach jener Kundmachung keine Meldung erfolgen, dann möge
sich der Rat solcher Häuser „unterwinden“ und sie zum Besten der Stadt
verwenden 8 ). Wir erfahren aber auch, daß die Losung nicht immer so
gehandhabt wurde, daß die gesamte Bevölkerung zufrieden sein konnte.
In den Städten des „Reiches“ waren es vielfach die herrschenden Ge¬
schlechter gewesen, die da auf Kosten der Handwerker zu leben suchten.
Auch auf der Neustadt wurden ähnliche Klagen laut Eine Aufzeich¬
nung vom Jahre 1400 spricht von der Zahlung ungleicher und unge¬
rechter Steuern (solucio inaequalium et injustarum bemarum 8 ). Man
suchte Abhilfe zu schaffen, indem man den 12 Losungem noch 24 recht¬
schaffene Männer als Berater zur 3eite stellte, von denen je 6 aus den
einzelnen Steuervierteln von der ganzen Gemeinde gewählt wurden.
*) Liber aententiarum aureus (1389—1418) G t .
*) Ebd. G, b .
*) Ebd. G t .
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 73
6. Pilsen.
Auch diese Stadt besitzt zwei alte mit ihr im Losungswesen im Zu¬
sammenhang stehende Bücher.
Der ältere der beiden Pergamentkodizes (50:30 cm) zählt 59 Blätter.
Er ist leider nicht mehr vollständig. Seine Holzdeckel sind mit Lider
überzogen; der vordere ist an den Ecken mit Messingbeschlägen ver¬
ziert Gleich auf dem 1. Blatte lesen wir nachstehende wichtige Ein¬
tragung: Anno domini millesimo quadringentesimo decimo octavo de
mense Maio renovatus est über bernarum et censuum civitatis
Nove Pilzne decreto universitatis eiusdem. Wie ersichtlich, waren auch
hier die Losungsbücher bereits eine wohlbekannte Einrichtung. Es
handelt sich 1418 bloß um eine Neuanlage.
Wir entnehmen dem Buche, daß Pilsen zu Losungszwecken in
8 Viertal (partes) zerlegt war, deren Hausbesitzer im Register voran-
stehan *). Leider ist dieses Register nur mehr zum Teile erhalten. Das
2. und 3. Viertel fehlen ganz, vom 1. und 4. Viertel sind Fragmente
da und nur die Viertel 5 bis 8 liegen zur Gänze vor.
Zu den Namen der Hausbesitzer tritt eine Reihe wichtiger
Angaben hinzu, die das der Stadtsteuer unterworfene bewegliche
und unbewegliche Vermögen wie auch Gewerbe und Handel be¬
treffen. Vom unbeweglichen Vermögen werden in ihrem Kapitalwerte
namhaft gemacht: Häuser (Werte von 1 bis 15 1 / 2 Sch. Gr.), Höfe (curiae),
Stalle, Brauereien und Mälzereien (braxatoria und braseatoria), Mühlen,
Bäder, Fleisch-, Brot- und andere Verkaufsbänke, Haus-, Hopfen-
und Weingärten (beide in großer Zahl vorhanden!); weiters waren be¬
steuert das Barvermögen (parata pecunia) wie auch Renten (census).
Aber auch das Gewerbe (artificium) und Handel (obchod)*) mußten
zur Losung beitragen.
Da ein und dasselbe Handwerk in verschiedener Taxierung er¬
scheint (es geben z. B. Schuster von 1, 2 bezw. 3 Schock Losung), so
muß man wohl annehmen, daß die Größe des Betriebes, wie sie etwa
in der Gesellenzahl zum Ausdruck kam, Berücksichtigung gefunden hat
i) Stro&d ermittelte für die einzelnen Teile (partes) folgende Hftuserzahlen:
I: 36, H: 40, HI: 34, IV: 25, V: 36, VI: 37, VH: 41, VIH: 41. Im ganzen also
290 Häuser. Hiebei sind die Vorstädte nicht einbezogen. S. Sboraik möstsklho
hist musea v Plzni. Roönik I. 15.
*) Von einzelnen tschechischen Wortelementen abgesehen, ist die Sprache des
eisten Buches die lateinische, im zweiten tritt neben dem Lateinischen das Tsche¬
chische stärker hervor.
74
Karl Beer.
Auf die 8 Viertel folgen mit analogen Anmerkungen die zumeist
ärmeren Bewohner der peripherischen Stadtteile (Vorstädte) und zwar
unter den Titeln: Ante civitatem, Malicze, Wyeden et ortulani, Circa
hospitale, Piscatores. Daran schließen sich die Inquilini cum hereditate
und die Bewohner mehrerer Dörfer, die Untertanen der Bürgerschaft
waren und zur Stadtlosung beizutragen hatten. Die 7 Dörfer, die da
in Betracht kommen, sind heute: Skurnian, Boschkow, Koterow, Cemitz,
Badobschitz, Autuschitz und Doudlewetz, alle in nächster Nachbar¬
schaft der Stadt gelegen. Den Beschluß bilden die macella, die Ver¬
kaufsbänke der Stadt
Auf diese der Stadtsteuer dienende Liste folgt eine zweite, die
alle jene nennt, die Grundbesitz ha:ten — sein Ausmaß ist angegeben
— und die zum Königszins beizutragen hatten. Die Zinsbeträge der
einzelnen sind registriert Nach einer Urkunde vom Jahr3 1320 l ) sollte
von jedem der Stadt zugemessenen Lahne eine halbe Mark, d. i. 28 Prager
Groschen, Zins gereicht werden. Dieser Ansatz erscheint im vorliegenden
Zinsregister von 1418 wie in einem späteren von 1471 immer noch
festgehalten. Die Ordnung, in welcher die zinszahlenden Städter, Vor¬
städter und Dorfbewohner aufgeführt werden, hält sich an die des Lo¬
sungsregisters. Zur Zinsleistung war, wie gesagt, die grundbesitzende
Bevölkerung verhalten und nur die Fischer (piscatores) werden heran¬
gezogen, wenn auch bei ihnen der Grundbesitz fehlte.
Das zweite Losungs- und Zinsbuch, das gleichfalls im Pilsner
Musealarchiv aufbewahrt wird, stammt aus dem Jahre 1471, wie ein
einleitender Vermerk dartut: Anno domini millesimo quadringentesimo
septuagesimo primo prima die mensis Octobris renovatus est über
bernarum et censuum civitatis Nove Pilzne decreto universitatis
eiusdem. Pergamentkodex, 49 Blätter (44:34 cm), Holzdecke]. Auf der
Außenseite des Vorderdeckels hat man in neuester Zeit die Aufschrift
angebracht: Pilsner Grundbuch aus dem XVI. Jahrhundert 1491—1540.
(Der tschechische Titel geht voraus). Diese Bezeichnung trifft jedoch
nicht ganz das Bichtige. Der Inhalt des Buches ist dem des voraus¬
beschriebenen konform. Von Bedeutung ist es, daß hier die Übersicht
über alle 8 Steuerviertel erhalten ist Für die zinszahlende Bevölkerung
ist hier jedoch kein eigenes Begister eingetragen, sondern es ist im
Losungsregister bei allen Zinspflichtigen gleich auch die Höhe des ent¬
fallenden Zinses angemerkt
Was in den Pilsner Losungs- und Zinsbüchem auffällig erscheint
ist das: es tritt uns eine ganze Fülle von Korrekturen und Anmerkungen
*) Stmad, Listdr kräl. m&ta Plzn§. I. no. 12.
Losungsbücher and Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 75
entgegen^ wodurch mitunter die Übersicht sehr erschwert wird. Die
fielen Korrekturen betreffen Veränderungen im Stande der Besitzer wie
dar Habe. Zwei bis drei Hausbesitzer scheinen häufig übereinander ge¬
schrieben. Beide Bücher fanden eben nicht allein in den Jahren 1418,
bezw. 1471 Verwendung, sondern bildeten durch Jahre hindurch bei
der Einforderung der Losung und des Zinses die Norm und Grundlage.
Im Buche yon 1471 laufen die notwendig gewordenen Eintragungen
bis 1540.
Aus diesen Büchern ist tatsächlich das zu entnehmen, was sich in
unseren modernen Grundbüchern gebucht findet, aber noch mehr: da
lernen wir auch die Höhe des Barvermögens kennen, da findet sich
Gewerbe und Handel bewertet Der richtige Name für diese Bücher
wäre der eines Steuerkatasters und Urbars.
Die Pilsner Losungsbücher weichen demnach von denen anderer
Städte wesentlich ab. Sieht man davon ab, daß sie sich selbst als
über bernarum et censuum bezeichnen, so fehlt jeder weitere Hin¬
weis auf die Handhabung der Losung in dieser Stadt
Wir missen da die Angaben über die Zahl der jährlichen l ) Losungen,
über die Höhe der einzelnen Kollekten, über die erfolgte Abfuhr der
Steuer, über Losungsherren u. s. w. Auch die bekannten Ausgaben¬
verzeichnisse haben hier keinen Platz gefunden. Das alles zwingt zu
der Annahme, daß in Pilsen noch andere Bücher (Register) im Dienste
der Stadtlosung gestanden haben müssen; die vorliegenden Bücher ent¬
hielten lediglich die Grundlage, auf der alle Steuerbemeäsung fußte.
HL Zusammenfassendes über die Losung, im besonderen
über ihr Verhältnis zum übrigen Steuerwesen des aus¬
gehenden Mittelalters.
Für mehrere Territorien des deutschen Reiches darf man wohl den
Nachweis als erbracht ansehen, daß ihre Inhaber schon im 13. Jahr¬
hundert von allen Territorialinsassen eine ordentliche Steuer erhoben *).
Auch die Herrscher Böhmens konnten sich im Mittelalter auf ordent-
l ) Daß in Pilsen alljährlich venigstens einmal Losung verlangt wurde, dafür
spricht eine Urkunde vom Jahre 1406 (8tmad a. a. 0. nr. 215), der zufolge König
Wenzel die Jahr es «teuer (ben a regalis) der Stadt von 260 Sch. Gr. auf 200 Sch.
herabeetzi, ein Betrag, der auf dem Wege der Losung hereingebracht werden mußte.
Vgl. Kogler, Das landesfürstliche Steuerwesen in Tirol bis zum Ausgang
des Mittelalten. Archiv f. ö. Gesch. 90. Bd. (1901) 418 ft. und Bittner, Die Ge¬
schichte der direkten Staatssteuern im Erzstifte Salzburg. Ebd. 92. Bd. (1903)
S. 48öff.
76
Karl Beer.
liehe Abgaben stützen. Für die Zeit vom 11. bis 13. Jahrhundert wird das
„tributum pacis“ oder der »mir* (d. i. Friedensgeld) genannt, eine Abgabe,
über deren Wesen allerdings ungefähr ein Dutzend verschiedener An¬
sichten in der Literatur vorhanden ist*). Daß das tributum pacis eine von
dem in älteren Urkunden öfters genannten tributum annuum verschiedene
Abgabe gewesen wäre und als besondere ordentliche Jahressteuer daneben
bestanden hätte, wie neuestens Zycha annimmt 2 ), erscheint un¬
wahrscheinlich; soweit wenigstens die in diesem Zusammenhänge so
häufig zitierten Urkunden für die Wyschehrader Kirche in Betracht
kommen, steht die Identität dieser Abgaben außer allem Zweifel 8 ).
Wenn sich das tributum pacis im Laufe des 13. Jahrhunderts
gänzlich verliert, so werden wohl ganz mit Becht die zahlreich erfolgten
ImmunitätsYerleihungen als Erklärungsgrund herangezogen 4 ). Aber
ebenso richtig dürfte es sein, wenn mau die gerade in diesem Jahr¬
hundert so intensiv einsetzende deutsche Kolonisation berücksichtigt
Es war eine der besonderen Vergünstigungen, daß der Landesherr die
nach deutschem Becht angesiedelten Kolonisten von der Bestreitung
des tributum pacis ausnahm. Freilich durften hiedurch des Königs
Einnahmen in Wirklichkeit nicht geschmälert werden: der Landesherr
normiert dafür in den zahlreichen emphiteutischen Verträgen die an¬
sehnlichen jährlichen Zinsbeträge, die vor allem von den auf Königs¬
boden erstehenden Städten seiner Kammer regelmäßig zufließen sollten 5 ).
Im übrigen trat der Landesherr, wenn es notwendig war, wie an¬
dere Territorialfürsten mit außerordentlichen Steuern hervor 6 ). Zu Be¬
ginn des 14. Jahrhunderts liegen in Böhmen die Dinge so, daß der
*) Zuletzt handelte darüber Zycha in den Mitt. d. V. f. Gesch. d. Deutsch,
i. B. 4a Bd. 452 ff. *) A. a. 0. 60. Bd. 178.
•) Friedrich, Codex diplom. I. nr. 111 (1130) und nr. 287 (1178).
4 ) Zycha, a. a. 0. Bd. 49. S. 468.
ö ) Wenn man den späteren Kammerzins (census) auch nicht schlechthin mit
dem tributum pacis früherer Jahrhunderte identifizieren kann, wie dies oft ges¬
chieht (siehe z. B. Demel, Geschichte des Fiskalamtes in den böhmischen Landen.
Dopsch, Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs, Heft 6, S. 12), so wird
man immerhin im Kammerzins den Ersatz des geschwundenen trib. p. sehen dürfen.
— Die Befreiung der nach deutschem Recht angesiedelten Kolonisten vom trib. p.
erhellt recht deutlich aus einer im Jahre 1204 dem Johanniterorden gegebenen
Urkunde. Da heißt es unter anderem: liceat eis in quascunque hereditates suns
locare quos voluerint ita ut vocati iure Theutonicorum quiete et sine vexatione
utantur. Exactiones in tributo terrae et omnes alias ad usus nostros spec-
tantea indulgemus, sed habeant in Omnibus sicut habent theutonici securam Über-
tatem ius stabile et firmum (Boezek, Cod. Mor. IL 17).
«) Koß, Zur Kritik der ältesten böhm.-mährischen Landesprivüegien. Prager
Studien. Heft 16. S. 96—97.
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 77
König in bestimmten Fällen ein Beeilt auf eine außerordentliche Steuer
hatte, daß er eine solche de jure verlangen konnte 1 ). Eine solche Steuer-
Verpflichtung des Landes, die sich im Laufe des 13. Jahrhunderts ge-
wohnheitsrechtlich entwickelt haben muß 8 ), bestand zunächst bei Ge¬
legenheit der Krönung des Königs oder wenn eine Tochter verheiratet
wurde 3 ). Auf das Entgegenkommen (benevolentia) 4 ) der Stände war
der Herrscher angewiesen, wenn er darüber hinaus, etwa in finanzieller
Verlegenheit 6 ), bei Bekämpfung äußerer Feinde 6 ) oder aber bei Unter¬
drückung unruhiger Elementa im Innern des Landes 7 ) eine außer¬
ordentliche Steuer verlangte. In diesen Fällen bedurfte er einer land¬
täglichen Zustimmung.
Weiters ist f&r diese außerordentlichen Steuern charakteristisch, daß
sie als allgemeine Landessteuer gedacht waren: sie solltan alle Unter¬
tanen (universi subditi regni) oder, wie es auch hieß, arm und reich
(divites quam pauperes) treffen. Die Termini, die für sie zumeist in
Anwendung kamen, waren: bema (collecta) generalis (communis), pe-
ticio generalis, lantbern, gmeinpem, bema provincialis oder, weil dem
Volke allgemein bekannt und geläufig, kurzweg bema.
Was die Steuerobjekte anlangt, so stand in vorhusitischer Zeit an
erster Stelle: Grund und Boden. Doch war die allgemeine Steuer nicht
lediglich Grundsteuer, sie traf auch das Gewerbe (artifices, operarii) 8 ),
darunter vor allem Mühlenbetriebe und Schänken, und selbst den Vieh¬
stand *). Freilich wollen wir damit nicht sagen, daß bei jeder Landes-
steuererhebung alle diese Objekte herangezogen worden wären.
Wenn wir den allgemeinen Charakter der Landesbema betonen, so
bedarf es doch auch einiger einschränkender Bemerkungen: eine Aus¬
nahmestellung genießen nachweislich jene Güter, die der Adel in eigener
Begie bewirtschaftete oder seinen Dienern für zu leistende Dienste
überlassen hatte.
*) felakovsty, Codex j. m. I, n. 22.
*) Wenn Demel a. a. 0. S. 16 von einer »für diese Fälle zu Anfang des
14. Jahrhunderts erteilten Generalbewillignng der Stände« spricht, so erweckt dies
da Anschein, als wäre die Lanieasteuer in vorbezeichneten Fällen ein Novum
des 14. Jahrhunderts gewesen.
*) VgL Koß, a. a. 0. 8. 161t
4 ) u. *) Celakovaky, a. a. 0. n. 22.
•) Emler, Reg. IV. p. 272 *.
*) Emler, Ein Bernaregister des Pilsner Kreises. Abh. der k. böhm. Ges. der
Wnsenach. VL F. 8. Bd. (1877). VH. und Palacky, Formelbücher IL 8. 242.
•) Emler, a. a. 0. IV. und 16. 27. u. Celakovsfy, a. a. 0. II, n. 176.
•) Emler, a. a. 0. VH
78
Karl Beer.
Soweit die königlichen Städte des Landes in Frage kommen, so
ist kein Zweifel, daß auch sie zur Landessteuer beigetragen haben.
Nach der mehrfach herangezogenen Urkunde von 1331 hat König
Johann versprochen, bei Erhebung der Landesbema Geistlichkeit und
Bürger vom Adel nicht trennen zu wollen l ). Wenn der König durch
seine Patente die Landesbema ansagt, so wendet er sich neben den
anderen maßgebenden Faktoren auch an die Richter, Bürgermeister und
Geschwomen der Städte 2 ). Aber das glauben wir betonen zu müssen,
daß die königlichen Städte von der Landessteuer nur insofeme be¬
troffen wurden, als sie Landbesitz innehatten. Von solchem Besitz war
Steuer zu geben, ganz gleichgültig, ob er seitens der Bürger in eigener
Regie bewirtschaftet wurde oder aber an Zinsleute überlassen war. Auf
einige Urkunden wenigstens möchten wir verweisen, die das Gesagte
bestätigen.
Im Jahre 1327 erhält Goczlin, Erbrichter zu Kolin (Köln) neben
anderen auch die Begünstigung, daß seine 4 Lahne vor der Stadt von
allem Zins und aller Landsteuer (collecte sive generalis steure seu beme
angaria) frei sein sollen 3 ). Als 1335 König Johann der Stadt Aussig
ihre Privilegien erneuert, wird bestimmt, daß, wenn im Königreiche
Böhmen eine allgemeine Steuer (berna generalis) auferlegt würde, diese
von den Äckern und Erbgütern (de agris et hereditatibus) der Bürger
genommen werden solle, wobei die Bemakollektoren den von diesen
Äckern geleisteten Königszins zur Richtschnur zu nehmen haben 4 ).
Nach einer Urkunde vom 16. Juni 1341 hatten die Leitmeritzer vor
dem König darauf verwiesen, daß eine größere Zahl von Landgütern,
die seit alters mit der Stadt die königliche Bema (berna regia) d. L
hier allgemeine Landessteuer getragen hatten, entfremdet worden sei Um
dieser Minderung Rechnung zu tragen, bestimmt der König, daß, wann
immer in Zukunft allgemeine Landesbemen (beme regie generales) er¬
hoben würden, die Leitmeritzer bei einer ganzen Bema (tota berna)
30 Schock und bei einer halben Bema (berna media) 15 Schock nebst
den Löschgebühren (delenciales) zu leisten haben. Daß die Landesbema
hier in einer Pauschalsumme entrichtet wird und allem Anscheine nach
schon vor 1341 in dieser Art geleistet wurde, ist ebenfalls zu be¬
achten ö ).
i) Celakovsky, a. a. 0. I. n. 22.
*) Palacky, Formelb. II. S. 242.
8 ) OelakovBky, a. a. 0. EL n. 144; vgl. auch n. 690.
«) Ebd. n. 176.
•) Ebd. n. 229.
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 79
Und ganz in derselben Richtung führt eine Urkunde Karls IY.
für Schüttenhofen (1353) 1 ). Der König gesteht zu, daß die Bewohner
dieser Stadt mehr als billig belastet würden, wenn im Falle einer
Landesbema auch yon Schankwirten und Handwerkern der Stadt eine
Abgabe verlangt würde und verfügt, daß in dieser Stadt, wenn in Hin¬
kunft im Königreiche eine allgemeine Steuer bewilligt und gesammelt
würde, diese nur von Erbgütern und Mühlen, also von Besitz außerhalb
der Stadt erhoben werden dürfe. Wiederholt haben die Landesherren
Yorstädter (praeurbiales), die sich hauptsächlich aus kleineren Hand¬
werkern, Gärtnern und Arbeitern zusammensetzten und die bislang der
allgemeinen Landessteuer unterworfen gewesen waren, zur Stadt ge¬
schlagen und erklärt, daß sie nunmehr von der Landesbema eximiert
wären. Dafür sollten sie fürderhin alle Lasten der Stadt fragen 8 ). Wie
hätt? man in solchen Fallen von einer Exemtion von der Landesbema
sprechen können, wenn es Sache aller Städter gewesen wäre, zu dieser
Steuer beizufragen? Doch diese traf eben nur die landbesitzenden
Städter.
Anders freilich lagen die Dinge in den Herrenstadten. Da greift
die Verpflichtung, zur Landesbema beizutragen, in den engeren städt-
tischen Bereich herein, da trifft sie Gewerbe und Handel ebenso wie
den Landbesitz 8 ).
Die Grundsätze, die bei der Abfuhr der Generalbema der könig¬
lichen Städte in Betracht kommen, waren den sonst üblichen gleich.
La waren die für die einzelnen Kreise des Landes bestellten Kollek¬
toren, die die Steuer einkassierten und dafür ihr Löschgeld in Empfang
nahmen; es wurde auch hier in vorhusitischer Zeit die Steuer auf den
Lahn bezogen 4 ). Damit ist aber nicht gesagt, daß die Kollektoren an
jeden einzelnen Bürger herangetreten sind. Im Gegenteil: die Städte
*} Ebd. n. 338.
Ebd. n. 160, 176, 188.
*) Emler. a. a. 0. S. 16 u. 27 und derselbe, Neco o bernictvi öeskäm v do-
uich stareich. (Einiges über das Steuerwesen in Böhmen in älterer Zeit). Pam.
-n:h. VUL (1870) 32 ff.
4 ) Um den Unterschied zu zeigen, der den Bewohnern königlicher Städte
hinsichtlich der allgemeinen Landessteuer und der noch zu erörternden Königs¬
bauer geläufig war, setzen wir eine Eintragung aus dem Mieser Gerichtsbuch vom
iahre 1362 her: (Pilsner Musea 1 Archiv, n. 173. fol. 63a). 1375. Idem j laneum
Thcmünus resignavit Konlino tah jure, quod Konlinus dare debet Th omiin o j senag.
omni anno super festo sti Georgij j et super festo Galli j et vj pullos et XXXII
ova, conditione, quod ipse Thomlinus idem j laneum debet libertäre ab omni
ftowra, coUecta, censu,sed cum transit provincialis berna, tum Konlinus debet
iare bernam de eodem j laneo.
80
Karl Beer.
waren früh schon bestrebt (siehe Leitmeritz) feste Einheitssummen zu
erlangen, die dann auf die grundbesitzenden Städter unter Bedacht-
nahme auf die Anzahl der Lahne repartiert worden sein müssen. So
hielten es ja auch die Adeligen und der Klerus des Landes. Das Pak¬
tieren betreffs der momentan erhobenen Steuer oder die Festlegung eines
bestimmten Einheitsbetrages fiir die kommende Zeit charakterisiert ge¬
radezu die damalige Landessteuererhebung 1 ).
An eine Pauschalierung der Landesberna ist wohl auch zu denk m,
wenn jene Urkunde Wenzel IV. richtig gedeutet werden soll, die da
sagt, daß die Güter des Erzbischofs, des Bischofs von Leitomischl, der
Klöster und Städte von der Einhebung der Landessteuer durch die
Kollektoren ausgenommen sein sollen, da sich der König mit diesen
Faktoren darüber gänzlich geeinigt hätte 8 ). Diese Nachricht schaltet
natürlich auch ein weitergehendes Eingreifen der Kollektoren bei der
Steuerabfuhr dieser Kreise aus.
Wenn wir von einer allgemeinen Verpflichtung der königlichen
Städte, zur Landesberna bizu tragen, gesprochen haben, so darf freilich
auch nicht unerwähnt bleiben, daß es einzelnen Städten gelungen ist,
von der Zahlung der Landessteuer ganz befreit zu werden — für Mähren
wenigstens liegen mehrere Zeugnisse vor 8 ) — oder aber die Zahlungs¬
pflicht auf den Kreis der von der Bürgerschaft abhängigen Zinsleute
einzuschränken. So hat z. B. König Albrecht 1307 die Städte Königgrätz*
Jaromir, Chrudim, Hohenmaut und Poliöka von aller Steuerleistung
freigesprochen und nur für den Fall, als des Böhmenkönigs Töchter
sich vermählen, sollten die Zinsleute dieser Städte die Generalbema
mittragen 4 ). Auch die Bürger von Prag-Altstadt müssen ein ähnliches
Privileg erwirkt haben 6 ). In diesen Fallen konnten sich die Bürger
einer Erungenschaft freuen, die sie der Stellung des Adels in Sache der
Landessteuer nabe brachte.
Was die Landessteuer im Laufe des 15. Jahrhunderts betrifft, so
ergaben sich da wichtige Änderungen, insofeme die vom Landtage be¬
willigten Bemen nicht bloß mehr den städtischen Landbesitz, sondern
auch den Besitz und Erwerb in der Stadt treffen sollten. Man ist eben
*) Emler, a. a. 0. Das eigentliche Register.
*) Emler, Bemaregister u. s. w. XII. Emler denkt hiebei an eine in be¬
stimmten Betrftgen fixierte Stftdtestener, d. i. Spezialsteuer, was jedoch nicht
angeht.
*) So z. B. für Iglau (Boczek, Codex, dipl. Mor. VI. n. 237), Znaim (ebd. IV,
n. 301 u. 8. w.
«) Oelakovsky, a. a. 0. n. n. 83.
*) Ebd. I. n. 11.
Loeungsbücher und Loeungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 81
im 15. Jahrhundert von der alten Übung, die Generalbema vornehmlich
als Grundsteuer aulzufassen, abgegangen und hat dieser Steuer neue
Objekte unterworfen. Das bedeutete selbstverständlich für die Städte
eine Vermehrung ihrer Lasten*), wie sich überhaupt und im ganzen
die Lage der Städte unter den schwachen Regenten am Ausgang des
Mittelalters verschlechterte.
Die königlichen Städte wurden aber nicht nur zur Landessteuer
herangezogen, sondern sie mußten auch Spezialsteuem auf sich nehmen
und dieser Zustand hat sich durch das ganze ausgehende Mittelalter
erhalten. Nicht immer und überall sind in der vorhandenen Literatur
diese beiden Steuern, die nebeneinander bestanden haben, richtig ver¬
standen worden und so sind Verwechslungen und Vermengungen gar
nicht selten *). Selbst die Untersuchungen Kliers bringen hinsichtlich
der städtischen Spezialsteuer in einigen wesentlichen Punkten irrige
Ansichten.
Die Termini, die diese zweite Steuer bezeichnen, sind ähnlich zahl¬
reich wie die für die allgemeine Landessteuer. Nur die häufigsten setzen
wir hierher: bema (steura, collecta) regalis (regia, specialis), königliche
Losung, summa regis (besonders in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts
beliebt) und selbst auch census regalis 8 ). Bemerken wollen wir, daß
wohl der Terminus bema regalis gelegentlich auch die Landessteuer
bezeichnen kann; nicht aber kommt es vor, daß die städtische Spezial¬
steuer unter der Bezeichnung einer bema generalis genannt würde. Bei
aller Vagheit der Terminologie hat man eine derartige Bezeichnung für
die Spezialsteuer doch vermieden. Nur eine oberflächliche Lektüre der
Urkunden konnte Klier dahinbringen, dort von einer Spezialsteuer, oder
wie er sie nennt, von einer Königssteuer zu sprechen, wo es sich um
eine allgemeine Steuer handelt 4 ). Die Bezeichnung Königssteuer
ist deswegen nicht von der Hand zu weisen, weil sie in dem urkund¬
lichen Materiale weitaus die vorherrschende ist 6 ).
*) Vgl. Klier, Bemictvi krdl. CeskSho po välkäch husitak/ch do konce v£k u
Jagellonsköio. Casop. mos. ML öesk. 79. (1906) 1 ff., 231 ff., 365 ff.
*) Vgl. Emler, Bernaregisttr XI—XD; Winter, Kultnmi obraz Öesk^ch m&t.
L (1890) 3 ff. — Nicht nur, daß hier General- und Spezialsteuer nicht auseinander¬
gehalten werden, es wird schließlich auch noch die städtische Spezialsteuer mit
dem Kammerzins zusammengeworfen. — Weiters Prochaska, Beiträge zur Ver-
fiuBungBgeschichte Böhmens. Mitteil. d. Ver. f. Gesch. d. Deutschen i. B. Bd. 19
(1881) 8. 5.
*) Ygl. Klier, Struöny nastin bemictvi pred välkam husitsk^mi — Cas. m. 76
(1901) 28 f. und 216 t
*) Ebd. S. 29.
*) VgL Koß, a. a. 0. S. 98.
Mittelläufen XXXVI.
6
82
Karl Beer.
Mit der Besteuerung des ländlichen Besitzes der königlichen Städte
waren gerade jene Vermögensobjekte nicht getroffen, die deren vor¬
nehmste Steuerkraft repräsentierten: städtische Realitäten, Barvermögen,
Renten (Ewigzinse), Kaufmannschaft, Gewerbe und Handel. Diese Ob¬
jekte sollten also der Spezialsteuer unterworfen sein, die neben und zur
selben Zeit wie die allgemeine Landessteuer gefordert werden konnte,
dann aber des weiteren vom Könige ex mandato auch dann begehrt
wurde, wenn von letzterer im Lande keine Rede war. Es heißt unseres
Erachtens die Sachlage verkennen, wenn hiebei von einem Steuerbe¬
willigungsrecht der Städte gesprochen wird l ). Die Sprache der Ur¬
kunden sagt zu deutlich, daß in dieser Frage der Wille des Königs
entschied; wohl haben mitunter Städte vor dem Könige darauf ver¬
wiesen, daß sie durch die zugedachte Steuer zu sehr beschwert würden
und der König hat dann Dispositionen getroffen, daß die betreffenden
Städte ihre Steuerlast leichter verwinden konnten 8 ).
Wie die Spezialsteuer neben der Landessteuer einhergehen konnte,
darüber gibt uns einen guten Beleg das alte Stadtbuch von Neubyd-
schow 8 ). Von dieser Stadt verlangt König Johann 1311 eine Haus¬
steuer (bema vel steura domuum), und obwohl man wegen Nachsehung
dieser Forderung zweimal in Brünn und auch in Kuttenberg und Prag
vorstellig geworden war, mußte sie dennoch beglichen werden. Dieser
Steuerbetrag wurde bezeichnenderweise aus der Stadtlosung bestritten,
die so eingerichtet war, daß alles pflichtige Vermögen in Schock und
Groschen ausgedrückt war und bei der damaligen Kollekte vom Schock
1 Groschen gefordert worden war. Aber die Neubydschower haben
zur selben Zeit auch noch eine ganze Bema (d. i. Landesteuer) auf sich
nehmen müssen, wobei vom Lahne ein halbes Schock zu geben war.
Ähnliches berichtet für Brünn eine Urkunde aus dem Jahre 1292. Hier
hatten die Bürger anläßlich der Krönung Wenzels IL gegeben: in der
stat von ierem guet besunderlaich und ausserthalb der stat von irem
guet gemainen pem, der auf daz gantz laut waz geslagen 4 ).
Wir sagen, daß die Spezialsteuer neben der Generalsteuer auferlegt
sein konnte, aber nicht auferlegt sein mußte und daß die Auflage einer
Landesbema nicht auch schon eine Spezialsteuer involvierte, sodaß diese ge¬
wissermaßen als ein Ausschnitt aus jener aufzufassen wäre ö ). Damit haben
wir auch schon gesagt, daß die städtische Spezialsteuer ursprünglich keines-
! ) Dies tut Klier, a. a. 0. Bd. 76. 30 f. und Demel, a. a. 0. S. 16.
*) Vgl. z. B. ÖelakovBkjf, a. a. 0. II. n. 156.
») Kapras, a. a. 0. p. 11—12.
«) Rößler, a. a. 0. II. S. 378.
*) Vgl. Kogler, a. a. 0. S. 584 ff. und Bittner, a. a. 0. S. 492.
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 83
wegs den Charakter einer ordentlichen Steuer besessen hat — In diesem
Funkte kann man, soweit die vorhandene Literatur in Frage kommt
ganz verschiedenen Auffassungen begegnen: wenn nach der einen diese
Steuer von Anfang an eine ordentliche Abgabe war, so hat sie nach
einer andern diesen Charakter niemals erlangt 1 ).
Das Bichtige liegt hier doch wieder einmal in der Mitte. Wir
können den ungefähren Cang der Dinge verfolgen. Die städtische
Spezialsteuer wurde erst fallweise erhoben: wann immer den König
seine finanzielle Lage drängte und eine Generalsteuer seitens der Stande
weniger leicht zu erlangen war, da wandte er sich an die königlichen
Städte, aber auch königlichen Klöster. Sie erschienen in einer strengeren
Abhängigkeit von der landesherrlichen Gewalt sie wurden gerne als
Zugehör der königlichen Kammer angesehen und so setzte der König
hier seine Steuerforderungen noch am ehesten durch. Zudem vermochte
der König mancherlei Gegengaben zu reichen oder in Aussicht zu stellen
als da sind: Freiheit von Zoll und Maut Marktprivilegien u. dgl. m.,
sodaß es immer einen Vorteil bedeutete, des Königs Gunst zu besitzen.
Hätte sich der König mit dem Kammerzins und mit der den Land¬
besitz treffenden Generalbema bei den königlichen Städten begnügt
so wären diese um vieles besser gestellt gewesen als die untertänigen
oder Herrenstädte. Die Bewohner solcher Städte hatten neben der
Landesbema, die hier auch das städtische Erwerbsleben trat Jahreszins
zu geben sowohl von den ländlichen Liegenschaften als auch ihren
städtischen Realitäten (Häusern, Schänken, Verkaufsbuden u. s. w.) *)
*) Zycha nimmt (a. a. 0., Bd. 50. S. 182 f.) an, daß die Stftdtesteuem bereits
im 13. Jahrhundert als ordentliche Abgaben bestanden hätten. Er verweist
dabei auf eine Urkunde des Stiftes Kladrau vom Jahre 1212. Ihr zufolge bezeugt
Ottokar I., daß er von den Eaufleuten Kladraus 50 Mark Silber erhalten habe,
wofür er eine als »jus civile« bezeichnete Naturalabgabe, in der alljährlichen Lie-
ierung zweier Fuchsfelle bestehend, für seine Person erlassen und an das Kloster
übertragen habe. Abgesehen davon, daß die Echtheit dieser Urkunde nicht außer Zweifel
steht, kann man doch hier kaum von einer Steuer sprechen, sondern von einer
Abgabe, die wir mit jenen Zinsen auf eine Stufe stellen wollen, wie sie durch die
emphyteutischen Verträge normiert zu werden pflegten. — Bezüglich Prags im
besonderen hätte nach Z. (a. a. 0. 60, S. 506 f.) zuerst eine ordentliche Jahrsteuer
bestanden; doch diese »scheint gegen Ende des Jahrhunderts (d. i. 13. Jahrh.)
irgendwie abgelöst gewesen zu sein«. »Um so wichtiger wurden die außerordent¬
lichen Schatzungen«. Abgesehen davon, daß für eine solche Ablösung jede
Nachricht fehlt, ist eine solche höchst unwahrscheinlich: die Entwicklung war
zumeist die, daß aus der außerordentlichen Abgabe eine ordentliche wurde, aber
nicht umgekehrt. Im Gegensatz zu Z. kennt Demel (a. a. 0. S. 16) die Stftdtc-
steuer nur als »außerordentliche öffentlich-rechtliche Einnahme«. Ebenso Klier,
a. a. 0. Bd. 76, 30ff.
*) Vgl. Celakovsky, a. a. 0. H. n. 720, 804, 805.
84
Karl Beer.
Letztere Einrichtang aber hatte sich in den königlichen Städten, wenn
auch Ansätze nachweisbar sind, nicht weiter ausgebildet *). Man wird
also die Königssteuer der Städte, die Besitz und Erwerb innerhalb der
Mauern treffen sollte, durchaus begreiflich finden.
Und wenn die Steuerforderungen des Königs erst fallweise und
mitunter sehr häufig erfolgten, so sehen wir noch in der ersten Hälfte
des 14. Jahrhunderts das Bestreben des finanziell oft verlegenen Königs
Johann hervortreten, sich bestimmte Steuerbeträge der Städte für eine
Reihe von Jahren zu sichern i) 2 * ).
Die Summen, die der König forderte, mußten selbstverständlich
repartiert werden. Nur so wird es verständlich, wenn eine Urkunde
vom Jahre 1375 für Deutschbrod sagt, daß im Falle, als den Städten
Böhmens eine gemeinsame Steuer auferlegt würde, „quod extunc eines
ciuitatis Brodensis predicte partem eos concernentem, ut est moris et
dare soliti sunt actenus“ auf sich zu nehmen hätten 8 ). Oder wenn in
einer Budweiser Urkunde aus dem Jahre 1335 von einer „summa et
quantitas“ die Rede ist, die die Stadt an Königssteuer zu tragen hat 4 ).
Die Verteilung auf die einzelnen Städte nahm der König, resp. seine
Kammer in die Hand. Er hat die Proportion, in welcher die städtischen
Leistungen neben einander erscheinen sollten, festgelegt. So hat Karl IV.
1357 den Saazem die Zusicherung gegeben, daß sie in Zukunft bei
allen Steuern soviel zahlen sollen als die Bürger von Laun (tantum,
quantum cives de Luna et non plus nec minus) und diese Proportion
wurde betreffs der beiden Städte lange gewahrt 5 ).
Eine neue Phase in der Entwicklung der Städtesteuer bedeutete
es, als dann in der zweiten Hälfte des 14 Jahrhunderts die königlichen
Städte alljährlich bestimmte Steuerbeträge an die königliche Kammer
abzuführen begannen. Damit wurde die bisherige außerordentliche
Steuer zur ordentlichen. — Tomek vermutete, daß noch unter Karl IV.
ein Übereinkommen zwischen den beteiligten Faktoren erfolgt wäre 6 * ).
Irgendwelche Nachricht hierüber läßt sich nicht auffinden. Jedenfalls
haben es die königlichen Städte wie auch die Klöster als einen Gewinn
i) Zycha, a. a. 0. 49. Bd. S. 327.
*) Vgl. z. B. Celakovsky, a. a. 0. II. n. 212.
*) Ebd. II. n. 532.
4) Ebd. n. n. 173.
6 ) Ebd. II. n. 363. — Im Verzeichnis der Städtesteuem von 1418/19 zahlen
beide Städte eine Jahressteuer von 140 Schock. 1470 ist jedoch dieses Verhältnis
nicht mehr gewahrt. Vgl. Celakovaky, a. a. 0. II. p. 901 u. Font. rer. Austr. IL
20. nr. 531.
•) Tomek, Döjepis m. Prahy II. 360.
Losungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 85
Ansehen können, wenn an Stelle einer fast alljährlichen Steuer von
schwankender Höhe eine alljährliche Summe von bestimmter Höhe trat.
Die ersten urkundlichen Nachrichten, die die Städtesteuer als or¬
dentliche Abgabe bezeugen, gehören bereits der Hegierung Wenzels IV.
üL Gleich zum Jahre 1379 ist überliefert, daß die Bewohner von
Schüttenhofen eine Jahressteuer bestritten l ). Nur einige der in der
Folge immer zahlreicher werdenden Belege sollen noch genannt werden:
Die Stadt Pilsen hat bis 1406 alljährlich (singulis annis) eine Steuer
Ton 260 Sch. Gr. geleistet, soll aber von nun ab ob ihrer besonderen
Treue und Verdienste bloß 200 Sch. Gr. abzuftihren verpflichtet sein *).
Kaiser Sigismund, der mit der Stadt Pilsen nicht minder zufrieden ist
ab sein Vorgänger, bestätigt diese Freiheit (1434) 8 ). Bawor von Schwan¬
bag stellt dem König Wenzel Stadt und Schloß Tachau, das von den
Sehwanbergen gegen die Summe von 1200 Schock pfandweise über¬
laden worden war, zurück. Vorgenannte Summe will der König nun¬
mehr in der Weise tilgen, daß er dem Bawor von Sch die „bernen
und erbczinsen* überweist, welche „die burger und inwoner der stat zu
Mi e z ierlichen zu geben pflichtig sint Ä 4 ).
Es ist nun gar nicht zu leugnen, daß auch in dieser vorgerückten
Zeit immer noch von einem Aufsetzen und Auflegen von Städtesteuem
die Bede ist. So z. B. erklärt König Wenzel IV. in einer Urkunde
Tom 5. Mai 1401, daß den Aussigem von ihrer „bem" im Betrage von
120 Mark „als oft man in die pfligt ufseczen“ 20 Mark er¬
lassen sein sollen 6 ). Doch es erhellt aus einer Urkunde vom Jahre
1404 ganz deutlich, daß es sich trotz dieser leicht irreführenden Stili¬
sierung um eine Jahressteuer handelte 6 ). Daneben ist weiters festzu¬
stellen, daß sich eben der König mit den feststehenden Jahressteuem
auf die Dauer doch nicht begnügt hat und neuerdings außerordentliche
Hilfen (juvamina, adjutorium) von seinen Städten heischte. Gerade die
zahlreichen kriegerischen Verwicklungen des Landesherren im Laufe des
15. Jahrhunderts waren es, die ihn nötigten, immer wieder zu den
städtischen Hilfsquellen seine Zuflucht zu nehmen *).
i) CelakoYsky, a. a. 0. IL n. 661.
*) EbdL II. n. 792.
*) Strnad, Listär kräL m. Plznö L n. 342.
«) Celakovsky, a. a. Ü. IL n. 801. Und weitere Belege: Ebd. L
123, 131, 134, 136, 143, 146, 192; IL n. 611, 742.
*) Ebd. n. n. 740. 4pF
«) Ebd. IL n. 759. € W
T ) Das Losungsboch der Stadt Mies (1446—1502) läßt deutln#
die Stadt neben der ordentlichen Jahressteuer (summa regia) hätif
liehe Steuerforderangen des Königs, die die königlichen Städte betiflj
1
86
Karl Beer.
Aus der Zeit Wenzels IV. und Georgs von Podebrad sind Ver¬
zeichnisse erhalten, die vor allem über die Jahressteuer der einzelnen
königlichen Städte und Klöster Aufschluß geben. Das erst? Verzeichnis
gehört in die Zeit 1418—19 l ), das zweite in das Jahr 1470 *). Um
die Konstanz der meisten Jahressummen zu zeigen, lassen wir die An¬
gaben der beiden Verzeichnisse, soweit sie die (königlichen) Städte be¬
treffen, folgen. Da wo sich Differenzen ergeben, hatte jedenfalls der
König eine besondere Veranlassung gehabt, die fixen »Summen* abzu-
ändem.
1418
—
19 1470
1418—IS
1470
Prag-Kleinseite
90 Schock 90
Schock
Aussig
100 Schock
100 Schock
Beraun
88
»
88
Leitmeritz
to
o
©
¥
200
»
Pilsen
200
»
140
»
Kolin
160 „
160
»
Tachau
120
»
120
»
Öaslau
220 »
220
»
Mies
140
»
150
»
Kaurzim
160 »
160
»
Taus
80
»
80
»
Nimburg
140 ,
140
»
Klattau
100
»
260
>
Schüttenhofen
80 ,
100
>
Pisek
175
»
175
»
Jaromef
100
»
Budweis
200
»
200
»
Königgrätz
330
>
Wodnian
30
»
30
Hohenmaut
230
>
Schlan
150
>
140
»
Chrudim
150
»
Laun
140
»
180
»
Policka
110
»
Saaz
140
»
150
Melnik
50
»
Kaaden
150
»
170
»
Tabor
70
»
Brüx
150
»
100
Schon im 13. Jahrhundert begegnen wir dem Wunsche des Königs,
daß die von ihm geforderte Spezialsteuer in den einzelnen Städten eine
billige Verteilung finde. Dem König stand ja nicht der einzelne Bürger,
sondern die Gemeinde als Steuersubjekt gegenüber. Für Königgratz
empfiehlt Wenzel II. (1297) eine Abschätzung der Hofstätten (area?), da
ursprünglich die Absicht vorwaltete, diese und nicht die Häuser zu
besteuern. Die Schätzung wurde den Geschwomen der Stadt zugedacht *).
Mit dem Wunsche des Königs nach einer Taxierung der steuer¬
pflichtigen Objekte begegnete sich der der Gemeinden. Sie hatten ein
unmittelbares Interesse daran, daß solche Schätzungen vorgenommen
mußte. So in den Jahren: 1458, 1461, 1464, 1474, 1476, 1479, 1487, 1490 u. s. w.
Auch diese »juvamina« wurden aus den Losungsgeldem bestritten.
l ) Abgedruckt bei Oelakovsky, a. a. 0. II. n. 701; teilweise bei Emler, Bema¬
register XI. u. dems., Pamätky arch. VIII. 26—27. Berücksichtigt man alle für
eine zeitliche Fixierung vorhandenen Anhaltspunkte, so bleibt die Zeit 1418—1419.
*) Abgedruckt in Font. rer. Aust. II. 20. nr. 531. Auf ein weiteres Ver¬
zeichnis, das sich in einem Pilsner Stadtbuch findet, verweist Winter, a. a. 0. I. 6.
•) Öelakovsky, a. a. 0. II. n. 67.
Loeixngsb&cker und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 87
werden. Denn sie waren selbst auch gezwungen, an ihre Mitglieder
mit Steaerfbrderungen heranzu treten, wenn der Haushalt ordentlich ge¬
führt werden sollte. Der König hat das Hecht der Selbstbesteuerung
zwecks Deckung kommunaler Bedürfnisse ausdrücklich anerkannt l ) und
auch die Richtlinien angedeutet, an welche man sich bei Erhebung
:_ er städtischen Abgabe, oder wie man sie zumeist nannte, der Losung
zu halten hatte. Doch diese Richtlinien waren keine anderen als jene,
die er bei seinen eigenen Steuerforderungen beachtet wissen wollte.
Mit anderen Worten: es wurde die städtische Losung zu einer In¬
stitution, die eine doppelte Funktion zu erfüllen hatte; aus ihren Ein¬
gängen wurde die Königssteuer bestritten, aber auch ein großer Teil
jener Auslagen gedeckt, die im städtischen Haushalt notwendig geworden
sind 2 ). Und diese doppelte Aufgabe versieht die Losung durch das
f^anze spätere Mittelalter hindurch. Wenn man vielfach in der Literatur
bei Besprechung der städtischen Spezialsteuer der Ansicht begegnet,
daß diese Steuer auf die Bewohner umgelegt oder repartiert wurde 8 ),
so trifft eine solche Darstellung nicht das Richtige. Ordentliche wie
auch außerordentliche städtische Spezialsteuem wurden mit den Losungs-
Feldern bestritten und nur so.
Einen ausführlicheren Beleg über die Art und Weise, wie man zu
Beginn des 14. Jahrhunderts die Abschätzung der steuerpflichtigen Ob¬
jekte durchgeführt hat, um darauf die Losung zu basieren, gibt uns
das bereits erwähnte Stadtbuch von Neubydschow. Jedenfalls gehört
diese interessante Taxierung in jenes Jahr, in dem man die Führung
des Buches begonnen hat, d. i. 1311. Da wurden fürs erste einge-
schäezt alle Ackergründe. Der Lahn wurde hiebei verschieden ge¬
wertet, was dadurch erklärt wird, daß man die Bonität des Bodens be¬
rücksichtigte. Der Wert des Lahnes bewegt sich zwischen 4 und
20 Schock. Daran reihen sich die Hofstätten (areae domuum).
Auch ihr Wert ist verschieden (von bis 6 Mark). Hofstätten am
Ringe und in den Hauptstraßen stehen über jenen, die sich in den
abgelegenen Stadtteilen oder außerhalb der Mauern befanden. Auch die
Area der Verkaufsbänke und Mälzereien wurde eingeschätzt Und deutlich
*) So heißt es z. B. betreffe der Saazer (ebd. II. n. 364): collectas, lozungns
—u solnriones alias quas libet percipiant et pro necessitate dicte civitatis
iistribu&nt et impendant und ähnlich ebd. II. n. 445.
Wenn die Bürger von Taus vor Wenzel II. erschienen sind, damit er
ein Privileg ihres Notars »super ordinacione solucionis expenBarum, subsidii
rt collecte* bestätige, so handelt es sich hier sicherlich um die Ordnung der Studt-
. in jener doppelten Funktion. Ebd. 11. n. 54.
* So Klier, a. a. 0. Bd. 76. 35.
88
Karl Beer.
wie in wenigen derartigen Quellen ist hier ersichtlich, daß auch das
Gewerbe der Losung unterworfen sein sollte. „Insuper sciendum, quod
omne8 artifices ad ciyitatem pertinentes de suis artificiis ad TU marcas
in suis ezaccionibus sine contradicdone qualibet sunt locati* 1 ). Hiebei
wollen wir nur das eine betonen, daß ein Unterschied zwischen den
einzelnen Handwerken und Betrieben nicht gemacht wird 8 ).
Mit diesen Gattungen von Steuerobjekten, wie sie zu Neubydschow
überliefert sind, dürften die der meisten Städte des Landes um jene
Zeit übereingestimmt haben. Im Laufe des 14. Jahrhunderts erweitert
sich jedoch der Kreis der pflichtigen Objekte und das ist ganz be¬
greiflich: wurden doch auch die Anforderungen, denen die Losungser-
gebnisse genügen sollten, immer größer. In der zweiten Hälfte des
erwähnten Jahrhunderts finden wir durch die Losung getroffen: Felder,
Wiesen, Gärten (auch Wein- und Hopfengärten), Wohnhäuser 8 ), Hof¬
stätten, Scheunen, Ställe, Bäder, Brauereien, Mälzereien, Buden und
Verkaufsbänke, Bargeld (parata pecunia), Renten (Ewigzinse), Lei'bgeding,
Seelgerät imd Waisengelder. Aber noch mehr: auch Handel und Ge¬
werbe waren der Losung dienstbar 4 ).
*) Kapras, a. a. 0. p. 24 sqq.
*) In anderen Städten (Pilsen, Budweie, Prag-Altstadt u. s. w.) wurde ein
Unterschied gemacht
•) Die ursprüngliche Absicht, nur die Baugründe (areae) zu besteuern, ist hier
früher, dort später zurückgetreten und es werden dann die Häuser besteuert
Werden z. B. in Pilsen schon 1344 Häuser der Losung unterworfen (Stmad, a. a. O.
I. n. 69), so wird noch bei der Gründung von Prag-Neustadt (1348) zugesichert,
daß nur die Baugründe von Abgaben getroffen werden sollen, nicht aber die
Häuser (edificia), »quantumcumque sollempnia et ordinata fuerint eumptuose« ,..
Celakovsky, a. a. 0. I. n. 49. In Kaaden wieder erscheinen noch 1371 neben der
»schaczung der hewser« auch die der »holstete«. Ebd. H. n. 443. Solche lokale
Verschiedenheiten dürfen nicht wundemehmen. Vgl. hiezu auch Zycha a. a. O.
60. Bd. 512 f.
4 ) Es war demnach die Losung hierzulande nicht lediglich Vermögenssteuer,
sondern auch Erwerbsteuer. Freilich ging man damals nicht so weit wie heute t
daß mau für jedes Jahr das mittlere Erträgnis der Erwerbsuntemebmung zur
Grundlage der Besteuerung gemacht hätte, sondern bewertete das Handwerk des
einen und den Handel des anderen mit einer gewissen Schockzahl, nach der die
Losung in kommenden Zeiten gefordert wurde. So behält Zeumer nicht Recht,
wenn er sagt (Die deutschen Städtesteuem S. 89): Und in der Tat, wer hätte
unternehmen können, die fluktuierenden Einnahmen einer städtischen, Handel und
Gewerbe treibenden Bevölkerung, die zum Teil voraussichtlich nicht einmal wußte,
wie hoch sich ihre Einnahmen innerhalb eines ganzen Jahres belaufen, einer jähr¬
lichen d kten Steuerumlage zugrunde zu legen«. Z. weist damit die Annahme
einer Erw Steuer für die mittelalterliche Zeit zurück.
Loeungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 89
Um die Losung durchführen zu können, wurden vielfach gleich
anfangs Taxationen der pflichtigen Objekte durchgeführt und deren
Wert in Kapital ausgedrückt. Sodann wurde von Losung zu Losung
eine bestimmte Anzahl von Groschen vom Schock (Mark) gefordert
Die notwendige Taxation wurde durch die Stadtgeschworenen l ) oder
eine eigens erwählte Kommission 8 ) durchgeführt; es ist als sicher an¬
zunehmen, daß das Taxationsergebnis niedergeschrieben und zur Grund¬
lage und Richtschnur für alle kommenden Losungen wurde. Und so
kamen die Losungsregister, bezw. Losungsbücher zustande. Daß da,
wo der Kaufpreis zur Hand und bekannt war, dieser an die Stelle des
Schätzungswertes treten konnte, ist wohl selbstverständlich 8 ). Die bei
der ersten Taxation gewonnenen Werte waren nicht unabänderlich.
Man hat vielmehr, wie das Studium der Losungsbücher erkennen läßt,
die Kaufpreise der pflichtigen Objekte ins Losungsbuch hereingenommen
und als billige Basis der Besteuerung angesehen.
Doch nicht überall im Lande ist die Losung gleich anfangs auf
eine Taxation der pflichtigen Objekte gegründet gewesen. Gerade in
den größeren Städten (Prag-Altstadt 4 ), Leitmeritz 6 ), Eger) 6 ) läßt sich die
Selbsteinschätzung der Pflichtigen mit und ohne Eid noch in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts nachweisen.
Der König hatte, wie schon angedeutet wurde, an dem Schicksale
der Stadtlosung ein besonderes Interesse. Flossen doch aus dieser
Quelle die ordentlichen wie außerordentlichen Städtesteuem. Er ver¬
gewissert sich daher einer ordentlichen Handhabung der Losung, indem
er alljährlich durch seine Amtsorgane die Rechnungen der Losungs-
herren einer Überprüfung unterziehen läßt Oft wurde in Losungsfragen
die Entscheidung des Landesherren angerufen und man muß sagen, daß
er fast immer darauf bedacht war, daß die Steuerkraft seiner Städte
*) Celakovsky, a. a. 0. EL 67.
*) Ebd. IL n. 207.
*) So sollen zu Leitmeritz die Besitzer von Tischen und Verkaufsbänken
Losung geben »iuxta estimacionem predi et Talons e&rum aut eorum, quibus ab
aina emuntur, compar&ntur aut alias conquiruntur ... Ebd. IL n. 151. — Vgl.
auch n. 111 und 445.
«) S. oben S. 63.
*) Leitmeritz betreffend, heißt es in einer Urkunde vom Jahre 1394 (ebd. IL
a. 666), daß »Burger oder Inn^ohner, es sey Frawe oder Manne«, so sie »von
▼iertzig Schok grosser varend ^n Habe« schossen, keinen Eid ablegen brauchen.
•Item wer aber von viertzig Schocken varender Habe nicht geschossen mage, der
•oU geben sein Geschoss mit dem Eyde als das der Rathe in der egenannten
Stadt erkennet, will aber der Rathe denselben des Eydee uberheben, das mag er
wohl thun etc.
^ 8. oben 8. 55.
90
Karl Beer.
nicht unnötigerweise geschmälert werde. Der König bezeichnet neue der
Losung dienende Objekte 1 ) 1 tritt für die Erhaltung der alten ein *) und
erweitert den Kreis der pflichtigen Personen 8 ). Wie sehr den König
der Stand der städtischen Finanzen interessierte, erfahren wir ja auch
daraus, daß es den königlichen Städten nicht schlechthin gestattet war,
Anleihen aufzunehmen, sondern daß sie hiezu die Zustimmung des
Königs einholen sollten 4 ) und daß er weiters mitsorgen wollte, daß die
Last der Ewigzinse, die vielfach die bürgerlichen Gemeinden bedrückten,
abgelöst und beseitigt werde 6 ).
Zur Einhebung und Verwaltung der Losung hat man allenthalben
besondere Organe, die Losunger oder Losungsherren (collectores), er¬
wählt Sie führten über alle Einnahmen wie Ausgaben Buch und legten
außer den landesherrlichen Beamten auch dem Bäte und der Gemeinde
Rechnung. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts kam es insofern zu
einer Änderung, als die Losunger aufhörten, die Losungsgelder auch
zu verausgaben. Es hing das mit den Bestrebungen der Städte zu¬
sammen, nunmehr alle Einnahmen und Ausgaben in der Hand des je¬
weiligen Bürgermeisters zu konzentrieren. Letztere übernahmen nun
auch die entsprechende Buchführung und es hörten die Losungsbücher
auf, ausführliche Ausgabenverzeichnisse zu bringen.
Die Losungsbücher werden in diesem Punkte abgelöst durch die
Rechnungsbücher (Register) der Bürgermeister.
Die Losung bildete in den meisten Städten die ansehnlichste Ein¬
nahmsquelle; Ungeld, Zinsen von etwaigen städtischen Liegenschaften
und Realitäten u. s. w. treten dagegen zurück. Wenn daher über die
Losung Rechnung gelegt war, so war damit die Rechnungslegung in
der Hauptsache geschehen.
Die Zahl der Losunger war nach der Größe der Gemeinden ver¬
schieden und hat in dieser selbst wieder gewechselt In Prag gab es
zu Beginn des 15. Jahrhunderts 6 Losunger (officium sex dominorum)
in Budweis 4, in Saaz im 14. Jahrhundert bereits 8 6 ), in Eger zu
Ende des 14. Jahrhunderts 2 bis 3, zu Ende des 15. Jahrhunderts 4,
in Chrudim um 1400 4, in Mies immer 2.
Neben der Losung war in den königlichen Städten auch noch der
Kammerzins einzuheben, der vor allem die der Stadt zugemessenen
*) Celakovßky, a. a. 0. I. n. 29, H. n. 197, 328.
*) Ebd. I. n. 28, 29.
») Ebd. L 2S. IL 151.
«) Ebd. IL n. 364.
•) Ebd. I. n. 56, 132, U. 328.
ö ) Celakovsty, a. a. 0. II. 364.
LosnngifcöciwT n&i Lqec^wbhb bfekfec? Stifte uu
Gründe ^Lahne» trat Wenn für dessen Einkassierung nicht eigvn*
Organe (collectores) bestellt wurden lR in Budweis g^b es besondere
eolleetores censns regalisl so fiel auch sie den Losungsra tu v z, R
in Chrudim).
Die Mitglied» des Losungskollegiums waren z. T. dem Rate, z. T.
der Gemeinde entnommen. Zur Heranziehung außerhalb des Rates
stehender Personen war der Gemeinde eine weitergehende Garantie für
eine allen Teilen der städtischen Bevölkerung gereehtwerdende Amts¬
führung gegeben. Die Losung aufzulegen und deren Höhe zu bestimmen,
das war in manchen Städten (so Prag-Altstadt und XeustadO Sache
der Gemeinde, doch auch der Ratsbeschluß hat mancherorts hiezu gi'-
nögt 1 ). Im Gegensätze zu vielen Städten des „Reiches“, wo der Rat
die Losung beschloß und die Losunger nur dem Rate Rechnung zu
legen brauchten 2 ), war in den Städten Böhmens die Rechnungslegung
vor der ganzen Gemeinde oder wenigstens den Gemeindeältesten (seniomO
durcbgehends üblich und somit der Einfluß der Gemeinde in Losuugs-
sachen starker betont
Entlohnt wurden die Losunger tür ihre Amtierung zumeist durch
Geld, wie sie auch während ihrer Amtsführung auf Kosten der Ge¬
meinde zu zehren pflegten. Nur in Prag wollte man das Losungsamt
fast ganz zum Ehrenamte machen 8 ).
Die Losung wurde, soweit die Losungsbücher Aufschluß geben,
alljährlich verlangt Ob innerhalb eines Jahres ein- oder mehrmal, (Ihm
hing ganz von den jeweiligen Bedürfnissen der Gemeinde ab.
Daß zum Zwecke besserer Übersicht über die Pflichtigen, dann
aber auch, um das Stenergeschäft besser verteilen zu können, die Städte
in Viertel (qnartae) und diese mitunter wieder noch in Bezirke (partes)
oder nur in solche zerlegt waren, wurde verschiedenerorts oben an ge¬
deutet
Aach auf die Rolle, die die Losung im städtischen Rechtsleben
spielte, wurde bereits verwiesen. Hier wollen wir nur noch nach-
tragen. daß, wie zu Prag die Zeugenschaft vor Gericht mit der Losung
in Verbindung gebracht wurde, in Leitmeritz das Recht zürn Salzhandel *)
nad in Brünn zum Tuchhandel 5 ) von einer gewissen Höhe der J/Onung
abhängig gemacht wurde. Auch darauf sei noch verwiesen, daß die
Beantwortung der sehr widrigen Frage, ob ein bestimmter Besitz des
* S. z. B. ebd. n. 445.
? SJrfcbesg, a. a. 0. S. 195.
* E5fir>r T a. a_ 0. L Statut 110 and 113.
* ■ a. a. O. IL n. 330.
ä a. a_ 0. IL pag. 388.
92
Karl Beer.
besseren städtischen Erbrechtes und des Schutzes der Stadt *) teilhaftig
sein soll oder nicht, ganz davon abhängig war, ob von diesem Besitz
bislang Losung entrichtet wurde x ).
IV. Die Losungsbücher als Geschichtsquelle.
Außer Zweifel steht es, daß die Losungsbücher die vorzüglichste
Quelle abgeben, wenn wir die städtischen Steuer Verhältnisse und den
finanziellen Haushalt der mittelalterlichen Stadt im ganzen naher kennen
lernen wollen. Aber daneben geben uns diese Bücher noch mancherlei
andere Auskünfte, die wir kurz zusammenfassen möchten.
Die Losungsbücher kommen uns zustatten bei Aufrollung ver¬
schiedener statistischer Fragen. Eine Wohlhabenheitsstatistik der Stadt¬
bewohnerschaft ermöglichen sie, da in ihnen das unbewegliche und
häufig auch das bewegliche Vermögen fixiert erscheint Mitunter sind
sogar die einzelnen Vermögensgattungen ersichtlich gemacht und mit
Wertangabe versehen. Freilich wollen wir deswegen nicht behaupten,
daß das Losungsbuch den Vermögensstand ganz getreu wiedergebe.
Vom beweglichen Kapital zumindest gilt dies nicht Aber eine unge¬
fähre Statistik des Vermögens darf doch erwartet werden. Wir können
an der Hand dieser Vermögenssteuerlisten — denn solche waren sie
in erster Linie — im großen und ganzen feststellen, wie groß das
Vermögen derer war, die man damals als Reiche (divites) bezeiehnete,
wie viel es solcher Personen etwa in der Stadt gegeben hat und wie
groß daneben die Zahl der „Armen“ war.
Auch der Wohlstand der Stadt als solcher erfahrt seine Beleuchtung,
indem ja auch die Dörfer und Dorfschafts teile, die zur Stadt gehörten
und die Stadtlosung mitbestritten, registriert sind. Kennen wir den
Prozentsatz der verlangten Losung und das Losungsergebnis, so können
wir auch das Gesamtvermögen der Stadt in roher Weise berechnen
Auch zu einem Vergleich verschiedener städtischer Vermögen kann mar
weiterhin gelangen.
Interessant ist es auch, die lokale Verteilung von arm und reicl
in der Stadt zu verfolgen. Am Hauptplatz und in dessen NachbarschaV
begegnen wir den wohlhabenderen Bürgergeschlechtem, an der Peripheii
der Stadt, in den Vorstädten sind die Ärmeren zu finden; hier wohnei
die kleinen Handwerker, Gärtner, Taglöhner, Fischer, Hirten u. 8. w.
•) Ebd. I. Statut 136; Öelakovaky, a. a. 0. I. n. 92, 105 u. n. n. 455 sq<
u. Straad, a. a. 0. LL 247, 249, 262.
Loeungsbücher und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 93
Wenn das Losungsbuch die Häuser, bezw. Hausbesitzer und da¬
neben die Inwohner oder auch nur die Pflichtigen schlechthin ohne
jegliche Scheidung aufführt, so sind uns damit wertvolle Behelfe für
eine Bevölkerungs-, Häuser-, eventuell sogar auch Wohnungssta tistik
gegeben. Wir werden in den Stand gesetzt, die Volksziffer der mittel¬
alterlichen Stadt» wenn auch nicht genau — das bleibt für jene Früh¬
zeit ein unerfüllbarer Wunsch — so doch einigermaßen der Wahrheit
entsprechend zu ermitteln. Was in Bücksicht der Seelenzahl in chro¬
nikalischen und verwandten Berichten zu finden ist, das weicht von
dem wirklichen Zustand zumeist so sehr ab, daß man froh sein muß,
Quellen erwähnter Art heranziehen zu können, um halbwegs in Keine
zu kommen.
Man wird auch, was die Dichte der städtischen Bevölkerung an¬
langt, mitunter seine Vorstellung korrigieren müssen. Zu gerne neigt
man der Ansicht zu, daß in jener patriarchalischen Zeit auf das Haus
eine Familie entfallen wäre. Doch man trifft auch in den Städten
Böhmens im 14. Jahrhundert schon ein häufiges Abvermieten und in
der Landeshauptstadt finden sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts Häuser
mit 10 und mehr Parteien, eine Erscheinung, die an die moderne Zeit
gemahnt. Aber da muß gleich betont werden, daß dies beileibe keine
Durchschnittserscheinung war, sondern daß dies Einzelerscheinungen
waren, sonst müßte Tomek, der für Prag in der Zeit Wenzels IV. 100.000
Seelen in Anspruch nimmt, doch noch recht behalten.
Erwünscht sind alle jene Angaben, die sich auf den Beruf der
Pflichtigen beziehen. Wären solche Angaben nur immer konsequent
erfolgt, wie etwa in Pilsen, wo das Gewerbe und der Handel besteuert
waren, dann würde man zu einer abschließenden Statistik der städtischen
Berufe fortschreiten können. Bei der Unvollständigkeit der diesbezüg¬
lichen Quellenangaben dürfen wir nur einen ungefähren Überblick und
Einblick erwarten, der aber immerhin genügen wird, um die oft auf¬
geworfene Frage zu entscheiden, ob bei der Bevölkerung dieser oder
jener Stadt die gewerbliche oder agrarische Betätigung vorwaltete.
Auch der Topographie dienen die Losungsbücher. Es scheint ein
ganz allgemeiner Brauch im Lande gewesen zu sein, zu Losungszwecken
die Stadt in Viertel (quartae) oder Bezirke (partes) oder aber in Viertel
und diese weiter noch in Bezirke zu zerlegen, die Häuser, bezw. Pflich¬
tigen nach Vierteln und Be drken, nach Plätzen und Gassen zu ordnen
und bei dieser Ordnung für die Folgezeit zu verbleiben, sodaß dadurch
die Möglichkeit geboten wird, das alte Stadtbild zu rekonstruieren. An¬
gaben über Bauten, bezw. Reparaturen an Toren, Brücken und Türmen,
94
Karl Beer.
wie sie sich in allen Ausgabenverzeichnissen in großer Zahl finden,
helfen uns jenes Bild weiter auszuführen, zu ergänzen.
Nicht nur daß uns durch die Losungsbücher ältere Namensformen
der Städte und Dörfer, denen diese Bücher direkt dienten, überliefert
sind, die zahlreichen Beziehungen friedlicher und mitunter auch feind¬
seliger Art zu anderen Orten erschließen einen weiteren Kreis von
Ortsnamen, die der Forscher auf diesem Gebiet dankbar zur Kenntnis
nehmen wird.
Eine interessante Frage bildet es gerade auf böhmischem Boden
immer, über die nationale Zusammensetzung der Stadtbewohnerschaft
orientiert zu werden. Auch in diesem Belange gewahren die Losungs¬
bücher Anhaltspunkte: erstens durch das Namenmaterial der Pflichtigen
und zweitens durch die Sprache, deren sich die Bücher bedienen. Freilich
ist bei Verwertung der Familiennamen Vorsicht notwendig, aber wenn
wir z. B. in Chrudim oder Pilgram in vorhusitischer Zeit eine er¬
drückende Menge schönster deutscher Familiennamen vorfinden, so
werden wir keinen Anstand nehmen, diese heute spezifisch tschechischen
Städte als vormals gut deutsche Städte zu erklären. Andererseits wird
man z. B. bei Mies, wie eine Durchmusterung der dortigen Familien¬
namen dartut, den tschechischen Einschlag nicht verkennen dürfen.
Was die Familiennamen der Pflichtigen anlangt, so lassen sie er¬
kennen, daß diese um die Wende des 14. Jahrhunderts noch nirgends,
auch in Prag nicht, etwas Fertiges vorstellen, sondern noch mitten im
Stadium der Entwicklung drinnen waren. Es wird das eine Mal sogar
der Rufname noch allein registriert, ein anderesmal das Patronymikon
hinzugefügt und ein drittenmal dem Rufnamen eine Handwerks- oder
Herkunftsbezeichnung angeschlossen. In allen anderen Fällen freilich
erscheint der Familienname bereits ausgebildet, kommt uns aber in den
verschiedensten Schreibweisen unter. Wo wir in den Losungsbüchern
eine Reihe von Jahren überblicken können, da sehen wir, wie Patro¬
nymikon, Handwerks- und Herkunftsbezeichnung zur Ausbildung des
Familiennamens hinüberführten.
Im Zusammenhänge damit könnte sich die Frage aufdrängen, wie
viele Familien sich vom Mittelalter her in der betreffenden Stadt er¬
halten haben. Die starken Umwälzungen, welche gerade die Städte
Böhmens erleben mußten, lassen es erklärlich finden, wenn die Zahl
jener Familie zumeist eine recht bescheidene sein dürfte. Und selbst
dann, wenn ein Familienname des ausgehenden Mittelalters heute noch
vorkommt, ist die Identität der Familien deswegen noch nicht erwiesen.
So kommt auch Bienenberg, der vor mehr als hundert Jahren die Ge¬
schichte der einstmals deutschen Stadt Königgrätz zu schreiben unter-
Losungsbücber und Losungswesen böhmischer Städte im Mittelalter. 95
nommen hat und noch ein altes Losuugsbuch (1390—1403) als Substrat
verwerten konnte, zu der bezeichnenden Äußerung (S. 192): „ Besonders
merkwürdig ist es aber, daß aus allen in dem Buch verzeichneten
bürgerlichen Namen fast kein einziger auf itzige Inwohner dieser Stadt
passet* l ).
Auch die Vermerke in den Namenlisten, die sich auf Verwandt¬
schaft oder Herkunft beziehen, können gute Dienste tun. Werden in
dem einen Falle dem Genealogen bürgerlicher Geschlechter wünschens¬
werte Anhaltspunkte geboten, so lassen Angaben der zweiten Art er¬
kennen, aus welchen Gegenden die Stadt Zuzug aufzuweisen hatte und
wie groß etwa dieser innerhalb bestimmter Zeiten gewesen ist Freilich
kann eine solche Studie nur dort platzgreifen, wo die Losungsbücher
über weitere Zeiträume Aufschluß geben. Das wäre in Eger, Mies und
Budweis der FalL
Von Interesse sind weiters jene Mitteilungen, welche yon Besuchen
des Königs, der Königin oder der hohen landesfürstlichen Beamten er¬
zählen; gestatten sie vielleicht einerseits das Itinerar dieser Personen
zu ergänzen, so wird andererseits durch Aufzählung all jener Ausgaben,
die der Stadt durch solch hohe Besuche aufliefen, ein interessantes kul¬
turgeschichtliches Material geboten.
Von außerordentlicher Beichhaltigkeit sind schließlich die Angaben
der Losungsbücher über Münzen, Maße verschiedener Art (Längen-,
Flachen- und Hohlmaße), über Häuser- und Bodenwerte, über Gehälter,
Löhnungen, Lebensmittelpreise, städtische Befestigungen, Bewaffnung,
Verproviantierung und Honorierung von Söldnern u. s. w., alles Dinge,
deren Geschichte noch vielfach einer Ergänzung bedarf
*) Bienenberg, Geschichte der Stadt Königgrätz, Prag 1780.
Die Reichtagspermanenz im Oktober 1848.
Von
Hugo Traub.
Als am 6. Oktober 1848 gegen Abend die schreckliche Kunde yon der
grausamen Ermordung des greisen Kriegsministers Grafen Latour sich
im versammelten Reichstage l ) verbreitet hatte, war es Abg. Dr. Ludwig
v. Löhner, Vertreter von Saaz und Führer der Deutschböhmen 8 ), welcher
unter dem unmittelbaren Eindrücke des soeben Vorgefallenen, wo Prä¬
sident Ant Strobach, um seine persönliche Sicherheit besorgt 8 ), die Flucht
ergriff und Vizepräsident Fr. Smolka unerschrocken den Vorsitz über¬
nahm 4 ), unter anderem den Antrag stellte, „daß der Reichstag in Be¬
tracht, daß gegenwärtig alle Bande gelöst sind, daß, wie wir wissen,
selbst das Ministerium in seinen Teilen nicht einmal formell zus amm en-
hängt 6 ), daß also in diesem Anbetracht der Reichstag den Antrag des
*) Bekanntlich hatten Mitglieder der Linken eigenmächtig den Sitzungssaal
aufsperren lassen und durch eine öffentliche Kundmachung die Deputierten zu einer
außerordentlichen Sitzung aufgefordert, worauf erst Präsident Strobach die Tagung
auf* 6 Uhr nachmittags anberaumt hat.
*) Löhners Charakteristik siehe bei Ant. Springer (Geschichte Österreichs,
IL 407). Vgl. auch dessen Österreich nach der Revolution.
•) Über die Flucht Strobachs vgl. bei Helfert, Aufzeichnungen und Erinnerungen
aus jungen Jahren, 9.
4 ) Daß Smolka die Führung übernahm und bis zum Schlüsse am Platze un¬
entwegt auaharrte, findet selbst bei einem J. A. Helfert unbeschränktes Lob und
Anerkennung. (Vgl. dessen »Aufzeichnungen«, 70).
6 ) ln der Früh des folgenden Tages war das Ministerium dem Beisf
Hofes gefolgt und auseinandergestoben, den einzigen Finanzminister Philipp
neben Handelsminister Fr. Th. Hornbostel in Wien zurücklassend.
a « M8B Bi l»
Die ReichÄtag^iermauenz iüi Oktober 1848.
i\*f Alois Borrösch *) zu semem Beschlösse erhebt *), womach eine
h >l nj tzsuiti. die ifot Reichstag ernennt, für die Ruhe und
i nveit der Stadl Wien, für die Robe und Heiligkeit
in sorgen hat* *), Löhnera Antrag, der aluch zum
*) BomscUK K^rae «erdü^ttt erwthnfcjm werden, /obwohl, oder weil der^ftibe
*t4* m WtOTfescluft wHicgrsplüs^heus noch m der * AU^t«^Deö itetiteehen
feovTaphie« Tcrrioßisai. Äeiwäibe Wwo 1797, gaaL in -Ibra#), Bach»
kodier von Bemx. spielte u* Prag i|m P^hirt? 1848 eine nicht ^bedeutende Rolle,
£r r^iaiigte steh «lg MitgHed dea^A^ und b&tfmäer# als Y*wte*ter
»n?rten Prajm Bezirke« (Kleb^ite) &o Wfeer Reichste#*, wö et tmtr iüf der
WMeo Pkfcz nahes* &ber — damals wax die Sache noch fcicht m »«»geprägt wie in
Krcgaaer — nicht mit dieser, sondern zumeist- : sift der Linken «tftöißte. Er wurde
' ;& -Vötuvter d»* K^gmehes Böhmen m »te permaagnitfo-Jft«H*az»oarehnJB ent-
Fty ?*nrtatMl : ; duRäh-: ,*eme. Rerfeti fe Auimerfcssttsalwil a»f «ücb au imken und
uuuttntitcfc • io den breiten Schichten Wim* einen guten .Ruf. IW 8fcu<t&uten-
teäitee verknete am 6~ Oktober ein Ministerium L3hner-BomMich. Dieser war es
<*:&, der «n 11. September »eine von 4er Vernunft (i«d ve» «tero pmktiwilieH Be-
•töna»*? gebotest* p hl r 3 & nteh tan reh e 8taa £ b s pra ch e ? verlangte. Nach Auf-
V»g des Eretesierer Reicbst^es Widmete er «ich »riMchließlich dem irtwcIiAite und
^U*xte giiuzikij «ifflr pöhtjafchen THtagke-ii. Bom*chg öiarafetesristik bei Springer
•&*&»dbie- Ctetejvtnhha, lt 411). ist *«: la»Ä und d&nw» ungerecht. Vgl t*uok
H StueU. Das fahr J848, II- &27.
*i Öorro*rh trat am 1L Bcptember für die Pftnuanec« Ae» Ucidtaiteges ein,
ofen er <be ühweugnäg aoiwpracli, 'laß *«&& aifeiit hinreichfen wird. um
^iijrx moralischen Eindruck zu jnacheit und $ter ReÄkÜOö wie ater die Anarchie
ir- »cg^n*. {VefhAödhmgeu des toter. Rekh^te#**? »ach der *tetii>gi\ Aoihahme,
* STty Des, worauf hier Löhner die Anspielung machte, kssan sich auf folgenden
Astrag Rorroddis rotn f.S- September 1848 buchen: »Ich beantrage, lieber erneu
v^icchaß der EÄtnmer &oe MAnnerti dea Vertrauen» von allen Parteien und allen
Vit&iCMlitÄter? b Permanenz au erklären, . also bilden wir selber einen bera-
^nd e n 8ieh0rbeit*aufischu Ö» (Verhandiuugvn dei ÖBterr. Reichstages, 8-878).
*}. In» konnte alkrduujfii nur ftir den Augenblick gemeint »ein, denn «eitlich
v ;er »öh hatte der Üof plötzlich Wien verlassen and «ich n?j*\b UloiUta begebe«,
$ j&er*dSL d<#rOber vgb meine böhmische Abhandlung ,DhW Hjnov^ röv.tduw vMwsW
____.' .i.i
98
Hugo Traub.
Beschlüsse erhoben wurde, fiel eigentlich mit der kurz zuvor eingebrachten
Petition der Wiener Nationalgarden zusammen, welche dahin ging, der
Beichstag möge «die Leitung der Sicherheit in Wien* selbst übernehmen 1 ).
Auf Antrag des Deputierten MU.Dr. Karl Zimmer, Vertreters von
Tetschen, wurde die Kommission „für die Aufrechthaltung der
Buhe* aus 10 Mitgliedern und zwar sofort gewählt, obwohl der Antrag¬
steller selbst nachträglich elf zu erwählen vorschlug, da die Kommission,
wie er meinte, doch einen Obmann haben müsse *). Irgend ein Abgeord¬
neter — merkwürdigerweise steht kein Name im stenogr. Protokolle ver¬
zeichnet 8 )— machte den Vorschlag, es möchten sämtliche 10 Mitglieder
aus Niederösterreich gewählt werden, „weil diese mit den Lokalverhält¬
nissen am Besten bekannt sein dürften* 4 ). Es wurden aber mit Berück¬
sichtigung beider Seiten des Hauses wie des Zentrums, Männer „von allen Par¬
teien* 6 ), in diese permanente Kommission, Wohlfahrts- und Sicherheitsaus¬
schuß, oder schlechtweg die Permanenz genannt 6 ), berufen, und zwar waren
Bezeichnung beibehalten. Demel (Proßnitz) berichtigte, daß es laut Protokoll vom
6. Oktober »Ausschuß 4 heiße, welcher »die Sorge für die Ruhe und Sicherheit der
Stadt übernimmt 4 , und so blieb es auch beim einfachen »Ausschüsse 4 . (Zur Be¬
nennung vgl. auch weiter oben). Woher aber Smets (Das Jahr 1848, IL 581) die
Nachricht hat, das Löhners Antrag sich auf einen »Sicherheitsausscbuß für Wien
und die ganze Monarchie 4 bezog, ist mir unbekannt.
*) Dahin zielte auch die besondere Eingabe der Nationalgarde des vierten
Bezirks, bei der bedauerlichen Lage der Stadt »einen geeigneten Beschluß zu
fassen, welcher zur Beruhigung der Gemüter beitragen könne 4 , sowie auch die
Adresse des Nationalgardekommandanten um Permanenzerklärung des Reichstages.
*) Merkwürdigerweise wurde darauf nicht reagiert und es wurden bloß
10 Deputierte erwählt. Es ist also unrichtig, wenn sich Abg. Demel am 19. Ok¬
tober auf den 3. Punkt des Protokolls vom 6. Oktober berief, worin es heißt: »Der
Reichstag ernennt durch Wahl aus seiner Mitte einen Ausschuß von elf Mitglie¬
dern 4 . Ein Beweis der ungenauen und lückenhaften Fassung der stenogr. Pro¬
tokolle.
*) Ein Umstand, der damals nicht selten vorkommt, woraus (vgl. auch Anm
vorher) zu ersehen ist, daß die »Verhandlungen des österr. Reichstages nach der
stenographischen Aufnahme, nichts weniger als stenographisch treu und ver¬
läßlich Bind.
4 ) Darauf bezieht sich auch Borroschs Ausspruch vom 9. Oktober, daß sie in
den »jetzt sehr wichtigen 4 Ausschuß »gerade jene Männer gewählt, welche . . .
namentlich Orts- und Personalkenntnis besitzen 4 . Galt es auch in der Tat von
allen den Erwählten?
•) So drückte sich Mahlers der »Freimüthige 4 , Nr. 158 aus.
•) Von der Reichstagspermanenz sind wohl zu unterscheiden: 1. Die Perma¬
nenz der Wiener Nationalgarde, 2. Permanenz des Wiener Gemeinderates, 3. Per¬
manenz des Studentenkomitees und schließlich 4. die Permanenz des Wiener Han¬
delsstandes. Es gab also in Wien gleichzeitig 5 verschiedene »Permanenzen 4 .
Außer der Sicherheitskommission bestand im Reichstage bereits seit Ende August
ein permanenter Finanzausschuß.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
99
es: RnA Brestei, Felix Stobnicki, LuAv. Löhner, Kaj. Mayer,
Ast. Füster, Earl Leop. Elandy, Ernst y. Yiolan A Jos. Goldmark,
Fr. Vidulich, Fr. Schnselka 1 ), von denen allerdings die über¬
wiegende Mehrzahl der Linken angehörte 8 ). Als deren Sitz wurde auf
Vorschlag Elandys das Lokal des Eonstitutionsauschusses bestimmt,
und noch während der Nachtsitzung am 6. Oktober sprach E. Mayer,
Vertreter von Brünn 1 ), als Obmann „desEomitees zur Wahrung
i) Während Schuselka (Deutsche Fahrten, IL 364) die Namen ebenso, wie sie
im Reichstagprotokolle Vorkommen, anführt, nennt ein anderes Ausschußmitglied,
Füster (Memoiren, IL 182), irrtümlich, wie es scheint, die Deputierten: Biliriski (?),
Brestei, Füster, Goldmark, Elandy, Löhner, Mayer, Schuselka, Skrda (?), Umlauft (?);
ebenso aber auch W. G. Dunder (Denkschrift über die Wiener Oktoberrevolution), ob*
wohl derselbe seine Darstellung, wie er selbst hervorhebt, auf Grund von »amtlichen
Quellen« niedergelegt hat. Mayer teilte am 9. Oktober im mährischen Landtage
mit, daß er die Ehre hatte, in die Kommission mit »Löhner, Violand, Füster, Gold¬
mark, Schuselka u. a. entsendet zu werden« (Mähr. Landtagsblatt, 1848). Was
am meisten befremdet, ist die Schilderung Heilerts (Geschichte Österreichs, L 30),
daß nämlich am 6. Oktober auf Antrag des Deputierten Goldmark eine per¬
manente Kommission, bestehend aus 3 Mitgliedern, nämlich Scherzer, Lasser,
Hubicki, ernannt wurde, welche auf Lassere Vorschlag um weitere zwei, Fischhof
und Catinelli, vermehrt wurde, daß sie am folgenden Tage vergrößert, so daß ihre
Zahl auf 2ö gestiegen ist. Helfert hat nämlich die von Löhner beantragte »Sicher-
hritskommi&ion«, wie sie Biliüski benannt, mit einer Kommission, die Goldmark
vertrat, verwechselt. Auf dessen Fürsprache wurden von Smolka selbst die Abge¬
ordneten Scherzer, Lasser und Hubicki vorgeschlagen, wozu sich noch Fischhof
(auf Lasser« Vorschlag) und Catinelli (auf Vorschlag Pillersdorffe) gesellten. Diese
Kommission sollte nach Goldmarks Befürwortung »gleich sitzen und sich mit den
Exekutivbehörden, die noch vorhanden sind, ins Einvernehmen setzen«, doch wurde
von ihr stillschweigend Abstand genommen und es konstituierte sich die Perma¬
nenz, wie sie von Löhner beantragt worden war. — ln Bezug auf Dunders
Denkschrift, von der hier und weiter des öftera die Rede ist, will ich bemerken,
daß selbe vom Minister des Innern dto. 10. April 1849 mit folgenden Worten dem
mähr.-schlegischen Gubemialvizepräsidenten Grafen L. Lazansky empfohlen worden
ist: »nachdem dasselbe [Werk] durch seine loyale Richtung und durch die
wahrheitsgetreue Schilderung der Ereignisse vorzugsweise geeignet ist,
frische, auf entstellten und übertriebenen Berichten gegründete Ansichten und
Urteile über die Vorgänge im Oktober besonders unter jenem Teile des Publikums
zu berichtigen, welches fern von der Residenz nicht in der Lage war, sich von
der Wahrheit der angegebenen Tatsachen selbst zu überzeugen«. (K. k. mähr.
Statthaltereiregistratur). Unter dem Namen Dunder verbarg sich laut Beilagen
Joh. Saazer, Kanzleiexpeditor und Oberleutnant im Nationalgardeoberkommando.
*) Der Rechten war nur Klaudy entnommen, Brestei und Mayer saßen im
Zentrum, Vidulich, obwohl Südslave und Stobnicki als Pole gehörten nebst den
Übrigen der Linken sn.
*) Wohl zu unterscheiden von Michael Meyer, Deputierten für Wels in Ober¬
österreich.
7*
100
Hugo Traub.
der Sicherheit, Buhe und Ordnung*, und Fr. Schuselka hat als
Berichterstatter sowie Referent des «permanenten Ausschusses* zum ersten¬
mal in der Kammer Bericht erstattet 1 ). Zur ersten Veränderung kam
es aber schon am 7. Oktober. Dem «erschöpften* Löhner wurde vom
Reichstage gestattet, da «seine Kräfte durch die nächtliche Sitzung 2 ) zu
sehr erschöpft sind*, daß ihn sein Freund Adam Bielecki ersetze 3 ),
während Brestei — wenn er auch formell eine zeitlang noch im Perma-
nenzausscliusse verblieb — schriftlich den Antrag vorbrachte, welcher
auch zur Annahme gelangte, daß ihn «in Rücksicht seines geschwächten
Gesundheitszustandes* K. Zimmer im Ausschüsse vertreten könne 4 ). Es
ist nicht ohne pikanten Beigeschmack, daß gerade derselbe Löhner, auf
dessen Antrag die Permanenz zustande gekommen, als einer der ersten 6 )
Reißaus nahm 6 ). Und Mayer präsidierte im Ganzen kaum einen
Tag 7 ), denn schon am 7. Oktober meldete Füster an Sehuselkas
Stelle der Reichsversammlung, der Obmann «des Ausschusses für
Sicherheit und Ordnung* habe einen «dreitägigen Urlaub* erhalten,
von dem er aber nicht mehr zurückgekehrt ist, obwohl derselbe am
6. Oktob3r «im Namen der Mährer* die stolze Erklärung abgegeben
*) Zur Charakteristik Sehuselkas vgl. Springers Österreich nach der Revolution,
sowie bei M. Smets, Das Jahr 1848, IL 532. Daß die SicherheitBkommission dem
Plenum jede halbe Stunde Bericht zu erstatten hatte, wie E. Widmann (Franz
Smolka, 92) mitteilt, ist ausgeschlossen und findet sich auch nirgends protokol¬
larisch verzeichnet.
*) Die Sitzung vom 6. Oktober dauerte ununterbrochen die ganze Nacht durch
bis 6 Uhr früh.
*) Offizielle stenogr. Berichte, m. 17. Irrtümlich nennt M. Smets (Das Jahr
1848, IL 581 *) statt Bielecki Bilinski, welcher aber erst später in den Sicherheitsaus-
schuß eintrat (siehe weiter unten).
4 ) Wenn Smets (Das Jahr 1848, Q. 581) ohne Beleg zu erzählen weiß, daß
Brestei »ungeachtet seiner offiziellen Resignation fortwährend als Freiwilliger
fleißigen Anteil an den Arbeiten« der Permanenz genommen habe, so ist dies
wohl auf Brestelß abgegebene Erklärung in der Kammer vom 16. Oktober (vgl.
weiter unten) zurückzuführen.
6 ) Smets (ibidem) führt als ersten Deserteur Klaudy an, welcher, so weit zu
ersehen ist, die erste Zeit an den Beratungen des Permanenzausschusses in der
Tat teilnahm und sogar am 6. Oktober nachts im Namen der Kommission Bericht
zu erstatten hatte.
*) Daran ändert nichts, wenn auch Smets (das Jahr 1848, II, 581) zu er¬
zählen weiß, daß Löhner »noch einigemal in die Permanenz kam, aber dann völlig
seiner Schwäche erlag«.
^ Es ist also die Nachricht bei Smets (ibidem), daß Mayer durch zwei Tage
den Vorsitz führte, eine unrichtige. Derselbe verließ laut eigener Angabe Wien
schon am 7. Oktober abends (siehe Mähr. Landtagsblatt 1848, Sitzung vom 9. Ok¬
tober), am nächsten Tage sprach er bereits zum versammelten Volke in Brünn.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
101
hatte: Wir werden stehen wie ein Mann! 1 ) Mayer entfernte sich,
wie Füster a ) erzählt, unter dem Vorwände, daß er wegen seiner
Wiederwahl 8 ) nach Brünn reisen müsse. Als dessen Ersatzmann schlug
Füster auf Anraten Mayers den Olmützer Deputierten Szäbel vor,
wobei er noch den Beichstag aufmerksam machte, daß sich „die Geschäfte
so sehr häufen“; und weil noch dazu zwei Herren 4 ) unpäßlich seien,
es ratsam wäre, wenn die Versammlung vielleicht beistimmen möchte,
daß noch 3—4 Deputierte der Kommission zur Verfügung gestellt
würden, „damit wir die Geschäfte leichter versehen können“. Der Sprecher
schlug gleich außer Balt Szäbel die Dep. Johann Kudlich und Severin
v. Bilinski vor. Der deutschböhmische Deputierte Joh. Umlauft ging
aber im Sinne Haimerls, der für eine Verstärkung des permanenten Aus¬
schusses eintrat 5 ), noch weiter, indem er den strikten Antrag stellte, daß
„in Anbetracht der Dringlichkeit der Umstände und der so sehr gehäuften
Geschäft?, welche fortwährend 10 Personen in Atem erhalten“, die Mit¬
gliederzahl für die Zeit, als der Beichstag nicht permanent sitzt 6 ),
durch weitere 10 Mitglieder auf 20 verstärkt werde. Abg. Jonäk unter¬
stützte Umlauft» Antrag, denn „aus Rücksicht für die Anstrengungen
der Kommission, die beinahe die Kräfte ihrer Mitglieder erschöpft
haben, ist es äußerst notwendig, daß man ihr Kraft zuführe“. Vorge¬
schlagen 7 ) und ernannt — also nicht gewählt — wurden: Math Kavöid
(rechts), Mich Ambroz (r.) 6 ), Fr. Haimerl (1.), Eberhard Jonäk 9 ) (r.),
*) Vgl. Verhandlungen, HL 7. *) Füster: Memoiren H. 183. VgL dazu
auch Mayers Erklärung im mähr. Landtage am 9. Oktober.
•) Mayer war kurz zuvor Unterstaatssekretär geworden und mußte sich des¬
halb, weil er ein Staatsamt angenommen, der Geschäftsordnung gemäß einer Wie¬
derwahl unterziehen, was ihn allerdings nicht gehindert hätte, nach dem 11. Ok¬
tober im Reichstage und dessen Permanenz wieder zu erscheinen. Der Verfassungs-
aosschuß hatte am 27. September 1848 zum Beschluß erhoben, daß »jeder Abgeordnete,
der ein Staatsamt angenommen liat, .. sich einer neuen von den früheren Wahl-
männera vorzunehmenden Wahl zu unterziehen habe, hat aber solange Sitz und
Stimme, bis das Ergebnis der Wahl dem Reichstage bekannt wird«. Über Mayen
Ausflüchte vgL Verhandlungen, 111. 229, sowie Mähr. Landtagsblatt, 1848, Sitzung
vom 9. Oktober. 4 ) Gemeint sind wohl Löhner und Brestei. *) Haimerl
schlug vor, die Permanenz aufzuheben, aber den permanenten Ausschuß zu verstärken.
•) Ein Antrag des Dep. Haimerl wurde in dieser Hinsicht eingebracht, aber
verworfen. T ) Selbst aus den offiziellen Protokollen ist nicht zu ersehen, von
wem eigentlich der Antrag gestellt worden ist. •) Die beiden waren Slovenen,
welche gewöhnlich mit der Linken stimmten. Erst in Kremsier schlossen sich die
Biovenen dem slavischen Klub an, welcher sämtliche Slaven mit Ausnahme der
Polen umfaßte. Kavtiö wird auch mitunter Kautschitsch geschrieben, Heitert z. B.
gebraucht beide Schreibweisen, doch ist die erstere die richtigere.
•) Jonäk erklärte zwar, daß er unwohl sei und »dringend einer Erholung«
bedürfe, weshalb er bat, ihn »für heute« zu entheben, doch Smolka meinte, der
102
Hugo Traub.
Severin v. Smarczewski (L), Hans Endlich 1 ) (1.), Johann Prato (L),
Karl Catinelli (L)»), Balth. Szäbel (L)®) und Adolf Fischhof*)
(L), von denen, wie Schnselka hervorhebt, nur Haimerl, Prato nnd
Smarczewski — abgesehen von Fischhof — dem Ausschüsse bis ans
Ende treu geblieben sind.
Eine weitere Vermehrung der Permanenz wurde auf Endliche Ver¬
anlassung, der bald darauf zur Aufbietung des Landsturms Wien ver-
Name Jonäks könne jedenfalls auf der Liste verbleiben, denn es sei ohnedies nicht
nötig, daß zu einem Beschlüsse alle 20 Mitglieder anwesend seien. In manchen
Zeitungen findet sich bei dieser Kundmachung angemeldet: dessen (Jonäks) Substitut
Gaier. Gemeint ist hier Deputierter Georg Geier, auch Geyer oder Gay er geschrieben
(links). Es war wohl notwendig, für Jonäk einen Ersatzmann zu bestimmen, wenn
er sich nicht wohl fühlte, ganz abgesehen davon, daß er in den nächsten Tagen
mit seinen Landsleuten Wien verlassen und sich in das nahe Baden zurückgezogen
hatte (Heilert, Aufzeichnungen und Erinnerungen, 71), um bald darauf an den Prager
Beratungen gegen das Rumpfparlament teilzunehmen. Doch offiziell ausgetreten
ist er am 8. Oktober (siehe weiter oben), worauf in der Tat Gayer mit Akklamation
gewählt worden ist (Verhandlungen, UL 8. 49). Daß Jonäk — neben Klaudy und
Ohöral der einzige Ceche in der Permanenz — doch an deren Arbeiten welchen
Anteil nahm, könnte man Helferts Schilderung (Aufzeichnungen, 176) von der
Kremsierer Tagung entnehmen, wo es heißt, daß sich Jonäk »wohl Überhaupt wegen
seiner etwas zweideutigen Haltung im Oktober jetzt etwas unbehaglich
unter seinen Genossen von der Rechten fühlen mochte«.
*) Kudlich selbst (Rückblicke und Erinnerungen, III. 40) bezeichnet irrtümlich
den 9. Oktober als den Tag seines Eintrittes in den Sicherheitsausschuß.
*) Schnselka (Deutsche Fahrten, II. 364) nennt an Stelle Catinellis ausdrücklich
Johann Ohäral, was auch in der Tat richtiger zu sein scheint — daß die stenogr
Protokolle nicht ganz fehlerlos sind, hat übrigens schon Widmann (Franz Smolka, L 85)
und mit Recht hervorgehoben — weil ersterer später und in anderem Zusammenhänge
in die Permanenz berufen worden ist. Ohäral, Vertreter der Kremsierer Landge¬
meinden und Redakteur des Brünner »Tydennfk«, nahm merkwürdigerweise —
wie auch andere Mährer ohne Unterschied der Nationalität — auf der linken
Platz und harrte bis zum Schluß in Wien aus. Vgl. über Ohöral weiter unten.
*) Es bleibt aber immer noch eine Lücke: wann ist Biliüski, von dem noch
die Rede sein wird,in den Ausschuß berufen worden? Oder beteiligte er sich als
Freiwilliger an den Ausschußarbeiten ?
4 ) Eigentümlicherweise kommt Fischhots Name in den offiziellen Protokollen
überhaupt nicht vor, sodaß bloß 9 Deputierte mit Namen angeführt werden. Erst
im Protokolle von der Abendsitzung des 8. Oktobers findet sich als zehnter neben
Catinelli Ohöral vor, was aber schon deshalb nicht stimmt, weil Catinelli auf
diese Art zweimal in die Permanenz berufen sein müßte. Der einzig richtige Aus¬
weg ist der, daß statt Catinelli Ohöral und als zehnter Fischhof an die Reihe ge¬
kommen ist. Wenn wir den offiziellen Bericht akzeptieren würden, so wüßten
wir überhaupt nicht — eine Frage, die wohl Charmatz in Fischhofs Bio¬
graphie hätte beantworten sollen — wann eigentlich Fischhof in die Permanenz
berufen worden ist, der doch neben Schuselka die Seele des Glanzen gewesen; ich
habe mich also einigen Zeitungsberichten nach mit Smets (Das Jahr 1848, H. 581)
für dessen Aufnahme bei dieser Gelegenheit entschieden.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
103
ließ, yorgenommen. Derselbe beantragte nämlich, kaum daß der Aus¬
schuß verdoppelt worden war, der Beichstag möge eine Kommission
f zur Verteidigung der Stadt im Falle eines Angriffes*
wählen, welche „als der Mittelpunkt aller Verteidigungsanstalten in
der Nähe des Nationalgardekommandanten alle bezüglichen Nachrichten
empfangen und einfordern soll*. Dagegen kehrten sich entschieden Prato
and Borrosch. Während jener meinte, daß das, „was vorzüglich die Wahrung
der Sicherheit, die Verteidigung der Stadt* anbelangt, Sache des Ge¬
meinderates sei, schien es Borrosch viel geeigneter, wenn man dem
soeben verdoppelten Sicherheitsausschusse jene Abgeordnete, die mili¬
tärische Kenntnisse besitzen, einfach beigeben würde. Es sei „absolut*
notwendig — meinte er — wenn auch nicht, um Ordres zu erteilen,
sondern um sie gehörig au&ufassen und zu beurteilen. Während Umlauft
den Antrag umformte: „Der Beichstag empfiehlt seinem permanenten
Ausschüsse als zu beratende Maßregel, 5 Vertrauensmänner der Natio¬
nalgarde als Beirat um den Nationalgardekommandanten zu sammeln*,
wurde der schriftlich eingebrachte Borrosch’sche Antrag zum Be¬
schluß erhoben, die Permanenz „durch jene Mitglieder des
Hauses zu verstärken, welche militärische Kenntnisse
besitzen, um Berichte von dem Kommandanten der Na¬
tionalgarde in zweckmäßiger Weise erledigen zu können*.
Und nachdem der Antragsteller den präsidierenden Smolka 1 ) auf jene Depu¬
tierten aufmerksam gemacht hatte, ernannte sie dieser wieder einfach selbst
ans eigener Machtvollkommenheit 2 ). Es waren dies: K. Catinelli 8 ), Ad.
Schneider 4 ), Wenzel Gustav Schopf 5 ), Zölestin Zbyszewski®),
wozu noch nachträglich auf Antrag Ad. Dotzauers Jos. Müller 7 ) auf-
*) Am 11. Oktober wurde Smolka per acclamationem — der Geschäftsordnung
gemäß sollte die Wahl durch Stimmzettel geschehen — zum Reichstagspräsidenten
berufen.
*) Daß gerade 5 Personen erwählt wurden, ist darauf zurückzuführen, daß
Borrosch, nachdem sein Antrag angenommen worden war, bemerkte, es besäßen
5 Mitglieder des Reichstages militärische Kenntnisse und „sie würden gerade den
fünften Teil der alsdann aus 25 Mitgliedern bestehenden permanenten Kommission
bilden«.
*) Catinelli war großbrittanischer Oberst im Ruhestande.
4 ) Es saßen im Reichstage zwei Träger dieses Namens: Adolf, Postmeister
von Beruf, Vertreter für Lobositz, und Karl, Pastor, welcher Bielitz in Schlesien
vertrat. Dem Berufe des letzteren nach habe ich mich für Adolf entschieden.
*) Derselbe war Hauptmannanditor.
•) Nicht zu verwechseln mit dem späteren Reichsratsabgeordneten Viktor
Zbyszewski. Zölestin war k. k. Major (vgl. St. Smolka: Dziennik Pr. Smolki,
S. 200 Anm. 5).
*) Müller war pensionierter Hauptmann.
104
Hugo Traub.
genommen wurde 1 ). Außerdem gab es schließlich, wie Schuselka in
seinen „Erzählungen* berichtet, auch noch Freiwillige, welche, wie
Jos. y. Lasser 8 ), Emil Vacano 8 ), Joh. Georg Wörz 4 ) und Joh.
Umlauft, nach Schuselkas Bericht fleißig mithalfen 5 ). Diese Frei¬
willigen wären vielleicht darauf zurückzufhhren, daß dem Sicherheitsaus-
schusse von allem Anfänge an das freie Kooptationsrecht zukam, was man
aus der Bemerkung eines ungenannten Deputierten ersieht, welcher her¬
vorhob, es müsse der Kommission freistehen, „Fachmänner aus der Ver¬
sammlung beizuziehen, wenn solches sich als notwendig erweisen sollte 44 .
Im Ganzen waren, am höchsten gerechnet, 25 Mitglieder des Permanenz¬
ausschusses 6 ), wenn wir von den Freiwilligen absehen, doch diese Mitglie¬
derzahl währte nicht lange an, wofern sie nicht bloß auf dem Papiere
stand, indem selbe von Tag zu Tag den Umständen nach immer mehr zu¬
sammenschmolz. Als einer der ersten verschwand, wie schon gesagt,
Mayer, zu dessen Nachfolger als Obmann des Ausschusses sein Lands¬
mann Szäbel bestellt wurde. Nach wenigen Tagen 7 ) gab Szäbel die
Erklärung ab, er fühle seine Kräfte der schweren Aufgabe nicht ge-
l ) Zu diesen fünf gesellte sich als sechster »fachkundiger« Stobnicki, der
ein alter polnischer Stabsoffizier war. Ursprünglich wurde Stobnicki unter den
fünf ersten angeführt, aber da Smolka erklärte, Stobnicki sei bereits Mitglied des Aus¬
schusses, blieb es bei den ernten 4 Deputierten; nachträglich erst wurde der
Fünferzahl wegen Müller zugesellt. Vom »Fache« war übrigens auch noch der
Deputierte für Friedeck, Josef Motyka, pens. Hauptmannauditor.
*) Merkwürdigerweise wird aber Lasser in der hier weiter abgedruckten Re¬
lation schon am 7. Oktober als Mitglied des Ausschusses angeführt, was auf einem
Irrtum zu beruhen scheint.
») Ober Vacanos vollgiltigen Eintritt in die Permanenz vgl. weiter unten.
4 ) Als am 16. Oktober in der Kammer gemeldet wurde, ns sei für den neu
eingetretenen Pfretzschner (vgl. weiter unten) ein Ersatzmann zu bestimmen,
erklärte Präsident Smolka, daß Abg. Wörz aus Tirol, Vertreter von Imst, sich an-
geboten habe, im Falle er dem Ausschüsse in irgendeiner Beziehung seine Kräfte
zur Verfügung stellen könnte, er dazu gerne bereit wäre. So wurde derselbe
auch gewählt (Verhandlungen, LH. 172), womit ich Schuselkas Mitteilung richtig
stelle, respektive ergänze. — Wörz war neben Andr. Gredler (für Schwaz) der ein¬
zige nordtirolische Abgeordnete, welcher in Wien zurückgeblieben war (vgl. Helfert,
Aufzeichnungen, 71).
*) Helfert (Vznik ministerstva Schwarzenbergo-Stadionova, Osvgta 1891, S. 431),
weiß allerdings von einem tragikomischen Auftritte aus der Permanenz zu erzählen,
in dem Umlaufts Heldenmut in einem weniger günstigen Lichte erscheint.
*) Vgl. Verhandlungen des österr. Reichstages, IH. 195. De mit stimmt auch
die Angäbe Helfert» (Geschichte Österreichs) überein, wenn auch in einem anderen
Werke desselben (Aufzeichnungen und Erinnerungen, 72) die Zahl 23 ange¬
geben ist
r ) Wann Szäbel eigentlich ausgetreten ist, wurde im Plenum nicht kundge¬
macht, doch traf ihn Helfert am 15. Oktober bereits in Olmütz an.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
105
wachsen, und kehrte nicht bloß der Würde, sondern Wien überhaupt
den Bücken. Pfister beschuldigt ihn direkt ! ), er sei nach Olmütz, in
seine Vaterstadt, unter dem bloßen Vorwände abgereist, daß er dort
in der Nahe des Hofes für die gute Sache mehr wirken könne als in
Wien. Seine Stelle nahm dann — spätestens am 10. Oktober — Fischhof
ein, der auch bis zum Schlüsse unentwegt ausharrte 8 ).
So trat jedenfalls noch vor dem 10. Oktober — allem Anscheine nach
schon am 7. d. M. — Klaudy aus 3 ), als die Cechen bis auf geringe Aus¬
nahme 4 ) den Reichstag verlassen hatten, da sie in Wien ihres Lebens nicht
mehr sicher waren 6 ). Jonäk scheint an den Ausschußberatungen von allem
Anfänge an nicht besonders teilgenommen zu haben 6 ). Kavdic trat in den
Ausschuß überhaupt niemals ein und kehrte Wien bald den Rücken 7 ), G ay er,
kaum für Jonäk eingesprungen, verließ am 10. Oktober Wien 8 ), am 10. Ok¬
tober resignierte auf seinen Sitz im Reichstage überhaupt Catinelli 9 ),
*) Füster: Memoiren, II. 183.
*} In Bezug auf Fischhofs Wirken in der Permanenzkommission vgl. R. Char-
matz, Adolf Fischhof, S. 84. Warum wohl gerade Fischhof zum Ausschußpräsi¬
denten bestellt worden ist? Vielleicht deshalb, daß er sich zuvor als Obmann des
Wiener Sicherheitsausschusses durch Rat und Tat bewährt hatte?
') W. W. Tomek (Pamöti m6ho zivota, L 315) erzählt, daß Klaudy erst am
IS. Oktober in Prag angekommen sei; wo sich derselbe die ganze Zeit aufgehalten
haben mag, ist nicht ersichtlich, jedenfalls aber nicht mehr in Wien. (Vgl. dazu
weiter oben).
*) Von der böhmischen Rechten — abgesehen von den Vertretern Mährens,
die ihrer Mehrzahl nach in Wien verblieben — harrten in Wien bloß Sidon
(Jidin), Sadil (Deutschbrod), Loos (Kourlm) und Sembera (Pilgram) aus.
*) Vgl. dazu Helfert, Aufzeichnungen und Erinnerungen, S. 11 und 71,
K. Widmann, Fr. Smolka, I. 93, St. Smolka, Dziennik Fr. Smolki 1848—1849, S. 72.
*) In der Abendsitzung des 8. Oktobers meldete Smolka, daß sich Jonäk krank
gemeldet habe und bitte, statt seiner in den permanenten Ausschuß einen anderen
Abgeordneten wählen zu wollen. Vorgeschlagen und per acclamationem gewählt
wurde Gay er (Vgl. dazu weiter oben).
*) Josel Apif, Die Slovenen 1848/1849, österr. Jahrbuch, 1894, S. 33. Laut
Protokoll (Verhandlungen, III. S. 49) erklärte Lasser am 8. Oktober abends, daß
bei dem Umstande, als Kavöic bis heute der Kommission nicht beigewohnt habe,
anzunehmen sei, daß er daran verhindert sei, und schlug gleich an seiner Stelle
den Abg. Vacano vor. Von da an ist derselbe Mitglied der Permanenz, während
er sich vordem als Freiwilliger betätigte.
•) Georg Th. Gayer, Vertreter von Neudegg in Krain, hat nach eigener Aus¬
sage die Reichshauptstadt am genannten Tage verlassen (Vgl. Verhandlungen,
UI. 347).
•) Catinelli legte seine Würde nieder, da, wie er schrieb, sein Mandat für
<iörz »durch die eingetretenen Verhältnisse zu Ende sei und es ihm nicht zustehe,
länger im Reichstag zu sitzen 1 (Verhandlungen, III. 61). Statt Catinelli wurde auf
Zimmers Antrag Graf Alex. Borkowski aus Lemberg in die Permanenz berufen,
doch von seiner Teilnahme und Betätigung im Ausschüsse ist nichts zu hören.
106
Hugo Traub.
Schneider hatte sich von Wien entfernt 1 ), Löhner hatte sich am 10.Ok¬
tober nach Brünn begeben 8 ), Endlich aufs Land, Lasser finden wir
spätestens am 15. Oktober in Olmütz *), am 16. Oktober trat aus der
Permanenz auch formell Brestei aus 4 ), nachdem er schon, wie gesagt,
am 7. Oktober einen Vertreter für sich gesendet hatte. Andere ver¬
blieben zwar dem Namen nach in der Permanenz — wir vernehmen
wenigstens nichts von ihrem Austritte — kümmerten sich aber blutwenig
oder gar nicht um ihre Arbeit und die schwere Verantwortung, die
sie als Mitglieder des Sicherheitsausschusses auf sich genommen hatten,
sodaß, wie Schuselka berichtet, und wir haben keinen Grund, ihm nicht
Glauben zu schenken, am 31. Oktober, bis zu welchem Tage der Aus¬
schuß nichtsdestoweniger ununterbrochen vom 6. Oktober an beisammen
i) Am 10. Oktober wurde auf Zimmers Antrag statt des Abg. Schneider, »der
abgereist ist«, Dr. Norbert Pfretzschner, Vertreter von Hopfgarten in Tirol, in
den Ausschuß entsendet. Inwiefern er sich überhaupt an den Beratungen desselben
beteiligte, ist, obwohl es im Reichstagsprotokolle heißt, daß Smolka die Dep. Borkowski
und Pfretzschner nach der Wahl gleich aufforderte, sich sogleich in den perma¬
nenten Ausschuß zu begeben, aus folgendem zu ersehen: Am 16. Oktober bat
Goldinark um den Ersatz eines fehlenden Mitgliedes, nämlich Pfretzschner, der
»seit einigen Tagen weder in dem Ausschüsse, noch in der Versammlung zu
finden ist«, was Zimmer »um so notwendiger« fand, »als die Mitglieder des Aus¬
schusses sehr angestrengt sind«, wobei er den Abg. Dr. Wilhelm Polaczek, Ver¬
treter von Gablonz, vorschlug. Nachdem aber Polaczek erklärt hatte, er sei
schon in mehreren Ausschüssen beschäftigt und für Wörz, der sich dazu selbst
anbot (vgl. oben), einsprach, wurde Wörz gewählt. (Vgl. dazu weiter oben).
*) Derselbe kehrte zwar nach einer Woche nach Wien zurück, aber wir
hören nichts von seiner Mitwirkung in der Permanenz, soweit eben die Reichstags¬
protokolle Einsicht gewähren. Sein Name kommt im Reichstage erst wieder am
20. Oktober vor.
•) Vgl. bei Helfert: Ze dnü rfjnovych, Osveta, 1890 S. 679. Schon am 9. Oktober
stellte Ziemialkowski den Antrag, es mögen Lasser, Kavöiö und Mayer, welche
auch Mitglieder und Referenten des Eonstitutionsauschusses waren, aus der perma¬
nenten Kommission ausgeschieden werden, weil es schwer würde, andere Referenten
für sie zu wählen, doch auf den Einspruch Lassers, daß »beides nicht absolut un¬
vereinbar ist«, zog Ziemialkowski seinen Antrag zurück.
4 ) Am 16. Oktober gab Brestei in der Kammer die Erklärung ab: »Ich habe
an die h. Kammer das Ersuchen zu stellen, daß sie mir gestatten möge, aus dem
permanenten Ausschüsse auszutreten. Ich bin durch die Anstrengung der letzten
Tage so physisch herabgekommen, daß ich dermaßen unwohl bin, daß ich fürchte,
bei einem längeren Verbleiben im Ausschüsse krank zu werden« (Verhandlungen,
IIL 172). Derselbe schlug gleich an seiner Stelle Dr. Alois Smreker, Vertreter
von Lichtenw&ld in Steiermark (1.), vor, was durch Aufstehen angenommen wurde.
Von einer besenderen Betätigung Smrekers ist nichts zu hören, vielleicht nahm
er an den Permanenzberatungen überhaupt keinen Anteil.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
107
war, außer Fischhof und ihm selbst bloß noch Prato und Bilinski in
der Permanenz zu finden waren 1 ).
Unter diesen Umstanden ist es auch nicht zu verwundern, daß es in
der Kommission, welche im zweiten Stockwerke der Stallburg ihre Sitzungen
abhielt und ihr Lager aufgeschlagen hatte, nicht so zuging, wie es hatte sein
sollen. Wer war eigentlich ihr Obmann, wer dessen Stellvertreter, welches
Amt bekleidete im Ausschüsse Schuselka, welches die übrigen Mitglieder?
Der Erlaß an den Wiener Gemeinderat betreff Landsturmaufgebotes vom
10. Oktober ist unterfertigt: in Abwesenheit des Präsidenten Dr. Fischhof
Dr. Lasser*), auf einer Proklamation vom nächsten Tage lesen wir
Dr. Fischhof als Obmann. Einmal kommt Brestei als Vizeobmann
vor, während derselbe auf einer Kundmachung vom selben Tage als
Schriftführer fungiert, ein anderesmal wieder ist Yacano als Obmann¬
stellvertreter genannt Eine am 15. Oktober erlassene Kundmachung
über Volks wehr trägt Schuselkas Unterschrift als „prov. Obmann“, die
letzte Permanenzproklamation vom 30. Oktober hat Schuselka als Ob¬
mann gezeichnet Derselbe war von Anfang an zum Schriftführer bestellt
und als solcher zum permanenten Berichterstatter für die Beichsversamm-
lung; in dieser Eigenschaft war er ohne Zweifel die Seele der Permanenz 8 ).
Doch treffen wir mitunter Prato, Umlauft, Goldmark, Violand, Lasser,
Klaudy 4 ), ja sogar Pillersdorff, obwohl er gar nicht Mitglied des Ausschusses
war, als Berichterstatter in der Kammer 6 ). Und so findet man auch in
den Zeitungen publizierte Kundmachungen, Erlässe, Proklamationen, wo
<) Schuselka, Deutsche Fahrten, II. 415. Füster (Memoiren, II. 182) weiß allerdings
zu erzählen, daß bis ans Ende im Ausschüsse ausgeharrt sind: Fischhof, Schuselka,
Violand, Goldmark, Prato, Vacano, Vidulich, Bilinski, Umlauft, Füster, doch dem
widerspricht — wenn wir das Ausharren wörtlich nehmen — entschieden das, was
von Schuselka (vgl. oben) angemerkt worden ist, und der noch an anderer Stelle
ausdrücklich sagt (S. 386): »Es ist uns bis in die letzten Tage hin gelungen, be¬
schlußfähig zu bleiben, wir haben jedoch auch stets gewissenhaft Beschlußfassungen
vermieden, wenn die erforderliche Anzahl von Mitgliedern nicht zugegen war. Da
dies seit dem 26. Oktober leider immer (!) der Fall war, so wurden von da an
gar keine Anträge mehr vor die Kammer gebracht«.
*) Umsomehr auffallend, als derselbe einer der Freiwilligen war, die in den
Ausschuß aus Eifer eingetreten sind.
*) Pillersdorff nannte ihn .die geläufigste Zunge des Reichstags« (Helfert,
Aufzeichnungen, 291).
4 ) Klaudy war es, der am f». Oktober als Sprecher des Sicherheitsausschusses
auftrat (vgl. weiter oben).
•) So sprach Prato am 8. Oktober »im Auftrag des Ausschusses für Wahrung
der Sicherheit und Ordnung«, am nächsten Tage referierte Gold nark »im Namen
des Ausschusses«, und ebenso Lasser, am 10. Oktober sprach im Namen des per¬
manenten Ausschusses Baron Pillersdorff, am 11. abends referierte Umlauft im
Namen der Kommission, am 12. wieder Violand.
108
Hugo Traub.
einmal Schuselka. das anderemal Endlich, nächstens Vacano, Brestei oder
Vidulich, mitunter aber auch Violand, Prato, Bihhski, Füster und Umlauft
als Schriftführer erscheinen! Die Permanenz tagte allerdings, wie gesagt,
bis zum letzten Oktober x ), aber nur dem Namen nach; ihre Autorität, so¬
weit sie noch bestanden, war in der Anarchie der Wiener Zustande mit der
Zeit verloren gegangen. Vom 26. Oktober an war, wie schon bemerkt, die
Kommission nicht einmal mehr beschlußfähig *), obwohl noch am selben
Tage und selbst am 28. Oktober Erlässe herausgegeben wurden 8 ), „von
da an“ — erzählt Schuselka in seinen „Erinnerungen* — „hatten wir
im Ausschüsse nichts mehr zu tun 4 ), der Beichstag war nicht mehr
beschlußfähig, wir sehnten uns vom Herzen nach Ablösung*.
Kein Wunder, denn der permanente Ausschuß hatte mittlerweile auch
den Kopf verloren; noch am 26. Oktober Mittags erklärte er, an den
Friedensberatungen mit Windischgrätz teilnehmen zu wollen, um gegen
Abend, kurz vor Eröffnung der angesagten Beratung, seine Ansicht zu
ändern und anderen Sinnes zu sein. Als sich am 1. November der
Beichstag zum letztenmale in Wien versammelt hatte, erstattete Schuselka
im Namen des permanenten Ausschusses seinen letzten Bericht, worüber
*) Von der letzten Handlung der Permanenz erklärte Schuselka am 1. No¬
vember im Parlamente: »Gestern Vormittag zwischen 11 und 12 Uhr kam eine
Deputation des Gemeinderates, die uns friedliche und glückliche Aussichten mit¬
teilte über eine ohne fernere Gewalttat zustandekommende Übereinkunft mit dem
Fürsten Windischgrätz . .. Dies ist die letzte Nummer, welche in dem Proto¬
kolle des permanenten Ausschusses enthalten ist'. Vgl. dazu weiter unten.
*) Schuselka gab übrigens schon am 22. Oktober in der Kammer die Erklärung
ab : »Ich muß gleich einleitungsweise bemerken, daß im permanenten Ausschüsse
selbst wenig vorgekommen ist. Die Ereignisse werden jetzt an anderen Orten,
bei anderen Versammlungen, vielleicht in anderen Ausschüssen geleitet, geregelt,
beschlossen« (Verhandlungen, HI. 305). So erklärte Präsident Smolka am 26. Oktober:
»Die permanente Kommission hat nichts Besonderes zu berichten«, und am 27. machte
Schuselka selbst die Erklärung: »Die Aufgabe des Berichterstatters des perma¬
nenten Ausschusses wird von Tag zu Tag geringer und kleiner, je größer die
Ereignisse werden, die da draußen im Leben vorgehen« (Verhandlungen, HL 364).
Bezogen sich vielleicht die Worte Smolkas vom selben Tage: »Wir sind nicht nur
nicht beschlußfähig, sondern auch nicht mehr beratungsfähig« auch auf die Per¬
manenz?
•) Am 26. Oktober erließ der Reichstagsausschuß an den Wiener Gemeinderat
zwei Schriftstücke, denen um zwei Tage später ein drittes folgte (abgedruckt im
österr. Korrespondenten, 1949, Nr. 26 vom 1. Februar).
4 ) Und doch erschien Schuselka noch am 30., 31. Oktober sowie am 1. No¬
vember als Berichterstatter vor der Kammer, und brachte am letzten Oktober sogar
einen Antrag des permanenten Ausschusses ein, der Reichstag, »selbst wenn er in
nicht beschlußfähiger Anzahl vorhanden ist«, möge eine abermalige Deputation
an den Kaiser nach Olmütz entsenden.
i>jr R^hs3äg$permanenx im Oktober 1848,
109
er sich &clh*st folgendermaßen ausspricht 0: ,Ich erzählte, was wir gestern
im AusBck^ getan. Die Akten des Ausschusses seien geschlossen, da¬
gegen die Akten der Geschichte über ihn eröffnet In meinem und im
Namen des Anschusses erklärte ich. daß wir die volle Verant¬
wortung für unser Wirken zu über nehmen berei t wären 4 !.
...Nach mir erhob sich Borrosch mit der edlen Meinung, der ganze
ßeiehstag werde die Verantwortlichkeit des Ausschusses
teilen, dem er unter Akklamation der Versammlung den Dank der¬
selben aussprach* 3 .
Was wissen wir nun bis beute über die Reichstagsperm&iieiiz,
welche im Oktober während der Tagung des sog. Rumpfparlamentes,
wo die Rechte und das Zentrum zum größten Teile der Reichshaupt-
stadt den Rücken gekehrt hatten, eine weitaus wichtigere Rolle zu
spielen hatte als die Reichsversammlung selbst? Ende Januar 1849
wurde im Wiener Gemeinderate, welcher nach der Einnahme der Stadt durch
Windischgrätz eine nichts weniger als würdige Haltung und mannhaftes
Benehmen an den Tag legte, eine vom Vizebürgermeister Dr. Andreas Zelinka
und Gemeinderate Kallenbeck abgefaßce Denkschrift 4 ) beschlossen, in der
man. um die Schuld von sich abzuwälzen, nachzuweisen suchte, die Vertei¬
digung der Stadt gegen Fürsten Windischgrätz und Jellaiie sei nicht vom
Gemeinderate, sondern von dem permanenten Reiehstagsausschusse be-
*) Schuselka, Deutsche Fahrten, II. 222.
*) Schuselka erklärte am 1. November in der letzten Reichstagsversamm-
lang diesbezüglich: »Seine [des Ausschusses] Wirksamkeit gehört nun dem Urteile
der Geschichte <m — ich darf dies im Namen der Mitglieder dieses Ausschusses hier
Öffentlich aussprechen. ... Alle Mitglieder des permanenten Ausschusses sind bereit,
alles, was sie getan haben, mit ihrer Ehre und ihrem Gewissen
zu vertreten und zu verantworten, und ich erkläre dieses insbesondere in meinem
Namen als Berichterstatter« (Verhandlungen, HL 390). Aber schon am 15. Oktober
batte er gesagt: »Wir müssen in unserem Bewußtsein der Zukunft vertrauen, die
Geschichte wird uns richten und wenn wir recht gehandelt haben, so wird
sie uns auch recht geben« (Verhandlungen, EIL 160). Und am 27. November ent-
gegnete er in Kremgier den Abg. Rieger und Hellrigi gegenüber: »Waa wir getan
haben, werden wir verantworten, und ich nehme keinen Anstand, jenem Richter ge¬
genüber auf der Armensünderbank zu sitzen« (Verhandlungen, IV. 9).
®) Borroe.h drückte laut Protokoll dem Wirken des Pe rmanpn«maarh n««p« den
»tiefgefühltesten« Dank aus, incem er hinzufügte, »daß jeder von uns jeg¬
liche Verantwortung tei’t, welche etwa auf dem permanenten Aussch üsse
h a ften möge« (Verhandlungen, UL 390).
4 ) Diese Nachricht entnehme ich den gl eich lautenden Zeitung sbe richten aus
jener Zeit. Leider erwies sich jede Nachforschung narh dieser Denkschrift im
Wiener Stadtarchive als resultatslos.
110
Hugo Traub.
schlossen und geleitet worden 1 ). Die beste Antwort und den einzig rich¬
tigen Aufschluß darüber vermögen natürlich die Protokolle der Perma¬
nenz zu liefern, aber wie ist es um die Akten der Sicherheitskommission
bestellt, nach deren Veröffentlichung man schon im Jahre 1849 ge¬
rufen hat? Wir besitzen über die Verhandlungen in Wien und Kremsier
außer den offiziellen Berichten des Parlaments (Verhandlungen des
österr. Beichstages) nur noch die von Ant. Springer veröffentlichten
«Protokolle des Verfassungsausschusses s , welche 1912 Alfred Fischei
durch «die Protokolle des Veifassungsausschusses über die Grundrechte*
teilweise ergänzte. Das ist auch alles. Über die Beichstagspermanenz
sind wir bis auf den heutigen Tag ohne eingehendere, ja man kann sagen
ohne jede nähere Kenntnis geblieben. Das Archiv des Ministeriums des
Innern weiß hierüber keinen Bescheid, das Haus-, Hof- und Staatsarchiv
will oder kann vor der Hand darüber keinen Aufschluß geben*). Daß
Schriftstücke vorhanden sein mußten, entnehmen wir schon der Mitteilung
Schuselkas, welcher über die Situation im Ausschüsse am 31. Oktober
um 2 Uhr nachmittags ausdrücklich berichtet: «Wir gingen nun daran,
unsere Akten zusammenzupacken, um sie mit den anderen Beichstags-
schriften im Keller zu versorgen. Es möge dies, beiläufig gesagt, ein
Beweis sein, daß wir nicht daran dachten, die schriftlichen
Zeugnisse unseres Wirkens abhanden kommen zu lassen.
Wir nahmen unser Protokoll vor, schlossen, unterfertigten, siegelten
und gaben es zu den Reichstagsakten “ *).
Womit sich der Permanenzausschuß, den der berüchtigte Awrxun
Cheizes, einer der Sprecher des Wiener Zentralausschusses, als «eine
*) Diese Behauptung ist im Grunde genommen richtig, worüber auch die Pro¬
klamation des Reichstages vom 9. Oktober (vgl. Verhandlungen, III. 60) Aufklärung
gibt. 8iehe auch das vom selben Tage datierte Schriftstück an den Gemeinderat,
abgedmckt im »ÖBterr. Korrespondent«, 1849, Nr. 26, 32, 43, 60, 61, 66, 87.
*) Nach der Archivnorm vom J. 1906 sind die Bestände dieses Archivs nur
bis einschließlich 1847 der wissenschaftlichen Forschung eröffnet. Laut neuester
Anordnung des Ministeriums des Äußern (1913) dort* in Hinkunft keine ausnahms¬
weise Bewilligung mehr erfolgen, wie es früher öfter der Fall war.
*) Am 1. November sagte Schuselka in Bezug auf den vorigen Tag im Reichs¬
tage unter anderem: »Der permanente Ausschuß blieb in dem Lokale solange, bis
die Feuersgefahr, welche in dem Burggebäude ausbrach, die Mitglieder nach Zu¬
sammenlegung und Versiegelung der Akten bewog, . .. das Haus zu
verlassen. Abends fanden wir uns wieder ein, schlossen und versiegelten das Pro¬
tokoll und übergaben es dem Hausinspektor H. Raffelsberger, der uns mit-
teilte, daß er vom H. Präsidenten den Auftrag habe, für den Fall, als das Feuer
auch dies Gebäude ergreifen sollte, auch die Vorstandsakten in Verwahrung* zu
nehmen. Somit sind die Akten des permanenten Ausschusses, der mit Ihrer Voll¬
macht ausgerüstet, in diesen Tagen wirkte, geschlossen«.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
111
klägliche Persiflage des französischen Wohlfahrtsausschusses “ bezeichnete,
beschäftigt hat, darüber sind wir bis heute nur insofern unterrichtet
gewesen, als Schuselka in seinem Amte dem Reichstage Bericht er¬
stattete. Der Permanenzausschuß bildete, im Grunde genommen, den
Mittelpunkt der Oktobertagung, kein Wunder also, daß das Reichstags¬
plenum, ganz abgesehen davon, daß fast die Hälfte der Deputierten
Wien yerlassen hatte, immer mehr in den Hintergrund trat und nur
mehr dazu da zu sein schien, um seine Zustimmung, wie vorauszusetzen
war, zu den Verfügungen und Maßregeln der Permanenz zu geben
Über die Aufgabe der Kommission drückte sich ein Pillersdorff folgender¬
maßen aus l ): .Der Zustand, in welchem sich die Exekutivgewalt gegen¬
wärtig befindet, hat es nötig gemacht, daß die h. Versammlung
einen Teil der exekutiven Wirksamkeit über sich nehme*).
Diese Wirksamkeit ist von der Art, daß sie nicht von dem ganzen
Hause, nicht von einer großen Versammlung ausgeübt werden kann, sondern
in die Hände einer kleinen Versammlung gelegt werden
mußte. Das ist geschehen durch die Aufstellung eines Ausschusses, welchem
diese Geschäfte übertragen worden sind und welcher nur die Aufgabe über¬
nommen hat, von Zeit zu Zeit mit den Ergebnissen oder wich¬
tigen Verhandlungen das hohe Haus vertraut zu machen
und in einzelnen Fällen den Bat und die Beschlüsse der
h. Versammlung einzuholen 11 . Was erfahren wir aus den Berichten
Schuselkas, die ein getreues Bild des permanenten Ausschusses liefern
sollten? So sagte derselbe am 9. Oktober in der Kammer im Allgemeinen:
.Unsere Tätigkeit bestand wesentlich im Anhören von Deputationen, Be¬
schwichtigungen, Batserteilungen, Auskünften und Befehlen 11 , und in seinen
weiteren Berichterstattungen beschrankte sich derselbe lediglich darauf, daß
er die .wichtigsten Aktionen 41 anführte 8 ). So ist auch das zu verstehen,
was Schuselka bei einer anderen Gelegenheit hervorhob, indem er sagte:
.Ich trage alles öffentlich vor . . in der aufrichtigen Anerkenntnis
unserer Pflicht in diesem Zeitpunkte, durchaus nichts Geheimes zu tun“ 4 ).
Daß der permanente Ausschuß sich stets und bei allen Handlungen der
rollen Sympathie und Zustimmung des Reichstages erfreute, beweisen
>) Am 16. Oktober (Verhandlungen, III. 162).
*) Wer war eigentlich der Träger der exekutiven Macht? Das Rumpfparlament
konnte es nicht sein, denn es war eine gesetzgebende Versammlung, und der Stadtrat
wollte es nicht sein, weil er er fach keine Lust verspürte, die Verantwortung zu
übernehmen für das, was noch kommen konnte. Konnte es die Permanenz sein?
Windiachgr&tz allerdings erkannte den Stadtrat allein als die exekutive Macht in
Wien an.
*) Verhandlungen, IE. 55.
4 ) Am 10. Oktober. 8. Verhandlungen, DL 72.
112
Hugo Traub.
die Erklärungen von Smolka, Pillersdorff, Borrosch 1 ). B. Charmatz ent¬
wirft zwar bei der Besprechung von Fischhofs Tätigkeit ein günstiges Bild
von der Permanenz, ohne aber überhaupt auf deren Geschäfte des Näheren
einzugehen. Er schreibt darüber 2 ): „ Wenn man die Tätigkeit der Permanenz
nur nach den Berichten beurteilen wollte, die Schuselka oft zweimal täglich
dem in seinem Einflüsse zurückgesetzten Plenum 8 ) erstattete, dann würde
man ein verzerrtes Bild erhalten. Die Mitglieder der Permanenz-
kommis8ion haben buchstäblich Tag und Nacht gearbeitet, einige An¬
gehörige des Ausschusses bereiteten sich bloß für einige Stunden ein
hartes Buhelager in den Bäumen der Permanenzkommission 4 ). . . Unter
Fischhofe taktvoller Leitung wurde die Permanenzkommission davon
abgehalten, sich in gewagte und aussichtslose Experimente zu stürzen,
die vielleicht populärer gewesen wären, aber nur nutzlos vergeudete
Opfer auferlegt haben würden. Die radikalen Elemente haben deshalb
an dem leitenden Ausschüsse des Beichstages keinen Gefallen finden
können, und in Wien vermochte sogar das Gerücht in Umlauf zu
kommen, daß die übellaunige Volksmasse die laxe Permanenzkommission
auseinanderzutreiben gedenke“ 6 ). Springers älteres Urteil ist allerdings
*) Am 9. Oktober erklärte Smolka: »Der h. Reichstag hat sich überzeugt,
daß der permanente Ausschuß seiner schweren PUicht mit dem größten Eifer
und mit nach den Umständen möglichem Erfolge obliegt«. Pilleis-
dorff sagte am 25. Oktober: »Ich habe dem permanenten Ausschüsse meinen in¬
nigsten Dank auszudrücken, daß er in so warmen, in so beredten Worten so ent¬
scheidend aufgetreten ist, dem Übel beratenen Monarchen die Wahrheit zu
zeigen und dasjenige anzudeuten, wozu ihn sein Gefühl und Herz geneigt finden
wird«. Und am 31. Oktober hob derselbe hervor: »Ich erlaube mir aufmerksam
zu machen, daß alle Angelegenheiten, welche die Monarchie und die Residenzstadt
in letzter Zeit so nahe berührt haben, der permanente Ausschuß mit solchem
Eifer, mit so aufopfernder Ausdauer und mit vollkommener
Sachkenntnis behandelt habe, daß es daher angemessen und dem Vertrauen,
das ihm bisher geschenkt wurde, entsprechend wäre, dem permanenten Ausschüsse
diese Abfassung [einer neuen Adresse an den Kaiser] zu übertragen«. Und Bor-
roschs Dank vom 1. November vgl. oben.
f ) R. Charmatz, Adolf Fischhof, 84.
•) Schuselka sprach am 22. Oktober in der Kammer von der Kommission »als
von der Autorität, die gegenwärtig, ohne daß sie es gewünscht oder gewollt
hätte, als oberste, als einzige angesehen werden muß«.
4) Lasser erklärte diesbezüglich am 9. Oktober in der Kammer: »Um teil¬
weise Muße zur Erholung zu gönnen, hat sich der permanent) Ausschuß derart
konstituiert, daß der Dienst von 8 zu 8 Stunden wechselt«.
•) Helfert (Aufzeichnungen, 71) zeigt auch an einem Beispiele, wie die Per¬
manenz unter dem Einflüsse der Wiener Straßenpolitik stand: »Als ma n n ä mli ch
erfuhr, daß Lasser im Permanenzauschusse Äußerungen getan hatte, die gegen das
herrschende Treiben gerichtet waren, wurde sein Name auf die Proskriptionaliste
Die Rejchatagsperman enz im Oktober 1848.
113
ein minder günstiges, indem er — und mit ihm auch H. Friedjung *)
— der Permanenz Unentschlossenheit, Ratlosigkeit und Schwache Vor¬
halt „Dazu aber konnte sich der Sicherheitsausschuß* — meint Ant
Springer s ) — »nicht aufraffen, daß er nun auch ernstlich die Leitung
der Verteidigungsanstalten übernommen hatte. Er begnügte sich, die Ver¬
antwortlichkeit für die Ereignisse mitzutragen, die Führerrolle überließ
er und ebenso der Gemeinderat den demokratischen Vereinen, in welchen
der trübste Bodensatz der radikalen Partei herrschte*. Wenn es sich auch
nicht in Abrede stellen laßt, daß der Permanenzausschuß mitunter nicht
genug offen und entschieden aufgetreten war, sodaß er mehr wie einmal
in eine schiefe Stellung vor Allem dem Gemeinderate wie den Ungarn
gegenüber gelangte, so darf nichtsdestoweniger außeracht gelassen werden
— und das geben selbst konservative Historiker *) zu —* daß der Reichstag
und mit ihm zugleich die Permanenz, »die vom Anbeginne bis zu dieser Stunde
sich bemüht hat, ihrer ursprünglichen Friedensidee getreu zu bleiben* 4 ),
sich den Ruhm erworben haben, mit Minister Krauss 6 ) eine, wenn auch
schwache, doch in Wirklichkeit die einzige Autorität in Wien repräsen¬
tiert zu haben, welche größeres Unheil zu verhüten imstande gewesen
ist% Daß in Wien im Oktober keine Schreckensherrschaft eingerissen
gesetzt und empfing er von wohlwollender Seite den Rat, sich ein andermal klüger
zn halten«. Sollte vielleicht dieser Zustand mit der Grund gewesen sein, weshalb
Lasser frühzeitig das Weite suchte?
r ) Friedjung, Österreich von 1848—1860, I. 90.
*) Ant. Springer, Geschichte Österreichs, II. 668.
*) Sogt doch Helfert (Erlebnisse und Erinnerungen, Die Kultur, 1901, S. 105)
ausdrücklich: »Denken wir uns den Reichstag weg, welchen S m o 1 k & mit Klugheit
cnd maßvoller Ruhe von extremen Maßregeln abzuhalten wußte, und denken wir
uns Baron Philipp Krauss weg, der in seiner Person die ganze Regierung repräsen¬
tierte und dies mit ebenso großer Umsicht als Geschicklichkeit durchzuführen
wußte» so läßt sich gar nicht absehen, was aus Wien, was aus
Österreich, was aus ganz Mitteleuropa geworden wäre«.
*) Am 25. Oktober (Verhandlungen, in. 345).
*) Krauss gab am 9. Oktober im Reichstage ausdrücklich die Erklärung ab:
»Ich kann nur erklären, .. daß ich keinen Schritt tue, ohne mich mit
dem Ausschüsse beraten zu haben; ich werde auch nichts veranlassen,
ah wie dasjenige, was auch der Ausschuß in dieser Beziehung für zweckmäßig
finden wird« (Verhandlungen, HI. 61).
*) Zur Charakteristik der Stellung der Permanenzkommission dient auch der
Umstand, daß Minister Hornbostel am 10. Oktober von der Überreichung seines
Demianonsgesuches und vom Inhalte desselben der Permanenz offizielle Mitteilung
machte. Duß sich der Ausschuß der schweren und verantwortlichen Aufgabe, die
ihm durch die U mständ e zugefallen war, voll bewußt war, beweisen die Worte
Sckoselkas vom 17. Oktober: »Es ist nötig, damit die Geschäfte in einen ge¬
regelten Gang kommen und damit der h. Reichstag und der von ihm bevoll-
8
114
Hugo Traub.
ist, die von unabsehbaren Folgen für das Beich und die Dynastie ge¬
wesen wäre, das ist nicht bloß Smolka — wie es gewöhnlich heißt —
sondern auch der Permanenz und da ganz besonders Schuselka 1 ) neben
Fischhof zu verdanken.
Über den Einlauf und die Arbeit im Allgemeinen seitens der Perma¬
nenzkommission erfahren wir des Näheren Authentisches vor Allem
durch das bisher der Öffentlichkeit unbekannte Kommissionspro¬
tokoll, welches kurz nach der Kremsierer Reichstagssprengung, nämlich
in den Tagen von 18. und 19. März 1849 zu Wien aufgenommen
worden ist, und zwar „aus Anlaß der Eröffnung“ — wie es daselbst heißt
— „eines unter den Reichstagsakten aufgefundenen versiegelten Packets >
enthaltend die Verhandlungen in der Reichstagsperma^
nenz im Oktober 1848“. Als zweites Dokument ist die Relation
des Kriulinalrates Fuchs zu nennen, welche auf Grund der poli¬
tischen Erhebungskommission zustande gekommen 8 ) und vom 28. Juli
1849 datiert ist Beide Dokumente stammen also aus demselben
Jahre und aus der allernächsten Zeit nach dem Oktober 1848.
mächtigte permanente Ausschuß der großen Verantwortlichkeit, die er
jetzt in einer ausnahmsweisen Stellung als Exekutivbehörde ge-
wissermaßen übernommen hat, sobald als möglich von S. M. enthoben
werde, daß die Geschäfte nach dem kaiserlichen Versprechen einem neuen volks¬
tümlichen Ministerium übertragen werden« (Verhandlungen, III. 190).
*) Das hat auch mit Recht J. Krystül'ek, Prvnl pokus o zavedeni üstavnoeti
v soustäti Habsbursk&n, 271, (Erster Versuch um Einführung des Konstitutio-
nalismus in der Habsburg.-Monarchie), obwohl er sonst der Permanenz abhold ist,
hervorgehoben.
*) Vgl. über die Reichstagspermanenz auch den Polizeibericht an die Zentral unter¬
such ungskommission bei R. Charmatz: Ad. Fischhof, S. 116/117. — Über die Pro¬
venienz dieser zweifelsohne getreuen Abschrift des Kommissionsprotokolls
näheren Aufschluß zu geben, bin ich leider außer Stande; aber bei der Stellung de«
damaligen Unterstaatssekretärs Qelfert ist es leicht erklärlich, wie er in den Besitz
dieses wichtigen Dokumentes gelangt sein kann. Es ist auch unmöglich, sagen zu
wollen, von wem die Abschrift eigentlich angefertigt worden ist und durch wen
sie Helfert zukam. Über die absolute Echtheit und Authentizität dieses Schrift¬
stückes kann natürlich kein Zweifel obwalten, und dasselbe gilt auch vom zweiten Do¬
kumente. 'Wenn es vielleicht auffallend sein sollte, daß Helfert in seinen Schriften
nirgends Erwähnung davon getan hat, so läßt es sich nur dadurch erklären, daß
er sich entweder gebunden fühlte zu schweigen, oder erst in der beabsichtigtem
Fortsetzung der Geschichte Österreichs darauf des Näheren eingehen wollte. leb
verdanke die Benützung beider Dokumente der Freundlichkeit des Herrn Baron
Dr. Jarosl. Helfert in Brünn, welcher sie mir zur Verfügung gestellt hat. Allee
andere aus der bekannten 1848er Sammlung seines Großvaters ist bis auf Weitere«
leider unzugänglich.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
115
L
Nachdem nämlich anfangs März die Beidisversammlimg in Kremsier
gesprengt worden war, wurde der Exdeputierte Alois Jelen, froher beim
Prager Gubemium beschäftigt, Beichstagsordner und zuletzt Beichstags-
archivar, als solcher vom Minister Grafen Stadion damit betraut, sämtliche
Bücher, Akten und Schriftstücke aus der Verlassenschaft des Beichstages
zu übernehmen, zu welchem Behufe er selbe von Kremsier nach Wien
schaffen ließ, wo sie im ehemaligen Beichstagslokale mit den übrigen
Papieren auf bewahrt werden sollten. Gleichzeitig wurde das Beichstagsprä-
odium l ) aufgefordert, sich, sobald die Übergabsarbeiten in Kremsier vol¬
lendet sein würden, nach Wien zu begeben, wo gleichfalls seinerseits zahl¬
reiche Beichstagsakten zu ordnen und zu übergeben waren *). Und bei dieser
Gelegenheit, scheint es, wurde das besagte Faszikel mit den Papieren
desBeichstagsausschusses vorgefunden, worüber ein besonderes Protokoll
in Gegenwart der Anwesenden aufgenommen worden ist Dieses Pro¬
tokoll, durch welches man einen Einblick in die Agenda
der Permanenz gewinnt, und das hiemit aus dem Nachlasse des
Baron Jos. Alex. Heifert zur Veröffentlichung gelangt, hat folgenden
Wortlaut:
Gegenwärtige: Die Unterfertigten.
Unter den Beichstagsakten und zwar als im Depositum in der Beichstags-
kassa fand sich ein Packet ohne Adresse mit Beichstagssiegeln, dann den
Privatsiegeln und Handschriften des Beichstagspräsidenten Smolka, der
beiden Vizepräsidenten Mayer und Lasser und der Schriftführer Wiser 8 ),
Streit, Ullepitsch, Zwickle und Gleispach 4 ), bezeichnet mit der
Beichstagsnnmmer 3615 .
Der Herr Minister des Innern *) hat sich zur Anordnung bestimmt ge¬
funden, die kommissionelle Eröffnung des Packets mit Zuziehung der eben
in Wien anwesenden Herren: Dr. Smolka 6 ), Dr. Lasser, Ullepitsch und
*) Vgl. auch »Dziennik Fr. Smolki 1848/1849«, herausgegeben von St. Smolka.
*) Siehe Helfert, Geschichte Österreichs, IV. 3. S. 344, vgl. auch Widmann,
Fr. Smolka, 186.
■) Der »ungemein aufmerksame und fleißige« Wiser (Helfert, Aufzeichnungen,
81 > sollte, wie es daselbst heißt, ein genaues Tagebuch aus der Oktoberzeit geführt
hüben, worin er »auch die geringsten Zwischenfälle, die zu seiner Kenntnis kamen«,
▼erzeichnet haben soll. Es war mir durch die Liebenswürdigkeit des H. Archivdirektors
des oberösterr. Landesarchivs vergönnt, Einsicht in den literarischen Nachlaß
Wiser» zu nehmen, doch von einem solchen Tagebuche findet sich daselbst
nichts vor.
♦) Graf Karl Gleispach, Vertreter für Feldbach (Zentrum), Lukas v. Zwickle,
Abgeordneter für Feldkirch (Zentrum), Karl Ulepi6 auch Ullepitßch, Vertreter für
AdeWberg (rechts), lg. Streit, Deputierter von Eisenberg (linkB), Karl Wiser, Abg.
fsr Linz (L), Joeef v. Lasser, Vertreter von Werfen (L).
*) Gemeint ist Graf Fr. Stadion, dessen rechte Hand eben Helfert war.
•) Smolka war von Kremsier am 12. März nach Wien zugereist, um eben die
Bekhstagsakten in Ordnung zu bringen und selbe dem Archivare Jelen zu über-
8*
116
Hugo Traub.
Grafen Gleispach anzuordnen. Es wurde dos gedachte Packet genau in
Augenschein genommen, wobei sich die bezeichneten Siegel unverletzt
vorfanden; ohne dieselben zu verletzen, wurde das Packet eröffnet. Es fanden
sich unter der Enveloppe eine Eingabe des prov. Nationalgardeoberkomman-
danten Messenhauser dto. Wien 31. Oktober 1848, mit welcher er sein
provisorisches Amt in die Hände des ßeichstagsauschusses zurücklegt *);
dann eine Erklärung des Schriftführers Wiser dto. 19. Dezember 1848*
mit welcher er die in Frage stehenden im Lokale der permanenten Reichs-
tagskommission Vorgefundenen Akten, wie sie von ihm versiegelt wurden*
dem Reichstagsvorstande übergab *). Ferner lagen in dem ersten Umschläge
die mehr erwähnten Akten mit einem doppelten Siegel auf der Avers- und
Reversseite. Das Siegel enthält nicht ganz deutlich die Buchstaben F. S. 3 ),
auf der Außenseite findet sich die Aufschrift: »L. Wiser zur eigenhändigen
Übernahme*.
Es wurde nun auch die 2. Enveloppe ohne Verletzung des Siegels
eröffnet; darin fanden sich zwei abgesonderte Päcke unversiegelt, auf jedem
derselben mit Bleistift geschrieben: »Konstitution*, ln dem ersteren zeigte
sich ein verschlossenes Päckchen mit der Aufschrift: »Protokoll des
geben. (Vgl. St. Smolka, Dziennik Fr. Smolki 1848—1849, S. 237). Daß Smolka
bei der Eröffnung der versiegelten Akten der Reichstagspermanenz zugegen sein
sollte, meldet er am 15. März seiner Frau (ibidem, S. 239).
*) Messenhauser wurde bekanntlich durch das Studentenkomitee gezwungen*
auf das Kommando zu Gunsten Fennebergs zu verzichten, worauf er der Perma¬
nenz seine Rücktrittserklärung überreichte. Doch diese war damit nicht ein¬
verstanden, sondern drang in ihn, eich mit Fenneberg ins Einvernehmen zu
setzen, was auch auf Intervention des Studentenkomitees nachte zustande kam*
obwohl das Kommando zur selben Zeit ein Nichts geworden war. Daß es Messen¬
hauser am 31. Oktober aufrichtig um die Übergabe der Stadt an Windischgrätz
zu tim war, beweisen folgende drei Dokumente, die ich aus Helferts Nachlasse ge¬
schöpft habe:
1. Messenhauser erließ am 31. Oktober um 1 Uhr Mittags folgenden Befehl:
»Die Gewehre, welche ins Zeughaus abgeliefert sind, sollen sogleich mit Wasser
begossen werden, auch alle Munition durch Wasser vernichtet werden«.
2. Ein anderes, ebenfalls eigenhändig geschriebenes Schriftstück desselben,
vom selben Tage, welches an Windischgrätz abgeschickt werden sollte, hat folgenden.
Wortlaut: »Euer Durchlaucht! Die Entwaffnung hat teilweise begonnen, findet,
jedoch in der vielfach ausgesprochenen Befürchtung einer Plünderung der k.
Truppen sowie in den Gerüchten, welche in den untern Volksschichten bezügliche
der ungarischen Armee umlaufen, eine Verzögerung. Euer Durchlaucht werden,
in Folge dieser so höchst schwierigen Verwicklungen gebeten, eine Verlängerung^
der Waffenruhe bis 6 Uhr abends eintreten zu lassen«.
3. Wegen Übergabe der Stadt richtete Messenhauser an Kübeck, welcher dife
Unterhandlungen mit dem Hauptquartier des Fürsten führte, folgendes Schreiben ,,
dessen verwirrter Stil sowie die flüchtige Schrift, wie Helfert in einer Randoemerkun^^
besonders hervorhebt, für des Schreibers große Aufregung sprechen. Es heißt darin ;
»Mein Freund! Die Hauptsache ist, daß man glaubt, daß das Heer des Fürsten als g-ege^
die Ungarn geteilt angenommen wird, weshalb ich ersuche, daß der FeldmarschaX ]
unverzüglich seine Truppenmassen entfalte, damit die Bevölkerung durch de^
Augenschein überführt, welche Macht gegen die Stadt zur Zeit operieren könnte
Wien, am 31. Oktober 1848. Es steht em Auftritt im Innern zu erwarten. Beiz^
ersten Schuß bitte ich ohne Weiteres einzurücken«.
*) Diese Erklärung korrigiert allerdings zum Teile, resp. widerspricht d^^
oben angeführten Mitteilung Schuselkas, als ob die Permanenzakten gleichzeitig
mit andern Reichstagsschriften am 31. Oktober im Keller versorgt worden ware^x
•) Monogramm des Reichstagspräsidenten Franz Smolka.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
117
permanenten Ausschusses*. Dieses Päckchen ist mit dem kleinen
Reaehstagssiegei doppelt versehen, zwischen beiden ist ein Privatsiegel en¬
gebracht; ohne das Siegel zu verletzen, wurde das Päckchen eröffnet und
es zeigte sich als dessen Inhalt das von der Reichstagspermanenz geführte
Geschäftsprotokoll, aus 10 ganzen und 3 halben ungehefteten Bogen
bestehend. Es beginnt mit dem 6. Oktober mit der Zahl 1 und schließt
am 31. Oktober 9 Uhr abends mit der Zahl 457; es ist am Schlüsse von
Sehuselka, Prato und Bilinski 1 ) unterfertigt Die beiden andern
Päcke enthielten teils Eingaben, teils Erledigungsentwürfe, Briefe etc. Alle
diese Papiere lagen chaotisch durcheinander; die Kommission hielt es
für angemessen, vorerst auf Grundlage des oben erwähnten Geschäftsproto¬
kolls dieselben zu revidieren, um diejenigen auszuscheiden, welche in dem
Protokolle aufgeführt sind, weil es zu ihrer Bezeichnung genügen wird, sie
bloß mit der Nummer anzuführen, unter welcher sie in dem Protokolle
erscheinen. Uber diese mühsame Arbeit ist es 5 V 4 Uhr abends geworden,
und die Kommission sah sich im Einverständnisse sämtlicher Mitglieder
veranlaßt, das Geschäft abzubrechen und am morgigen Vormittage fortzu¬
setzen. Vorsichtsweise wurden jedoch sämtliche Papiere enveloppiert und
unter das amtliche und das Privatsiegel des H. Dr. Ullepitsch gelegt.
Hiernach wurde das Protokoll geschlossen und gefertigt.
Fr. Smolka. Sachse
Dr. Lasser. Ministerialsekretär.
Dr. Ullepitsch.
Gleispach.
Fortsetzung am 19. März 1849 11 Uhr vormittags.
Nach Entriegelung des gestern geschlossenen Fackets, an welchem beide
Siegel unverletzt befunden worden sind, hat die Kommission das Geschäft
der Aktenrevision fortgesetzt. Als Ergebnis stellte sich nachstehendes dar:
L Von den im Protokolle der Beichstagspermanenz aufgeführten Ge-
schäftsnummem haben sich folgende vorgefunden: 1, 2, 11, 13—16, 21,
25 u. s. f. (im Ganzen von 457 Nummern nur bei 170, dann einige
waren unvollständig, z. B. nur 1 Beilage, oder nur das Konzept u. dgL).
Zugleich kann nicht unbemerkt gelassen werden, daß mehrere der im Pro¬
tokolle enthaltenen Geschäftszahlen einen bloßen Prozeßverbot enthalten,
oder darauf hinweisen, daß die fraglichen Geschäftsstücke an den Reichstag
oder an die Ministerien in kurzem Wege geleitet worden sind.
Das mehrerwähnte Reichstagsgeschäftsprotokoll wurde ge¬
heftet und das Ende der Bindfäden mit dem Amtssiegel und dem Privat¬
siegel des H. Dr. von Lasser befestigt, sofort aber wurden diesem Protokolle
die spezifizierten Akten beigebunden.
IL Die übrigen Papiere enthalten folgende Eingaben:
1. Anonyme Anzeige an den Reichstag bezüglich einer über Ungarn
entdeckten Verschwörung.
*) Vgl. weiter oben, was Sehuselka darüber mitteilt, daß nämlich nur Prato,
Haimerl und Smarczewski dem Ausschüsse treu geblieben wären, resp. daß außer
ihm noch Fischbof, Prato und Bilinski bis ans Ende ausharrten. Wir vermissen
hier vor Allem Fischhofs Unterschrift.
118
Hugo Traub.
2. Eine Eingabe der Gloggnitzer Eisenbahn an den Reichstag»
vom 7. Oktober tun Weisungen für ihr Benehmen 1 ).
3. Eingabe der Nordbahndirektion an den Reichstag vom 7. Oktober
wegen Einstellung der Militärzüge*).
4. Bericht des Sicherheitswachkommandanten vom 7. Oktober wegen
Dislozierung der Sicherheitswache.
5. Bitte des Holzmayer und Penzing um Passierscheine*).
6. Eingabe des demokratischen Vereins um Bestellung eines an¬
deren Nationalgardeoberkommandanten, vom 10. Oktober 4 ).
7. Antrag des Studentenkomiteefs] vom 11. Oktober zur Einholung
der Ansichten der fremden Gesandtschaften 6 ).
8. Beschwerde der Gemeinde Mauer wegen Überbürdung von Liefe¬
rungen.
9. Resignation des Hauptmanns Braun auf die Oberkommandanten¬
stelle 6 ).
*) Die Gloggnitzer Bahn war am 7. Oktober vom Militär besetzt worden.
Vizepräsident Smolka teilte dem Reichstage am selben Tage eine Depesche der Süd¬
bahndirektion mit, daß die Arbeiter von Beierbach bei Gloggnitz in der Anzahl
von 1200 Mann nach Wien zu fahren beabsichtigen, worauf Goidmark als Mitglied
des Permanenzaus 8 chu 88 e 8 die Erklärung abgab, es sei das telegraphische Amt er¬
sucht worden, alles zu veranlassen, um auf jede mögliche Weise die Herfahrt zu
hintertreiben (Vgl. Verhandlungen, III. 17).
*) Darauf bezieht sich die folgende Kundmachung vom Reichstagsvorstande,
datiert vom 7. Oktober: »Der Reichstag hat zufolge gestrigen Beschlusses Militär¬
züge auf der Nordbahn verboten. Um jedoch die Herbeischaffung von Lebens¬
mitteln für die Hauptstadt vom Marchfelde möglich zu machen, da dermalen die
g-ewöhnliche Straße wegen der beschädigten Ärarialbrücken unfahrbar ist, sieht
sich der Reichstag veranlaßt, zur Erreichung des angeführten Zweckes der Bahn¬
direktion die Fahrten zu gestatten und dieselbe zur Fahrbarmachung der Bahn
von Wien aus zu ermächtigen«. (Siehe auch Dunders Denkschrift, S. 179). Pulszky
(Meine Zeit, mein Leben, II. 228) erzählt, daß der Verkehr auf der Mordbahn gar
nicht eingestellt war wogegen Mayer am 9. Oktober im mähr. Landtage die Er¬
klärung abgab, daß Auersperg am 7. Oktober beide Wiener Bahnhöfe besetzt hatte.
•) Am 11 . Oktober erschien vom Wiener Gemeinderate ein Plakat hinsichtlich
der freien Passage für die sich von Wien zu entfernenden Personen.
4 ) Die Eingabe war gegen den kaum erst vor zwei Tagen mit dem Amte
vom permanenten Ausschüsse (im Einverständnis mit, dem Minister) betrauten
Philipp Braun, ehemals Grenadierhauptmann und Nationalgardebczirkschef, o-e-
richtet, während bis zum 8 . Oktober der Vertreter von Klosterneuburg, J. *G.
Scherzer, der bisherige Kommandant der Bürgerkavalleriedivision, an der Spitze der
Nationalgarde gestanden war. Scherzer, welcher am 7. Oktober früh auf Antrag- des
Reichstages vom Ministerium zum prov. Kommandanten bestellt worden war, hatte
aber schon am 8 . Oktober in der Früh dem rermanenzausschusse die Mitteilung
gemacht, »daß er sich so angegriffen und entkräftet fühle, daß es ihm unmöglich
wäre, das Kommando zu lÜhren«. (Verhandlungen des österr. Reichstages, III. 55 ).
6 ) Die fremden Vertreter verblieben in Wien bis zum 12. Oktober, wo sie
von Windischgrätz die Mitteilung empfingen, auf wenige Tage ihren Aufenthalt
außerhalb der Stadt zu nehmen.
Ä ) Dies geschah am 11 . Oktober, als Braun in einer Kundmachung erklärte,
daß er das Nationaloberkommando an den Deputierten Scherzer zurückgebe, »da
er (Scherzer) wieder genesen ist«. Brauns Nachfolger wurde am 12 . Oktober Wenzel
Caesar Messenhauser, quittierter Offizier, ebenfalls vom Reichstagsausschusse
auf Drängen des demokratischen Komitees ernannt, resp. im Einvernehmen mit dem
Minister Krauß bestätigt. Derselbe wurde sozusagen der Nationalgarde aufge
drangen, obwohl sich die Abteilun^skommandanten offen für Simon Spitzh.ütl
ausgesprochen hatten. Die Opposition ging so weit, daß sie dem Reichataggsaus
im Oktober 1848.
119
10. Note des Gemeindents Tom 12. Oktober wegen Wahl eines
Oberkommandanten.
11. Antrag des Stndentenkomjteejs] um Einreihung der Stnden-
tenlegion in die Legion, vom 12. Oktober.
12. Beschwerde des Telering vom 14. Oktober wegen Unter¬
schlagung von Briefen.
13. Lithographierte Eingabe und ein Aufruf des deutschen Zen¬
tralvereins für Böhmen, vom 14. Oktober 1 ).
14. Eine Eingabe aus Schärding vom 15. Oktober mit unleserlicher
Unterschrift mit dem Anträge, die österreichische Kaiserkrone dem
Sohne des Erzherzogs Johann zu übertragen 8 ).
15. Schreiben des Franz Pulszky vom 15. Oktober mit dem Anträge,
den Erzherzog Johann zu vermögen, als Vermittler einzu¬
schreiten*).
16. Eingabe des Laa’er Syndikus mit verschiedenen Anfragen und
Anträgen.
17. Bericht des Gemeinderates von Wien dto. 16. Oktober wegen Ver¬
pflichtung der Behörden, über die Truppenkantonierungen Berichte
zu erstatten.
18. Schreiben des Lithographen Josef Kaiser aus Graz bezüglich
seines Wirkens als Mitglied des dortigen demokratischen Vereins.
19. Bericht Messenhausers vom 18. Oktober um die Ermäch¬
tigung, auch offensiv Vorgehen zu dürfen 4 ).
20. Anonyme Eingabe vom 21. Oktober mit einer Anklage gegen
Messenhauser.
21. Schreiben eines sichern Freiherm von Klinspor 5 ) gegen die
von dem Deputierten Teufel 6 ) ausgehenden Aufforderungen zum Zuzuge
nach Wien aus der Umgegend von Amstetten.
schosse das Recht der Oberkommandanten wähl abetritt und nach Ablehnung Schaum-
burgs den Kommandanten der Nationalgardeartillerie Spitzhütl erwählte. In der
Rriehstagsversaimnlung erstattete V i o 1 a n d namens des permanenten Ausschusses
Bericht hiiTÜber wie folgt: »Es wurde heute H. Spitzhütl zum Oberkommandant dei
National garde ernannt [vom wem?J, der aber gegenwärtig seine Stelle niedergelegt
hat Es wurde daher der Gememderat angegangen, anher bekannt zu geben,
welche Person eigentlich die Bevölkerung auf der Stelle eines Oberkommandanten
wünschen würde. Der Gemeinderat hat darauf sich an die Nationalgarde und aka¬
demische Legion gewendet und beide aufgefordert, Bevollmächtigte zu senden,
cm eine Person an diese Stelle gemeinschaftlich zu wählen. Der Ausschuß stellt
daher das Ansuchen, die h. Reichs Versammlung wolle ihn ermächtigen, die gewählte
Pason zum prov. Oberkommandanten ernennen zu dürfen, weil dies äußeret dringend
ist«. (Verhandlungen des österr. Reichstages, III. 8. 125).
*) Abgedruckt bei W. A. Dunder, Denkschrift über die Wiener Oktober¬
revolution, S. 420 ff.
*) Von etwas Ähnlichem ist allerdings nichts in die Öffentlichkeit gedrungen,
obwohl sich, wie bekannt, Kaiser Ferdinand schon vom Mai an mit Abdankungsab-
ächten trug.
*) Vgl. darüber Therese Pulszky, Aus dem Tagebuche einer ungarischen Dame,
IL 34, sowie auch Verhandlungen, III. 225. Schuselka machte davon im Plenum
erst am 18. Oktober Mitteilung.
«) Diese Mitteilung widerspricht wohl dem Bilde, welches Spinger (Geschichte
Österreichs, IL, 408) von Messenhauser entwirft.
*) Dessen Identität konnte ich nicht feststellen.
*) Frenz Teufel, Bauernhausbesitzer, war Vertreter von Ibbs.
120
Hugo Traub.
22 . Relation des Deputierten Pillersdorff über seine Vermitt¬
lung bei dem Feldmarschall Fürsten Windischgrätz 1 ).
23. Gemeinderat übergibt ein Exemplar einer Proklamation, die jedoch
nicht beiliegt.
24. Eingabe des Lieutenants Re hm vom 24. Oktober in duplo, wo¬
mit er die geschehenen Vorgänge tadelt und zu Vertrauen an das Wort
des Kaisers auffordert.
25. Rechtfertigung des Studentenauschusses wegen Auf¬
halten von Briefschaften, dto. 25. Oktober 8 ).
26. Note des Finanzministers über das Resultat seiner Unter¬
handlung mit Fürsten Windischgrätz, dto. 25. Oktober 8 ).
27. Note des Gemeinderates, aus welcher der Gegenstand, über
welchen ein Brief vorgelegt worden ist, nicht entnommen werden kann.
28. Einschreiten der Nationalgarde um Maßregeln zur Be¬
ruhigung der Gemüter vom 6. Oktober.
29. Note des Grafen Auersperg 4 ) an das Ministerium des Innern
vom 7. Oktober um Veranlassung der ungestörten Brotfassung.
30. Ärztliches Parere aus Anlaß der Verwundung eines Schuster¬
gesellen.
31. Schreiben des Ernst Hang an einen Abgeordneten mit Über¬
reichung des nicht mehr beiliegenden Protestes gegen den Einbruch
der Kroaten 5 ).
*) Abgeordneter Pillersdorff erstattete am 25. Oktober dem Reichstage Bericht
über eine mit dem Feld marschall Windischgrätz gepflogene »konfidentielle Unter¬
redung« (Vgl. »Vertrauliche Mission an den Feldmarschall Fürsten Windischgrätz
am 18. C»ktober« im »Handschriftlichen Nachlaß des Freiherrn von Pillersdorff «
Pillersdorff übernahm die Mission »mit Vorwissen« des permanenten Ausschusses,
»um menschlicher Weise auf ihn fWindischgrätz] einzuwirken und die Menschlich¬
keit in ihm anzuregen und zu erwecken, um ihn auf die große Verantwortlichkeit
aufmerksam zu machen, die er der Stadt, der Monarchie, dem Throne, ja dem ge¬
samten zivilisierten Europa gegenüber auf sich hat«. (Schuselka 25. Oktober im
Reichstage, Verhandlungen, III. 346).
*) Am 25. Oktober wurde die Strenge hinsichtlich des Postverkehrs auf beiden
Seiten so sehr gesteigert, daß die Passage den Reisenden gänzlich untersagt wurde
und jeglicher Abgang wie Ankunft der Post von da an bis zum 3. Novembei
gänzlich unterblieb.
8 ) Bei Dunder (Denkschrift, S. 669) erfahren wir, daß die Unterredung de*
Finanzministers Krauss und des Deputierten Brestei mit Windischgrätz »zu keinem
besonderen Erfolg führte, indem letzterer im Wesentlichen auf den in seiner be
kannten Proklamation gestellten Bedingungen beharren zu wollen erklärte«. (Vgl
auch Näheres bei Smets, Das Jahr 1848, II. 633). Laut Protokoll (Verhandlungen
HI. 346) wurde Krauss von Windischgrätz eingeladen, sich zu ihm zu begeben
und aut Wunsch des Ministers gesellte sich ihm Brestei als Mitglied der Permanenz
»aus eigenem und freiem Entschlüsse« zu. Am 23. Oktober beklagte sich Kraus»
bei Wessenberg über das Verhalten des Feldmarschalls (Alf. Arnetb, Joh. Fr. v
Wessenberg, II. 275).
4 ) Graf Auersperg war Stadtkommandant von Wien.
5 ) »Im Namen des Vereins der Deutschen in Österreich« wurde dem Reichs
tage vom 10. Oktober »ein feierlicher Protest gegen die Überschreitung de
deutschen Reichsgrenze durch irreguläre Kroatenbanden unter Führung des Banus
Überreicht, welcher von Haug mitunterfertigt war. (Siehe bei Dunder, Denkschrift
S. 267). Hier ist jedenfalls Major Ernst Haug, unter Messenhauser Generalstabschei
gemeint. Auch rulszky (Meine Zeit, mein Leben, II. 226) bezeichnet Jella^ic'
Heer als einen »schlecht bewaffneten, undisziplinierten Heereshaufen, .. der, da e
keinen regelmäßigen Sold erhielt, vom Raube lebte«.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
121
32. Ersuchen tun Ausfolgung von Gewehren an 4 Techniker.
33. Ersuchen des Legionskommandanten Aigner um 100 Stück Ge¬
wehre *).
34. Abschrift der Antwort des Banns Jellacic vom 10. Oktober auf
die an ihn gerichtete Aufforderung, die Absicht seines Anrückens auszu¬
sprechen -).
35. Einschreiten des Protomedikus Knolz um Enthebung der Spi¬
talsbeamten und Diener vom Nationalgardendienste 3 ).
36. Vorschläge eines Ungenannten an den Studentenausschuß zur
Besteuerung aller Flüchtiggewordenen, Entlassung aller Be¬
amten, die sich entfernt haben, und Konsignierung der diensteifrigen
Garden.
37. Bericht des Approvisierungskomitee[s] über den Stand der
Approvisierung, dtu. 15. Oktober.
38. Disziplinarordnung für die mobile Volkswehr vom IG. Ok¬
tober, gezeichnet von Messenhauser 4 ).
39 . Anzeige des Wiedner Bezirkskommando vom 17. Oktober über
Gefährdung des Eigentums durch das Proletariat.
40. Anonymes Schreiben mit dem Anerbieten, Vorschläge zur
Beilegung des Nationalitätenkampfes zu machen 5 ).
41. Abschrift einer Note des Ministers der auswärtigen
Angelegenheiten vom 20. Oktober mit Verweisung des Gemeinderates
an den Fürsten Windischgrätz bezüglich etwaiger Bitten und Anliegen.
»i Josef M. Aigner, Maler von Beruf, war Kommandant der akad. Legion
und der dritte Stellvertreter Messenhausere. Nach Smets (Das Jahr 1848, II. 612)
war derselbe »nie etwas Anderes als ein Paradekommandant«. Aigner, welcher schon
in den Märztagen dem Akademikerkorps beigetreten war, wurde am 21. November
1848 wegen »tätiger Teilnahme am Aufruhr und bew&flheten Widerstand gegen
die k. k. Truppen« kriegsrechtlich zum Tode durch den Strang verurteilt, aber
gänzlich begnadigt.
*) Das Ministerium sandte am 10. Oktober vormittags die Abgeordneten
Prato und Bilihski an Jellaöid mit einer Note ab, in welcher gegen das Eindringen
auf österreichischem Gebiete protestiert und der Bonus aufgefordert wird, sich den
Befehlen des österreichischen Ministeriums zu unterstellen und seine Absicht be¬
stimmt zu erklären. Die Antwort Jellaöid’s (siehe bei Dunder, Denkschrift 259) wurde
noch desselben Tages von Prato im Reichstage kundgemacht.
*) Diese Eingabe scheint nicht ohne Erfolg geblieben zu sein. Wir hCren,
wie vom Reichstage (am 12 . Oktober) beschlossen wurde, »daß dem Nationalgarde¬
oberkommando duren das Ministerium die Weisung erteilt werde, jene öffent¬
lichen Beamten und Diener, welche zur Vollziehung der Befehle des Reichstages
und der Exekutivgewalt ganz unentbehrlich nötig sind, Beglaubigungen
acizustellen, daß sie vom Waffendienste enthoben seien« (Verhandlungen, III. 112).
«) Neben der Nationnigard* wurde auch die M o b i 1 g a r d e errichtet, welche
äos ärmeren Leuten, nicht zu allerletzt aus verkommenen Individuen, gebildet
wurde; deshalb war es von Wichtigkeit, daß eine Disziplinarverordnung geschaffen
worden ist. Scbuselka verlas am 16. Oktober im Plenum den Entwurf über „Dis-
äplinarverordnung tür die mobile Volkswehr«, welcher auch ohne Einsprache an¬
genommen wurde.
*) Es ist vollkommen unklar, worauf sich der Vorschlag auf »Beilegung des
Nationalitätenkampfes« beziehen kann. Oder hängt dies etwa mit der Petition zu-
mnmen, welche das Studentenkomitee unter dem unmittelbaren Eindrücke von der
Ermordung des Kriegsministers an den Reichstag gerichtet hat? Der erste Punkt
dieser Eingabe ersucht um Einwirkung auf den Monarchen, »um die sogleiche
Herstellung des Friedens in Ungarn und Kroatien auf der
Grundlage der Gleichberechtigung aller Nationalitäten«.
122
Hugo Traub.
42*. Abschrift der Proklamation des Fürsten Windischgrfitz
vom 27. Oktober.
43. Protokoll der Permanenz des Gemeinderates vom 21. Ok¬
tober wegen Erwirkung des ungehinderten Ochsentriebes 1 ).
44. Ein gedrucktes Exemplar der Proklamation der Volks-
freunde Klagenfurts vom 12. Oktober 8 ).
45 . Einschreiten der Dampfmühlengesellschaft um Befreiung
ihrer Beamten und Arbeiter vom Gardendienste.
46. Bevollmächtigung für die Stadtverordneten von Ellbogen*
dto. 28. September 8 ).
47. Sechs Einschreiben, und zwar des Johann Hermann, Georg
Köl lisch, des Oberstallmeisteramtes, der Kanzleidirektion des Jud. del. miL
mixt., Theodor Hirn und Bondi um Schutz des Reichstages für ihre
Person oder ihr Eigentum.
48. 34 Meldungen über Tagesereignisse und vorgekommene
Drohungen.
49. 4 Stück telegraphische Depeschen.
50. Zwei Ausweise vom 24. und 27. Oktober über Ausgabe der
Nationalgardekasse 4 ).
51. 19 Legitimationen des Studentenausschusses und des Gemeinde¬
rates für einzelne Personen, welche beauftragt waren, der Reichstags¬
permanenz Eröffnungen zu machen 6 ).
52. Neun Empfangsbestätigungen über Depeschen.
53. 7 gefertigte Blankette zu Passierscheinen 6 ).
*) Es wurde schon eingangs die Erwähnung davon getan, daß auch eine Ge¬
meindepermanenz in Wien gebildet wurde, deren Protokolle glücklicherweise im
Stadtarchive aufgefunden worden sind. Ich gedenke ein andercsmal des Nähern
darauf einzugehen.
*) Bei Dunder (Denkschrift, S. 349) findet sich vom 12. Oktober eine Adresse
an den Reichstag »vorn permanenten Ausschuß des prov. kärtnerischen Provinzial¬
landtages« abgedruckt; ist vielleicht diese Adresse mit jener Proklamation identisch?
*) Es ist unklar, um was es sich hiebei handeln und wieso ein Akt vom
September unter die Permanenzpapiere gelangen konnte.
4 ) Die Mittel zur Abwehr wurden vor Allem vom Minister Krauß zu Händen
des Gemeinderates bewilligt. So meldete Smolka am 13. Oktober in der Kammer:
»Der Finan? minister trägt ein verstand lieh mit dem permanenten Aus¬
schüsse darauf an, daß aus jenen zwei Millionen, welche zur Unterstützung der
armen gewerbetreibenden Klasse in Wien bestimmt wurden, 200.000 fl. an die
Gemeindekasse zur Unterstützung der jetzt unter den Waffen stehenden mittel¬
losen Gardisten verwendet werden können« (Verhandlungen, III. 132).
6 ) Mit der Geschäftsvermittlung zwischen dem Oberkommando und dem
Reichstagsausschusse war Violand betraut. Diese Dokumente widersprechen aber teil¬
weise Schuselkas Berichte vom 6 . Oktober, welcher als 12. Beschluß mitteilte: »Es
wurde der Antrag des Kommissionsmitgliedes Klaudy angenommen, daß keine De¬
putationen, deren fortwährend in großer Anzahl erscheinen, in den Ausschuß selbst
zugelassen werden. Es werden diese in das Ordonanzzimmer an die dort befind¬
lichen Offiziere gewiesen, mittelst welcher uns ihre Wünsche zukommen«. Oder
wurde mit der Zeit und seit wann Abstand davon genommen?
•) Um den Reichstag beisammen zu erhalten, trug Smolka aer Nationalgarde
auf, ohne Bewilligung niemanden hinauszulassen, sofern man nicht einen vom Reichs-
tagspriisidenten unterfertigten Passierschein vorweisen würde (vgl. K. Widmann,
Fr. Smolka 97). Smolka berichtet auch seiner Frau, daß er verschiedenen Leuten
und auch ausländischen Personen Zertifikate »zur freien Passierung der Stadt«, als
auch bezüglich »der Enthebung vom Gardedienste« ausgestellt hat (St. Smolka,
Dziennik Fr. Smolki 1843—1849, S. 85).
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
123
54. Eine Bestimmung des Stadentenkomitee[s] vom 8. Oktober, daß
die ihm übergebenen Papiere des Kriegsministers Latour durch den Ab¬
geordneten Dr. Goldmark dem Beichstagsausschusse Übermacht worden
seien *).
55. Ein Verzeichnis der Mitglieder der Reichstagsper-
manenz und der Beisitzer derselben 2 ).
56. Gesuch des Studentenauschusses über die Beschwerde der
Munizipalgarde wegen roher Behandlung von Seite ihrer Vorgesetzten.
57. Permanenzordonanz vom 7. Oktober wegen ungehinderter
Passierung der Briefpost 2 ).
58. Entwurf eines Schreibens an Graf Auersperg vom 7. Oktober,
worin die Erwartung ausgesprochen wird, daß er sich den Reichstagsbe¬
schlüssen fügen werde.
59. Entwurf eines Erlasses an das Nationalgardeober¬
kommando und an den Gemeinderat von Wien wegen Maßregeln
für die persönliche Sicherheit, vom 11. Oktober.
60. Telegraphische Depesche vom 12. Oktober anLöhner in Brünn 4 ).
61. Entwurf zu einer Erklärung, daß alle militärische Insti¬
tute unter dem Schutze des Reichstages stehen.
62. Erlaß an den Nationalgardeoberkommandanten vom 18. Oktober
wegen täglicher Berichterstattung über die Verteidigungsma߬
regeln.
63. Reichstagsbeschluß vom 20. Oktober bezüglich einer Unter¬
stützung der hiesigen Gewerbsleute.
64. Entwurf einer Proklamation an die Bürger Wiens, den
Reichstag in Erfüllung seiner Pflichten zu unterstützen 5 ).
65. Entwurf eines Vertrauensvotums wegen Bildung eines
neuen Ministeriums 6 ).
i) F.in unbekannter Mann, der sich als Offizier vorgestellt hatte, überbrachte am
6. Oktober abends dem Studentenkomitee ein Packet von Latours Papieren, welche
er dessen Schreibtische entnommen hatte. Tausenau, dem vom Komitee das Packet
zur Verwahrung übergeben worden war, veröffentlichte achtzehn von den Do¬
kumenten in Becherts »Radikalen«, während die Originalschriftstücke durch das
Komitee dem Reichstagsausschusse übermittelt wurden (vgl. weiter unten).
*) Unter Beisitzern werden aller Wahrscheinlichkeit nach jene Freiwilligen
gemeint, deren schon früher nach Schuselkas Aufzeichnungen Erwähnung getan
wurde.
*) Mit dem 24. Oktober war jede Postverbindung mit und von Wien unter¬
bunden, doch bis zu dieser Zeit war das Korrespondieren möglich gewesen.
4 ) Deputierter Löhner war am 10. Oktober dem Hofe nachgereist, um zu
Gunsten des Reichstages resp. V iens zu intervenieren. Über seine Mission be¬
richtete am selben Tage Smolka in der Kammer, daß sie »hauptsächlich den Zweck
hat, kein Mittel unversucht zu lassen, die zwischen Militär und Zivil bestandenen
Mißverhältnisse und Spaltungen möglichst friedlich beizulegen«. Wir finden Löhner
zuerst in Brünn, von wo er der Reichsversammlung Nachricht gab über die »ra¬
dikale« Stimmung daselbst und n Mähren überhaupt, worauf er sich erst nach
Olmütz begab. (Siehe des Näheren in meinem ooen zitierten Aufsatze). Vgl.
Brünner Zeitung, 1848, Nr. 283.
*) Am 9. Oktober erschien die bekannte Reichstagsproklamation »An die
Bewohner Wiens« (vgl. Verhandlungen, HI. 61).
«) Die Tage des Wessenberg’schen Kabinetts waren schon früher gezählt;
dem Reichstage und seiner Permanenz war es von allem Anfang an darum zu tun,
124
Hugo Traub.
66. Ein mit Bleifeder geschriebener Entwarf bezüglich der zu¬
nächst zu ergreifenden Maßregeln.
67. Entwurf einer Proklamation an die Nationalgarde
von der Hand des Eanzelisten Umlauft, womit sie zur Einigkeit und zum
Gehorsam ermahnt wird.
68. Antrag zur Abfassung einer Adresse an Se. Majestät wegen Zu¬
rückziehung des Militärs etc.
69. Entwurf eines Erlasses an das Nationalgardeoberkommando.wegen
Beschützung der konstitutionellen Freiheit 1 ).
70. Entwurf zu einem Reichstagsbeschlusse wegen weiterer Unter¬
stützung des Gewerbestandes.
71. Entwurf einer Note an den Finanzminister aus Anlaß der Pro¬
klamation des Fürsten Windischgrätz, vom 23. Oktober.
72. Entwurf des Beichstagsbescblusses wegen allgemeiner Be¬
waffnung 2 ).
73. Entwurf zu einem Schreiben, wie es scheint, an Graf Auersperg,
sich den Beschlüssen des Reichstages und der Minister zu fugen.
74. Entwurf des Beichstagsbeschlusses wegen Einstellung des
Feuers beim Zeughause 3 ).
75. Entwurf einer Aufforderung an den Gemeinderat, sich zu erklären,
welche Maßregeln zur Abwendung der Gefahr ihm am Zweck¬
mäßigsten scheinen 4 ).
76. Entwurf einer Proklamation an die Völker Österreichs
mit der Aufforderung, Wien zu Hilfe zu eilen 6 ).
die ihnen geneigten Hornbostel, Doblhoff und Krauss in einem »volkstümlichen«
Ministerium zu erhalten (vgl. auch die Verhandlungen, Hl. S. 10 und 16 vom
6. und 7. Oktober).
t) Bei Dunder (Denkschrift, S. 396) findet sich eine Proklamation Messenhausers
vom 14. Oktober an die Gemeindevorsteher abgedruckt, worin selbe zur freiwilligen
Organisierung der Landbevölkerung »zum Schutze der verliehenen Rechte, des be¬
drohten Reichstages und der bürgerlichen Freiheit aufgefordert werden«.
*) Am 12. Oktober befürwortete Schuselka im Reichstage Brauns Vorschlag,
»daß sich für die Dauer der Gefahr alle waffenfähige Männer unter das Kom¬
mando desjenigen Bezirkschefs, dem sie ihrer Wohnung nach angehören, zu stellen
haben« (Verhandlungen, HI. 100).
•) Bezieht sich wohl auf die Übergabe und Plünderung des Zeughauses vom
7. Oktober.
4 ) Es läßt sich aus der mangelhaften Angabe, die kein Datum enthält, nicht
bestimmen, um welche Kundmachung es sich dabei handelt. Daß der Gemeinderat
eigentlich die Verteidigung zu führen hatte, ist auch dem Berichte zu entnehmen,
den Schuselka am 10. Oktober erstattet hat. Es heißt dort: »Wir haben dem Ge¬
meinderate der Residenzstadt Wien die Vollmacht erteilt, durch öffentliche Kund¬
machung es zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, daß betreff der Verteidigungs-
anBtalten keinem anderen Befehle Folge zu leisten sei, er mag wo immerher
kommen, als dem vom Gemeinderate und vom Nationalgardeoberkommando ge¬
fertigten; dann haben wir dem Gemeinderate die Vollmacht gegeben, die Ver¬
teidigungszustände Wiens unter seine spezielle und alleinige
Obhut zu nehmen« (Verhandlungen, HI. 74).
ß ) Es ist wohl hier der Entwurf der Proklamation „An die Völker Öster¬
reichs« gemeint, den Schuselka am 7. Oktober in der Kammer verlas. Am 8. Ok¬
tober wendete sich der Reichstagsausschuß »an die Nationalgarden« in der Er¬
wartung, »daß Ihr alle mit ihnen [den Vertretern Österreichs] unerschütterlich und
ausdauernd zusammenstehen werdet zur Erhaltung des Vaterlandes, des konstitu¬
tionellen Thrones und der Freiheit«. Der betreffende Aufruf »an die Völker Oster-
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
125
77. Auszug aus einem stenographischen Berichte vom 6. Oktober, eine
Relation S z a b e 1 ’s enthaltend x ).
78. Eine Darstellung über die Position der Geschütze.
79. Reichstagsakten Nr. 457, 459 etc., Gegenstände des Peti¬
tionsauschusses betreffend, welche sogleich auszuscheiden und zu
den übrigen Reichstagsakten zu legen sind 8 ).
80. Endlich 2 Privatschreiben an den Reichstagspräsidenten,
2 Eröffnungen an die Person des Deputierten Fischhof, ein Privat-
aehreiben an Heig 1 in Wien, dto. an Franz Kolomersky 8 ), eine Rela¬
tion mehrerer Garden an ihren Hauptmann und Anempfehlung des Vereins
der Deutschen in Österreich für ihr Mitglied Haug an das Oberkommando
des Nationalgarde 4 ).
Hiemit war das Übergabsgeschäft beendet. Von Seite der beigezogenen
Mitglieder des ehemaligen Reichstagsvorstandsbureaus wird bei dem Umstande,
daß sich bei Eröffnung des versiegelten Packets das Protokoll nicht
vorgefunden hat, welches bei ihrer Beratung über die Ver¬
handlungsweise der in Frage stehenden Schriften (in deren
Folge die Versiegelung in der vorgenommenen Weise vorgenommen worden
ist) aufgenommen wurde und welches sie dem Packete beigeschlossen zu
haben glaubten, noch die Bemerkung angefugt, daß dieses Protokoll sich
unter den Reichstagsakten vorfinden muß.
Hiemit wurde das Protokoll um 3 s / 4 Uhr nachmittags geschlossen und
gefertigt
F. Smolka
Dr. Lasser
Dr. Ullepitsch
Gleispach
Sachse,
Ministerialsekretär.
Theodor Pittner,
Schriftführer des Protokolls.
n.
Einen zweiten, nicht minder wichtigen Beitrag für die Reichstags-
pennanenz, wenn auch von anderer Art, liefert die ausführliche Relation
eines gut Informierten, dessen Urteil allerdings stark getrübt und vom
Zeitgeiste der Reaktion nicht unbeeinflußt geblieben ist, weshalb dieses
Dokument mit der nötigen Vorsicht aufzunehmen und zu gebrauchen
sein wird. Es handelt sich um die Ausführungen des Kriminalrates
reiche« wurde am 20. Oktober im Reichstage angenommen und in sämtlichen
Österreichischen Sprachen verbreitet, wenn auch ohne Erfolg.
*) Es ist der Bericht Szäbels gemeint, den er im Namen einer vom Reichs¬
tage aogesandten Deputation an Graf Auersperg im Plenum erstattet hat (vgl. des
Näheren etwas weiter).
*) Ein neuer Beweis, daß die Permanenzakten entgegen der Behauptung
SchuseLkas nicht gesondert auflswahrt worden waren, oder nachträglich verworfen
worden sind.
*) Andreas Heigl war Deputierter und Vertreter von Stulle in Niederöster-
rrieh. Wer Kolomersky war, konnte ich nicht eruieren.
4 ) Über Haug — wohl zu unterscheiden von Hauck, der damals Mitredakteu*
der radikalen »Konstitution« war — vgl. des Näheren, was schon früher not«!
worden kt. '*1
126
Hugo Traub.
Johann Fuchs, welcher als Mitglied der sogenannten politischen
Erhebungskommission 1 ), die vom Wiener Kriminalgerichte mit
der Ausforschung und Erhebung sämtlicher Umtriebe des Jahres 1848
betraut war, vollen Einblick in die Akten der Permanenz bekommen
hat Dessen Erhebungen — nebenbei ein nicht zu unterschätzendes
Dokument für die im Jahre 1849 offen zu Tage tretende Reaktionsära
— aus deren Einleitung man sofort merkt wohin der Verfasser zielt
fanden sich ebenfalls im Nachlasse des Baron H eifert, und zwar in
einer Enveloppe mit dem vorhergegangenen Kommissionsprotokolle,
vor, über deren Provienz uns ebenfalls bis jetzt jeder Anhaltspunkt
mangelt 2 ).
Der ausführliche Bericht des Kriminalrates Johann Fuchs, datiert
vom 28. Juli 1849, lautet getreu wie folgt:
Relation über die Durchsicht der mangelhaft befun¬
denen, der politischen Erhebungskommission mitgeteilten
Akten der Reichstagspermanenz.
Die der politischen Erhebungskommission vom Ministerium des Innern
zugesendeten Akten der vormaligen Reichstagspermanenz habe ich durch¬
gesehen und darin Vieles gefunden, was beweiset, daß die Permanenz
zu den Haupthebeln der Oktoberrevolution gehört. Da ich
bei den Sitzungen des Wiener Kriminalgerichtes über die Aufruhrs- und
Hochverratsuntersuchung gegenwärtig bin, so erlaube ich mir vorläufig
aus meinen dortigen Erfahrungen einige allgemeine Bemerkungen:
Daß einzelne Mitglieder des Reichstages schon vor dem Oktober 1848
im Vereine mit den Studenten und Demokraten die Regierungsgewalt zu
schwächen, alles Bestehende umzustürzen und so den Zerfall Österreichs
herbeizuführen strebten, dafür finden sich Belege in den Untersuchungen
gegen die Flüchtigen: Füster, Violand, Kudlich, Tausenau und
andere 8 ). Daß aber auch zur Hervorrufung des Aufruhrs und der Em-
! ) Dieselbe ist zu unterscheiden von der gemischten politisch-militä¬
rischen Kommission, welche laut Ministerialbeschluß am 21. Februar 1849
bestellt worden war, um »genaue Erhebungen der an militärischem, Ärarial- und
Privateigentum erlittenen Verluste« zu pflegen. Zum Vorsitzenden derselben wurde
GM. Portenschlag ernannt.
*) Der Einleitung resp. dem Schlüsse nach zu schließen handelt es sich um
eine Relation, die Fuchs auf ein direktes Verlangen seiner Vorgesetzten nach dem
gewonnenen Einblicke in die Akten verfaßt hat, welche sich Helfert aut irgend¬
eine Weise — schwer zu sagen ob im Originale oder Abschrift — zu verschaffen
wußte. Überraschend ist nur, daß derselbe in seinen verschiedenen Arbeiten nirgends
davon Erwähnung getan, geschweige denn zu verwenden gesucli* hat. Oder dürfte
er in denBesitz dieses Dokumentes — • wie auch des ersteren — nachträglich gelangt
worden sein?
*) Gegen Dr. Karl Tausenau, der im Oktober neben Awrum Cheizes (Adolf
ChaisesJ im ZentralausschusBe der demokratischen Vereine als Vorsitzender das erste
Wort führte, wurde am 81. Dezember 1848 ein Steckbrief erlassen, gegen die Depu-
Die Reichstegspermanenz im Oktober 1848.
127
pörung am 6. Oktober Mitglieder des Reichstages tätig waren, dafür spricht
schon an sich die notorische, in den Verhandlungen des Reichstages ausge¬
sprochene Tendenz der linken, deren verderbliche Anträge nur durch die
Majorität der Rechten paralisiert wurden. Insbesondere hat aber Füster
gegen Ende September in einer Studentenumgebung erklärt: Die Linke
werde bald die Majorität sein!
Die Reden, welche bei jenem famosen Fackelzug l ) gehalten wurden 2 ),
den die durch allerlei Mittel herbeigerufenen Bauern dem Endlich für
seinen bekannten Antrag der örundentlastung 8 ) brachten, zeigten deutlich,
was die Linke wollte, denn schon damals wurde ausgesprochen, daß die
Bauern, wenn man sie braucht, kommen sollten. Unter den bei der un¬
garischen Hofkanzlei Vorgefundenen Papieren, welche wichtige Aufschlüsse
über die ungarischen Bestrebungen geben, fand sich auch ein Brief vom
30. August 1848 von Kossuth an Pulszky vor, worin letzterer ange¬
wiesen wird, wie er den Abgeordneten Löhner, der geneigt sei, die un¬
garische Angelegenheit zu vertreten, zu instruieren habe 4 ). Am 6. Oktober
wurde Füster zeitlich früh vor dem Abmarsche der Legion zum Bahn¬
höfe auf der Aula gesehen 6 ); Endlich befand sich am Bahnhofe selbst
und log dort dem Militär vor, er sei vom Reichstag geschickt: die Grena¬
diere hätten hier zu bleiben 6 ). Goldmark war an der Spitze der Pro¬
letarier, die den Eriegsminister suchten und jubelten sohin über dessen
tierten Füster. Eudlich und Violand geschah es erst nach der Parlamentsauflösung
am 10. März 1849.
*) Die dem »braven, guten« Eudlich dargebrachte Huldigung von Tausenden
von Landleuten bestand im Dankfackelzug mit Nachtmusik, welcher am 24. Sep¬
tember stattfand. Aus demselben Anlasse war ein undatiertes Flugblatt erschienen
zur Verherrlichung Kudlichs, dessen Überschrift lautet: »Hans Eudlich, der
Bauernbeglücker. Ein Wort zur rechten Zeit. Bei Gelegenheit des dem
Obigen von den Landleuten der nahen und fernen Umgebungen Wiens darge-
1 rächten Fackelzuges«.
*) \ußer Eudlich und dessen Vater sprachen noch die Reichstagsmitglieder:
Violand, Schneider, Pastor aus Bielitz, Umlauft, Borrosch, Bilinski
und Go Id mark.
3 ) Die »Studentenzeitung« gab aus diesem Anlasse ein »außerordentliches
Extrablatt* mit der überschritt heraus: Die erste goldene Frucht des Reichstages!
Kein Robot! Kein Zehent mehr!
«) Damit hängt wohl die «Notiz zusammen, welche wir in Helferts Aufzeich¬
nungen und Erinnerungen, 324 vorfinden. Dort heißt es: »Löhner hatte sich
am Oktoberaufstandc nicht beteiligt und konnte man ihm von dieser Seite nichts
anhaben. Dagegen war sein unausgesetzter Verkehr mit Franz Pulszky
bekannt und bei dem hervorragenden Einfluß, den die ungarischen Revolutionäre
auf die Wiener Bewegung hatten, konnte Löhner immerhin fürchten, vom Unter¬
suchungsrichter ins Verhör genommen zu werden. Er zog es daher vor, derlei
Fatalitäten aus dem Wege zu gehen, und ohne Zweifel war es Stadion, der ihm
vom Ministerium des Äußern die zur Reise ins Ausland erforderlichen Dokumente
verschaffte *. Vgl. dazu auch Therese Pulszky, Aus dem Tagebuche einer ungarischen
Dame, I. 145.
-) Vgl. ähnliche Anschuldigung gegen Füster in den »Ergebnissen der vom
k. k. Militärgerichte geführten Untersuchungen wider die Mörder des Grafen
Latour«, S. 155.
«) Damit läßt sich allerdings schwer vereinbaren, wenn Eudlich in seinen
„Denkwürdigkeiten« erzählt, er habe der Erhebung vom 6. Oktober nachdrücklich
widerraten, indem er erkannt habe, daß Fürst Windischgrätz nur auf einen Anstoß
warte, auf Wien marschieren zu können.
128
Hugo Traub.
Ermordung. Das Kriminalgericht fand ihn sogar der Mitschuld an diesem
Morde für rechtlich beschuldigt 1 ). Nachdem nun der 6. Oktober hervor¬
gerufen und die meisten cechischen Deputierten, ihres Lebens nicht sicher,
zur Flucht gezwungen waren 2 ), hat der Reichstag seine Tätigkeit damit
begonnen, daß er sich permanent erklärte, aus seiner Mitte einen Per¬
manenzausschuß ernannte und so die Exekutivgewalt an sich riß.
Schon die Namen Brestei, Fischhof, Löhner, Füster, Violand,
Goldmark, Kudlich, Vacano, Prato und andere, die in diesen Aus¬
schuß gewählt wurden, ließen das Böseste ahnen, und siehe da! womit be¬
gann derselbe laut des von ihm geführten Exhibites oder Geschäftsproto¬
kolls seine Wirksamkeit noch am 6. Oktober? 8 ).
Am 6. Oktober. Exhibit Nr. 1 4 ). Mit einer scheinheiligen Pro¬
klamation an das Volk 5 ), daß der Ausschuß den Ausnahmszustand
zwischen Volk und Garnison beendet und beide in Eintracht leben sollten.
Nr. 2 wird das Ministerium aufgefordert, den Abgeordneten Scherzer
zum Nationalgardeoberkommandanten zu ernennen 6 ).
t) Tatsache indeß ist, daß Goldmark außer Borrosch, Schuselka, Endlich,
Violand, Smolka und Sierakowski ihr Latour eintraten. Nur ein Abgeordneter leimte
die Mitwirkung zur Ministerrettung ab und das war Füster, worüber derselbe auch
in seinen „Memoiren« ein offenes Bekenntnis ablegt Er konnte es nämlich nicht
überwinden, daß Latour und Bach ihm bei jeder Gelegenheit ihre Mißachtung auf¬
fälligst zu erkennen gaben. Goldmark wurde als Präsident des akad. Komitees in
der Tat von Windischgrätz in contumaciam zum Tode verurteilt, doch 1868 reha¬
bilitiert (vgl. Knepler, Der Prozeß Goldmark).
*) Es läßt sich nicht in Abrede stellen, wie auch Belfert (Aufzeichnungen und
Erinnerungen, 11) hervorhebt, daß auf offener Straße gegen den Präsidenten
Strobach und andere Mitglieder (namentlich Rieger) der böhmischen Rechten
Drohungen ausgestoßen worden, daß selbst auf den Bänken der Linken in der Al>end-
sitzung des 6. Oktobers Worte in solchem Sinne gefallen sind. Vgl. »Wiener Zeitung«,
1848 Nr. 189, wo es ausdrücklich heißt: »Einen Beweis hiezu gibt der Umstand, daß
sogar Reichstagsmitglieder, mit weißen Schärpen angetan, am Abend des 6. Oktobers
bemüht waren, die Bedrohten in ihren Wohnungen aufzusuchen, um sie unter den
Schutz der Reichsversammlung, überhaupt in Sicherheit zu bringen«. Siehe auch
A. P. Trojans, „Darstellung der Wiener Ereignisse nach Mitteilungen der böh¬
mischen Reichstagsabgeordneten«.
») Laut »Verhandlungen« 1IL. S. 6 Wurde auf Kudlichs Vorschlag die
Kommission aufgefordert, „sobald als möglich« einen provisorischen Komman¬
danten für die ganze Nationalgarde zu ernennen, und kurz darauf meldete Violand
den Kommissionsbeschluß bezüglich des Deputierten Scherzer. Dies wäre demnach
der erste Akt der Reichstagspermanenz. Smets (Das Jahr 1848, II. 581) erzählt
merkwürdigerweise, daß „die erste Handlung des Ausschusses die Öffnung eines an
den Kriegsminister adressierten Packetes war«, welches sechs Briefe enthalten haben
soll, darunter einen von Jellartid um Kanonen und die bereits zugesagte Truppen¬
verstärkung. Es handelt sich da um jene Akten des Kriegsministers, welche am
7. Oktober in der vormittägigen Sitzung des Reichstages Finanzminister Krauss
»auf den Tisch des Hauses« legte; sie betrafen Geldsendungen nach Kroatien. (Vgl.
Verhandlungen, HI. S. 15).
«) An der Seite befindet sich die Notiz: »Exhibierte, aber größtenteils nicht
vorhandene Akten«. Wohin wohl diese hingekommen sein mögen?
6 ) Damit hängt wohl die allgemein gehaltene Stilisierung aus dem offiziellen
Reichstagsberichte vom 6. Oktober zusammen, wo es heißt: »Von der Sicherheitskom¬
mission wird die Erlassung einer Proklamation wegen Einstellung der Feindselig¬
keiten beim kaiserlichen Zeughause beantragt«. Vgl. weiter den Bericht Schuselkas
als Berichterstatter der permanenten Kommission bezüglich des Entwurfes »einer
Proklamation an das Volk von Wien«.
•) Violand meldete noch in der Abendsitzung des 6. Oktobers, daß der Aus¬
schuß »in betreff dieser Ernennung [nämlich Scherze« zum prov. Oberkomman-
Die Reichste gspermanenz im Oktober 1848.
129
Nr. 3 wird versprochen, sogleich für die Entfernung des Mili¬
tärs ans Wien und für eine allgemeine Amnestie zu sorgen l ).
Nr. 4 wird wohl befohlen, das Feuern überall einzustellen, aber
gleichzeitig sub Nr. 8 und 10 schleunigst Munition an die akademische
Legion ausgefolgt *).
Nr. 11, 12, 18 wird noch am 6. Oktober den sämtlichen Eisenbahn¬
direktionen verboten, Militär zu transportieren 8 ).
Ungeachtet des Befehls sub 9, das Volk vom Angriffe auf das Zeug¬
haus abzuhalten, und des weiteren Beschlusses sub 15, daß die National¬
garde und Legion friedlich davon Besitz nehme, werden über die Anzeige,
daß auf der Aula beschlossen worden sei, das Zeughaus mit Sturm zu
nehmen, laut 21 und 22 Füster und Violand zur Beschwichtigung der
Legion abgesendet (eine schöne Wahl) 4 ).
Nr. 20 bedachte man einen ungarischen Kurier anBatth^anyi 6 ) wegen
eines Geleitscheines. (Natürlich mußte letzterer sogleich benachrichtigt werden,
wie der 6. Oktober ausgefallen).
Mit der sub 23 von Ordonanzgarden gebrachten Nachricht, daß das
Zeughaus brenne und daß das Oberkommando das Nötige verfügt habe,
scheint man sich begnügt zu haben 6 ). (Hier muß auch aus Füster’s
d&aten] bereits jemanden an das Ministerium des Innern abgesandt«. Vgl. weiter
Schuselkas Berichterstattung.
4 ) Die Sache ging vom polnischen Abgeordneten Borkowski aus, der nach
Verlesung der Adresse an den Kaiser durch Pillersdorff den Antrag stellte, es
solle der Adresse die Bitte des Reichstages beigefügt werden, ,damit eine allge¬
meine Amnestie für Alle, welche sich an den Begebenheiten dieses Tages be¬
teiligt haben, ausgesprochen werde, sowohl für Zivil- als Militärperaonen«.
*) Dies hängt wohl damit zusammen, was Violand noch am 6. Oktober im
Plenum kundgab: »Das Komitee hat beschlossen, daß die akademische Legion das
Zeughaus besetze«. Und weiter berichtete derselbe: »Von der akademischen Legion,
der Garde und dem Volke werden Kanonen gegen das Zeughaus aufgeführt«.
Schließlich entnehmen wir dem Berichte Schuselkas unter Nr. 6: »Wurde der
akademischen Legion zugesagt, Mittel zu treffen, damit sie alsbald mit Munition
versehen werden möge«, was im Reichstage mit Bravorufen aufgenommen wurde.
Siehe auch die Erklärung Schuselkas in der Abendsitzung vom 9. Oktober.
•) In der Abendsitznng des 6. Oktobers machte der Vizepräsident selbst kund:
»Es liegt ein Antrag der permanenten Kommission vor, nämlich daß der Reichstag
beschließe, der Direktion der Südbahn zu befehlen, daß sie dafür zu sorgen
habe, daß kein Militär auf der Südbahn hieher geführt werde«, was auch ange¬
nommen wurde. Von anderen Bahnen war damals nicht die Rede. Vgl. auch oben
das Kommissionsprotokoll.
4 ) Im ersten Reichstagsberichte Schuselkas lesen wir aber unter Punkt 9: »Ein
Nationalgardeoffizier wurde, mit einer Vollmacht versehen, an die Kämpfen¬
den bei dem kaiserlichen Zeughause abgesendet, um dem Feuern Einhalt zu tun«.
Violand schildert allerdings (ibidem) etwas weiter seine vergebliche Intervention,
aber von einer offiziellen Sendung desselben und Füsters wird im Protokolle
des Reichtages keine Erwähnung getan.
») Gemeint ist hier wohl der ungarische Ministerpräsident Graf Ludwig
B&tthyänyi.
•) Dem gegenüber muß erinnert werden, daß Klaudy in der Nachtsitzung vom
6. Oktober »aus Anlaß der noch immer fortdauernden Feindseligkeiten beim k. k. Zeug¬
hanse« folgenden Aufruf der Kommission zur Verlesung brachte: Der Reichstag
fordert denjenigen Teil der Wiener Bevölkerung, welcher die Schottenbastei um¬
stellt hat und von dort auf das Zeughaus feuert, auf, weiteres Blutver¬
gießen und Unglück zu verhindern, um dem Volke durch die Herstellung
Mitteilungen XXXVI. 9
130
Hugo Traub.
Voruntersuchung angeführt werden, daß derselbe am 7. Oktober
Morgens am Stephansplatze mit einem Studenten im Wortwechsel gesehen
worden ist, wo der Student zornig zu ihm äußerte: »Was wollen Sie denn
noch? Wir haben ja ohnehin zweimal angezündet!*).
Laut Nr. 24 und 26 werden Staffetten von Jellaöid an den
Kriegsminister am Stubentore abgenommen 1 ), im Ausschüsse deren Er¬
öffnung dem Minister Hornbostel vorgelesen 2 ), auch mehrere offiziöse
Briefe werden erbrochen und wird dabei die höchst sonderbare Be¬
merkung gemacht: »ohne Resultat*.
Laut 25 wird über ein Ersuchen einer Deputation von Garden der
Antrag an den Reichstag gestellt, eine Aufforderung an die das
Zeughaus beschießenden Garden und Volkshaufen zu er¬
lassen, die Feindseligkeiten einzustellen 8 ).
Stobnicki und Endlich sollten nach Nr. 27 und 29 mit einer
weißen Fahne das Feuern einstellen; sie berichten, daß sie mit Schüssen
empfangen worden seien 4 ), und Füster (der nach den Erhebungen auf
der Bastei den 6. Oktober abends diesen Tag als den glorreichsten an¬
pries) 5 ) macht laut Nr. 30 die Meldung, das Feuern sei eingestellt 6 ).
Am 7. Oktober. Laut Nr. 28 will der Ausschuß, daß Auersperg
den Befehlen des Reichstages, kontrasigniert von einem Minister, nach-
koinme 7 ), und nach Nr. 36 wird an ihn geschrieben, einen Offizier mit
einem Trompeter zum Zeughause zu senden, damit die Besatzung das
Feuern einstelle. Graf Auersperg ermächtigt dieselbe, das Zeughaus einer
Deputation des Reichstages zu übergeben, die sich nach Nr. 37 d ahin be¬
gibt 8 ). (Wie nun der Reichstag dasselbe geschützt hat, ist notorisch, alles
der Ruhe und gesetzlichen Ordnung die Freiheit zu sichern, und versieht sich, daß
dieser letzten Aufforderung sogleich Folge gegeben werde.
l ) Es handelt sich wohl um das oben schon angeführte Packet, welches an
den Kriegsminister adressiert war; dasselbe enthielt sechs Briefe, darunter einen
von JellaÖic.
*) Es ist bekannt und Smets (Das Jahr 1848, H. 581) erzählt es auch, daß
die Minister Hornbostel und Krauss häutig zu den Ausschußsitzungen geladen
wurden, wie auch beide immer auf die Übereinstimmung mit der Permanenz
Gewicht legten. (Vgl. auch weiter oben).
•) Vgl. diesbezüglich oben.
4 ) Das kann sich allem Anscheine nach auf die Mitteilung bei Smets (Das
Jahr 1848, H. 672) beziehen, womach auf Antrag Zimmers eine Deputation vom
Reichstage mit einer weißen Fahne entsendet wurde, um den Bürgerkrieg zu ver¬
hindern.
*) Vgl. dazu »Ergebnisse der vom k. k. Militärgerichte geführten Unter¬
suchung wider die Mörder des Grafen Latour«, S. 155.
«) Hievon geschah aber im Reichstage mit keinem Worte Erwähnung, soweit
wir eben aus dem fehlerhaften Protokolle schließen können.
7 ) Klaudy meldete in der Nachtsitzung vom 6. auf den 7. Oktober im Namen
der Permanenz: »Aus Anlaß der Meldungen, die der Kommission zugekommen
sind wegen Zurückziehung des Militärs gegen den Schwarzenberggarten, hat sich
die Kommission bewogen gefunden, eine Zuschrift zu erlassen an den komman¬
dierenden General, welche zu kontrasignieren sich der Handelsminister erboten hat«.
8 ) Darauf bezieht sich der »sehr dringende« Antrag der Kommission an den
Reichstag vom 7. Oktober früh: »Der Reichstag gibt hiemit den ausdrücklichen
Befehl, daß die Lokalitäten des* Zeughauses jetzt gänzlich zu schließen sind und
niemand als die zur Schätzung des Staatseigentums aufgestellte Nationalgarde
darin zu verbleiben habe«.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
131
Folgende spricht dafür, daß die Partei des Umsturzes es nicht schützen
wollte 1 ); die Ausflucht, es nicht gekonnt zu haben, widerspricht den Pla¬
katen und Adressen an den Kaiser, daß keine Anarchie herrsche). Wie
sehr der Ausschuß mit den Radikalen vertraut sein mußte, ist aus Nr. 63
zu entnehmen, womach am 7. Oktober Nachmittags schon ein gedrucktes
Blatt des »Radikalen* 8 ) das enthielt, was Vormittags im Lesezimmer ausge¬
macht wurde (jenes vom Minister Krauß nicht kontrasignierte Manifest
des Kaisers über seine Entfernung) 8 ).
Nr. 70 werden vier Mitglieder des Ausschusses an das Studentenko¬
mitee wegen Unterordnung desselben unter den Ausschuß gesendet Die
Namen Füster, Kudlich, Violand und Lasser lassen entnehmen, daß
es sich um keine Unterordnung, sondern um ein einverstfindliches Bündnis
handelte. (Daß dem wirklich so war, weisen der aus dem Protokolle zu er¬
sehende Verkehr mit diesem Komitee und die Geständnisse des Dr. Frankl 4 )
aus, nach welchen vom Ausschüsse aufreizende Plakate zum
Komitee im Entwürfe gebracht wurden, damit sie als von dort
und nicht vom Ausschüsse ausgehend kundgem&cht werden) 6 ).
Nr. 73 verlangt das Studentenkomitee vom Ausschüsse
einen Kommandanten für jene Grenadiere, die sich dem Volke ange¬
schlossen, und fragt Nr. 75 an, ob das Militär, in die Kasernen zurückge¬
zogen, zur Verfügung des Reichstages stehe.
Nr. 81 wird dem Präses des Studentenkomiteefs] über eine von letz¬
terem überbrachte Depesche der Stadt Ödenburg um Übersendung von
Artillerie die Antwort erteilt (weislich nicht angegeben, welche) 6 ).
Nr. 82. Schon am 8. Oktober erkundigt sich Scherzer beim Feldzeug¬
amt nach dem Vorräte von Patronen und wünscht eine andere Ober¬
leitung des Verteidigungssystems. Laut Nr. 64 hat am 7ten die
akademische Legion selbst angezeigt, daß sie ihre Steingewehre gegen
*) Im Manuskripte unterstrichen.
*-) Die Becher’sche Zeitschrift »Der Radikale« war der eigentliche Repräsentant
jenes Zeitungswese ns, in welchem »die fieberhafte Blutwelle der abwärtsgehenden
Revolution am ungestümsten pulsierte« (E. V. Zenker, Geschichte der Journalistik
in Österreich, 42). Doch darf man nicht außeracht lassen, daß alle Wiener Zeitungen
mehr oder minder »in den Ton der Aufständischen 4 (Heitert, Aufzeichnungen,
104) einge^timmt haben, darunter selbst die »Wiener Zeitung«.
*) Vgl. das kais. Manifest und die am 7. Oktober im Reichstage abgegebene
Ministerialerklärung (Verhandlungen, III. S. 16).
4 ) Der Dichter Dr. L. A. Frankl, der mit Fischhof und Goldmark eng befreundet
im Jahre 1848 in Wien eine politische Rolle spielte und Mitarbeiter von Bechere
»Radikalen« war, wurde 1849 in Untersuchung gezogen und verhört. Darauf
bezieht sich diese und noch folgende Stellen. Nicht zu verwechseln mit Wilhelm
Frankel, Dr. med. aus Breslau, welcher in betreff Blums und Fröbels als Zeuge
vernommen wurde (Jul. Fröbel, Ein Lebenslauf, L 246).
*) Vgl. den Polizeibericht an die Zentraluntersuchungskommission, abgedruckt
bei Charmatz, Ad. Fischhof, S. 116.
•) Th. Pulszky (Aus dem Tagebuche einer ung. Dame, II. 22) erzählt, daß in
Ödenburg, wohin sie auf der Flucht mit ihrem Manne von Wien am 7. Oktober
gekommen waren, »alles jubelte, denn jedermann hoffte, mit dem Sturze des Mi¬
nisteriums sei auch die Macht der Kamarilla gebrochen und eine aufrichtige Re¬
gierung würde folgen«. Die Nationalgarden im Ödenburger Komitate schickten
sich sogar an, einem Teil der Jellacic’schen Truppen, die unter General Theodorovid
der Grenze zueilten, entgegenzutreten, doch war es den Kroaten gelungen zu ent¬
kommen (ibidem, 89).
132
Hugo Traub.
Perku8sionsgewehre ausgetauscht, und erst am 8. wird laut Nr. 9£
der Befehl gegeben, das Wegtragen und Austauschen der Gewehre aus dem.
Zeughause einzustellen.
Nr. 105 fragt Dr. Kar sch 1 ) an, ob er dem Verlangen von den etwa
2500 bewaffneten Arbeitern, als Korps organisiert zu werden,
genügen solle. (Was darüber verfügt worden, ist nicht ersichtlich, man hat
aber die Arbeiter Waffen aus dem Zeughause nehmen lassen, und, wie be¬
kannt, wurde wirklich ein Mobilkorps errichtet) 2 ).
Nr. 108 verlangt das Studentenkomitee Geld und Pferde.
Nr. 109 zeigt dasselbe an, daß in Breitensee Milit&r stehe und
einzelne verlassen umherirren. Darüber trug der Ausschuß, statt es an
Auersperg zu weisen, dem Oberkommando au£ dasselbe in den leeren Ka¬
sernen unterzubringen.
Nr. 115 berichtet Kud 1 ich über die Beschwichtigung der Gänsern-
dorfer Bauern am Nordbahnhofe. (Wenn man weiß, daß dieser Depu¬
tierte vor und nach dem 6. Oktober das Landvolk aufzuhetzen eigens
herumreiste, so kann man sich einen Begriff von der Art der Beschwich¬
tigung machen).
Aus Nr. 122, 128 und 131 ersieht man, wie das Studentenkomitee
und selbst der Ausschuß auf Löhners Antrag zu erwirken bemüht war,
daß sich Auersperg dem Beichstag unterstelle und die Truppen
in Kasernen verlege; ja noch mehr, Fischhof will sogar nach 139, daß
das Ministerium demselben es geradezu befehle.
Am 9 . Oktober . Nach 130 besprach man sich bereits im Ausschüsse
über Antrag Löhners wegen Neutralität liegen Jellaöic und die
Ungarn und über die Eventualität beim Erscheinen des ersteren auf
österreichischem Boden (ein Beschluß ist weislich nicht ersichtlich gemacht) ®).
Nr. 134 wird dem Ausschüsse angezeigt, das Jellacid mit 34.000
Mann bei Bruck an der Leitha stehe; und doch erschien am 10. Oktober
vom Reichstage selbst das famose Plakat, womach dem Ausschüsse ge¬
meldet worden sein sollte, daß der Ban mit 2000 schlechten, ermüdeten
Truppen in Schwadorf angekommen sei 4 ).
J ) Über Dr. Karsch vermag ich nichts Näheres zu sagen.
*) Sowie das Zeughaus am 7. Oktober gegen 7 Uhr morgens vom Militär
verlassen worden worden war, stürzte das Volk hinein und »gieriger als hungrige
Raubtiere über eine tote Beute, schoß es auf sie (die Watten) los, um die Wette
greifend, reißend und ringend, und im Nu waren 30.000 brauchbare Gewehre in
seinen Händen« (Smets, Das Jahr 1848, H. 5861, wobei die schwache Besatzung
von Garde und Legion natürlich nicht imstande war, die Waffenplünderung zu
verhüten.
*) Schon am 8. Oktober erstattete Prato im Namen des Ausschusses Bericht
bezüglich der Bitte der Stadt Preßburg »um Vermittlung zur Schonung der Stadt«
beim Einrücken des Jellatfic’ßchen Heeres, wobei er erklärte, »es wurde im Ausschüsse
die Meinung kund, daß wir eigentlich in Ungarn nichts zu tun haben
.. . und daß Ban Jellartid auf keinen Fall unter dem hiesigen Ministerium oder
unter dem Reichstage steht«. Deshalb glaube die Permanenz, man könne weiter
nichts tun, als dem Banus die Resolution des Kaisers vom 6. Oktober mitzuteilen.
(Vgl. auch weiter unten).
4 ) Schuselka berichtete der Kammer am 9. Oktober: Die Zahl des Heeres
[unter Führung Jella&c’s] wurde dem Gerüchte nach auf etwa 30.000 Mann
angegeben (Verhandlungen, UI. 55). Prato schätzte die Truppe in Schwadorf auf
1000 Mann (Verhandlungen, III. 59), in der Proklamation des Reichstages »An
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
133
Nr. 140 und 141 ermächtigt der Ausschuß, jene Garden und Stu¬
denten, denen vom Militär die Gewehre abgenommen wurden, andere
150 Stück hier zu erhalten 1 ).
Nr. 149 werden Garden zu Erlaa 50 Gewehre, und Nr. 156 das
Ansuchen des Nationalgerdeoberkommandos, Munition und Zünder
vom Zeugamt nehmen zu dürfen, bewilligt 8 ).
Was es mit der sub 154 vorkommenden Stelle: »Zwei Studenten
ersuchen wegen einer Privaterklärung Löhners über die
Aufnahme Jellaciö’s in Österreich am eine Gegenerklärung* 8 ),
für eine Bewandtnis hatte, ist nicht ersichtlich, verrät aber eine genaue
Verbindung des Ausschusses mit den Studenten.
Noch am 9. Oktober heißt es auf einmal sub 161: beschlossen,
den Oberkommandanten aufzufordern, die Stadt Wien in
förmlichen Verteidigungszustand zu setzen 4 ) und hievon
den Gemeinderat zu verständigen 6 ). Man ersieht durchaus keine
die Bewohner Wiens« vom 9. Oktober heißt es dagegen; »Sicherer und offizieller
[im Original gesperrt] Nachricht zufolge, die der Reichst&gsausschuß gestern abends
erhalten hat, ist Baron Jellaöid mit beiläufig 2000 Mann gemischter Truppen,
welche ganz ermattet und nicht im besten Zustande waren, in Schwadorf ange-
kommen . . . Der Ausschuß desselben [des Reichstages] hat im Einverständnisse
mit dem Ministerium das Oberkommando der Nationalgarde beauftragt, alle Mittel
zur Verteidigung bei etwaigem Angriffe in Bereitschaft zu halten«. In Wien lief
am 9. Oktober so^ar die Kunde um, Jellaöid sei in Bruck an der Leitha mit
60.000 Mann (!) eingerückt und habe den Entschluß ausgesprochen, mit ihnen
am nächsten Tage gegen Wien zu ziehen. (Vgl. auch Widmann, Fr. Smolkn, I. 97).
*) Am 9. Oktober erklärte Schuselka im Reichstage offen: »Wir haben dafür
gesorgt, daß hinlängliche Munition verteilt werde, wir haben auch Sorge getragen,
daß noch Feuerwaffen verteilt würden, denn wir befinden uns in einem Zustande,
wo es ein unverantwortliches Versäumnis wäre, sich einer Sorglosigkeit hinzugeben,
durch welche nicht nur allein die öffentliche Sicherheit und Ordnung dieser Stadt,
sondern wirklich, weil diese Stadt das Herz der Monarchie ist, das Lebensprinzip
der ganzen Monarchie und wesentlich auch die Interessen der Dynastie gefährdet
werden könnten«.
*) Im Manuskripte unterstrichen. Vgl. weiter unten.
*) Es ist bekannt, daß Braun, sowie ihm am 11. Oktober der Auftrag ward,
die Stadt in Verteidigungszustand zu setzen — es geschah aller Wahrscheinlichkeit
nach aus Besorgnis vor dem Herannahen des Banns — von dem kaum übernom¬
menen Posten, für den er sich nicht gewachsen fühlte, zurücktrat. Tatsache ist,
daß der VerteidigungsaußschuÜ des Studentenkomitees mit Fenneberg an der Spitze
vorgesohlagen hatte, entweder das Lager Auersperg zu umzingeln und durch Minen¬
gänge zu unterwühlec, oder vom Wienerberge aus anzugreiten, doch der Reichs¬
tag Bausschuß verwarf jede Offenaive und somit unterblieb auch der An¬
griff, der, kaum von Erfolg begleitet, dem Oktoberkampfe ohne Zweifel eine ganz
andere Wendung gegeben hätte. Vgl. dazu auch die Erklärung Schuselkas im
im Parlamente vom 10. Oktober.
*) Im Manuskripte unterstrichen.
*) Wir lesen diesbezüglich über den Anlaß und den Entschluß bei Smets
(Das Jahr 1848, H. 594): Die Bevölkerung erhob Klage über die Schlaffheit und
uen Unverstand des Reichstages und forderte ungestüm die Austeilung von neuen
Waffen, einen Angriff* und die Aufbietung des Landsturms Der Reichstags¬
ausschuß sah ein, daß er, wenn nicht alles aus Rand und Band
gehen sollte, solchem Drängen mindestens teilweise nachgeben
müsse, und er gab sonach dem Gemeinderate, der seiner Aufforderung gemäß
[vgl. Verhandlungen, III. S. 10] am 8. zusammengetreten war, die Vollmacht, die
Reichstagssiegel am Zeughaus zu brechen, alle hierin noch vorhandenen Waffen an
die waffenfähigen Männer zu verteilen und die Verteidigungszustände Wiens unter
seine spezielle und alleinige Obhut zu nehmen.
134
Hugo Traub.
andere Veranlassung zu diesem Beschlüsse, wenn es nicht das sub Nr. 1 G 3
protokollierte Begehren Tausenau’s im Namen des Zentralkomitees der De¬
mokraten ist, nach welchem eine Proklamation des Inhaltes erlassen werden
soll: die Stadt sei in Verteidigungszustand zu setzen, und Jellatic, wenn
er gegen Wien vorrücke, als Vaterlandsverräter zu erklären. Der Ge¬
meinderat hat sich sogar sub Nr. 116 angefragt, was denn die Veran¬
lassung zu diesem Beschlüsse gegeben; eine Antwort ist aber nicht er¬
sichtlich, es ist bloß angemerkt: »die Erklärungen zu geben* 1 ).
Über diesen Beschluß wird sohin gleich Nr. 164 das Ministerium
angegangen, 200.000 Patronen und Zünder an das Oberkom¬
mando zu erfolgen; nach 165 werden der akademischen Legion aus
dem Zeughause 150, nach 167 abermals 200 Gewehre bewilligt, und nach
166 derselben auf Dienstzwecke 100 fl. angewiesen. Auf die Relation des
Abgeordneten Prato 2 ) Nr. 7 70, daß Jellacic erklärt habe, im Interesse
der Gesamtmonarchie zu handeln und sich daher zur Verfügung des Kaisers
zu stellen, folgt unmittelbar der Beschluß Nr. 171, durch das Ober¬
kommando der Nationalgarde in Mähren 8 ) telegraphieren,
zu lassen, nach Wien zu kommen.
Auf die Eingabe des Gemeinderates Nr. 174 wegen Vorkehrungen gegen
die Verschleppung der Waffen aus dem Zeughause resolviert der
Ausschuß vom 9. Oktober, daß man bei dem Drange der Verhältnisse hierauf
nicht näher eingehen könne, die Vorschläge in dieser Hinsicht gewärtigT
werden, und die bistorisch wertvollen Waffen ohnehin gerettet seien 4 ). (Daraus
scheint zu folgen, daß die übrigen schon genommen werden dürften) 5 ).
*) Schuselka berichtete am 9. Oktober in der Abendsitzung von der Sendung
Pratos an Jellaßid, den er in Schwadorf angetroffen hatte, am 12. Oktober maclit-e
Schuselka die Mitteilung, daß Zbyszewski, der vom permanenten Ausschüsse a n das
Hoflager mit der Antwort des Banus abgeschickt worden war, unverrichteter
Dinge zurückgekehrt sei
*) Der Reichst lg hatte nach Erhalt der Nachricht, Jella£iö habe den Öster¬
reichischen Boden betreten, einen Eilboten dem Kaiser nachgeschickt mit der
Bitte, dem Banus im Vorrücken Einhalt zu gebieten, und der Süd tiroler Prato
begab sich freiwillig in das Kroatenlager, um Jellaftid im Namen des Ministers das
kaiserliche Handschreiben vom 6. Oktober entgegenzuhnlten, laut dessen der Mo¬
narch mit einem neuzubildenden Ministerium die zum Wohle der Gesamt inonarchie
notwendigen Maßregeln beraten wolle. Aber Jelladid, welcher Prato in Schwadorf" em¬
pfangen, fertigte denselben kurz dahin ab, daß »auch er keine andere Pflicht kenne*
&!s die Interessen der Gesamtmonarchie zu fördern, und daß er dieser Pflicht eben
dadurch genüge, daß er sich selbst und alle, die ihm folgten, dem Kaiser zufiühre«.
*) Tatsache ist, daß am 10. Oktober spät in der Nacht eine Abteilung der
BrÜnner Garde, ungefähr 500 Mann, telegraphisch berufen, in Wien angekommen
ist und daselbst mit Jubel empfangen wurde. Man vgl. des Näheren meine oben
zitierte Arbeit, ebenso Helfert, Geschichte Österreichs, IV. 3, S. 435, wo es aus¬
drücklich heißt, der Wiener Gemeinderat habe das Begehren der Nordbahndirektion
um Vergütung der Reisespesen der BrÜnner Nationalgarde mit dem Hinweise ab¬
gewiesen, daß nicht er, sondern die Reichstagspermanenz diese Zuzüge
veranlaßt habe.
<) Es bleibt unbestritten, daß bei der Zeughausplünderung viele historische
und deshalb unersetzliche Rüstetücke abhanden gekommen sind, welche nicht mehr
aufzufinden waren, wenn auch die wertvollsten Sachen noch durch rechtzeitige
Intervention des Reichstages in sichere Verwahrung gebracht werden konnten. Daß
geschichtlich wertvolle Waffen im Zeughause verloren gegangen sind, bestätigte
Mayer in seiner Aussprache in der mähr. Landtagsstube am 9. Oktober 1848.
*) Vgl. oben, wieviel Gewehre vom Volke entwendet wurden. Der Reichstag
hat wohl sofort eine Kommission nach dem Zeughanse entsendet, um ein Inventar
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
135
Nr. 184 legt Scherper l ) das Oberkommando nieder 2 ) und 191
berichtet Be an 8 ) über die Defensionsanstalten, außerdem zeigen unzählige
Exhibita, daß alle Berichte über Defensionsstellung durch Militärs, Truppenzu¬
züge etc. etc. durchaus an den Ausschuß gerichtet wurden, wie Nr. 194
bis 204 u. 8. w. Sollte jemand, dieser Daten ungeachtet, noch zweifeln,
daß es die Reichstagspermanenz gewesen ist, welche den Widerstand
gegen die kaiserliche, noch immer zu Recht bestehende Ge¬
walt und den Aufruhr fortsetzte und leitete, so wird er durch
weitere Daten davon zur Gewißheit kommen 4 ).
Am 10. Oktober . Nr. 205 berät die Permanenz über ein Plakat des
Demokratenvereines zur Aufbietung des Landsturms 5 ) und be¬
schließt, den Gemeinderat zu der Erklärung zu ermächtigen, daß nur er
und das Nationalgardeoberkommando mit der Exekutive der Vertei¬
digung beauftragt sei 6 ), und erteilt ihm nach 209 die Vollmacht,
die brauchbaren Waffen sowie Munition mit Brechung des Reichs¬
tag ssiegels aus dem Zeughause zu nehmen 7 ).
In Nr. 213 fragt der Gemeindeausschuß sich über die Herbei-
rufung der Bauern an (wird mit der Erklärung erledigt, daß dem
Gemeindeausschusse und dem Nationalgardeoberkommando die Verteidigungs¬
maßregeln überlassen seien). Unter diesem Nro. liegt ein Konzept bei den
Akten, nach welchem der Gemeinderct einen Aufruf, der von einem Vereine
ausging, um den Landsturm herbeizurufen, zu veröffentlichen ermächtigt
werde, und daß die Gesamtmaßregeln der Verteidigung von
demselben im Einvernehmen mit dem NationalgardeOber¬
kommando unter Oberleitung des ReichstagsausschuBSes
und des Ministeriums einzuleiten seien. Uber diesem Konzept ist
mit Rotstift bemerkt: »Verworfenes Konzept*.
Statt desselben erschien nun die Kundmachung des Gemeinde¬
rates, worin der wirkliche Erlaß des Ausschusses, gefertigt von Fischhof
und Lasser, vom 10. Oktober bekannt gegeben wird. Er lautet: »Das
aufzunehmen und der Waffen Verschleppung zu steuern, aber es gelang erst gegen
Mittag am 7. Oktober, und zwar mittelst erlangten Gardeznzuges, das Gebäude
▼on den unablässig nach Waffen herbeiströmenden Scharen zu säubern und die
Waffensäle mit dem Reichstagssiegel zu schließen. Daß dieselben bald darauf mit
Zustimmung des Reichstages und dessen Permanenz beseitigt wurden, siehe weiter
oben.
*) Soll wohl Scherzer heißen.
») Schon am 8. Oktober hatte Scherzer einen Stellvertreter und Tags darauf
eben Nachfolger im Oberkommando erhalten; es war Braun.
*) Einen Mann dieses Namens konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Soll
es nicht etwa Braun oder Beine (vgl. unten) heißen? Bern, der bekannte Polen-
general, welcher die Seele der Wiener Verteidigung gewesen, kann nicht gemeint
sein, denn wir finden ihn in Wien erst am 14. Oktober.
«j Unter dem 9. Oktober vermissen wir jedwede Angabe über die Verhandlung
mit den Prager Abgesandten (vgl. dazu Helferts Aufzeichnungen, 19), was wohl
deshalb geschehen sein mag, weil es mit den Verteidigungsmaßregeln bloß indirekt
zusammenhängt.
*) Am 17. Oktober erklärte Schuselka, daß »die Aufrufung des Landsturmes
im permanenten Ausschüsse schon oft angeregt und beraten worden sei«.
«) Im Manuskripte unterstrichen. Vgl. Schuselkas Bericht vom 10. Oktober
(Verhandlungen, UI. 74).
7 ) Vgl. diesbezüglich weiter oben.
136
Hugo Traub.
Ministerium im Einverständnisse mit dem permanenten Ausschüsse hat nur
allein den Gemeinderat ermächtigt und beauftragt, im steten Zusammen¬
wirken mit dem Gardeoberkommando alle zur Verteidigung der Stadt und
zur Erhaltung der Ordnung und Sicherheit erforderlichen Maßregeln aus-
Zufuhren* x ). Die schmachvolle Perfidie dieses Erlasses zeigen die weiteren
Ereignisse.
Nach 221 erbietet sich ein sicherer Jägermayer l 2 ), aus der Gegend
von Baden und Pöllersdorf die Garden zur Verteidigung nach Wien zu
bringen. Der Ausschuß wies ihn höchst weislich an das Oberkommando, und
ebenso auch das Studentenkomitee mit seinem Begehren Nr. 220 um einen
Extratrain für die Dürnkruter Bauern, allein laut Nr. 232 läßt er
selbst nach Brünn um eine neue Gardensendung telegraphieren 3 ).
Daß der Ausschuß sich auch der Ungarn annahm, zeigt Nr. 242, worin der
Stadthauptmannschaft aufgetragen wird, zwei Pässe für Perczel und Bu-
dinski zur Rückreise nach Ödenburg zu vidieren 4 ).
Am 11. Oktober . Nr. 345 berichtet der Gardehauptmann Zay über
seine Erfahrungen bei der ungarischen Armee und jener des Jelh cic. Am
Rande ist bemerkt: »Soll in einer Stunde den Geleitschein abgeben*. (Er
scheint also Spion des Ausschusses gewesen zu sein).
Nr. 247 wird dem Oberkommando befohlen, sich einen tüchtigen
Generalstab zu bilden und öffentlich bekannt zu geben 5 ).
Nr. 248 trägt sich Ritter von Sternau an der Spitze einer Deputation
von Wiedener Garden an, ein festes Korps zu organisieren 6 ).
(Welcher Beschluß darüber gefaßt wurde, ist zwar nicht ersichtlich; die
l ) Vgl. auch weiter oben.
*) Es wird wohl das Mitglied des Wiener Sicherheitsausschusses, Samuel
Jägennayer, Leinwäschhändler am Graben, damit gemeint sein. Vgl. über ihn
bei Smets, Das Jahr 1848, II. 404.
«) Daß am 10. Oktober in der Tat nach Brünn telegraphiert wurde, ist wohl
außer Zweifel, sowie es Tatsache ist, daß die Brünner Garde nach etlichen Tagen
ausgewechselt werden sollte (vgl. Brünner Zeitung, 1848, Nr. 287), was auch
wirklich geschah. Vor dem 10. Oktober ist aber von einer Intervention in Brünn
nichts bekannt.
*) Unter Nr. 81 vom 7. Oktober vernehmen wir von einer Depesche aus
Ödenburg um Artillerie. Sollten vielleicht die Genannten die Überbringer der Bot¬
schaft gt wesen sein?
*) Das Hauptquartier bestand aus folgenden Vorständen, welche von Messen¬
hauser eigenmächtig erwählt, erst am 14. Oktober bekanntgegeben wurden:
Fr. Schaumburg, F. J. Thurn, J. M. Aigner, Moritz Schneider, Daniel Fenner v.
Fenneberg, Ernst Haug (Chef des Generalstabes), Ed. Jelowicki (Artilleriedirektor),
Em. Baron du Beine. Schuselka gab diesbezüglich schon am 11. Oktober im Reichstage
die Erklärung ab: »Um die Verteidigungsanstalten, die unter den immer schwieriger
und dringender werdenden Verhältnissen immer notwendiger sind, größtmöglichste
Einheit und Kraft zu geben, hat sich Ihre Kommission heute morgens veranlaßt
gefunden, dem prov. Oberkommando der Nationalgarde den Auftrag zu er¬
teilen, sich sofort einen kriegskundigen Generalstab zuznge-
seilen und die Personen desselben öffentlich bekannt zu geben«.
6 ) Es ist derselbe Eduard Presslern Edler von Sternau, welcher am 11. No¬
vember wegen Teilnahme am bewaffneten Aufstande standrechtlich zum Tode ver¬
urteilt worden ist, und dieses Urteil wurde auch am selben Tage mit Pulver und
Blei vollzogen.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848. 137
wirklich geschehene Errichtung des Mobilkorps 1 ) läßt ihn aber ver¬
muten).
Nr. 251 wird die Nationalgarde von Steiermark durch den
Telegraphen aufgefordert, nach Wien zu kommen 2 ).
Nr. 257 begehren Häfner 8 ) und Gritzner 4 ) Veranstaltung und
Maßregeln zur Einberufung des Landsturmes. Dabei ist bemerkt: »Die
Antwort mündlich erteilt* 5 ). (Ei, ei, wie vorsichtig). Einen Beweis
der Perfidie des Ausschusses liefert die merkwürdige Erklärung Nr. 249,
die auch als Plakat im Drucke erschien, »daß der Reichstag den Ungarn
nicht 6 ) verboten habe, die Grenze zu überschreiten* 7 ).
Vermöge Nr. 258 erschien eine zahlreiche Deputation des Gemeinde¬
rates und verlangte eine schriftliche Ermächtigung, die äußersten Ma߬
regeln zu ergreifen, insbesondere wegen Herbeirufung der Ungarn;
der Gemeinderat will Ermächtigung, die Exekutivgewalt an sich zu nehmen,
oder eine abschlägige Antwort 8 ). Ob und was für eine er erhalten, ist
dabei nicht ersichtlich 9 ), allein aus einem von ihm erlassenen Plakate er¬
fährt man, daß der Obmann Fischhof folgende Antwort erteilt habe (de dato
11. Oktober): »Da das Ministerium im Vereine mit dem Reichstagsaus-
schusse über eine soeben vom Grafen Auersperg 10 ) eingelangte Depesche, die
i) Die Mobilgarde bestand aus ärmeren Handwerkern, Taglöhnern und Ar¬
beitern, aber auch aus verkommenen Individuen, und zählte im Ganzen 4 Bataillons.
*) Ist. auch wirklich geschehen.
•) Leopold Häfner, der Gründer und Hauptredakteur der »Konstitution«,
einer, der nach Smets »das rote Banner am Kecklichsten geschwungen«, hat schon
am 10. Oktober von Wien Reißaus genommen (vgl. Smets, Das Jahr 1848, II. 599).
hmets berichtet es nach einer ihm gemachten Mitteilung »eines noch lebenden, aber
ungenannt bleiben wollenden Schriftstellers«.
4 ) Gemeint ist wohl Max Josef Gntzner, der damals schon zweiundsechzig-
jährige k. k. Hofsekretär, welcher dem mobilen Freiwilligenbataillon als Oberster
Vorstand. Als Gritzner später in seiner Eigenschaft als Deputierter in der Frankfurter
Nationalversammlung ‘weilte, erhielt er vom Grafen Wilczek, dem Präsidenten des
Generalrechnungsdirektoriums, am 27. Januar 1849 eine Zuschrift, laut welcher er
wegen »Teilnahme an den letzten Oktoberereignissen« und der in Folge dessen
gegen ihn eingeleiteten Kriminaluntersuchung vom Amt und Gehalte suspendiert
und ihm auch letzterer vom 1. Februar an eingestellt wurde. (Vgl. Wcrner’sche
Interpellation in der 169. Sitzung der Nationalversammlung zu Frankfurt vom
9. Februar 1849).
*) Im Manuskripte unterstrichen.
«) Im Manuskripte zweimal unterstrichen.
7) ln der von öchuselka in der Kammer vom 14. Oktober vorgelesenen an
den Banus abzuschickenden Antwort heißt es: »Der Reichstag hat die Ungarn nicht
ins Land gerufen und kann sie ebensowenig hinausdekretieren« . . (Verhandlungen,
Iü. 149).
■) Der Gemeinderat wagte sjlbst auch nichts zu unternehmen, sondern über¬
mittelte das Schriftstück dem Permanenzausschusse mit der Angabe, daß »nur der
Reichstag die Macht habe, eiren Schritt zu unternehmen, der über das Bereich
der bloßen Stadtverteidigung hinpusgehe« (vgl. Smets, Das Jahr 1848, II. 645).
») Woher hat Smets (lbide^i) die Nachricht geschöpft, daß der Ausschuß die
Sache gemütlich liegen ließ, wei er »keine Zeit zur Erörterung derselben habe«?
*°) Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Auersperg, obwohl als Militär
unfähig, sich als Diplomat dem Reichstage und dessen Permanenz weit überlegen er¬
wies; er wußte nämlich dieselben durch ausweichende Antworten solange zwischen
Hoffen und Bangen hintanzuhalten, bis vom Fürsten Windischgrätz, an den er schon in
der Nacht des 7. Oktobers einen Kurier nach Prag abgesandt hatte, die Kunde auf nahe
Hilfe mit dem Beilügen angelangt war, einstweilen die »beobachtende« Stellung der
138
Hugo Traub.
Stellung Jellacic’s betreffend, in Beratung sich befindet, so wird der Ge¬
meinderat höflichst ersucht, wegen Beantwortung seiner Wünsche sich bis
zum Schlüsse der Beratung zu gedulden*. Eine fernere Antwort ist weder
öffentlich bekannt worden, noch ist 3ie aus den Akten ersichtlich.
Aus der schriftlichen Eingabe des Gemeinderates Nr. 354 ersieht man
im Eingänge, daß der Beichstagsausschuß mit Erlaß vom 16. Oktober dem¬
selben die Weisung gab, dem Nationalgardeoberkommando jede
zu seiner Disposition nötige Summe zur Verfügung zu stellen
(hievon kommt aber im Permanenzprotokolle nichts vor).
In dieser Eingabe macht der Gemeinderat unter Aufzählung alles dessen,
was der Reichstag zur Verteidigung angeordnet hat, energische Vorstellungen
rücksichtlich des Kostenpunktes, den er sich nicht auf halsen lassen will l ).
(Es ist aber auch hierüber keine Antwort ersichtlich).
In der weiteren Eingabe Nr. 356, worin der Gemeinderat sehr
ernst sein Bedenken über die getroffenen Verfügungen 'des
Oberkommando(s] ausspricht, weil diese Maßregeln die Streitkräfte der Kom¬
mune zur offenen Feldschlacht fortreißen 2 ) und Wien in den Kriegszustand
versetzen könnten, verlangt er, der hohe Reichstag solle aussprechen, daß
alle die Verteidigungsmaßregeln überschreitenden Vorkehrungen, insbesondere
ein Angriff auf irgendwelche Truppenkörper, sowie auch die Teilnahme an
irgend einem selbst unter den Mauern der Stadt stattfindenden Kampfe
nur mit ausdrücklicher Genehmigung und auf Befehl des
hohen Reichstages eingegangen werden können 8 ). Hierüber
Garnison nicht aufzugeben. Und erst nach getroffener Übereinkunft mit Jelladid
räumte Auersperg am 12. Oktober nachmittags seine bisher eingenommene Stellung
und schlug sein Hauptquartier zu Inzersdorf auf; es war beschlossen worden, Wien
vom Süden und Westen im Halbkreise zu umspannen und zugleich die ungarische
Grenze im Auge zu behalten. Als der Reichstagsaussclmß den Anzug Jellaöic’s
dem Grafen Auersperg mitgeteilt und daraufhin aufgefordert hatte, seine Truppen
in ihre früheren Standorte zurückzuführen, gab der General die ausweichende
Antwort, gerade dieser Umstand zwinge ihn, seine Stellung beizubehalten, da
Jella^ic die Aufregung der Wiener vermehren und er deshalb seinen Truppen, in
Kasernen zerstreut disloziert, Angriffe zuziehen würde.
*) Daraul bezieht sich wohl die Erklärung Smolkas in der Kammer vom 13. Ok¬
tober: »Der Finanzminister trägt ein verständlich mit dem perma¬
nenten Ausschüsse darauf an, daß aus jenen zwei Millionen, welche zur
Unterstützung der armen gewerbetreibenden Klasse in Wien bestimmt wurden,
200.000 fl. an die Gemeindekasse zur Unterstützung der jetzt unter Waffen stehen¬
den mittellosen Gardisten verwendet werden können«.
*) Am 17. Oktober gab Schuselka in der Kammer in Bezug auf die vordem
eingelangte Antwort des Kaisers die Erklärung ab: »Im Interesse dieses Wirkens
gegen die drohende Anarchie halten wir es fort und fort für unerläßlich, nicht
nur keine Truppensendungen nach Wien zuzulassen, sondern vielmehr mit allem
Ernste und Kraft dahin zu wirken, daß die hier anwesenden Truppen sobald als
möglich den Rückzug antreten« (Verhandlungen, III. 189). Und in der Abend¬
sitzung desselben Tages sprach der Berichterstatter des permanenten Ausschusses
von »der Versetzung der Stadt Wien in einen kriegerischen Verteidigungs¬
zustand« (ibidem 204).
®) Eine eigentliche Antwort darauf finden wir in der Motivierung Schuselkas
einer Proklamation an die Völker vom 17. Oktober, wo es heißt: »daß wir uns
hauptsächlich rechtfertigen, warum wir als Reichstag, als konstituierender Reichstag
der gesamten Monarchie unsere Zustimmung nicht nur, sondern unsere Initia¬
tive gegeben haben zur Verteidigung Wiens, zur Versetzung der
Die Reichstaggpermanenz im Oktober 1848.
139
erfolgte wohl, was man aber nur aus der weiteren Eingabe Nr. 385 vom
20. Oktober ersieht, eine Antwort vom 27. Oktober, welche jedoch von
den gestellten Begehren ganz absah, und man fand das Konzept dieser
Antwort unter den nicht exhibierten Akten sub Nr. 75 vor. Sie zeigt
schlagend, wie der Ausschuß sich windet und abmüht, die Schuld des durch
ihn heraufbeschworenen Widerstandes und der Empörung dem äußern
Schein nach von sich abzuwälzen und dem Gemeinderate zuzu¬
schreiben. Er findet nämlich über obige Eingabe zu bemerken: »Der
Gemeinderat müsse in genauer Kenntnis der Stimmung des
Volkes sein; wenn nun die Mehrzahl in Jellacic keinen
Feind sehe, so möge sie es offen aussprechen, dem Banus
die Türe öffnen, im Gegenteile sei es aber seine Pflicht,
alle Yerteidigungsmaßregeln kräftigst einzuleiten 1 ). Daß
man sich aber mit Barrikaden inner den Linien und mit Kanonen auf den
Wällen gegen eine Armee nicht verteidigen könne, die, wie sich mit Ge¬
wißheit voraussehen läßt, die Stadt bloß zernieren und aushungem will,
sieht jeder ein, und die Errichtung eines Mobilkorps und eines Lagers sei
durchaus keine offensive, sondern nur eine defensive Maßregel, um
durch eine imposante Haltung und eine schlagfertige Mannschaft den Feind
abzuhalten und das Herbeischaffen von Lebensmitteln zu ermöglichen. Der
Reichstag hat sich an der Anordnung zur Verteidigung
Wiens darum beteiligt, weil er glaubt, daß mit Wien auch
die Freiheit gefährdet werde; er will aber die Verteidigungsma߬
regeln der Stadt nicht aufdringen. Der Ausschuß muß daher, bevor er
einen Antrag an den Reichstag stellt, den Gemeinderat auffordem, zu er¬
klären, wie er die Stellung Jellaeic’s betrachte 2 ) und welche
Maßregeln er zur Abwendung der die Stadt Wien bedrohenden Gefahr für
die zw r eckmäßigsten halte*.
Wenn man die Eingabe des Gemeinderates Nr. 35G mit diesem Konzepte
zusammenhält, so läßt sich wohl kaum eine raffiniertere schurkische Antwort
erdenken. Der Gemeinderat durchschaute diese Antwort und wiederholte am
20. Oktober laut 385 ganz einfach sein Begehren, und auf demselben wird
von außen angemerkt: »Zur Beantwortung Vorbehalten* 2 ).
Stadt Wien in einen kriegerischen Verteidigungszustu nd«. (Ver¬
handlungen, HI. 204).
») Im Manuskripte unterstrichen. Eh läßt sich nicht in Abrede stellen, daß
die Permanenz die Hilfe der Magyaren vom Herzen wünschte; sie wagte aber
nicht, diesen Wunsch im Reichstage offen auszusprechen. »Kommen die Ungarn?«
fragten sie Pulszky, der am 13. Oktober in ihrer Mitte erschienen war. »Sobald
Sie es wünschen!« war dessen Antwort. »Schreiben Sie dem ung. Verteidigungs-
ausschusse 1 , setzte er fort, »daß rie ihn um Hilfe bitten, ich selbst trage die Auf¬
forderung hinab; unsere Anführer überschreiten dann ohne Zweifel die Grenze und
sind in drei Tagen in Wien*. Doch der Reichstagsausschuß wollte nach Pulszky
nicht darauf eingehen, indem e' darauf verwies, daß der Reichstag nicht Wien
allein vertrete und die Kommiss*on selbst ihren Wirkungskreis Überschreiten würde,
wenn sie die »zweifellos provis rische ung. Regierung« anerkennen würde. (Siehe
Fr. Pulszky, Meine Zeit, mein Leben, II. 228). Deshalb erklärte die ungarische
Nationalversammlung am 14. Oktober, daß, »da die österreichische Nation sich des
Beistandes unserer Truppen nicht bedienen will«, die ungarische Armee auf die
Beschützung des eigenen Vaterlandes sich zu liescliränken habe, und Unterstaats-
aekretär Pulszky wurde vom Ministerium von Wien zurück beruf en.
*i Im Manuskript unterstrichen.
140
Hugo Traub.
Nr. 2GO fragen sich der Kreishauptmann und der Regierungschef
wegen Verpflegung der Armee des Jellacic (60.000 Portionen
Brod, 1400 Metzen Hafer etc.) an 1 ); als Erledigung ist angemerkt: »Die
Ansicht ausgesprochen, daß der Ausschuß nicht Exekutivbehörde sei, und
daß sich die politischen Behörden so zu benehmen haben, wie sonst in
Friedens- und Kriegszeiten*. (0, wunderschön!).
Daß bei dem Ausschüsse ein eigener Verteidigungsrat*)
bestanden haben müsse 8 ), zeigt sich aus Nr. 272, weil derselbe über
die Nacht vom 1], zum 12. Oktober Bericht erstattet. (Sollten denn die
Namen der Mitglieder nicht erforscht werden können?) 4 ). Dr. Frankl 5 )
bestätigt in seinem Geständnisse die Existenz desselben.
Am 12. Oktober . Laut 275 werden dem Ausschüsse die Paß An¬
gelegenheiten zu beschwerlich, daher er sie dem Gemeinderate auftrfigt.
Nr. 279 befiehlt er allen Bezirkschefs, einen neuen Oberkommandanten
zu wählen 6 ), weil Braun die Stelle niedergelegt, und nach Nr. 282 er¬
nennt er provisorisch den Messenhauser bis zur Wahl 7 ).
Nach 2S4 scheinen die Garden den Spitzhütel gewählt zu haben 8 ),
weil die Aula sich beim Ausschüsse gegen seine Wahl beschwert 9 ). Als
Erledigung ist angemerkt: »Vertrauensmänner zu wählen* 10 ).
*) Schon am 9. Oktober hatte sich in Wien die Nachricht verbreitet, Jellacic
habe in Bruck a/L. 60 000 Rationen fQr seine Truppen gefordert.
*) Es ist wohl jener fünfgliedrige militärische Beirat gemeint, von dem gleich
am Anfänge die Rede war.
Im Manuskripte unterstrichen.
4 ) Wir wissen auch, wie er zusammengesetzt war. Waren denn deren Namen
aus den Verzeichnissen nicht ersichtlich?
Ä ) Gemeint ist Dr. Ludwig August Frankl (vgl. auch weiter oben).
e ) Die Aufgeforderten nahmen auch gleich die Wahl vor. Vgl. weiter unten.
1 ) Minister Krauss erließ an Messenhauser diesbezüglich folgendes Schriftstück
(getreue Abschrift in Helferte Nachlasse): An Herrn Wilhelm (!) Messenhauser.
Nachdem Sie heute zum provisorischen Nationalgardeoberkommandanten vorgeschlagen
worden sind, so finde ich im Einverständnisse mit dem Reichstags-
auBschusse Sie zum prov. Nationalgardeoberkommandanten für Wien und
die Umgebung zu ernennen. Ich setze Sie hievon vorläufig mit der Auf¬
forderung in die Kenntnis, den mit dieser Stelle verbundenen Dienst ungesäumt
zu übernehmen. Zugleich verständige ich von dieser Ernennung das provisorische
Nationalgardeoberkommando und den Verwaltungsrat der hiesigen Nationalgarde,
sowie den Gemeinderat [vgl. diesbezüglich bei Dunder, Denkschrift 346] der Stadt
Wien und das niederöeterreichische Landesregieningspräsidium. Wien, den 12. Ok¬
tober 1848. Für den Minister des Innern: Krauss.
*) Ist auch wirklich geschehen. Vgl. dazu obeD, wo vom Widerstande der
Nationalgardenchefs die Rede ist.
®) Schon vor dem Rücktritte Brauns hatte sich im demokratischen Lager
eine starke Partei gebildet, welche für dessen Absetzung und für die Übertragung
des Oberbefehls an Messenhauser «girierte. Der Kunde von der Wahl Spitzhütls
folgten stürmische Auflaufe vor dem Stallburggebäude, dem Sitze des Oberkom¬
mandos, das Studentenkomitee stellte sich mit einem Mißtrauensvotum im Namen
der akademischen Legion ein, worauf Spitzhütl nichts anderes übrig blieb, als
»herzlich gerne« seine Stelle niederzulegen.
|0 ) Diese Anmerkung bezieht sich wohl auf die im Plenum abgegebene Erklärung
Violands, welche dahin ging: »Es wurde heute H. Spitzhütl zum Oberkommandanten
der Nationalgarde ernannt, der aber gegenwärtig seine Stelle niedergelegt hat. Es
wurde daher der Gemeinderat angegangen, anher bekannt zu geben, welche
Person eigentlich die Bevölkerung (!) auf der Stelle eines Oberkomman-
danten wünschen würde. Der Gemeinderat hat darauf sich an die Nationalgarde
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
141
Laut 290 zeigt der Nationalgardeverwaltuiigsrat an, daß derselbe über
Aufforderung des Gemeinderates zur provisorischen Besetzung des
Oberkommandanten Messenhauser in Vorschlag gebracht und zur
Wahl 6 Abgeordnete des Studentenkomitees beigezogen habe. In Dunder’s
Werke 1 ) über die Oktobererreignisse kann man im 3. Hefte pag. 325 bis
347 des Umständlichen lesen, ype Messenhauser durch die Intriguen des
Studentenkomitees und eines Teiles der Reichstagspermanenz durchgesetzt
wurde; protokolliert aber erscheint sub 290: »Über Vorschlag des Ge¬
meinderates und Verwaltungsausschusses bestätigt das Ministerium mit dem
permanenten Ausschüsse den Wilhelm 2 ) Messenhauser als provisorischen
Oberkommandanten für Wien und dessen Umgebung* 8 ).
Am 13. Oktober .« Nr. 294 beschließt der Ausschuß im Einver¬
nehmen mit dem Finanzminister 200.000 fl. zur Unterstützung
der bewaffneten Bewohner.
In Nr. 299 liegt die Originalzuschrift des ungarischen Reichstagsprä¬
sidenten Päzmandy, gefertigt von ihm, den Kommissären Samuel und
Böny, Ladislaus Csänyi und Paul Asztalos und dem Befehlshaber Jo¬
hann Moga, an die österreichische Nationalversammlung, welche auch die
Exekutive ausübt, dto. Nikolsdorf 11. Oktober 4 ), worin nach umständlicher
Darstellung der ungarischen Verhältnisse zum Schlüsse erklärt wird, der
Reichstag solle den Jellaöid entwaffnen, widrigenfalls sie ihn
überallhin verfolgen würden; auch würden die Ungarn selbst, wenn Jellacic
vernichtet sei, den Wienern auf Verlangen zu Hilfe kommen.
Darüber hat der Ausschuß mit Fischhofs Fertigung geantwortet, daß in der
Reichstagssitzung vom 12. Oktober dieses dort verlesene, soviel freund¬
schaftliche 6 ) und edle 6 ) Gesinnungen atmende Schreiben mit Akkla¬
mation und großem Jubel von der Versammlung aufge¬
nommen wurde 7 ); ja der Ausschuß hat sogar (wie zum Hohne) eine
Abschrift dieser Antwort an Seine Exzellenz den Grafen Auersperg ge-
tmd akademische Legion gewendet und beide aufgefordert, Bevollmächtigte
zu senden, um eine Person an diese Stelle gemeinschaftlich zu wählen.
Der permanente Ausschuß stellt daher da« Ansuchen, die h. Reichsversammlung
wolle ihn ermächtigen, die gewählte Person zum prov. Oberkoinmandanten er¬
nennen zu dürfen, weil dies äußerst dringend ist«. (Verhandlungen, III. 125).
*) Gemeint ist W. A. Dundera »Denkschrift über die Wiener Oktoberrevo¬
lution«. Siehe S. 343 u. tf.
*) Soll heißen Wenzel. Dem Verfasser (Scliuselka V) scheint das Emennungs-
dekret vor Augen geschwebt zu haben. Vgl. dazu oben.
») Vgl. diesbezüglich, was etwas höher gesagt worden.
«) Im Reichstagsprotokolle (Verhandlungen, III. 118) ist eine diesbezügliche
Eingabe yon Ungarn an den österr. Reichstag abgedruckt, aber sie ist von Pest
aus und vom 10. Oktober datiert, sowie mit den Unterschriften der Vizepräsidenten
beider Häuser des ung. Reichstages versehen. Davon machte Schuselka in der Abend-
sitzung vom 12. Oktober die ';ur/.e Mitteilung: »Vor dem permanenten Ausschüsse
erschien heute eine Deputation, bestehend aus zwei Mitgliedern des ungarischen
Reichstages und einem ungariß'nen Kurier und Überbrachten zur Mitteilung an
den österreichischen Reichstag e.ne Adresse«, die darauf zur Verlesung gelangte.
(VgL auch Pulszky, Meine Zeit, II. 237).
*) Im Manuskripte unterstrichen.
*) Im Manuskripte zweimal unterstrichen.
7 ) Laut Protokoll wurde die Adresse unter »rauschendem Beifall« aufgenommen
und auf Podlewskis Antrag in Druck gelegt.
142
Hugo Traub.
sendet und die aus dem ungarischen Lager abgeordneten Mühlböck,
Lusensky, Ullmann und Franz von Dessewffy 1 ) mit Qeleitscheinen
an denselben laut Nr. 300 versehen *). (Diese ungarische Zuschrift dürfte
wohl zur Untersuchung der ungarischen Eebellion von Nutzen sein) 8 ).
Am 14. Oktober. Laut 312 überreicht das Studentenkomitee
eine Adresse an den Reichstag, energisch^ Schritte gegen Jellacic zu
tun (ist nicht vorhanden) 4 ).
Nr. 319 erklären mehrere Bezirkschefs, daß die Nationalgarde
nicht geeignet sei, einem bedeutenderen Feinde entgegen*
zutreten, daß sie nicht aus der Stadt rücken und angreifen werde; sie
verlangen zu wissen, woher die Nachricht sei, daß die Ungarn anrücken 6 ).
(Eine Antwort ist nicht ersichtlich).
Nr. 320 erscheint der bekannte Radikale, Dr. Hammerschmidt 6 ),
mit dem Ansuchen, den Landsturm von Seite des Reichstags auf-
*) Fr. Dessewffy ist wohl zu unterscheiden von Emil, der mit Samuel Jösica
und Ant. Szäcsen als Vertrauensmann des Fürsten Windischgrätz an der ungarischen
Verfassung arbeitete.
*) Schuseka machte am 13. Oktober in der Abendsitzung der Kammer die
Mitteilung: »Vor einer halben Stande ist vor dem Ausschüsse eine Deputation aus
dem ungarischen Lager erschienen lediglich mit dem Ansuchen, ihr einen Geleit¬
schein zu verschaffen, damit sie frei in das Lager des Grafen Auersperg gelange
und demselben im Aufträge des Kommandierenden der ungarischen Armee eine
Depesche überreichen könne« (Verhandlungen, III. 132). Es wurde ihr der Gelei t-
schein gewährt und eine Bedeckung beigegeben.
*) Wie vorsichtig sich die Permanenz in der Beziehung benommen hat, weiß
außer Fr. Pulszky auch Th. Pulszky (Aus dem Tagebuche einer ung. Dame, II. 30)
zu erzählen. Als ihr Mann am 13. Oktober nach Wien zurückgekehrt sich zum per¬
manenten Ausschüsse begab, soll sich Folgendes abgespielt haben: »Kommen die
Ungarn? 4 »Sobald Sie es wünschen, meine Herren«, war die Antwort. Pulszky
setzte den Anwesenden auseinander, die ungarische Armee wolle, ohne vom Reichs¬
tag aufgefordert zu werden, nicht die Grenze überschreiten. Doch die Deputierten
meinten wieder, sie könnten die ungarische Armee nicht auffordern, denn — sie
könnten den legalen Rechtsboden nicht verlassen, sie seien Repräsentanten des
Kaisertums, nicht nur Wiens, die Verteidigung Wiens gehe den Gemeinderat an,
nicht den Reichstag. Pulszky antwortete: »Dann werden die Ungarn nicht kommen,
sie wollen den Rechtsboden auch nicht verlassen«. Vgl. auch bei Fr. Pulszky, Meine
Zeit, IL 228. Siehe dazu Anm. 1 S. 139.
4 ) Auf diese Eingabe hin scheint die Permanenz sich aufgerafft zu haben,
denn am selben Tage verlas im Reichstage Schuselka die vom Ausschüsse dto. 14.
an Jella^id abzuschickende Antwort, wo es heißt: . . . »Der Reichstag wiederholt
daher, daß er kein anderes Mittel des Friedens kennt, als daß E. E. mit Ihren
Truppen sogleich den Rückzug in die Heimat antreten und der gesetzlich
bewafineten Volkswehr der Umgebung Wiens die Waffen zurück¬
stellen. Geschieht dies, dann kann der Reichstag mit Berufung auf die 8. M. vor
getragenen Friedensschlüsse auch die ungarische Armee zum Stillstände auffordern«.
(Verhandlungen, III. 149).
fi ) Die Armee Mogas überschritt am 17. Oktober den Grenzfluß, um Jellaßid
anzugreifen, allein dieser Offensivversuch wurde schnell wieder aufgegeben. Ähn¬
liche Nachrichten waren täglich in Wien — zuvor wie nachher — iu Umlauf
(vgl. auch weiter unten).
«) Merkwürdigerweise weiß Dunder (siehe dessen »Denkschrift «) von Hammer-
Schmidt absolut nichts zu erzählen, ja er erwähnt ihn mit keinem Worte. Doch er¬
fahren wir an anderer Stelle, daß, als Messenhauser am 25. Oktober die Stadt als im
Belagerungszustand befindlich erklärte und Feldacliutant Fenneberg mit der Organi¬
sierung einer Militärpolizei betraut worden war, demselben der Hauptmannauditor
MUDr. Josef Hammerschmidt zur Seite gestellt wurde. Dieser war es auch, dessen
Die Reichstegspermanenz im Oktober 1848.
143
zubieten. Die Erledigung lautet: »Mit Motivierung zurückgewiesen*. (Es
wäre interessant, diese Motivierung zu wissen) 1 ). Wahrscheinlich war sie
dieselbe, welche Füster auf der Aula gegen das Studentenkomitee bei
Überbringung a ) von konzipierten Plakaten, damit solche als vom Komitee
ausgehend veröffentlicht werden, vorgebracht hat, nämlich: »Wir als Reichs¬
tag können ja nicht den Aufruhr predigen*, oder wie Endlich den Bauern
im V. 0. W. *) sagte 4 ): »Ja, der Reichstag will immer auf gesetzlichem
Boden bleiben, daher er selbst 6 ) den Landsturm nicht ruft*.
Nr. 321 teilt der Ausschuß Passierscheine für Lustreisende 5 )
ins ungewisse 6 ) Lager aus. (Dies dürften wohl seine Emissäre gewesen
sein, da ja daß Paßwesen dem Gemeinderate zugewiesen war).
Am 15. Oktober. Nr. 322 liegt ein von Pillersdorff eigenhändig
geschriebener Bericht über seine Wahrnehmungen im Lager des Jellaöic
und Auersperg, die er gelegentlich eines Besuches bei seiner Familie in
Liesing machte, vor. (Also scheint auch er spioniert zu haben) 7 ).
Aus Nr. 323, 330 und anderen erhellt, daß die Verfügungen
des Oberkommandanten der Genehmigung des Ausschusses
unterzogen wurden.
Am 16. Oktober. Nr. 332 macht der Abgeordnete Bilinski den
Antrag, den Grafen Auersperg aufzufordem, den Jellacic zur Räumung des
Auslieferung nebst 13 anderen von Windischgrätz am 30. Oktober begehrt wurde.
Am 31. Januar 1849 erging seitens der Zentralmilitäruntersuchungskommission
an die entflohenen Bern, Fenneberg, Haug, Hauck, Hammerschmidt und Wutechel
die Aufforderung, sich »binnen längstens neunzig Tagen um so gewisser zu stellen,
als sonst das Verfahren gegen dieselben in contumaciam durchgeführt werden
würde«. (Vgl. Helfert, Geschichte Österreichs, IV. 3. S. 8 u. 466). Hammerschmidt
nahm aber Zuflucht nach der Türkei und war daselbst als Chefarzt eines Militär¬
spitals in den sechziger Jahren tätig (Politik, 1864 Kr. 259).
i) Ober die Motivierung erfahren wir Näheres aus der Erklärung Schuselkas,
die er in der Abendsitzung vom 17. Oktober abgab. Während nämlich Violand den
Antrag auf Anrufung des Landsturmes, wie er vom Wiener demokratischen Frauen-
vereine verlangt wurde, befürwortete, sagte Schuselka: »Die Aufrufung des
Landsturmes ist im permanenten Ausschüsse schon oft angeregt
und beraten worden. . . . Der Ausschuß hat sich bis zu dieser Stunde nicht da¬
rüber vereinigen können, daß es zweckmäßig, gewissenhaft sei, den Land¬
sturm aufzubieten, und ich individuell, nicht als Berichterstatter des Ausschusses,
sondern als Abgeordneter, als Mitglied dieses Hauses, halte es für das größte
Unglück, für einen übereilten Streich, wenn wir den Landsturm aufrufen würden,
durchaus aber nicht darauf sehend, ob es ein gesetzmäßiger Schritt gewesen wäre
oder nicht«. (Verhandlungen, HI. S. 209).
*) Dabei ist die Randbemerkung zu lesen: Aus der Untersuchung des
Dr. Frankl.
*) Die Anfangsbuchstaben vermochte ich nicht zu enträtseln.
4 ) Dabei findet sich die Randbemerkung: Aus der Voruntersuchung gegen
Kudlicn.
*) Im Manuskripte unterstrichen.
8 ) Soll wohl »ungarisch« « 1 eißen.
7 ) Vgl. dazu »Beschuldigungen gegen meine politische Tätigkeit« im »Hand¬
schriftlichen Nachlasse des Frei\erm von Pillersdorff«. Diese Mitteilung wird sich
wohl vornehmlich auf die Stelling, welche Auersperg am 14. Oktober eingenommen,
bezogen haben. Auersperg hatte sein Hauptquartier in Inzersdorf aufgeschlagen
und mit seinen Truppen den südlichen Abhang des Laaerberges sowie den Wiener¬
berg bis zur Schönbrunner Gloriette besetzt, wobei bei der Spinnerin am Kreuz,
bei den sieben Ziegelhütten am Wienerberg und quer der Laxenburgerallee Ver¬
schanzungen aufgeworfen worden waren. (Vgl. Smete, Das Jahr 1848. H. 696).
144
Hugo Trauo.
österreichischen Bodens zu zwingen L ), widrigenfalls die Geldsendungen an
ihn einzustellen 2 ), oder, wenn man demungeachtet die Geldsendungen für
nötig hält, dies öffentlich zu erklären. Dieser Antrag wurde darum
verschoben, weil der Minister in diesem Falle abzutreten
erklärte 8 ).
Am 17. Oktober. Nr. 347 empfängt der Ausschuß die Deputation
der Frankfurter Linken 4 ). Nr. 331 wird dem Ausschüsse angezeigt,
daß der Garde Johann Walter, welcher Plakate zur Aufbietung
des Landsturmes bei sich hatte, in Krems irretiert worden und mit
dem Strange bedroht sei. Der Ausschuß sendete sogleich einen Kurier ab,
der es auch, wie aus dem Schreiben des Obersten Pott Nr. 361 ersichtlich
ist, erwirkte, daß Walter ihm (dem Kurier) übergeben wurde 5 ). Man sieht
hieraus wieder, wie der Ausschuß unter der Hand die Verbreiter des Aufruhrs
unterstützte. Hierbei kann die höchst schlechte Eingabe eines sichern Charles
Court Nr. 360 nicht übergangen werden, aus welcher man erfährt, daß
Schuselka im Reichstage wirklich auf Aufbietung des Landsturmes an¬
trug 6 ). Court ist sehr ungehalten, daß der Antrag nicht durchging 7 ).
*) Das war allerdings ausgeschlossen, denn noch am Abend des 10. Oktobers,
wo Jeilatfiö vom Laaerberge auf Wien niederblickte, hatte er eine Zusammenkunft
mit Auersperg, wobei die Vereinigung beider Truppenteile beschlossen worden war.
*) Deshalb hebt Smets (Das Juhr 1848, H. 621) die Doppelstellung des
Ministers Krauss hervor, daß nämlich derselbe, obwohl er »der von Wien ver¬
fochtenen Sache seinen offiziellen Segen gab und die erforderlichen Geldsummen
zur Vernichtung der heranrückenden feindlichen Truppen vorstreckte«, auch gleich¬
zeitig »für die Belagerer Schuhe und Strümpfe, Brod und Schnaps, Pulver und
Blei« besorgte. Dem gegenüber sei auf Wessenbergs Urteil verwiesen, der am
24. Oktober 1848dem Erzherzog Johann schrieb: »Krauss harrt heldenmütig
in Wien aus, um die Finanzen nicht preiszugeben, und muß sich alles von der
Reichsversammlimg gefallen lassen« (A. Arneth, Joh. Fr. v. Wessenberg, II. 275),
wie er auch um 4 Tage später in einer Mitteilung an den Kaiser von der »sel¬
tenen und aufopfernden Stellung« des Ministers Krauss spricht (ibidem).
*) Als am 9. Oktober Dylewski den Minister hinsichtlich des von Jellacic be¬
fehligten Militärs interpellierte, entgegnetc Krauss ausweichend unter anderem:
»Wer ein bedeutendes Truppenkorps zur Verfügung hätte [gegen Jelladid], könnte
eine Sprache fuhren, welche dann auch natürlich einen Erfolg hätte«.
4 ) Am 17. Oktober langte in Wien, mit großem Jubel empfangen, die Depu¬
tation der demokratischen Minorität (Linken) des Franafurter Parlaments an. Sie
bestand aus Robert Blum, Julius Fröbel, denen sich der Deutschbölnne Moritz
Hartmann und der Mährer Albert Trampusch freiwillig angeschlossen hatten.
(Vgl. bei Jul. Fröbel, Elin Lebenslauf, I. 209). Schuselka berichtete darüber und
über ihre Sympathieadresse noch am selben Tage im Reichstag. (Verhandlungen,
HI. 187). Wohl zu unterscheiden von der Mission der zwei Reichskommiss&re
Karl Welcker und Oberst Mosle, welche schon am 13. die Reise nach Österreich
angetreten hatten mit dem Aufträge, zwischen den feindlichen Lagern zu ver¬
mitteln. Ihre Tätigkeit beschränkte sich auf Olmütz.
6 ) Auersperg hatte sich mit Jelk: öid am 10. Oktober ins Einvernehmen gesetzt,
einen gemeinschaftlichen Flankenmarsch um Wien herum auszuführen und sich
bis Krems rückwärts zu konzentrieren, wo der Anmarsch des Fürsten Windischgratz
abgewartet werden sollte. Deshalb ging sofort Oberst Pott nach Krems ab, um
mit den dort schon postierten Truppen die Verteidigung des Donauüberganges zu
übernehmen.
•) Daß ein Irrtum vorliegt, ersieht man aus der früher schon zitierten Er¬
klärung Schuselkas, die er in der Abendsitzung vom 17. Oktober abgab. (Vgl. Ver¬
handlungen, IH. 209).
7 ) Der Antrag konnte nicht angenommen werden, weil er von der Permanenz
nicht gestellt worden war; etwas anderes war die Befürwortung Violands.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
145
Am 18. Oktober. Nr. 359 weiset der Ausschuß dem Oberkom¬
mando 50.000 fl. bei dem Gemeinderate an und Nr. 380 werden auf
Antrag des Ausschusses vom Reichstag neuerdings 200.000 fl.
dem Gemeinderat zur Verfügung gestellt 1 ).
Am 20. Oktober. Durch die (fehlende) Antwort Auerspergfs] Nr. 383
wußte der Ausschuß 2 ), daß Fürst Windischgrätz seit 16. Oktober Ober¬
befehlshaber der Truppen s ) sei, und durch die Meldung der Mitglieder des
Gemeinderates Nr. 394 vom 21. Oktober erfuhr er, daß der Kaiser die
Deputation des letzteren nicht empfangen, sondern an den bevollmächtigten
Fürsten Windischgrätz gewiesen habe 4 ), und doch hat der Ausschuß laut
*) Als der Gemeinder&t um einen neuerlichen Unterstützungsbeitrag von
200.000 fl. K. M. den Reichstag anging, gab der deutschböhmische Delegierte
Karl Uchatzi folgende klassische Motivierung ab: »Wenn wir die bezahlen,
welche hereinschießen, so sehe ich nicht ein, warum wir nicht auch die be¬
zahlen sollten, welche hinausschießen!« Der Gemeinderat führte nämlich eine
teilweise LOhnung der Garden ein, indem er jedem Garden für 24stündigen Wachdienst
einen bestimmten Lohn aussetzte. — Daß die Akten nicht lückenlos vorgefunden
worden sind, beweisen schon die Berichte Schuseikas vor der Kammer, von denen hier
merkwürdigerweise keine Erwähnung getan wird. So machte der Berichterstatter am
18. Oktober dem Reichstage die Mitteilung: »Es ist durch den in ungarischen Ange¬
legenheiten sehr bedeutend wirksamen H. v. Pulszky dem permanenten Ausschüsse
achiiftlich der gute Rat erteilt worden, sich an den Erzherzog Johann, Reichsverweser,
zu wenden, um seine Vermittlung an/.nrufen«. (Vgl. weiter oben). Und später verlas
Schuselka das Manifest an die Völker Österreichs dto. 18. Oktober. (Verhandlungen,
IQ. 226). Wieso kommt es, daß vom 19. Oktober überhaupt k. in Akt verzeichnet
vorkommt, obwohl gerade am selben Tage Schuselka im Parlamente berichtete, daß
»heute die Bevölkerung Wiens durch ein Plakat in Betreff der Stellung der Ungarn
zu neuen Hoffnungen aufgeregt worden«? Weil es darin heißt, daß die Ungarn zu Hilfe
kämen, sobald sie dazu durch »eine der legalen Behörden« aufgefordert werden würden,
erklärte Schuselka offen und ehrlich: »Sie sprechen eine Bedingung aus, deren Er¬
füllung unmöglich ist, denn es gibt in Wien keine legale Behörde, die eine
fremde, unter einem fremden Ministerium stehende Kriegsmacht ins Land rufen
könnte. Der Reichstag ist nicht dazu legal, ''ine fremde Kriegsmacht ins Land zu rufen
und dadurch dem Monarchen, der ihn berufen, eine Konstitution zu geben, offen den
Krieg zu erklären. ... So muß der permanente Ausschuß öffentlich dagegen
protestieren als gegen eiue Handlung, die ganz dazu geeignet zu sein scheint,
un Innern der Stadt neue Aufregungen und blutige Exzesse hervorzurufen«. (Ver¬
handlungen, HI. 249). Vgl. auch Schuseikas Erklärung vom 22. Oktober (ibidem 306).
*) ln Bezug auf das Manifest vom 16. Oktober sagte Schuselka im Reichstage
am 22. Oktober: »Wir können, da dasselbe auf keine offizielle Weise weder uns
noch meines Wissens dem Ministerium zugekommen ist, dasselbe durchaus
nicht für ein wirkliches, offizielles, vollkräftiges und gesetzkräftiges Manifest aner¬
kennen«. (Verhandlungen, HI. 307).
•) Das Manifest vom 16. Oktober betraute Windischgrätz mit dem Oberbe¬
fehle Über sämtliche Truppen mit Ausnahme der italienischen Armee, die unter
Badetzky kämpfte.
4 ) Am 20. Oktober langten in Olmütz eigentlich gleich drei Wiener Deputationen
an, darunter die des Gememderates, von denen keine weder beim Kaiser selbst,
noch beim Erzherzog Franz Karl vorgelassen wurde. Die Gemeinderatsdeputation
erhielt von Wessenberg noch am selben Abend den Bescheid, ihre Adresse sei dem
Monarchen vorgelegt worden; da sie aber Bitten enthalte, auf deren Erfüllung
man unter den gegenwärtigen Umständen nicht eingehen könne, so würde ihnen be¬
kannt gegeben, daß man sich in allem, was die Herstellung der gesetzlichen Ord¬
nung in Wien betreffe, an den Fürsten Windischgrätz zu wenden habe; übrigens
dürfe man hoffen, daß durch die Kundmachung Sr. Majestät vom 19. den billigen
Wünschen der Wiener Bürger entsprochen worden sei (Helfert, Aufzeichnungen
und Erinnerungen aus jungen Jahren, 75). Als die Deputation am 21. Oktober
10
146
Hugo Traub.
Nr. 399 beschlossen, den verhängten Belagerungszustand als
ungesetzlich zu erklären, diesen Antrag in die Kammer gebracht,
ihn dort durchgesetzt l ), davon nach Nr. 400 dem Gemeinderat Anzeige
gemacht 2 ) und dafür vom Studentenkomitee laut 401 den Dank ge¬
erntet 3 ).
Sogleich haben nun laut 402 die Nationalgardechefs sich schriftlich
angefragt, ob sie bei der Verteidigung Wiens gegen die kaiser¬
liche Armee auf legalen Boden stehen. Diese Eingabe hat der
Ausschuß (eine schändliche Perfidie) dem Oberkommando zur Erledigung
zugewiesen. Es findet sich aber bezüglich dieser Eingabe unter den nicht
exhibierten Schriften Nr. 69 ein Konzept an das Nationalgardeoberkom¬
mando vor, welches wörtlich lautet wie folgt: »In Erwiderung auf das Ge-
abends in Lundenburg eintraf, konnte sie bei Windischgrätz nicht vorgelassen
werden und mußte die Nacht in den Waggons zubringen. Karl Bembrunn, Ge¬
meinderat und Mitglied der Deputation, verließ hier seine Genossen und eilte nach
Wien voraus, um daselbst Bericht von dem kläglichen Ausgange der Mission zn
erstatten.
J ) Kn um hatte Windischgrätz am 19. Oktober im Lundenburger Schlosse
seinen Silz aufgeschlagen, als er am nächsten Tage »die Stadt, die Vorstädte und
ihre Umgebung in Belagerunyszustand« erklärte. Nach Berichterstattung Schuselkas
wurde am 22. Oktober der Antrag des permanenten Ausschusses einstimmig mit
»großem, anhaltenden Beifall« und unter Jubelgeschrei der Gallerien zum Beschlüsse
erhoben. Der Permanenzantrag lautete wörtlich: »In Betracht, daß die Herstellung
der Ruhe und Ordnung, wo sie wirklich gefährdet sein sollten, nur den ordent¬
lichen konstitutionellen Behörden zukommt und nur auf ihre Requisition
das Militär einschyeiten darf;
in Betracht, daß nach dem wiederholten Ausspruche des Reichstages und des
Gemeinderates die bestehende Aufregung in Wien nur durch die drohenden Truppen¬
massen unterhalten wird;
in Betracht endlich, daß das kaiserliche Wort vom 19. d. M. [zweites Mani¬
fest von Olmütz] die ungeschmälerte Aufrechthaltung aller errungenen Freiheiten,
sowie ganz besonders die freie Beratung des Reichstages neuerdings gewährleistete :
erklärt der Reichtag die vom Feldmarschall Fürsten Windischgrätz ange¬
drohten Maßregelndes Belagerungszustandes und des Standrechtes
für ungesetzlich«. — Dies gab, wie Springer betont (Geschichte Österreichs,
H. 568), der Verteidigung Wiens »eine legitime Basis«. Man kämpfte fortan
»nicht gegen den Monarchen, sondern gegen Generäle, welche den Willen des
Kaisers mißachten«.
*) Der Gemeinderat erhielt die Lundenburger Proklamation zugeschickt, ver¬
öffentlichte sie aber nicht — daß sie nichtsdestoweniger am 22. Oktober an etlichen
Punkten der Stadt erschienen war, ging nicht von demselben aus — sondern über¬
gab sie dem permanenten Ausschüsse zur weiteren Maßnahme. Deshalb war es
notwendig, daß auch der Gemeinderat, abgesehen vom Minister Wessenberg, der
sich am Hoflager in Olmütz befand, und Windischgrätz, vom Reichstagsbeschlusse
benachrichtigt wurde. Dadurch wurde der schwankende Gemeinderat aus einer
großen Verlegenheit befreit und er beschloß eine Zuschrift; an Windischgrätz als
Antwort auf die Proklamation, worin er wohlweislich jede Verantwortlichkeit von
sich ablehnte und auf Minister Krauß und den Reichstag verwies.
*) Das Studentenkomitee, welches bald nach dem 6. Oktober eine leitende
Permanenz nebst fünf Kommissionen bildete, »übte« — wie Dunder (Denkschrift,
351) hervorhebt — »noch in den letzten Oktobertagen einen so mächtigen Einfluß
aus, daß keiner es wagte, den von diesem Tribunal Freigesprochenen auch nur
mit einem Worte zu beleidigen«. Dasselbe bestürmte in der Tat unablässig den
Reichstag um Aufbietung des Landsturmes und Anrufung der Magyaren und
versuchte es zum Schlüsse auf eigene Faust, allerdings ohne Erfolg. Es ist deshalb
mehr alB begreiflich, daß das Studentenkomitee die Ungesetzlichkeitserklärung des
Belagerungszustandes mit Beifall quittierte.
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
147
such mehrerer Herren Bezirkschefs ein hoher Reichstag beschließe,
daß die Nationalgarde ihr konstitutionelles Recht mit den
Waffen in der Hand zu verteidigen berechtigt sei 1 ), findet
sich der Reichstagsausschuß bemüßigt, folgendes zu erklären: Das Institut
der Volkswehr, soll es nicht zur bloßen Polizeianstalt oder Spielerei
herabsinken, ist neben der gesetzgebenden Gewalt vor allem Andern be¬
rufen und verpflichtet, jede Beeinträchtigung der konsti¬
tutionellen Freiheiten, sie möge von äußeren oder inneren
Feinden kommen, männlich zurückzuweisen € x ). In diesem
Erlasse wurde also der Fragepunkt, der im Exhibitum Nr. 402 enthalten
ist, ganz verdreht und dem Oberkommandanten angedeutet, wie er die Chefs
zu belehren habe.
In Nr. 406 steht dem Oberkommando allein im Falle der Not¬
wendigkeit die Disposition über die Hofpferde zu.
Am 24. Oktober 2 ). Man dürfte billig fragen, wie kommen denn die
Originaladressen der Demokratenvereine von München und Friedberg sub
411 und 412 an die Wiener unter die exhibierten Aktenstücke der Reichs¬
tagspermanenz? *).
Am 25. Oktober. Nach 420 wurde im Ausschüsse über die neuer¬
liche Proklamation des Fürsten Windischgrätz 4 ) beraten und beschlossen:
1. Anfrage bei Wessenberg durch Minister Krauss direkt vom
Ausschüsse.
2. Konfidentielle Sendung des Pillersdorff an den Fürsten 6 ).
*) Im Manuskript unterstrichen.
•) Wir vermissen hier wieder jeglichen Bericht Über die Tage vom 21. bis
23. Oktober. Und doch muß der Einlauf der Permanenz gerade in diesen Tagen
kein geringer gewesen sein, wie wir der Erklärung Schusefkas vom 22. d. M. in
der Kammer entnehmen: »Um zu zeigen, wie sehr wir dahin trachten, um im Ein¬
klänge mit den Wünschen des Volkes zu streben und zu wirken, erwähnen wir,
daß der größere Teil dieser anonymen Zuschriften sich mit der ungarischen
Frage beschäftigt und daß fortwährend die bittersten Vorwürfe und, wie ich
sagte, die wirklich heftigsten Drohungen ausgesprochen werden, weil wir die
Ungarn nicht zu Hilfe rufen« (Verhandlungen, III. 306). Oder wurden diese Brief¬
schaften, weil anonym, von dem Ausschüsse selbst vernichtet?
•) Sämtliche Adressen, die an den Reichstag gerichtet waren, kamen tat¬
sächlich zuerst in den permanenten Ausschuß, der sie dann durch seinen Bericht¬
erstatter zur Kenntnis der Kammer brachte. Merkwürdigerweise aber kommen
unter den verlesenen Adressen diese beiden nicht vor.
*) Fürst Windischgrätz erließ am 23. Oktober von Hetzendorf eine neue Pro¬
klamation, welche der Reichshauptstadt eine Frist von 48 Stunden zur Nieder¬
legung der Waffen gewährte (den Wortlaut siehe auch bei Smets, Das Jahr 1848, H.
632). Diese Proklamation war fertig, ehe dem Feldmarschall durch einen Eilboten
der Reichstagsbeschluß vom 22. Oktober und ein Schreiben des Ministers Krauß
übergeben worden war, mit der Verhängung des Belagerungszustandes und mit
der Anwendung von Waffengewalt bis zur Rückkehr der Reichskommissäre von
Ohnütz abzuwarten. (Vgl. K. Widmann, Fr. Smolka, I. 112).
6 ) Merkwürdigerweise erwähnt Pillersdorff selbst über diese Entsendung zu Win-
discbgrätz gar nichts (vgl. dessen »Handschriftlichen Nachlaß«), und trotzdem unter-
X es keinem Zweifel, daß sich Pillersdorff nach Hetzendorf zu Windischgrätz be-
hatte, um auf denselben Einfluß zu nehmen, doch soll er einfach und schroff
mit den Worten: »Mit Rebellen unterhandle ich nicht, sondern ich fordere imbe¬
dingte Unterwerfung!« abgewiesen worden sein. Smets (Das Jahr 1848, II. S. 633)
erzählt, daß sich Pillersdorff zu Windischgrätz »mit Wissen des Reichstagsaus-
10*
148
Hugo Traub.
3. Antrag, die Maßregeln desselben, als ebenso gegen
die Hechte des Volkes wie die des Thrones feindlich zu er¬
klären. Im Reichstage angenommen 1 ).
Am 26. Oktober. Nr. 427 ladet der Gemeinderat zu einer
wichtigen Beratung den Ausschuß ein, nämlich drei seiner Mitglieder
dazu in den ständischen Saal zu senden. (Was da beraten wurde, ist nicht
zu ersehen) 2 ).
Am 27. Oktober. Nr. 431 beschwert sich das Hauptzollamt, daß bei
den Weißgärbem eine Barrikade gebaut werde, wodurch das Mautgebäude
gefährdet sei. Als Erledigung ist protokolliert: »Erledigt durch Hin¬
weisung auf den gestrigen, durch uns bekräftigten Befehl
des Oberkommandanten* 8 ). Nun ist aber weder am 26. noch am
25. Oktober von einem solchen Befehle in den Akten eine Spur zu finden,
ein Beweis, daß also das Oberkommando auch Befehle erhielt,
die nicht beraten wurden. Daß es so geschehen sein müsse, erhellt
auch daraus, daß sich nirgends in den Akten eine Vollmacht von Messen¬
hauser zur Aufbietung des Landsturmes vorfindet, während durch viele
Schusses, doch nicht in dessen Aufträge« begeben habe, was mit obiger Mitteilung
richtig gestellt wird.
*) Schuselka verlas im Reichstage am 24. Oktober abends die Proklamation
von Hetzendorf mit dem Bemerken, daß unmittelbar nach ihrem Empfange Ab¬
drücke davon nach OLmütz »mit der entschiedenen Anfrage« gesandt wurden, ob
Minister Wessenberg dieselbe »als mit konstitutioneller Freiheit ver-
einbarlich erkenne und ober dafür die Verantwortung über¬
nommen habe«. Darauf stellte der Berichterstatter am selben Tage im Namen der
Majorität der Permanenz — hier wird zum etstenmale bloß von der Majorität ge¬
sprochen — den Antrag: »Da Fürst Windischgrätz in offenem Widerspruche mit
dem kaiserlichen Worte vom 19. und in offener Nichtachtung des Reichstags¬
beschlusses vom 22. Oktober in einer neuen Proklamation Maßregeln über die
Stadt verhängt, die nicht nur die vom Kaiser sanktionierten konstitutionellen,
sondern auch die allgemeinen Bürger- und Menschenrechte völlig aufheben, so
erklärt der Reichstag, daß dieses Verfahren des Fürsten Windischgrätz nicht
nur ungesetzlich, sondern ebensosehr gegen die Rechte des
Volkes, wie gegen die Rechte des erblichen konstitutionellen
Thrones feindlich ist«. Und dieser Antrag wurde auch zum Beschlüsse er¬
hoben. (Verhandlungen, HI. 345).
*) Soviel wir wissen, ging dieser Beratung die Überbringung eines gemeind e-
rätlichen Memorandums nach Hetzendorf an Windischgrätz voraus, welche vom Feld¬
marschall mit der am 25. Oktober veröffentlichten Proklamation beantwortet wurde.
Der Fürst, welcher durch vertrauliche Winke erfahren haben soll, ein Teil des Ge¬
meinderates sei dafür, daß er seine Truppen unverweilt in Wien einrücken lassen
solle, um durch selbe seine vorgeschriebenen Bedingungen in Ausführung zu
bringen, motivierte die Ablehnung dieses Planes dadurch, daß er seine Truppen
keinem mörderischen Straßenkampfe aussetzen wolle. Vielleicht hängt die Beratung
mit der Erklärung Messenhausers zusammen, welche derselbe am 26. Oktober be¬
züglich des Belagerungszustandes von Wien erlassen hatte. Über die Beratung
vom 28. Oktober gab Schuselka im Reichstage am 30. Oktober eine ausführliche
Erklärung ab, wobei er auch motivierte, warum der Ausschuß an den Beratungen
nicht teilgenommen. Es wurde — heißt es dort — auch in diesem Augenblicke
lediglich dem gewissenhaften Ermessen der Vertreter der Stadt Wien, der
Bürgervertreter und Verteidiger der Stadt überlassen, bei sich zu erwägen, die
Mittel zu prüfen, ob man fortkämpfen, oder in Unterhandlungen sich einlassen
solle. . . . Ebensowenig konnte er sich in seiner Stellung dem Fürsten Windischgrätz
gegenüber entschließen, an der Verhandlung selbst teilzunehmen.
*) Im Manuskript unterstrichen.
Die Reichstagspennanenx im Oktober 1848.
149
Untersochniigen und durch die eingebrachten corpora delicti erwiesen ist,
daß er lithographierte Aufrufe dazu dto. 14. Oktober an eine Menge Ge¬
meinden ob und unter der Enns aussendete x ), was er mit Vollmacht getan
haben muß, weil er selbst in einer Eingabe an den Reichstag vom 18. Ok¬
tober (Nr. 19 der nicht exhibierten Akten) unter Anderem wörtlich sagt:
Seine Vollmachten zur Organisierung des Landsturmes 1 )
beschränken sich einfach auf den Inhalt: »Wien ist von Feinden bedroht,
die keine Erklärung geben, welche Männer von Mut, Freiheit und Ehre zu
beruhigen vermag. Wir sind im Zustande der Selbstwehr, da ihr uns helfen
wollet, wenn Gefahr droht, so tut es denn einer lür Alle und Alle für
einen*.
An * SO. Oktober*). Nach 452 empfiehlt der Ausschuß dem Finanz-
minister, die Linzer, Grazer, Brünner und Salzburger Garden in
beisonderen Schutz zu nehmen. (Natürlich, er hat sie ja hergerufen! 4 ).
Aus den nicht exhibierten und später verzeichneten Aktenstücken ver¬
dienen nachstehende einige Beachtung: Nr. 6 eine Eingabe an den Lohen
Eeichstag vom 10. Oktober vom Zentralausschusse der Demokraten und dem
Stndentenkomitee wegen der Wahl eines tüchtigen Oberkomman¬
danten 5 ).
Nr. 16 eine Originaleingabe des Syndikus Adler von Laa, die sehr
nach Demokratie riecht.
Nr. 18 mehrere Zuschriften des Josef Franz Kaiser, Lithograph und
Ausschuß der Grazer Demokraten.
Nr. 22. Eine umständliche Relation des H. v. Pillersdorff über
seine oberwähnte konfidentielle Sendung an Fürst Windischgrätz.
Sub Nr. 48 liegt eine Meldung vom Kommandanten der Station
Tabor vom 18. Oktober an den Ausschuß, nach welcher derselbe eine
offene Ordre des kais. Ministeriums aus dem Grunde zurück¬
weise t, weil die Vidierung der Reichstagspermanenz fehlt, und merkwür¬
digerweise ist diese Meldung mit dem Reichstagssiegel versehen.
Sub eodem Nr. 48 liegt eine Meldung des Dr. Rechberger 6 ) vom
12. Oktober: daß er soeben vom ungarischen Ministerium durch einen ge-
•) Vgl. Dunders, Denkschrift, S. 396. Daß auch das benachbarte Mähren von
Ifenenhauser nicht verschont blieb, zeigt die lange Reihe von 48 Gemeinden, die
ich in dem schon früher angeführten Artikel genannt habe.
*) lm Manuskripte unterstrichen. Mit der Organisierung des Landsturmes im
Manhartsviertel wie in Mähren war auch Adolf Z o b e 1, Nationalgardekommandant
in Dntsendorf, betraut, wie dessen von Windischgrätz aufgefangener Brief beweist.
•Lact Mitteilung des Fürsten dem General Reuss nach Brünn, dto. 26. Oktober
1><48. Mähr. Statthaltereiregistratur).
*) Es wurden also auch keine Dokumente aus den Tagen des 28. und 29. Ok¬
tobers vorgefonden, wiewohl noch in dieser Zeit nach allen Seiten hin eifrig ver¬
handelt worden war.
*) Daß der Reichstag und mit ihm die Permanenz die Brünner Garden (sowie
-och die übrigen) nach Wien berufen haben, ist außer Zweifel, wie auch den¬
selben ein besonderer Schutz zu Teil worden ist (vgl. meine Abhandlung im lasopis
asor. mm. zem., 1913/14).
War gegen Braun gerichtet und zu Gunsten Messenhausers, dessen Wahl
besonders Dr. Becher, Redakteur des »Radikalen«, mit großer Energie betrieb, weil
mit ihm eines politischen Glaubensbekenntnisses war.
•) Wer Dr. Rechberger war, konnte ich nicht mit Bestimmtbeit festeteilen;
wir es da nicht mit dem Führer der Steirer Schützen zu tun, den
150
Hugo Traub.
rade angekommenen Deputierten des ungarischen Reichstages 1 ) die erfreu¬
liche 2 ) (sic, Herr Doktor !) Nachricht erhalten habe, der ungarische Reichs¬
tag habe der an der Grenze stehenden Armee von 30.000 Mann befohlen s ),
nach Wien zu marschieren 4 ), und dieses Hilfskorps werde in 24 bis 48
Stunden vor Wien sein. (Eigenhändig geschrieben und unter¬
schrieben) 6 ).
Sub eodem Nr. 48 findet sich eine Eingabe des Studentenkomiteefs],
worin es heißt, man möge sich jener Beamten in der Zentralkasse
vorsichtigerweise bemächtigen, welche im Falle, als das Volk
siegt, die Absicht haben, 7,000.000 fL Papiergeld zu vertilgen.
Nr. 55 findet sich das Verzeichnis der Mitglieder der Reichs¬
tagspermanenz.
Nr. 62 ein Auftrag an das Oberkommando, über die ge¬
troffenen Verteitigungsmaßregeln täglich Bericht zu erstatten — vom 18. Ok¬
tober. (Scheint von der Hand Füsters geschrieben).
Nr. 67 ein Konzept zu einem Aufrufe an die Nationalgarde
mit der Mahnung zur Einigkeit und Festhalten an dem Reichstage 6 ).
Nr. 72 Konzept eines Reichstagsbeschlusses: 1. Alle Waffenfähigen
haben sich mit Waffen zu versehen und sich unter das Kommando
des Bezirkschefs zu stellen 7 ).
2. Alle Bewaffneten haben unbedingt dem Oberkommando zu
gehorchen.
3. Vergehen etc. etc. werden durch ein aus der Nationalgarde zu¬
sammengesetztes Kriegsgericht bestraft 8 ).
Nr. 76 das mehr emendierte Konzept zu dem bekannten Auf¬
rufe an die Völker Österreichs zur Rettung Wiens 9 ). (Man ver-
Helfert einmal Dr. Effenberger, das anderemal Emperger nennt? (Vgl. über ihn
auch weiter obea).
*) Unbekannt, wer es von den damals in Wien anwesenden ung. Deputierten
gewesen sein mag.
*) Im Manuskripte unterstrichen.
•) Moga hatte nach Klapkas Angabe nur 25.000 Mann, darunter 10.000 Land¬
stürmer und etwa 50 Kanonen.
*) So viel bekannt ist, wurden am 25. Oktober Oberst Emerich Jv&nka und
mit ihm Honvedmajor Dobay zu Windischgrätz von magyarischer Seite als Parla¬
mentäre mit einem Ultimatum abgeschickt, worin die Entwaffnung des Kroaten¬
heeres, die offene Anerkennung der vom Könige sanktionierten Verfassung für
Ungarn und die Aufhebung der Belagerung Wiens gefordert wurde. Erst nach
dem abschlägigen Bescheide des Fürsten: Mit Rebellen unterhandle ich nicht!
siegte Kossuth und brachte die Opposition zum Schweigen. (Vgl. dazu Fr. Pulszky,
Meme Zeit, mein Leben, II. 248).
®) Im Manuskripte unterstrichen.
•) Am 7. Oktober brachte Schuselka den Entwurf der von der Permanenz
einstimmig genehmigten Proklamation an die Nationalgarden zur Verlesung, welcher
Antrag ohne Debatte einstimmig angenommen worden war.
7 ) Am 12. Oktober befürwortete Schuselka Brauns Vorschlag, »daß sich für
die Dauer der Gefahr alle waffenfähigen Männer unter das Kommando desjenigen
Bezirkschefs, dem sie ihrer Wohnung nach angehören, zu stellen haben«. (Ver¬
handlungen, III. 100). Vgl. weiter oben.
8 ) Dies widerspricht allerdings der Behauptung von Smets (Das Jahr 1848,
II. 618), welcher mitteilt, daß zum Studentenkomitee ,alle Gefangenen, Spione und
verdächtigen Persönlichkeiten zur Untersuchung und Aburteilung gebracht« wurden.
•) Am 7. Oktober verlas Schuselka die Proklamation an die Völker Österreichs
»zur Beruhigung und nötigen Aufklärung über den Standpunkt, auf welchen der
Die Reichstegspermanenz im Oktober 1843.
151
mied darin, den bewaffneten Znzng auszusprechen, und nahm nur die Unter¬
stützung durch des Volkes moralische Kraft in Anspruch).
Xr. 77 der Bericht des Abgeordneten Szabel vom 6. Oktober 7 Uhr
abends über seine Sendung an Auersperg, welcher sich bereit gezeigt habe,
die Truppen in die Kasernen einnicken und keinen Angriff machen zu
lassen, jedoch Garantie verlangte, seine Truppen nicht angegriffen zu sehen l ).
Zugleich berichtet Szabel über sein vergebliches Bemühen, das Volk vom
Zeughause abzuhalten und das Feuern einzustellen *).
Dieses bisher Dargestellte ist das Wesentlichste, was aus den mitge¬
teilten mangelhaften Permanenzakten zu entnehmen ist Für den
Zweck der politischen Erhebungskommission reichen vorstehendeData
vollkommen hin zu beweisen, daß einer der Haupthebel der
Oktoberrevolution in der Keichstagspermanenz gelegen war;
denn hier wurden die revolutionären Beschlüsse gefaßt, das Militär sogleich
ans Wien zu entfernen gesucht und der Zuzug desselben auf den Eisen¬
bahnen verboten, die Mittel zur Ausführung der Beschlüsse geboten, das
2 oehverräterische Streben de? Zentralausschusses der Demokraten und des
Studentenkomitees nicht nur nicht gehindert, sondern öffentlich unterstützt
und gefördert; ja diese Permanenz war es, welche den Beschluß faßte, die
Stadt in Verteidigungszustand zu setzen, den Gemeinderat und die Bezirks¬
chefs auf ihre Anfragen, ob sie bei dem Kampfe gegen d e kaiserlichen
Trappen bei der Verteidigung Wiens auf legalem Boden stünden, mit per-
h leu Erledigungen im Dunkel ließ, oder gar keine Antwort gab. In dieser
Permanenz hat sogar ein eigener geheim 3 ) gehaltener Verteidi¬
gungsrat bestanden, ihr mußten vom Oberkommando die Verfügungen
zur Genehmigung vorgelegt werden; sie liebäugelte mit Ungarn, ge¬
traute sich wohl nicht, sie geradezu zu rufen, erklärte aber selbst, ihren
Einmarsch in Österreich nicht verboten zu haben, und erteilte Lustreisenden
ScxLicet!) ins ungarische Lager Geleitscheine. Es ist in der Untersuchung
Reichstag sich zu stellen entschlossen ist«. Verfasser derselben war der Bericht-
«fret&tter selbst, der dazu drei Mitredakteure bekam. Vgl. dazu noch Verhand-
jmgen, HI. 204, 226 und die emendierte Proklamation »Völker Österreichs« vom
A». Oktober (ibidem S. 277).
>) Es wurden gleichzeitig Deputationen an den Kommandierenden »behufs
i^r weiteren Beruhigung des Militärs«, eine Vermittiungsdeputation zum Kaiser
und eine an Doblhoff entsendet. Dem ausführlichen Berichte Szäbels (siehe »Ver¬
band Jungen«, HL 6} entnehmen wir auch die Antwort, welche dem komman-
• üereoden General zuteil wurde: »Wir erklärten, daß wir persönlich diese Garantien
z.krbt geben können, aber daß der Reichstag durch eine Proklamation dahin wirken
werde, damit Angriffe auf das Militär nicht Btattfinden«. Vgl. auch weiter oben.
*) Szibel meldete diesbezüglich: »Ich selbst habe eine dahin [zum Zeug-
tuaseJ ziehende Truppe aufgehalten, habe meine Karte als Abgeordneter vorgezeigt,
and unsere Rücksprache mit Auersperg erzählt und sie be-chworen, sie möchten
-den weiteren Schritt auf das Zeughaus einstellen. Sie haben eine Kanone mit
«arh gneführt, meine Herren, mit brennender Lunte. Man hat mich gehört, allein
i ,er .Andrang war zu groß und Überredung hat nichts gefruchtet. Wir mußten
unverrichteter Sache abziehen. Diese Truppe ist vor das Zeughaus hingezogen und
leider wird dort schon gefeuert. Ich habe den Beschluß mitgeteilt, daß das Militär
mrtkrlc&ezogen werde, daß der Reichstag alles, was zur Sicherheit geschehen kann,
'uderten werde, aber unsere Bemühung war fruchtlos*. (Verhandlungen, III. ö).
• \ Daß der Verteidigungsrat, von dem Eingangs die Rede war, geheim ge-
worden wäre, ist nicht recht verständlich, zumal die Wahl desselben in
>nfii cher Reichttagssitzung vorgenommen wurde.
132
Hugo Tranb.
gegen den Fi sehhof 1 ) erhoben worden, daß er und Goldmark am
30.Oktober am Stephansturme die Schlacht der Ungarn bei Schwechat
beobachteten und sodann das Volk zu neuem Widerstande aufforderten 2 ),
und der gegenwärtig bei der Militäruntersuchungskommission in Unter¬
suchung stehende Kossuth’sche, in alle Geheimnisse eingeweibte Kommissär
Tunes sagt selbst, daß die Keichstagspermanenz die ungarische Sache
unterstützte. Messenhauser sendete Aufrufe zum Landsturm
in die Provinz und spricht von erhaltener Vollmacht, die
offenbar nur von der Permanenz ausgehen konnte 3 ), obschon
diese sich hütete, denselben direkt aufzubieten. Das Einverständnis hiezu
erhellt aber aus der bekannten Ansprache *an die Völker Österreichs € vom
20. Oktober für das bedrängte Wien und aus dem gerichtlich erhobenen
Umstande, daß Mitglieder der Permanenz herumreiseten, den Landsturm zu
predigen, wie K u d 1 i c h im V. 0. W. W. und in Oberösterreich, V i o 1 a n d
in V. 0. M. B..
Von der Permanenz ging der Antrag aus, die Proklamationen
des Fürsten Windischgrätz für gesetzwidrig zu erklären,
wodurch der Widerstand gegen die kaiserlichen Truppen sozusagen auto¬
risiert worden. Als am 20. Oktober die Vertrauensmänner der sämtlichen
Nationalgarden im Reichstagssaale sich über die fernere Verteidigung oder
"Übergabe der Stadt berieten 4 ), wobei auch die Übergabe beschlossen
wurde 6 ), hat sich aber dabei weder der Reichstag noch seine Permanenz
beteiligt 6 ). Dies gibt letztere merkwürdigerweise selbst in einem Plakate
*) Fischhof wurde schon am 14. November 1848 von der Militäruntcrsuchungs-
kommission über seine Tätigkeit vom 6. Oktober verhört und einvernommen, nach
der Reichste gssprengung wurde er und Prato gefänglich eingezogen. Es ward
gegen ihn die Anklage wegen Hochverrat und Mitschuld an der Ermordung des
Grafen Latour erhoben, und dabei wurde er eines hochverräterischen
Regimes als Obmann der Permanenz beschuldigt. (Vgl. Knepler, Der
Prozeß Goldmark).
*) Tatsache ist, daß auf die Kunde von dem wirklichen Heranrücken des
ungarischen Heeres alles zum Stephansturme strömte und daß unter den Neugierigen
auch Mitglieder des Reichstages mit ihrem Präsidenten an der Spitze erschienen
waren. Goldmark und Auerbach verharrten bei Messenhauser und beobachteten
von da die Schwechater Schlacht, die infolge der Unfähigkeit Mogas mit e nem
Rückzuge der Ungarn ein unrühmliches Ende fand.
*) Im Manuskript unterstrichen.
«) Am 30. Oktober berichtete Schuselka diesbezüglich im Reichstage nnd
teilte der Versammlung mit, daß die Beratung vom 29. Oktober ,in Beziehung auf
die Frage, ob die Verteidigungsraaßregeln fortgesetzt werden sollen«, mit Zustim¬
mung des permanenten Ausschusses im Vorsaale stattgefünden hat. Über den
Standpunkt der Permanenz erklärte er: Die ganze Stellung des Reichstags*: usschosses
und, wie er sich überzeugt halten zu können glaubt, auch des ganzen Reichstages
gegenüber diesen Ereignissen ist eine unveränderte geblieben; wir sind durch das,
was geschehen ist und was von manchen vielleicht vorhergesehen wurde, in
unserer Stellung nicht erschüttert worden und durften es nicht werden.
•) Im Manuskripte unterstrichen.
®) Nachdem Messenhauser selbst eingesehen, ein weiterer Widerstand sei
fruchtlos, schlug er eine Deputation an Windischgrätz vor, um denselben zu
»halbwegs menschlichen« Bedingungen zu vermögen. Die Mehrzahl der bewaffneten
Korps stimmte zu und entsandte vier Deputierte, denen sich drei Gemeinderats¬
mitglieder im Namen d*'s Gemeinderates imschlossen. Als sich die Deputation noch
in später Nachtzeit in den Reichstegbausschuß begab, um auch ihn zur Beteiligung
zu bewegen, wurde selbe abschlägig bt schieden, da .die Sache den Reichstag
Die Reichstagspermanenz im Oktober 1848.
153
vom 30. Oktober kund, worin es ausdrücklich heißt, daß der Ausschuß
weder an seiner Beratung, noch an der Veranlassung dazu irgendwie Anteil
genommen hat. (Das ist doch ein offenes Geständnis) 1 ). Freilich mußte
sich am 30. Oktober, wo die Schlacht bei Schwechat von Permanenzmit-
gliedem am Turme 8 ) beobachtet 3 ), zu neuem Widerstande aufgefordert
wurde, der Ausschuß für den Fall decken, wenn der Aufruf reüssiert hätte.
Es ist nun nicht die Aufgabe der politischen Erhebungskommissiön,
die einzelnen Personen der Reichstogspermanenz auszumitteln, welche sich
durch ihre Handlungen und Beschlüsse als Urheber und tätige Beförderer
des Aufruhrs wohl am Ende des Hochverrates schuldig gemacht haben 4 );
einige davon, als Kudlich, Füster, Goldmark und Violand sind
bereits vom Wiener Kriminalgerithte steckbrieflich verfolgt 5 ), Fischhof 6 )
befindet sich gegenwärtig im Kriminalverhafte, verweigert aber über sein
Wirken in der Reichstagspermanenz Rede und Antwort, indem er die Un¬
verantwortlichkeit als Deputierter in Anspruch nimmt und meint, wenn er
diesfalls als Angeklagter erscheine, so müsse auch der Minister, mit
dessen Vorwissen die Beschlüsse gefaßt wurden, auf der An¬
klagebank sitzen 7 ). Es ist vorauszusetzen, daß der Herr
nichts anginge«, obwohl selbst das Studentenkomitee seinen Vizepräsidenten ent¬
sendet hatte. Vgl. dazu weiter oben.
i) Während um die vierte Nachmittagsstunde des 30. Oktobers General v. Cordon
die Übereinkunft im Namen des Fürsten Windischgrätz Unterzeichnete und der
Wiener Deputation einhändigte, worin die gänzliche Durchführung der übergabs-
bedingungen festgesetzt wa-, war auf die Nachricht: Die Ungarn kommen! Wien
gänzlich wie umgewandelt, an den Straßenecken erschienen Überschwängliche Plakate,
die Partei des Widerstandes hatte im Handumdrehen wieder die Oberhand gewonnen.
Von einem Plakate der Permanenz aber verlautet in den Zeitungsberichten kein Wort.
*) Gemeint ist hier wohl der Stephansturm in Wien, doch befand sich (vgl.
weiter oben) noch ein zweites Observatorium auf der Universitätssternwarte.
*) Mit Bestimmtheit erfahren wir bloß einen Namen von allen Permanenz¬
mitgliedern. und das ist Goldmark, welcher in Gesellschaft Messenhausers vom
Stephansturme der Schlacht gefolgt war.
«) Durch Ratsbeschluß des Wiener Kriminalgerichtes vom 27. Februar 1849
wurden in der Tat Dr Ernst von Violand und Hans Kudlich des Verbrechens des
Hochverrate bezüchtigt.
*) General Weiden hat schon (Helfert, Geschichte Österreichs, IV. 3, 502) im
Februar 1849 nach Ofen berichtet, »wie schwer graviert viele der Reichstagsdepu¬
tierten erscheinen, namentlich Goldmark, Fischhof und mehrere andere, in
einer Art, die sie sogar für den Galgen reif macht«. Die vier Genannten
waren rechtzeitig von Kremgier nach der Parlamcntsauflösung ins Ausland ge¬
flüchtet; festgenommen wurden daselbst nur Fischhof und Prato, »gerade
zwei der Miudestschuldigen«, wie sich Helfert ausdrückt (Helfert, Geschichte Öster¬
reichs, IV. 3. 323).
•) Die Untersuchung gegen rischhof wurde zwar am 7. September 1849 »wegen
Absangs rechtlicher Beweise« eingestellt, doch wurde derselbe erst am 2. Dezember
1849 auf freien Fuß gesetzt.
•) Dieselbe Ansicht findet s ch übrigens auch in der Literatur vertreten. Smets
(Das Jahr 1848, H. 594 *) z. B. schreibt: »Das Allermerkwürdigste, eine noch nie
aageweaene Absonderlichkeit ab*r war es, daß derselbe Minister, der die Beschlüsse
des reich stfigiichen Ausschusses willfährigst vollzog, dem Nationalgardeoberkom-
mando die Befehle erteilte und das Geld zur Verteidigung Wiens auB dem Staats¬
schätze her gab, nach dem Siege der Reaktionsherrschaft mcht auf die Anklagebank
kam, ja noch drei Jahre im Ministerfauteil weiter amtierte, während diejenigen,
welche mit seiner Genehmigung die Stadt gegen Jeiarid imd gegen den ohne kon¬
stitutionelle Kontrasignatur bevollmächtigten kaiserlichen Feldherrn, den Fürsten
154
Hugo Traub.
Minister, mit dessen Zustimmung allerdings mehrere Be¬
schlüsse, besonders wegen der finanziellen Unterstützung
des Aufruhrs, erfolgten, sich darüber durch überwiegende
Gründe würde rechtfertigen können 1 ); aber es ist nach den dar¬
gestellten Daten Gröberes geschehen, und zwar ohne Ministerialzustimmung.
Wie weit die Unverantwortlichkeit eines Volksvertreters gehe, darüber haben
wir in Österreich noch kein Gesetz, und es kann daher diesfalls nur die
Übung anderer konstitutionellen Staaten gelten. Nach dieser Übung be¬
steht sie nur darin, daß ein Volksvertreter über seine in der Reichsver¬
sammlung gehaltenen Reden und ausgesprochenen Grundsätze weder während
noch nach der Sitzung zur Verantwortung gezogen werden dürfe. Soviel
ist jedenfalls gewiß, daß die Unverantwortlichkeit so weit nicht gehen
kann, daß eine Reichsversammlung, zumal eine konstituierende, über ihr
Mandat hinausgehe, sich die Exekutivgewalt anmaße, aus sich einen Aus¬
schuß bilde, der sich zum Umstürze des Bestehenden mit fremden
Organen, als mit dem Studentenkomitee, den Demokratenklubs in Verbindung
setzt und so als eigenmächtiger Konvent eine verderbliche Wirksamkeit an
den Tag legt. Ein solches Wirken wird in allen konstitutionellen Staaten,
wir sahen es in Frankreich, in Preußen, in Sachsen, allerdings als strafbar
zu ahnden sein.
Ich halte daher dafür, daß die Mitglieder der Permanenz,
welche durch Wort und Tat als Urheber und Beförderer des
Aufruhrs, wenn ihnen nicht gar Hochverrat zur Last fällt,
sich darstellen, allerdings zur Verantwortung zu ziehen
sind; man müßte sonst unwillkürlich an das Sprichwort von großen und
kleinen Dieben denken. Ich will nicht glauben, daß alle Mitglieder der
Permanenz zu den angeführten aufrührerischen Beschlüssen mitgestimmt
haben 8 ), indessen dürften sich die Mitstimmenden, falls auch das angeblich
geführte Beratungsprotokoll unter den Reichstagsakten sich nicht
vorfinden sollte, (in welchem Falle vorsichtshalber entweder gar keines ge¬
führt, oder dasselbe absichtlich beseitigt wurde), aus den Vernehmungen der
Mitglieder von selbst ergeben.
Die politische Erhebungskommission muß es aber der Beurteilung
des Ministeriums überlassen, ob aus Anlaß der in den Reichs¬
tagspermanenzakten gegen deren Mitglieder hervorgehen¬
den Indizien eine gerichtliche Prozedur statthaben solle
oder nicht. Die Herren Charles Court, Dr. Franz Pier er in Linz,
Dr. Rechberger und der Lithograph Kaiser (201 Franz) 3 ) in Graz
dürften wohl wegen ihrer aus ihren Eingaben hervorleuchtenden, nichts
weniger als loyalen Gesinnungen ad notam genommen werden. Schließlich
Windischgrätz, verteidigten, als Rebellen der standrechtlichen Behandlung unter¬
zogen wurden«.
*) Im Manuskripte unterstrichen.
*} Nur ein einzigesmal hören wir von einem Minorität»- und Majori tätsan-
trüge in der Permanenz, als es sich nämlich um die Proklamation des Fürsten
Windischgrätz vom 23. Oktober handelte (vgl. Verhandlungen, III. 345).
•) Im Kommissionsprotokolle ist die Rede vom Grazer Lithographen Josef
Kaiser (vgl. Nr. 18 erster Teil), im Relationsberichte vom 30. Oktober heißt der¬
selbe JosefFranz.
Die Reichstagspennanenz im Oktober 1848.
153
«•achte der Gefertigte, daß nnn sämtliche diesf&llige Akten mit einer
Abschrift dieser Darstellung l ) dem hohen Ministerium des Innern zurück-
rasteilen seien.
Johann Fuchs, Kriminalrat. 28. Julius 1849.
♦
♦ *
Dies der getreue Wortlaut der ausführlichen Relation. Wenn wir
ans auch noch weiter ohne den genauen Inhalt des Permanenz b e-
ratungsprotokolles, wohl zu unterscheiden vom Geschäftsprotokolle,
begnügen müssen — hoffen wir, daß es, entgegen der obigen Behauptung,
wohl verwahrt, in Zukunft aufgefunden wird — erhalten wir doch ohne
Zweifel durch die Kenntnis der beiden Berichte, obwohl die Relation
eine lückenhafte ist, einen näheren Aufschluß darüber, worüber eigentlich
und inwiefern im Permanenzausschusse des konstituierenden Wiener
Reichstages beraten worden ist. Über das Kommissionsprotokoll, welches
ein reines Aktenstück ist, wäre nichts weiter zu sagen. Daß die Ab¬
sicht des Relationsverfassers, die Permanenz nicht nur als Haupt¬
urheberin der Oktoberereignisse darzustellen, sondern auch auf die
Behörden einzuwirken, sie mögen gegen die angeblich so stark Kom¬
promittierten rücksichtslos Vorgehen, offen zu Tage tritt, ist klar. Denken
wir uns aber die Schlüsse, welche darauf hinzielen, den verhaßten Reichs¬
tagsausschuß möglichst bloßzustellen, weg, so läßt sich nicht in Abrede
stellen, daß wir auch durch dieses Aktenstück einen nicht zu unter¬
schätzenden Beitrag zur Information und Kenntnis der Permanenzge-
bahrung gewonnen haben, und wir sind Baron Helfert, wenn sich auch
das Beratungsprotokoll vorfinden sollte, dafür nur zu Dank verpflichtet,
daß er diese Relation wohl verwahrt hat Ihr Wert liegt nicht in
allerletzter Stelle gerade in den wenn auch waghalsigen Schlüssen des
Autors, und wir können sagen, daß «das Dunkel*, welchen * Anteil der
permanente Ausschuß des Reichstages oder einzelne Mitglieder dieses
Körpers an dem bewaffneten Widerstande gegen das Einrücken der
k. k. Truppen genommen haben* 2 ), zum größten Teile durch die Ver¬
öffentlichung dieser beiden Dokumente jetzt gelichtet ist, wiewohl vor
Kenntnis des Beratungsprotokolles nicht das letzte Wort über den Aus¬
schuß gesprochen werden kann.
*) Haben wir es auf diese Art mit dem Originale oder einer gleichzeitig
besorgten Abschrift zu tun?
*) Handschriftlicher Nachkß des Freiherrn von Pillersdorff, S. 178. ^
Kleine Mitteilungen.
Ein deutscher Generalvikar Ludwigs des Bayern in der
Lunigiana, Im Notariatsarchiv zu Sarzana befindet sich ein Imbre-
viaturbuch des Notars Tommasino di Bonaccorso, der eine zeitlang
Kanzler des von Kaiser Ludwig nach dem Tode Castruccio Castracani’s
neuernannten Generalvikars der Lunigiana war. Diesem Umstand ist
es zuzuschreiben, daß uns eine Beihe von Akten eirer kaiserlichen
Statthalterschaft erhalten blieb, von der sonst jede Kenntnis verloren
gegangen ist Auf sie hat zuerst durch eine Mitteilung G. Sforza’s
veranlaßt J. v. Ficker 1 ) aufmerksam gemacht später gab dann Sforza
selber fünf Stücke in mehr oder weniger genauen Inhaltsangaben be¬
kannt 2 ). Da ich seit einiger Zeit mit den Vorarbeiten zu einer Ge¬
schichte des Reichsvikariats in Italien von Heinrich VIL bis Karl IV.
beschäftigt bin, habe ich mich wegen dieser Stücke im Jahre 1913 an
das Archiv von Sarzana gewendet dessen Vorstand A. Briganti in der
bereitwilligsten Weise für mich die Durchsicht des Imbreviaturbuches
und die in Frage kommenden Abschriften vomahm. Ich hatte ur¬
sprünglich die Absicht diese acht Instrumente in der geplanten Mono¬
graphie zu veröffentlichen. Andere Arbeitsverpflichtungen jedoch, die
ich vor kurzem übernahm 8 ), ließen eine Beendigung der begonnenen
i) Urkunden z. Reichs- und Rechtsgesch. Italiens S. 523 n. 611.
*) Storia di Pontreraoli dalle origini al 1600, (Firenze 1904) p. 203. 204. 205.
# ) Weiterführung der Neubearbeitung der VI. Abteilung 70n Böhmen Re-
gesta Imperii. — Jetzt (Juli 1£15) berührt der Gedanke schmerzlich, daß die Re¬
gestenarbeit und alle seit den letzten Jahrzehnten so ergebnisreichen Bemühungen
um die Erforschung deutscher Herrschaft und deutschen Einflusses in Italien nun
eine schwere Einbuße und eine Beeinträchtigung auf nicht abzusehende Zeit er¬
fahren sollen.
Unterst oh in d* ** r nloKsten Zeit kaum erwarten, und so erschien
es mir rwe ekml:- :j. a^t das nieht unerhebliche Interesse, das diese
Akten für die Beichs^esehiehte bieten schon jetzt aufmerksam zu machen
Mittlerweile finde ich dieselben in dem soeben ausgegebenen neuesten
Bande der iIG. Constimdones gedruckt, so daß ich einer vollständigen
Wiedergabe überhoben bin und mich darauf beschränken kann, im
fclsrenden «den Inhal: der Urkunden als der einzigen Dokumente einer
bisher unbekannten deutschen Beichsstatthalterschafl in Italien l ) im
Z^sammenh ange vorzulegen.
132 b Dezember b- Sarzana. Gebhard von Säben, Generalreiehsvikar
in der Luni^iazia. bestellt den Villanus de Bereedo zu seinem Vicevikar
daselbst für sechs Monate mit dem gleichen Gehalte, den dessen Vorgänger
Gerhard von Pistols gehabt hat, und gibt ihm Vollmacht in Zivil- und Kri-
eI naisachen nach -den Statuten des Vikariates und wo diese versagen, nach
gemeinem Bechte vorzugehen. — Sforza, Storia di Pontremoli p. 204 (*21 5)
net 29 reg.: MG. Const. VI 436 nr. 526 vollst, aus Imbreviaturbuch des
Tommasino di Bonnaccorso. 1
132fw Dezember 20. Sarzana. Tommasino di Bonaeeorso, Kanzler
Gebhards von Säben. gibt Zeugnis über ein Streitroß eines Soldritters vom
Bexterbanner des Stephan von Köln, des Söldnerfiihrers im Gebiete von
Sarzana für den tuszisehen Generalreichsvikar Grafen Friedrich von öttingen,
das auf einem Kriegszuge verendet war, den dieser Ritter im Gefolge Gebhards
gegen die reichsrebellischen Leute von Falcinello mitgemacht hat —
Sforza a. a. O. 204 ('215) not 28 reg.; MG. Const VI, 437 nr. 527 aus
derselben Quelle. 2
1329. Januar 29, Sarzana. Gebhard von Säben, Generalreichsvikar in
der Lanigiana. von Kaiser Ludwig durch Mandat vom 27. Dezember
132 b *) mit der Prüfung der Geldgebarung aller (insbesondere der zur
Doozxa salis gehörigen) Beamten dieser Provinz beauftragt, erteilt einem
schon seit Castrucrio Castracani mit dem Salzverkaufe in Vermcola Bosi be¬
trauten Beamten Decharge, nachdem er sich durch die Bilanz der Einnahmen
und Ausgaben von der richtigen Abführung des Erlöses überzeugt hat —
MG. Const VI 452 nr. 544 aus obiger Quelle. 3
1329, Februar 2, Sarzana. Derselbe quittiert dem Muciarellus von
Sarzana. über ein Darlehen von 120 Goldgulden und verpfändet ihm dafür
die dem Vikar im Namen des Kaisers zukommende Hälfte der Salzeinkünfte
in Sanana bis zur Höhe jenes Betrages, indem er dem Beamten der dor¬
tigen Doana salis die entsprechenden Weisungen erteilt; erklärt zugleich
für den Fall als vom Kaiser ein Vikarswechsel vorgenommen werden sollte,
bevor noch Muciarellus befriedigt sei, diesem statt dessen 400 Minen Salz
ä 9 aoL für die 120 Gulden verkauft zu haben. Die der Stadt gehörige
Hälfte der Salzernkünfte soll von diesen Verfügungen unberührt bleiben.
* , Auch Schäfer, Deutsche Ritter u. Edelknechte in Italien, kennt de in dem
»eben erschienenen I1L Bd., der die Ritter in kaiserlichem und ghibellinischem
Dienste au Pisa und Lucca betrifft, noch nicht.
** Dm Mandat ist nicht erhalten.
158
Kleine Mitteilungen.
— Sforza a. a. 0. 203 (215) not 27 reg. irrig zu Juni 11. MG. Const.
VI 453 nr. 545 aus der gleichen Quelle. 4
1329, Februar 3, Sarzana. Derselbe verkauft dem Guillelmus Bonvicini von
Caprigliola alle Besitzungen, die vordem dessen Sohn Johanellus innegehabt
hat, die aber wegen von diesem mit dem Kastell Caprigliola am Reiche be¬
gangenen Hochverrats jetzt dem Vikar und seiner Kurie zugefallen sind;
als Kaufpreis für diesen Besitz, der nach dem Vikariatsstatut der Lunigiana
eigentlich hätte zerstört werden sollen, erhält er vom Käufer 25 Goldgulden
ausbezahlt. — Sforza a. a. 0. 203 (215) not 27 reg.; MG. Const VI 454
nr. 546 aus derselben Quelle. 5
1329, Februar 5, Sarzana. Derselbe verkauft dem Bondelinus Martini
alle Besitzungen, die früher dem Martinellus Vite gehört haben, aber wegen
von diesem mit dem Kastell Caprigliola am Reiche begangenen Hochverrates
jetzt dem Vikar und seiner Kurie zugefallen sind; als Kaufpreis für diesen
Besitz, der nach dem Vikariatsstatut der Lunigiana eigentlich hätte zerstört
werden sollen, erhält er vom Käufer 100 Goldgulden ausbezahlt — MG.
Const VI, 454 not 1 reg. ebendorther. — Mutatis mutandis wörtlich
gleichlautend mit Nr. 5. 6
1329, März 28, Avenza. Derselbe quittiert dem Beamten der Doana
salis von Pontremoli über einen Betrag von 523 8> 12 soL, den er aus
dem Erlös des Salzverkaufmonopols von diesem erhalten zu haben erklärt.
— Sforza a. a. 0. 204 (215) not 30 reg.; MG. Const VI 467 nr. 560
aus derselben Quelle. 7
1329, April 13, Sarzana. Ein Kaufmann von Sarzana bestätigt dem
Gebhard von Säben den Empfang eines Darlehens von 217 Goldgulden und
verpflichtet sich zur Rückzahlung dieser Summe innerhalb der nächsten
15 Tage. — MG. Const. VT, 467 nr. 561 (unvollst) ebendorther. 8
Vielfach ist die Meinung verbreitet, daß schon zu Beginn des
14. Jahrhunderts die Entwicklung der späteren großen oberitalienischen
Signorieen eine nicht mehr aufzuhaltende Tatsache war *). Daß diese
Meinung irrig ist, ergibt nicht nur die kurze Herrschaft Heinrichs VH,
es tritt auch noch bei gelegentlichen Maßnahmen Ludwigs des Bayern
deutlich zutage. Wenn es nach der Absetzung des Galeazzo Visconti,
als Graf Wilhelm von Montfort das Amt eines Vikars von Midland und
eines Generalvikars der ganzen Lombardei ausübte, in den reichsge¬
treuen Gebieten Italiens noch ein Geschlecht gab, dem man eine vom
Reiche unbehelligte Machtentfaltung Voraussagen konnte, so war es
gewiß in erster Linie das des weithin gebietenden GhibellinenfÜhrers
Castruccio Castracani degli Antelminelh *), dessen Erfolge den Wittels¬
bacher nötigten, ihm die Keichsvikariate von Lucca, Lunigiana, Pistoia
und der benachbarten Gegenden, schließlich auch dasjenige von Pisa zu
*) Ich enthalte mich in der nachfolgenden Skizze aller eingehenderen Belege
und behalte mir vor, dieselben in der erwähnten Monographie zu bringen.
*) Vgl. über ihn Winkler, Castruccio Castracani Herzog von Lucca (1897),
und neuerdings Davidsohn, Gesch. von Florenz HL Bd. (1912).
Ein deutscher Generalvikar Ludwigs des Bayern in der Lunigiana. 159
übertragen und dem als Reichsbannerträger und Herzog von Lucea nur
noch die Königskrone von Toskana zu fehlen schien. Und doch war
es gerade der Kaiser, der der Herrschaft dieses Geschlechtes ein Ende
bereitete. Castruccios Ehrgeiz hatte sich die Niederwerfung von Florenz
zum Ziele gesteckt, aber als ihn hierin die Unterstützung Ludwigs verließ
bewahrte nur der vorzeitige Tod (3. Sept. 1328) sein Andenken vor¬
dem Makel offenen Verrates an der Sache des Reiches. Die Strafe, die
den Mächtigen nicht mehr erreichen konnte, traf nur in gelinder Form
dessen Söhne, die noch nach den Weisungen des Vaters sich höchst
selbstherrlich in den Besitz der Herrschaft gesetzt hatten. Das Macht¬
gebiet des Castruccio wurde zersprengt. Während in Pisa Tarlatino da
Pietramala, in Pistoia Andrea da Chiaravilla die Statthalterschaft er¬
hielten *), errichtete der Kaiser in Toskana ein umfassendes General¬
vikariat, mit dem er den Burggrafen Friedrich von Nürnberg betraute.
Erst als sich dieser zu tief mit Castruccios Söhnen einzulassen begann,
entschloß sich Ludwig das Regiment der „Duchini“ auch in Lucca ent-
gültig zu beseitigen. Der Hohenzoller wurde des Amtes entsetzt und
an seine Stelle im November 1328 Graf Friedrich von öttingen zum
Generalvikar Toskanas bestellt, der die Regierung Luccas mit Hilfe eines
eigenen Kollegiums von zehn kaiserlichen Raten führte 2 ).
Etwa um dieselbe Zeit hat der Kaiser auch in der Lunigiana einen
Deutschen zum Generalvikar eingesetzt: es war der Ritter Gebhard von
Saben 8 ). Im Gefolge des Kaisers ist er nirgends nachweisbar und es
bleibt eine offene Frage, ob er Ludwig auf dem italienischen Zuge be¬
gleitet hat oder ob er etwa aus den Reihen jener deutschen Ritter
stammt, die damals, z. T. vielleicht schon seit den Zeiten Heinrichs VIL,
im Dienste Pisas standen und von denen ein nicht unerhebliches Kon¬
tingent auch im Pisänischen Sarzana vorhanden war 4 ). Der Amtssprengel
dieses Generalvikars nun umfaßte zugleich das Gebiet von Verrucola Bosi,
das früher zu Lucca gehört hatte, das aber 1312 vom Markgrafen
Spinetta Malespina, Heinrichs VII. ehemaligem Vikar in Reggio, der
t) Vgl. jetzt Davidsohn a. a. 0. III, 860.
*) Bongi, Bandi Lucchesi lei sec. XIV p. 243; dazu MG. Constit. VI 430
l 37—39 (nr. 523 § 1). Nur zum Teil richtig ist die Bemerkung von Davidsohn
a. a. O. III. 862 zu Anm. 3.
*) In den Aktenstücken wird er ständig Gabuardus de Sabioh genannt. Ga-
buardus ist eine italienische Ve •ballhornung von Gebhard (vgl. Schäfer, Deutsche
Ritter u. Edelknechte I, 99) und kommt so auch in Südtirol vor (vgl. Acta Tiro-
lensia II, 532). Sabioh kann, zunml durch Urkunde nr. 4 sichergestellt ist, daß es
sich um einen deutschen Ritter (miles tehotonicus) handelt, nur mit Sabion(a)
ä Sähen b. Brüten aufgelöst werden.
4 ) Vgl. neuerdings Schäfer, Deutsche Ritter u. Edelknechte III, 4 f. 7.
160
Kleine Mitteilungen.
Stadt entrissen und schließlich 1319 von Castruccio wieder zurückge¬
wonnen worden war. Auch das zu Pisa gehörige Sarzana, Lunigianas
Hauptstadt, war kurz bevor es unter Heinrich V1L dem Beiche ge¬
wonnen wurde, lucchesischer Besitz. Ist dieser Ork, wie man annehmen
kann 1 ), unter Castruccio wieder zu dem (jetzt ghibellinischen) Lucca
bezogen worden, so mag damit Zusammenhängen, daß die neue Ordnung
Ludwigs des Bayern die dortige Gegend und wohl überhaupt den Vika¬
riatssprengel Lunigiana in gewisser Beziehung dem Generalvikar von
Toskana, Grafen Friedrich von Öttingen unterstellte. Graf Friedrich unter¬
hielt im Gebiete von Sarzana eine ständige Reiterabteilung, die unter
dem Befehle des Söldnerführers Stephan von Köln stand und die dem
Vikar der Lunigiana auf Zügen gegen Reichsrebellen Beistand geleistet
zu haben scheint (Urk. n. 2). Unter Heinrich VH. war die Vikarie Lu¬
nigiana bis in die letzte Zeit dem Generalvikariat von Genua angegliedert
gewesen, jetzt unter Ludwig stand sie mit dem von Toskana in Ver¬
bindung. Sie erscheint da mit einer eigenen Rechtsordnung ausgestattet,
mit Statuten, nach denen der von Gebhard für ein ha l bes Jahr einge¬
setzte Vizevikar das Recht zu sprechen hatte (Urk. n. 1), von denen
wir aber nichts weiter wissen, als daß eine Bestimmung derselben fest¬
setzte, Güter von Reichsrebellen aus dieser Provinz hätten der Zerstörung
anheimzufallen (Urk. n. 5 und 6). Ob diese Statuten zu der Neuregelung
Ludwigs des Bayern irgendwie in Beziehung standen, läßt sich nicht
ermitteln. Nur das eine ist gewiß: für Lucca hat der Kaiser am 30. No¬
vember 1328 eine sehr eingehende Vikarsordnung erlassen a ) und ganz
ähnlich wie in dieser dem Grafen Friedrich von öttingen, hat er mit
Mandat vom 17. Dezember seinem Vikar der Lunigiana aufgetragen, die
Beamten des ihm anvertrauten Sprengels, soweit vor allem die Salzein¬
nahmen in Betracht kamen, zur Rechnunglegung heranzuziehen (Urk.
n. 3). Mit den Vikaren, die Ludwig im ehemaligen Machtgebiete des
Castruccio einsetzte, sollten diese Gegenden wieder durch Beamte verwaltet
werden, die dem Kaiser unmittelbar zur Verfügung standen. Gebhard
von Säben sehen wir in seinen Handlungen davon beeinflußt, daß er
jederzeit abgesetzt und durch einen anderen Vikar ersetzt werden konnte
(Urk. n. 4). Wie lange Gebhard im Amte blieb, ist nicht überliefert.
Zuerst tritt uns seine Tätigkeit im Dezember 1328 entgegen, die letzte
Rechtshandlnng, in der er erwähnt ist, gehört in den April 1329, nennt
ihn aber nicht mehr mit dem Titel eines Vikars und es hat den An¬
schein, als ob er damals vom Reichsamte schon zurückgetreten war;
jedenfalls dürfte dieses nicht lange nachher aufgehört haben zu be-
*) Vgl. Winkler, Castruccio 60.
f ) MG. Constit. VI 430—32 inr. 523), bes. § 8 (432 1. 8-20).
Zur Geschichte Ragnsas im 14. Jahrhundert.
161
stehen, denn ein Schreiben des General vikars Terlatino da Pietramala
und des Sates yon Pisa an die Stadt Sarzana vom 16. Juni 1 ) ist nur
an Anzianen und Bat gerichtet, nicht aber zugleich an einen Vikar,
dessen sonst an erster Stelle hätte gedacht werden müssen. So hat die
Episode eines deutschen Generalvikars in der Lunigiana nach kurzer
Dauer ihr Ende gefunden.
Wien. V. Samanek.
Zur Geschichte Ragnsas im 14. Jahrhundert. In der Revue
des question8 historiques (April- und Juliheft 1913) veröffentlichte der
Graf Louis de Voinovitch einen Artikel: „Les Angevins ä Ra¬
gas a“, der Aufklärung gibt über ein kurzes Kapitel mittelalterlicher
Geschichte, für das die Quellen nur sehr dürftig fließen. Eine kleine
Ergänzung zu diesen Aufzeichnungen bietet ein Brief, den der arago-
nesische Gesandte an der römischen Kurie am 2. April 1384 an seinen
König sandte, und den ich in meiner Arbeit: „Urban VI. und Neapel“
mitgeteilt habe. Es ist dies der einzige Fall, daß aus einer nicht ra-
gusanischen Kanzlei eine Notiz über die Gefangennahme der Franzosen
und eine Angabe der Namen der Gefangenen überliefert ist. Eine
Tatsache darin ist aber vollkommen neu: nämlich daß Karl von Du-
razzo der erste Fürst war, der in Unterhandlung mit den Ragusanem
wegen der Auslieferung der Gefangenen trat Voinovitch hält es für im
Wesen mittelalterlicher Diplomatie begründet, daß man erst im Juli
mit auswärtigen Fürsten in Unterhandlung trat, während die Gefangen¬
nahme schon im Janaar stattgefunden hatte. Durch diesen Brief ist
aber nun nachgewiesen, daß Karl von Durazzo, der das größte Interesse
daran haben mußte, die tüchtigsten Führer seines Gegners in seine
Gewalt zu bekommen, schon vor dem Monat April Schritte zur Er¬
reichung dieses Zieles unternommen hatte. Damit konnte man auch
den Gesandten »Domini Regie“ (S. 380), der als erster nach den ragu-
sanischen Quellen in das Castrum eingedrungen sei, um mit den Ge¬
fangenen zu sprechen, viel zwangloser auf einen Bevollmächtigten
Karls HL als des Königs von Frankreich deuten.
Fenier fallt damit die Behauptung von De Diversis weg, daß Ur¬
ban VL als erster die Gefangenen verlangt habe (S. 12 Anm. 2). Dies
wurde nur insofern stimmen, wenn man die päpstliche Politik im Monat
Apnl mit der Karls von Durazzo identifizierte. Beide standen damals
noch in friedlichen Beziehungen. Voinovitch irrt wenn er angibt daß
*) MG. Court. VI 493 nr. 591.
162
Kleine Mitteilungen.
schon zu Beginn des Jahres 1384 das Verhältnis zwischen Papst und
König getrübt war (S. 11). Erst im Januar 1385, nach der Aufdeckung
der KardinaUverschwörung hat Urban Karl exkommuniziert; eine Ver¬
stimmung hatte zwar schon längere Zeit bestanden, und die l ber-
siedeluug des Papstes nach Nocera im Juni kann man wohl als den
frühesten Termin für die Eröffnung der Feindseligkeiten auffassen.
Aus der Tatsache, daß schon mit Karl von Durazzo verhandelt
worden war, ist nun viel deutlicher die zweideutige Stellung der Signorie
im weiteren Verlauf des Jahres 1384 zu erklären; ferner versteht man
auch, warum das urbanistische Ragusa, nach Karls Bruch mit dem Papst,
den Unterhandlungen mit Neapel auswich und schließlich die Aus¬
lieferung verweigerte. Auch die veränderte Stellung Karls zu „nos
Dames de Hongrie* mag von Einfluß gewesen sein, daß Karl die sichere
Beute entging und das zuversichtliche: „quos habebit infallibiliter* des
aragonesischen Gesandten sich nicht bewahrheitete.
Freiburg i. B. Margarete Kothbarth.
Zur Prälatenhilfe für die Wiener Universität im XVI. Jahr¬
hundert. Wie schwer die kirchlichen Institute in der sogenannten
niederösterreichischen Ländergruppe in den Tagen Ferdinands L unter
dem Drucke der Türkennot einer- den Zuständen, die sich unter der
Einwirkung der Beformation herausgebildet hatten, andererseits zu
leiden hatten, ist zuletzt noch durch die Ausführungen in meinem Buche
t Das Kirchengut in Steiermark im 16. und 17. Jahrhundert 11 festge¬
stellt worden. Da ist es in einem Jahre die Terz, nach welcher der
dritte Teil aller geistlichen Einkünfte eines Jahres eingehoben und für
Zwecke des Türkenkriegs verwendet werden durfte, in einem anderen
Jahre die Einziehung der Kirchenkleinodien und dieser folgt fast un¬
mittelbar die Quart, die gar den vierten Teil alles Besitzes der toten
Hand für Zwecke des Türkenkriegs in Anspruch nimm t. Und das war
noch lange nicht alles. Aus den beiden unten mitgeteilten Quittungen,
die den Archivsbeständen des ehemaligen Stiftes Seckau entnommen
sind, ersieht man, daß die Klöster der genannten Länder auch für die
Bedürfnisse der Wiener Universität aufrukommen hatten. Die zweite
der unten mitgeteilten Quittungen beansprucht zunächst wegen der
Persönlichkeit des Historikers Wolfgang Lazius ein größeres In¬
teresse. Aber auch sachlich ist sie wie die ihr vorangehende und so
noch viele, die sich in verschiedenen Archiven geistlicher Körperschaften
Zur Prälatenhilfe für die Wiener Universität im XVL Jahrhundert. 163
befinden l ), belangreich. Ferdinand L wurde zweifellos durch den Nieder^
gang der Wiener Universität, den er bei seinem Regierungsantritt wahr-
nehmen mußte, empfindlich berührt und er zögerte nicht, den traurigen
Zustand der Universität zu ändern 1 ). Da dieser nicht sum geringsten
Teil auf rein wirtschaftliche Ursachen zurückzuführen war, wurden
nach mehrfach mißglückten Versuchen, die fehlenden Geldmittel durch
Inkorporation # von Kloetergötem zu beschaffen, im Jahre 1528 die
Prälaten von Nieder- und Oberösterreich, später auch die von Inner¬
österreich zu jährlichen Beiträgen nach Maßgabe ihrer Einkünfte ver¬
pflichtet 8 ). Diese sogenannte Ä Prälatenhilfe“, die fortan im Budget
der Universität eine große Rolle spielte, belief sich im Jahre 1535
rechnungsmäßig auf ungefähr 1000 Gulden, war aber in Wirklichkeit
viel geringer, da die meisten Stifter mit der Bezahlung jahrelang zögerten
oder sie ganz schuldig blieben, wie man den mehrfach erhaltenen
Mahnschreiben entnimmt. Indessen war auch die Hälfte der prälimi-
nierten Beträge, wie sie im Jahre 1549 tatsächlich entrichtet wurden 4 ),
hinreichend, um wenigstens in den drei oberen Fakultäten einige Lehr¬
kanzeln zu besetzen. Ober die Art und Weise, wie die einzelnen Kon¬
tributionen an das Universitätskonsistorium abgeführt wurden, darüber
geben die folgenden Quittungen einige Auskunft
1 .
Ulrich Gebhart 5 ), beider Rechte Doctor, Rat der kgl. Majestät
derzeit Rektor der Wiener Universität Dr. med. Pilhamer, kgl. Rat und
l ) Quittung über die vom Stifte Zwettl für die Wiener Universität entrichteten
20 Gulden im Zwettler Stiftearchive vgl. das Regest in Quellen zur Geschichte der
Stadt Wien I 1, 175. Fünf Quittungen für das Stift Neuberg aus den Jahren
1545—1550 im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien. Dazu ein Mahnschreiben
König Ferdinands L an das Stift Lilienfeld vom 24. September 1537 in Quellen
z. Gesch. der Stadt Wien I, 1, 203. Ich danke diese, wie die anderen über die
steiermärkischen Materialien hinausgehenden Mitteilungen der Freundlichkeit von
0. Redlich, dem sie durch den Universit&tsarchivar Sektionsrat Dr. Arthur Gold-
mann übermittelt wurden.
*) 8. hierüber mein Buch »Die Beziehungen der steiermärkischen Landschaft
zu den Universitäten Wittenberg, Rostock, Heidelberg, Tübingen und Straßburg
S. 2. Dort wird unter dem Hinweis auf das zu Gunsten der Wiener Universität
erlassene Mandat vom 26. Jnli 1534 eine Stelle aus der (noch ungedruckten)
Rotten mann er Chronik angeführt, die sich über die 8ache des Näheren verbreitet.
*) Mitt v. Dr. Goldmann. VgL Kink, Geschichte der Wiener Universität I,
278. Ein Verzeichnis der m-5. Stifter und ihrer Beiträge aus dem Jahre 1530 bei
Wiedemann, Gegenreformation I, 74, eines vom Jahre 1549 für alle 5 Herzogtümer
bei Kink a. a. 0. l> 2, 156—158.
«) Kink, I, 2, 156.
*) S. Sch rauf, Die Gedächtnistafeln der Wiener UniverrtitaUrfektoren 1305—
1843 S. 17.
164
Kleine Mitteilungen.
Leibarzt, oberster Superintendent der Universität, Dr. mecL Johannes
Entzianer, erwählter Superintendent der Universität und Magister Hans
ßasteiner, Prior des fürstlichen Kollegiums, bestätigen, von dem Propst
und dem Kollegium des Stiftes Seckau 20 U Pfennig, die das Stift auf
Befehl Ferdinands I. de dato Wien 29 Juni 1535 neben den andern
Stiftern der n.-ö. Lande «zu Wiederaufrichtung und Erhaltung der
Wiener Universität* alljährlich zu bezahlen hat, richtig erhalten zu
haben.
Wien 1536 Juni 5.
Orig. Die aufgedruckt gewesenen vier Siegel sind abgefallen. Eigen¬
händige Unterschrift der Genannten. (Steierm. L-Arch. Spezialarchiv Seckau).
2 .
Wolfgang Lazius, Dr. der Arznei und derzeit Rektor der Wiener
Universität, Johann Baptist Pacheleb Dr. beider Rechte, kgl Rat und
Kammerprokurator in Niederösterreich, Ambrosius Salzer der hL Schrift
Lizenziat und Domherr bei St Stephan Superintendenten der Universität
und Magister Thomas Pilsanus derzeit »Prior des herzoglichen Kol¬
legiums* bestätigen vom Propst zu Seckau den für dieses Stift be¬
stimmten Beitrag von 8 & jährlich »zur Erhaltung der hohen Schule
in Wien* erhalten zu haben.
Wien 1546 Dezember 15 1 ).
Vier Siegel der obengenannten Personen aufgedrackt Eigenhändige
Unterschriften. Außen die Notiz: Bekentnus vom docttor Wolffgang Latz
um etlich puecher, so er aus der liberei entlechendt 1546. (Orig. Steierm.
L.-Arch. wie oben).
*) S. Schrauf 17, 18.
J. Loserth.
Literatur.
1. Historische Aufsätze Karl Zeumer zum sechzigsten
Geburtstage als Festgabe dargebracht von Freunden und
Schülern. Weimar, Hermann Bohlaus Nachfolger, 1910, YI und
651 S.
2. Festschrift Heinrich Brunner zum siebzigsten Ge¬
burtstag dargebracht von Schülern und Verehrern, ebend.
1910, VI und 842 S. Mit dem Bildnisse des Jubilars.
3. Festgabe der Berliner juristischen Fakultät für
Otto Gierke zum Doktorjubiläum, 21. August 1910. 3 Bände.
Breslau, M. u, H. Marcus, 1910, 178 -f- 611 + 359 S.
4. Festschrift Otto Gierke zum siebzigsten Geburtstag
dargebracht von Schülern, Freunden und Verehrern. Mit
einem Bildnis. Weimar, Hermann Böhlaus Nachfolger, 1911, VI und
1268 SS. i).
Am 31. Juli 1909 trat Karl Zeumer in sein einundsechzigstes
Lebensjahr. Der 21. Juni 1910 war Heinrich Brunner’s siebzigster
Geburtstag. Wenige Wochen später, am 21. August 1910, feierte Otto
von Gierke den Erinnerungstag seiner vor fünfzig Jahren in Breslau er¬
folgten Promotion zum Doktor der Rechte und am 11. Jänner 1911 voll¬
endete er sein siebzigstes Lebensjahr. Kollegen, Freunde, Verehrer und
Schüler, Historiker und Juristen, deutsche und nichtdeutsche Forscher hul¬
digten aus diesem Anlasse den gefeierten Meistern deutscher Rechtswissen-
i) Im Weiteren als FZ, FB, FG I. und FG II. bezeichnet. — Vgl. die inhalts¬
reichen Besprechungen von FZ, FB und FG II. durch E. Hey mann, A. B.
Schmidt und A. Werminghoff in der Zeitschrift der Savigny-Stiffcung für
Rechtsgeschichte, German. Abt. (Z*RG), XXXII. 420—457, ferner die Referate im
Neuen Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde (NA), Band
36 und 37. — Mein Bericht wurde, von kleinen Nachträgen abgesehen, im März
1914 abgeschlossen.
166
Literatur.
Schaft und Rechtsgeschichte in aufrichtiger Anhänglichkeit und Bewunderung-
durch die Mitarbeit an vier stattlichen Festschriften. Mehrere von ihnen
beteiligten sich an zwei, einzelne sogar an drei dieser literarischen Gaben.
Im Ganzen sind es 103 Mitarbeiter mit 124 Beiträgen. In der Widmung
der Berliner Juristenfakultät für 0. v. Gierke überwiegen die juristisch¬
dogmatischen Abhandlungen, in der Festgabe für K. Zeumer herrscht der
verfassungsgeschichtliche und quellenkritische Stoff vor. Sie alle aber geben
lebendiges Zeugnis von der gewaltigen, bahnbrechenden und fruchtbringenden
Förderung, welche die Wissenschaft der unermüdlichen Arbeit dieser großen
Gelehrten und Lehrer zu danken hat. Die umfangreiche und mühevolle
Aufgabe der Vorbereitung und Herausgabe besorgten für FZ Mario
Krammer, für FB Rudolf Hübner, für FG n. Ulrich Stutz. Von dem
reichen und wertvollen Inhalte soll in dieser Anzeige nur jener Arbeiten
Erwähnung geschehen, die sich einigermaßen in den Rahmen dieser Zeit¬
schrift einfugen lassen.
I. Fränkische Verfassungsgeschichte. Für die Chronologie
der Merowinger, nicht minder für das Staatsrecht jener Zeit ist von großer
Bedeutung der Aufsatz von B. Krusch, »Der Staatsstreich des
fränkischen Hausmeiers Grimoald L € (FZ 411—438). Auf Grund
des »über historiae Francorum € nahm man bisher ziemlich allgemein an, daß
der Staatsstreich Grimoalds und dessen Verurteilung in die kurze Zeit
zwischen den Tod des austrasischen Königs Sigibert HI. (656) und das
Ableben des neustrischen Königs Chlodoveus (657) zu setzen sei x ). Wie
schon in einer seiner früheren Arbeiten 2 ) tritt K. nunmehr an der Hand
verstärkten Beweismaterials, namentlich auf Grund eingehender Prüfung
der fränkischen Königskataloge und durch urkundliche und hogiographische
Forschung neuerlich dafür ein, daß Grimoald, der schon unter Sigibert IH.
allmächtiger Hausmeier war, in dieser Eigenschaft etwa noch sechs Jahre
nach dem Tode dieses Königs das Ostreich verwaltete, zunächst Sigiberts
unmündigen Sohn Dagobert IL selbst zum König erhob und mindestens
vier Jahre für ihn die Zügel der Regierung führte 8 ). Der bekannte Staats¬
streich, durch den Dagobert II. entsetzt und nach Irland verbannt wurde,
hingegen Grimoalds Sohn Childebert, der als Adoptivsohn Sigiberts HL
einen merowingischen Namen erhielt, auf den Thron kam, sei daher mehr
gegen das Ende der Regierung dieses Hausmeiers zu setzen.. Den Sturz
Grimoalds, der selbst nie König war, legt K. nicht vor 662, so daß Chlo¬
doveus mit diesem Strafgerichte, dem offenbar auch der junge König Chil¬
debert zum Opfer fiel, nichts zu schaffen hat. Als einzigen heute bekannten
Regierung8akt dieses ersten Königs aus karolingischem Hause führt K. aus
der Biographie des Bischofs Nivard von Reims eine Steuer- und Zollfreiung
l ) Vgl. Mfthlbacher, Deutsche Geschichte unter den Karolingern (1896) S. 30,
ferner Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern (1889] S. 4 und 770.
*) Forschungen zur deutschen Geschichte, XXU. 473 ff. vgl. auch G. Schnürer,
Die Verfasser der sog. Fredegar-Chronik (1900) S. 138 und jetzt B. Schmeidler im
NA XXXVL 246, sowie Hann in den Jahresberichten der Geschichtswissenschaft,
Bd. 33/1 S. H. 68.
*] Vgl. die Erklärung der Worte: Facta exemplaria etc. in der Schenkungs¬
urkunde Grimoalds für das Kloster Malmedy und Stavelot, die Grimoald ab »duz«
bezeichnet und von K. in das Jahr 659 gesetzt wird, daher der ersten Regierungs¬
epoche Dagoberts IL angehört. A. a. 0. 427 ff.
Literatur.
167
für diese Kirche an und reiht sie in die Jahre 661 oder 662 x ). — Als
»Beitrag zur fränkischen Verfassungs- und Rechtsgeschichte im Allgemeinen
und zur Geschichte des Eigenkirchenrechts im Besonderen* bezeichnet
U. Stutz seine scharfsinnige, an neuen Ergebnissen reiche Abhandlung*):
Karls d. G. divisio von Bistum und Grafschaft Chur (FZ. 101
—152). An seine Forschungen über das Eigenkirchenrecht und an Unter¬
suchungen anderer Gelehrten anknüpfend, beleuchtet er die Maßnahmen Karls
des Gr. für Chur, die vermutlich im Gefolge der sogenannten Reichsteilung
von 806 erfolgt sind. Er sieht in ihnen im 8inne der herrschenden An¬
sicht, die er mit neuen Gründen stützt, nicht etwa eine Kirchengutent¬
ziehung, sondern eine Zerlegung von Bistum und Grafschaft, eine durch
die Organisation des fränkischen Reiches gebotene Aufteilung der bis dahin
in der Familie der Viktoriden vereinigten geistlichen und weltlichen Gewalt
auf nunmehr zwei Machthaber, den Bischof und den Grafen. Die vielum¬
strittene Urkunde für Chur, die zur Zeit 3 ) in das Jahr 773 eingereiht wird,
ist auch für St. nicht etwa ein Bischofswahlprivileg. Sondern als Karl d. G.
Konstantins als Bischof und Rektor bestätigte, wenn nicht gar frei ein¬
setzte, wollte er unter dem Rektorate »die weltliche Herrschaft, die bürger¬
liche Verwaltung* verstanden wissen. Au die Arbeit Mutzner’s 4 ) an¬
knüpfend, zeigt St im Folgenden, daß erst nach Karl dem G. der Inhalt
dieses Privilegs, den geänderten Verhältnissen entsprechend, auf »die Bi¬
schofswürde beschränkt* und zu einem »Muntbrief und Bischofewahlpri-
vileg* umge8taltet wurde 5 ). Eingehend würdigt er auch die der Kirche
von Chur von Ludwig L in Erledigung der Klagschriften des Bischofs
Viktor, jedoch unter Aufrechterhaltung der »divisio* und der eigenkirchen¬
rechtlichen Befugnisse des Königs und der Großen erteilten Begünstigungen
(neuerliche Aufnahme in den Königsschutz, Verleihung der Immunität»
Rückgabe einiger dem Bistum zu Unrecht entzogener Stücke). Für die
Gestaltung der Beziehungen Rätiens zum Frankenreiche lassen sich daher
mit St. drei Stadien annehmen. Bis in die ersten Jahre Karls d. G. ist das
Gebiet nur lose dem Frankenreiche angegliedert. Das Land ist ein »halb-
souveräner Kirchenstaat*, in dem geistliche und weltliche Gewalt schließlich
sogar in einer Hand vereinigt waren. Die erste entscheidende Einflußnahme
der karolingischen Zentralgewalt verwandelte nach dem Aussterben der
Viktoriden um 773 für Konstantins das »Wahlherkommen* in ein könig¬
liches Privileg und nahm den rätischen Machthaber, Episkopat und Rektorat
in dessen Funktionen begrifflich schon auseinanderhaltend, mit seinem
Volke »in die königliche Munt- und Schutzgewalt* auf. Doch bald löste
sie diese Personalunion zwischen Bistum und Rektorat, ordnete die völlige
Einverleibung des Gebietes in das Frankenreich an, führte dort auch die
Giufechaftsverfassung ein, zu der unter Ludwig L noch die Immunität
t) M. G. SS. rer. Merov. V. 164.
») A uch im Sonderabdruck erschienen: Weimar 1909. Vgl. Stutz in Z*
RG XXX. 476.
*) M. G. Dipl. Kar. L 111 Nr. 78 mit ca. 772—74 datirk In den Karolinger¬
regesten (Nr. 156) zu 773 gesetzt.
*) Zeitschrift für schweizerisches Recht, XLIX. 86 ff.
*) VgL die Urkunde Lothars L (843), die sich vermutlich wörtlich an eine
Vorurkunde seines Vaters anschließt.
168
Literatur.
kam, und trennte das Domanialvermögen vom Bistumsgute. Mit Recht
weist St darauf hin, daß diese Maßnahmen notwendig geworden waren,
nachdem seit der Ausdehnung der fränkischen Herrschaft auf Italien die
rätischen Alpenpässe für die Karolinger große Bedeutung erlangt hatten 1 ).
In diesem Zeitpunkte mußte man daran gehen, »die Verwaltung in welt¬
lichen Dingen und das Fiskalgut an das Reich zu ziehen und sie einem
königlichen Beamten, der zugleich die staatliche Militärgewalt ausübte, an¬
zuvertrauen«. Daß wir überdies bei diesen rechtsgeschichtlich besonders
interessanten rätischen Verfassungsverhältnissen in selten anschaulicher Weise
römische und germanische Kirchenverfassung, bischöfliches und Eigenkirchen¬
recht unvermittelt aufeinanderstoßen sehen, mag nicht unerwähnt bleiben.
— Die bisherigen Nachrichten über Besitzrechte der Kurie außerhalb des
Kirchenstaates erweitert E. Per eis durch eine mühevolle Zusammenstellung
von Belegstellen für »päpstliche Patrimonien in Deutschland
zur Karolinger- und Sachsenzeit« (FZ. 483—492) namentlich in
Niederbayern seit der Mitte des 9. Jahrhunderts. Doch konnte auch er Ursprung
und Umfang dieser päpstlichen Gerechtsame in deutschen Landen noch nicht
näher erklären. Die Verwaltung dieses Besitzes in Bayern bereitete der
Kurie mancherlei Schwierigkeiten. Anfangs wurde sie unmittelbar von Rom
aus besorgt, späterhin dem Bischof von Freising und 887 den Erzbischöfen
von Salzburg anvertraut. Vermutlich zur Sicherung dieses Rentenbezugs
übertrug P. Agapit H. vor 953 drei Einzelgüter daselbst dem ETzstifte
Salzburg gegen Zinszahlung zu widerruflichem Eigen. 1014 erhielt K. Hein¬
rich II. diese Höfe im Tauschwege von P. Benedikt VHL und widmete
sie 1018 dem Domkapitel von Bamberg. Einige einschlägige Fragen haben
seither durch A. Brackmann erfreuliche Klärung erfahren 2 ). Er konnte
mehrere auf diesen Besitz bezugnehmende Urkunden als Fälschungen erklären,
offenbar in Salzburg selbst hergestellt, als das Erzstift, das sich durch die
Überlassung dieser Güter an den Kaiser in seinen Rechten gekränkt er¬
achtete, gegen diese Verfügung Widerstand zu erheben versuchte. — In
seiner Abhandlung: »Ein angeblicher Normannenzug ins Mittel¬
meer um 825« (FZ. 85—100) zeigt A. Hofmeister, daß das bekannte
Zitat aus der Biographie des Bischofs Donatus von Fiesoie, die einzige
Stelle, die man bisher für einen Überfall der Normannen auf Fiesoie um
das Jahr 825 ins Treffen zu führen vermochte, jenen Berichten anzureihen
sei, welche für den großen Normannenzug nach Italien in den Jahren 859
bis 861 vorliegen. Man wird daher die Verwüstung Fiesole’s durch das
kühne Seefahrervolk in Hinkunft in die Jahre 860 und 861 zu setzen
haben, zu welcher Zeit ihnen auch Pisa und Luna zum Opfer fielen.
n. Ältere Wirtschaftsgeschichte. — A. Werminghoff prüft
in FZ. (31—50) »Die Wirtschaftstheoretischen Anschauungen
l ) Ähnliche Gesichtspunkte führten späterhin zur Schaffung geistlicher Fürsten¬
tümer auf Kosten weltlicher Machthaber in den Ostalpen (Trient, Brixen, Aquileja)
oder doch zur Verleihung von Besitzrechten an geistliche Fürsten durch die Könige
in diesen Gebieten (Bamberg). Für Letzteres vgl. A. v. Jaksch in »Carinthia«
Heft 97, S. 113 ff. und meinen Beitrag zu FZ. S. 209.
*) A. Brackmann »Germania pontificia« und »Studien] und Vorarbeiten zur
Germania pontificia' I. 103 ff. Vgl. auch F. Martin im Salzburger Urkundenbuch,
ü. 30, 89‘und 114, sowie (Or) in den hist. pol. Blättern f. d. kath. Deutschland,
Heft 151, S. 10 ff.
Literatur
169
der regula sancti Benedicti*. Sie birgt eine eigenartige, auf dem
Gelübde der Armut des einzelnen Mönches und der Vermögensfähigkeit des
Klosters aufgebaute Frohnhofverfassung, welche die einzelne Niederlassung
durch überwiegend natural wirtschaftliche Ausgestaltung von Produktion und
Konsum ökonomisch zu verselbständigen, von der Außenwelt möglichst unab¬
hängig zu machen bestrebt ist. Diese Organisation findet sich nicht nur
in mittelalterlichen Klöstern, sondern sie hat sich, wie W. gelegentlich
eines Besuches von Monte Cassino an Ort und Stelle ermitteln konnte — und
dasselbe gilt auch von so manchem anderen Hause dieses Ordens — noch
vielfach bis in unsere Tage hinein erhalten. Von den Mönchen verlangt
sie nicht nur die Teilnahme am Gottesdienste und wissenschaftliche Be¬
tätigung, sondern auch eigene Mitarbeit an der Produktion im Kloster.
Die formale Grundlage für diese Gestaltung des Gelübdes der Armut bot
im Sinne der Forschungen Spreitzenhofers ein Satz aus den Werken
des Kirchenvaters Cassianus, die Begründung für sein Gebot entnahm der
große Ordenstifter jedoch den Überlieferungen von dem Urzustand des
Christentums, wie sie ihm die Apostelgeschichte und Werke verschiedener
Kirchenlehrer brachten Die Einrichtungen dieser mönchischen Frohnhofver-
fassung selbst lehnen sich an die spätrömischen Domänenbetriebe an, so
daß Benedikts Begel » inmitten sich verändernder politischer Bedin¬
gungen* auch als Erhalterin einer antiken Wirtschaftsordnung gelten
darf 1 ). — M. Tan gl hingegen ergreift in FZ. (637—650) nach den
Ausführungen Philippi’s 8 ) neuerlich das Wort »zum Osnabrücker
Zehntstreit*. Vor Allem stellt er aus den urkundlichen Zeugnissen
fest, daß es sich in allen drei Stadien des großen Streites zwischen
Osnabrück und Korvey nur um allgemeine, um einfache Kirchenzehnte
gehandelt hat, nicht um ursprüngliche »Rottzehnte*, die späterhin, weil
das kanonische Recht gegenüber der einmaligen, widerrufbaren königlichen
Schenkung einen »zuverlässigeren Rechtstitel* zu bieten vermochte, durch
geschickte »taktische Wendung* zu allgemeinen Kirchenzehnten umgeformt
wurden. Somit erscheinen als Rechtsgrundlage dieser Abgabe nur die kirch¬
lichen Zehntgebotc und die sie zu einer allgemeinen, reichsrechtlich ge¬
schützten Kirchensteuer erhebenden fränkischen Kapitularien 3 ). Gleich Phi-
lippi an Thimme’s 4 ) Untersuchung »Forestis* anknüpfend, untersucht T. den
echten Kern der auf Karl d. G. gefälschten Privilegien. Aus formellen und
sachlichen Gründen gelangt er zu der überzeugenden Annahme, daß die
einzige echte Karlsurkunde für Osnabrück, eine Schenkungsurkunde von
803, jene Bannforstverleihung, welche die Fälschung aufweist, gar nicht
enthalten haben kann, ebensowenig den Zusatz: »vel silvam exstirpandi*,
auf dem Ph., indem er ihn zum Urbestand der Urkunde zählt, die Rott¬
zehntentheorie aufbaut. Da sie noch den einschlägigen echten Diplomen
Ottos I. und Heinrichs IL fohlt, mochte sie wohl erst von dem Fälscher der
i) Vgl. Wenninghoff, Verl, ssungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittel-
alter, 2. Aufl. S. 28.
*) »Forst und Zehnte« im Archiv für Urkundenforschung, (AU) II. 327 ff.
insbes. 330 ff.
*) U. Stutz, Das karolingische Zehntgebot in Z*RG. XXIX. 180 ff und
E. Pereis in AU. HL 233 ff.
*) Aü. U. 101 ff
170
Literatur.
Karlsurkunde »eigenmächtig und sinnstörend* der Wildbann Verleihung ein¬
fügt worden sein *).
IH. Angelsächsische Rechtsgeschichte. In einem Aufsätze
»Die Eideshufen bei den Angelsachsen* (FZ. 1—8) beleuchtet F. Lieber¬
mann die eigenartige und verschiedene Rätsel bergende Erscheinung, daß
bei den Angelsachsen, und zwar schon in der Zeit getrennten und anbe¬
einflußten Volkslebens bei Angeln und Sachsen, »Wert und Schwere des
Eides nach Hufen* berechnet wurden. Er entwickelt aus den Quellen ver¬
schiedene Rechtssätze, betont den hohen sozialen Rang, den der Klerus in
diesen Gebieten einnahm, nicht minder den starken Einfluß der Kirche auf
die Gestaltung des weltlichen Beweisrechtes, um schließlich mancherlei interes¬
sante Beziehungen zwischen Strafgeldern und Eideshufen aufzudecken, ln
FB. (17—37) aber bringt er ein bis ins Einzelne ausgebautes und abge¬
rundetes Bild für »die Friedlosigkeit bei den AngelSachsen*.—
Der »Urteilsfindung im angelsächsischen Rechte* gilt die Studie von
M. Rintelen (FZ. 557 —577). Sie zeigt, daß der Gerichtshalter dort
grundsätzlich auch Urteilfinder war. Wo er sich hiebei des Rates von
Dingmannen bediente, war die Bildung des Urteilsinhaltes in letzter Linie
doch ihm anvertraut und er selbst für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung
strafrechtlich verantwortlich. Nur wenn nicht eine von vorn eherein genau
festgesetzte Rechtsfolge anzuordnen war, vielmehr die Entscheidung des
Falles mehr oder weniger dem Ermessen der Urteilsfinder überlassen blieb,
verpflichtete ein jüngeres Recht den Richter, das Urteil von einem Aus¬
schüsse der Dinggemeinde zu erfragen.
IV. Deutsche Kaisergeschichte. Mittelalter und Neuzeit.
— Einleitungsweise sei der Arbeiten von 0. Holder-Egger (f 1911)
und R. Weil Erwähnung getan (FZ. 451—482 und 81—84). Ersterer *)
spricht über »Salimbene und Albert Milioli* und deren schrift¬
stellerische Beziehungen zu einander. In Richtigstellung mehrerer Behaup¬
tungen Dove’s zeigt er, daß Albert für seinen »über de temporibus* schon,
für das Jahr 1281 Salimbenes Bericht verwertet oder doch mündlich be 1
ihm Erkundigungen eingezogen hat. Namentlich gilt dies von der Wahl
Martin’s IV., von dessen französischer Herkunft und seii. r Stellung zum
Minoritenorden. Auch stützt er durch neue Gründe die vo~ ihm schon
früher aufgestellte Behauptung, daß Alberts Referat*über Nikoiaus HL zum
Jahre 1277 von dem geistig höherstehenden Salimbene stammt, nicht minder
der Bericht über die Seeschlacht bei Neapel im Juni 1284, den Salimbene
aber aus Rücksicht auf Karl I. von Sizilien seinem eigenen Werke nicht
einverleibt hatte. Noch erfahren wir, daß Salimbene von Ende oder Mitte
1279 bis etwa Mitte 1285 im Konvent der Minoriten zu Reggio, von da
ab in Montefalcone gelebt hat 8 ). — Weil zieht in seinem kurzen Beitrag
»Paestum und Mintona* eine eigenartige Parallele zwischen Münzen
des lucanischen Paestum aus dem Beginne der christlichen Zeitrechnung
und Denaren der Stadt Minden aus der Zeit Heinrichs IH.. die beide den
*) Vgl. zur Frage im Allgemeinen jetzt neuerdings Philippi in diesen »Mit¬
teilungen« XXXIII. 393 ff. _
*) Vgl. den Nachruf von K. Zeumer in NA. XXX VH. 821 ff.
*) Für Salimbene vgl. die jüngBt veröffentlichten Studien von Holder-Egger
in NA. XXXVH. 163 ff und XXXVIII. 471 ff.
Literatur.
171
Münzer an der Arbeit zeigen und die Prägestätte zum Typus der Münze
wählen.
Aus einer Überprüfung der einschlägigen Berichte und aus der Beur¬
teilung der Persönlichkeit des Papstes selbst gewinnt K. Hampe in seinem
Aufsatz „DieBerufungOttos d.G. nach Rom durch Papst JohannXH. €
(FZ. 153—167) gegen Ranke und Hauck die Auffassung, daß der Papst
nicht auf Drängen einer römischen Gegenpartei, sondern selbständig und
ans eigenem Antriebe den deutschen König gegen Berengar zuhilfe ge¬
rufen hat, ohne allerdings damals die Folgen dieser Handlung übersehen
zu können. In diesem Zusammenhänge erfährt der Bericht des Mönches
Benedikt von 8. Andrea, der ro-ge chronologische Verstöße aufweist, ent¬
sprechende Richtigstellung, und im Anschlüsse an schon von Kehr geäußerte
Vermutungen*) fällt neues Licht in die Textgeschichte jenes bekannten
Privilegiums, das Otto I. am 13. Februar 962 der römischen Kirche ge¬
geben hat. Die in ihm enthaltenen Vorschriften über die Papst wähl leitet
IL, bestimmter als Kehr, in letzter Linie aus einem heute nicht mehr auf¬
findbaren Vertrage zwischen Lothar I. und Eugen H. ab. Neben anderen
Stellen dürften sie aus ihm zunächst in ein vermutlich 850 von Lothar I.
und Ludwig IL mit Leo IV. eingegangenes Pactum, und von da aus, in
mechanischer Entlehnung und zur neuen Zeitlage nicht passend, in das
Ottonianum gelangt sein. — D. Schaefer’s Abhandlung: „Lothars III.
Heereszug nach Böhmen* (FZ. 61—80) bringt eine kritische Wür¬
digung deutscher und böhmischer Nachrichten über den mißlungenen Zug,
den dieser König am Beginne seiner Regierung gegen Böhmen unternommen
hat. Wir hören, daß Otto von Freising, der über diese Vorgänge ein¬
gehender als andere berichtet, obwohl auf deutscher Seite stehend, vorzugs¬
weise aus böhmischen Quellen geschöpft hat. offenbar eine Folge der guten
Beziehungen, die zur Zeit der Abfassung der „Gest* Friderici* zwischen
dem kaiserlichen Hofe und Wladislaw n. von Böhmen geherrscht haben.
Auch gibt Sch. eine in wesentlichen Punkten neue Schilderung dieser
Heerfahrt über das Erzgebirge und der sich daran schließenden Kämpfe. —
R. Salomon’s Abhandlung „Zur Geschichte der englischen Po¬
litik Karls IV. € (FZ. 397—409) zeigt uns, daß ein schon von Ludewig
mit dem Datum , des 12. Oktober 1346 veröffentlichter, im Original nicht
mehr auffindbarer Brief K. Eduards HI. von England an Karl IV. aus
sachlichen Gründen weit besser in den Oktober 1355 paßt. Es wird dies
jetzt durch den Umstand außer Zweifel gesetzt, daß eine zweite Überlieferung
dieses Schreibens, die Hofmeister in einem Raudnitzer Kodex entdeckte, auf
den 12. Oktober 1355 lautet. Dann aber gesellt sich dieses Stück vier
anderen Briefen aus jener Zeit zu, die uns von Verhandlungen zwischen
beiden Höfen und insbesondere von den damals vergeblichen Bemühungen
Karls IV. erzählen, einen Frieden zwischen England und Frankreich herbei¬
zuführen. Es trifft daher dir Annahme Werunsky’s und Gottlob’s nicht
zu, Karl IV. habe schon 1346 mithin kurz nach seiner Wahl zum römischen
Könige, die „vollständige Aussöhnung und eine gewisse Verbindung und
tj In einer Besprechung von Lindner, die sogenannten Schenkungen Pippins,
Karls des Großen und Ottos 1. an die Päpste (1896) in den Göttinger gelehrten
Anzeigen 1896, 128 ff. insb. 136.
172
Literatur.
Freundschaft mit England* erlangt. Sie widersprach den zeitgenössischen
Berichten, die von einer solchen Intervention nichts wußten, zugleich auch
der Tatsache, daß Eduard damals gerade wieder mit Karls Gegner, Ludwig
dem Bayer, in Verbindung zu treten trachtete, daß es im Winter 1347/8
nach Ludwigs Tod zu Verhandlungen Eduards mit der Wittelbachischen
Partei in Sachen der Königswahl kam, wobei jedoch nicht wie vielfach
bisher behauptet wurde, eine förmliche Wahl Eduards zum deutschen Könige
erzielt wurde *). — Der Pisaner Chronist Ranieri Sardo erzählt von seinem
Zeitgenossen Karl IV., dieser sei am Tage nach der Kaiserkrönung nach
Tivoli aufgebrochen und habe dort drei Tage gewartet, ob jemand die
RechtmäBigkeit seines Kaisertums anzufechten gedenke. Auf dieser Notiz
im Verein mit anderen Berichten baut F. Kern in seinem Beitrag (FZ.
385—395): »Karls IV. Kaiserlager vor Rom* eine ansprechende
Hypothese auf. Er sieht in diesem Aufenthalt zu Tivoli, der jedoch nur
eiuen Tag währte, den einzigen bisher bekannten Beleg für eine Art Kaiser¬
lager vor Rom, ähnlich dem deutschen Königslager vor Aachen oder Frankfurt.
Trifft dies zu, dann hat Karl IV. Tivoli nicht, wie man bisher vielfach
annahm, nur aus Naturfreude aufgesucht. Vielmehr mag ihm, da er
mit dem Brauche des deutschen Königslagers vertraut war, daran gelegen
gewesen sein, ohne die Abrede mit dem Papste zu brechen, die ihn zu
fluchtartigem Verlassen der ewigen Stadt nach der Krönung verpflichtete, in
einer Stadt der kaiserlichen Kammer, auf Reichsgebiet vor den Toren
Roms durch eine Art »sessio triduana* die am Kaiserreich erworbenen Ge-
were zu bekunden 2 ). — Zu E. Stengel’s interessanter Abhandlung »Den
Kaiser macht das Heer* (FZ. 241—310) hat bereits K. Hugelmann
in dieser Zeitschrift (XXXV, 372 ff.) eingehend Stellung genommen. Ich
komme daher zu H. Schreuer’s Aufsätzen »Wahlelemente in der
französischen Königskrönung. Mit besonderer Rücksicht auf die
deutschen Verhältnisse* (FB. 649—687) und »Die Thronerhebung
des deutschen und des französischen Königs* (FG IL 697—710).
Sie sind Ausschnitte aus einem größeren, Brunner und Gierke gewidmeten
Werke, das unter dem Titel »Die rechtlichen Grundlagen der französischen
Königskrönung mit besonderer Rücksicht auf die deutschen Verhältnisse*
(Weimar 1911) das objektive Krönungsrecht im mittelalterlichen Staatsleben
analysiert 8 ). Aus dem reichen Rechtsinhalt der Thronfolgeordnung greift
die erste Studie die Probleme: Wahlrecht, Akklamation und Zusicherungen
des Königs heraus. Im Gegensätze zum vollen Erbprinzip der merovin-
gischen Epoche konkurriert bekanntlich schon in der Karolingerzeit mit dem
*) Vgl. hiezu Salomon a. a. 0. S. 402 Note 4 an der Hand des einzigen
deutschen Berichtes über den Vorgang zu Oberlahnstein am 10. Februar 1348, wo
es heißt: »concordaverint eligendum«, und des Prokuratoriums Eduards vom
10. Mai 1348: »super electione imperü de persona nostra ... facienda« und
nicht »facta«.
*) Vgl. Hey mann in Z*RG XXXH. 426.
3 ) Vgl. auch Schreuer, Wahl und Krönungs Konrads H. 1024 in der hist.
Vierteljahreschrift (HVS), 1911, 329 ff. Als wertvolle Ergänzung zu den »recht¬
lichen Grundgedanken« prüft Sch. hier an einem Einzelfalle auf Grand der
Berichte Wipo's die rechtliche Natur der Wahl, Salbung, Krönung und Reichung
der weltlichen Insignien. — Zu Sch* Arbeiten vgl. folgende Besprechungen: Holtz
mann in HVS. 1912, 260 ff., Wenninghof! in Z*RG XXXIII. 479 ff.
Literatur.
173
Erbrecht des Hauses der Wahlgedanke. Er gelangt im deutschen Reiche
zum Durchbruche, vorübergehend auch in Frankreich zu erhöhter Bedeutung.
Wie dort 911, hat er hier 987 die Karolinger beseitigt. Doch gab es von
da ab in Frankreich keine »wahrhafte Wahl im strengen Sinne des Wortes*.
Es wird allerdings noch eine »electio* mit »consensus episcoporum et pro-
cerum* vorgenommen, aber »die treibende Persönlichkeit ist der König, der
seinen Sohn zum Mitregenten cum iure succedendi haben will*. Überhaupt
hat das französische Königtum, wie Sch. zeigt, im weiteren Verlaufe »das
Wahlrecht immer mehr aufgesogen*. Doch kamen Wahlgedanken auch
späterhin bei günstiger Gelegenheit fallweise zum Vorschein und wurden
Bruchstücke der Wahl organisch in die Zeremonien der Krönungsfeier ein¬
geflochten. Dies gilt insbesondere von der Akklamation des Volkes, einer
Kundgebung des Volkswillens, auf der sich in den ersten Jahrhunderten
der französischen Entwicklung die gesamte Krönungsfeier aufbaute. Doch
fiel seit Ludwig IX. selbst die Frage an das Volk und dessen Zuruf weg
und es blieb nur das Te Deum vor der Salbung und Krönung, das sich
als »reiner Kirchengesang oder auch als Zustimmung, Billigung der An¬
wesenden* deuten ließ, bis es seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrh. hinter
die Thronerhebung gelegt, den letzten Rest einer Äußerung des Volks¬
willens einbüßte. Dagegen hat sich in Deutschland bis an das Ende des
Reiches eine Akklamation vor der Salbung und Krönung als rudimentärer
Wahlakt behauptet. Schließlich würdigt der Verfasser noch eingehend
Rechtsnatur und Bedeutung der feierlichen Zusicherungen des Königs. Solche
treten erstmals schon bei der Kaiserkrönung Ludwigs des Frommen in
Aachen S13 auf, begegnen seit 869 als Zusicherungen vor der Akklamation.
Sie sind in Frankreich späterhin als Krönungskapitulationen zu deuten und
verwandeln sich dort schließlich in »einseitige programmatische Erklärungen
des absoluten Erbkönigs mit lediglich sakraler Sanktion*. In Deutschland
hingegen gehen diese Zusagen seit der deutschen Formel aus dem Ende des
10. Jahrh. der Frage an das Volk und dessen Akklamation voran. »Der
König wird erst akklamiert, wenn er versprochen hat*. Außerdem taucht
hier seit dem 12. Jahrh. vor der Inthronisation noch eine zweite Formel
auf und erhält sich bis an das Ende des Reichs. — Der zweite Aufsatz be¬
leuchtet in großen Zügen vom Niedergang der Merovingerzeit an das In¬
stitut der Thronerhebung. Wir erfahren namentlich, daß schon sehr bald
neben die rein weltliche Erhebung von staatsrechtlicher Bedeutung eine
geistliche Inthronisation tritt, die weltliche und sakrale Elemente in sich
vereinigt. In Frankreich verdrängte sie rasch die weltliche Erhebung, aber
es sind fortan weltliche Staatselemente — seit dem 13. Jahrh. die Pairs
— an der kirchlichen Feier aktiv beteiligt. In Deutschland ist der Reichs¬
thron schon im 11. Jahrh. völlig in kirchliche Hände übergegangen und
es zeigt sich bei dieser kirchlichen Feier nur eine »höchst passive Assistenz*
der Fürsten. Dafür kamen h.er fallweise, zuletzt für Otto IV. im Jahre
1198, weltliche Erhebungsak^ vor und es begegnen der feierliche Zug
nach Aachen, späterhin die Altarsetzung nach der Wahl in Frankfurt und
die Erhebung auf den Königsstuhl in Rense als selbständige staatsrechtliche
Akte, als »Neubildungen ständischen Charakters im Zusammenhänge mit dem
stark genossenschaftlichen Einschlag der Reichsverfassung*. Die staatsrecht¬
liche Wirkung aller Thronerhebungen aber kennzeichnet Sch. als »Nieder-
174
Literatur.
schlag des jeweiligen Standes von Erbrecht und Wahlrecht*. In scharfsinniger
Rechtsausführung bespricht er für die spätere fränkische Monarchie, für
Deutschland und Frankreich die Frage, ob diesen weltlichen und kirchlichen
Erhebungsakten in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung im ein¬
zelnen Falle konstitutive oder mit Publizitätswirkung ausgestattete
deklaratorische Bedeutung zukommt. — M. Kram me r bespricht in
FZ. (349—365) Beziehungen zwischen »Kurrecht und Erzkanzler¬
amt im 13. Jahrh.*. Nach einer kurzen Skizze der Entwicklung des
Königswahlrechts von 1198 bis 1237, die namentlich auch den heute so
eindringlich untersuchten Wahlen von 1220 und 1237 l ) gilt, macht er
auf den Umstand aufmerksam, daß sich Erzbischof Siegfried von Mainz in
Urkunden seit 4. Dezember 1237 auch als Erzkanzler für Deutschland be-
zeichnete, und daß sich Konrad von Hochstaden bald nach seiner Erhebung
auf den Kölner Erzstuhl Erzkanzler Italiens nannte, wogegen Trier damals
diesem Beispiele noch nicht folgen konnte. Er vermutet, daß die beiden Erz¬
bischöfe durch diese Betonung ihrer Kanzlerwürden im Anschluß an die ihnen
bekannte Erzämtertheorie de* Sachsenspiegels kundtun wollten, daß auch sie
ihr bevorzugtes Kurrecht auf ein Erzamt zu stützen vermögen, wogegen der
Mainzer, wie K. mit Recht betont 2 ), die Reichsverwesung für Konrad nicht
kraft seines Erzamtes, sondern kraft kaiserlicher Verleihung führte. Wenn
K. damals noch der Ansicht war, Siegfrid von Mainz habe, indem er die
Sachsenspiegelstelle nicht richtig erfaßte, »für sich und die ihm gleich¬
stehenden ein alleiniges Kurrecht beansprucht, den übrigen Fürsten nur
ein Konsensrecht vergönnt*, so hat er diese irrtümliche Auffassung in einer
späteren Arbeit selbst berichtigt 8 ). — Die Beziehungen der drei genannten
Kirchenfürsten zur Besetzung des deutschen Königsthrones insbesondere zur
Wahl des Königs skizziert in ihrer geschichtlichen Entwicklung seit der
Erhebung Heinrichs L bis an das Ende des Reiches der Beitrag, den U. Stutz
für FB. (S. 57—78) unter dem Titel »Die rheinischen Erzbischöfe
und die deutsche Königswahl* gewidmet hat. Wiewohl dieeer
»Aufriß* sich in plastischer Kürze mit allen drei geistlichen Kurfürsten
befaßt, ist er in der Hauptsache doch nur eine Zusammenfassung der Ergeb¬
nisse, zu denen mein verehrter Freund in einer gleichzeitig erschienenen
größeren Untersuchung »Der Erzbischof von Mainz und die deutsche Königs¬
wahl* in eingehender Prüfung der Quellen und der Literatur gelangt
ist. Zu ihnen hat bereits Hugelmann in dieser Zeitschrift (XXXIV. 352 ff.)
Stellung genommen, so daß ich es mir leider versagen muß, hier auf diese
Fragen näher einzugehen. — Für die Geschichte der deutschen Königswahl
kommt aber mit noch in Betracht eine quellen kritische Untersuchung von
H. Bresslau: »Der angebliche Brief des Erzbischofs Hatto von
Mainz an Papst Johann IX.* (FZ. 9—30). Die richtige Beantwortung der
Frage, ob dieses Schreiben, das eine Pasaauer Sammlung aus der ersten Hälfte
des 12. Jahrh. enthält, echt oder unecht sei, hat große Bedeutung nicht
*) Vgl. jetzt namentlich K. Hugelmann, Die Wahl Konrad* IV. zu Wien
im Jahre 1237 (1914), wo die einschlägige Literatur erwähnt und besprochen wird.
*) Die Frage solcher Reichsverweserschaften bespricht eingehend die wertvolle
Arbeit F. Becker'8, Das Königtum der Thronfolger im Deutschen Reiche des
Mittelalters (1913), insbcs. S. 6 ff., 34, 66 ff., 84 ff., 100.
*) M. Krammer, Das Kurfürstenkolleg u. s. w. (1913) 84 f .
Literatur.
175
nur für die Geschichte der Thronbesteigung Ludwigs d. 1L, sondern auch
für die Würdigung der Beziehungen des Papsttums zum deutschen Königtum.
B. gelangt zu dem überraschenden Ergebnisse, daß der Verfasser dieses
Briefes größere Stücke und einzelne Wendungen mehr oder weniger wörtlich
der Pseudoisidoriana entlehnt hat und zwar in einer die Echtheit des
Schreibens ausschließenden Weise. Er betrachtet es daher als private Stilübung
vermutlich aus der Zeit Konrads HL, die uns nur zeigt, wie man damals
in der Salzburger Kirchenprovinz über eine Befugnis des Papstes, die
deutsche Königswahl zu beeinflussen, dachte. — Als Beitrag zur Lehre von
der königlichen und kaiserlichen Gewalt im späteren Mittelalter und in
der neuzeitlichen Epoche des deutschen Reiches können meine Aufsätze
gelten: »Die Verleihung gelehrter Grade durch den Kaiser
seit Karl IV. 4 (FB. S. 689—735) 1 ) und »Universitätsprivilegien
der Kaiser aus der Zeit von 1412 —1456 4 (FG. II. S. 793—811)*).
Sie haben in dieser Zeitschrift (Band 34, S. 689 ff.) durch H. v. Ankwicz
eingehende Würdigung erfahren. — »Zur Geschichte der Formel
»Kaiser und Reich 4 in den letzten Jahrhunderten des alten
Beichs 4 bringt R. Smend einen lehrreichen Beitrag (FZ. 439—449), in¬
dem er die Wandlungen beleuchtet, welche dieser Begriff bis an das Ende
des Reiches durchgemacht hat »Sprache und Denkweise des 18. Jahrh. 4
setzte n das »Reich 4 gleich »mit der Summe der Stände 4 und verstanden
daher unter »Kaiser und Reich 4 im politischen Sinne zwei »gleichartige
politische Mächte 4 , im staatsrechtlichen Sinne zwei »gleichgeordnete Faktoren
der Reichsregierung 4 . Diese Auffassung fehlte dem Mittelalter und nach
5. auch noch der Zeit der Reichsreformen. Er versteht unter dem »Reich 4
für jene Zeit »das Allgemeinere und Dauernde in der staatlichen Gemein¬
schaft und Ordnung gegenüber der Individualität des Oberhauptes 4 . Daher
bezeichnen beide Ausdrücke »in ihrer formelhaften Zusammenstellung 4 nicht
»zwei verschiedene Faktoren 4 , deren höhere Einheit durch die ganze Formel
gedeckt wird, sondern mit jedem von ihnen ist »im Grunde dasselbe ge¬
meint, nur mit dem zweiten mehr nach der Seite der objektiven Institution,
mit dem ersten mehr nach der Seite seiner Aktualität in der Machtvoll¬
kommenheit des Oberhauptes und der diesem geschuldeten Treupflicht 4 .
Freilich »decken 4 beide Begriffe sich nach S. »nicht vollständig, sondern
jeder greift in gewissem Sinne über den andern hinaus und auf ihrer da-
mit gegebenen beiderseitigen Ergänzung, nicht auf der Zusammenfassung
zweier damit bezeichnter verschiedener koordinierten Faktoren beruht der
eigentümliche Charakter der Formel 4 . So brachte nach 8. auch die Neu-
*) Durch »urkundliche Beilagen« erweitert, als selbständige Veröffentlichung
1910 erschienen. Einen Nachtrag bringt J. Rest in der Zeitschrift fttr die Ge¬
schichte des Oberrheins, XXVJI (J 913) 142 ff. betreffend die Ernennung des Ulrich
Zasius zum Magister artium durch Kaiser Maximilian I.
*) Auch selbständig erschienen (1911). — Vgl. auch Meyhöfer in AU j
291 ff. — Ei nen interessanten I ei trag zu diesen Fragen bringt R. Salomon
NA XXXVII. 810 ff. und 879. Vgl. dazu auch Leicht, Memorie storiche
giulieri (1911) VI, 1—14. Karl IV. hatte schon im August 1363 von Prtg*
auf Bitten seines Bruders Nikolaus, Patriarchen von Aquileja, die Errichtung f
Generalstudiums für Cividale bewilligt, doch kam diese Anstalt vermutlich t
zur Entstehung. Die kaiserliche U rkuude, deren Original sich im Muaeufl
Cmdale befindet, veröffentlicht 8&lomon a. a. 0.
176
Literatur.
Ordnung des Kammergerichts auf dem Wormser Reichstag von 1495 keinerlei
»Veränderung der staatsrechtlichen Stellung dieses Gerichtes* zugunsten der
Stände, wenn es auch als »kaiserliches und Reichskammergericht* als
»Reichskammergericht* bezeichnet wurde, denn schon seine Vorläufer werden
gelegentlich als »kaiserliches und Reichshofgericht*, als »Reichs*- und als
»kaiserliches und Reichskammergericht* genannt 1 ). Erst bei Besprechung
des protestantischen Widersprucbsrechts zeigt sich nach S. erstmals der
spätere »Nebensinn der Formel*, wird aber rasch dann von der staatsrecht¬
lichen Literatur übernommen. In einer Erklärung Hessens auf dem Depu¬
tationstage von 1643 sieht S. den Namen Reichskammergericht zum ersten-
male offiziell im ständischen Sinne gebraucht und seit dem westfälischen
Frieden dringt die jüngere Bedeutung unserer Formel auch in die Sprache
der Reichsgesetze ein, jedoch eingeschränkt auf die dem Kaiser im »Reichstag*
gegenüberstehende Gesamtheit der Stände.
Anhangsweise sei noch der Arbeit des im Juli 1913 verstorbenen
französischen Rechtshistorikers A. Esmein gedacht (FG. II. 361—381):
L’inali£nabilit6 du domaine de la couronne devant les etats
generaux du XVI® siöcle*. Mit mehr Erfolg als im deutschen Reiche
hatte man es in Frankreich verstanden, die Domänen dem Staate zu er¬
halten, indem man der freien Verfügung des Königs über das Krön gut
Einhalt zu tun bemüht war. Man schied auch hier das Reichsgut vom
Hausgut des jeweiligen Königs und betrachtete — wie schon vorher in
England — in fortschreitendem Maße die Krone als Eigentümerin der Do¬
mänen. Trotzdem hörten auch hier die Veräußerungen und Verpfändungen
des Kronguts nicht auf. Aber man gab dem veräußernden König selbst,
wie auch dessen Nachfolgern Revokationsrechte und es wirkten schließlich
die Stände auf eine gesetzliche Festlegung der Unveräußerlichkeit dieses
Vermögens hin. E. bringt interessante Einzelheiten aus den einschlägigen
Verhandlungen zwischen Königtum und Ständen nach dem Tode Franz DL
bis 1589 und zeigt namentlich auch die hervorragende Rolle, welche der
berühmte Staatsrechtslehrer Bodin als Deputierter des dritten Standes in
dieser Angelegenheit dank seiner Sachkenntnis zu spielen berufen war.
V. Ständerechtliche Probleme. — Mit einer tief in die Quellen
eindringenden Arbeit: »Luft macht frei* eröffnet mein hochverehrter
Lehrer H. Brunner (t am 11. August 1915) die Festgabe der Berliner
*) Hartung nimmt gegen Smend a. a. O. und das »Reichkammergericht«
I S. 42 ff. an, es lasse sich dieser Bedeutungswandel schon im 15. Jahrh. seit den
Tagen der Reichsreform feststellen. Entsprechend der tatsächlichen Gestaltung der
Dinge, die sich in langer Entwicklung ergeben und eine tiefe Kluft zwischen den
habsburgischen Erblandeu und dem Reiche, zwischen Kaiser und Reichständen
schufen, unterschied nach H. schon damals der Sprachgebrauch »den Kaiser als
Inhaber der österreichischen Erblande vom Reich als der Gesamtheit der Stände«.
Als Beispiele erwähnt er hiefür die Vorschläge für die Reichshilfe von 1487 (die
keiserliche Majestät — das reich), die Entwürfe einer Heeres- und Steuerverfkssung
von 1492, die Teilung der Geldbußen für Münzvergehen (1495) i. s. w. Es ent-
E ht dies dem dualistischen Aufbau des Ständestaates, wobei allerdings im alten
e eine scharfe Trennung von Kaiser und Reich nicht durchführbar war. Auch
für die Frage der Stellung des Reichskammergerichts im Reichsorganismus hat H.
eine andere Auffassung. Vgl. zu allem HVS (1913) 51 und 203 ff., ferner Deutsche
Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrh. u. s. w. (1914) S. 5 und 18. Ich glaube,
daß sich für das »Reich« damals schon beide Deutungen nach weisen lassen.
Literatur.
177
Juristenfakultät für Otto von Gierke (L 1—46L Sie enthält eine Fülle
wichtiger Ergebnisse. In begründeter Weise lehnt er gegen Hegel und
Eietachel die Übernahme dieses Bechtsgedankens aus England ab. Eher
zeige sich eine Anlehnung an flandrische Muster, die wieder a :f Frankreich
znrückzufohren wären, zu dessen Eronvas&llen die flandrischen Grafen ge¬
hörten. Doch gelte die Übernahme dieses Gedankens aus dem ausländischen
Rechte nicht als gesichert, da die Voraussetzungen für die selbständige
Ausbildung des Satzes »Luft macht frei 4 überall Vorlagen, wo sieb kraft
Privilegs oder Gewohnheitsrechts eine bodenständige Geltung des Satzes
»Luft macht eigen 4 nachweisen lasse. Dies sei in Frankreich und in Deutsch¬
land als Folgewirkung der rechten Gewere an Liegenschaften der Fall ge¬
wesen, die sich zwischen 820 und 895 im Anschluß an die Verschweigungs¬
frist von »Jahr und Tag 4 entwickelte, welche seit dem Kapitul&re von
s 18/9 bei der »missio in bannum regis 4 im Vollstreckungsverfahren zur An¬
wendung gelangte. Der Bechtssatx selbst aber ist nach R nur eine Ab¬
spaltung des Satzes »Luft macht eigen 4 , seine älteste Prägung daher die
stadtherrschaftlicbe. Etwas jünger ist die ständerechtliche, welche den Er¬
werb persönlicher Freiheit mit dem überjährigen Aufenthalt in der Stadt
verknüpft, die neueste die kommunale, welche die Erlangung der Freiheit
von dem Erwerb des Bürgerrechtes in der Stadt abhängig machte. Wo der
Asylgedanke einwirkt, konnte der Eintritt dieses Zustandes schon mit der
Niederlassung selbst verknüpft sein. Doch war diese befreiende Wirkung der
Stadtluft in der einen und anderen Form in Deutschland nie gemeines,
sondern stets nur Sonderrecht privilegierter Städte 1 ) und kommt an¬
dererseits auch in deutschen Weistümern des 15. und 16. Jahrhunderts
vor. — Gedanken aasbauend, die sich schon in seinem 1909 erschie¬
nenen *) Buche »Der Prozeß Heinrichs des Löwen 4 finden, vertritt
F. Güterbock in seinem Beitrag zur Zeumerfestschrift (S. 579—590)
»Die Neubildung des Beichsfürstenstandes und der Prozeß
Heinrichs des Löwen 4 die Anschauung, daß sich der Gebrauch »prin-
cipes 4 im älteren Sinne nicht, wie Ficker annahm, bis 1180, sondern nur
bis 1177 nachweisen lasse und daß der jüngere Begriff des Fürstenstandes
als einer engeren, auf lelmrechtlicher Basis aufgebauten Genossenschaft schon
in dem Prozeß gegen diesen Stammesherzog in den Jahren 1179 und 1180
hervortrete. Er vermutet, der Bechtsstreit habe geradezu den Anstoß zu
diesem Wandel gegeben, indem man bei dieser Aufsehen erregenden Ver¬
handlung strengstens alle Rechtsnormen beobachtete und daher den Kreis
der Fürsten, die das Urteil zu fällen hatten, sowohl für den landrecht¬
lichen, als auch für den lehnrechtlichen Streit genauestem» bestimmte s ).
*) Da« Institut der rechten Gewere an Liegenschaften und der mit ihr zu¬
sammenhängende Bechtssatz: »Stadtluft macht frei« fehlt im allgemeinen dem
bayrischen Rechte. Er findet sich aber — als eine Ausnahme für dieses Gebiet —
im Innsbrucker Stadtrecht von 1239. Vgl. Voltelini in der Festchritt des akad.^^
Historikerklubs zur Erinnerung an dessen 40. Stiftungsfest (1913) S. 13. *
*) Vgl. außer den FZ 684 1 genannten Anzeigen noch P. Puntschart
Z*RG XXX. 339 ff. und O. v. Düngern in diesen Mitteilungen XXXIII. 37P
Sehr wertvoll zur Charakterisierung des Prozesses sind die Bemerkungen T
J. Haller in AU IIL 295 ff. und von H. Niese in Z*RG XXXTV. 195 ff.
*) Wie jetzt G. zog auch schon J. Ficker (vgl. Reichsfürstenstand H
S. 181) die Gelnhauser Urkunde von 1180 zur Beurteilung dieser Frage hen
XitteUuwren XXXVI. 12
178-
Literatur.
Doch bleibe die Frage offen, ob aus Anlaß dieses Verfahrens die Abgrenzung
des jüngeren Fürstenstandes durch einen gesetzgeberischen Akt erfolgt sei *).
— 8. Keller spricht in FB. (187—21l) über »Cyrographum und
Hantgemal im Salbuch der Grafen von Falkenstein € , eine
Frage, der schon Ph. Heck, Th« Ilgen und R. Sohm besondere Aufmerk¬
samkeit zugewendet haben. Eine selbständige Bedeutung des Wortes »ryro-
graphum* leugnend, erblickt er darin nur eine wörtlich gemeinte Über¬
setzung des deutschen »hantgemal*. Doch sei dieses Wort nicht von
»handmäl* (Handzeichen, Hausmarke), sondern von »Hand* und »mahal*
abzuleiten, wobei die Hand als das bekannte germanische Symbol der haus-
und eheherrlichen Gewalt erscheine, mit »mahal* aber »ursprünglich jede
abgeschlossene Stätte, die zu einem bestimmten Gebrauch ausgezeichnet war,
insbesondere ein Versammlungsort* bezeichnet wurde. Somit sei handmahal
oder hantgemal »der als eine abgeschlossene Einheit zu denkende Ort, wo
die unter der munt oder hand Vereinigten zusammengehalten werden und
angesessen sind*, mithin ein »Schutzort* 2 ). Da nun die Handgemalnotiz
drei Familien nennt, so dürfe man die Gemeinsamkeit der Ansprüche dieser
Familien nicht etwa aus einer nicht erweisbaren »gemeinsamen Abstammung*
herleiten, sondern man müsse eher an einen sogenannten Stammverein oder
Burgfrieden®), an ein ganerbschaftliches Verhältnis denken, wie solche im
Mittelalter auch unter nicht verwandten Familien durch Vertrag begründet
wurden, um »ein seit Jahrhunderten gehegtes und gepflegtes Familiengut
vor dem Übergang in Unrechte Hände dauernd zu wahren*. Trotzdem
aber durch diesen Vertrag von Rechtswegen alle drei Familien als Ge-
samthänder Mitbesitzer des Familienguts der Falkensteiner bei Geislbach
geworden seien, bleibe der Besitz doch nur Hantgemal der Falkensteiner
und erst wenn diese ausstürben oder ihr Stammgut vergäßen, hätten die
anderen Familien als Gesamthänder in den tatsächlichen Besitz des Gutes
eintreten können. — In einem zweiten Aufsatze »Der Adelsstand des
süddeutschen Patriziats* untersucht K. die Frage nach der adeligen
Unabhängig von einander kamen beide Forscher zu dem Ergebnisse, daß im land-
rechtlichen Verfahren gegen den Weifenherzog noch Kreise des älteren Fürsten¬
standes mitbeteiligt waren, dagegen im lehnrechtlichen Prozesse nur Fürsten im
jüngeren Sinne zur Urteilsfällung zugezogen wurden. Daß der Prozeß Heinrichs
des Löwen den »Anstoß zu dem Wandel« der Auflassungen gegeben habe, stellt
jetzt J. Haller 427* in Abrede. Vgl. auch Heymann in Z*RG XXXII. S. 428.
*) Während Ficker a. a. 0. I 129 eine Regelung dieser Frage im Gesetz¬
gebungswege für ausgeschlossen, Güterbock S. 590 für zweifelhaft hält, nimmt
Bloch, Die staufischen Kaiserwahlen S. 297 4 eine bestimmte gesetzliche Ord¬
nung des ReichsiürstenStandes in jener Zeit an. Er stützt sich hiebei auf einen
Passus im Vertrage zwischen Friedrich I. und dem Grafen Balduin von Flandern
über die Errichtung der Markgrafschalt Namur (1184) und auf eine Stelle des
Chronisten Gislebert de Mons zum Jahre 1191. Doch läßt er es offen, »inwieweit
der Prozeß Heinrichs den äußern Anlaß oder gar mehr dazu gegeben hat«. Mit
Recht lehnt diese Auffassung Büchner, Die deutschen Königswahlen und da 9
Herzogtum Bayern, S. 31 1 ab. Vgl. auch Hugelmann in dieser Zeitschrift XXXTV.
369. Daß G. auch die Lehre von Fehr und Bruckauf ablehnt tS. 580), es habe noch
zur Zeit des Sachsenspiegels der Dualismus yon Amts- und Lehnfürstentum bestanden,
braucht nach dem Gesagten nicht besonders bemerkt zu werden.
*) Vgl. auch Kellers Aufsatz in Z S RG. XXX. 224 fl.
•) Vffl. H. Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 6. Aufl.,
S. 242 und R. Hübner, Grundzüge des deutschen Privatrechts, 2. Aufl., S. 131.
Literatur.
179
Qualität der Patrizierfamilien, hauptsächlich in jenen Städten Schwabens
und Frankens, in denen ein politischer Gewaltstreich Karls V. eine Wieder¬
erweckung des Patriziats und dessen neuerliche Einsetzung in das Stadtregi¬
ment gebracht hat (FG. II. 741—758). — In FB (737—760) aber prüft
X. Bauch die in der Literatur vielfach promiscue gebrauchten Bezie¬
hungen: »Stiftsmäßigkeit und Stiftsfähigkeit in ihrer begriff¬
lichen Abgrenzung* und zwar auf Grund eines auch für die Bechts-
gesehichle im Allgemeinen wertvollen Gutachtens, das er im Jahre 1908
in einem Streit über ein Familienfideikomiß zu erstatten hatte Und in dem
es auf die Auslegung der Worte: »stiftsmäßige Eltern* ankam 1 ).
VL Territorien und Städte. — E. Liese gang’s Studie: »Herzog
Adolf von Cleve im Grenzstreit mit Geldern* (FB. 213—219)
bringt wertvolle Daten über die Gebietsgrenzen zwischen Cleve und Geldern
im 15. Jahrh. — Als Ausschnitt aus einer größeren Untersuchung über das
Geleitrecht gilt der Aufsatz von H. C. Kalisch in FZ. 591—609: »Das
Geleitregal im kölnischen Herzogtum Westfalen*. Hier weist
er vor allem nach, daß den von Köln im 14. Jahrh. wiederholt erhobenen
Ansprüchen auf Anerkennung eines allgemeinen herzoglichen Geleitrechts
»zwischen Rhein und Weser* verschiedene verbriefte und zum Teile ältere
Geleitrechte für Territorialherren innerhalb des Herzogtums entgegenstanden 9 ).
Heues Licht fällt hiebei namentlich auf die Stellung der Grafen von Arns¬
berg zum Reiche, deren Grafschaft noch 1368, als sie an Köln verkauft
wurde, als allodiales Herrschaftsgebiet außerhalb des Lehnsnexus stand 8 ).
Daher seien in der Belehnungsurkunde Ludwigs des Bayern von 1338 für
den Grafen Gottfried von Arnsberg die Worte »ducatum infra terminos
dominii sui* nicht auf zu herzoglicher Gewalt gediehene Grafenrechte der
Arnsberger zu beziehen, sondern auf ein vom Reich lehnrühriges, dem Lehns¬
werber mit anderen Gerechtsamen vom Vater her angefallenes Geleitrecht,
wie ja ,ducatu8‘ fallweise auch für »conductus* gebraucht wird 4 ). K. behauptet
im Folgenden, daß die Worte ,cum conductibus* in der bekannten Urkunde
von 1180 betreffend die Errichtung des Herzogtums Westfalen sich weder
historisch noch staatsrechtlich auf ein von den Welfen überkommenes
Geleitrecht im ganzen Herzogtum beziehen lassen. Vielmehr sei das Ge¬
leitrecht damals in Westfalen wahrscheinlich noch unbekannt gewesen. Die
kölnische Kirche aber, der es von Lothringen her geläufig war, habe diesen
Vermerk »in blanco in die Bestallung* aufnehmen lassen, um auch etwa
vorhandene Geleitrechte mitbestätigt zu wissen 6 ). Erst als sich ein Geleit-
*) Vgl. hiezu auch den Aufsatz »Zur Frage der Stiftsfähigkeit« von 0. v.
Düngern in Grünhut’s Zeitschrift XXXIX. 242 ff.
*) Hochstift Paderborn, Herreu von Lippe, Grafen von Schwalenberg und
Everstem (Jansen, Die Herzogsgewalt der Erzbischöfe von Köln in Westfalen
8. 93 ff.), Grafen von Berg, von der Mark und von Arnsberg (Kalisch S. 596 ff.).
*) K. S. 602: comitatum et terram Amsbergensem cum castris, oppidis . . .,
quae omnia et singula nostra bona libera et alloclialia fuerunt et a neinine feodali
seu aüo iure dependent.
«) Daß »ducatus« hier nicht Herzogtum heißen kann, weil die Grafschalt
allodial und nicht vom Reich lehnrührig war, weil der Graf gar nicht Reichsfürst
war, was er als mit einem Herzogtum vom Reiche belehnter hätte sein müssen,
weist K. S. 605 ff. nach.
») Dann dürfte man nicht mehr mit Schröder, Deutsche Rechtsgeschichte,
5. Aun. S. 541 unter Bezugnahme auf die Urkunde von 1180 sagen, daß die
12 *
180
Literatur.
wesen entwickelte und man dessen Wert für die Schaffung einer gefestigten
Territorialmacht und deren Erweiterung auf das ganze Herzogtum erkannte,
seien die Bestimmungen der alten Urkunde von 1180 zur Begründung von
Ansprüchen hervorgeholt worden, »die sich aus ihr durchaus nicht recht-
fertigen ließen*. — »Die ordentliche Kontribution Mecklenburgs
in ihrer geschichtlichen Entwicklung und rechtlichen Be¬
deutung* untersucht R. Hübner in FG. JL (1139—1166). Ausgehend
von der ordentlichen Bede, die aus Altdeutschland im 13. Jahrh. nach
Mecklenburg verpflanzt wurde und an die sich auch dort außerordentliche
Abgaben anschlossen, zeigt er deren Ausgestaltung zur landständischen Steuer
seit dem 16. Jahrh., beleuchtet die Kämpfe zwischen Ständen und Landes¬
herren um das Steuererhebungsrecht und bespricht die Regelung dieser Fragen
durch den landesgrundgesetzlichen Erbvergleich von 1755, durch die Ver¬
einbarungen mit den Ständen im Jahre 1808 und 1809 und die Steuer¬
reform von 1870, die in ihrer ordentlichen Kontribution eine Steuer des
alten Finanzsystems, eine Abgabe aus der Zeit des ständischen Staates
neben einem modernen Ertragsteuersystem in aller Form weiterbestehen
ließ. — Auf Grund von Forschungen namentlich in kämtnerischen Archiven
versuchte ich in FZ. (209—235) »Skizzen zur bambergischen Zen¬
tralverwaltung für Kärnten im Mittelalter vornehmlich im
14. Jahrhundert* zu entwerfen 1 ).
Die Entwicklung des Städtewesens beleuchten Aufsätze von C. Ro¬
denberg, G. Dez Marez und G. v. Schmoller. R. prüft in seiner
Abhandlung »Die Stadt Worms in dem Gesetze des Bischofs
Burchard um 1024* (FZ. 237—246) — allerdings ohne Auseinander¬
setzung mit der reichen Literatur — das Wesen der bischöflichen Herrschaft
über diese Stadt. Hiebei vertritt er die Auffassung, es habe hier die ganze
Stadt zu jener familia 8. Petri gehört, für welche der Bischof das Statut
erlassen hat. Denn dieses Gesetz enthalte eine Reihe von Vorschriften »für
die Stadt insgemein, nicht nur für einen bestimmten Personenkreis in ihr*,
mithin sei der Begriff der familia »nicht nur ein personaler, sondern auch
ein territorialer*. Zu ihr zählt er daher auch die freien Grundeigentümer,
die von Alters her in der Stadt lebten und 979 unter die Grafengewalt
des Bischöfe kamen. Ihm gelang es, sie trotz ihrer Freiheit auch in eine
gewisse hofrechtliche Abhängigkeit zu bringen, wodurch sie in der Ver¬
äußerung ihres Grundbesitzes in der Stadt und in ihren Eheschließungen
beschränkt wurden und ein »vermutlich öffentliche und privatrechtliche
Verpflichtungen* vereinigendes Servitium zu leisten hatten. Diese Anglie¬
derung der freien Bevölkerung der Stadt an die Grundherrschaft des Bischöfe
und die ihr folgende »Mischung von öffentlichem Recht und Hofrecht* aber
erklärt R. aus der Erscheinung, daß die dem Bischof vom Reich verliehene
öffentliche Gewalt hier wie in anderen Bisehofestädten durch Organe der
Grundherrschaft geübt wurde. Schließlich erblickt er in dem Privileg
Heinrichs V. (1114) für Worms, das die hofrechtliche Beschränkung bei
Herzoge das Geleitrecht von jeher geübt zu haben scheinen. Nach K. ist es
ein erst verhältnismäßig spät entstandenes, den Grundsätzen des Zollrechts unter¬
worfenes Landeshoheitsrecht.
l ) Auch selbständig erschienen: Weimar 1909. Vgl. hierüber Heymann in
Z*RG XXXII. 429 ff. und Uhlirz in Deutsche Literaturzeitung (1912) 1075 ff.
Literatur.
181
der Eheschließung beseitigte, nicht die Begünstigung einer einzelnen Be-
Tölkertmgsklasse, sondern im Vergleich mit einer Ähnlichen Urkunde aus
1111 für Speier 1 ) eine Gunstbezeugung für alle Bürger der Stadt. —
Dez Marez hingegen erbringt in der Abhandlung: »Le sens iuridique
du mot »oppidum* dans les textes flamands et braban^ons
des HI— Xni® siöcles* (FB. 339—348) an der Hand zahlreicher
einschlägiger Urkunden den Nachweis, daß dort das Wort »oppidum* nicht
einen ummauerten oder befestigten Ort bezeichnet, sondern als Rechtsaus-
druck für Ansiedlungen erscheint, die auf der Grundlage städtischen Rechts
privilegiert waren, mochten ihre Bewohner auch Landwirtschaft betreiben. —
Der Aufsatz Schmollers »Die Bevölkerungsbewegung der deutschen
Städte von ihrem Ursprung bis in’s 19. Jahrhundert* (FG. IL
167—221) untersucht als Beitrag zur deutschen Sozial- und Wirtschafts¬
geschichte auf Grund »historisch-statistischer Materialien* für eine große
Zthl von Städten, insbesondere in den Rheinlanden und unter ihnen ein¬
gehendst für Köln, das Aufsteigen, den Stillstand, den Rückgang und die
schließliche Wiederzunahme der Bevölkerung. Er forscht nach den Ursachen
dieser Bewegung und nimmt namentlich zu zwei »innerlich zusammen¬
hängenden Fragen* Stellung: ob und inwieweit »die innere Verfassung und
Verwaltung der Städte und deren Beeinflussung durch die über ihnen
stehenden Gewalten Einfluß auf das Wirtschaftsleben und die Bevölkerung
hatten*, und ob »die Zunahme de* interlokalen wirtschaftlichen Verkehrs
nicht Schwierigkeiten erzeugte, wenn Stadt und Land, verschiedene Ge¬
meinden, verschieden! Bezirke nicht unter einer einheitlichen politischen
Gewalt standen*.
VTI. Preußische und neueste deutsche Geschichte. —
Friedrich IL versuchte am Beginne der Regierung Kaiser Karls VIL, als
England zu Gunsten M. Theresia’s auftrat, »die organischen Einrichtungen
<ler Reichsverfassung zum Hebel seiner Großmachtstellung zu machen*.
Dachte er sogar daran, den deutschen Reichstag, die Reichsarmee oder doch
die Reichskreise für die Wahrung der Reichsneutralität, für die Sache des
Kaisers und die Zwecke der preußischen Politik in Bewegung zu setzen.
Für einen im Zuge dieser Politik unternommenen diplomatischen Vorstoß
Preußens, für Verhandlungen, die der König diesfalls mit dem englischen
Hofe im Winter 1742/3 führte, gewinnt der leider seither schon verstorbene
große Geschichtschreiber Preußens R. Koser eine Reihe neuer Gesichts¬
punkte in seinem Beitrag zu FZ. (369—383): »Eine preu ßisch-eng-
Hsche Verhandlung von 1743 wegen d er Reichsneutralität*.
— 0. Krauske bringt psychologisch interessante »Skizzen vom
Berliner Hofe am Anfang des siebenjährigen Krieges* (FZ.
311 —327). Hiefür verwertet er namentlich die Tagebuchblätter und Briefe
der Prinzessin Wilhelmine, der Gemahlin des Prinzen Heinrich von Preußen.
Ei sind Stimmungsbilder vom preußischen Hofe, die manch* interessanten
Einblick in den Gegensatz der Persönlichkeiten innerhalb der königlichen
Familie selbst geben. — R. Arnold legt als Beitrag zur Entwicklung der
preußischen Ämterorganisation »Die Anfänge des preußischen Mili-
*) über sie vgl. die Aufsätze von Bendel und Hafen im 32. und 33. Heft der
Mitt. des hist. Ver. d. Pfalz (1912 und 13).
182
Literatur.
tärkabinets* dar (FZ. 169—200). — Für Preußen selbst, zugleich aber
auch für die Verwaltungsgeschichte im Allgemeinen, ist besonders wertvoll
die vergleichende Studie 0. Hintze’s (FZ. 493—528) »Der Kommis-
sarius und seine Bedeutung in der allgemeinen V erwal-
tungsge schichte*. Der Verfasser bespricht zunächst die Kommissariats¬
behörden Preußens im 18. Jahrh., die sich in der Hauptsache aus der
etwas älteren Einrichtung der Kriegskommissarien entwickelt und gleich
diesen als eine jüngere Schicht des preußischen Beamtentums, außerhalb der
alten Landesverfassungen und des alten Landrechts stehend an der Zer¬
trümmerung des ständischen Staates und an dem Aufbau des absolutistischen
Militärstaates kräftig mitgewirkt haben. In weitausblickender Perspektive
zeigt er dann für verschiedene Staaten und Zeiten das Emporkommen der¬
artiger Kommissarien im Gegensätze zu festen Ämtern. Wir erhalten in¬
teressante rechtsgeschichtliche Einblicke namentlich in die französische und
spanische Verwaltung, in das päpstliche und bischöfliche Delegationswesen
und werden zurückgeleitet bis zu den »missi* der karolingischen Epoche.
Überall tritt der Unterschied zwischen »office* und »commission*, zwischen
»Beamten* und »Kommissar* hervor. Auch zeigt er, daß diese Frage wissen¬
schaftlich schon von der mittelalterlichen Kanonistik behandelt, späterhin
namentlich von Bodinus ausführlich entwickelt wurde, dessen Auffassung
für das französische Verwaltungsrecht des »Ancien regime* eine ähnliche
Bedeutung erlangt hat, wie seine Lehre über die Souveränität für die Ent¬
wicklung des Staatsrecbts.
Einzelfragen der neuesten deutschen Geschichte behandeln die
Beiträge von F. Meinecke und H. Triepel. Ersterer bringt in der Ab¬
handlung »Zur Kritik der Badowitz’schen Fragmente* (FZ. 51
—59) einen quellenkritischen Beitrag zur Geschichte der politischen Wand¬
lungen in Preußen aus der Zeit Friedrich Wilbelm’s IV. Letzterer erweitert
und berichtigt unter dem Titel »Zur Vorgeschichte der nord¬
deutschen Bundesverfassung* (FG. II. 589—644) in wichtigen
Punkten die bisherigen Ansichten über die Entstehung dieses Verfassunga-
werkes und würdigt hiebei auch den persönlichen Anteil, den der große
Kanzler schon an den im Spätsommer 1866 einsetzenden Vorarbeiten ge¬
nommen hat.
VH!. Geschichte der Kechtsquellen. — Fränkische Zeit
Als Numismatiker prüft A. v. Luschin in seinem Beitrag zur FZ. (201—
207) »Zur Geschichte des Denars der lex Salica* das Alter dieses
Volksrechts von der Frage aus, ob die Franken den in der lex Salica ge¬
nannten Denar im Werte eines Vierzigstel Solidus aus ihrer Heimat nach
Gallien mitgebracht haben 1 ). — M. Krammer, der die Herausgabe dieser
Lex für die M. G. übernommen hat und zu diesem Behufe Handschriften
und Texte einer ebenso eingehenden, wie scharfsinnigen Prüfung unterzieht 8 ),
zeigt in seiner Studie »Zur Entstehung der lex Salica* (FB. 405—
471), daß und warum dem der Zeit Pippins angehörenden »Epilog* für
diese Frage besondere Bedeutung zukommt. Als dessen eigentliche Heimstätte
betrachtet er die nach seinen Forschungen älteste uns erhaltene, der Urform
*) Vgl. Luschin in den Wiener Sitzungsberichten (phil. hist. Kl. Bd. 163).
*) Vgl. Krümmer in NA. XXXIX. 601 ff
Literatur.
183
zunächst stehende Textgestaltung dieses Volksrechts, den von ihm nun¬
mehr mit A btzeichneten, bisher sogenannten Hunderttiteltext in der glos¬
sierten Form. Aus ihm und aus dem Inhalt der Lex gewinnt er das wert¬
volle Ergebnis, daß diese von Haus aus kein einheitliches Werk war, viel¬
mehr aus drei auch zeitlich von einander getrennten Teilen bestand, die
»ns den Jahren 486—496 (1—74), 496—507 (75—77) und 524—558
»vielleicht auch 557) stammen. Sie rühren von Chlodovech und zwar nach
der Besiegung des Syagrms und vor bezw. nach seiner Taufe, im letzten
Teile aber von Childebert und Chlotar her, waren jedoch nicht für alle
Salier, sondern nur für „die salisch-römische Mischbevölkerung im ehemaligen
Reiche des Syagrius* zwischen Kohlenwald und Loire, mithin in Neustrien
berechnet Die älteste uns erhaltene Fassung, aus der K. „den alten mero-
wingisehen Text, so wie Chlodovech und seine Söhne ihn haben aufzeichnen
lassen«, in seiner Reinheit wieder herstellen zu können hofft l ), gehört
erst der Zeit Pippins an. Damals habe man die drei Teile unter Weg¬
lassung der Eingangs- und Schlußworte zusammengezogen, die alten
Königsnamen entfernt und an deren Stelle der Prolog „Gens Francorum*
als Publikationspatent Pippins (vermutlich 763/4, sicher 751—764) gesetzt,
am alten Texte jedoch nichts Erhebliches geändert (Fassung A). Von Pippin
sei die Lex auch in Austrasien eingeführt worden, was eine Umgestaltung des
alten Textes in die Fassung B verlangte, um sie durch Anpassung an die
»austrasischen Gewohnheiten* auch „dort lebensfähig zu machen*. — Der
im Herbst 1912 so unerwartet früh verstorbene 8 ) Eechtshistoriker S. Bietschel
tritt in einer Studie über „Das Volksrecht der Friesen* (FG. II.
223 —244) gegen die als herrschend zu bezeichnende sog. Kompilations¬
theorie auf und bringt für die von Heck vertretene Einheitlichkeit der
Aufzeichnung neue Argumente, die er namentlich aus der äußeren Über¬
lieferung, aus Inhalt, Stil und Sprache der Lex Frisonum gewinnt. Sie ist
für R. „kein Gesetz, keine Sammlung von Gesetzen, aber ebensowenig auch
eine Kompilation oder eine systematische Bearbeitung älteren schriftlichen
^uellenmaterials*, vielmehr das „um S02 von einem fränkischen Beamten,
wahrscheinlich in Aachen, aufgenommene lateinische Protokoll über Rechts-
wtisongen, die von Kommissionen aus den drei friesischen Landschaften und
von zwei einzelnen Bechtskundigen über das gesamte friesische Recht sowohl
volksrechtlichen, wie herzogs- oder königsrechtlichen Ursprungs erteilt
wurden*.
Deutsches Mittelalter. — Mit dem Sachsenspiegel befassen »ich
ße Beiträge meines mir unvergeßlichen Lehrers K. Zeurner, der nach
ungern, mit heldenhafter Geduld ertragenem Siechtum am 18. April
1914 verschieden ist 3 ). In FB. (135—174 und h 39—841): „Die »äch-
rische Weltchronik, ein Werk Eikes von ßepgow«, verhilft er
fer älteren Lehre ans überzeugenden Gründen wieder zur Geltung, daß
Weltchronik und Sachsenspiegel Werke desselben Verfasser» sind. In hohem
Grade macht er wahrscheinlich, Eike sei nach Vollendung de» Sachsenspiegel»,
Erdings nicht vor 1233, in den geistlichen Stand eingetreten und habe viel-
*) NA. XXXIX. 691.
*) VgL den Nachruf von A Schlitze in Z*KG XXXIII VII ff
r i Vgl. die Nachrufe von R. Saiomon i v.i .SA XXXIX. 3 ff. von
M Krimmer in Z*RG XXXV 8. IX ff
184
Literatur.
leicht geradezu Aufnahme in ein Domstift gefunden, ein Übertritt, der ihm um
so leichter gefallen sein mochte, als er die Grundlage für seine entwickelte
gelehrte Bildung offenbar schon in seiner Jugend in einem Kloster oder
in einer Domschule empfangen und zu geistlichen Bildungsstätten fortdauernd
Beziehungen erhalten haben dürfte. Hiefür spricht seine eingehende Kenntnis
der lateinischen Sprache, nicht minder eine gewisse theologische Schulung
und Vertrautheit mit der Bibel und mit den Einrichtungen der Kirche,
nicht zuletzt auch sein von tiefer Religiosität Zeugnis gebendes Gedanken¬
leben. Wir können ihn daher mit Z. in seinem Weltleben mehr als Laien
ritterlichen Standes mit geistlichen und gelehrten Neigungen, denn als
Ritter im eigentlichen Sinne bezeichnen und es gewinnt so sein »Lebens¬
bild neue wichtige Züge und frische Farben*, seine geniale Persönlichkeit
aber zugleich »eine das bisher anerkannte Maß noch weit überragende Be¬
deutung*. Nicht minder ergeben sich hier neue und wertvolle Gesichts¬
punkte l ) für die Beurteilung des großen Geschichtswerkes aus dem Sachsen¬
lande, das nun wohl als »Weltchronik Eikes von Repgow* zu bezeichnen
ist, und für dessen Verhältnis zum SachsenspiegeL Anschließend an eine
kurze Bemerkung im NA XXXV. 611 ff. widerlegt Z. in FG. II. (455—474)
in seiner Studie: Ȇber den verlorenen lateinischen Urtext des
Sachsenspiegels* die von Philippi in diesen Mitteilungen XXX. 401 ff.
aufgestellte Vermutung, der Sachsenspiegel sei ursprünglich in deutscher
Sprache abgefaßt worden. Die herrschende Lehre durch neue Argumente
stützend, deckt er namentlich Spuren des lateinischen Urtextes in zwei
Stellen der Stader Annalen (zu den Jahren 917 und 1240) auf, die von
der Herkunft der Sachsen und der Entstehung des Litenstandes, sowie von
der Königswahl handeln. Sie zeigen eine Abhängigkeit vom Sachsenspiegel,
sind aber nicht aus der deutschen Fassung geschöpft und ins Lateinische
rückübersetzt, sondern vermutlich dem lateinischen Urtext des Rechtsbuches
entnommen worden. — E. Müller beschreibt in FZ. (329—347) »eine
unbekannte westfälische Sachsenspiegelhandschrift*. Sie
findet sich in einem durch den Schulrektor Johann Ubach im Jahre 1444
geschriebenen »alten Rechtsbuche* im Archiv der Münsterschen Landstadt
Werne a. d. Lippe und enthält das Landrecht des Ssp., von ihm getrennt
die Buch’sche Glosse, ferner das Lehnrecht des Spiegels und den Richtsteig
Landrechts 2 ). — »Studien zum kleinen Kaiserrecht* ver¬
öffentlicht in FG. H. (421—453) A. B. Schmidt. In ihnen gibt er wert¬
volle Winke für eine neue Ausgabe dieses Rechtsbuches, berichtet über
weitere Handpchrifbenfunde, über Alter und Heimat des Werkes. Aus einer
Prüfung von Einzelbestimm?ingen gewinnt er für die Frage nach der Ent¬
stehungszeit kein befriedigendes Ergebnis. Für sie könne nur die allgemeine
Weltanschauung des Verfassers in Anschlag gebracht werden, jene Idee
eines Weltkaisertums, wie sie in der ersten Hälfte des 14. Jahrh., namentlich
zur Zeit Ludwigs des Bayern, die Geister beherrschte. Man wird daher mit
Sch. die Abfassung des Rechtsbuches nicht vor die Mitte der Zwanzigerjahre
*) Vgl. hiezu auch E. Rosenstock, Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II.
S. 115 ff
*) Über eine weitere Sachsenspiegelhandschrift aus dem 16. Jahrh. vgl.
F. Salomon in Z f RG XXXIII. 663 ff.
Literatur.
185
des 14. Jahrh. und wenn ein unmittelbarer Einfluß der Vorgänge von
Rense und der Schrift Lupolds von Bebenburg »de iuribus regni et im-
perii € vorliegt, nicht vor 1338 ansetzen dürfen, wogegen als Endtermin
der Beginn der Vierziger Jahre gelten darf.
Lombardisches Recht. In einer Studie: ,Un nuovo documento
sopra Gualcoso e la storia della cosi detta Valcausina«
(FB. 539—572) berichtet A. Gaudenzi über eine in den Kodex 182 der
KapitelbibL zu Vercelli eingeheftete Gerichtsurkunde von 1064, die in ihrem
noch erhaltenen Teile die eigenhändige Unterschrift des Walcausus mit dem
Zusatz » iudex . . missus domini regis ssi« aufweist. Im Anschlüsse an
seine früheren Arbeiten entwickelt er neue Hypothesen über die sog.
Walcausina und reiht daran manch 1 interessante Bemerkung zur italienischen
Rechtsgeschichte. — F. Patetta prüft in einer Abhandlung: ,Nuove
ipotesi sulla patria della cosi detta Lombarda« (FB. 349—378)
namentlich die neueren Meinungen über die Heimat dieses Rechtsbuches,
ohne freilich hiedurch das vielumstrittene Problem zu lösen. Der in diesem
Zusammenhänge oft besprochenen, nach seiner Meinung jedoch für die Frage
nach dem Entstehungsorte unwesentlichen Eintragung in den Kodex 328
von Monte Cassino gibt er eine neue Lesart, indem er das textlich fest¬
stehende »Pedone« als das in Ligurien gelegene frühmittelalterliche P e d o n a,
oder, was aber auch ihm weniger wahrscheinlich dünkt, durch Aufstellung
einer Lesart »per Terdone« als Tortona erklärt. — E. Seckel endlich
gibt in FG. I. (L S. 47 — 168) einen die Arbeiten von Dieck, Laspeyres und
K. Lehmann in wesentlichen Punkten erweiternden Bericht über eigene
»Quellenfunde zum lombardischen Lehnrecht insbesondere
zu den Extravaganten-Sammlungen«. Hiefür verwertet er aus der
Reihe der ihm bekannten sieben Handschriften der »Summa feudorum« des
Jakobus de Ardizone nur den reichhaltigen Kodex 2094 der Wiener Hof¬
bibliothek. In ihm konnte er insbesondere auch eine an diese Summa sich
anschließende gekürzte Bearbeitung einer großen Ardizonischen Extrava¬
gantensammlung zum lombardischen Rechtsbuche feststellen, wodurch dank
der einfachen Reduktionsmethode des mittelalterlichen Bearbeiters auch diese
Sammlung selbst der Forschung wiedergegeben ist. Außerdem entdeckte
er in dieser Handschrift eine zwar nicht in extenso gehaltene, aber als
exakt angefertigte Analyse zu bezeichnende »compilatio feudorum secundum
Ardizonem«, einen »über Ardizonis«, der als »Vorlage«, als »wichtige
Zwischenquelle« für die erwähnte Extravagantensammlung in Betracht
kommt.
Kirchliche Rechtsquellen. — 0. Gradenwitz erörtert in
FG. IL (1069—1089): »Die Unstimmigkeiten von Valentinians
Novelle XXXV (XXXIV) de episcopali iudicio«. Seine quellenkritische
Untersuchung ist für die Darstellung der Entwicklung der geistlichen Ge¬
richtsbarkeit im römischen Reiche von großem Werte. Auch nimmt sie
zu der Frage Stellung, ob dvse Novelle in der Gestalt überbefert ist, wie
sie Valentinian selbst erlassen hat, und ob sich nicht aus ihr ein auf Kon¬
stantin zurückreichender Kern ausschälen läßt, der verschiedene Zusätze und
Änderungen erhielt — E. Seckel hingegen analysiert, wie vor Jahren die
Beschlüsse des Konzils von Nantes, so nunmehr in FZ. 611—635 »Die
ältesten Canones von Rouen«, die in verschiedenen ältern und jüngern
186
Literatur.
Sammlungen Aufnahme gefunden haben. Er stellt fest, daß nur acht Stücke,
die durch die Autorität Reginos von Prüm gedeckt sind, als echte und ur¬
sprüngliche Schlüsse eines solchen Konzils von Rouen gelten dürfen, das
jedoch nicht dem 7. Jahrh. angehört, sondern entsprechend der Rolle, welche
zwei Kanones in der Entwicklung der kirchlichen Sendgerichte spielen, un¬
gefähr der Mitte des 9. Jahrh. zuzuweisen sein wird. — Als wertvoller
Nachtrag zur Ausgabe der fränkischen Konzilien stellt sich die Arbeit
Werminghoffs in FB. (39—55) dar: »Zu den bayrischen Synoden
am Ausgang des achten Jahrh.*. In einem neuerworbenen Kodex
des kgl. Hof- und Staatsbibliothek in München (cod. lat. 28.135 saec IX)
entdeckte G. Leidinger neues Quellenmaterial zur kirchlichen Verfassungs¬
geschichte und stellte diesen Fund W. zur Verfügung. Namentlich handelt
es sich auch um eine bisher unbekannte Vorrede zu Konzilschlüssen von
Reisbach, Freising und Salzburg, vermutlich aus dem Jahre 800. An ihre
Veröffentlichung knüpft W. verschiedene, die Gründung der Metropolitan¬
verfassung in Bayern und die Beziehungen dieser Provinzialkonzilien zu
Karl d. G. und Leo III. betreffende Fragen und Vermutungen *).
IX. Geschichte des Privatrechts. — Fragen von allgemeinerer
Bedeutung werden in anregendster Weise von H. Fehr in seinem Beitrag
zu FG. II. (851—916) erörtert: »Die Rechtstellung der Frau in
den Weistümern*. Es ist ein Ausschnitt aus einem größeren, 1912 er¬
schienenen Werke dieses Rechtshistorikers, das von anderer Seite in dieser
Zeitschrift besprochen wird. — Interessante Belege für das Fortleben der
germanischen Rechtssymbolik namentlich im Rechtsverkehr mit Immobilien
bringt der Aufsatz von M. Tangl: »Urkunde und Symbol* in FB. (761
—773). Er ist auch von großem Werte für die Erkenntnis der Privat¬
urkunde des frühen Mittelalters. Bekanntlich schoben sich zwischen die
römische und die germanische Form der Landübertragung vielgestaltige
Misch- und Übergangsformen. Ausgehend von dem Testamente Fulrads von
St. Denis (777), das an einer der Originalausfertigungen unter dem Sub-
skriptionszeichen des Notars die Zweigspitze der festuca befestigt zeigt, mithin
al9 vereinzelter Fall das Übereignungssymbol auf der carta anbringt, er¬
wähnt T. aus dem »Nouveau traite* der Mauriner für eine spätere Zeit Bei¬
spiele, die der volksrechtlichen Auffassung wesentlich näher stehen, indem sie
die Urkunde als notitia auf das Symbol 2 ) setzen (Eintragung auf den
Griff eines Messers, Einschneiden in den Stab, Überziehen des Stabs mit einem
Bleimantel, in den man die Notitia einritzte). Als Mittelglied zwischen
beiden Gruppen aber veröffentlicht er zwei in französischen Werken schon
gedruckte, dem Kreise von Chartres angehörige Notitiae aus der Wende des
12. zum 13. Jahrh., die freilich nicht mehr im Original, sondern nur als
paläographische Abschriften in der Collection Gaignifcres der Pariser National¬
bibliothek erhalten sind, wo T. sie selbst eingesehen hat. Sie bedeuten einen
für jene Zeit »vereinzelten Rückfall in die volksrechtliche Anschauung*.
Denn sie legen das Schwergewicht nicht auf die Besieglung der Urkunde,
sondern auf die »Rechtshandlung und das Symbol*. Durch »das Nieder-
i) Vgl. E. Pereis im NA. XXXV. 597—699.
*) Zur Frage, ob nicht Messer und Festuca auch Persönlichkeitszeichen waren,
vgl. H. Meyer in FG. II. 981.
Literatur.
187
legen des Messers auf den Altar der Kirche* wurde der Rechtsakt in beiden
Fällen abgeschlossen. Ihm folgte die Abfassung der Notitiae, an denen so¬
dann die Messer befestigt wurden. Die Behauptungen Michelsens und Mor-
caldis über häufiges Vorkommen solcher Fälle in Frankreich bezw. in saler-
nitanischen Urkunden muß T. jedoch als derzeit noch nicht bewiesen er¬
klären x ). — Interessante Belege aus Quellen des 13. Jahrh. bringt P. Vino-
gradoff in FB. (573—577): »Zur Geschichte der englischen
Klassifikation der Vermögensarten* namentlich unter Besprechung
eines Prozesses vor dem Gericht der Common Bench in Westminster aus
dem Jahre 1219, in dem nicht prozessual, sondern materiellrechtlich die
Unterscheidung zwischen dinglichem und persönlichem Vermögen
deutlich hervortritt Hiebei zeigt V., daß in England wie in anderen west¬
europäischen Staaten der abstrakte Absolutismus des klassischen römischen
Rechts für den Eigentumsbegriff nicht übernommen wurde. Doch erklärt er
diese Unterscheidung innerhalb des Vermögens auch aus dem » Gegensatz
zwischen weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit und Rechtsauffassung*.
— Das Haftungsproblem behandeln Arbeiten von R. Caillemer,
J. Köhler und H. Meyer. In einem Aufsatze: »Les form es et la
nature de l’engagement immobilier dans la region lyonnaise
(X e —XHL® siöcles)* skizziert Caillemer in FB. (279 — 307) an der Hand
eines reichen gedruckten Materials die verschiedenen Arten von Liegen¬
schaftspfandrechten, welche im Gebiet von Lyon während der ersten Jahr¬
hunderte des Mitteln!tera nachweisbar sind (Eigentums- oder Substanzpfand,
Nutzungspfand oder ältere Satzung, beide mit verschiedenen Abwandlungen).
Ist die Arbeit eine willkommene Ergänzung des Bildes, das bisher für die
Entwicklung dieses Rechtsinstituts auf französischem und deutschem Boden
geboten werden konnte, so bringt sie namentlich auch interessante Ein¬
blicke in die Geld- und Kreditgeschäfte frühmittelalterlicher Klöster. —
»Die Ausläufer der langobardischen Vadia im 15. Jahrh.*
bespricht J. Köhler in aller Kürze in FG. I. (EL 277—30l), allerdings
ohne auf die einschlägige Literatur Rücksicht zu nehmen. Für die Wadia
selbst bringt er eine merkwürdige, nicht näher begründete Erklärung 2 ). Sie
ist ihm ein »ehemaliger Fetisch*, ein »mit dem Geist der Person oder mit
dem Geist ihres Vermögens erfülltes Heiligtum, durch dessen Übertragung
Person oder Vermögen auf den Anderen übergeht*. Diese Wadia be¬
trachtet er als Haftmittel, doch soll sie dem Gläubiger — ähnlich der
Auffassung Gierke’s 8 ) — nur die Befugnis geben, sich an das Vermögen
des Haftenden, nicht an dessen Person zu halten. Mit Unrecht leugnet er
such die spezifische Verbindung der Wadiation mit der Bürgschaft 4 ). Ferner
zeigt er. was übrigens für Italien wie für andere Rechtsgebiete schon be¬
kannt war 5 ), daß für den Nichtzahlungsfall in den Urkunden dem Gläubiger
*) Vgl. hiezu 0. Redlich, Die Privaturkunden des Mittelalters, S. 54 u. 55.
*) Vgl. dazu Amira, Die Wadiation (1911) S. 5, der mit Recht erklärt, es
entziehe sich diese Theorie, da r‘e »ohne einen ernsten Versuch der Begründung
auftritt«, systematischer Kritik.
*) Schuld und Haftung (1910) 78 ff. und 259 ff.
«) Vgl. Amira a. a. 0. 8. 8.
*) Vgl. z. B. Voltelini, Acta Tirolensia II. S. LI ff., Gierke, Deutsches Privat¬
recht H. 824 ff, Schuld und Haftung 333 ff. und jetzt namentlich H. Planitz, Die
Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalterlichen Recht 274 ff. für die Ge¬
neralhypothek in Deutschland seit dem 12. Jahrh.
188
Literatur.
wiederholt das Schuldnerische Vermögen zu Pfand gegeben wurde, wozu
noch häufig eine ausdrückliche Erlaubnis trat, » solche Vermögensgegenstände
des Schuldners* ohne gerichtliche Intervention »an sich zu ziehen und durch
Gebrauch oder Veräußerung zu verwerten*. Soweit nicht unter romani¬
stisch em Einflüsse hier eine Generalhypothek des römischen Rechts geschaffen
wurde, erhielt der Gläubiger durch eine solche Verhaftung des Vermögens
kein Pfandrecht als dingliches Recht, sondern nur ein Pfändungsrecht an
dem Vermögen des Schuldners. Endlich sagt uns 1L, daß noch Urkunden
des 15. Jahrh. aus Vicenza neben einer solchen Vermögenshaftung auch
eine leibliche Haftung des Schuldners kennen, und auf dieser Grundlage
die persönliche Inhaftnahme des Säumigen gestatten. Sechs ihm gehörige,
einschlägige Urkunden aus dieser Stadt für die Jahre 1445 bis 1480 bringt
er im Anhänge zum Abdruck. — »Zum Ursprung der Vermögens¬
haftung im deutschen Rechte* äußert sich H. Meyer (FG. II. 973
—1005) in einem für die Erkenntnis des altgermanischen Haftungsrechts
ebenso wertvollen, wie lehrreichen Beitrage. Im Anschlüsse an seine früheren
Arbeiten und namentlich gegen A. Egger, 0. v. Gierke und M. Rintelen *)
Stellung nehmend, tritt er für die von K. v. Amira*) und Anderen ver¬
tretene Lehre ein, die für das ältere germanische Recht »neben der per¬
sönlichen und der Sachhaftung* einen dritten selbständigen Haftungsbegriff,
den der Vermögenshaftung nicht zuläßt, vielmehr an dem ursprünglichen
Haftungsdualismus festhält. So ist auch ihm die Vermögenshaftung nur
eine »Erscheinungsform der Personenhaftung*. Aufgabe der alten Wadiation
war es daher nicht, wie Gierke lehrt, für eigene oder fremde Schuld eine
Verhaftung des Vermögens zu bewirken, auf daß dieses dem Zugriff de3
Gläubigers unterworfen sei 8 ), sondern durch sie wurde, wie M. ausführt,
auf rechtsgeschäftlichem Wege eine symbolische Verpfändung der Person
des Schuldners, eine ideelle Vergeiselung herbeigeführt, mithin Personen¬
haftung begründet und zwar durch Geben und Nehmen des Stabs, des ur-
germanischen Wadiationssymbols, eines Scheinpfandes 4 ), das zum Symbol der
Personenhaftung wird. Diese Bürgschaft gab jedoch dem Gläubiger nach
M., der hier Gierke 5 ) folgt, in der ersten Zeit »kein Befriedigungsrecht aus
dem Vermögen des Bürgen*, sondern nur ein Recht auf dessen Person:
»Bürgen soll man würgen* (S. 977). Doch mußte der Gläubiger im Gegen¬
sätze zur Geiselschaft 6 ) »hier die Haftung erst realisieren durch Zugriffe auf
den Bürgen, den er binden und töten mag*. Er hatte sich erst der Person
‘) A. Egger, Vermögenshaftung und Hypothek (1903), M. Rintelen, Schuld¬
haft und Einlager (1908), 0. v. Gierke, Schuld und Haftung (1910) und »Grund-
züge des deutschen Privatrechts« in der 7. Auflage der HoltzendorfFsch en Enzy-
clopadie der Rechtswissenschaft, I. 267.
*) K. v. Amira in Z*RG XXXI. 490, ferner »Die Wadiation« S. 33 und
»Grundriß des germanischen Rechtes« 3. Aufl. S. 214 ff. Vgl. Hübner a, a. O.
S. 417 ff.
*) Gierke, Schuld und Haftung, S. 78 ff. und S. 259 ff.
4 ) Vgl. 0. Peterka, Das offene zum Schcinhandeln im deu.sehen Rechte des
Mittelalters S. 13 f.
*) a. a. 0. S. 61 ff. und S. 165 Anm. 68.
•) »Der Geisel verfiel bei Schuldverzug ohne weiteres dem Gläubiger mit
seinem Leib und dem, was er an sich trug, mit seiner Freiheit und Ehre: was er
daheimgelassen, blieb dem Zugriff des Gläubigers entzogen«. Amira, Wadiation
S. 42—43.
Literatur.
189
des Haftenden zu bemächtigen, sie mußte ihm nach jüngerem Hechte gerichtlich
überantwortet werden. Hiezu bedurfte es jedoch »schon zur Zeit der Volksrechte
einer gerichtlichen Feststellung der Verwirkung der Mannheiligkeit* durch
Urteil. Aber es war dies gewissermaßen nur eine »relative Friedlosigkeit
dem Gläubiger gegenüber* und sie war auf die Person beschränkt. Es
wurde nach M. nur die »äußere Form des Friedloslegungsver¬
fahren gewählt, weil kein anderes Verfahren zur Verfügung stand*
(8. 989). Denn es galt »nur Feststellung der dem Gläubiger auf Grund
des Gelöbnisses bereits zustehenden personenrechtlichen Macht gegen¬
über dem Haftenden*, wogegen Amira 1 ) mit Recht betont, daß der Gläubiger
diese Gewalt über den auf freiem Fuße befindlichen Bürgen erst durch das
Achtverfahren erlangte, wobei jedoch der geächtete Bürge in alter Zeit
nicht nur dem Gläubiger, sondern jedermann, und nicht nur mit seinem
Leib, sondern auch mit der ganzen Habe verfiel, über die er verfügen
konnte. Des Weiteren bestreitet M. überhaupt, daß »durch Privat¬
rechtsgeschäfte im alten germanischen Recht eine Haftung de3 Ver¬
mögens erzielt werden konnte* (S. 982). In allen solchen Fällen sieht
er eine strafrechtliche Personalhaftung. In diesem Sinne ist ihm das Be¬
treibungsverfahren »ex re praestita* und »ex fide facta* im Anschlüsse an
Planitz 2 ) eine »eigentümliche Abspaltung des Ächtungsverfahrens*, die
»Haftung des Gewähren für Rückerstattung des Kaufpreises*, ein Fall »ur¬
sprünglicher deliktiscber Haftung*, wie er auch dem Gewährschaftszug und
der Einrede des Erbganges von Haus aus lediglich »strafprozessualen Cha¬
rakter* beimißt, sie als strafrechtliche Reinigung gegenüber dem klägerischen
Anspruch betrachtet. Gewaltige Aufgaben hatte daher das Strafrecht der
Urzeit zu erfüllen, indem es den »staatlichen Zwang* auch dem »berech¬
tigten Interesse des Einzelnen* auf Genugtuung für ihm in seiner gewöhn¬
lichen Sphäre zugefügtes »Unrecht* dienstbar machte. Dem Zugriff des
Staates, »seiner personenrechtlichen Gewalt* waren aber nach M. »nicht
nur Leib und Leben des Volksfriedensstörers unterworfen*, sondern auch
dessen Vermögen (S. 1004). So spricht er von einer »persönlichen Haftung
des Öffentlichen, des Sozialrechts*, die stärker und umfassender war
als jene »privatrechtliche Haftung*, zu der er Geiselschaft und freie Bürg¬
schaft einerseits, die Fälle der Sachhaftung andererseits zählt. Nach dem
oben Gesagten wird man jedoch die Haftung aus freier Bürgschaft, die
anfangs nur durch Achtvollzug realisierbar war, zu der von M. gebildeten
Gruppe von Haftungen des öffentlichen Rechts zu zählen haben. Diesen
Haftungen ist aber in der Tat eigentümlich und gemeinsam, daß sie zu
ihrer Verwirklichung einen Friedensbruch, mithin ein strafrecht¬
liches Moment verlangen. Wo dieses, wie beim Schuldverzug, noch fehlt 3 ),
mußte, da das germanische Recht kein gerichtliches Verfahren um Schuld
*) Z*RG XXXI. 8. 490 ff., V'adiation S. 43, Grundriß S. 217 und 238 ff.
*) Planitz a. a. 0. 6 ff. und 21 ff.
Erst Ungehorsam gegei die formelle Schuldmahnung war Friedensbroch
und machte bußpflichtig. Planitz S. 6 im Anschlüsse an die Forschungen Amira’s.
Vgl. hiezu auch H. Mitteis, Rechtsfolgen des Leistungsverzugs beim Kaufvertrag
nach niederländischen Quellen des Mittelalters (19131 S. 25 fl., der die materiell-
rechtliche Grundlage der salischen Verzugsbuße aufdeckt, indem er aus älteren
und jüngeren Quellen entsprechend dem germanischen Obligationenbegriff als einem
»giäubigerischen Innehaben« den Verzug als rechtswidrige Vorenthaltung, als ma¬
terielles Unrecht, somit als echtes Delikt darstellt.
190
Liberator.
kennt, die Schuld zur Bnßschnld gesteigert und durch Ungehorsam des
Beklagten die weitere Voraussetzung für die Friedloslegung geschaffen werden.
Die Vollstreckung aber war damals prinzipiell Strafvollzug, und noch nicht
Befriedigungsverfahren. Ein solches hat sich erst im Laufe der Entwicklung
aus dem strengen Achtverfahren abgelösi. In noch späterer Zeit hat sich
endlich aus dieser Personenhafnng, die den Haftenden mit Leib und Gut
verstrickt, eine Vermögenshaftung für sich herausgebildet 1 ). Auch die Frage
nach der Bedeutung des Stabsymbols bei der Wadiation wird von M. auf¬
gerollt Bekanntlich sieht Amira*) in diesem Stab einen Botenstab. Die
Stabreichung steht für ihn »im Zeichen der Botschaftssymbolik und bezielt
die Bürgenstellung* 8 ). M. hingegen erblickt in ihm, anknüpfend an Gierke 4 ),
von Haus aus ein Herrschaftssymbol, ein Persönlichkeitszeichen, glaubt aber
zwischen beiden gegenteiligen Meinungen insofern vermitteln zu können, als
er die Deutung des Stabes als Botschaftsstab aus jener anderen ableitet,
eine Erklärung, der A. sofort widersprochen hat 6 ). — In den Bereich des
Familienrechts gehören die Arbeiten von Opet und M. Pappenheim. Ersterer
erörtert in FG. H. (245—254) »Die Anordnung der Eheschließungs-
publizität im capitulare Vernense* von 755. An der Hand der
Quellen zeigt er, daß diese Norm unter »publicae nuptiae* nicht die unter
geistlicher Benediktion eingegangenen Ehen, auch nicht etwa nur einen
Eheabschluß vor Gericht verstanden hat 6 ), sondern daß die Öffentlichkeit »in
der Zuziehung von Volksgenossen* zur Eheschließung lag 7 ) und zwar im In¬
teresse der Braut, jedoch nicht bei dem gesamten Vorgang der Eheschließung,
sondern nur bei jenem Akt, der »den Eintritt der Braut in die Gewalt des
Bräutigams bewirkte*. Diese Öffentlichkeit der »Gewaltbegründung* hatte
die Frau vor der Gefahr zu schützen, dereinst etwa nur als Konkubine ange¬
sehen zu werden, indem die Zuschauer des Vorgangs ihr solchenfalls als
»Beweismittel* zur Verfügung standen, wenn etwa in Zukunft ihre Ehe¬
frauenqualität bestritten werden sollte. — Pappenheim beleuchtet in FB.
(l—15) »Die Pflegekindschaft in der Graugans*. Er zeigt, daß
das isländische Bechtsbuch dieses in den nordgermanischen Quellen häufig
erwähnte Verhältnis zwischen Pflegeeltern und Pflegekind nicht mehr in
der ursprünglichen, rein familienrechtlichen Gestalt kennt, wenn freilich noch
einzelne Re ch tsWirkungen bestehen, in denen die alten verwandtschaftsähn¬
lichen Beziehungen zwischen diesen Persoien fortleben. Die Pflegkindschaft;
selbst wird nicht mehr durch den Formalakt der Kniesetzung begründet,
sondern durch einen Erziehungsvertrag zwischen dem leiblichen Vater und
i) Amira in Z*RG XXXI. 493, Grundriß 280 ff., Planitz 6 ff. und 15 ff,
Hübner 422.
*) Der Stab in der germanischen Rechtssymbolik (1909) 29 ff. und 151 ff.
Hiezu Schroeder in Z*RG XXX. 449 f. und Goldmann in Deutsche Literaturzeituug
1910 Sp. 2567 ff und 2631 ff
*) Puntschart in diesen Mitteilungen XXXV. S. 356.
4 ) Schuld und Haftung 153 und 262. Vgl. Fehr, Hammurapi und das
salische Recht (1910) S. 27.
*) Wadiation 34 ff. Jetzt auch Hübner 441 ff. Sehr beachtenswerte Ver¬
mutungen über den Ursinn der Wadia bringt neuestens Puntschart a. a. O. 357 ff.
•) Vgl. hiezu W. v. Hörmann, Die tridentinische Trauungsform in rechts¬
historischer Beurteilung (1904) 21 ff. und Anm. 76 ff.
7 ) R. v. Scherer, Üoer das Eherecht bei Benedictus Levita und Pseudoisidor
(1879; und W. v. Hönnann, Quasiaffinität H/l (1906) 139 1 , 150 1 (151), 203 ff
Lieratur.
191
dem künftigen Pflegevater, der als Realvertrag, als »Gabe mit bestimmter
Auflage 4 erscheint. Das Rechtsverhältnis zwischen diesen Personen ist »rein
vermögensrechtlich 4 , »durchaus schuldrechtlich 4 gestaltet, es ist auch vor¬
zeitig und einseitig lösbar. P. vermutet hiefiir das irische Recht als Vor¬
bild, wogegen die Vorschrift der Graugans, das Kind dürfe zur Zeit der
Hingabe in die Pflege das achte Lebensjahr noch nicht überschritten haben,
wohl den alten Zusammenhang zwischen Pflegekindschaft und Milchverwandt¬
schaft festhält. — Aus Stadtrechtsquellen gewinnt 0. Loening in PG. II.
(285—303) eine Reihe wertvoller Aufschlüsse für »Das Erbrecht der
Fremden nach den deutschen Stadtrechten des Mittelalters 4 .
Er bespricht gesondert die Fälle, daß entweder der Erblasser selbst ein
Gast war, oder ein Einheimischer auswärtige Erbeu hinterließ. Angeregt
durch A. Schultze’s Aufsatz*), aber ihm vielfach entgegentretend, zeigt
er, welche Milderungen das Emporblühen des Handels und der sich steigernde
Wechselverkehr unter den Städten einem anfangs starren Fremdlingsrecht
brachte. — J. v. Gierke schildert in FB. (775—805) und FG. II.
(1091—1137) zwei Institute des Deichrechts, die auch allgemeines rechts¬
geschichtliches Interesse erwecken: »Die Verspätung 4 und »Das Boezem-
recht (Busenrecht) 4 .
X. Geschichte des Gerichtsverfahrens. — M. Rintelen’s
Aufsatz: »Der Gerichtsstab in den österr. Weistümern 4 (FB. 631
—648) untersucht an der Hand dieser jüngeren, für die Erkenntnis alther¬
gebrachter Gebräuche sehr wertvollen Quellen die Symbolik des Richterstabes.
In der Hauptsache sieht er in ihm ein »Wahrzeichen richterlicher Gewalt 4 ,
somit ein Herrschaftssymbol. Nur ein Teil der Stellen läßt sich nach seiner
Ansicht für die Deutung als »Botenstab 4 verwenden*). — An der Hand
verschiedener Breslauer Schöffenbriefe, die teils im Original erhalten, teils
aus der Eintragung in die bis 1556 fast lückenlos vorliegenden Schöffen¬
bücher benützbar sind, und in scharfsinniger Verwertung anderer Quellen be¬
spricht P. Rehme in FB. (79—134) die rechtliche Bedeutung einer Verwen¬
dung von »Schöffen als Boten bei gerichtlichen Vorgängen im
Magdeburger Rechtskreise 4 . Seine Arbeit ist ein weiterer wertvoller
Beitrag zur Geschichte der Stadtverwaltung und Rechtspflege in Breslau,
zugleich Erklärung einer Rechtseinrichtung, die über den ganzen magde-
burgischen Rechtskreis Verbreitung gefunden hat. In Weiterführung einer
schon von Planck nur auf Grund von zwei ihm bekannten Urteilssprüchen
gelegentlich geäußerten Vermutung weist er überzeugend nach, daß die
Zuziehung solcher Boten im Rechtsstreite oder beim Abschluß eines Rechts¬
geschäftes vor Gericht zur Erzielung eines mündlichen Gerichtszeugnisses
diente, das vorzubereiten und bereit zu halten auch bei Ausstellung eines
Gerichtsbriefes zweckmäßig erschien. 1 In Magdeburg selbst ist, wie R. zeigt,
die »Bezeichnung zweier Schöffen als Boten bei der Vornahme eines gericht¬
lichen Aktes und ihre Nennung in dem Schöffenbriefe 4 bereits um die
Mitte des 14. Jahrh. »durchaus gebräuchlich 4 gewesen. In Breslau hin¬
gegen bilden solche Angaben bis 1457 »nicht die Regel 4 , die Nennung
der Schöffenboten im Urteil, die hier zunächst nur auf Antrag der Partei
*) Über Gästerecht und Gastgerichte u. 8. w. in Histor. Zeitschrift CI. 478 ff.
*) Dagegen Amira, Wadiation S. 33.
192
Literatur.
geschah, war hier kein Erfordernis eines »vollwertigen oder gar voll¬
wirksamen* Schöffenbriefes. Erst seit 1457, offenbar infolge einer durch
»Setzung* nicht durch »Übung* herbeigefübrten Neuerung, enthalten jene
Schöffenbriefe, welche über gerichtliche Vorgänge ausgestellt wurden»
durchwegs den Botenvermerk, wobei diese Schöffen als Boten von amts-
wegen mit dieser Aufgabe für den ganzen Termin betraut wurden. R. er¬
läutert auch den Unterschied zwischen Ratsakten und Schöffenakten und
widerlegt die von Goerlitz*) aufgestellte Ansicht, daß sich in Breslau
die Auflassung von liegendem Gut vor solchen Boten vor einer zur Ent¬
lastung des Stadtgerichts gebildeten »Zweischöffenkommission* abgespielt habe,
die dem Stadtgericht nur hievon Meldung zu erstatten hatte. Er zeigt»
daß diese Rechtshandlungen vorerst — von ganz besonderen Fällen abge¬
sehen — stets vor dem gehegten Ding selbst erfolgten, mithin vor Richter
und Schöffen und dann mit dem Botenvermerk eingetragen wurden, daß
sie fallweise seit dem 15. Jahrlu, und allgemein erst, seit 1517 vor den Rat
verlegt wurden, wobei jedoch dieser Vorgang vor dem Rat durch zwei
Ratmannen als Zeugen, die hier die Aufgabe der Schöffenboten versahen»
dem gehegten Ding bekannt gegeben wurde. Dieses nahm dann die Ein¬
tragung des Ratsaktes in das Schöffenbuch vor, brachte hiebei jedoch keinen
Botenvermerk an, da die Auflassung nicht vor Gericht erfolgt war. —
In FG. II. (525—587) gibt uns Rehme erfreuliche Aufklärung »Zur Ge¬
schichte des Grundbuchwesens in Berlin*, von dem ältesten noch er¬
haltenen Berliner Stadtbuche, das im letzten Jahrzehnt des 14. Jahrh. angelegt
wurde, bis zur durchgreifenden Umgestaltung des Grunibuchwesens in
Preußen (1722). Die Arbeit widmet sich den Grundbüchern der fiinf
Stadtgemeinden Berlin, Köln, Dorotheenstadt, Friedrichswerder und Friedrlehs-
stadt, die 1693 durch ein königliches Edikt 2 ) eine gleichförmige Regelung
des Grundbuchwesens erhielten und 1709 zur Haupt- und Residenzstadt
Berlin zusammengeschlossen wurden. Auf emsigster archivalischer Forschung
fußend, deckt dieser Beitrag den einstigen Bestand manches heute ver¬
lorenen Grundbuches dieser Ansiedlungen auf. Er bespricht die Führung
dieser Bücher und den städtischen Rechtsverkehr namentlich um Liegen¬
schaften, zeigt Art, Gegenstand und Anordnung der Eintragungen und gibt
wichtige Aufschlüsse zur Entwicklung des Realkredits. — Wertvolle Einblicke
in die Gestaltung des Fahrnisprozesses bringen die Aufsätze von
X. Rauch »Gewährschaftsver hältnis und Erbgang nach
älterem deutschen Rechte* (FZ. 529—555) und von A. Schnitze
»Die Bedeutung des Zuges auf den Gewähren im Anefangver-
fahren* (FG. II. 759-—792). In eingehender Prüfung der Quellen und
der Bedeutung des Schubs auf den Gewähren gewinnt Sch. gegen H. Meyer
die Vermutung, daß schon in den ältesten germanischen Rechtsquellen, ja
überhaupt seitdem es Spurfolge und Anefangsverfahren gab, dieser Zug auf
den Gewährsmann nicht nur kriminelle Bedeutung hatte, nicht nur den
Zweck verfolgte, die Strafverfolgung des Beklagten abzuwe’iren, den Dieb¬
stahlsverdacht von ihm auf den Gewähren abzuwälzen, sondern daß er neben
Stadt
i) Th. Goerlitz, Die Übertragung liegenden Gutes in der ma.
Breslau (1906).
*) Von Rehme S. 559 ff. abgedruckt und eingehend gewürdigt.
und neuzeitl.
Literatur.
193
diesem »Ursprangsziel der ganzen Institution* auch die Funktion einer
rivilistischen Einrede besaß, mithin wie die Einrede originftren Erwerbs
und die Berufung auf den toten Mann l ) auch Verteidigungsmittel gegen
die Sachverfolgung sein konnte. Er vermochte daher nach Sch. unter Um¬
standen der Notorietät des dieblichen Verlustes wirksam entgegen zu treten,
das Recht des Klägers zu unwiderleglichem Nachweis der Dieblichkeit mit
Erfolg auszuschalten. Auch dem Gerüfte mißt Sch. hier die .von M. be¬
hauptete Publizitätswirkung nicht bei. Vielmehr erfüllte es im Spurfolge¬
verfahren, dem es wesentlich war, andere wichtige Zwecke (es hilft zur
Auffindung der Sache und mittelbar zur Entdeckung des Diebes, es gewährt
dem Bestohlenen prozeßrechtliche Vorteile, wie Wegfall der Intertiatio und
provisorischen Besitz der Sache bis zum Gerichtstermin). Im Anefangver-
fahren aber war es entbehrlich und wird in den Quellen überhaupt nicht
als Voraussetzung der Klage erwähnt. Endlich pflichtet Sch. im Wesent¬
lichen — wie jetzt auch E. Heymann und R. Hübner 2 ) — den Aus¬
führungen Rauchs bei, die sich gegen Meyer 8 ) in der Frage richten, ob
sich der Beklagte auf einen schon verstorbenen Gewähren oder auf Erwerb
im Erbswege mit Erfolg berufen konnte. Unter Heranziehung von Er¬
scheinungen des Immobiliarrechtes gewinnt R. durch äußerst scharfisinnige
Auslegung der Quellen das wertvolle Ergebnis, daß überall, wo im Rechts¬
gang (Liegenschaft»- wie Fahmisprozeß) der Gewährzug auf einen Toten
stößt 4 ), er bei diesem sein Ende fand. Daher genügte solchenfalls für den
Beklagten »ein auf seinen Erwerbstitel (Kauf oder Erbschaft) gerichteter
Beweis c , oder es mußte hiezu nur noch der rechtmäßige Erwerb durch den
Rechtsvorgänger (Verkäufer, Erblasser) oder dessen ruhiger Besitz durch
Beweis fesigelegt werden. Darin sieht R. eine Folge der »Unvererblichkeit
des Gewährsch aftsverhältnisses *, das als rein persönliches Band mit dem
Tode eines der beiden Beteiligten normalerweise zerriß. Doch ließ sich
diese Lücke durch Privatdisposition, insbesondere durch eine die Erben der
einen oder anderen Seite bindende Klausel ausfüllen. Diese Einschränkung
des Schubs ergibt sich aus der Struktur des alten deutschen Erbrechts.
Auch konnte die Zulassung eines Beweises »nach toter Hand* für den Be¬
klagten bei Berücksichtigung des Typischen der einzelnen Fälle nicht als
unbillige Härte gegen den Kläger erscheinen. Denn es kam dem alten
») Vgl. hiezu K. Rauch, 8purfolge und Anefang in ihren Wechselbeziehungen
S. 17 ff., A. Schnitze in Z*RG XXIX. 429 ff. und XXXI. 643.
*) E. Heymann in Z*RG XXXI. 431, R. Hübner a. a. 0. 363. Vgl. auch
Schnitze in Z*RG XXIX. 428 ff
a ) H. Meyer, Entwerung- und Eigentum (1902) S. 87 und das Publizitäts¬
prinzip im deutschen bürgerlichen Recht (1909) S. 19.
4 ) Rauchs Beweisführung, daß der Gewährenzug beim toten Mann stets sein
Ende findet, erachtet auch H. Meyer in FG. II. S. 993 ff. für »zwingend«. Doch
hält er daran fest, daß die Berufung auf Erbgang von Haus aus und so auch noch
in der fränkischen Zeit keine zivilistische Einrede war, sondern »lediglich in dem
ursprünglich strafprozessualen Charakter des Gewährenzugs« wurzelte. Nicht die
Unvererblichkeit von Schuld Verhältnissen, wie R. annimt, sondern prozessuale
Gründe seien es, aus denen der Gewährschaftszug solchenfalls sein Ende findet, da
die Gewährleistungspflicht des älteren deutschen Rechtes als gesetzliche Pflicht
des Verkäufers gar nicht dem Gebiete des Schuldrechts angehörte. Vgl.
H. Meyer: »Fahraisverfolgung« in: Hoope, Reallexikon der germanischen Alter¬
tumskunde, II. S. 4.
13
194
Literatur.
Verfahren in diesem, wie in anderen Fällen doch nur auf »relative Ge¬
rechtigkeit* an. — In FG. I. (II. 303—341) erörtert A. Stölzel die
Frage, ob »die operis novi nuntiatio als Keim der Hanauer
Ganggerichte* zu betrachten sei. Hiezu veröffentlicht er ein Weistum
der Hanauer Schöffen, welches diese im Jahre 1472 in ihr Gerichtsbuch
aufnehmen ließen. — Der englischen Prozeßgeschichte gehört der Aufsatz
von H. D. Hazeltine FG. H. (1055—1068) an: »Judicial discretion
in english procedure of Henry the Second’s time*.
XI. Kirchliche Rechtsgeschichte. — »Zur Geschichte des
ius ad rem* bringt E. Heymann FG. ü. (1167—1185) einen wertvollen
dogmengeschichtlichen Beitrag. Die bisher für diese Frage entwickelten
Lehrmeinungen gehen bekanntlich in dem Punkte auseinander, ob der Be¬
griff eines »Rechtes zur Sache* der kanonistischen oder feudistischen
Wissenschaft entstammt,, ob er aus germanischen Anfängen erwuchs oder
sich nur als Produkt scholastischer Spekulation darstellt. H. erinnert
vor Allem an die wiederholt schon berührte Erscheinung, daß das ger¬
manische Recht in einzelnen Fällen einen Anspruch auf künftigen Sacher¬
werb mit dinglichem Charakter ausstattet, ihn gegen Dritte wirken läßt.
Der Begriff eines »ius ad rem* selbst entstammt jedenfalls germanischen
Rechtsgedanken des weltlichen und kirchlichen Rechtes (Lehn und Pfründe).
Feudisten und Kanonisten waren an seiner Entwicklung in von einander
wenigstens in den Anfängen unabhängiger Gedankenarbeit beteiligt. Doch
fehlt er nach H.s in die mittelalterliche Literatur tief eindringenden For¬
schungen noch der Glossa ordinaria zum Dekret und auch den Arbeiten
des Guilelmus Durantis, nicht minder der ursprünglichen Fassung der
Dekretale Clemens IV. »Licet ecclesiarum*, die für das päpstliche Provisions¬
recht grundlegend geworden ist. Sie begegnet erst in der interpolierten
Fassung dieses Erlasses, wie sie der Liber Sextus enthält, und auch in an¬
deren Stellen dieses Gesetzbuches. Mithin hat sich diese Lehre in der kirch¬
lichen Theorie offenbar erst zwischen 1274 und 1295 allmählich durchge¬
setzt, worauf sie im Anfänge der Regierung Bonifaz VHL auch der Kurial-
praxis geläufig wurde. Der Feudist Jacobus de Ravanis entwickelt sie in
seiner undatierten Summa als erster im Lehnrecht. Doch läßt die Art
seiner Darstellung es wahrscheinlich sein, daß er die Lehre nicht den
Kanonisten entlehnt hat. Daher ist die Theorie vom »ius ad rem* in der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung entstanden, welche die weltliche und
die kirchliche Rechtswissenschaft zwischen der germanischen Auffassung über
Rechtsakte mit verschieden starker dinglicher Wirkung (symbolische Inve¬
stitur und Besitzeinweisung, electio und confirmatio, praesentatio und in-
stitutio) und dem vom römischen Rechte und seiner Glosse in aller Schärfe er¬
faßten Gegensatz zwischen einem »ius in re* und nur obligatorischer Wirkung
entfaltete. Dies beweist auch jenes eigenartige Schwanken vom »ius in re*
zur bloßen Obligation und wieder zum »ius ad rem*. Mancherlei Spuren
aber weisen darauf hin, daß die vollendete Lehre ihren eigentlichen Boden
in Frankreich hat. — Wie Heymanns Untersuchung bereichert nach die
weitausblickende Abhandlung von U. Stutz in FG. H. (1187—1268): »Das
Eigenkirchen vermögen. Ein Beitrag zur Geschichte des altdeutschen
Sachenrechts auf Grund der Freisinger Traditionen* nicht nur das Kirchen¬
recht, sondern auch das weltliche Privatrecht Der Verfasser entwickelt ans
Literatur.
195
den reichhaltigen Freisinger Traditionen den Begriff eines Eigenkirchenver¬
mögens als dentschrechtlichen Sondervermögens. Weder die Übertragung
einer Kirche an das Bistum noch auch die Weihe, sondern nur die Über¬
gabe von Vermögensstücken durch den Gründer an den Altar oder an die
Kirche war Kirchengründung im privatrechtliehen Sinne. Doch be¬
zweckte und brachte sie keinerlei Änderung in der rechtlichen Zugehörigkeit
dieser Sachen. Sie schuf nur ein Zubehörverhältnis. Es liegt darin ein in der
privatrechtsgeschichtlichen Literatur bisher nicht genug beachteter »Pertinen-
zierungsakt*, nicht ein » Rechtsgeschäft*, sondern ein »Rechtsakt*, durch
den Vermögensstücke in das Verhältnis von Zubehör zur Kirche, »zum Haupt¬
oder Hochaltar* als Hauptsache und Mittelpunkt des ganzen Vermögenskreises
kamen. Für den Eigenkirchenherrn bestand daher im Bereich seines Gesamtver¬
mögens neben seinem weltlichen Vermögen ein Kirchenvermögen (Kirche samt
Zubehör) nicht nur als faktisches, sondern als rechtliches Sondergut, ähnlich
dem See- oder Schiflsvermögen, dem Bergvermögen des älteren Rechts.
Schon damals unterschied man bewußt und mit juristischer Schärfe diese
verschiedenen Massen im Vermögensbereich des Eigenkirchenherrn. —
In dem Aufsatze »Seelenrecht und Pönfall in Salzburg und
Tirol* (FB. 175—186) bespricht F. Kogler eine eigenartige, in Salzburg
bis zur Erlassung der neuen Stolordnung von 1903, in einzelnen Teilen
Tirols, namentlich in den einst zu den Bistümern Freising und Chiemsee
gehörigen Gebieten bis heute noch dem Ortsselsorger vom Nachlasse seiner
Pfarrkinder gebärende Abgabe, die ihm zufließt, gleichgiltig ob überhaupt
und was für Erben vorhanden sind. Heute Stolgebür, erscheint sie K. als
gewohnheitsmäßige Fortbildung des in süddeutschen Rechtsquellen festge¬
setzten Seelenteils, der sich wieder auf den altgermanischen Totenteil zu¬
rückfuhren läßt.
Mit Problemen aus dem Bereiche der Entwicklung der evangelischen
Kirche und ihres Rechtes befassen sich die Arbeiten von S. Adler: »Der
Augsburger Religionsfriede und der Protestantismus in
Österreich* (FB. 251—277) und von W. Kahl: »Der Rechtsinhalt
des Konkordienbuche8* (FG. I. 305—353). Vom Standpunkte der
österreichischen Verfassungsgeschichte und unter Verwertung von Archivalien
aus dem Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv prüft A. das Zustandekommen
und den Inhalt dieses wichtigen Reichsgesetzes. Er zeigt insbesondere, daß
Ferdinand L in allen Stadien der Verhandlungen, welche er als Vertreter
Karls V. in dessen Auftrag mit seltener Energie und Klugheit führte, an
dem Religionsbann als einem landesfürstlichen Hoheitsrecht fr st hielt, nicht
minder an der Ablehnung jeglicher Gewissensfreiheit für Andersgläubige
in seinen Ländern, was für die Frage einer allfälligen Religionsfreiheit seiner
Landstände und Untertanen von großer Bedeutung war. Er beleuchtet die
einschlägigen Verhandlungen im Kurfarstenkolleg und im Reichsfürstenrat,
die wiederholte Stellungnahme .des österreichischen Vertreters U. Zasius,
ferner einen wichtigen Beschluß des Geheimen Rates, der den geistlichen
Vorbehalt zur Erörterung stellte, eine die Wünsche der Protestanten ab¬
lehnende Resolution Ferdinands vom 30. August 1555 und die abschließen¬
den Verhandlungen. Bekanntlich brachte der Reichsabschied den protestan¬
tischen Untertanen in den österreichischen Ländern des Reiches, und zwar
auch den Landständen, abgesehen von einem freien Abzugsrechte, keinen Schutz
Literatur.
19 6
von Reichswegen. Es war dies, wie A. zeigt, eine Folge jener Kompromi߬
politik, za der sich evangelische Stände des Reiches herbeiließen, am bei
der Unaachgiebigkeit Ferdinands wenigstens für ihre Länder das Zustande¬
kommen dieses Gesetzes za retten. Die zweite Arbeit bringt mit Aasschluß
kirchenpolitischer Erwägungen den Rechtsinhalt za wissenschaftlicher Dar¬
stellung, der sich für die deutschen lutherischen Landeskirchen in den Be¬
kenntnisschriften findet, welche in dem 1580 aasgegebenen Konkordien-
bache vereinigt sind.
XII. Ungarische Rechtsgeschichte. — In der großen Streit¬
frage über »Die Entwicklung und Bedeutung des öffentlich-
rechtlichen Begriffs der heiligen Krone in der ungarischen
Verfassung* ergreift A. v. Timon in FB. (309—338) gegen Tezner
und Steinacker l ) neuerlich das Wort zur Verteidigung der in Ungarn aus¬
gebauten eigenartigen Auffassung über den Werdegang des ungarischen Ver¬
fassunglebens. — F. Schiller hingegen erläutert in FB. (379—404]
Beziehungen, welche »Das erste ungarische Gesetzbuch und dat
deutsche Recht* zu einander haben. In beiden Fragen dürfte jedock
das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.
XIII. Geschichte der Rechtswissenschaft. — H. D. Hazeltin«
bespricht in seinem Beitrage zuFB. (579—630) »Seiden as legal historian
A comment in criticism and appreciation* die schriftstellerische Tätigkeit
insbesondere die rechtsgeschichtlichen Arbeiten des großen englischen Ge
lehrten J. Seiden (1584—1654), der Jurist, Staatsmann, Orientalist um
Historiker war. R. Hübner hingegen zeigt in einer Studie: »Karl Frie
drich Eichhorn und seine Nachfolger* (FB. 807—838) in kuappei
aber inhaltsreicher kritischer Darstellung die Entwicklung der deutsche!
Rechtsgeschichte als Wissenschaft seit Eichhorn. Hatte Frensdorff 2 ) zun
hundertjährigen Jubiläum des Erscheinens der Eichhom’schen Rechtsge
schichte (1908) nachgewiesen, wie dieses Buch »eng mit der Vergangenbei
Zusammenhang*, wie es »Bestrebungen, die schon seit langem mit Eifr
verfolgt worden waren, nun freilich in ganz neuer und überlegener Weis
einen für die Folgezeit maßgebenden Ausdruck gab*, so wählt H. dies*
*) Vgl. Steinacker in diesen »Mitteilungen« XXVIÜ. 276 ff.
*) Das Wiedererstehen des deutschen Rechts in Z*RG XXIX. 1 ff.
Übersicht. S. Adler S. 195, R. Arnold S. 181, H. Bresslau S. 174, H. Brunn«
S. 177, R. CaiHemer S. 187, G. Dez Marez S. 181, A. Esmein S. 176, H. Fehr S. 18
A. Gaudenzi S. 185, J. v. Gierke (2) S. 191, O. Gradenwitz S. 185, F. Güterbock S. 17
K. Hampe S. 171, H. D. Hazeltine (2) S. 194 u. 196, E. Heymann S. 194, 0. Hinfc
S. 182, A. Hofmeister S. 168, 0. Holder-Egger S. 170, R. Hübner (2) S. 180 u. 19
W. Kahl S. 196, H. C. Kalisch S. 179, S. Keller (2) S. 178, F. Kern S. 172, F. Kogl
S. 195, J. Köhler S. 187, R. Koser S. 181, M. Krammer (2) S. 174 u. 182, O. Kraus
S. 181, B. Krusch S. 166, F. Liebermann (2) S. 170, E. Liesegang S. 179, O. Loenii
8. 191, A. v. Luschin S. 182, F. Meinecke S. 182, H. Meyer S. 188, E. Müller S. 1£
0. Opet und M. Pappenheim 8. 190, F. Patetta S. 185, E. Pereis S. 168, K. Rau
(2) S. 179 u. 193, P. Rehme (2) S. 191/2, 8. Rietschel 8. 183, M. Rintelen (2) S. 1
u. 191, C. Rodenberg S. 180, R. Salomon 8. 171, D. Schäler S. 171, F. Schil
8. 196, A. B. Schmidt 8. 184, G. v. Schmoller S. 181, H. Schreuer (2) S. 11
A. Schultze S. 192, E. Seckel (2) S. 185, R. Smend S. 175. E. Stengel 8. 1'
A. Stölzel S. 194, U. Stutz (3) S. 167, 174, 194, *M. Tangl (2) S. 169 u. 1*
A. Timon 8. 196, H. Triepel S. 182, P. Vinograduff S. 187, R. Weil S. 1'
A. Werminghoff (2) S. 168 u. 186, A. v. Wretschko (3) 8. 175 u. 180, K. Zeuu
(2) S. 183/4.
Literatur.
197
gewaltige Werk, seine Licht- und Schattenseiten ruhig abwägend, zum
Ausgangspunkt für eine Wanderung durch die germanistische Forschung des
19. Jahr tu Er zeichnet die führenden Männer in ihrer Arbeitsweise, in
ihren Verdiensten und Fehlem und preist den gewaltigen Aufflug, den
nnsene Wissenschaft unaufhaltsam fortschreitend in Einzeluntersuchungen
und Tnwarampnfftsfl pnrifln Darstellungen bis in die letzten Jahre genommen hat.
Innsbruck. A. y. Wretschko.
Quellenstudien aus dem historischen Seminar der
Universität Innsbruck. Herausgegeben von Wilhelm Erben.
Heft I—V. Innsbruck, Wagner 1909—1913.
Die Zahl der * Studien *, welche an deutschen und österreichischen
Universitäten erscheinen, hat durch die vorliegende Sammlung einen er¬
freulichen Zuwachs erhalten; es sind größere und kleinere Untersuchungen
aus dem Gebiete der historischen Hilfswissenschaften und der Geschichte
des Mittelalters, welche uns hier geboten werden. Der Titel, »Quellenstudien*,
welchen Erben für die unter seiner Leitung entstandenen Arbeiten gewählt
hat, ist gerechtfertigt; denn sie*sind entweder den Geschichtsquellen selbst
(vorzüglich den Urkunden) gewidmet oder unmittelbar aus ihnen geschöpft.
Ihre Ergebnisse seien im Folgenden mitgeteilt.
Das erste Heft wird mit einer Abhandlung von Josef Karl Mayer
»über die Linzer Handschrift des deutschen Vegez* eröffiiet.
Es ist eine Handschrift der Studienbibliothek in Linz, vorwiegend kriegs¬
wissenschaftlichen Inhalts, an welcher nach der Annahme Mayer’s drei
Schreiber gearbeitet haben, a in den letzten Decennien des XV. Jahrhunderts,
b und c im XVI. Jahrhundert, also zu einer Zeit, da das deutsche Kriegs¬
wesen in starker Entwicklung begriffen war. Die wichtigsten Teile der
Handschrift werden sehr gründlich erörtert, zuerst das Fragment einer
deutschen Übersetzung der »epitome rei militaris* des Vegetius samt einem
Atlas. Wie M. nachweist, haben wir es hier mit einer unvollständigen
Abschrift des ersten Druckes der deutschen Vegetius-Übersetzung von Ludwig
Hohenwang zu tun, die zwischen 1470 und 1475 erschienen ist. Größeres
Interesse bieten die weiteren Teile der Handschrift, die Stadtverteidigungs-
Ordnung und die Wagenburg-Ordnungen. Die Stadtverteidigungs-Ordnung
ist ein genau ausgearbeiteter Plan, wie eine Stadt gegen Angriffe von außen
zu verteidigen sei; die Ordnung ist nicht datiert, sie nennt weder den Ver¬
fasser, noch die Stadt, für die sie bestimmt war. Durch eine scharfsinnige
Untersuchung gelangt M. zur Hypothese: sie sei eine zwischen 1434 und
1438 erfolgte Umarbeitung einer Ordnung, die Johann Glöckner um 1430
für die Stadt Nürnberg verfaßt hatte. Dann werden die beiden Wagenburg-
Ordnungen untersucht, welche über den Gebrauch dieses neuen von den
Hussiten eingeführten Kriegswerkzeuges Aufschlüsse enthalten. Die eine ist
nach den Ausführungen M^ von 1427, die andere um die Mitte des
XV. Jahrhunderts verfaßt.
Auch die zweite Abhandlung dieses Heftes beschäftigt sich mit einer
Quelle zur Geschichte des deutschen Kriegswesens im Mittelalter. Anton
Philipp untersucht »Die Überlieferung und Datierung der
Grottk&uer Einung*, eines Bündnis-Vertrages der Fürsten und Stände
198
Literatur.
Schlesiens zur Verteidigung des Landes gegen die Hussiten (»kätzer zu
Behem*). Die Vertragsurkunde, oder besser gesagt, die uns erhaltene Auf¬
zeichnung über diesen Vertrag enthält wertvolle Nachrichten über die Aus¬
rüstung des Heeres; die Aufzeichnung ist nicht datiert, jedoch von den
meisten Forschern in das Jahr 1421 gesetzt worden. Ist dieser Ansatz
richtig? Bei der Erörterung dieser Frage hat Philipp *) den methodisch
richtigen Weg eingeschlagen, indem er zuerst die handschriftliche Über¬
lieferung des Stückes prüft. Die einzige uns erhaltene Abschrift rührt von
Bartholomäus Scultetus (Scholz) her, der sie in seine Annales Gorlicenses
aufgenommen hat. Indem Ph. über die Zuverlässigkeit dieses Geschichts¬
werkes ins Keine kommen wollte, hat er mit beharrlichem Feiße sich über
den Autor unterrichtet und uns eine förmliche Biographie des Scultetus
vorgelegt. Der Lebensgang dieses vielseitigen und rührigen Mannes (1540
—1614) ist nicht ohne Interesse. Wir sehen ihn als Gelehrten 2 ) und
Lehrer in Görlitz tätig, dann durch das Vertrauen der Bürgerschaft zu
städtischen Ämtern berufen, im Jahre 1592 zum Bürgermeister gewählt
und dann noch fünfmal mit dieser höchsten Würde der Stadt bekleidet
Um die Erforschung der Geschichte von Görlitz hat sich Scultetus das größte
Verdienst erworben, indem er »alte briefe € sammelte, und nicht weniger als
1700 (Urkunden, Briefe, Akten) in seinen Annales Gorlicenses uns über¬
liefert hat Wie dieses Geschichtswerk angelegt ist, wird von Ph. — so¬
weit dies ohne Prüfung der noch vorliegenden Handschrift möglich war —
auseinandergesetzt, und es wird gezeigt, daß Scultetus bei der chronolo¬
gischen Einreihung der Urkunden nicht immer richtig voigegangen ist
Dann kehrt PL zum Thema seiner Untersuchung, zur Grottkauer Einung
zurück. Scultetus hat das Stück zum Jahre 1420 eingereiht, aber diese
Datierung ist gegenwärtig fast allgemein verworfen, und wie erwähnt das
Jahr 1421 vorgezogen worden. PL bekämpft beide Annahmen, und nach¬
dem er die Jahre 1420 und 1428 als Zeitgrenzen für die Grottkauei
Einung festgestellt hatte, sucht er nachzuweisen, daß innerhalb dieses Zeit¬
raumes das Jahr 1427 am besten den im Bündnisvertrag vorausgesetztei
Verhältnissen entspreche.
Geschichtsquellen ganz anderer Art kommen im II. Hefte, das Beiträgt
von Ernst Tuöek, Karl Kovac und Karl Riimler enthält, zur Erörterung
Die Untersuchung von Tucek ist einer Geschichtsquelle allerersten Ranges
dem »registrum super negotio imperii* gewidmet. Dieses Spezial
register, das aus den zwölf ersten Pontifikatsjahren Innozenz UL (1198—
1209) solche Dokumente zusammenstellt, die sich auf die Angelegenheitei
des römischen Kaisertums beziehen, ist nach Ansicht T.s aus »dem ursprünglich
einheitlichen Register* geschöpft »das Tag für Tag in der päpstlichen Kanzle
geführt wurde*. Es sei wahrscheinlich im Jahre 1209 entstanden, damal
seien die politischen Verhältnisse derart gewesen, daß Innozenz HL zu der
Befehle gelangen konnte, ein besonderes Reinschriftregister für die Ange
legenheiten des römischen Kaisertums anzufertigen. Zu diesen Ausführunge
Tuöeks, der die Vatikanische Handschrift des registrum nicht selbst eingc
*) Einer Anregung Erbens folgend.
*) Auf dem Gebiete der Mathematik, Astronomie (aber auch der Astrologie
Chronologie, Geographie und Geschichte.
Literatur.
199
sehen batte, hatte Bresslau l ) bemerkt, »es wird nötig sein, diese Hypothese
vermittelbt einer genauen paleographischen Untersuchung des uns erhaltenen
Bandes noch einer Überprüfung zu unterziehen*. Inzwischen ist eine solche
Überprüfung bereits erfolgt. Peitz hat anläßlich seiner Forschungen über
das Register Gregors YH auch die Handschrift des registrum super negotio
imperii untersucht und ist zu dem Schlüsse gekommen, es sei Original¬
register, und nicht abgeleitetes Register. Ja noch mehr. Das »registrum*
sagt Peitz *) »ist geradezu ein Mustertyp zum Studium der älteren Original-
Kanzleiregister*. Das ist das Gegenteil von dem, was Tucek erweisen wollte.
Man wird noch weitere Forschungen abwarten müssen, bevor man das
Problem als wirklich gelöst betrachten kann.
Die Verzeicbnisse des Lyoner Zehnten aus der Erzdiözese
Salzburg werden von Kovac besprochen. Diese Verzeichnisse sind der
von Hauthaler 3 ) veröffentlichte »libellus decimationis de anno 12*5* und
zwei von dem Referenten 4 ) herausgegebene Dokumente »Aufzeichnungen
über die Revision und Ablieferung der Salzburgischen Zehntgelder 1283
Jänner 3—25* und ein »Verzeichnis der vom Kollektor Aliron einge¬
hobenen Zehntgelder 1282 November 26 bis 1285 Oktober 25*. Kovaß
berichtigt einzelne Irrtümer, die sich in den genannten Publikationen
finden 5 ), und sucht wahrscheinlich zu machen, daß der »libellus decima¬
tionis* ein Verzeichnis des Subkollektors Friedrich von Moggio, und zwar
ans dem Jahre 1283, sei.
In die Geschichte des XIV. Jahrhunderts führt uns die Abhandlung
von Rümler über »die Akten der Gesandtschaften Ludwigs
des Bayern an Benedikt XU. und Clemens VL*. Nach dem Tode
Johanns XXLL hatte Kaiser Ludwig die stärksten Versuche gemacht, die
Aussöhnung mit der Kurie zu erreichen; fast durch die ganze Regierungs¬
zeit Benedikts XIL gingen Gesandtschaften von Deutschland nach Avignon,
und die Verhandlungen wurden auch unter Clemens VL fortgesetzt, bis
•iieaer Papst ihnen im Jahre 1345 ein Ende machte. Die Akten dieser Gesandt¬
schaften (von 1335, 1336, 1338, 1343) sind nicht mehr vollständig er¬
halten, von einzelnen (Beglaubigungen und Vollmachten) liegen uns nur
dürftige Auszüge in dem Inventar des päpstlichen Archives von 1366 vor.
Rümler bietet uns in der vorliegenden Abhandlung eine sorgfältige Unter¬
suchung dieser Akten, welche in einzelnen Punkten zu neuen Ergebnissen
kommt.
t \ Handbuch der Urkunden lehre 1 # , 114 N. 1.
*) Sitzungsberichte der Wiener Akademie 165, p. 176.
•) Beilage zum Programm des fÜrsterzbischöfl. Privatgymnasiums Borromeimi
in Salzburg 1887.
4 ) Mitteilungen des Instituts f. öet. Geschichtsforsch. 14, 58 ff.
*) Nämlich die Angaben Hauthalers, daß die Einhebung des Zehnten im
Erzbistum Salzburg in den Jahren 1274—1280 wegen des Streites zwischen König
Rudolf und Ottokar von Böhmen anf unüberwindliche Hindernisse gestoßen sei,
nnd daß AHronns canonjcus S. Mard de Venetiis von dem Bischof von Torcello
gleichen Namens zu unterscheiden sei. Ebenso werden die vom Referenten ge¬
machten Angaben, daß die Salzburgischen Subkollektoren das Zehntj&hr in vier
Termine (statt zwei) eingeteilt, und daß die Legation Alirons bis 1286 (statt 1291
—92) gedauert hätte, berichtigt.
200
Literatur.
Die beiden folgenden Hefte (HL IV.) enthalten Arbeiten von größerer
Bedeutung. Eine Abhandlung von Franz Lehn er über »die mittel¬
alterliche Tageseinteilung in den österreichischen Ländern*
ergänzt in trefflicher Weise das Buch Bilfingers »über die mittelalterlichen
Horen und die modernen Stunden*, indem sie das Material der deutsch¬
österreichischen und böhmischen Quellen aus der Zeit vom XII.—XV. Jahr¬
hundert, das Bilfinger nur wenig benützt hatte, vollständig heranzieht,
Lehner zeigt, daß auch im österreichisch-böhmischen Gebiete die horae
canonicae im XII. Jahrhundert vorwiegend zur Angabe der Tageszeiten ge¬
braucht worden sind und noch bis in die erste Hälfte des XV. Jahrhunderts
sich behauptet haben, trotzdem damals die modernen Stunden schon weit
verbreitet sind. Die Bedeutung der einzelnen horae in unserem Gebiete
entspricht im allgemeinen den von Bilfinger gefundenen Ergebnissen. Prim
und Terz werden zur Bezeichnung vor Morgen, beziehungsweise Mitte des
Vormittags gebraucht, die Sert ist seit dem XIL Jahrhundert soviel wie
verschwunden, da die Non auf Mittag (und eine Stunde nach Mittag) zu¬
rückgeschoben ist, Vesper ist in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts
in unseren Ländern überall die Zeit von 2—3 Uhr nachmittag?, Comple-
torium ist in seiner ursprünglichen Bedeutung »später Abend* noch bis
ins XV. Jahrhundert verblieben. Als Anhang zu diesem Abschnitte werden
im Anschlüsse an Bilfinger einige »populäre Bezeichnungen* erörtert, aus
denen das im Salzburgischen übliche »untam* hervorzuheben ist Das
zweite Kapitel handelt von der Einteilung des Tages in 24 Stunden, von
horae temporales (Teilung des lichten Tages sowie auch der Nacht in je
12 unter sich gleiche, aber nach der Jahreszeit verschieden lange Stunden),
und von horae aequinoctiales (Stunden von durchwegs gleicher Länge).
Horae temporales finden sich in den Quellen unserer Länder sehr selten,
eine Bestätigung des Satzes von Bilfinger, daß sie durch die horae canonicae
verdrängt worden sind. Horae aequinoctiales werden bis zur Mitte des
XIV. Jahrhunderts bei uns nur spärlich gebraucht, in den Schriften astro¬
nomisch gebildeter Männer sind sie nachzuweisen, aber in den breiteren
Schichten sind sie nicht die gewöhnliche Art der Tageszeiten. Erst von der
Mitte des XIV. Jahrhunderts an bürgern sie sich ein, und zwar wie Bilfinger
treffend hervorgehoben hat, durch die Verbindung von Uhr und Schlagwerk.
Bei ihrer Einführung lassen sich zwei Arten unterscheiden: die halbe Uhr
oder der halbe Zeiger, d. i. Einteilung des vollen Tages in zweimal zwölf
Stunden von Mitternacht beziehungsweise Mittag beginnend, in England,
den Niederlanden, Frankreich, Schweiz und den meisten Gebieten Deutsch¬
lands herrschend; zweitens die ganze Uhr oder der ganze Zeiger, Einteilung
des vollen Tages in 24 Stunden beginnend am Abend, auch die italienische
Uhr genannt, weil sie in Italien aufgekommen ist. Nun weist Lehner nach,
daß unsere Länder, was die Verwendung von horae aequinoctiales im XIV.
und XV. Jahrhundert betrifft, in zwei von einander getrennte Gebiete zer¬
fallen. Böhmen und seine Nebenländer haben den ganzen Zeiger, die
deutsch-österreichischen den halben. Daraus ergibt sich, daß der ganze
Zeiger nicht, wie Bilfinger gemeint hatte, aus Italien über Kärnten und
Steiermark nach Böhmen eingedrungen ist, sondern daß seine Einführung
in Böhmen direkt und unmittelbar aus Italien erfolgt ist Es ist dies
unter Karl IV. geschehen, und wie Lehner vermutet, hat der Prager Erz-
Literatur.
201
bischof Emst an dieser höchst nützlichen Reform einen großen Anteil ge¬
habt. Andererseits ist in den deutsch-österreichischen Ländern der halbe
Zeiger nachzuweisen, allerdings erst im XV. Jahrhunderte; und hier ist der
Zusammenhang mit Deutschland, die stetige und ununterbrochene Einwirkung
Ton Westen auf die österreichischen Länder maßgebend gewesen. Erst im
XVI. Jahrhunderte sind die beiden im Gebrauche der Uhr verschiedenen
Gebiete vereinigt, indem in Böhmen ebenfalls der halbe Zeiger eingeführt
worden ist )
Das IV. Heft enthält eine Abhandlung von Hermann Aicher »Bei¬
träge zur Geschichte der Tagesbezeichnung im Mittelalter*.
Es bandelt sich hier im wesentlichen um die Frage, wann die Rechnung
nach Fest- und Heiligen-Tagen, aufgekommen und wie sie sich neben dem
anderen System, Rechnung nach römischer Art (Kalenden, Nonen, Iden)
durchgesetzt hat. Die Frage ist in jüngster Zeit öfter erörtert worden,
und zwar hauptsächlich auf Grund der Angaben der erzählenden Quellen;
aber diese sind nicht ausreichend, es muß auch das urkundliche Material
in gleichem Maße herangezogen werden. Eine solche Untersuchung hat
Aicher in der vorliegenden Schrift für ein territorial abgegrenztes Gebiet,
an den Urkunden des Bistums Freising, durchgefiihrt. Es sind von ihm
1174 Urkunden aus der Zeit von 744—1350 auf die Datierung hin ver¬
glichen worden, und da zeigte sich, daß allerdings schon von der ältesten
Zeit her sich Fälle von Datierung nach dem Festkalender finden, daß jedoch
bis zum Ende des XUL Jahrhunderts die Datierung nach römischer Art
die Oberhand hat. Erst von dieser Zeit an ist die Datierung nach Festen
auch in den lateinisch geschriebenen Urkunden in starker Zunahme be¬
griffen, ganz entsprechend dem Auftreten und raschem Vordringen der Ur¬
kunden in deutscher Sprache, die fast ausnahmslos nach Festangaben datiert
sind. Ein anderes Ergebnis lieferte die Untersuchung der im Texte
der Urkunden verwendeten Tagesbezeichnungen. Sind es Zeit¬
angaben, deren Einfügung in den Urkundentext ganz von der Willkür des
Urkundenschreibers abhängig war, so wird bald die eine bald die andere
Art, Rechnung nach Festen oder Rechnung nach römischem Kalender ge¬
braucht. Bei Angabe von Todestagen sehen wir durchwegs die römische,
bei Angaben von Zinsterminen jedesmal die Festrechnung gebraucht. Und
diese letztere Erscheinung ist dadurch zu erklären, daß der Urkunden¬
schreiber verpflichtet gewesen sein wird, den Zinstermin mit jener Tages¬
bezeichnung anzugeben, die von den Parteien am besten verstanden worden
ist. Daraus folgt, daß wenigstens in Freising die Rechnung nach Festtagen
dem Volke schon um die Wende vom VIII. auf das IX. Jahrhundert ge¬
läufig war, also viel früher, als man nach der Datierung der Urkunden
und nach den erzählenden Quellen annehmen sollte. Dieses wichtige Er¬
gebnis hat Aicher veranlaßt, die Untersuchung auf ein größeres Gebiet, auf
die Kaiser- und Königs-Urkunnen bis zum Ende des XII. Jahrhunderts aus¬
zudehnen. Indem er auch bd diesen Urkunden die im Text verwendeten
Tagesbezeichnungen prüfte, konnte er feststellen, daß schon in den Urkunden
der Karolinger mehr als die Hälfte der Tagesbezeichnungen dem Festkalender
entnommen ist, daß in den Urkunden der deutschen Könige und Kaiser
vom X. bis zum XU. Jahrhunderte die Tagesbezeichnung nach römischer
Art immer mehr zurücktritt, und in diesen Urkunden, wenn sie für deutsche
202
Literatur.
Empfänger ausgestellt werden, zwei Drittel aller Tagesbezeichnungen dem
Festkalender folgen. Durch eine ganze Beihe scharfsinniger und gründ¬
licher Untersuchungen l ) wird diese Tatsache nach allen Richtungen hin
klargestellt, und es wird dann gezeigt, daß in der Zeit der Karolinger der
römische Kalender allerdings durch die eifrige Beschäftigung mit der
klassischen Literatur wieder zu neuem Leben erweckt worden ist, daß jedoch
in Deutschland von einer Sicherheit in der Handhabung des römischen
Kalenders nicht die Rede sein kann. Es zeigt sich überall, daß die Rech¬
nung nach Festen als die bekannteste Tagesbezeichnung des Mittelalters
anzusehen ist. Den Schluß der Abhandlung bildet ein Kapitel über den
Ursprung der Fistdatierung 2 * ). Hier sucht Aicher die Vermutung zu be¬
gründen, daß die Festrechnung ein Stück alter germanischer Zeitrechnung
sei; die Deutschen hätten schon in ihrer heidnischen Zeit die Feste zur
Tagesbezeichnung verwendet. Somit wäre der Ursprung der christlichen
Festdatierung in der germanischen Art der Tagesbezeichnung zu suchen.
Das V. Heft enthält durchwegs Beiträge zur Diplomatik, und zwar
der deutschen Königsurkunden des Mittelalters. Eine Abhandlung von
Hans Hussl »Studien über die Formelbenützung in der Kanzlei
der Karolinger, Ottonen und Salier* versucht ein Problem zu
lösen, auf das besonders Erben in jüngster Zeit hingewiesen hat 8 ): aus
den Freilassungsurkunden Aufschlüsse über die Benützung von Formeln in
der deutschen Reichskanzlei zu gewinnen. Hussl untersucht diese Urkunden¬
gruppe, es stellt sich heraus, daß aus der Zeit von Ludwig dem Deutschen
bis Heinrich V. nur 17 solcher Urkunden uns vorliegen 4 * * ), und von diesen
wiederum nur 5 im Original. Die einzelnen Urkunden werden von ihm
mit einander verglichen, und er zeigt, daß keine von einer andern uns
noch vorliegenden Urkunde dieser Art unmittelbar abzuleiten ist, daß jedoch
zwischen den zeitlich einander näher stehenden Urkunden eine engere Ver¬
wandtschaft besteht als zwischen den durch größere Zeiträume getrennten.
Es sei eine fortlaufende Entwicklungsreihe zu bemerken, und sie lasse sich
am besten durch Benützung von Formeln erklären. Erhalten ist uns aller¬
dings von solchen Formelsammlungen des X. und XL Jahrhunderts nichts.
Man wird die Ergebnisse dieser Untersuchung noch nicht als entscheidend
für die Frage der Formelbenützung ansehen können, aber ein wichtiges
Stück Arbeit ist damit erledigt. Auch in einem anderen Punkte ist EL zu
einem bemerkenswerten Resultat gelangt: er zeigt, daß die »collectio Pata-
viensis«, eine kleine aus der zweiten Hälfte des IX. Jahrhunderts stammende
Formelsammlung ihren Namen mit wenig Berechtigung führt; denn es
liegen keine ausreichenden Gründe vor, sie mit Passau im allgemeinen und
mit dem Bischof dieser Stadt Ermanrich im besondem in Verbindung zu
bringen.
l ) Bezeichnung von vergangenen Tagen, von zukünftigen, von jährlich zu
wiederholenden Handlungen, Angabe von Todestagen, Ansetzung von Hof- und
Gerichtstagen, Aufgebote und sonstige Termine, Märkte und Zölle, Zinse.
*) Es muß noch erwähnt weiden, daß der Abhandlung zwölf Tabellen (auf
achtzig Seiten) beigegeben sind.
s ) Mitteilungen des Instituts f. öst. Geschichtsforsch. 34, 146.
4 ) Zweifellos sind weit mehr solcher Urkunden ausgestellt worden, aber ver¬
loren gegangen. Daß die Mehrzahl der uns erhaltenen Freilassungsurkunden
durch kirchliche Archive überliefert ist, weist H. im einzelnen nach (p. 7—9).
Literatur.
203.
Ein Thema von großem Interesse wird in der nächsten von Anna
Nürnberger herrührenden Abhandlung erörtert: »Die Glaubwürdig¬
keit der bei Widukind überlieferten Briefe*. Es sind zwei
Schreiben eines Grafen Immo und ein Schreiben Kaiser Otto’s L, welche
der sächsische Geschichtschreiber in sein Werk aufgenommen hat* Das
Schreiben Otto’s I. (von 968 Jänner 23) ist von besonderer Wichtigkeit,
da es Mitteilungen über die italienisch-byzantinische Politik dieses Herrschers
enthält. Es ist bisher von allen Forschern für echt gehalten und von
Sickel in die Diplomata-Ausgabe aufgenommen worden, als »ein nach Form
und Inhalt nicht zu beanständender Brief*. Gegen dieses Urteil wendet
sich die vorliegende Schrift, und wie gleich gesagt werden kann, mit sehr
beachtenswerten Gründen. Nürnberger unterzieht das Schreiben Ottos einer
eindringenden Untersuchung und weist nach, daß es in formeller Beziehung
voll von Absonderlichkeiten ist: es fehlt die Invokation, die gebrauchte
Devotionsformel ist selten, die lnscriptio (»rei publicae nostrae praefectis*)
und die Salutatio (»omnia amabilia*) geradezu einzig dastehend, und zu
alledem ist das Schreiben mit einem Dctum versehen! Noch viel stärkere
Bedenken ruft die Stilverwandtschaft des Briefes mit dem Geschichtswerke
Widukinds, und mit den von Widukind als Vorbilder benützten römischen
Autoren (Sallust, Cicero, Tacitus, Virgil) hervor. Dieselbe merkwürdige
Stilverwandtschaft zeigen auch die Briefe des Grafen Immo, und da spricht
alles dafür, daß sie nicht von Immo, sondern von Widukind herrühren. Zu
ähnlichen Schlüssen kommt N. im weiteren Verlaufe der Untersuchung
auch beim Briefe Otto’s I.: es sei die Vermutung naheliegend, daß Widu¬
kind überhaupt nie eine echte Fassung dieses Briefes vor sich gehabt,
sondern ihn frei erfunden haben dürfte. Diese Behauptung wird schwerlich
ohne Widerspruch bleiben, aber dadurch wird dos Verdienst, das sich die
gelehrte Verfasserin dieser Abhandlung erworben hat, nicht geschmälert
werden.
Den Schluß des Heftes bildet die Schrift von Hermann von W i e s e r
»über die Identität des Kanzleinotars Hildibold K. mit dem
Kanzler und Erzbischof Heribert*. Ein Kapitel aus der Geschichte
der Beichskanzlei unter Otto HL wird hier erörtert. W. geht aus von der
Hypothese Erbens, daß der italienische Kanzler Heribert in den Jahren
994—996 auch in der deutschen Kanzlei tätig gewesen sei, indem er wie
ein Aushilfsschreiber an der Herstellung einzelner Urkunden teilgenommen
habe. Diese Annahme beruhte auf der Prüfung der Schrift der betreffen¬
den Urkunden, und dem gleichen Ziele, Feststellung der einzelnen Schreiber
dieser Urkunden ist auch die Untersuchung W.s zugewendet. Sie gelangt
in wichtigen Punkten zu neuen Ergebnissen, welche nach der Ansicht des
Verfassers »die Lage nicht unwesentlich zu Gunsten der Identitätsfrage*
(d. i zu Gunsten der von Erben aufgestellten Hypothese) geändert haben.
Ob dieser Schluß Zustimmung finden wird, ist fraglich l ).
Man sieht, die Innsbru her »Quellenstudien* umspannen ein weites
Gebiet, das ist unleugbar ein Vorzug vor anderen ähnlichen Unternehmungen.
Was Wieser in Betreff des Diploms nr. 169 festgestellt hat {Beteiligung
von vier Schreibern), bildet nach Ansicht des Referenten eine neue Schwierigkeit,
ftlr die Hypothese Erbens eine befriedigende Erklärung zu finden.
204
Literatur.
Aber auch in anderer Sichtung treten sie hervor. Alle die besprochenen
Schriften, mögen sie in der Bedeutung der von ihnen gewonnenen Resultate
sich noch so sehr von einander unterscheiden, weisen gemeinsame Zöge
auf: vollkommene Kenntnis der einschlägigen Literatur und sichere Hand¬
habung der kritischen Methode. Sie machen dem Innsbrucker historischen
Seminar Ehre, und Wilhelm Erben kann stolz darauf sein, so tüchtige
Schüler herangebildet zu haben.
Prag. S. Steinherz.
E. A. Loew, The Beneventan script, a history of the
south italian minuscule. Oxford at the Clarendon press 1914.
XX und 384 S.
Den Studia palaeographica, welche sich vornehmlich mit gewissen
Eigentümlichkeiten beschäftigten, die in der süditalienischen und westgotischen
Schrift zu besonderer Entfaltung gediehen (vgL meine Besprechung in dieser
Zeitschrift 33, 364—8), läßt Loew nun eine umfassende Monographie über
die süditalienische Minuskelschrift folgen. Gleich jener vorbereitenden Ab¬
handlung ist auch dieses Hauptwerk auf einer bisher wohl von niemandem
erreichten Einsichtnahme in den größten Teil der uns erhaltenen Hand¬
schriften dieser Schriftart aufgebaut und verdient schon aus diesem Grunde
die besondere Beachtung des Paläographen.
Das einleitende Kapitel will die historischen Faktoren aufeeigen, welche
zur Entwicklung einer eigenen Schriftart in jenen Gebieten führten. In
lehrreicher Zusammenstellung werden die literarischen Wurzelfäden bloß-
gelegi:: die Bedeutung und Schicksale Monte Cassinos als des Mutterklosters
des kulturerhaltenden Benediktinerordens, die Fortdauer literarischer Be¬
strebungen in Großgriechenland, die medizinische Schule von Salerno, der
Anteil Süditaliens, namentlich wieder Monte Cassinos, an der Erhaltung der
alten Klassiker, an der Hervorbringung und Verbreitung neuer Schriftwerke.
Schon hier ist zu ersehen, daß der Verfasser nicht das ganze Schrifttum
Süditaliens, sondern nur nach der einen Seite gewendet die literarische
Buchschrift allem ins Auge faßt Und so bleiben auch die für die Ent¬
wicklung einer eigenen Schriftart wichtigen Tatsachen unerwähnt: daß Süd¬
italien nicht voller und gesicherter Bestandteil des karolingischen und noch
weniger später des deutschen Kaiserreiches wurde, daß im Gegensatz zum
Abendland die Beziehungen zum östlichen Imperium in bedeutenden Strecken
Unteritaliens noch im 10. Jahrh. kräftig waren, ja neu auflebten und daher
Wechselbeziehungen zwischen lateinischem und griechischem Buchwesen da¬
selbst keineswegs nur auf den Klostergründungen des Nilus beruhen, die
vielmehr ihrerseits ein Widerschein dieser Verhältnisse sind. Ich übergehe
andere historisch schiefe Äußerungen, welche für das behandelte Thema
nicht von Belang sind und ebenso die wenig geschmackvolle wiederholte
Bezeichnung der Goten und Langobarden als »germanischer Barbaren«.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Namen dieser Schrift.
Loew kommt S. 35 zum Ergebnis: Wenn nicht ein alter passender Name
bis auf uns gekommen wäre, so wäre die vernünftigste Bezeichnung süd-
Literatur.
205
italienische Schrift. Ich las diese Äußerung mit einer besonderen Ge¬
nügtuung, weil ich, seitdem ich Paläographie vortrage, nach reiflicher Über¬
legung mich des gleichen Ausdruckes bediene, ebenso wie ihn Bresslau in
seinen »Schriftlichen Quellen der romanischen Philologie* anwendet. Aber
während Loew die ältere Bezeichnung »langobardisch* mit den sieghaften
Gründen Traube’s, die jüngere Benennung »monteeassinesisch* aus prak¬
tischen Erwägungen, welchen ich beipflichte, ablehnt, erscheint ihm, wie
schon der Titel des Buches besagt, der auch von Traube gebrauchte Name
»beneventanische Schrift* als altüberkommen.
Seine Beweise dafür entnimmt L. vor allem den bekannten von Marini
Papiri diplomatici 226 zusammengestellten Belegen über den Gebrauch der
»littera beneventana*. Nach der Darstellung Loewe’s würde sich daraus
ergeben, daß von 1038 an dieser Ausdruck von Jahrhundert zu Jahrhundert
als gebräuchlich erwiesen ist, »wenigstens in irgend einem paläographischen
Sinn*. Wenn man aber etwas verwundert den alten Marini nochmals nach¬
liest, so sieht man sofort, daß es sich in wichtigen Punkten um irrige
Deutung handelt. Der erste namhaft gemachte Zeuge ist der römische
Notar Johannes Laurentii Angeli, welcher die vom Scriniar Cirinus ange¬
fertigte Kopie von Jaffe-L. n° 3692 mit den Worten anführt: expemplum
apparet in littera ///entana. Als Zeitpunkt der Transsumierung ist bei
Marini in vollem Wortlaute angegeben: 1318 apr. 26, ind. I., anno pont. Jo¬
hannis XXII. (Zahl fehlt); Also diese Bezeichnung wurde 1318 nicht 1038
gebraucht, das exemplum selber gehört, wie schon Marini L c. 213, Anm. 2,
bemerkt und wie aus Tabularium S. Mariae in via lata III S. XIX und
Arch. stör. Born. 22, 506, 527, 530 zu bestätigen ist, der zweiten Hälfte
des 12. oder dem Anfang des 13. Jahrh. an und war, da von einem
römischen Scriniar herrührend, ohne Zweifel in Kuriale geschrieben. Einen
zweiten Beleg gibt Loew zum Jahre 1046. Sieht man wieder seine Quelle
Marini S. 255 nach, so findet man, daß diesmal wirklich ein Instrument
des römischen Scriniars Petrus vom J. 1046 als in littera venieventana
geschrieben erklärt wird, jedoch durch den Beglaubiger der Abschrift: Johannes
Pauli AJvisii, publicus apost auctoritate notarius. In nächstliegenden Büchern
habe ich den Namen dieses Notars nicht aufgefunden. Aber nach dem
Titel des Notars ist diese Authentizierung nicht vor dem 14. Jahrh. er-
folgt ] ). Auch hier wieder ist die Kuriale so bezeichnet. Ein dritter Kron¬
zeuge ist der vor 12*0 gestorbene Engländer Gilbert, der einen in mona-
sterio Culmarense gefundenen Codex als vetustissimis litteris et quasi bene-
ventanis geschrieben erklärt Sollte hier das elsässische Kloster Kolmar
gemeint sein, so würde am ehesten auf insulare oder merovingische Schrift
zu raten sein. Einen vierten Beleg geben Marini und Loew zu 1295. Es
handelt sich um die Angabe des Verzeichnisses der Vatikan. Bibliothek aus
diesem Jahre bei Cod. 355: item quidam über in litera beneventana. De
Bossi Biblioth. apost 8. CIV vermutet (»meo iudicio*) ihn als identisch
mit dem Cod. 411 des Verz' ichnisses von 1311, welcher als de antiqua
*) Im 13. Jahrh. fand ich bei freilich nur ganz unvollständiger Durchsicht
von Urkundenwerken stets nur den Ausdruck S. K. ecclesie auctoritate notarius.
Baumgarten Aus der römischen Kanzlei ergibt über den Wechsel des Ausdrucks
nichts.
206
Literatur.
litera cum ditongis beschrieben wird und durch sein Incipit als die in sud-
italienischer Schrift geschriebene Kopie des Registers Johann VIII. zu iden¬
tifizieren ist. Ehrle Hist. bibL 122 und Caspar im Neuen Arch. fl alt. d.
Geschichtsk. 36, 86 Anm. 2 schließen sich ohne weitere Begründung dieser
Ansicht an. Sie kann richtig sein, bleibt aber in jedem Fall nur Vermutung,
da sich die beiden Bibliotheksverzeichnisse keineswegs decken. Sicher aber ist,
daß 1311 letzteres fraglos in unserer Schriftart geschriebene Buch nicht mit dem
Ausdruck littera beneventana sondern anders gekennzeichnet wird. Wenn dann
in einem zuerst von Loew beigebrachten Bücherverzeichnis aus Veroli vom
J. 1336 eine ganze Anzahl von Handschriften als in litera beneventana
geschrieben aufgezählt wird, so wird sich das nach der Lage des Ortes wohl
auf unsere Schriftart beziehen sollen, obwohl der im gleichen Katalog für
andere Handschriften gebrauchte Ausdruck litera langobarda, wie L. selbst
bemerkt, fraglich macht, daß dev Verfasser einen klaren Begriff von der
Schriftart besaß. Endlich noch je eine Eintragung aus dem Ende des 14.
(von Loew entdeckt) und eine aus dem 15. Jahrh. in Handschriften der
Vaticana, in welchen tatsächlich deren süditalienische Schrift als beneven-
tanische bezeichnet wird. Der Ausdruck scheint speziell römisch zu sein,
aus der Schreibprovinz selbst ist noch kein Beleg bekannt geworden. Aus
alledem ergibt sich, daß der Ausdruck littera beneventana in Wirklichkeit
erst seit der Zeit erweislich ist, in welcher unsere Schriftart in den letzten
Zügen lag, daß er damals gebraucht wurde für altertümliche, fremdartige
Schrift in weiterm Umfang, für — Cursive, so wie ihn schon Marini
und dann jüngst Federici im Arch. stör. Rom. 22, 291 deuteten. Gegen
seine Verwendung zur Bezeichnung der süditalienischen Schrift scheint mir
außerdem auch ein Umstand zu sprechen, den L. mit Fug gegen die Be¬
zeichnung Montecassineser Schrift geltend machte, daß nämlich so leicht die
irrige Meinung entstehen könnte, daß jedes derartig bezeichnete Schrift¬
denkmal im einen Fall in Monte Cassino, im andern Fall in Benevent ge¬
schrieben sei. Der Bereich der Schrift aber überschreitet die Grenzen nicht
nur der Stadt, sondern auch des Herzogtums Benevent und zwar auch in
seinem weitesten Umfang während der Langobardenherrschaft, nicht nur im
viel beschränkteren, wie er den Mitlebenden des ausgehenden 13, Jahrh.
geläufig war. Ich halte also die Bezeichnung süditalienische oder unter¬
italienische Schrift nach wie vor für die zweckmäßigste.
Das dritte Kapitel bestätigt aus so umfassender Handschriftenkenntnis
die bisherigen A nnahm en über die Dauer unserer Schriftart, L. weist da¬
tierbare Handschriften von 779/92 bis 1295 nach und konstatiert, daß sie
im 13. Jahrh. noch weit stärker im Schwange war als man bisher glaubte.
Die Angaben über Fortdauer in Urkunden bis weit ins 14. Jahrh. hinein
beruhen nur auf sekundären Quellen und wären daher noch archivalisch
nachzuprüfen.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der räumlichen Ausdehnung
der süditaL Schrift, welche durch eine beigegebene Kartenskizze glücklich ver¬
anschaulicht wird. Die Hauptsitze derselben werden ausführlicher gewürdigt.
Allen voran natürlich Monte Cassino, das auch nach diesen gründlichen
Forschungen als deren Mittel- und Glanzpunkt erscheint. L. kennt ungefähr
500 Handschriften dieser Schriftart und hält mehr als die Hälfte dort
entstanden. Dagegen wurde die Bedeutung von La Cava durch Mabillon
Literatur.
207
überschätzt. Als neu sei besonders hervorgehoben die Würdigung von
Bari als Mittelpunkt einer eigenen, gegenüber dem "Westen altertümlicher
anmutenden, rundern Schreibschule. Einläßlich wird auch die Übertragung
des Baritypus nach Dalmatien geschildert-, die freilich nicht erst durch
Sufflay entdeckt wurde. Schon in den Monumenta graphica X. 7 ist ein
derartiges Specimen aufgenommen. Diesen Einfluß Süditaliens auf die Ost¬
küste der Adria erklärt Loew ganz zutreffend. Nur möchte man, wenn
wirklich die dalmatinischen Schriftdenkmäler durchwegs dem Baritypus an¬
gehörten, die Einwirkung Monte Cassinos nicht so stark einschätzen. Es
wäre auch daran zu erinnern, daß sowohl Süiost-Itulien als die dalmatinische
Küste lange gemeinsam unter griechischem Einfluß verharrten. Sehr praktisch
und nützlich ist die Zusammenstellung aller vom Verfasser eingesehenen
— und das deckt sich beinahe mit allen noch erhaltenen — südital. Hss.
nach ihren Schreiborten, sowie an anderer Stelle eine solche der Handschr.
im Baritypus und endlich ein Verzeichnis der einschlägigen Hss., welche
sich jetzt in den verschiedenen Bibliotheken und Sammlungen außerhalb der
Schreibprovinz befinden.
Anschließend wird dann im fünften Kapitel erörtert, ob neben der
beneventanischen Schrift in Unteritalien gleichzeitig auch die »gewöhnliche 4
Minuskel geschrieben wurde. Die positive Behauptung Caspars, daß sich
Petrus diaconus von Monte Cassino in dem dortigen Cod. 230 beider Schrift¬
arten nebeneinander bediente, wird aus paläographischen Gründen über¬
zeugend widerlegt. Auch die Erwägung, daß in der Kapitelbibliothek zu
Benevent alle Hss. der bezüglichen Jahrhunderte nur süditalienische Schrift,
aufweisen, ist gewichtig; dagegen nicht der Hinweis, daß solches gleich¬
zeitiges Erlernen zweier Schriftarten wegen großer Erschwernis und Zeitver¬
lust auszuschließen sei, denn entsprechender Brauch herrscht ja heutzutage
noch in allen Volkschulen auf dem Gebiete der deutschen Sprache. Loew’a
Annahme, daß man in Süditalien bis ins 12. Jahrh. hinein sich nur der
einheimischen Schrift bediente, dürfte ja mit der Einschränkung zutreffen
»in der Kegel 4 . Aber eine allgemeine und sichere Beantwortung dieser
Frage, welche sich auch nicht auf den Schriftgebrauch der Bücher allein
beschränken darf, läßt sich nur auf Grund des gesamten Schriftbefundes im
weitesten Umfang und etwa unter Vergleich mit den gleichzeitigen Ver¬
hältnissen in anderen Schriftgebieten, in welchen ähnliche Verhältnisse
herrschten, geben. Die Beachtung der Bücher allein reicht dafür nicht aus.
Wir besitzen dafür ja noch andern wichtigen Quellenstoff: die Urkunden,
und für diese Frage namentlich auch die Zeugenunter3chriften der Ur¬
kunden.
Die fast durchgängige Vernachlässigung dieser zahlreichen Schriftzeug¬
nisse bildet eine bedauerliche Lücke in Loew’s sonst so schönen und er¬
gebnisreichen Forschungen rnd zwar besonders für das 3. bis 6. Kapitel.
Das läßt sich auch jetzt schon behaupten, obwohl die Zahl der Abbildungen
süditalienischer Urkunden be? Piscicelli-Taeggi, Russi, im Cod. dipl. Caje-
tanus, Cavenis, Barensis, im Arch. pal. Italiano und einigen anderen Werken
ja bedauerlich klein ist Zur Rechtfertigung meiner Behauptung möchte
ich doch einige Fragen andeuten, für welche die gleichmäßige Berücksich¬
tigung auch der Originalurkunden zu gesicherter Antwort oder doch zu
besserer Klärung führen würde.
208
Literatur.
Einmal ergibt sich erst daraus (was Loew nach gelegentlicher An¬
deutung ja annimmt, aber nicht eigentlich behandelt), daß diese örtliche
kalligraphische Aus- und Umgestaltung der Kursive nicht bloß herrschende
literarische, sondern auch Geschäftsschrift in ganz Unteritalien wurde, wo
die Kenntnis des Schreibens wie im übrigen Italien auch in den höheren
Laienkreisen nie verloren ging. Denn die süditalienische Schrift eroberte
sich allmählig auch fast alle Notariatskollegien und die Zeugenunter¬
schriften beweisen, daß sie in den städtischen Schulen durchaus gelehrt
wurde.
Des weiteren ergeben die urkundlichen Zeugnisse aber auch viele um¬
fassende und genaue Belege für die Dauer und den örtlichen Gebrauchs¬
kreis unserer Schriftart. Aus den Verzeichnissen Loew’s ersieht man, daß
die Zahl der datierten Handschriften auch in Süditalien eine karge ist und
daß der Ursprungsort der Codices nur in den wenigsten Fällen eigentlich
paläographisch, vielmehr meist nur aus dem Inhalt und aus der Biblio-
tbeksheimat zu erschließen ist Daß letztere oft trügerisch ist hat Loew
selber bezüglich Monte Cassinos sehr gut dargelegt Aber auch der Inhalt
darf nicht stets zu hoch gewertet werden. Eine Kulthandschrift selbst mit
Kalendar, für einen nach Seite der Schriftkultur unbedeutenden Ort braucht
nicht eben daselbst geschrieben, sie kann auch in einem größeren geistigen
Zentrum — Kloster oder Stadt — bestellt worden sein. In den Urkunden
dagegen haben wir zeitlich wie örtlich haarscharf zuweisbare Schriftzeugnisse.
Schon aus den vorhandenen Faksimiles läßt sich Loew’s Verzeichnis der süd¬
italienischen Schreiborte in interessanter Weise ergänzen. So sind den
wenigen hier angeführten Fundstätten in der Zone von Bari (Apulien) ncch
anzufügen: Barletta (Cod. dipl. Bar. VIH n° 20), Bitetto (ib. VTII n° 23),
Bitonto (ib. I n° 46), Canosa (schon 962, ib. L n° 4; 1047 CD. Cav. VL,
n° 1078), Corato (Piscicelli-Taeggi Scrittura notarile), Lucera (1012, Cod.
dipl. Cav. IV. n° 649). Für die Basilicata und Calabrien, welche bei Loew
gar nicht vertreten sind, ergeben sich schöne Beispiele aus Monte Scaglioso-
Potenza (Arch. pal ItaL III n° 47. 48. 49. 51. *4) und aus Cicala, Distr.
Nicastro (Cod. Cav. VL n° 927), also ganz nahe Sizilien. Auf dieser Insel
hat Loew keine Handschriften unserer Schriftart nachweisen können. Das
findet wieder seine Ergänzung darin, daß nach Garufi und Andreas Kehr
auch die Privaturkunden und die wenigstens teilweise aus den städtischen
Notaren entnommenen Schreiber der normannischen Könige sie verschmähen.
Gegen Norden überschreitet die süditalienische Schrift die alten Grenzen
des Herzogtums Benevent. L. bringt das mit dem Besitz Monte Cassinos
an Gut und Klöstern in Verbindung. Es würde zu erforschen sein, ob sie
daselbst auch als Geschäftsschrift Verwendung fand oder es sich wirklich
nur um einzelne klösterliche Enklaven handelt.
Sodann ergeben sich aus den Originalurkunden auch gute Aufschlüsse
über die allmählige Ausbreitung und über das Abflauen unserer Schrift.
Es ist gewiß richtig, daß die kalligraphische Ausbildung d'eser Schriftart,
wenn sie auch aus der Kursive hervorging, vollständig auf dem Boden der
Bücherschrift erfolgte. Loew hebt sehr treffend den Widerspruch hervor,
der zwischen ihren erstarrten kursiven Elementen und der umständlichen
Federhaltung erwächst. Es läßt sich für diesen Entwicklungsgang auch an¬
führen, daß im Gegensatz zur römischen und fränkischen Kursive eine
Literatur.
209
kalligraphische Entfaltung im Geiste der Geschäftsschrift gar nicht erfolgte,
vielmehr besonders sorgfältig geschriebene oder ausgestattete Urkunden sich
der Bücherschrift noch stärker nähern (z. B. Arch. paL ItaL HL n° 48,
CocL dipL Bar. L n° 1, 43, V. n° 113, Cod. dipl. Cav. VL n° 1078) —
nebenbei bemerkt, ein Umstand, welcher allein schon die Berücksichtigung
dieser Schriftzeugnisse erheischt hätte. Wohl aber dringen charakteristische
Elemente der süditalienischen Schrift auch in die bisher dort bei den Ur¬
kunden gebrauchte gemeinübliche Kursive ein. Im augenscheinlichen Zentrum
der südital. Schrift bemerken wir sie schon in der ersten Hälfte des
9. Jahrh., (so S10 sehr ausgeprägt Piscicelli Taf. 34, auch von Loew er¬
wähnt; 820 Russi Taf. l), in Benevent 840 (Cod. dipL Cav. H. n° 19), in
Conza della Campania um «97 (Cod. dipL Bar. VUL n° 1, bei Loew kein
Beleg), in Salerno 899 (Cod. dipL Cav. I. n° 111, bei Loew Schriftbelege
erst seit 11. Jahrh.) vollständig ausgebildet — ich unterstreiche: nach den
zufällig mb bekannten Facsimiles. Alle Urkunden der langobardischen
Fürsten, die Voigt abbildet, zeigen südital. Schrift Für Bari ist sie in Ur¬
kunden schon 952 bezeugt (Cod. dipL Bar. L n° l), während Loew Hand¬
schriften erst aus dem 11. Jahrh. fand.
Daneben fesselt noch eine andere Tatsache unser Augenmerk. In einer
Reihe von Städten haben die Kurialen (Notare) an der alten Schrift zähe
festgehalten, wie schon Garufi bemerkte.* So nach zugänglichen Schriftproben
in Neapel von 916—1260, in Amalfi von 894—1219, in Gaeta 839 bis
1057. (Dagegen hat der Gaetaner Notar Sichelfrit 1097 süditalienisch ge¬
schrieben). Aber diese archaistische Tradition beschränkt sich auf die Notars¬
kollegien. Die Stadtbewohner, welche als Zeugen auftreten, unterfertigen
in Neapel und Amalfi schon in den ältesten namhaft gemachten Faksimiles,
in Gaeta seit dem Anfang des 10. Jahrh. in der jüngeren Schriftart.
ln ähnlicher Weise läßt sich auch der Übergang zur fränkischen (wenn
wir sie zum Unterschied so nennen wollen) Minuskel seit dem 12. Jahrh.
verfolgen. In Corata (Terra di Bari) mischt der Protonotar Angelus in
zwei Urkunden von 1129 und 1138 (Piscicelli Scrittura notarile) beide
Formen von a und e, eine Urkunde aus Matera von 1160 (Arch. pal. Ital.
HL 6o) zeigt keine süditalienischen Buchstaben mehr und eine sehr schön
ausgestattete Morgengaburkunde aus Bari von 1202 (Cod. dipl. Bar. L n° 71)
ist schon vollständig in gotischer Minuskel geschrieben.
Endlich fällt aus den urkundlichen Schriftzeugnissen auch Licht auf
die von Loew angeregte Frage des doppelten Schriftgebrauchs. Wer möchte
zweifeln, daß im 10. und 11. Jahrh. die Kurialen von Amalfi, Gaeta, Neapel
ebenfalls der süditalienischen 8chrift mächtig waren, wenn die übrige Stadt¬
bevölkerung sich dieser bediente? Und so taucht auch in einer Urkunde
von Neapel aus dem J. 977 und einer solchen von Gaeta aus 1012 (beide
bei Piscicelli) das süditalienische Abkürzungszeichen für »m € aufl Die Be¬
herrschung beider Schriftarten haben wir auch anzunehmen wenn die oben
erwähnten Notare des 12. Jahrh. oder wenn der Bischof von Acerra 1110
(Arch. paL HL 49) und ein Judex von Matera 1160 (ib. HL 50) bei der
Unterschrift beide Alphabete vermischten und ein anderer Judex in der
letztgenannten Urkunde in fränkischer Minuskel fertigt. So wird sich bei
systematischer Heranziehung der urkundlichen Schriffczeugnisse das von Loew
210
Literatur.
gezeichnete Bild nach verschiedenen Richtungen ergänzen, zum Teil auch
berichtigen lassen.
Auf die Schilderung der Umwelt und äußeren Geschichte unserer
Schriftart folgt dann in einer Reihe der inhaltsreichsten und besten Kapitel
deren innere Geschichte oder die Entwicklung der süditalienischen Schrift¬
art Zunächst in Kap. TI die Frage des Ursprungs. Die Ansicht Rodolioos
von der Herleitung aus der westgotischen Schrift wird ausführlich und
schlagend als haltlos erwiesen, obwohl L: auf Grund seiner ausgedehnten
Kenntnis der Hss. noch einzelne Anklänge an Westgotisches aufdeckt welche
Rodolico nicht kannte. Wie auch von andern angenommen wurde, nachdem
Traube den mit dem Namen »langobardische Schrift« früher verbundenen In¬
halt als unzutreffend aufgedeckt hatte, (vgl. zuletzt Bretholz Paläographie 2 70),
so erklärt auch Loew sie als eine Fortsetzung der älteren italienischen kursiven
Bücherschrift, also jener Mischschrift mit Kursive, welche man auch vor¬
karolingische Minuskel oder Kursivminuskel genannt hat. Anknüpfend an
Traube, Steffens und seine eigenen Darlegungen in den Studia palaeographica
Unternimmt er es, einen Überblick über die altitalienische Bücherkunive
zu geben, auf den aber hier nicht näher eingegangen werden soll, da der
Verfasser eine eigene Studie darüber in Aussicht stellt. Die Vermutung,
daß der Anstoß, gleich wie in Oberitalien, Gallien und Spanien in der
Bücherschrift zur Minuskel überzugehen, in Süditalien von auswärts kam —
während die Schriftelemente natürlich der heimischen Kursive entstammen
—, scheint mir namentlich auch deshalb viel für sich zu haben, weil nach
unserer derzeitigen Kenntnis Rom bis zu Ende des 8. Jahrh. bei der Unciale
und Halbunciale verharrte, ein Einfluß der griechischen Bücherminuskel
aber aus zeitlichen Gründen ausgeschlossen sein dürfte. Die Anschauung,
daß die süditalienische Schrift sich als Bücherschrift entfaltete, ist bei Loew
schon durch die ganze ^Stellung des Themas gegeben. Über eine örtliche
Fixierung der Anfänge spricht er sich nicht aus, aber aus der Art wie
Monte Cassino in den Vordergrund gestellt ist, darf man wohl ableiten, daß
er die Anfänge bei den Mönchen dieses Erzklosters sucht. Auch über die
Entstehungszeit äußert er sich mangels von Vergleichsmaterial sehr vor¬
sichtig. Er meint nur im Hinblick auf die ungünstigen politischen Ver¬
hältnisse Unteritaliens: nicht vor Anfang des 8. Jahrh. Mit diesem terminua
post quem wird man einverstanden sein können. Ja, wenn der Pariser
Cod. 7530 das älteste genauer datierbare Spezimen dieser Schrift bleiben
sollte, so schiene mir nach der nahen Übereinstimmung dieser Handschrift
mit gleichzeitigen oberitalischen und bei dem Umstand, daß auch Loew die
erste »tastende« Periode der süditalienischen Schrift bis zu Ende des
9. Jahrh. währen läßt, nichts im Wege zu stehen, .die Anfänge noch später,
etwa in die Zeit zu verlegen, in welcher Adalhard von Corbie und Baulus
diaconus im neuaufblühenden Monte Cassino weilten.
Wir gelangen mm zu einem der interessantesten und lehrreichsten
Kapitel (VH.) über die Elemente, Buchstabenformen, sowie Eigentümlich¬
keiten der süditalienischen Schrift; und deren ganzen Entwicklungsgang.
Leider aber muß ich gerade hier von einer eingehenden Würdigung ab-
sehen, da mir wenigstens eine solche erst nach dem Erscheinen des längst
angekündigten und mit Spannung erwarteten Tafelwerkes Loew’s möglich
sein wird. Ich hätte am liebsten diese Anzeige bis dahin vertagt,
Literatur.
211
wenn es mir nicht noch unangemessener erschiene, die Besprechung eines
so bedeutsamen pal&ographischen Werkes auf unbestimmte Zeit hmauszu-
schieben. Und so möge hier eine kurze allgemeine Berichterstattung einst¬
weilen genügen. Untersuchung und Darstellung beschränkt sich auf die
Buchschrift. Die Periodisierung Piscicelli-Taeggi’s und Cesare Paoli’s bleibt
im Wesen unberührt, aber die Einschnitte werden schärfer gezogen, die
Motive der Trennung eingehender begründet und die Charakteristika jeder
Epoche näher beschrieben. Unterstrichen soll die Bemerkung werden, daß
die angeführten Grenzen wesentlich nur für die Mittelpunkte der Schreib-
tätigkeit, also namentlich Monte Cassino gelten und ebenso der feine Hin¬
weis, daß der sinnfällige Eindruck der südital. Schrift sehr wesentlich in
der besonderen Federführung beruht, welche z. B. auch den einfachen >i € -
Schaft in drei Züge auflöst und daß dieser kalligraphische Grundsatz mit
den beibehaltenen kursiven Überresten in einem gewissen Widerspruch steht
'— was ja allerdings auch für andere kalligraphische Mischschriften bis zu
gewissem Grade gilt. Es werden nacheinander abgehandelt: die Buchstaben,
die Ligaturen und die Buchstabenanlehnungen. Zum Schluß wird der von
Loew zuerst beachtete mehr rundliche und altertümliche Bari-Typus näher
erörtert. Diese eingehende Zerlegung und Beschreibung der ganzen Schrift¬
art wird sich ohne Frage dem Paläographen für die süditalienische Schrift
sofort als unentbehrliches Hilfsmittel erweisen. Die ausgedehnte und gründ¬
liche Kenntnis des Quellenmaterials ermöglicht es dem Verfasser eine Fülle
wertvoller Einzelbeobachtungen zu bieten. Mancherlei in dieses Kapitel
Gehörige findet sich übrigens im 6. und 12. teils wiederholt, teils weiter
ausgeführt.
Das achte Kapitel, das weitaus längste, handelt von den Abkürzungen.
Loew schätzt es als das nützlichste seines Buches ein. Er mag damit im
Beeilte sein, wenn es auch wenig bequem zu überblicken ist. Es hat die
Form zum Teil dadurch verloren, daß der Verfasser zugleich den ausge¬
sprochenen Zweck verfolgte, die Lehren seines verehrten Meisters Traube in
En glan d heimisch zu machen. Infolge dessen wurde vieles aufgenommen,
was nicht eigentlich zum Gegenstand gehörte und dem festländischen Pa¬
läographen wohl doch ohnedies geläufig ist. Jedenfalls fließen die Dar¬
legungen nicht glatt dahin und hätten sich manche Wiederholungen ver¬
meiden lassen. Dem stofflichen Wert der Darbietungen kann das aber
keinerlei Abbruch tun. Die Übersicht einzelner Abkürzungsgruppen auf
8. 173 ff. und das ausführliche Verzeichnis der in der süditalienischen Schrift
gebräuchlichen Abkürzungen (bei welchem nur leider jene in liturgischen
und fachwissenschaftlichen Handschriften nicht aufgenommen wurden) sind
überaus dankenswert. Auf den Wegen Traubes ist hier erfolgreich fort¬
geschritten und großes, gesichtetes Material für eine künftige allgemeine
Geschichte der lateinischen Abkürzungen zusammengetragen. Auf Einzel¬
heiten einzugehen muß ich mir aus ähnlichen Gründen wie beim vorigen
Kapitel versagen.
Vollständig auf Neuboden bewegt si ch das neunte Kapitel, welches die
bisher recht dunkle und verworrene Geschichte des süditalienischen Frage¬
zeichens in unserer Schriftart in seiner abgestuften Verwendung bis zu
festem Gebrauch endgiltig klarlegt Der Nachweis, daß dieses Zeichen in
Form und Verwendung mit Neumen und ähnlichen Lesezeichen zusan men-
212
Literatur.
bängt, ist für die Bücherschrift im allgemeinen wichtig. In lehrreichen
Beispielen tut Loew in diesem und dem vorausgehenden Kapitel dar, welche
kritische Bedeutung der Nachhall besitzt, den Frage- und Abkürzungszeichen
in auswärtigen aber aus süditalienischen Codices abgeleiteten Handschriften
hinterließen.
Auf diese vier wichtigen Abschnitte folgen einige kleinere und auch
weniger bedeutende. Die teilweise Umwandlung der Orthographie (Kap. X)
durch die zunehmende Kraft der italienischen Volkssprache läßt sich in Be¬
schränkung auf Süditalien kaum entsprechend darstellen. Am allerwenigsten
ohne Heranziehung der Urkunden. Das elfte Kapitel bespricht das Schrift¬
wesen. Das grundlegende Werk dafür, Wattenbach-Taugls Schriftwesen des
Mittelalters findet sich auffallender Weise im ganzen Buche und besonders
in diesem Kapitel nie erwähnt. Und doch wäre es dem englischen Studenten
gewiß ebenso nützlich dieses als Traube’s Abkürzungslehre kennen zu lernen.
Ich schalte bei dieser Gelegenheit ein, daß die Anführung der Literatur
gegenüber unserm guten, gerechten, deutschen Brauch überhaupt mehrfach
zu kärglich ist. Wiederholt wird nur der engere Fachmann ermessen können,
in wieweit Loew selbständig Neues bringt oder schon Forschungen anderer
vorhergingen. Zu dem was wir aus Wattenbach wissen, vermag übrigens
Loew nur wenige Ergänzungen beizubringen, so: genaue Daten über das
Auftreten von Lagebezeichnungen durch Worte und jenes der Bleilinien.
Am wichtigsten wäre die Buchausschmückung. Aber mit Rücksicht auf die
leider auch durch den Krieg verzögerte Arbeit unseres Institutsmitgliedes
Alfred von Baldass über dieses Thema beschränkt sich der Verfasser da auf
kurze Hinweise.
Das zwölfte Kapitel gibt unter dem Titel Rules and traditions of the
script nochmals eine kurze Zusammenstellung der besonderen Schreibbräuche
Süditaliens hinsichtlich der kursiven Verbindungen, Abkürzungs- und Inter¬
punktionszeichen, namentlich auch über den Gebrauch des verlängerten >1«
und der Ligatur für assibiliertes und nicht assibiliertes »ti c . Vielfach eine
Rekapitulation des in den frühem Kapiteln Gesagten, in den beiden letzt¬
genannten Punkten aber auch eine Ausweitung und genauere Präzisierung
der in den Studia palaeographica gebotenen Erörterungen speziell für Sud¬
italien. Übereinstimmend mit meinen Bemerkungen Mitteil. 33, 366 be¬
merkt auch Loew, daß die regelmäßige Verwendung der spätem Ligatur
für assibiliertes ti im 9. Jahrh. auch in Süditalien noch Schwankungen
aufweise. Auch hier werden nochmals Beispiele angeführt, wie sich aus
charakteristischen Fehlem in nicht süditalienischen Handschriften die Schrift¬
art der Vorlage erschließen lasse. Eng anschließend bietet das dreizehnte
Kapitel eine übersichtliche Aneinanderreihung der früher zerstreut ange¬
führten Haltpunkte für Datierung südital. Schriftzeugnisse.
Das vierzehnte Kapitel endlich enthält eine erwünschte Sammlung der
leider recht seltenen Schreiberanterfertigungen unseres Bücherkreises. Für
die Hss. der Bibliothek in Monte Cassino konnte sich Loew an die Dai>
bietungen von Caravita I codici di Monte Cassino halten, für die sonstigen
weitzerstreuten Codices — und sie machen etwa 3 / 5 des Bestandes aus —
gebührt das Verdienst der Sammlung dem Verfasser. Aus der Unterfertigung
in n° 3 liest er heraus, daß der Subdiakon Ascaros von Carmignano 20 Jahre,
1145—1165, an seinem Komentar zu den paulinischen Briefen geschrieben
Literatur.
213
habe. Das wäre ein für den Paläographen selten glücklicher Fall, um die
Schriftentwicklung einer Hand zu studieren. Aber ist die Deutung richtig?
Die Notiz lautet: Hic über finitus atque scriptus est digitia Ascari ecclesie
& Laurencii in Carminiano subdiaconi etas cuius annos yiginti occupabat.
Ich vermag nur zu übersetzen: geschrieben vom Subdiakon Askar, dessen
Lebensalter 20 Jahre betrug, Um sicher zu gehen, legte ich den Text
meinem philologischen Kollegen Herrn Pro! Hauler vor, welcher meine
Auffassung bestätigte und bemerkte, daß man den Relativsatz ungekünstelt
nur auf das unmittelbar vorausgehende subdiaconus beziehen könne, mit
welchem es durch die Voranstellung von etas noch bestimmter verbunden
ist Bei solcher Übersetzung entfällt auch dos Bedenken, daß Ascar an
einem Bande so lange geschrieben hätte und von der »etas« eines Buches
spräche. Die Eintragung besitzt aber trotzdem paläographisch größem Wert,
weil wir dadurch die Schrift eines Zwanzigjährigen, also eines vor kurzem
der Schule entwachsenen an einem bestimmten Tage kennen lernen, da er
das Buch nach einer weitem Eintragung am 1. Februar 1145 begann
(mense februario die iovis primo int., darf nicht, wie Loew will, mit
»intervallo« aufgelöst werden, sondern heißt natürlich in tränte; Wochentag
und die ebenfalls angegebene Indiktion stimmen zum angegebenen Monatstag
zusammen).
Als Anhang folgt ein Verzeichnis aller dem Autor bekannt gewordenen
Handschriften und Handschriftenfragmente süditalienischer Schrift, geordnet
nach ihren Aufbewahrungsorten, mit Angabe der Signatur, des Alters und
Inhaltes. Bei den ausgedehnten Bibliotheksforschungen, welche Loew unter¬
nommen hat, wird es wohl als ein nach dem heutigen Stand unserer Kennt¬
nisse so gut wie vollständiges betrachtet werden können. Damit ist auch
der hohe Wert dieser Gabe umschrieben. Zu den Altersangaben bemerkt
er, daß er sie auch dann beibehielt, wenn er sie in einer frühem Phase
seiner Studien machte und inzwischen vielleicht in manchen Punkten zu
andern Anschauungen kam. Dieser Vorgang wird gewiß weit mehr Nutzen
als Schaden stiften. Dagegen bedauere ich, daß Loew nicht die Gründe
seiner Altersbestimmung jedesmal angab, denn es wird nicht sobald ein zweiter
Forscher Lust oder auch nur Möglichkeit haben, das einschlägige Material
in solchem Umfang zu meistern und paläographisch durchzuarbeiten. Wenn
der Verfasser das Versprechen, in einer eigenen Studie die Faksimiles und
die Literatur über die angezogenen Handschriften mitzuteilen, einlöst, so
möge er auch diese Wünsche erfüllen, welche gewiß nicht nur jedem Pa¬
läographen sondern jedem Benutzer dieser Handschriften am Herzen liegen.
Eine Liste sämtlicher zitierten Handschriften und Autoren beschließt dieses
hochverdienstliche, gelehrte Buch.
Wien. E. v. Ottenthal.
Kommission für neuere Geschichte Österreichs 1914.
Die diesjährige Vollversammlung fand am 21. November 1914 unter
Leitung des Vorsitzenden-Stellvertreters Hofrates Emil v. Ottenthal statt, da
S. Durchlaucht Fürst Franz von und zu Liechtenstein durch seine Samariter¬
tätigkeit beim souveränen Malteser Ritterorden das Präsidium zu fuhren
verhindert war.
214
Nekrologe.
In der Abteilung Staatsverträge ist der 3. Band des von Profi
Ludwig Bittner bearbeiteten »Chronologischen Verzeichnisses der öster¬
reichischen Staatsverträge* (1848—1911) erschienen. Das Manuskript des
alle drei Bände umfassenden Sachregisters wird voraussichtlich im Sommer
1915 druckfertig vorliegen. Die Arbeiten für die Herausgabe der öster¬
reichischen Staatsvertr&ge mit der Türkei und mit Holland (2. Band)
ruhen seit dem Sommer, da deren Bearbeiter Dr. Boderich Gooss und
Dr. Paul Heigl zum Kriegsdienst einberufen worden sind. Dr. Ernst
Molden ist seit 1. Oktober ständiger Mitarbeiter für die Staatsverträge
mit Frankreich und gegenwärtig mit der Abfassung der bis ins Mittel-
alter zurückreichenden Haupteinleitung beschäftigt.
Abteilung Korrespondenzen: Für den 2. Band der Familienkor¬
respondenz Ferdinands I. hat Dr. Wilhelm Bauer die Gestaltung der
Texte im allgemeinen beendet. Für die Aufhellung der in den Briefen
berührten Reichsangelegenheiten wird der Besuch der Archive von Dresden,
Weimar, München und Marburg notwendig sein. Prof. Bibi hat das Ma¬
nuskript des ersten Bandes der Briefe Maximilians IL druckfertig vor¬
gelegt und stellt in Aussicht, den 2. und 3. Band (1569) ebenso rasch wie
den ersten zum Abschluß zu bringen. Doch sind dafür noch ergänzende
Forschungen in den Archiven zu München, Innsbruck, Modena, Florenz und
im Koblenz’schen Archive zu Kronbexg erforderlich.
Für die zweite Abteilung der Geschichte der österreichischen
Zentralverwaltung ist die Materialsammlung für die Vorgeschichte von
1749 als abgeschlossen zu betrachten, jene für die Folgegeschichte bis 1 762
weit vorgeschritten, doch steht die Redaktion dieses Materials noch vielfach
aus. Prof. Kretschmayr hofft den ersten Aktenband über die Jahre 1749
—1762 im Herbst 1915 dem Druck übergeben zu können. Die Publikation
wird voraussichtlich drei Aktenbände und einen Darstellungsband umfassen.
An Archivalien zur neueren Geschichte Österreichs wird
der unter der Leitung des Prof. Dopsch in Aussicht genommene 2. Bond
zunächst solche aus Nieder- und Oberösterreich bringen.
Nekrologe.
Earl Uhlirz.
Die Genossenschaft unseres Instituts hat einen schweren Verlust er¬
litten durch den Tod von Karl Uhlirz. Geboren zu Wien am 13. Juni
1854, widmete er sich an der hiesigen Universität dem Studium der Ge¬
schichte. Er hörte zunächst namentlich bei Büdinger und Lorenz, als er
dann 1875—1*77 das Institut für österr. Geschichtsforschung besuchte,
gewann Theodor von Sickel den größten Einfluß auf seine wissenschaftliche
Durchbildung und auf seinen ganzen Lebensgang. Gleich nach Beendigung
seiner Studien trat er bei der von Sickel ins Leben gerufenen Abteilung
Diplomata der Monumenta Germaniae historica ein und blieb bis 1882
als ständiger Mitarbeiter, von da ab bis Herbst 1891 in freierm Verbände
ununterbrochen diesem Unternehmen treu. Damit war sein erstes Arbeits¬
feld gegeben. Seine solide und saubere, gewissenhafte und kritisch scharfe
Arbeit hat für das Gelingen der Ausgabe der Diplome der drei Ottonen
Nekrologe.
215
große Bedeutung gehabt, welche bei der eigenartigen Organisation derartiger
Editionen nur die Mil wirkenden voll ermessen können. Angesichts des
häufigen Wechsels der Mitarbeiter und vielfacher Abwesenheit Sickels aus
Wien seit der Mitte der achtziger Jahre wahrte durch Jahre eigentlich
Uhlirz die Tradition und die Einheitlichkeit im Fortgang der Diplom ata-
Arbeiten, bis er anläßlich seiner ersten schweren und langdauernden Er¬
krankung von der Monumentastellung ganz zurücktrat. Ein Unternehmen
wie die Diplomata-Ausgabe muß auf dem entsagungsvollen Zusammenarbeiten
aller Beteiligten aufgebaut sein, es ist da nicht möglich den individuellen
Anteil jedes einzelnen Genossen herauszuschälen. Aber eine Anzahl von
Aufsätzen in unsem Mitteilungen, im Neuen Archiv der Gesellsch. f. ältere
d. Geschichtskunde, in der Historischen Zeitschrift und in anderen Fach¬
organen gewähren doch eine richtige Vorstellung vom Umfang, von der
Tiefe und Selbständigkeit der Forschung, die er außer den eigentlichen
Editionsarbeiten diesem Nationalwerk weihte. Ganz besonders auch sein
schönes Buch über die Geschichte des Erzbistums Magdeburg unter den
sächsischen Kaisern (1886), welches aus weiterer Ausgestaltung dieser
Diplomata-Arbeiten entstand. Diese Leistungen verschafften ihm seitens der
historischen Kommission bei der k. bayer. Akademie der Wissenschaften den
ehrenvollen Auftrag, die Neubearbeitung der Jahrbücher des deutschen
Eeichs unter Otto II. und III. zu übernehmen. Obwohl inzwischen zu anders
gewendeten Zweigen der Historie übergegangen, hielt er doch gerne solchen
Zusammenhang mit seinem ursprünglichen, ihm so lieb und vertraut ge¬
wordenen Arbeitsgebiet aufrecht und löste 1902 in den Jahrbüchern Ottos EL
den ersten Teil seiner Aufgabe in vorzüglicher Weise. Durch volle Be¬
herrschung der urkundlichen wie der erzählenden Quellen, durch scharfe
besonnene Kritik und durch gefällige Darstellung zählt dieser Band gewiß
zu den besten dieser Publikation, wenn auch das inhaltliche Interesse an
dieser Jahresreihe ein geringeres sein sollte. Die Jahrbücher Ottos HL sind
leider nicht mehr zur Ausarbeitung gediehen.
Im J. 1882 trat Uhlirz seine erste feste Amtsstellung im Archiv der
Stadt Wien an, welches er dann von 1889 bis 1903 als Vorstand leitete.
Er erwarb sich sowohl um die Neuordnung und Aufstellung, wie um die
wissenschaftliche Verwertung dieses großen und wertvollen Archivs hervor¬
ragende Verdienste. Er widmete sich beiden Aufgaben des Archivars mit gleicher
Tatkraft und dehnte seine wissenschaftlichen Forschungen und Veröffent¬
lichungen auf ein neues Feld aus: die Geschichte der Stadt Wien. So
edierte er in den »Quellen zur Geschichte der Stadt Wien«, obwohl es ihm
nicht gelungen war den allgemeinen Plan dieser Publikation auf eine
zweckmäßigere Grundlage zu stellen, in drei Bänden in vortrefflicher Art
die Regesten der Urkunden des Stadtarchives und im 16. bis 18. Band
des Jahrbuches der Kunstsammlungen des a. h. Kaiserhauses Auszüge der
das K imstleben im weitesten Sinn berührenden Dokumente. Für die vorn
Wiener Altertums verein veranlaßte Geschichte der Stadt Wien lieferte er
die durchwegs quellenmäßig bearbeitete Geschichte des Wiener Gewerbes
and der Wiener Geschichtsquellen im Mittelalter. Dazu kommt noch eine
beträchtliche Anzahl von Aufsätzen und kleinem Mitteilungen in Zeit¬
schriften und als Frucht eines Sommeraufenthaltes das Buch »Das Archiv
der Stadt Zwettl«, ln weitem Kreisen mehr Aufsehen machte eine mit
216
Nekrologe.
diesen Arbeiten innerlich zusammenhängende Reihe von Besprechungen über
»Die neuere Literatur über das Städtewesen* in unserer Zeitschrift (Bd. 7
bis 24), in welcher er die wichtigsten Erscheinungen über diese gerade da¬
mals so viel behandelten Fragen mit tief eingreifender Sachkenntnis und
scharfer kritischer Sonde vorführte. Große Arbeitskraft und haushälterische
Verwendung seiner Zeit setzten ihn überhaupt damals wie später in die
Lage, neben sehr reger wissenschaftlicher Produktivität noch viele Rezen¬
sionen zu schreiben und zwar dank seinem ausgebreiteten Wissen, seiner
kritischen Ader und seiner Gewissenhaftigkeit durchwegs sehr gründliche
und sorgfältig ausgearbeitete. Er legte an die besprochenen Werke einen
sehr strengen Maßstab an und ging in seinem Tadel mitunter nicht nur
nach der Ansicht des Betroffenen zu weit. Aber was er aussprach, war
der Ausdruck seiner vollsten Überzeugung und er war nicht weniger streng
mit seinen eigenen Leistungen.
Im J. 18** habilitierte sich Uhlirz als Privatdozent für Geschichte
des Mittelalters und der historischen Hilfswissenschaften an der Universität
Wien. Die Mannigfaltigkeit und Vorzüglichkeit seiner gelehrten Arbeiten
verschafften ihm 1902 gleichzeitig den Vorschlag zum ordentlichen Professor
für historische Hilfswissenschaften in Innsbruck und für österreichische Ge¬
schichte in Graz. Er wurde 1903 nach seinem Wunsche für letztere Lehr¬
kanzel ernannt. Obwohl mit Wien durch Geburt und sonstige Jahrzehnte
alte Bande eng verknüpft, entsprach doch diese Veränderung seiner äußeren
Lebensstellung vollstens seinen innersten Wünschen. Gewohnt in allem, was
er unternahm, den ganzen Mann zu stellen, widmete er sich mit jugend¬
licher Frische und aller, auch durch wiederholte Krankheit kaum gehemmten
Kraft den neuen akademischen Aufgaben, die seiner harrten. Namentlich
befriedigte ihn, daß ihm auch die Vorlesungen über historische Hilfswissen¬
schaften übertragen wurden. Den beiden Fächern, welche er zu vertreten
hatte, entsprachen auch jetzt wieder seine eignen wissenschaftlichen Arbeiten.
Für die Monumenta Germaniae historica übernahm er die schwierige und
langwierige Neuausgabe der Annales Austriae. Aus einer Unmenge von
Handschriften sammelte er seit Jahren mit emsigem Fleiße das Material,
mit welchem er diese wichtige Quellengruppe in neuer, wesentlich ver¬
besserter und stark umgestalteter Form herauszugeben gedachte. Aus der
eingehenden und umfassenden Kenntnis der mittelalterlichen Schriftdenk¬
mäler Alt-Österreichs, welche er sich hiebei erwarb, erwuchs auch die Be¬
trauung mit der Auswahl und Bearbeitung der Schriftproben aus öster¬
reichischen Klöstern für Chrousts Monumenta palaeographica. Sie ist eine
Musterleistung geworden.
Eben hatte er die letzten Korrekturen für diese Arbeit beendet, als
ihn am 22. März 1914 auf seinem üblichen Sonntags-Morgenspaziergang der
Tod jäh und schmerzlos niederwarf. Unserer heimischen Geschichtsforschung
ist in Uhlirz allzufrüh einer der besten Vertreter, der noch die schönsten
Gaben seines scharfen, tätigen Geistes erhoffen ließ, entrissen worden. Auch
die kaiserliche Akademie der Wissenschaften anerkannte seine hohen Ver¬
dienste durch die Aufnahme in ihre Mitte. Er war ein aufrechter Mann
von unbeugsamer Wahrheitsliebe und zuverlässiger Treue, herb nach außen
und doch voll heiteren Frohsinns im engsten Kreise.
Wien.
E. v. Ottenthal.
Nekrologe.
217
Thaddffus Smifiklas.
Am 8. Juni 1914 starb in Agram bald nach Vollendung seines
70. Lebensjahres Tadija (Thaddäus) Smißiklas, 1882—1905 Professor der
kroatischen Geschichte an der dortigen Universität, seit 1901 Präsident der
sudslavischen Akademie der Wissenschaften. Geboren 1843 im Dorfe Beätovo
im Gebiete von Sichelburg, studierte er 1864—1869 an der Universität
in Wien, wo er auch 1867—1869 ordentliches Mitglied des Instituts für
österreichische Geschichtsforschung wurde. Als unermüdlicher Arbeiter
und begeisterter Lehrer hat sich Smißiklas um die Förderung der histo¬
rischen Studien in seinem Vaterlande, die im Laufe der letzten 70 Jahre
von dem Edelmann Kukuljevid-Sakcinski, dem Domherrn Raöki und dem
Professor Mesic begründet worden waren, die größten Verdienste erworben.
Ein viel gelesenes Buch wurde seine Geschichte Kroatiens in zwei Bändep
(Poviest hrvatska, Agram 1879—1882). Neben zahlreichen Biographien,
wie des Stifters der Agramer Akademie, des Bischofs Stroßmayer, des
Kukuljeviö, Ra£ki u. a. ist zu nennen eine gründliche Studie über die bis
dahin so wenig bekannte Geschichte Slavoniens unter der türkischen Herr¬
schaft, begleitet von einer Urkundensammlung 1640—1702, verfaßt aus
Anlaß des 200jährigen Jubiläums der Befreiung Slavoniens (Dyjestogodiönjica
oalobodjenja Slavonije, Agram 1891, 2 Bde). In den Monumenta der
Akademie gab er 1901 die lateinischen Aufzeichnungen (Annuae 1748—
1767) des Agramer Historikers Kercselich heraus. Zuletzt widmete Smiöiklas
alle seine Kräfte dem auf 16 Bände veranschlagten »Codex diplomaticus
regni Croatiae, Dalmatiae et Slavoniae«, herausgegeben von der Südslavischen
Akademie mit Unterstützung der kroatischen Landesregierung. Davon sind
unter seiner Leitung in den Jahren 1904—1913 die Bände 2—11 (l 101
—1350) erschienen, mit dem Urkundenmaterial aus den Zeiten der Könige
ans den Dynastien der Arpäden und der Anjous. Die Vollendung des ersten
Bandes, mit Urkunden aus der Zeit der nationalen kroatischen Herrscher
bis 1101, einer von einer Sammlung von Faksimilien begleiteten Neube¬
arbeitung der »Documenta« von Racki, war ihm leider nicht mehr beschieden.
Wien. C. Jirecek.
Franz Martin Mayer.
Mayer, ein Sohn des Egerlandes, wurde am 20. Februar 1844 in
Plan in Böhmen geboren. Er bezog 1863 die Wiener Universität und
gehörte dem 7. Jahrgang unseres Instituts 1867—1869, jedoch nur bis
1868 an, um nach Ablegung der Lehramtsprüfung für Geschichte, Geo¬
graphie und Deutsch und Erwerbung des Doktorhutes sich dem Mittelschul¬
dienst zu widmen.
Wir treffen ihn zunächst im Herbst 1868 als Lehrer am niederöster-
r eichiac hen Landesrealgymnasium in Oberhollabrunn, in dessen Jahresschrift
er 1869 seine Erstlingsarbeit, literaturgeschichtlichen Inhalts, veröffentlichte:
En Vorläufer Lessings (Johann Elias Schlegel). Die Jahresschrift dieser
Anstalt von 1870 brachte die erste rein historische Studie aus seiner
Feder: Drei Kapitel aus der Geschichte des Marktes Oberhollabrunn.
Noch im Herbst 1870 an die Landesoberrealschule in Graz versetzt,
verließ er die schöne Murstadt bis zu seinem Ableben nicht mehr, so daß
218
Nekrologe.
ihm Steiermark zur zweiten Heimat wurde. Nachdem er dann 1880—1891
am 1. Staatsgymnasium als Professor tätig gewesen war, wurde er 1891
zum Direktor der Landesoberrealschule ernannt, wo er bis zum Schluß des
Sommersemesters 1909 in hervorragender Weise als Schulmann wirkte, um
dann in den Buhestand zu treten.
In Graz beschäftigten ihn zunächst die Vorarbeiten für ein Handbuch
der Geschichte Österreichs, wie ein solches bis dahin nicht vor¬
handen war, da doch dos von Pölitz-Lorenz schon wegen seiner Kürze nicht
genügen konnte. 1874 erschien das Handbuch mit besonderer Rücksicht
auf die Kulturgeschichte in zwei Bänden, der im Vorwort geäußerten Ab¬
sicht gemäß, bündige Kürze bei möglichster Deutlichkeit und Einfachheit
unstrebend — eine Absicht, die auch glücklich erreicht wurde, obzwar
Literatur und Quellen, letztere oft mit wirklichen Zitaten, genau angeführt
sind. Welcher Beliebtheit sich dieses Handbuch, welches dem später er¬
schienenen von Franz von Krones entschieden vorzuziehen ist, erfreute,
beweist, daß es 1900 in 2. und 1909 in 3. Auflage erscheinen konnte.
Eine hervorragende Leistung, die meines Erachtens niemals nach Gebühr
gewürdigt wurde. Es sei hier gleich vorausgeschickt, daß unter den vielen
historischen Arbeiten Mayers nur zwei seinem engeren Heimatlande Böhmen
gelten. 1876: Die volkswirtschaftlichen Zustände Böhmens um das Jahr
1770 (Mitteilungen d. Vereins f. Gesch. d. Deutschen 14, 125) und 1880:
Über die Verordnungsbücher der Stadt Eger 1352—1482 (Archiv f. Österr.
Gesch. 60, 19).
Mehr und mehr widmete er seine Arbeitskraft der Geschichte Inner¬
österreichs. Da waren es vor Allem die Bauernkriege. Schon 1875 er¬
schien ein Aufsatz über: Die ersten Bauernunruhen in Steiermark (Mit¬
teilungen d. histor. Vereines 23, 107), dem sich 1876 Materialien und
kritische Bemerkungen zur Geschichte der ersten Bauernunrahen anschlossen
(Beiträge zur Kunde steiermärk. Geschichtsquellen 13, 1), dann 187 7 Kleine
Mitteilungen hiezu (Beiträge L c. 14, 17), um 1883 den innerösterreichischen
Bauernkrieg 1515 nach alten und neuen Quellen zu schildern (Archiv fl
österr. Gesch. 65, 55).
Indessen hatte sich M. auf die Geschichte der Salzburger Erzbischöfe
geworfen. 1877 veröffentlichte er eine Abhandlung über die Abdankung
des Erzbiscbofes Bernhard und den Ausbruch des dritten Krieges zwischen
Kaiser Friedrich HL und König Mathias von Ungarn 1477—1481 (Archiv
f. österr. Gesch. 55, 169), um dann noch drei Beiträge zur Geschichte dea
Erzbistums zu liefern. 1878: Materialien zur Geschichte des Erzbischöfe
Bernhard (Archiv L c. 56, 369) auf Grund eines Admonter Formelbuchee,
1881: Über ein Formelbuch aus der Zeit Erzbischof Friedrichs DI. 1315
—1318 in der Salzburger Studienbibliothek (Archiv L c. 62, 147) und
1882: Die Vita s. Hrodberti in älterer Gestalt aus einer Grazer Hand¬
schrift (Archiv 1. c. 63, 595). M. hielt diese Vita für älter, als die Vita
primigenia, was anfänglich von J. Friedrich bestritten, ner erlich aber von
keinem geringeren als A. Hauck in seiner Kirchengeschichte für richtig
befunden wurde. 1883 erschien von ihm das heute noch höchst bedeutende
und nicht übertroffene Buch: Die östlichen Alpenländer im Investiturstreit,
die Zeit 1050—1150 umfassend.
Nekrologe.
219
Hatte M. 1880 eine eingehende Untersuchung über die österreichische
Chronik des Matthäus oder Gregor Hagen veröffentlicht (Archiv f. österr.
Gesch. 60, 295) worin er es wahrscheinlich zu machen suchte, daß der
wirkliche Verfasser Johann Seffner hieß, so ist die Frage jetzt durch See¬
müllers musterhafte Ausgabe dieser Chronik unter dem Titel: Die öster¬
reichische Chronik von den 95 Herrschaften (Mon. Germ. Deutsche Chroniken
6. Bd.) gegenstandslos geworden, wonach der Verfasser unbekannt ist und
bleibt, wobei aber das besondere Verdienst M.s um die Entdeckung der
Podgorer Handschrift rühmend hervorgehoben wird.
Einen hochinteressanten Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation
in Kärnten, Krain und Steiermark lieferte M. 1880 in den Forschungen
zur deutschen Geschichte (20, 205) betitelt: Zur Geschichte Innerösterreichs
im Jahre 1600, entnommen einer Schlüsselberger Handschrift des Landes¬
archivs in Linz, heute Kodex 43, nunmehr freilich überholt durch die
große Ausgabe der Akten zur Gesch. d. Gegenreformation in Innerösterreich
von Loserth (Fontes rer. Aust. H. Bd. 50, 58, 60).
Mit der Geschichte der Beformationszeit beschäftigen sich sonst noch
die Aufsätze 1888: Der Brücker Landtag des Jahres 1572 (Archiv f. österr.
Gesch. 73, 467) und 1889: Jeremias Hornberger (ebenda 74, 203), pro¬
testantischer Hauptpfarrer in Graz, 1584 ausgewiesen, t 1593, mit einer
Schilderung des von ihm veranlaßten Kalenderstreites. In die Beligionsge-
schichte schlägt noch ein Aufratz im 25. Jahresbericht der steiermärk.
Landesoberrealschule 1896 ein: Eine salzburgische Visitationsreise in Steier¬
mark und Kärnten 1687.
Mittlerweile hatte er auch die Handelsgeschichte Österreichs in den
Kreis seiner Forschungen gezogen. 1882 erschien auf Grund von Ab¬
schriften der Hofkammerprotokolle im Laibacher Musealarchiv das inhalts¬
volle Büchlein: Die Anfänge des Handels und der Industrie in Österreich
und die orientalische Kompagnie. Noch einmal griff er in einem Aufsatz
in diesen Mitteilungen (18, 129) 1897 auf diesen Stoff zurück: Zur Ge¬
schichte der Handelspolitik unter Kaiser Karl VI., nach einem Reiseberichte
von 1728.
Die Entdeckung von Relationen des Generals Friedrich v. Wied 1757
—1759 in der Salzburger Studienbibliothek veranlaßte 1886 seinen Aufsatz
in diesen Mitteilungen (7, 378): Zur Geschichte des siebenjährigen Krieges.
Bald nahm ihn die Geschichte Steiermarks fast ganz gefangen. So in¬
teressierten ihn die im erzbischöflichen Archiv in München befindlichen
Korrespondenzbücher des Bischofs Sixtus von Freising 1474—1495 haupt¬
sächlich wegen des nicht unbedeutenden Besitzes dieses Hochstiftes in
Steiermark. Eine Wertung dieser Quelle für die Geschichte des Landes
erschien schon 1878 in den Beiträgen zur Kunde steiermärk. Geschichts¬
quellen (15, 39), um dann 1886 im Archiv f. österr. Gesch. (68, 411 —
501) ausführlichere Verarbeitung zu finden. Hatte Muchar eine Geschichte
von Eisenerz bis 1570 geschriiben, so lieferte M. 1885 eine Fortsetzung
bis 1625 auf Grund des im htatthaltererarchiv zu Graz liegenden Materials
(Mitteilungen des hist. Vereines 33, 157), nachdem er schon 1880 sich mit
Leopold Ulrich Sehiedlbeiger’s (1709—1713) Aufzeichnungen zur Ge¬
schichte des Marktes beschäftigt hatte (Beiträge zur Kunde steiermärk. Ge-»
schichtsquellen 17, 3). Kleinere Aufsätze sind in denselben Beiträgen er-
220
Nekrologe.
schienen 1886: Zur Geschichte der Karthause Seitz (21, 126), nach Ur¬
kundenauszügen in den Klosteraufhebungsakten im Grazer Statthalterei¬
archiv, 1887: Aus dem Archiv des Marktes Ehrenhausen (22, 95) und
1892: Mitteilungen aus Anton M. Stupan’s v. Ehrenstein Beschreibung von
Innerösterreich 1759 (24, 3).
Eifrige Forschung wandte er dem Franzosenzeitalter in Steiermark zu.
Bas Jahr 1887 brachte zwei Aufsätze: Steiermark im 3. Koalitionskrieg
1805—6 (Programm des I. Staatsgymnasiums in Graz) und Jakobiner in
Steiermark (Zeitschrift f. allgem. Gesch. 1887, S. 368), tun dann 1888
über: Steiermark im Franzosenzeitalter ein eigenes, lesenswertes Buch er¬
scheinen zu lassen.
Ein wahres Volksbuch, um das viele Länder Steiermark beneiden können,
lieferte M. in seiner Geschichte der Steiermark mit besonderer
Bücksicht auf das Kulturleben, 1898 in 1. Auflage erschienen,
ganz besonders in der 2. Auflage 1913 mit vielen Illustrationen nach sach¬
kundiger Auswahl des Landesarchivdirektors Mell. Überhaupt verstand Mayer,
wie nicht leicht ein anderer, die Volkstümlichmachung der Geschichte. Es
sind nicht ermüdende, langgezogene, mit Einzelheiten überhäufte Darstellungen,
sondern kurze treffende Charakterbilder reihen sich aneinander, um in ihrem
Zusammenhang das Verständnis der Vergangenheit zu erschließen.
Hochgefeiert war M. als Schulmann von Kollegen und Schülern. Ist
auch hier nicht der Ort, um auf diese hervorstechende Seite des Verewigten
einzugehen, so sei nur kurz auf den ganz erstaunlichen Erfolg hinzu weisen,
den seine Lehrbücher für Mittelschulen fanden. In meist mehr als sechs
Auflagen sind diese Lehrbücher der Geschichte, Geographie und Vaterlande¬
kunde erschienen und haben wiederholt aufgelegte Übersetzungen und Be¬
arbeitungen in italienischer, kroatischer, slovenischer und tschechischer
Sprache gefunden.
Seit Jahren hemmte ein schweres Augenleiden seine bewunderungs¬
würdige Arbeitskraft, welche um so höher eingeschätzt werden muß, als M.
sich nur in schulfreier Zeit der Forschung und Darstellung widmen konnte.
Dieses Leiden war auch die Ursache, weshalb er die Abfassung einer ein¬
gehenden Geschichte der Steiermark für die im Verlag Perthes in Gotha
erscheinenden Landesgeschichten schließlich einer jüngeren Kraft überließ,
obzwar er rüstig daran gearbeitet hatte.
Schon 1875 habilitierte sich M. als Privatdozent für österreichische
Geschichte an der Grazer Universität. Eine höhere akademische Würde ist
ihm, merkwürdiger Weise, niemals zuteil geworden. Nur nach Professor
Zieglauers Rücktritt vom Lehramt an der Universität Czernowitz 1900, er¬
ging an ihn — zu spät —- der Buf als Nachfolger, den er, wie begreiflich,
ablehnte.
Mayer war ein Mann von rührender Bescheidenheit, der seine eigene
Person zurückstellte gegenüber dem Drang in Wissenschaft und Schule den
ganzen Mann zu stellen, wobei ihm ein Streben nach Ehren und Würden
fremd war. Noch im Frühsommer 1914 traf ich M., doch leider nicht
mehr in alter Frische, in den schönen, neuen Arbeitsräumen des steier¬
märkischen Landesarchivs, zu dessen fleißigsten Benützem M. seit Jahrzehnten
zählte, trotz seines schweren Augenleidens in eine das Haus Fugger be¬
treffende Briefsammlung vertieft, nachdem er nur wenige Wochen früher
Nekrologe.
221
in geheimnisvoller Stille seinen 70. Geburtstag gefeiert hatte. In der
Nacht des 15. September 1914 ist er ganz unerwartet einer Herzlähmung
erlegen.
War Mayer auch nur ein Jahr lang Mitglied unseres Instituts, so hat
er dessen Namen in jeder Hinsicht Ehre gemacht. Er hat nicht nur durch
streng wissenschaftliche Arbeiten die österreichische Geschichtsforschung in
reichstem Maße gefördert, sondern er ist auch, was ihm nicht hoch genug
angerechnet werden kann, aus der Höhe wissenschaftlicher Forschung zum
Volke herabgestiegen, um ihm daß Verständnis für die Vergangenheit mund¬
gerecht zu machen. Sein Andenken sei gesegnet!
Klagenfurt. August v. Jaksch.
P. Florian Watzl 0. C.
Ein jähes, schweres Halsleiden hat dies kraftvolle Leben verzehrt, der
Tod kam am 11. Februar 1915 als Erlöser — am 13. Februar trug die
Kloetergemeinde von Heiligenkreuz einen ihrer Besten auf dem schönen
Bergfriedhofe zu Grabe — sein sehnlichster Wunsch, angesichts seines
geliebten Stiftes beerdigt zu sein, ward allzufrüh erfüllt!
P. Florian Watzl wurde am 4. November 1870 zu Aigen im oberösterr.
Mühlviertel als Sohn alteingesessener Landleute geboren. Der aufgeweckte
Knabe erregte früh die Aufmerksamkeit seiner Lehrer, insbesondere im nahen
Stifte Schlägl, die ihn auch ins Gymnasium nach Linz brachten. Hier
zeigte er außerordentliche Liebe und Befähigung zum Geschichtsfach. Eine
schwärmerische Begeisterung für das deutsche Mittelalter und seine geist¬
lichen Schöpfungen führte den Abiturienten zu dem Entschluß, in den Orden
des hL Bernhard zu treten. Die Wahl fiel auf Heiligenkreuz. Am 24. August
1889 wurde Watzl als Novize eingekleidet, 1894 zum Priester geweiht.
Der junge begabte Theologe und Konventuale warf sich mit wahrem Feuer¬
eifer auf die Erforschung der Geschichte seines Ordens und Stiftes; die ge¬
sammelten Materialien aus jener Zeit sind überaus reichhaltig: die Generai-
kapitel, die Zisterzienser an den Universitäten des Mittelalters, die Heiligen des
Ordens, seine kolonisatorische Tätigkeit, seine Wirtschaftspolitik und Handels¬
beziehungen, seine Verdienste um Ackerbau und Viehzucht, Wein- und Gartenbau,
um Industrie, Bergbau und Baukunst hat Watzl zum Gegenstand von Spezial¬
forschungen genommen. 1898 erschien als Frucht langjährigen Sammel¬
fleißes sein biographisches Nachschlagebuch »Die Cistercienser von Heiligen¬
kreuz*, ein wertvoller Beitrag zur Hausgeschichte. In den Jahren 1901—
1903 oblag Watzl an der Universität in Wien historischen Studien, erwarb
den philosophischen Doktorgrad und gehörte dem Institute für österr. Ge¬
schichtsforschung als außerordentliches Mitglied an, ohne Unterricht und
Seelsorge aufzugeben. Nachder. er früher am Gymnasialkonvikt des Stiftes
gelehrt hatte, wurde er 1902 Archivar und Bibliothekar des Stiftes und
übernahm 1904 an der theologischen Hauslehranstalt die Vorlesungen
über christliche Kunst. Ende desselben Jahres begann er im Auftrag der
österr. Leogesellschaft im vatikanischen Archive seine Forschungen über die
Kameralien der avignonesischen Päpste, eine Arbeit, die ihn auch in den
222
Nekrologe.
Jahren 1905, 1906 und 1908 auf mehrere Monate nach Rom führte. Da¬
neben übernahm Watzl 1906 im Stifte die Vorlesungen über Kirchenge¬
schichte, hiezu 1908 über Kirchenrecht und schließlich noch über neu-
testamentliches Bibelstudium. Bei dieser vielseitigen Verwendung vernach¬
lässigte er keineswegs sein Hauptamt: er war stets auf die Vermehrung
der Bibliothek, auf die Neuordnung und Neuaufstellung des Archives be¬
dacht» Seine besondere Aufmerksamkeit galt der Vereinigung aller Stifts-
archivalien und der Einverleibung des seit der Türkenzeit im Heiligenkreuzer¬
hofe zu Wien verwahrten Urkundenarcbives.
Mitten in rastloser Wirksamkeit als Lehrer und Forscher befiel ihn
plötzlich die Todeskrankheit. Er ahnte sein Ende und verdoppelte den
Eifer. Sein wunderbares Gedächtnis hatte ihn bisher von der Niederschrift
seiner Forschungen enthoben — eine Gabe, durch die nun der historischen
Wissenschaft reiche Ergebnisse verloren gegangen sind. Seine Studien zur
Heiligenkreuzer Annalistik, insbesondere über die sog. Continuatio Vindobo-
nensis, für deren nunmehr unbestreitbare Zuweisung an sein Stift er stets
neue Beweise fand, seine Studien über die Bibliothekskataloge des 12.—
14. Jährh., über die Waldenser, die päpstlichen Kameralien, über den
Lyoner Zehent und die englischen Kollektorien sind größtenteils nur in
losen Blättern angedeutet. Einzig die römischen Forschungen über das
päpstliche Finanzwesen des 13. Jahrlu, über den Kreuzzugszehent und das
Amt der päpstlichen Zehentkollektoren sind abgeschlossen. Weiters liegt eine
»Series Confratrum«, eine Rekonstruktion der ältesten Stiftsbibliothek nach
einem unedierten Katalog aus dem Ende des 14. Jahrh. und ein Nekro-
logium seines Stiftes handschriftlich vor.
Watzl vereinigte eine tiefe theologische Bildung mit reichem histo¬
rischen Wissen, ein Umstand, ( der für seine mittelalterlichen Forschungen
von größter Bedeutung war. Seinen Mitbrüdem und Kollegen bleibt
»P. Florian* unvergeßlich. Er war ein gerader, offener und uner¬
schrockener Mann, Feind allen Kleinlichkeiten und äußerem Scheine, Freund
fröhlicher Geselligkeit, dabei fro mm und lauter, — ein echter deutscher
Mönch. Die Fügung wollte es, daß ein kerniger Ausspruch aus der Zeit
der schweren Krankheit an ihm so bald in Erfüllung ging: »Es müsse
eigentlich schrecklich sein, jetzt in der großen Zeit, wo Weltgeschichte
mit Frakturschrift geschrieben wird, zu sterben und den Ausgang des Welt¬
krieges nicht zu erleben!*
Wien. V. Schindler.
Der Krieg hat auch in unserem Kreise schmerzliche Opfer gefordert;
zwei von den zahlreichen einstigen und gegenwärtigen Institutsmitgliedern,
die im Felde standen und stehen, sind im Kampfe für das Vaterland gefallen.
Am 11. September 1914 fiel im Gefechte bei Stawczaiiy unweit Grodek
Dr. Ivo Luntz als Leutnant und Regimentsadjutant des 2. Landsturm-
Infanterieregimentes. Luntz, ein Sohn des bekannten Architekten Viktor
Luntz, 1882 zu Wien geboren, studierte an der Wiener Universität Ge¬
schichte, war 1905—1907 ordentliches Mitglied des Instituts und trat
dann in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv ein, wo er zuletzt Vizearchivar
Nekrologe. •
223
geworden war. Seine Arbeiten galten schon seit seiner Institutszeit der
Entwicklung des städtischen Urkundenwesens in Wien und, bestimmt durch
mehijährige Mitarbeiterschaft an den Habsburger Regesten, den Urkunden
der ersten Habsburger, besonders Albrechts L Luntz war ein ungemein ge¬
wissenhafter und gediegener Arbeiter, er tat sich in gründlichster Vorbe¬
reitung nie genug, sein früher Tod hat es verhindert, daß er seine dem Abschluß
nahen Arbeiten über die Wiener Ratsurkunde und über die Urkunden
Herzog Albrechts I. vollenden und veröffentlichen konnte. Seine Freunde
werden diesen Nachlaß herausgeben. Luntz war auch in seinem archi-
valischen Beruf der Mann gründlichen Wissens und tüchtigen Könnens. An
den intensiven Ordnungsarbeiten im Staatsarchive nahm Luntz eifrigen Anteil,
wurde ein genauer Kenner des Archivs und seiner Geschichte und war bei
der Vorbereitung der sehr bemerkenswerten und wertvollen Publikation
der Register Kaiser Karls V. rege beteiligt Das erste Heft derselben er¬
schien als Festgabe des Staatsarchivs zum Wiener Historikertag im Sep¬
tember 1913, dessen Teilnehmer sich gewiß gerne an die verdienstliche
Tätigkeit von Luntz als Mitglied des Ortsausschusses erinnern.
Am 19. Oktober 1914 fiel in den Kämpfen südlich von Przemysl
Dr. Anton MilosVystyd als Leutnant i. d. R. des 5*. Infanterieregiments.
Vystyd war in Osetschan in Böhmen am 31. Dezember 1885 geboren, stu¬
dierte an der böhmischen Universität in Prag, dann in Wien und war von
1909—1911 ordentliches Mitglied unseres Instituts. Er trat sodann in
das böhmische Landesarchiv ein und wurde im Jahre 1913 zum Konzipisten
an demselben ernannt. Aus Übungen im Institut ging seine treffliche Arbeit
über die Königsaaler Chronik und ihr Verhältnis zur steierischen Reim¬
chronik hervor (MitteiL d. Inst. 34. Bd. 1913). Das besondere Interesse des
hochbegabten Mannes war agrargeschichtlichen Fragen zugewendet, er war
Redakteur der Zeitschrift für böhmische Agrargeschichte, betätigte sich aber
auch am politischen Leben und gehörte zu den Führern des Nachwuchses
der czechischen Agrarpartei. 0. R.
Am 19. August 1914 starb in Alt-Aussee Ferdinand Strobl, Edler von
Ravelsberg, k. u. k. Major d. R. Er gehörte zu den ersten Offizieren, die
vom k. u. k. Kriegsarchiv unter der Direktion des Generals v. Wetzer an
das Institut f. österr. Geschichtsforschung gesandt wurden und war von
1889—1891 außerord. Mitglied. Major v. Strobl beschäftigte sich viel mit
Studien zur Geschichte der Zeit Metternichs und veröffentlichte über diesen
Staatsmann ein größeres Buch. 0. R.
Am 24. Februar 1915 wurde nach kurzer Krankheit Dr. Fritz
Grüner im Alter von 28 Jahren dahingerafft. Er war am 22. Mai
18S6 zu Wien geboren, machte seine historischen Studien in Wien,
war 1907—1909 außerord. Mitglied des Instituts und trat 1912 in den
staatlichen Archivdienst ein, i i welchem er dem Bureau des k. k. Archiv¬
rates zugeteilt wurde. Hier erwarb sich sein Pflichteifer, sein zuverlässiges
und gewinnendes Wesen bald volle Anerkennung. Seine wissenschaftliche
Tätigkeit hatte er durch eine verdienstliche und tüchtige Arbeit über
»Schwäbische Traditionsbücher* (MitteiL d. Inst 1912, 33. Bd.) eröffnet,
der eine kleinere Studie über die Entwicklung des habsburgischen Macht-
224
Personalien.
gebietes in Südwestdeutsuhland nach 1291 folgte (1913). Alle schönen
Hoffnungen dieses jungen Lebens wurden durch den tätlichen Verlauf einer
tückischen Krankheit abgeschnitten, der Dr. Grüner binnen wenigen Tagen
erlag. 0. R.
Personalien.
(1914 und erste Hälfte 1915).
E. v. Ottenthal wurde zum auswärtigen Mitglied der ungarischen
Akademie der Wissenschaften gewählt
S. Steinherz wurde zum ord. Professor für österreichische Geschichte
an der deutschen Universität in Prag, H. Übersberger zum ord. Pro¬
fessor für Geschichte Osteuropas an der Universität Wien ernannt —
Th. Mayer habilitierte sich für österreichische Geschichte an der Universität
Wien, R. Heuberger für Geschichte des Mittelalters und histor. Hilfs¬
wissenschaften an der Universität Innsbruck.
Am k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien wurden ernannt
0. Freiherr v. Mitis zum Sektionsrat (Titel), L. Groß zum Vizearchivar,
0. Stowasser und F. Antonius zu Praktikanten; am Statthaltereiarchiv
in Wien E. Friess zum Praktikanten, an jenem in Innsbruck R. Heu¬
berger zum Staatsarchivkonzipisten TL KL; an der Hofbibliothek in Wien
0. Doublier zum Kustos L Kl., 0. Smital und K. Äusserer zu Kustos¬
adjunkten. H. v. Ankwicz wurde zum Kustosadjunkten an der Bibliothek
des österr. Museums ernannt. F. M. Haberditzl wurde zum Leiter der
Staatsgallerie, F. Dworschak zum Assistenten am Münzkabinet des kaiserl.
Hofmuseums ernannt, P. Buberl mit den Funktionen eines Generaikon*er-
vators für Deutschösterreich betraut, F. Stelö Praktikant bei der k.k. Zentral¬
kommission für Denkmalpflege. F. Dörnhöffer erhielt die Berufung zum
Generaldirektor der kgl. bayer. Gemäldegallerien in München.
Zu ausnahmsweisem Termin legten im Jahre 1914 die Institutsprüfung
ab die außerord. Mitglieder Dr. phü. Edmund Friess und Dr. phiL Anton
Müller. Dr. Friess wählte als Hausarbeit: Die niederösterreichischen
landesfürstlichen Lehensbücher, Dr. Müller: Die ältesten Adels- und Wappen¬
verleihungen.
Bei der Redaktion sind eingelaufen:
A mp eck, Veit: Sämtliche Chroniken, berausg. von Georg Leidinger (QueUen
und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte. N. F. 3. Bd.)
München. M. Rieger.
Beyerle, Franz: Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang
1. Sühne, Rache und Preisgabe in ihrer Beziehung zum Strafprozeß
der Volksrechte. (Deutschrechtliche Beiträge 10/2) Heidelberg C. Winter.
M. 12*90.
Bresslau, Harry: Handbuch der Urkundenlehre 2. Aufl. 2. Bd., 1. Abt.
Leipzig, Veit & Cie. M. 11*—.
Berichte.
225
Büchi, Hermann: Finanzen und Finanzpolitik Toskanas im Zeitalter der
Aufklärung (1737—1790) im Rahmen der Wirtschaftspolitik. (Histor.
Studien 124. Heft). Berlin. Emil Ebering. M. 12*50.
Davidsohn, R.: Beitrüge zur Geschichte Manfreds (SA. aus Quellen und
Forschungen aus italien. Archiven 17. Heft 1). Rom, Loescher 1914.
Gerber, Harry: Drei Jahre reichstädtischer, hauptsächlich Frankfurter
Politik, im Rahmen der Reichsgeschichte unter Sigismund und AlbrechtlL
1437—1439. Inaug-Diss. Marburg 1914.
Grünberg, Walther: Der Ausgang der pommerellischen Selbständigkeit
(Histor. Studien 128. Heft). Berlin. Emil Ebering. M. 4.—.
Günter, Heinrich: Die römischen KrOnungseide der deutschen Kaiser (KL
Texte für Vorlesungen und Übungen 132. Heft). Bonn. A. Marcus &
E. Weber. M. 1'50.
Häpke, R.: Die Regierung Karls V. und der europäische Norden. Lübeck.
Max Schmidt 1914.
Heinecker, Willy: Die Persönlichkeit Ludwigs XIV. (Histor. Studien
125. Heft) Berlin. Emil Ebering. M. 3*50.
Hessel, Alfred: Elsässische Urkunden, vornehmlich des 13. Jahrhunderts.
(Schrr. der WissenschaftL Gesellsch. in Strafiburg 23. Heft) Straßburg.
Karl J. Trübner. M. 4*50.
Hettner, Alfred: Englands Weltherrschaft und der Krieg. Leipzig, Berlin.
B. G. Teubner. M. 3*—.
Hintze, Otto: Bismarck, die deutsche Politik und der Krieg (SA. aus der
Internat. Monatsschr. 9, Heft 9).
Holzknecht, Georgine: Ursprung und Herkunft der Reformideen Kaiser
Josefe IL auf kirchlichem Gebiete (Forschungen zur inneren Geschichte
Österreichs, herausg. von A. Dopsch. 11. Heft) Innsbruck. Wagner.
1914. M. 5.
Hugelmann, K.: Historisch-politische Studien. Gesammelte Aufsätze zum
Staatsleben des 18. und 19. Jahrh., insbes. Österreichs. Wien, Josef
Roller. M. 8*—.
Kirch, Hermann Josef: Die Fugger und der schmalkaldische Krieg (Studien
zur Fugger-Geschichte 5. Heft). München und Leipzig. Duncker &
Humblot M. 8*—.
Krones-Uhlirz: österreichische Geschichte 2. Bd. (1439—1619) 3. Auf.
herausg. von Mathilde Uhlirz. (Sammlung Göschen Nr. 105). Berlin.
G. J. Göschen. M. —*90.
Meyer, Werner: Ludwig IX. von Frankreich und Innocenz IV. 1244—
1247. Marburg a. L. Robert Noske.
Mühlhäusser, Anna: Die Landschaftsschilderung in Briefen der italienischen
Frührenaissance (Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte
56. Heft). Berlin. Dr. Walther Rothschild. 1914. M. 2*50.
Nägle, August: Kirchengeschichte Böhmens 1. Bd. 1. Teil Wien und
Leipzig. Wilh. Braumüllers Söhne. M. 5*—.
Nagl, Alfred: Die Rechentafel der Alten (SA. aus Sitz.-Ber. der kais.
Akademie der Wissensch. 177/5). Wien. Alfr. Hölder. 1914.
Oßwald, Paul: Belgien (Aus Natur und Geisteswelt, 501. Bd.). Leipzig
und Berlin. B. G. Teubner. M. l a 25.
15
226
Notizen«
Pfannkuche, Angast: Staat und Kirche in ihrem gegenseitigen Ver¬
hältnis seit der Reformation (Ans Natur und Geisteswelt. 485. Bd.)
Leipzig und Berlin. B. G. Teubner. M. 1*25.
Pflngk-Harttnng, Julius v.: Belle-Alliance (Verbündetes Heer). Be¬
richte und Angaben über die Beteiligung deutscher Truppen der
Armee Wellingtons. Berlin. R. Eisenschmidt M. s*—.
Politische Korrespondenz Karl Friedrichs von Baden. 1783—
1806. 6. (Erg.-)Bd. bearb. von K. Obser. Heidelberg. C. Winter.
M. 12*—.
Prem, S. M. und Schissei von Fleschenberg 0.: Tirolische Analekten.
(Teutonia, Arbeiten zur german. Philologie 15. Heft). Leipzig. H. HässeL
M. 3*—.
Quellen zur Geschichte der Stadt Wien. 1. Abt 8. Bd. Regesten
aus in- und ausländ. Archiven. Red. von Jos. Lampel, Wien, Altertums-
Verein. 1914. M. 20*—.
Rechtswörterbuch, Deutsches, herausg. von der kgL preuß. Akademie
der Wissensch., 1. Bd. 1. Heft samt Quellenheft. Weimar. Hermann
Böhlau. 1914. M. 5*—.
Ribbeck, Konrad: Geschichte der Stadt Essen. 1. Bd. Essen a. R M G. D.
Baedeker. M. 5*—.
Ried, Karl: Die Durchführung der Reformation in der ehern, freien Reichs¬
stadt Weißenburg i. B. (Histor. Forschungen und Quellen 1. Heft)
München und Freising. F. P. Datterer & Cie. M. 4*50.
Schäfer, Dietrich: Das deutsche Volk und der Osten (Vorträge der Gehe¬
stiftung. 7. Bd. 3. Heft). Leipzig. B. G. Teubner. M. 1*—.
Sieger, Robert: Die geographischen Grundlagen der österreichisch-unga¬
rischen Monarchie und ihrer Außenpolitik. Leipzig und Berlin. B. G.
Teubner. M. 1*—.
Sieghart, Rudolf: Zolltrennung und Zolleinheit Die Geschichte der öster.-
ung. Zwischenzoll-Linie. Wien. Manz. M. 10*20.
Stenzei, Karl: Die Politik der Stadt Straßburg am Ausgange des Mittel¬
alters in ihren Hauptzügen dargestellt (Beiträge zur Landes- und
Volkskunde von Elsaß-Lothringen. 49. Bd.). Straßburg. J. JL E. Heitz.
M. 10*—.
Stutz, Ulrich: Die katholische Kirche und ihr Recht in den preußischen
Rheinlanden. Bonn. A. Marcus und E. Weber. M. 1*20.
Überhorst, Gustav: Der Sachsen-Lauenburgische Erbfolgestreit bis zum
Bombardement Ratzeburgs 1689—1693. (Histor. Studien. 126. Heft).
Berlin. Emil Ebering. M. 7*50.
Ulmann, Heinrich: Die Geschichte der Befreiungskriege 1813 und 1814.
1. Bd. Berlin, München. R. Oldenbourg. 1914. M, 8*50.
Urkunden und Siegel in Nachbildungen für den akad. Gebrauch
herausg. von G. Seeliger. 2. Heft, Papsturkunden von A. Brackmann;
3. Heft, Privaturkunden von Osw.Redlich und Lothar Gross; 4. Heft,
Siegel von F. Philippi. Leipzig B. G. Teubner 1914, je ein Heft
M. 5*—.
Walser, Ernst: Poggius Florentinus Leben und Werke. (Beiträge zur
Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 21. Bd.). Leipzig.
B. G. Teubner, 1914. M. 16*—.
Nachtrag.
227
Weber, Gertrud: Die selbständige Yermittlungspolitik der Kurfürsten im
Konflikt zwischen Papst und Konzil 1437—38. (Histor. Studien
127. Heft). Berlin. E. Ebering. M. 3*50.
Willner, Fritz: Ludwig Wieland, ein liberaler Publizist. Inaug.-Diss.
Greifewald. Halle a. d. S.
Wolf, Gustav: Quellenkunde der deutschen Beformationsgeschichte. 1. Bd.
Yorreform und allgem. Beformationsgeschichte. Gotha. F. A. Perthes.
M. 16-—.
Zeitschrift für Brüdergeschichte 8. Jahrg. (1914) 1. und 2. HefL
Zeitschrift, Geographische 21. Jahrg. (1915) 4. HefL
Zibermayr, Ignaz: Die Legation des Kardinals Nikolaus Cusanus und
die Ordensreform in der Kirchenprovinz Salzburg. (Beformationsge-
schichtliche Studien und Texte 29. Bd.). Münster i. W. Aschendorff
1914. M. 3*75.
Juni 1915.
Nachtrag zur Abhandlung »Die österreichischen Kanzlei¬
bücher vornehmlich des 14. Jahrhunderts etc. 4 in dieser Zeitschrift
Bd. 35. Den von mir daselbst S. 722 gedruckten Dienstzettel Sigmunds
von Nidertor hat, wie ich nachträglich bemerkte, doch schon G. Seeliger
in seiner Abhandlung »Die Begisterführung am deutschen Königshofe 4 in
dieser Zeitschrift 3. Ergbd. S. 223 ff., S. 323 Anm. 3 verwert 1 1 Daß mir
dies entging, hat seinen Grund darin, daß Seeliger statt des richtigen
»Rochlinger 4 »Hochburger 4 gelesen hatte. Hingegen berichtige ich meine Lesung
»an sein selbs 4 in »an seim soldt 4 ; bei dem Kanzlei vermerk, von Seeliger
»B U€ , von mir »p(ro) ta(xa) 4 gelesen, läßt der graphische Bestand der
sehr flüchtigen Schrift beides als möglich erscheinen, doch dürfte B te das
Richtige sein, wodurch jedoch die anderen Taxvermerke und meine daran
geknüpften Bemerkungen nicht berührt werden.
Bei diesem Anlaß möchte ich auch bemerken, daß ich leider die Aus¬
führungen von Bresslau, Handbuch der U.-L. 2. Aufl. Hl, 99 ft nicht
mehr berücksichtigen konnte. Der Druck meiner Abhandlung war im De¬
zember 1914 vollendet, als Bresslaus 2. Bd. 1. Teil noch nicht erschienen
war; die Ausgabe des betreffenden Heftes hat sich aber noch lange ver¬
zögert
Wien. Otto H. Stowasser.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen Tom
Ende des sechsten Jahrhunderts bis zur Mitte des
nennten.
Von
Ludmil Hauptmann.
L Die awarische Herrschaft
Als sich die Awaren in der ungarischen Tiefebene niedergelassen
hatten, standen ihren Baubzügen nach Westen und Südwesten außer
der Donau zwei Straßen offen: die Drau und mit ihr sich kreuzend,
der uralte Weg über die mittlere Mur und Sawe an den Isonzo 1 ).
Da die Slowenen gerade an diesen beiden Heerstraßen saßen, so war
ihr Los die awarische Knechtschaft Schon 596 kämpften sie daher in
engster Gemeinschaft mit den Awaren gegen die Bayern 8 ) und auch
noch 610, als der Chagan durch ihr Land nach Oberitalien zog,
dachten sie an keinen Widerstand gegen ihre Herrn 8 ).
Schmid allerdings will, wenigstens für Oberkram, die Herrschaft
der Awaren nicht gelten lassen. Aus einem Waffenfund im Gräber*
felde Ton Krainburg schließt er, daß dort einst eine langobardische
Besatzung gelegen habe und somit Oberkrain den Langobarden gehört
haben müsse. Das stimme auch sehr gut zu dem, was sich aus den
•duifüichen Quellen über dieses Land ergebe. Denn da Kram seit
f) Jung, Römer und Romanen in den Douaaländern 8. 110. — Huber, Ge-
•dndbte Österreichs I 8. 19.
*) Ptali Diaeoni Hist. Langob. IVc 10 (M.G. 88. rer. Langob. 8. 120).
*) Ebenda IVc 37.
Mittsflanfen XXXYl.
16
230
Ludmil Hauptmann.
dem dritten Jahrhundert za Italien gerechnet worden sei, so könne
der „breite und ebene Zugang« Italiens zu Pannonien, von dem Paulas
Diaconus spricht, nur an der heute steirisch-krainischen Grenze, in
der Mulde zwischen Gurkfeld und Bann an der Sawe gewesen sein.
Bis dahin habe der Langobardenstaat gereicht Krainburg wäre dann
eine Grenzfeste gewesen, bestimmt, awarischen Horden den Weg nach
Italien zu verlegen. Paulus Diaconus, meint Schmid, erzähle sogar,
wann die Langobarden ihre Macht bis an die Sawe ausgedehnt hatten.
Denn unbedenklich könne man das slawische Zellia, das Taso und
Caco von Friaul nach dem großen Awarensturm von 610 eroberten,
auf Oberkrain beziehen 1 ). Allein Schmids Auffassung läßt sich
bündig widerlegen: zunächst durch seinen eigenen Kronzeugen,
Paulus Diaconus, der die Slawenkriege durchaus nicht als Aufstände
unbotmäßiger Untertanen, sondern als Einfälle feindlicher Nachbarn
behandelt 8 ) und dann durch die Worte des ravennatischen Kosmo-
graphen, der sagt daß die Ausläufer der Alpen, die erst „bei Fianona
an der Adria endeten«, die Grenze „zwischen Karantanien und Italien,
zwischen Kram und Italien« gebildet hätten 8 ). Die Gegenüberstellung
von Krain und Italien und die Grenze, die man nach dieser Ausdrucks¬
weise von den Kalkalpen Kämten-Krains zu den Karststufen Istriens
zu ziehen hat zeigt deutlich genug, daß sich das italische Lango¬
bardenreich nur bis an den Westsaum Krains erstreckt haben kann.
Wäre Krain langobardisch, die Kämpfe der Slawen gegen die Lango¬
barden daher Empörungen eines unterworfenen Volkes gewesen, so hätten
sich auch die Zusammenstöße vor allem in Krain und nicht regel¬
mäßig schon jenseits der Karsthöhen in Friaul abgespielt 4 ).
Selbst die langobardische Sage liefert einen Beweis gegen Schmid.
Sie berichtet Alboin habe, an der italisch-pannonischen Grenze ange¬
langt einen hohen Berg bestiegen und zu seinen Füßen Italien
gesehen 6 ). Hätten sich, wie Schmid es will, Italien und Pannonien
wirklich an der Sawe, etwa zwischen Gurkfeld und Bann, berührt so
hätte Alboin wohl vergeblich einen Berg mit solcher Bundsicht
gesucht Beichte aber Pannonien bis an den Karstrand Krains, so gab
*) Schmid, Das Gräberfeld von Krainburg (Mitteilungen des Musealvereins für
Krain XVIH 8. 82 ff.); ders., Hie Reihengräber von Krainburg (Jahrbuch für Alter¬
tumskunde I. S. 65 ff).
*) Pauli diaconi Hist. Langob. IVc 38, Vc 22 f., VI c 24, c 46.
8 ) Anonymi Ravennatis Cosmographia (hgg. von Pinder u. Parthey) IVc 37.
4 ) Mit Ausnahme des Kampfes von etwa 738: Pauli diaconi Hist. Lang.
VIc 62.
5 ) Ebenda II c 8.
Politische Umwälzungen nnter den Slowenen etc.
231
es der Gipfel genug, von denen sich Alboin den Blick auf Italien
verschaffen konnte. Den «ebenen und weiten Zugang von Pannonien
nach Italien* braucht man deshalb nicht preiszugeben; im Gegenteil,
man findet ihn vielmehr gerade am Westrande Krains, am Abhang
des Bimbaumerwaldea, im Wippachtal *). Damit entfallt aber
der leiseste Anlaß, „Zellia*, das Taso und Caco erobert hatten, mit
Oberkrain in Verbindung zu bringen. Strakoscb-Graßmann hat ohne¬
hin für den vielumstrittenen Barnen eine befriedigende Erklärung
geboten, indem er Zellia dem heutigen Cegle bei Kormons im Görzi¬
schen gleichsetzte 1 ). Das Tiefland am Isonzo mögen Taso und Caco
unterworfen haben, vielleicht zur Zeit Samos, als Dagobert gegen
dessen Slawen auch die Langobarden aufbot 8 ); Oberkrain aber war
nie langobardisch. Wollte man die Waffenfunde von Krainburg unbe¬
dingt mit einer langobardischen Besatzung in Zusammenhang bringen,
so dürfte man höchstens an die Jahre 796—828 denken, in denen
Krain zur Mark Friaul gehörte 4 ) und sehr gut zur Sicherung des
Gewonnenen mit kleinen Besatzungen belegt worden sein kann. Wäre
diese Deutung aber zeitlich wegen des Stiles der gefundenen Waffen
unmöglich, so müßte man die Funde Awaren oder Slowenen zuweisen,
für Langobarden oder überhaupt germanische Krieger wäre vor Karl
dem Großen im slowenischen Krain kein Platz. Aus den Gräberfunden
läßt sich daher gegen den Bestand der Awarenherrschaft in Krain
nichts einwenden. Nur über die Art ihrer Herrschaft könnte man
streiten.
Man behauptet nämlich gelegentlich, die Slowenen seien den
Awaren nur lose verbunden gewesen, und beruft sich zum Beweise dessen
darauf^ daß Paulus Diaconus von Feldzögen der Slowenen berichtet,
ohne einer Mitwirkung der Awaren zu gedenken. Indem man daraus
folgert, sie hätten solche Kriege auf eigene Faust geführt, ist man
wohl gar bereit, die Slowenen mehr als Bundesgenossen denn als
Knechte der Awaren zu betrachten 6 ). Allein man üliersieht dabei, daß
die Schriftsteller jener Tage sehr oft Awaren und Slawen nicht unter¬
schieden und gelegentlich nur die einen nannten, obwohl sie eigent¬
lich beide meinten 6 ). Wer weiß, ob nicht auch Paulus Diaconus in
den oben berührten Fällen über den slowenischen Massen der
*) Kos, Gmdivo za zgodovino Slovencev I 8. 66 n. 4.
•j Strakosch-Grassmann, Geschichte der Deutschen I. S. 319.
*) Vgl. unten 8. 19.
«) Vgl. unten 8. 35.
6 ) Kos, Gradivo za zgodovino Slovencev I 8. XXXV1L
") Niederle, Slov&nskg starozitnoeti II 8. 209 ff.
232
Ludmil Hauptmann.
awarischen Führer vergessen hatte! Will man jedoch diese Möglich¬
keit nicht zugeben, so findet man noch eine zweite Erklärung in
Paulus Diaconus selbst, der erzählt, 603 hätten die Slowenen mit den
Langobarden zusammen Cremona belagert, — weil sie der Chagan
dem König Agilulf zu Hilfe geschickt l ). Denkt man sich
diese Begründung weg, so hörte man wieder nichts von den Awaren
und der Best der Nachricht wäre auf einmal ein Zeugnis für die
Bewegungsfreiheit und Unabhängigkeit der Slowenen, obwohl, wie man
sieht, die Meldung in Wirklichkeit für ihren Knechtesgehorsam spricht
Daß die Herrschaft der Awaren gar nicht milde sein konnte, lag
am Wesen ihres Staates. Sie waren zu rohe Barbaren, als daß sie
verstanden hätten, ihrem Beiche durch irgend eine Art von Verwaltung
innere Festigkeit zu verleihen. Ihr einziger Grundsatz war Willkür.
Nach viehischem Gelüst schaltete der Aware im Hause und in der
Familie des Slawen, bei dem er mit seinen Herden überwinterte, ohne
Bedenken trieb er die Unterworfenen Schar um Schar in die Speere der
Feinde, während er selbst sich schlau im Hintertreffen hielt 2 ). Nur
dumpfe Ergebung in ein unabänderlich scheinendes Schicksal konnte
die Unterjochten solche Zustände ertragen lehren. Alles kam daher
für die Awaren darauf an, diese Willenlosigkeit planmäßig zu züchten.
Ein Mittel hiefür lassen die Ergebnisse mundartlicher Forschungen
in Oberitalien erkennen.
Im äußersten Nordosten Friauls, wo die wilden Kalkmassen der
Julischen Alpen auf italienischen Boden übergreifen, liegt das Tal der
Besia, eine Welt für sich. Mächtige Berge, der Monte Kanin und
seine Genossen, schnüren es so fest ab, daß es nur durch eine enge
Schlucht am Unterlaufe der Besia mit der Außenwelt Zusammenhänge
An der slowenischen Mundart dieses Tales hat nun Baudouin de
Courtenay eine Eigenheit entdeckt, die in keiner indogermanischen
Sprache vorkommt: das ist, wie er sagt, die „ Harmonie der Vokale« •).
Sie besteht darin, daß der Selbstlaut der betonten Silbe immer den der
unbetonten bestimmt. Infolgedessen dekliniert zum Beispiel der
*) Pauli Diaconi hist. Langob. IV c. 28.
*) Fredegarii Chronicon üb. IV c. 48 MG. 88. rer. Meroving. II 8. 144):
Winidi befulci Chunia fuerant iam ab antdquito, ut, cum Chuni in exercitu contra
gentem qu&libet adgrediebant, Chuni pro caatra adunatum illorum stabant exer-
ritum, Winidi vero pugnabant: si ad vincendum prevalebant, tune Chuni predas
capiendum adgrediebant; sin autem Winidi superabantur, Chunorum auxilio fulti
virebus resumebant. . .. Chuni aemandum annis singulis in Eeclavoe veniebant*
uxores Sclavorum et filias eorum strato sumebant.
•) Baudouin-de-Courtenay, Rezija i Rezijane 8. 321 ff.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
233
Resianer statt iena, iene (die Frau): zana, toenoe. Da aber diese
Erscheinung sonst nur den turanischen Sprachen eigentümlich ist so
schließt Bandonin mit Recht daß sich hier slawisches und turanisches
Volkstum vermengt haben muß 1 ).
Gerade von den Awaren weiß man nun sehr gut daß sie sich
einst auch in Friaul niederlassen wollten. Als sie nämlich um 663 dem
Langobardenkönige Grimoald gegen den aufständischen Herzog Lupus
von Friaul zu Hilfe geeilt waren und den Empörer besiegt hatten,
weigerten sie sich, Friaul „je wieder zu raumen* *) Zwar machte die
Klugheit Grimoalds ihren Plan zu Schanden, aber schon ihr Entschluß
allein zeigt daß sie gewohnt waren, in eroberte Länder Besatzungen
zu legen. Man hat daher allen Grund, den turanischen Einschlag in
der Mundart der Resia so zu erklären, daß vielleicht schon 610, als
der Chagan durch seine Siege über die Langobarden 3 ) den Slowenen
Wohnsitze in Frianl erkämpft hatte, oder aber bei einem späteren
ähnlichen Anlaß einzelne Horden der Awaren zur Sicherung des
Gewonnenen im Lande blieben. Nur war die Zahl ihrer Mitglieder
offenbar so klein oder schmolz in den Stürmen späterer Zeiten so arg
zusammen, daß der italienische Slowene in seinem Äußern heute nichts
von einer Beimischung awarischen Blutes verrät Bloß die Sprache —
und auch die nur im weltfernsten Winkel, in der Resia, — hat die
Spuren turanischen Einflusses bewahrt 4 ).
Was so für Friaul die mundartliche Forschung lehrt das bestätigt
für Kärnten der Ortsname Heunburg oder, wie er in alten Urkunden
lautet Hunenburg 6 ). Denn wer diese Hunnen gewesen sein mögen,
darüber gibt das slowenische Vovbre eindeutig Bescheid, steckt doch
darin Ober und das heißt Aware 6 ).
*) Ebenda 8. 325, 338.
*) Pauli diaconi Hist. Langob. V c. 17.
*) VgL oben n. 3.
4 ) Daß man trotz des turanischen Einschlages in der Sprache die Resianer
nicht mit Fligier einfach für slawisierte Awaren halten dürfe, hat Tappeiner auf
Grund anthropologischer Untersuchungen festgestellt (Zur*Ethnographie und An¬
thropologie der Resianer, Sitzungsberichte der anthropologischen Gesellschaft in
Wien 1895 S. 67). Das Fehlen tui-kotatarischer Rassenmerkmale und daneben
doch wieder das Vorhandensein turkotatarischer Spracheigenheiten laßt sich
aber dann nur durch die obige Annahme eines längeren Zusammenlebens von
kleinen awarischen Horden mit großen slowenischen Massen erklären (gegen Nied er le
a. a. O. II. S. 348 n. 1).
*) Monumenta historica ducatus Carinthiae (Mon. hist. duc. Car.) Bd. II. und
IV* Register.
*) Jaksch, Über Ortsnamen und Ortsnamenforschung mit besonderer Rücksicht
auf Kärnten S. 34.
234
Ladmil H&uptm&nn.
Allein die Awaren begnügten sich nicht damit, die unterjochten
Völker durch Besatzungen im Zaume zu halten, sondern rissen sie
überdies von ihrem Heimatboden los und verpflanzten sie in die Fremde x ),
da sie hofften, dadurch in ihnen desto sicherer jeden Geist des Wider¬
standes zu ertöten. Einen Beleg dafür aus ehemals slowenischem
Gebiete liefert der Name Dudleipa.
Nachrichten aus dem 9. Jahrhundert erwähnen in Mittelsteiermark:
einen Ort Dudleipin 8 ) und eine Grafschaft Dudleipa 8 ). Wie ein Ver¬
gleich mit rimljanin, blgarin, den slawischen Bezeichnungen ihr
Börner, Bulgare, dartut, »ist — in“ die Bildungssilbe für die Einzahl
von Volksnamen, sodaß Dudleipin eigentlich der Dudleipe heißt und
nur irrtümlich in jenen Nachrichten als Ortsname erscheint Der
wirkliche Ortname ist mit Hilfe der weiblichen Endung „— a* gebildet
und lautet Dudleipa. Er bezeichnete zuerst bloß die Zufluchtsstätte des
Stammes, den »grad*, den sich die Dudleben nach gemeinslawischer
Sitte im Herzen ihres Landes für die Zeiten der Not geschaffen hatten.
Erst als dann in karolingischer Zeit das Siedlungsgebiet der Dudleben
als Grafschaft eingerichtet ward, ging der Name des Hauptortes auf
den ganzen Bezirk über.
Merkwürdigerweise wohnten aber Dudleben nicht nur in Mittel¬
steier, sondern, wie Dulieb bei Spital an der Drau 4 ) bezeugt, auch
im westlichen Kärnten. Da es ausgeschlossen ist, daß verhältnismäßig*
so nahe nebeneinander zwei verschiedene slowenische Stämme
desselben Namens gesessen haben könnten, so fragt man sich ver¬
wundert, woher die beiden grundverschiedenen Lautformen rühren:
hier das südslawische weiche 1, dort das westslawische dl in Stellver¬
tretung des harten 1. Um darüber urteilen zu können, bedarf es eine»
Abstechers in die Entwicklungsgeschichte der slowenischen Sprache.
*) Pauli diaconi Hist. Langob. IV c. 37: Den im Jahre 610 gefangenen
Friaulem versprachen die Avaren »quod eos, unde digressi fiierant, Pannoniae in
finibus coniocarent. — Menandri Protectoris Fragments c 6 (Historici graeci minores,
ed. Dindorf H p. 6): Nachdem die Awaren den Führer der Anten erschlagen
hatten, plünderten sie deren Land >xal o6x ocvitoav ivfipa^oit^o xtvot xal «
xal <pspovt«^. — Vgl. auch die Verpflanzungen, die die Bulgaren mit den Slawen
Vornahmen: Schafarik, Slawische Altertümer H. 8. 164. — Niederle a. a. O. II
8. 407. — JireÖek, Geschichte der Bulgaren S. 129 f.
*) Conv. Bag. et Garant, c. 11 (MG. SS. XI, 8.12). — Mühlbacher, Regesten
der Karolinger n. 1444 =» Salzburger Urkundenbuch II n. 21.
a ) Zahn, Urkundenbuch f. Steiermark 114 = Hauthaler, Salzburger Urkunden¬
buch II n. 36 b Mühlbacher, Regesten der Karolinger n. 1868.
«) Jaksch, Mon. hist. duc. Car. HI S. 132 n. 331 (c. 1C60—1070).
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
235
Schon öfter haben slawische Forscher aufmerksam gemacht, daß im
Slowenischen scheinbar cechische Formen nachweisbar sind und zwar
die Lautgruppe dl statt 1, die Vorsilbe vy- für iz (-aus)*) und die geo¬
graphischen Eigennamen Kum, Kulm und Kulmitz, die anscheinend ein
cechisches chlum voraussetzen, da dem slowenischen holm nur Kolm
und Kolmitz entspräche 8 ).
Beispiele für solche Formen gibt es in Hülle und Fülle. So
finden sich in Ober- und Mittelsteiermark mehrere Edla und Edlach,
die ohne Zweifel aus dem öechischen oder, vorsichtiger gesagt, west¬
slawischen jedla — die Tanne (slow, jela) abgeleitet sind. Bei Weiz liegt
ferner ein Dorf Elz, dessen alte Namensform Edlitz deutlich beweist, daß
Elz aus dem Verkleinerungsworte von jedla, jedlica — die kleine Tanne
(slow, jelica) entstanden ist 8 ) und selbst tief drunten bei Udine in Friaul
verrat ein Ortsname Adegliacco durch die urkundliche Überlieferung
Edilach-Edelac, daß auch er auf jedla zurückgeht 4 ). Dasselbe dl liegt ferner
im Worte mocidlo vor, das uns aus Matschiedel im Gailtal und Munt¬
schiedel bei Frohnleiten entgegenklingt 5 ). Andere Namen bergen wieder
ein cecbisch anmutendes sedlo, sedlice in sich anstatt des jetzt im Slowe¬
nischen gebräuchlichen selo (die Ansiedlung), selice (die kleine Ansied¬
lung). Dahin gehören in Tirol Zedlach bei Windisch-Matrei 6 ), in
Obersteiermark an der Enns Selztal, das noch 1289 urkundlich als
Cedlize erscheint 7 ) und dann ein Dorf im Görzischen, das zwar nach
amtlicher Schreibweise Staro selo heißt, im Volksmunde aber noch
bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Staro sedlo
genannt wurde 8 ). Besonders auffällig häufen sich jedoch Namen dieser
Art in Kärnten 9 ). Dort gibt es ein:
Zedl oder Zedlach in der Pfarre Altenmarkt, Bezirksgericht Gurk;
Zedl bei Silbereg, Bezirksgericht Althofen;
*) Miklosich, Die slawischen Ortsnamen aus Appellativen. Denkschriften der
k. Akademie in Wien, Bd. 21, 8. 106 f. Oblak, Kleine grammatische Beiträge
(Archiv 1 slaw. Philologie, 19. Bd., S. 321, 326). — Herr Univ.-Prof. Dr. R. Nachtigall
hatte die große Liebenswürdigkeit, den Verfasser bei der Korrektur mit wertvollen
philologischen Ratschlägen zu um erstützen. Dafür gebührt ihm der wärmste Dank.
*) Niederle a. a. 0. H 8. 356; ders., Jak daleko seddli Cechov6 na jih? Oa-
sopis Öesky historicky 1909 8. 74
•) Zahn, Ortsnamenbuch der Steiermark S. 161, 167.
«) Jaksch, Mon. hist. duc. i 8. 66 n. 16 (1043), 102 n. 61 c (1131).
*) Oblak a. a. 0. 8. 321.
*) Kaemmel, Anfänge deutschen Lebens in Österreich S. 146.
*) Zahn, Ortsnamenbuch 8. 460.
•) 8cheinigg, Krajevno ime Selo na Kranjskem, Kres Bd. 2, S. 640.
•) Zusammengestellt ebenda 8. 639—41.
236
Ludmil Hauptmann.
Zedl in der Gemeinde Radenthein, Bezirksgericht Millstatt;
Zedl in der Gemeinde Steiufeld, Bezirksgericht Greifenbarg;
Zedl bei Pfannhof, Bezirksgericht Sh Veit;
Zedl bei Pisweg, Bezirksgericht St Veit;
Zedlingerhof bei Maria-Saal, Bezirksgericht St Veit;
Zedlitzdorf in der Gemeinde Reichenau, Bezirksgericht Feldkirchen;
Zedlitzberg in der Gemeinde Himmelberg, Bezirksgericht Feldkirchen.
Da im Slowenischen für selo auch die Form salo möglich ist
so darf man in diese Liste außerdem noch drei andere Dörfer auf¬
nehmen, nämlich:
Sattendorf (Na Sadl h) am Ossiacher-See;
Großsatl (Sadlö) in der Pfarre Maria-Gail bei Villach;
KleinsaÜ (Malo sadlö) in der Pfarre Maria-Gail bei Villach.
Aber nicht nur in längst erstarrten Ortsnamen lebt die Laut¬
gruppe dl fort sondern das slowenische Volk spricht sie noch heute
sowohl in der westlichen Untersteiermark als insbesonders im Gailtal
Dort sagt man modliti (beten), vedlo listje (welkes Laub)*), hier
gebraucht man dl in placidlo (der Lohn), motovidlo (die Haspel) und
noch in vielen anderen Hauptwörtern. In der tätigen Form des
Mittelwortes der Vergangenheit aber ist es überhaupt jedem Slowenen
in Kärnten, Untersteiermark und Oberkrain geläufig, sodaß man zum
Beispiel nie hören wird „krala je* (sie hat gestohlen), sondern nur
„kradla je* *).
Auch die westslawische Vorsilbe vy ist bei den Slowenen noch zu
verfolgen. Sie kommt in der Resia vor, wo man sagt „sunce vylaza*
(die Sonne geht auf) 8 ) und auch die Drauslowenen vom Bachem durchs
Jaun- und Rosental bis an den Ursprung der Gail verwenden das vy,
indem sie den Frühling vilaz nennen 4 ). Zusammen mit den über
Steiermark und Kärnten verstreuten Kum, Kulm und Kulmitz 6 ) lehrt
diese Übersicht, daß im ganzen Nordwesten des slowenischen Siedlungs¬
gebietes einst ans Cechische anklingende Mundarten herrschten.
Niederle möchte diese westslawischen Formen zum Teil auf
wirklich cechische Kolonien in den slowenischen Alpenländem zurück¬
führen. Indem er auf Grund der geographischen Verteilung einiger
von ihm mitgeteilter Ableitungen ans chlurn und jedla urteilt, daß
*) So in BQ. Kreuz bei Marburg auf dem Poßruck.
•) Sämtliche Beispiele aus Oblak, a. a. 0. S. 321 ff.
•) Baudouin-de-Courtenay, a. a. 0. 8. 276.
«) Oblak, a. a. 0. S. 327.
*) Niederle, Jak daleko aedeli Cechovä na jih? Cas. Cesky hist. 1909 S. 74.
— Zahn, Ortsnamenbuch.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
237
Ortsnamen dieser Stämme in Kärnten und Krain gefehlt hätten, stellt
er es als sehr wahrscheinlich hin, „daß ein Keil cechischer Siedlungen
von der Donau zwischen Enns und Leitha über Wiener-Neustadt bis
an die Mürz und Mur, ja sogar bis an die Drau gereicht habe“ *). Doch
es ist leicht einzusehen, daß diese Annahme auf irrigen Voraussetzungen
beruht Denn 1. wissen wir schon aus unseren früheren Ausführungen,
daß sich die mit chlum und jedla gebildeten Namen gar nicht auf
Steiermark nördlich der Drau beschränkten — man findet sie vielmehr
auch in Kärnten, sogar in Friaul 2 ) — und 2. müßte, wer Bezeich¬
nungen wie Edlach, Kulm und deren Verwandte auf oechische Sprach¬
inseln bezieht, folgerichtig auch alle anderen westslawischen Formen
mit alten Cechensiedlungen in Verbindung bringen. Er könnte diesem
Schlüsse nur dann ausweichen, wenn es ihm gelänge darzutun, daß das
dl wohl in Edlach aus cechischem Munde stamme, nicht aber zum
Beispiel auch in einem Zedlach. Da jedoch ein solcher Beweis unmöglich
und undenkbar ist, so dürfte man nicht mehr bloß von cechischen
Sprachinseln reden, sondern könnte nicht umhin, über Niederle hin-
ausgehend, aus der weiten und gleichmäßigen Verbreitung nordslawischer
Formen in den Alpenländem auf ein zusammenhängendes cechisches
Sprachgebiet zu schließen. D. h. die Vorfahren der heutigen
Slowenen in Kärnten, Steiermark und Oberkrain wären
dann echte Cechen gewesen, die erst durch das Vor¬
dringen deutscher Siedler längs der Donau die Verbin¬
dung mit ihren Brüdern in Böhmen verloren hätten und
dem Südslawentum überantwortet worden wären. Allein
dem widerspricht wiederum sehr bestimmt der innere Bau des Nordwest¬
slowenischen, der vom Cechischen stark ab weicht. Die lautliche Ver¬
wandtschaft beider Sprachen ist daher nicht aus der cechischen Her¬
kunft der Alpenslawen zu erklären, sondern daraus, daß bei der Aus¬
wanderung der Slowenen aus ihrer hinterkarpatischen Heimat ihr
westlicher Flügel in inniger Fühlung mit den Cechen blieb und so
das alpenländische Slowenisch naturgemäß das Bindeglied zwischen dem
Cechischen und Südslawischen wurde 8 ).
Wie man nun aus Gegenden weiß, deren Bewohner das einst
nachweislich dort heimische dl längst nicht mehr kennen, gingen und
gehen die westslawischen Formen in den Alpenländem ständig zu Gunsten
*) Niederle, 81ovansk6 starazitnoeti II S. 354, 356. — Den., Jak daleko sedeli
Cechovä na jih? 8. 75.
*) Vgl. oben 8. 235.
*) Vgl. Oblak, a. a. 0. S. 328.
238
Ludmil Hauptmann.
der sQdslawischen zurück x ). Diese Tatsache verlangt besondere Beach¬
tung. Denn durch sie gewinnen wir einen neuen Gesichtspunkt zur
Beurteilung der Dudlebenfrage, zwingt sie uns doch zu überlegen, ob
nicht auch das kämtnerische Dulieb einst Dudleipa geheißen habe,
d. h. nur die südslawische Umbildung einer früher gebräuchlichen
westslawischen Urform sei Da Dulieb ohnehin erst zwischen 1060 und
1070 genannt wird, das steirische Dudleipin dagegen zum letzenmale
um 980 in einer Urkunde Ottos II. erscheint 2 ), so wäre auch ein
zeitlicher Zwischenraum von etwa hundert Jahren vorhanden, innerhalb
deren man sich die Umwandlung ins Südslawische vollzogen denken
könnte. Trotzdem ist das Ganze nur eine luftige Annahme. Das
älteste und einzige Beispiel aus dem ganzem Mittelalter, das man
bisher für die Vereinfachung von dl zu 1 anzuführen wußte, war die
aus dem Jahre 1289 überlieferte Form Jelonig für Jedlonig, einen Ort
nordwestlich von Marburg 3 ). Daß sie gut zweihundert Jahre jünger ist als
unser Dulieb, schon das mahnt zur Vorsicht gegen jene Vermutung. Nichts
desto weniger wollen wir den Übergang Dudleipa-Dulieb zunächst noch
als möglich annehmen.
Nun gibt es aber im Gebiete des Nordwestslowenischen echt süd¬
slawische Formen schon aus einer Zeit, da an einen solchen Übergang
noch nicht zu denken ist. In Oberkrain wird ein Zelsach schon
973 erwähnt 4 ) und für Kärnten ist derselbe Name gar noch viel früher
bezeugt. Denn das Zulszach, das eine Urkunde von 898 bringt 5 ), verrät
durch seine später belegten Formen Zelsach 6 ) sehr deutlich, das es sich
trotz des u gleich dem krainischen Zelsach aus dem südslawischen selice
entwickelt hat Ein westslawisches sedlice wäre in die Urkunde höchstens
als Zedelsach oder Sediltzach 7 ) übernommen worden. Ist aber das
kärtnerische Zulszah, das krainische Zelsach von Haus aus südlawisch,
so könnte es vielleicht Dulieb doch ebenfalls sein? Der einen Mög¬
lichkeit, Dulieb für eine jüngere Bildung aus westslawischer Wurzel zu
*) Ebenda S. 321.
*) Mon. Germ. DD. II S. 319 n. 275.
*) Obl&k, a. a. 0. S. 321.
4 ) Mon. Germ. DD. II 8. 56 n. 47. — Zahn, Cod. dipl. Austro-Fris. I 8. 36
n. 37 (Font. rer. austr. dipl. Bd. 31). — Schumi, Urkunden und Regest, f. Kr.iin I
8. 10 n. 8.
») Jaksch, Mon. hist. duc. Car. I 8. 42 n. 4.
•) Ebenda I 8. 94 n. 68 (1130), 170 n. 214 (1160), 264 n. 354 (1192), 272
n. 369 (1197), 275 n. 373 ^1199) u. s. w.
7 ) Gerade für Zeltschach ist auch diese westslawische Form urkundlich belegt:
Mon. hist. duc. Car. I S. 65 n. 23 (1060—1088), 85 n. 40 (1106), 133 n. 138
(1146), 167 n. 193 I (c. 1166), 44 n. 6 (1172—1176).
Politische Urnwfilxtmgen unter den Slowenen etc.
239
halten, tritt so die zweite an die Seite, daß die Form Dalieb eine
ursprüngliche, nicht erat nachträglich südslawisierte sei» Welche
Anschauung richtig ist, erkennt man, wenn man die sprachlichen Ver¬
hältnisse in der Nachbarschaft von Dalieb untersucht.
Man wird da gewahr, daß dieser Ort am Bande eines weiten
kroatischen Siedlungsgebietes lag. Nach Urkunden des 10. Jahr¬
hunderts gab es nämlich in Kärnten einen eigenen Kroatengau 1 ).
Zwar erfahrt man nichts über seine Grenzen und auch die Dörfer, die
in ihm genannt werden, erscheinen auf einen so kleinen Baum west¬
lich Ton St Veit an den Glan zusammengedrängt, daß man sich dar¬
aus vom Umfange des Gaues keine Vorstellung machen kann. Trotz¬
dem ist es gewiß, daß sich die Kroaten sehr weit verbreitet haben
müssen, sonst träfe man nicht ein Kraut, einst Chroat 8 ), bei Millstatt,
je ein Krabathen bei Eberatein, Feldkirchen und Klagenfurt und ein
Kraubath sogar jenseits des Neumarktes Sattels im oberen Murtal.
Man sollte erwarten, daß ein solcher Zuschuß rein südslawischen
Volktoms die westslawischen Laute in diesen Strichen besonders früh habe
verstummen lassen. In Wirklichkeit ist jedoch davon nichts zu
spüren. Namen wie Zedl, Zedlitzberg, Zedlitzdorf, Kulm lebten hier
ruhig fort, noch dazu, was verblüffend ist, in der Nahe kroatischer
Siedlungen. Zedlitzberg liegt neben einem Krabathen, Kulm bei
Eberstein neben einen zweiten Krabathen und Kulm bei Ebemdorf
nicht weit von Sielach, dem alten Zelach 8 ), dem man die südslawische
Lautgebung sofort ankennt; denn wäre die Grundform des Namens
westslawisch gewesen, so hätte der Ort in den Urkunden Zedlach ge¬
heißen.
Unsre oben noch als möglich hingestellte Annahme, Dulieb sei
aus einem alten Dudleipa hervorgegangen, ist durch diese Zusammen¬
stellung wohl endgiltig abgetan. Denn wenn das Südslawische selbst
im Heizen des kroatischen Siedlungsgebietes zu schwach war, um west¬
slawische Formen rasch aufzusaugen, dann konnte es an der Grenze
des Kroatenlandes — und Dulieb lag ja im äußersten Westen — dazu
erat recht nicht fähig sein. Wie wenig man von sprachlichen
Eroberungen des Kroatischen in Kärnten zu halten hat, dafür nur noch
ein schlagender Beweis. Bei Friesach liegt das Dorf Zeltschach. In
der schon erwähnten Urkunde von 898 heißt es Zulszah, d. i. das
südslawische Zeis ach. [n der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts
-
*) Ebenda m 8. 46 n. 115 (964), 8. 60 n. 126 (961), 8. 62 n. 149 (979) '
*) Ebenda Hl 8, 140 n. 352 (c. 1066—c. 1076), 8. 143 n. 360 (c. lf
c. 1076).
•) Ebenda m 8. 216 n. 636 (1106).
240
Ludmil Hauptmann.
und dem folgenden zwölften jedoch erscheint derselbe Name öfter in
der westslawischen Form Zedelzah, Sedelsah! 1 )
Nicht westslawische Formen haben sich also hier frühzeitig in
südslawische verwandelt, sondern umgekehrt waren diese sogar noch
im 12. Jahrhundert in Gefahr, von jenen verdrängt zu werden. Der
Grund dafür konnte nur der sein, daß sich im Klagenfurter-Becken die
Massen des durch westslawische Eigenheiten entstellten Nord westslowe¬
nischen bedienten und nur eine dünne Volksschicht in südslawischen
Lauten redete.
Der Ertrag unsrer sprachgeschichtlichen Darlegungen besteht somit
darin, daß man Dulieb nicht als Umbildung von Dudleipa, sondern
als Urform anzuerkennen hat Damit ist aber das Rätsel Dulieb-
Dudleipa auch schon gelöst Denn man braucht sich nur zu erinnern,
daß es ja noch an zwei Stellen in der weiten slawischen Welt Stämme
dieses Namens gab: in Südböhmen die Dudlebi und am galizischen
Bug die Duljeben 2 ). Stellt man sich dann die geographische Lage
der vier Duljebengebiete vor und beachtet man namentlich die paar¬
weise Cbereinstimmung der Namensformen im Osten und Westen: Dul-
jeby-Dulieb, im Norden und Süden: Dudlebe-Dud * eipin, so wird es
klar, daß alle Duljeben aus den Niederungen des Bug stammen. Nor
wurden ihr Name in Böhmen und Steiermark westslawisiert, während
er 8i ch in Kärnten rein erhielt, weil dort der kroatische Einschlag die
sprachliche Aufsaugung hemmte.
Man kennt keinen Stamm der Völkerwanderungszeit, der sich
freiwillig über so riesige Flächen und in so kleinen Verbänden wie
die Duljeben zerstreut hätte; im Gegenteil, aus der Entstehungs¬
geschichte der germanischen Stämme weiß man, daß in wilden Zeiten
der Selbsterhaltungstrieb gerade Zusammenfassung aller Kräfte gebietet
Zersplitterung, darf man daher sagen, setzt Gewalt voraus; die aber
kann, wie die Dinge einmal liegen, nur von den Awaren ausgegangen
sein. Sie müssen den Daljebenstamm zerschlagen und seine Trümmer
hierhin und dorthin verpflanzt haben.
Diese Schlüsse werden nun auch durch verschiedene Schriftsteller
gestützt, deren Worte sich gegenseitig aufs Beste ergänzen« Wir
beginnen mit Mas’udi, einem arabischen Gewährsmanne des 10. Jahr¬
hunderts. Der schreibt: 8 )
„Inter den slawischen Nationen gibt es eine, bei der vor alters
im Anfänge der Zeit die Herrschaft stand. Ihr König wurde Magak
*) Vgl. oben 8. 238 n. 7.
*) Marquart, Osteuropäische und oetasiatische Streifzüge S. 126.
*) Marquart, a. a. 0., S. 101 ff.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
241
genannt Diese Nation heißt Walinjana und ihr pflegten vor alters
die übrigen Slawenstamme zu gehorchen*.
Im Anschluß an diese Stelle zahlt nun Mas’udi die slawischen
Stamme auf, darunter die Öechen, Mährer, Kroaten und die Slawen von
Braniöevo; dann fahrt er fort:
»Die Slawen bestehen aus vielen Völkern und ausgebreiteten
Abarten, deren Beschreibung und Einteilung vorliegendes Buch nicht
zu Ende führen will. Die Geschichte von dem Könige, dem ihre
Könige sich in alter Zeit fügten, cL i von Magak, dem Könige der
Walinjana, haben wir schon vorausgeschickt Dieses Volk, das zu den
Slawenstämmen reinsten Blutes zahlt war unter ihnen hocli geehrt
und konnte sich auf alte Verdienste unter ihnen berufen. Hierauf trat
Uneinigkeit ein, ihre Organisation hörte auf und ihre Nationen
schlossen sich (einzeln) zusammen; jede Nation machte einen König
über sich, nach der Anzahl ihrer Könige, die wir erwähnt haben, aus
Ursachen, deren Erzählung zu lang wäre*.
Marquart hat gestützt auf Nestors Chronik, bemerkt daß Wolynjane
der jüngere Name für die russischen Duljeben war, die am Bug saßen
und zu dem großen Volke der Anten gehörten x ). Da es infolgedessen
schon geographisch undenkbar ist daß sie, wie man nach Mas’udi
vermuten könnte, auch über die Öechen und die Slawen des West¬
balkans geherrscht hätten, so bleibt als möglicher Kern von Mas’udis
Bericht nur die Annahme übrig, die Duljeben hätten sich vor alters
ein Großreich unter den Anten geschaffen, das aber wieder zugrunde¬
gegangen sei.
Damit stimmt dann recht gut die bekannte Stelle bei Nestor
überein, wo es heißt:
»Die Awaren unterwarfen sich im Kampfe gegen die Slawen die
Duljeben und taten ihren Weibern Gewalt an. Wenn ein Aware
irgend wohin zu fahren hatte, so ließ er weder Pferd noch Stier an¬
spannen, sondern ließ drei, vier oder fünf Weiber an sein Fuhrwerk
schirren und sich von ihnen fahren. Also quälten sie die Duljeben* *).
Arbeitet man Nestors und Mas’udis Nachrichten ineinander, so
glaubt man auf einmal, nicht nur zu verstehen, wie das Duljebenreich
unterging, sondern auch wann und warum. Denn dann urteilt man
folgendermaßen:
So lange ein großes Antenreich bestand, war den Awaren der Weg
über die Karpathen nach Ungarn verlegt Wollten sie dahin, so
*) Ebenda 8. XXXVI und 146 f.
9 ) lüklosich, Chronica Nestoris 8. 5 f.
242
Ludmil Hauptmann.
mußten sie um jeden Preis trachten, dieses Hindernis zu zerstören.
Als ihnen das — man setzt voraus, nach erbitterten Kämpfen —
endlich gelungen war, ließen sie ihre Wut gerade an denen aus, die
die Stämme der Anten zu gemeinsamem Widerstande zusammengefaßt
hatten und das waren die Duljeben. Der Beginn der awarischen Herr¬
schaft über dieses Volk fiele dann zwischen 558 und 563, — nicht
früher, da die Awaren erst 558 Nachbarn der Anten geworden 1 ),
nicht später, da der Raubzug der Awaren nach Ungarn von 563 den
Fall des Duljebenreiches zur Voraussetzung hat 2 ). Ohne ihn wären
die Karpathenpässe nach wie vor gesperrt geblieben.
Es ist mißlich, daß sich diese weitgehenden und bestechenden
Schlüsse vorerst nur auf zwei, noch dazu imdatierte Nachrichten
gründen, zwischen denen die Phantasie allein die Brücke geschlagen
liai Wir kämen daher nie über Wahrscheinlichkeitsrechnungen hin¬
aus, wenn wir nicht eine byzantinische Quelle zum Vergleiche heran¬
ziehen könnten. Aus Menander erkennt man nämlich, daß um 558,
als die Awaren noch in Südrußland hausten, die Anten zum Unter¬
schied von den übrigen Slawen eine gewisse politische Einheit unter
Mezamer, dem vornehmsten ihrer Häuptlinge bildeten 8 ). Der Eindruck
dieser wenn auch gewiß lockeren Reichsschöpfung mitten im staaten¬
losen Völkergewimmel des Ostens war so nachhaltig, daß Mezamers
Name in der Form Bezmer sogar in die bulgarische Fürstenliste über¬
ging 4 ). In der Tat war die Macht seines Antenbundes groß genug,
um längere Zeit die awarische Flut zu stauen. Erst als die Awaren
Mezamer, der als Gesandter zu ihnen gekommen war, ohne Scheu vor
dem Völkerrecht ermordet hatten, überwanden sie sein führerloses Volk
und „ seither, sagt Menander, hörten sie nicht auf, die Anten zu
knechten und nach allen Richtungen zu verschleppen* ß ).
Zu unsrer Genugtuung finden wir hier Punkt für Punkt die oben
geäußerten Vermutungen durch Menander bestätigt. Es gab also
wirklich so etwas wie einen Antenstaat, den die Awaren nach 558 ver¬
nichteten, nachdem sie den Häuptling des führenden Stammes aus dem
Wege geräumt hatten. Ja, selbst die Herrschemamen stimmen bei
Mas'udi und Menander überein. Denn Magak ist nichts anderes als
der Kurzname für Mezamer, ähnlich gebildet wie Misaco aus Mistislav.
*) Menandri Protectoris Fragments cap. 2—3 (Dindorf, Historici graeci
minores II.).
*) Marquart a. a. 0. 8. 147.
*) Menandri Protectoris Fragments cap. 6.
4 ) Marquart, Chronologie der alttürkischen Inschriften 8. 78.
*) Menandri Protectoris Fragments cap. 6. — VgL oben S. 234 n. l.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
243
Wir schließen daher mit der Einsicht, das Mezamer derselbe war
wie Magak, nämlich der Fürst der Duljeben 1 ).
Nun aber erinnere man sich: ans Mas’udi-Nestor-Menander ist
bekannt, daß nach Mezamers Tode die Angehörigen des Duljebenstaates
von den Awaren verschleppt wurden, ans Ortsnamen aber wissen wir,
daß es später in Mittelsteiermark und Kärnten Duljeben gab. Beide
Tatsachen verlangen gebieterisch nach Verknüpfung, die aber kann
nur ergeben, daß die Awaren um 560 Duljeben aus ihrer Heimat mit
sich fortschleppten und ihnen nach dem Abzug der Langobarden aus
Pannonien in den Alpenländem Sitze anwiesen. Hier inmitten fremder
Slawen schienen sie ihnen nicht mehr gefährlich.
Unsre Untersuchungen über die Ortsnamen Dudleipa-Dulieb geben
also, gleichviel ob sprachgeschichtlich, ob quellenmäßig geführt, die
Gewißheit, daß auch auf slowenischem Boden die Awaren durch Ver¬
pflanzungen dafür sorgten, ein Völkerchaos zu schaffen, damit die
unterjochten Slawenmassen, jedes Gefühls der Zusammengehörigkeit
bar, unfähig wären zu gemeinsamer Erhebung und in dumpfem Gleich¬
mut auch die ärgste Knechtschaft ertrügen.
Allein die Natur des slowenischen Siedlungsgebietes läßt uns ver¬
muten, daß zum Glück die awarische Herrschaft trotz aller Gewaltmittel
nicht überall gleichfest begründet gewesen sei, daß sie namentlich in
Kärnten schwächer ge wurzelt habe als irgendwo anders. Denn wir
dürfen mit sehr viel Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Awaren
hier nur selten in größeren Scharen erschienen seien. Was hätte sie
auch reizen sollen, allzu oft längs der Drau auszuschwärmen und in
Kärnten den Herrn zu zeigen? Wirtschaftlich hatte ja dieses Land
für sie sehr wenig Wert Denn im Sommer waren ihre Herden ohnehin
in den Steppen Ungarns versorgt im Winter aber werden sich die
Awaren gehütet haben, Kärnten aufzusuchen, weil bei der eisigen Kälte
des schneereichen Klagenfurter Beckens ihr Vieh Monate lang ohne
Scharrfutter geblieben wäre und die plumpe Wirtschaftsform der slawischen
Knechte auch nicht darnach angetan war, im Sommer so viel Heu zu
beschaffen, daß es im Winter außer filr die awarischen Besatzungen
auch noch für große Horden mit zahlreichem Vieh gereicht hätte. Es
bliebe mithin nur die Möglichkeit offen, daß Kärnten wenigstens als
Durchzugsland nach dem Westen den Awaren wertvoll gewesen sei.
Allein auch dieser Gedanke ist aus verschiedenen Gründen abzulehnen.
Vor allem war der riesige Drauwald an der steirisch-kärtnerischen
*) Marquart, Osteuropäische Streifzüge S. 147.
244
Ludmil Hauptmann.
Grenze l ) und dasenge Durchbruchstal zwischen Bachern und Poßruck dem
Fortkommen großer Beitermassen nicht günstig. Dann aber mußte
ein Vorstoß längs der Drau den Awaren auch zwecklos erscheinen*
weil die Draustraße eine Sackgasse war, die nur in die Alpenwildnis
Tirols hineinführte und daher keine Aussicht auf Beute bot Ungleich
wichtiger war ohne Zweifel für die Awaren die Linie nach dem Süd¬
westen. Hier konnten sie nicht nur bequem der Römerstraße folgen,
die vom Plattensee über Pettau, Cilli und von dort über Laibach und
den Birnbaumer Walde ins breite Wippachtal ging, sondern hier waren
sie auch sicher, unterwegs, im klimatisch günstigeren Laibacher-
Becken, Winterquartiere und am Ziel, in Italien, ein reiches altes
Kulturland zu finden.
Dem Naturzwang, den diese Richtung auf die Völker Pannoniens
übte, waren vor den Awaren Hunnen, Goten und Langobarden erlegen *)*
derselbe Zwang trieb später auch die Magyaren so oft durch Kram
an den Po, daß bis ins 11. Jahrhundert der Ausläufer der pannonischen
Straße in Friaul geradezu .Ungarnweg“ hieß 8 ), ja, daß sich noch heute
ein Ort bei Görz bezeichnenderweise »Vograko* (Ungamdorf) 4 ) nennt.
Die nämliche Politik, in deren Dienst die Awaren Jahre lang mit
den Byzantinern um Sirmium rangen 6 ), mußte ihnen raten, auch
Untersteiermark-Krain in straffer Abhängigkeit zu halten. Denn der
Besitz dieser Ausfallstore im Osten und Westen machte den Chagan
der Awaren zum Herrn der reichsten Lander Europas, stand es doch
dann in seinem freien Belieben, bald Ostrom, bald Italien zu plündern.
Oder sollten die Awaren für solche Vorteile keinen Sinn gehabt
haben? Wenn doch, dann trugen die Kosten einer solchen Politik
im Westen die Slawen von Untersteier und Krain, die nur zu oft
awarmche Horden bei sich zu Gaste gesehen haben werden und dann
waren die Slowenen an der Sawe auch geradezu vorherbestimmt,
besonders lange und nachdrücklich die volle Wucht des awarischen
Druckes auf sich zu fühlen.
*) Die Bedeutung des Drauwaldes ab Grenzscheide erhellt auch aus der eben
durch ihn gerechtfertigten Bezeichnung »marchia transsylvana« für die Gegend von
Grams ob Marburg: Krones, Verfassung und Verwaltung der Mark und des Herzog¬
tums Steier, Forschungen zur Verfassung»- und Verwaltungsgeschichte der Steier¬
mark Bd. I S. 26.
*) Schmidt, Allgemeine Geschichte der germanischen Völker S. 82, 94.
•) Mon. Germ. DD. I S. 466 n. 341 (967). Bresslau, Jahrbücher des deutschen
Reiches unter Eonrad 1L Bd. I., S. 485 n. 3 (1028).
«) Kos a. a. 0., Bd. n S. LI.
*) Menandri Protectoris Fragments c. 63—64.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
245
Wir leiten dies aus rein geographischen Erwägungen ab. Nach
den folgenden Zeilen möge man entscheiden, ob diese geographischen
Vermutungen wenigstens durch die Ereignisse nach dem Sturz der
awarischen Macht gerechfertigt werden.
IL Die Zeit Samos.
Schlag auf Schlag ging im ersten Drittel des 7. Jahrhunderts das
Unglück über die Awaren nieder. Kroaten und Serben vernichteten
deren Macht im westlichen Teil der Balkanhalbinsel 1 ), siegreich wies
Konstantinopel 626 die Stürme des Chagans ein für allemal ab 8 ) und
wie sich im Westen ein freier Slawenstaat unter dem Franken Samo
erhob*), so ergriff im Osten Kubrat, der Chan der Unugundur-Bulgaren
Bessarabiens, die Gelegenheit, um das awarische Joch zu zertrümmern 4 ).
Während der inneren Wirren, die diesem Zusammenbruch folgten,
flohen 9000 pannonische Bulgaren vor den Awaren nach Bayern. Als
man aber dort auf Befehl des Frankenkönigs Dagobert meuchlings
über sie herfiel, retteten sich 700 unter der Führung Alzioks in die
„Wendenmark* des Fürsten Walluk 6 ). Von hier wanderten sie dann
zu den Langobarden und gründeten sich in den Abruzzen eine
neue Heimat 6 )
Die Lage und politische Stellung dieses Slawenstaates ist klar.
Denn daß die Bulgaren vor Bayern und Awaren bei Walluk Schutz
fanden, beweist die Unabhängigkeit seines Reiches und daß die
„Windische Mark* am Wege von Bayern nach Oberitalien lag,
gestattet mit Sicherheit den Schluß, daß das obere Drautal zu ihr
gehörte. Hie*, hatten sich also die Slowenen beim jähen Sturz der
awarischen Macht ihrer Zwingherrn entledigt
Allein die Geschichte von der Flucht der Bulgaren läßt nur den
Mindestumfang des befreiten Slowenenlandes erraten, verhehlt jedoch,
ob sich in diesem Staate nicht etwa gar alle Slowenen zum Kampfe
gegen die Awaren zusammengeschlossen haben. Die Antwort auf diese
Frage holte man sich lange Zeit aus Fredegar und der Convendo, die beide
teils mittelbar, teils geradeaus sagen, daß König Samo auch über
die Karantaner geherrscht habe. Indem man diese Angabe mit der
i) Dfimmler, Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien (8itz.-Ber.
d. k. Ak. d. Wies, in Wien Bd. 20, 8. 353).
*) Jirefek, Geschichte der Bulgaren S. 91.
*) Fredegarii Chronicon lib. IV cap. 48.
«) Marquart a. a. O. 126, 194.
*) Fredegarii Chronicon IV cap. 72.
*) Pauli Diaconi Historia Langob. V cap. 29.
17
246
Ludmil Hauptmann.
Nachricht über Walluk verband, folgerte man, die .Windische Mark«
sei Karantanien gewesen und Walluk daher ein Fürst der Karantaner,
der gegen die äußeren Feinde Anlehnung an Samo gesucht habe *).
Gegen ( diese Auffassung wurden nun quellenkritische Bedenken
laut, die schließlich so weit gingen, daß man Samos Karantaner-Herr-
schaft ins Beich der Fabel verwies. Der Awarenbezwinger, den man
früher allgemein als Oberherm eines großen Slawenbundes vom Erz¬
gebirge bis in die südlichen Alpen angesehen hatte, mußte es sich
auf einmal gefallen lassen, daß ihn Goll in den bescheidenen Bang
eines Öechenbefreiers erniedrigte *). Damit nicht genug, bestritt man
schließlich auch dies. Denn da man über die Sitze der von Samo
beherrschten Slawen nichts unmittelbar aus den Quellen erfuhr, so
machte man sich daran, sie durch Kettenschlüsse festzustellen. Man
überlegte: 631 unternahm Dagobert mit drei Heeren, darunter einem
fränkischen und einem alemannischen, einen Angriff auf* Samo. Nach¬
dem dieser Zug zum Teil mißglückt war, brach Samo wiederholt in
Thüringen verheerend ein und bewog den Sorbenfürsten Derwan zum
Anschluß. Aus diesen Angaben schloß man, daß Samo Nachbar der
Franken, Alemannen, Thüringer und Sorben gewesen sei und trachtete
nun, nach solchen geographischen Beziehungen die Lage seines Beiches
zu bestimmen« Das führte endlich dazu, daß es Nemecek an die
Grenze Thüringens 8 ), Peisker nach Oberfranken verlegte 4 ), beide aber
Samo als Herren der Öechen entthronten und nur zum Häuptling
eines kleinen Slawengaues im Deutschen Mittelgebirge machten.
Macht man sich diese Ansicht zu eigen, hält man also alles für
Täuschung, was Fredegar und die Conversio über Samos Karantaner-
Herrschaft scheinbar sagen, so gibt man aber auch den einzigen
quellenmäßigen Beleg dafür preis, daß sich zu Beginn des 7. Jahr¬
hunderts alle Karantaner von den Awaren befreit hätten und man
müßte unter solchen Umständen sofort gestehen, über die Beziehungen
beider Völker zueinander von Samos Zeit bis in die Mitte des 8. Jahr¬
hunderts überhaupt nichts zu wissen.
*) Kaemmel, Die Anfänge deutschen Lebens in Österreich 8. 185 f.
*) Goll, Samo und die karantanischen Slawen; Mitteilungen des Instituts für
Österreiche Geschichtsforschung Bd. 11 S. 443 ff.
•) Nömeßek, Das Reich des Slawenfürsten Samo. Jahresbericht der Landes¬
oberrealschule in Mährisch-Ostrau 1905/6. — Stur, Die slawischen Sprachelemente
in den Ortsnamen der deutsch-österreichischen Alpenländer, (Sitzungsber. d. k.
Akad. d. Wiss. in Wien phil.-hist. Kl. Bd. 176, S. 14 ff.) schließt sich den Aus¬
führungen NömefekB glatt an.
4 ) Peisker, Neue Grundlagen der slawischen Altertumskunde S. 8.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
247
Allein, ist diese gänzliche Abkehr yon den geschriebenen Qnellen
begründet? Ist die Art der Kritik, die zu so grenzenlosem Mißtrauen
geführt hat, auch methodisch einwandfrei? Um darüber zu ent¬
scheiden, stellen wir zunächst
zusammen:
Conyersio cap. 4.
Temporibus - Dagoberti Samo no¬
mine quidam Sclavus manens in
Qnarantanis fuit duz gentis illiua.
Qui yenientes negotiatores Dago¬
berti regia interficere iuasit et
regia ezpoliayit pecunia. Quod
dum conperit Dagobertus rex, misit
ezereitum suum et damnum quod
ei idem Samo fecit, yindicare iuasit
Sieuti fecerunt, qui ab eo miaai sunt
et regia servitio subdiderunt illos.
die umstrittenen Quellenabschnitte
Fredegar.
cap. 48: Anno 40. regni (623)
Chlotariae homo nomen Samo na-
txone Francua de pago Senonago plures
secum neguciantes adcivit, ezercendum
negucium in Sclavos coinomento Wi-
nedos perrezit...
cap. 68: Eo anno (631) Sclavi
coinomento Winidi in regno Samone
neguciantes Francorum cum plure
multetudine interfecissent et rebus
ezpoliassint, haec fuit initium
scandali inter Dagobertum et Samo-
nem .. . Dagobertus . . . iubet de Uni¬
versum regnum Austrasiorum contra
Samonem et Winidis movere exer-
citum; ubi trebus turmis falange
super Weneduö ezercitus ingreditur,
etiain et Langobardi solucione Dago¬
berti idemque osteleter in Sclavos
perrixerunt Sclavi his et olies locis
e contrario preparantea, Alamannorum
ezercitus cum Crodoberto duci in
parte qua ingressus est, victuriam
optenuit Langobardi idemque victu¬
riam optenuerunt Austrasiae vero. •.
ad Castro Wogastisburc ... triduo pri-
liantes .. . fogaceter ... ad propries
8edebus revertuntur.
Da die Conversio nach ihren eigenen Worten ältere Quellen ver¬
wertet hat, so genügt die Übereinstimmung der gesperrt gedruckten
Wörter, um zu erkennen, daß der Salzburger Schreiber hier Fredegar
benützt hat Unsicher ist nur, wie stark. Goll, der diese Überein-
Anmung zuerst aufgedeckt hat, meint, in Karantanien habe man von
Samo überhaupt nichts gewußt; was die Conversio über ihn bringe, sei
ausschließlich aus Fredegar geschöpft *)• »Denn durch die Verbindung
Samos mit den karantanischen Slawen sollte deren Zugehörigkeit zum
fränkischen Reiche und damit zur Salzburger Kirche bewiesen werden.
17*
f) Goll a. a. 0. S. 444.
248
Ludmil H anp t mann.
Deshalb habe auch hier Samo von den Franken besiegt werden müssen,
während er bei Fredegar siegt 1 ). Die Nachricht der Conversio über
Samo sei daher nur eine leere Qeschichtsklitterung aus der Zeit der
kirchenpolitischen Kämpfe Salzburgs mit Mebhod. Allein, hat denn —
so muß man sich angesichts solcher Vorwürfe fragen — die Conversio
an Fredegars Kriegsbericht überhaupt etwas eigenmächtig verdreht?
Dort steht doch ausdrücklich, daß die Slawen zwar bei Wogastisburg
über die Austrasier siegten, dafür aber auf den beiden andren Kriegs¬
schauplätzen gegen Alemannen und Langobarden unterlagen. Es war
also mindestens gleich richtig von einem Siege wie von einer Nieder¬
lage Samos zu sprechen. Wer aber, wie der Salzburger Schreiber in
Samo einen Karantanerfürsten erblickte, der durfte sogar aus
Fredegar nichts andres entnehmen, als die Niederlage Samos. Denn
dann waren dessen Hauptgegner die Langoborden gewesen und gerade
die hatten entscheidend gesiegt
Übrigens hatte der Verfasser der Conversio vielleicht nicht einmal
einen Anlaß, zwischen Sieg und Niederlage zu wählen. Die Gesta
Dagoberti z. B., die den Krieg gegen die Wenden mit den Worten
Fredegars erzählen, übergehen die unglücklichen Kämpfe der Franken
bei Wogastisburg mit völligem Schweigen 2 ) und verzeichnen nur die
großen Erfolge der Alemannen und Langobarden, weil es offenbar dem
austrasischen Verfasser widerstrebte, die Schmach seiner Landsleute
einzugestehen. Wenn die Conversio ihre Kenntnis des Wendenkrieges
aus einer solchen abgeleiteten Quelle schöpfte, wußte sie überhaupt
nichts von einem Siege Samos und konnte schon deswegen nur von
einer Unterwerfung reden. Auf keinen Fall hat mau demnach das
Hecht zu behaupten, die Conversio habe Fredegars Kampfbericht mit
Absicht entstellt.
Nicht besser steht es um den Versuch, den Zweck der Conversio
auch dafür verantwortlich zu machen, daß in ihr Samo, der Franke,
auf einmal als Slawe erscheint 8 ). Oder konnte etwa Salzburg s^ine
Ansprüche auf Karantanien besser begründen, wenn es Samo zum
Slowenen verfälschte? Gerade wer ihn nur deshalb anführte, um mit
ihm geschichtliche Rechte der Salzburger Kirche zu erhärten, hätte
sich strengstens an Fredegar halten müssen. Er hätte dann nicht nur
die fränkische Herkunft seines Helden sorgfältig unterstrichen, sondern
auch nicht versäumt, mit besonderem Nachdruck dessen Worte zu
*) Nömeöek a. a. 0. 8. 3.
*) Mon. Germ. 88. rer. Meroving. Bd. II S. 410.
») Goll a. a. 0. S. 444.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
249
wiederholen, daß sein Beich Dagoberts Eigentum sei. Schon damals l )
— so hatte dann der Schreiber der Conversio sagen können *— war
Karantanien den Franken unterworfen gewesen, daher gebührte dort
unbestreitbar der Vorrang yor dem Byzantiner Method dem Erzbischöfe
▼on Salzburg als Angehörigem des fränkischen Beiches. Der Zweck
der Conyersio hätte somit alles eher verlangt als daß man Samo zum
Slowenen stempelte. Wenn ihn die Salzburger Streitschrift trotzdem
slowenischen Stammes nannte, so tat sie es gewiß in gutem Glauben,
offenbar deshalb, weil er in der dunklen Erinnerung der Karantaner
als Slawe fortlebte.
Die Salzburger Mel düng über Samo hat man sich daher wohl
folgendermaßen entstanden zu denken: Der Verfasser der Streitschrift
gegen Method übernahm aus dem Volksmunde die Nachricht von
einem alten KarantanerfÜrsten namens Samo. Da dieser laut Fredegar
oder einer aus ihm abgeleiteten Quelle, mit den Franken gekämpft
hatte, so verknüpfte man beide Angaben, jedoch nicht ohne sich dabei
mit Fredegar kritisch auseinanderzusetzen. Denn daß sich die Slowenen
einen Franken zum Herrscher erhoben hätten, dünkte den Salzburger
doch gar zu unwahrscheinlich. Lieber traute er der volkstümlichen
Cberlieferung und fügte daher gleichsam berichtigend Samos Namen
die sonst wohl überflüssige, weil selbstverständliche Bemerkung bei:
,ein Slawe*.
Es ist sehr lehrreich zu sehen, daß es Jahrhunderte später dem
Ungarnkönig Mathias Corvinus nicht anders erging als Samo. Die
Türkennot des 15. Jahrhunderts brachte Slowenen und Ungarn einander
nahe; und wie einst Samo als Schirmherr gegen die Awaren, so wurde
damals Mathias Corvinus als Türkenbezwinger dem slowenischen Volke
vertraut Da er zudem in den Kämpfen mit Kaiser Friedrich III. einen
großen Teil der österreichischen Alpenländer, darunter auch slowenisches
Gebiet besetzte, so drängte er sich dem Denken und Fühlen des slo¬
wenischen Volkes so stark auf, daß sich Volkslied und Sage seiner be¬
mächtigten und aus dem Ungarnkönig einen slowenischen Volks¬
helden, den kralj Matjai, machten, ja, daß ihn die Kärntner Sage sogar
nach altehrwürdiger Sitte auf dem Zollfeld zum König erwählt sein
ließ (Gruden, Zgodovina slo\enskega naroda S. 377 £). Das Gegenstück
zu Samo, das die slowenische Sage in kralj MatjaZ bietet, erhärtet so
aufs Beste die Ergebnisse unserer Quellenkritik, nach denen die An¬
sichten Golls und Ngmeceks, soweit die Conversio in Betracht kommt,
rundweg abzulehnen sind.
*) Fredegarii Chronicon IV cap. 68: »Et terra, quam habemua, Dagoberte est
et not» sui sumuB*.
250
Ludmil Hauptmann.
Beide wollen jedoch auch an Fredegar deuteln und namentlich
Nfcmecek meint, ans Fredegar lasse sich Samos Herrschaft über die
Karantaner nicht beweisen. Man müßte zwar an sie glauben, wenn
Dagobert wirklich zum Wendenzuge die Nachbarn der Karantaner,
die Langobarden, aufgeboten hätte; allein das sei nicht wahr. Die
Langobarden hätten sich daran gar nicht beteiligt 1 ). Nämecek beruft
sich dabei auf Schnürer. Dieser stellt nämlich in seiner Unter¬
suchung über „die Verfasser der sogenannten Fredegar- Chronik*
fest, daß der zweite Schreiber, ein Burgunder, aus dem Munde eines
fränkischen Gesandten über die Langobarden Nachrichten empfing,
die er zeitlich gar nicht oder nur willkürlich anzusetzen wußte 8 ).
Im Anschluß daran behauptet nun N&mecek 8 ): „Der burgundische
Chronist horte von Kämpfen der Franken mit den Langobarden,
hörte sie vielleicht mit der Person Dagoberts verknüpfen und führte
sie in gewohnter Weise bei . der passendsten Gelegenheit an, in diesem
Falle in dem Berichte über die Slawen im Osten*.
Wir lassen es dahingestellt, ob es die passendste Gelegenheit ist,
einen angeblichen Kampf der Franken gegen die Langobarden dort
unterzubringen, wo aus ihm des Zusammenhanges halber ein gemein¬
samer Kampf beider Völker mit den Slawen werden muß. Auch
abgesehen davon ist Nömeceks Ansicht verfehlt, da sie die Darstellungs¬
weise Fredegars nicht genügend beachtet Man hat nämlich unter den
außerfränkischen Nachrichten zu unterscheiden zwischen kurzen Angaben,
die in die fränkische (Jeschichte sinngemäß verwoben sind und längeren
Abschnitten, die der Schreiber rein äußerlich ohne Zusammenhang
eingeschoben hat Zum Beispiel:
In cap. 68 wird, wie wir schon wissen, ausführlich Dagoberts
Feldzug gegen Samo besprochen und nur nebenbei kurz der Waffen¬
hilfe der Langobarden gedacht; die unmittelbar folgenden Kapitel
69—71 dagegen behandeln durchwegs langobardische Geschichte und
zwar vom Ende der Regierung Arioalds bis zur Befreiung der Königin
Gundoberga. Nur mit Bezug auf diesen Überblick behauptet Schnürer,
„daß es dem Verfasser an jedem Maßstabe für die Fixierung der
Ereignisse gefehlt habe, daß er sie zuletzt unter bestimmte Jahre nur
eingereiht habe, um sie irgendwo unterzubringen, ohne sein Annalen¬
schema aufgeben zu müssen* 4 ). Wenn daher Nömecek im Gegensätze
i) Nömeöek a. a. 0. S. 3 f.
*) Schnürer, Die Verfasser der Fredegar-Chronik. Collectanea Friburgensia
Heft 9 S. 116.
*) N&neöek a. a. 0. S. 4.
4 ) Schnürer a. a. 0. S. 115.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
251
zu seinem Gewährsmann auch jener Einzelangabe über die Heeresfolge
der Langobarden Unwahrheit vorwirft trotz ihrer logischen Verbindung
mit dem übrigen Inhalte des Kapitels, so hätte er vor allem ver¬
suchen müssen, seine leicht hingeworfene Behauptung irgendwie zu
begründen. Freilich wäre er dann rasch innegeworden, daß es dafür
eine Begründung nicht gibt
Man stelle sich doch den Sachverhalt vor! Ein Burgunder, der
über die Taten der Franken schreibt schaltet mitten in diese Erzählung
plötzlich einen langen Abriß langobardischer Geschichte ein (cap. 69—71).
Nur die eine knappe Nachricht über den Kampf der Langobarden
mit den Wenden bringt er nicht wie man erwarten möchte, in jener
Zusammenfassung, sondern verflicht sie in das vorhergehende cap. 68.
Will man in dieser Vorwegnahme unbedingt eine Eigenmächtigkeit
des Verfassers sehen und nicht lieber glauben, daß damals eben wirklich
Franken und Langobarden gemeinsam gegen die Wenden gefochten
haben, so könnte man eine solche Willkür höchstens damit erklären,
daß es der Schreiber getan habe, um für die Beihe der ab cap. 69
mitgeteilten langobardischen Ereignisse eine Anknüpfung zu finden,
daß er also Geschichtsfälscher aus Stilgefühl sei. Daran ist jedoch
nicht zu denken. Denn wo steht die Langobardennachricht und wie
viel später folgt erst cap. 69! Beide trennt die Erzählung über die Schlacht
bei Wogastisburg, die Kämpfe in Thüringen und der Anschluß des
Sorbenfürsten Dervan an Samo, sodaß der Abriß der Langobardenge¬
schichte ganz unvermittelt einsetzen muß, von einem stilistischen Über¬
gang gar keine Bede sein kann. Der einzige Beweisgrund, der für
N&mecek spräche, ist damit abgetan und es läßt sich jetzt vielmehr
dartun, daß jene in cap. 68 eingestreute Bemerkung über die Teil¬
nahme der Langobarden an Dagoberts Feldzug gegen Samo durchaus
Glauben verdient.
In cap. 69—71 setzt nämlich der Burgunder nur fort, was er
über die Langobarden schon in den Abschnitten 49—51 zu erzählen
begonnen hat 1 ). Diese teilen Ereignisse von ungefähr 600 bis in die
Zeit Arioalds mit, dann bricht die Darstellung der Langobardenge¬
schichte mitten in der Begieiung Arioalds ab (cap. 51) und erst cap: 69
berichtet darauf über den Schluß der Herrschaft Arioalds und die ihr
folgenden Ereignisse. Wobei dieser sonderbare Biß? Die Erklärung
liegt in cap. 68, das den nränkisch-langobardischen Krieg mit Samo
erwähnt Offenbar wußte der Schreiber, daß der Wendenzug der
Langobarden nicht nur in die Zeit Arioalds falle, sondern auch in die
i) Schnürer a. a. 0. S. 114.
252
Ludmil Hauptmann.
Geschichte der Franken hineinspiele und daher dort seinen Platz haben
müsse. Mit andren Worten, nicht weil der Chronist seine Zusammen¬
fassung langobardischer Geschichte geschmackvoll unterbringen wollte,
riß er die nach Nömecek undatierbare Einzelangabe über den Kampf
der Langobarden mit den Slawen heraus und stellte sie voran, sondern
umgekehrt, weil ihm die Einzelangabe schon in einer fertigen Tat¬
sachengruppe vorlag, zerriß er die Zusammenfassung. Damit fallen die
Schlüsse, die Nemecek aus cap. 68 gezogen hat Samos Herrschaft
über die Karantaner und ihr Kampf mit den Langobarden sind daraus
nicht mehr hinwegzudenken.
Hätte Nemecek nicht wie gebannt immer nur diese eine Stelle im
Auge gehabt so wäre es ihm gewiß nicht entgangen, daß ihr Inhalt
auch von andrer Seite bestätigt wird. Nach Fredegars Kap. 72 zum
Beispiel gebot Walluk über eine Mark, d. h. nach dem Sprachgebrauch
jener Zeit über ein abhängiges Grenzland und nicht ein selbständiges
Reich l ). Von wem hätte aber damals sein Land abhängig sein sollen,
wenn nicht von Samo? Außerdem erscheint Walluk in derselben
Quelle als Herzog der Wenden, Samo dagegen als ihr König. Wenn
man beachtet, wie genau Fredegar aus den fränkischen Verhältnissen die
Stellung der Herzoge unter dem Könige kannte 2 ), so ist man gezwungen
zu glauben, er habe Walluk und Samo gerade wegen eines ähnlichen
Rangsunterschiedes einander als dux und rex gegenübergestellt Ja
selbst die Niederlage, die die Slowenen 631 angeblich im Kampfe mit
den Langobarden erlitten, ist unabhängig von Fredegar bezeugt
Denn wie Hartmann mit Recht sagt, ist es nicht einzusehen, warum
man sich sträuben sollte, auf sie die Nachricht des Paulus Diaconus
zu beziehen, daß Taso und Chaco von Friaul, deren Vater um 610 von
den Awaren erschlagen worden war, »später“ ein Stück slowenischen
Landes erobert hätten 8 ).
Besonders lehrreich aber ist das, was Fredegars Kap. 58 enthält
Darin liest man, 629 hätten die Germanenstämme, die an der awarisch-
slawischen Grenze saßen, Dagobert, ihren Herrn, gebeten, „die Awaren,
Slawen und die übrigen Völker bis an die Grenze des byzantinischen
Reiches zu unterwerfen*. Nun aber mache man sich klar: 629 for¬
derten die von den Franken abhängigen Germanen Dagobert auf, ihre
Nachbarn im Osten zu bekriegen, und zwei Jahre darauf 631 soll
*) Waitz, Verfhssungsgeschichte Bd. 2• S. 384ff., 3 S. 341 ff.; Brunner,
Rechtsgeschichte 2 S. 141; Schröder, Rechtsgeschichte 4 S. 119 ff.
*) Vgl. Fredegarii Chronicon, Register unter den betreffenden Schlagworten.
*) Pauli diaconi Historia Langob. IV cap. 38. — Hartmann, Geschichte Italiens
Bd. U *, S. 211, S. 236 n. 9.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
253
Dagobert mit drei Heeren wirklich die Westslawen Samos überfallen
haben. Niemand kann übersehen, daß beide Ereignisse in ursächlichem
Zusammenhang stehen, daß sich beide Nachrichten gegenseitig stützen.
Die von 629 lehrt, daß das Unternehmen von 631 in der Tat nicht
ein einfacher Strafzug gegen einen unbedeutenden Grenzhäuptling.
sondern ein großangelegter Beichskrieg war, und die von 631 beweist,
daß man 629 nicht aus Landhunger und Eroberungssucht zum Kriege
trieb, sondern weil man mit Unbehagen sah, wie sich in den Kämpfen
mit den Awaren eine große Slawenmacht zusammenballte, von der für
die Zukunft schwere Gefahren drohten. In einen solchen Krieg aber
paßte ein Angriff der Langobarden auf die Slowenen sehr gut hinein.
Denn wenn man alle Slawen bis an die Grenze von Byzanz unter¬
jochen sollte, konnte man gerade die Hilfe der Langobarden nicht
missen, der einzigen Germanen, die bis an den Saum des oströmischen
Beiches wohnten. Nur sie waren imstande, einen Teil der sardonischen
Slawen im Süden zu binden und so die Angreifer im Norden zu ent¬
lasten; ihre einzig möglichen Gegner aber waren in diesem Fall die
Slowenen. In neubestärktem Vertrauen auf Fredegar und die Con-
versio darf man daher jetzt zusammenfassend sagen:
Als sich ein slawischer Stamm unweit der fränkischen Grenze
gegen die Avaren erhob, schwang sich Samo zu dessen Führer im
Freiheitskriege aut Wahrscheinlich, weil dieser Kampf starke Kräfte
der Awaren im Norden festhielt, nahmen die Alpenslawen die Gunst
des Augenblicks wahr und griffen auch zu den Waffen wider ihre
Bedrücker. Der Haß gegen den gemeinsamen Feind aber führte die
Empörer bald zusammen und so kam es, daß schon 629 die Umrisse
einer westslawischen Großmacht sichtbar waren. Als nun zwei Jahre
später Dagobert gegen dieses neue politische Gebilde einen umfassenden
Angriff unternahm, erlagen zwar die Slowenen den Langobarden und
verloren einen Teil ihres Gebietes, dafür aber schlug Samo das aus
Franken gebildete Hauptheer. Der Glanz seiner Taten bewog darauf
den Sorbenfürsten Dervan, ihn freiwillig als seinen Herrn anzuerkennen,
sodaß Samo schließlich die westslawischen Völkerschaften von der
Saale bis herab zur Wendeiimark Walluks unter seinem Szepter ver¬
einte. Freilich war das, was er beherrschte, kein festgefügtes Reich,
sondern ähnlich wie der Markomannenstaat Marbods oder das Goten¬
reich Ermanrichs nur ein lockerer Bund, der mit der überragenden
Patriarchengestalt seines Gründers stand und fiel.
Über die Zeit, wann dieses samonische Großreich bestanden haben
soll, ist man sich nicht recht klar. Aus Fredegars Kapitel 48 erfahrt
man 1 Samo sei im 40. Begierungsjahre des Frankenkönigs Chlotar,
254
Ladmil H&uptmann.
d. i. 623, zu den Wenden gekommen und habe fünfunddreißig Jahre
über sie geherrscht. Nimmt man, was wahrscheinlich ist, an, daß
seiner Ankunft bei den Slawen noch im selben Jahre die Wahl zum
König gefolgt sei, so ergibt sich daraus für seine Regierung die Zeit
von 623—658. Da aber das Kapitel 48 vom zweiten Verfasser der
Fredegarschronik einem Burgunder, stammt, der 642 schrieb J ), so
scheint dieser Ansatz unbedingt falsch zu sein. Krusch und Schnürer
glauben ein Mittel gefunden zu haben, um hier Klarheit zu schaffen.
Sie berufen sich nämlich auf die Unzuverlässigkeit Fredegars in der
Datierung außerfränkischer Nachrichten und erklären das vierzigste
Jahr Chlotars nur für ein willkürliches Datum, »das es ermöglichen
soll, den Bericht über Samo äußerlich in das Annalenschema einzu¬
reihen“. Uns stünde es dann frei, den Beginn der fünfunddreißig-
jährigen Herrschaft Samos von 623 ins erste Jahrzehnt des 7. Jahr¬
hunderts zurückzuverschieben*). Allein es gibt noch eine viel ein¬
fachere Erklärung.
Das oben schon öfter erwähnte Kapitel 68, das den Krieg Dago¬
berts gegen Samo behandelt, rührt, wie Schnürer nachgewiesen hat*
von demselben Burgunder her, der Kapitel 48 verfaßt hat; nur an
einzelnen Stellen ist es nachträglich von einem dritten Schreiber, einem
Austrasier, überarbeitet und ergänzt worden®). Da es aber bekannt
ist, daß dieser 658 an der Chronik schrieb 4 ), so ist der scheinbare
Widerspruch in Kapitel 48 auch schon gelöst Denn unwillkürlich
rechnet man, 658—35=623, und schließt dann weiter: wie in
Kapitel 68 der Grundstock der Erzählung auf den Burgunder zurück¬
geht so ist auch Kapitel 48 zwar in der Hauptsache von jenem
niedergeschrieben, die Bemerkung über die Regierungs¬
dauer Samos aber erst später als Zusatz von dem Austrasier
angefügt worden. Die Thronbesteigung Samos ist daher für das.
Jahr 623 doppelt verbürgt: durch den Burgunder, der sie mit Hilfe
der Regierungsjahre Chlotars datiert und durch den Austrasier, nach
dessen Angaben man sie rückzählend ebenfalls auf 623 ansetzen muß.
Damit ist aber auch Samos Regierungszeit für die Jahre 623—658-
außer Frage gestellt und nur das eine will noch erörtert sein, ob sich
*) Krusch, Die Chronicae des sogenannten Fredegar S. 4. Neues Archiv der
Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde Bd. 7, S. 429. — Schnürer a. a. 0.
S. 89, 112.
*) Krusch a. a. 0. S. 434 f. — Schnürer a. a. 0. S. 113.
•) Schnürer o. a. 0. S. 111.
4) Krusch a. a. 0. S. 429, 443. — Schnürer a. a. 0. S. 89.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
255
damals alle Slowenen oder nur ein Teil von ihnen der awarischen
Herrschaft entwunden haben.
Die beiden Hauptquellen lassen uns leider bei dieser Untersuchung
fast ganz im Stich. Fredegar sagt überhaupt nicht, von welchen
Slowenen er spricht und die Conversio meldet nur kurz, Samo sei Herr
der Karantaner gewesen. Der Klang des Wortes läßt bei Karantaner
an Kärnten denken und in der Tat gibt es keinen einzigen Beleg,
daß man vor dem 8. und 9. Jahrhundert darunter auch die Bewohner
des östlichen und südöstlichen Vorlandes von Kärnten verstanden
hätte; die bekamen diesen Namen vielmehr nachweislich erst infolge
der politischen Entwicklung der bayrisch-fränkischen Zeit 1 ). Nimmt
man die Conversio wörtlich, so hätten sich daher im 7. Jahrhundert
nur die Kärntner-Slowenen von den Awaren befreit Doch dem
widersprechen Tatsachen der kroatischen Geschichte.
Nach eingehenden sprachlichen und geschichtlichen Forschungen
steht es fest, daß sich die Vorfahren der heutigen Kroaten und Serben
nicht erst, wie man früher glaubte, unter Kaiser Heraklius (610—641)
in ihren gegenwärtigen Sitzen niederließen, sondern schon seit Beginn
des 6. Jahrhunderts, nach Niederle sogar seit dem 3. Jahrhundert in
stetem Vorrücken über Drau und Sawe nach Süden begriffen waren
und bereits 548 das erstemal die Meeresküste erreichten 2 ). Welle um
Welle fluteten die Südslawen über den Karst, unter ihnen auch der
Stamm der Kroaten. Diese siedelten sich besonders dicht in Mittel¬
dalmatien, dem Hinterlande von Spalato, an. Dank dem kriegerischen
Geiste, der sie beseelte, und der sich im Freiheitskriege gegen die
Awaren unter Kaiser Heraklius glänzend bewährte, gelang es ihnen,
sich in Dalmatien eine Herrenstellung zu schaffen und hier den Grund
zu ihrem später so mächtigen Staate zu legen 8 ).
Diese reichsgründende Kraft blieb ihnen auch an andrer Stelle
treu. Denn nach der Vertreibung der Awaren „löste sich von den
nach Dalmatien gekommenen Kroaten ein Teil los und richtete in
i) Vgl. unten S. 266 ff., 273
*) Raöki, Biela Hrvataka 1 Biela Srbija (Rad jugoslavenske akademije Bd. 52,
8. 141 ff. und Bd. 59 S. 201 ff — Jagic, Ein Kapitel aus der Geschichte der süd¬
slawischen Sprachen (Archiv für tlawische Philologie Bd. 17 S. 47 ff.) — Niederle,
Slovanskd starozitnosti Bd. 2 S. 244 ff, 278 ff.
*) Dümmler, Über die älteste Geschichte der Slawen in Dalmatien (Sitzungs¬
berichte der k. Akademie der Wissenschaften in Wien, Bd. 20 S. 363). — Klaid,
Poviest Hrvata Bd. 1 S. 30. — Niederle a. a. 0. Bd. 2 S. 386 ff. — Die Geschichte
der kroatischen Wanderungen und ihrer sozialen Folgen wird seinerzeit Gegenstand
einer zusammenhängenden Untersuchung sein.
256
Ludmil Hauptmann.
Pannonien seine Herrschaft auf“ *). Da die soeben noch siegreichen
Kroaten gewiß nicht ins Zwischenstromland zwischen Drau und Sawe
hinabgestiegen wären, wenn sie dort wieder die awarische Hoheit hätten aut
sich nehmen müssen, so bedeuten jene Worte des Konstantin
Porphyrogennetos, daß damals die Awaren bis hinter die Drau zurück¬
wichen und die von ihnen bisher beherrschten Slowenen des Sawe-
Kulpabeckens den Kroaten preisgaben.
Nur Sirmien dürften sie behauptet oder doch bald wieder besetzt
haben, um sich den Weg nach Ostrom frei zu halten 2 ). Der Besitz
des Barbarenlandes in der Mulde von Sissek dagegen war ihnen keine
besonderen Opfer mehr wert Hier mochten die Kroaten herrschen,
awarisches Blut war für solchen Preis nicht mehr feil, seitdem es
unter den Streichen der aufständischen Slawen in Strömen ge¬
flossen war.
Die Anfänge zur Staatenbildung auf dem Boden des Fürstentums
Sissek, das zu Ludwig des Frommen Zeiten den Franken so furchtbar
werden sollte 8 ), hingen also mit dem Vorstoß der Kroaten beim Sturz
der awarischen Großmacht im 7. Jahrhundert zusammen.
Die Wanderung der Kroaten kam aber auch in Pannonien, an
der Drau, noch nicht zum stehen. Die oben nur gekürzt wiedergegebene
Stelle aus Konstantin Porphyrogennetos besagt vielmehr in ihrem
vollen Wortlaut, daß sich ein Teil der dalmatinischen Kroaten „in
Pannonien undlllyrien seine Herrschaft aufgerichtet habe“. Welche
Gegend mit Illyrien gemeint sei, darüber hat man allerdings die ver¬
schiedensten Vermutungen geäußert Wenn die Stelle nicht verderbt
ist, so kann die einzig richtige Erklärung wohl nur die sein, daß man
darunter Noricum zu verstehen habe. Schon bei der Begründung
ihrer Herrschaft in den Donauländem hatten die Börner Noricum und
Pannonien zu Illyrien geschlagen und trotz manchen Schwankens in
der Verwaltungsordnung erhielt sich diese Beziehung Noricums zu
Illyrien so stark, daß man seit dem siegreichen Gotenkriege Justinians
wieder Noricum neben Pannonien, Dalmatien und Obermösien zu
Illyrien rechnete 4 ). Da nun Obermösien und Ostdalmatien serbisch,
*) Konstantin Porphyrogennetos, De administrando imperio cap. 30. Bonner
Ausgabe von Becker.
*) 758 wenigstens war Sirmien sicher awarisch. Denn aus dieser Zeit hört man
von einem Fürsten Kuber, der als Vasall der Awaren hier herrschte: Ra£ki, Docu¬
menta historiae chorvaticae periodam antiquain illustrantia S. 292 ff. — dazu Ratiri,
Hrvatska prije XH. vieka (Rad jugoslav. akademije Bd. 56, S. 104).
t) Annale8 regni franc. ad a. 819—822.
4 ) Marquart, Römische Staatsvcrfaasung I S. 138; Kümmel, Anfänge deutschen
Lebens S. 46 f., 107, 134 f.; Katalinich, Storia della Dalmazia H, 154.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
257
Pannonien nördlich der Dran awarisch war, so bleibt eigentlich nur
Noricum als jenes Illyrien übrig, in das Kroatan ans Dalmatien einge¬
wandert sein können 1 ). Doch anch wer die Nachricht des kaiserlichen
Gewahrmannes ganz verwirft, wird an den Zuzug kroatischer Siedler
nach Noricum glauben müssen, wenn er die Ortsnamenkunde zu Bäte
zieht Denn er findet in Steiermark ein altes Chrawate als Bezeichnung
für eine Gegend bei Gonowitz, ein Kranbat im Flußgebiete der Lasnitz,
rin Krabaten und Krabersdorf, einst Chrawaczdorf, bei Gleichenberg und
endlich ein Krowot südöstlich von Weitz *). Mit unverkennbarer Deut¬
lichkeit stellen doch diese vier mittel- und untersteirischeu Namen die
Brüche her zwischen den Kroatensiedlungen im pannonischen Zwischen¬
stromlande und denen in Kärnten. Über Unter- und Mittelsteiermark
müssen also die Kroaten nach Kärnten gedrungen sein, erst hier war
ihre Wanderung zu finde. Hat man einmal diese Tatsache erfaßt, so
blitzt aber auch unwillkürlich der Gedanke auf, die Kroaten hätten,
wie den Slowenen Unterpannoniens, so auch denen in Karantanien
staatliche Ordnung gebracht, mit andren Worten, Walluks «Wenden¬
mark* sei eine kroatische Schöpfung gewesen. In der Tat ist die
Herrschaft dieses Fürsten erst für eine Zeit bezeugt, die sich mit
unsrer Annahme ohneweiters verträgt Denn die Vernichtung der
Awarenmacht in Dalmatien fallt zwischen 626 und 641, während
Walluk erst für etwa 650 nachzuweisen ist 3 ).
Die Sichtung der kroatischen Wanderung setzt nun voraus, daß
sich zu Samos Zeit nicht nur die Karantaner die Unabhängigkeit
errangen haben, sondern ebenso auch die Slowenen von Untersteier
und Kram. Ohne deren Teilnahme am großen Freiheitskriege der
Slawen hätte sich ja fortan ein Keil awarischer Macht zwischen
Kroatien und Kärnten eingeschoben und wie ein Staudamm jedes
Abfließen kroatischen Volkstums nach Nordwesten gehindert Daß die
awarische Herrschaft um 630 auch unter den Slowenen an der Sawe
dahin gewesen sein muß, das wird man übrigens jetzt nach diesen
geschichtlichen Zeugnissen auch aus militärisch-geographischen Gründen
gern für selbstverständlich erklären. Denn es ist ganz undenkbar, daß
in einer Z 3 Ü, wo sich Slawen und Bulgaren im Westen, Süden und
Südosten gegen die Awaren erhoben, diese die Zeit und Kraft gefun den
hüten, sich mitten in diesem brandenden Völkermeer einen schmalen
*) Schafarik a. &. 0. H 8. 279. — Katalinich a. a. 0., II 8. 154 f.
•) Zahn, Ortanamenboch 8. 111, 113, 118.
•) Die Ereignisse von Fredega» cap. 72, des emsigen, in dem 1
die Bede ist, fidlen, wie Krosch bewiesen hat (vgL seine Ausgabe Mb4'
m. Meroving. II 8. 157 n. 3) in die Zeit des Kaisen Konstant JL (649
i
258 Ludmil Hauptmann.
Steg nach Italien zu retten, d. h. gerade Untersteiermark-Krain zu
behaupten.
Freilich kann dieses Gebiet nicht lange unabhängig geblieben
sein. Paulus Diaconus erzählt nämlich, um 663 habe der langobardische
König Grimoald gegen den Empörer Lupus von Friaul den Chagan
der Awaren zu Hilfe gerufen und dem sei es in einer viertätigen
Schlacht gelungen, die Friauler zu werfen und Lupus zu töten. Des
Ermordeten Sohn Amefrit sei dann zu den Karantanem geflohen, um
mit ihrer Unterstützung sein Herzogtum zurtickzuerobem*).
Auf den ersten Blick scheint diese Geschichte nicht die leiseste
Andeutung über die politische Stellung von Untersteiermark-Krain zu
enthalten; bei einiger Überlegung aber zeigt sich das Gegenteil. Denn
warum wandte sich Arnefrit nicht lieber an die Krainer als an die
Karantaner? Der Politik der Karantaner gab ja die Drau die Rich-
tung an und die wies nach Westen, gegen Bayern; mit Oberitalien
war die Berührung so schwach, daß der Langobarde Paulus Diaconus
wohl von lebhaften Kämpfen der Karantaner mit Bayern 2 ), aber nicht
mit seinen Landsleuten zu melden weiß. Das Gegenteil gilt von den
Kramern. Immer wieder stießen diese von den Höhen des Karstes
in so hellen Haufen bald als Freunde bald als Feinde nach Friaul vor 8 ),
daß Kram den Langobarden recht eigentlich als die „Heimat der
Slawen“ erschien 4 ). Gerade nach dem Tode des Lupus brachen sie
denn auch neuerdings in Oberitalien ein 6 ) und ließen seither ihre
südwestlichen Nachbarn am Po bis tief in das 8. Jahrhundert nicht
mehr zu Atem kommen. Warum wandte sich also Arneint nicht an
die Krainer, diese Erbfeinde der Langobarden?
Man kann das erst begreifen, wenn man, von Zeit und Ort ab¬
sehend, sich nur ans nackte Tatsachengerippe hält Dann schätzt
man: Ein landflüchtiger Fürst will sich von zwei Nachbarn einen als
Bundesgenossen gewinnen, um durch ihn wieder auf seinen Thron zu
gelangen. Während aber der eine der beiden bisher zum Lande des
Vertriebenen fast keine Beziehungen hatte und nach einer ganz andren
Richtung in Anspruch genommen war, liegt der zweite schon lange
auf der Lauer und wartet nur auf den Augenblick, um loszuschlagen.
Wen wird der Flüchtige wählen? Gewiß den zweiten, den ersten nur
*) Pauli diftconi Historia Langob. V cap. 18—22.
*) Ebenda IV cap. 7, 10, 39, V cap. 22.
•) Ebenda IV cap. 12, 20, 24, 28, 37 f.; V. cap. 17 ff., 23; VI cap. 24,
46, 51 f.
4 ) Ebenda VI cap. 52; in Camiolom, Sclavorum patriam; vgl. auch. cap. 51.
*) Ebenda V cap. 23.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
259
dann, wenn jener nicht zu haben. Das hieße aber, anf unsren Fall
tibertragen, Amefrit hätte sich an die Krainer wenden müssen. Wenn
er es nicht tat, so fehlte für ihn die Wahlfreiheit, so kamen für ihn von
Anfang an nur die Karantaner in Betracht Und warum? Ohne
Zweifel deshalb, weil — das lehrt der ungehinderte Marsch der Awaren
durch Untersteiermark-Krain im Jahre 663 x ) — die Slowenen an der
Sawe schon wieder den Awaren gehorchten und es von Amefrit daher
Wahnsinn gewesen wäre, zu denen zu fliehen, deren Herren soeben
seinen Vater getötet hatten.
Erst diese Feststellung beseitigt den Widerspruch, an dem bisher
die Darstellung der awarisch-slowenischen Geschichte litt Denn dar¬
aus, daß 610 der Chagan an der Spitze seines Heeres ungestört durch
Untersteiermark-Krain nach Oberitalien ziehen konnte, schloß man mit
Becht, dieses Gebiet habe damals unter awarischer Hoheit gestanden;
nur den haargleichen Tatbestand von 663 hielt man für nichtssagend
und erklärte die Krainer für frei, obwohl davon kein Wort in den
Quellen steht Will man also mit ihnen in Einklang bleiben, so muß
man bedingungslos anerkennen, daß die Slawen an der Sawe in der
zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts von neuem unter awarische Herr¬
schaft gerieten. Steht aber somit die politische Spaltung des sloweni¬
schen Volkes für diese Zeit fest, so wird man ihre leisen Anfänge,
eingedenk unsrer früher geographisch abgeleiteten Annahme 31 ), gern
noch weiter zurück, vor Samo, verlegen und sich sagen: nur deshalb
glückte es gerade in Kärnten, die awarische Herrschaft dauernd abzu-
schütteln, weil sie dank den geographisch-militärischen Vorzügen
Kärntens hier nie so fest gestanden hatte wie an der alten pannonisch-
friaulischen Heerstraße in Untersteiermark und Kram.
IIL Der Staat der Karantaner.
Der Sturz der awarischen Macht in Karantanien brachte den
dortigen Slawen mit der Unabhängigkeit nicht auch die Gleichheit,
sondern half nur einem neuen Stande, den Edlingem, in den Bang
der Herrenschicht empor. Aus vereinzelten Nachrichten über diese
Bevölkerungsklasse in Urbaren und Urkunden, dazu aus neun noch
beute gebräuchlichen Ortsnamen der Form Edling 8 ) geht hervor, „daß
*) Vgl oben 8. 268 n. 1.
*) VgL oben S. 243 f.
•) Jafoch, Über Ortsnamen und Ortsnamenforschung S. 36; Puntachart, Her-
zogseinsetzung und Huldigung in Kärnten S. 176ff.; Leseiak, Edling-Kanute (Car
rinthia I Jg. 163 8. 81).
260
Ladmil Hauptmann.
die Edlinger am dichtesten in jenen Gegenden siedelten, die den alten
Eroatengan ausmachten, also in jenem Gau, in dem die Huldigungs-
stätte, Kamburg und das Zollfeld, sowie die Orte Blasendorf und
Poggersdorf lagen, an denen der Herzogbauer sein Besitztum hatte.
Und es ergibt sich weiter, daß diese Gegenden ungefähr die Mitte des
Gebietes bilden, wo Edlinger in Kärnten saßen *)“.
Aus Zahns Ortsnamenbuch ersieht man, daß ein ähnlich auffälliger
Zusammenhang zwischen Kroaten- und Edlingersitzen auch in Steier¬
mark bestand. Bei Weiz stößt man auf ein Krowot und ein Edling,
bei Leibnitz erwähnt Zahn ein Kraubat und eine Gegend namens Ede¬
lingen, dem Chrawate bei Gonobitz entspricht in der Umgebung von
Cilli abgesehen von der Edlingergemeinde zu Tüchern ein Edling und
ein Kassasse, die slowenische Bezeichnung für Edling, und an das
Kraubat und Chrawat südwestlich von Leoben schließt sich Mur auf¬
wärts über Murau gar eine ganze Reihe von Gehöft-, Dorf- und Ge-
geudnamen, die auf eine Besiedlung durch Edlinger hinweisen.
Die Angehörigen dieses Standes waren freie slawische Bauern 2 ),
die ursprünglich auf eigenem Grunde, dem „Edeltum“, hausten. Allein
mit der Zeit erging es ihnen ebenso wie den Freibauern Oberösterreichs.
Diese ergaben sich bekanntlich an den Altar einer Kirche zum Pfennig¬
dienst oder erwählten sich mächtige Herren zu Vögten. Während aber
anfangs noch das Bewußtsein lebendig blieb, daß sie den dafür
gebührenden Dienst von ihrem Kopfe, nicht ihrem Grunde leisteten
entarteten später Altarzins und Yogtrecht zum Grundzins, sodaß nur
noch der Name „freies Eigen“ und die leichte Belastung des Gutes
davon zeugten, daß dort einst ein freier Mann auf freiem Boden gelebt
hatte 8 ). Ähnl ich hat man sich auch das Schicksal der Edlinger vor¬
zustellen. Denn obwohl sie schon im späteren Mittelalter meistens
nur Hintersassen waren, erinnerten doch selbst dann noch die stolze
Bezeichnung ihres Anwesens als Edeltum und die geringe Abgaben¬
pflicht, daß die Scholle, die sie bebauten, vor Zeiten ihr Eigentum
gewesen war 4 ).
Schon Puntschart empfand aber, daß das ursprüngliche Eigentums¬
recht am Besitze allein einen so hochtrabenden Titel wie Edlinger
nicht rechtfertigen könne. Er verfiel daher auf den Gedanken, ihn
*) Puntschart a. a. 0. 8. 179.
*) Ebenda S. 200 f.
*) Hauptmann, Über den Ursprung von Erbleihen in Österreich, Steiermark
und Kärnten 8. 50 (Forschungen zur Verfasmngs- und Verwaltungsgeschichte der
Steiermark 8. Bd.).
4 ) Puntschart a. a. 0. 8. 181 ff., 186.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
261
mit dem Ausdruck nobilis in Beziehung zu bringen. Dieser Name bedeutete
seit dem frühen Mittelalter im Allgemeinen den vollfreien Grundbesitzer,
der deshalb in den Urkunden bald als nobilis, bald als über oder mit
Verstärkung des Titels als nobilis et über erscheint 1 ) Als aber unter
dem Einflüsse des Lehenwesens der Gegensatz von frei und unfrei all¬
mählich verblaßte und sich die Gesellschaft dafür in einen Wehr- und
Nährstand zu spalten begann, ging die Standesbezeichnung nobiüs auf
die durch ein Kriegslehen zu Reiterdienst verpflichteten Mannen, die
Ritter im weitesten Sinne, über, gleichviel ob sie frei oder unfrei
waren*). Das .Steirische Landrecht* zählte denn auch selbst die
niederen unfreien Ritter zu den Edlen 8 ). .Angesichts dessen, meinte
Puntschart, dürfen wir annehmen, daß in der Bezeichnung von Bauern
als Edlinger ihr Waffenrecht zum Ausdruck kommen sollte* und mit
besonderer Befriedigung wies er daher auf die Pflicht der Edlinger hin,
die Burg zu verteidigen, zu der sie gehörten 4 ).
Leider tragt diese scheinbar so glückliche Beweisführung schon
den Gegenbeweis in sich. Denn nicht das Waffenrecht schlechtweg,
sondern nur die Ritterbürtigkeit berechtigte dazu, sich edel zu nennen;
ritterbürtig aber waren die Edlinger als Bauern nie. Das Grundwort
ihres Namens auf diese Art zu erklären, ist mithin nicht erlaubt oder
man müßte es für logisch halten zu schließen: A nennt man edel,
weil er ritterbürtig ist und B, weil er — es nicht ist
Vor Kurzem beschäftigte sich mit der Erklärung von .Edlinger*
auch Lessiak. • In seiner Abhandlung «Edling-Kazaze* wies er über¬
zeugend nach, daß der slowenische Name für Edlinger, Käses, aus einem
turkotatarischen quazaqu entstanden ist 6 ). Da aber dieses Wort noch
heute in verschiedenen türkischen Sprachen den Freien bedeutet, so
konnte es sich, sagt er treffend, von dieser Grundbedeutung aus sehr
wohl zur Bezeichnung einer bevorzugten Bevölkerungsschicht ent¬
wickeln; und in der Tat hat es diesen Weg eingeschlagen im Klein-
russischen, wo Kozak außer Kosak auch so viel wie Held, Frei¬
bauer besagt. In Anbetracht dessen, daß im früheren Mittelalter der
Vollfreie als edel galt, käme also der Sinn des Wortes Käses dem von
Edling .gleich, oder doch außerordentlich nahe* 6 ). Mit andren Worten,
*) Luschin, Österreichische Reichsgeschichte S. 230. — Huber-Dopsch, öster¬
reichische Reichsgeschichte 'S. 50.
*) Schröder, Deutsche Rechtsgeschichte S. 438 ff.
•) Zallinger, Die ritterlichen Klassen im Steirischen Landrecht (Mitteilungen
des Institutes für österreichische Geschichtsforschung IV S. 399 ff.).
4 ) Puntschart a. a. 0. 8. 197 f.
•) Lessiak a. a. 0. S. 87.
•) Ebenda S. 88.
18
262 Ludmil Hauptmann.
Lessiak faßt scheinbar .Edling* als die getreue Übersetzung von
Käses aut
Doch auch das ist nicht sehr wahrscheinlich. Denn nach bayrischen
Standesbegriffen zahlten von den Freien nicht alle zu den Edlen,
sondern nur die .Hochfreien“ und die waren Grundherrn 1 ). Die
Edlinger dagegen waren bescheidene Bauern, deren .Edeltum* nicht
einmal die Größe einer gewöhnlichen Untertanshube zu erreichen brauchte,
ja bei den Edlingem von Sagor nachweislich sogar nur die Hälfte davon
ausmachte a ). Hätten es die deutschen Zuwanderer als ihre Aufgabe
erachtet, gerade Käses im Sinne von Freibauer wörtlich zu übersetzen,
so wäre es ihnen wohl kaum eingefallen, dafür das Wort nobilis-edel
zu verwenden und es hier einem Kleinbauern beizulegen, da sie
doch von Haus aus gewohnt waren, es nur dem freien Grundherrn
vorzubehalten.
Daß auf diese Weise der Name Edlinger schwerlich entstanden
sein kann, bestätigt auch der lateinische Sprachgebrauch. In Urkunden
des 13. Jahrhunderts tauchen bisweilen Bauern auf unter den Namen
liberi und libertini. Während sich aber jene in den fünf überlieferten
Beispielen als minderfreie Hintersassen, sogenannte Freileute, zu
erkennen geben 8 ), verbergen sich unter diesen, den libertini, außer
Freileuten auch Bauern, die auf eigenem, frei verfügbarem Boden
lebten und ihre Besitzklagen vor herzoglichen Richtern erhoben 4 ),
alles Zeichen, daß sie freie Eigentümer waren. Da nun bei Johann
von Viktring der Edlinger, der den Herzog einsetzte, rpsticus libertus
hieß, libertus und libertinus aber gleichwertige Ausdrücke sind, so
kann man Puntschart nur beipflichten, wenn er in den auf Eigengrund
sitzenden libertini Edlinger vermutet. Dagegen wird man ihm nicht
beistimmen, wenn er in diesem Namen einen Bezug auf den angeblich
edlen Rang ihrer Träger erblicken will Denn — wir kommen wieder
auf unsre frühere Bemerkung zurück — es war gar nicht jeder Freie
ein Edler. Gewiß, libertus konnte den Hoch- oder Edelfreien
bedeuten — Puntschart führt selbst als Beweis eine Zeugenreihe an,
wo es heißt: .Testes Perhtold comes de Tierols, Hartwic de eodem,
Otto libertus, Adilbertus miles eins* 5 ), — allein in diesem Falle
*) Vgl. oben S. 261 n. 1.
*) Dimitz, Geschichte der Edlinger im Sägor (Mitteilungen des historischen
Vereines für Kr&in 1864 S. 16); Puntschart a. a. 0. S. 198.
•) Hauptmann, Die Freileute S. öff. (Carinthia I Jg. 100).
*) Mon. hist. duc. Car. II S. 83 n. 635 (1260), IV» S. 22 n. 1565 (1204),
S. 588 n. 2691 (1268).
*) Puntschart a. a. 0. S. 199 aus Zahn, Steir. UB. II n. 13 (c, 1170).
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
263
liat Otto nur deshalb als Edler zu gelten, weil er unfreie Bitter unter sich
hatte, also Lehens- und Grundherr war. Der libertus und libertinus
im Sinne von Edlinger war jedoch keines von beiden und gehörte
daher nicht zu den Edlen. Sein lateinischer Name spielte vielmehr
auf einen Niedrigeren als den Edelfreien an — nennen wir ihn den
Gemeinfreien.
Zur Bezeichnung mittelalterlicher Standesklassen gab es also
folgende lateinische Ausdrücke: Uber-libertus-libertinus schillerten in
der dreifachen Bedeutung von edel, gemeinfrei und minderfrei, nobilis
dagegen hieß eindeutig edel, nicht gemeinfrei Da nun Käses den
gemeinfreien Bauer bedeutete, so ist es jetzt wohl ohneweiters
klar, daß man zwar libertus und libertinus als Übersetzung von Käses
ansehen darf, das deutsche Edlinger jedoch auf ein anderes Wort
als Vorlage zurückführen muß.
Um diese verschollene Vorlage zu finden, knüpfen wir versuchs¬
weise an den Widerspruch an, der zwischen Lesiak und unseren früheren
Ausführungen zu bestehen scheint Lessiak halt die Edlinger für
turkotatarische Herrn der Alpenslawen 1 ;, wir aber möchten den
Karantanerstaat als eine kroatische Gründung hinstellen 8 ).
Da die gesellschaftliche Stellung und die Bräuche der Herzogs¬
einsetzung die Edlinger deutlich als ersten Stand im Lande kenn¬
zeichnen, so ließe sich ein Ausgleich zwischen Lessiak und uns nur
dadurch vermitteln, daß man sagt die Kroaten hätten den Karantaner¬
staat gegründet um — Turkotataren zu dienen. Allein diese Auf¬
fassung spricht so sehr jedem geschichtlichen Sinne Hohn, daß man
sich schließlich doch zu einem Entweder — Oder bequemen muß:
entweder waren die Edlinger wirklich Turkotataren, dann müssen alle
unsre Ausführungen über die Kroaten in Karantanien rundweg abge¬
leimt werden, oder unsre Darstellung ist richtig, dann gab es für
turkotatarische Herrn im freien Karantanien keinen Platz. Für das
Zweite, die ausschlaggebende Bedeutung der Kroaten, sprechen Orts¬
namen und Quellen, für das Erste nur die turkotatarische Herkunft
des Wortes Käses, eine Stütze, an sich sehr schwach, wenn man
bedenkt, daß es noch niemand eingefallen ist zu behaupten, weil
Vassall aus dem Keltischen stamme, seien die Vassallen des deutschen
Mittelalters als eine keltische Kriegerkaste zu betrachten. Es wird daher
mindestens gestattet sein, einmal vom Turkotatarentum der Edlinger
abzusehen und sie pro beweis 3 für Kroaten zu halten. Bald wird man
*) Lessiak a. &. 0. 8. 92.
*) Vgl. oben S. 267.
264
Ludmil Hauptraann.
gewahr, daß «sich dadurch Vieles mühelos erklären ließe, was bisher
in Dunkel gehüllt war. Man brauchte nicht mehr zu staunen,
warum sich die Edlingersitze gerade dort häuften, wo Kroaten ange¬
siedelt waren, man verstünde, warum die Huldigungsstätte im Kroaten¬
gau lag, wieso ein Edlinger dazukam, dem Herzog von Kärnten die
Herrschaft zu übertragen: ja. man begriffe, weshalb der Herzog zur
Einsetzungsfeier in Bauerntracht erschien. Die schlichte Tracht wäre
eben mit ein Zeichen, daß sich einst ip Kärnten kroatische Eroberer
zu bäuerlichem Leben niedergelassen und dem Staate, den sie
gegründet, einen ihresgleichen, mithin einen Bauer, zum Fürsten
gewählt hätten.
Unter solchen Umständen kann mau nicht mehr achtlos an
Gebräuchen vorübergehen, die bis in die neueste Zeit im alten Kern¬
lande der Kroaten, Dalmatien, in Übung waren und die gerade in
ihrem wesentlichen Inhalt mit der Kärntner Herzogseinsetzung über-
einstimmten. Denn auf dem klassischsten Boden der kroatischen
Geschichte, in der Nähe der längst verfallenen Königsstadt Bihal
wählten die Dörfler von Staro Selo noch bis ins 19. Jahrhundert aus
ihrer Mitte einen „kralj“, einen Bauernkönig, führten ihn darauf zur
Krönung auf den Hügel von Bihae und ließen sich von ihm schwören,
daß er ein gerechter Richter sein werde, Witwen und Waisen
beschützen wolle 1 ). Sollte man diese auffallende Übereinstimmung,
das BauemfÜrstentum, hier wie dort wirklich anders erklären, als durch
den einfachen Hinweis auf jene zweite Übereinstimmung, daß eben
hier und dort Kroaten wohnten? Der letzte Rest von Argwohn gegen
die Ableitung der karantanischen Edlinger aus kroatischen Eroberern
aber schwindet, wenn man sieht, daß sich unter dieser Voraussetzung
auch das Rätsel der Entstehung des Namens Edlinger löst Denn
»plemeniti ljudi* d. i. Edlinger, nannten sich in Dalmatien die Ange¬
hörigen des herrschenden Stammes*) und Edlinger hießen die Herren
wiederum auch in Kärnten. Die dritte, wohl überzeugendste Überein¬
stimmung ist damit gefunden.
Der Name Edlinger muß daher in Kärnten so entstanden sein,
daß im Gegensätze zum Karantaner, der als Awarenknecht seine neuen
Herrn mit dem turkotatarischen Lehnwort Käses begrüßte, der Deutsche
ihren Titel wörtlich übersetzte und sie Edlinger nannte. Kroate und
*) Milinovic, Hrvatske uspomene u Dalmaciji (Vienac 1873, S. 219 f.). —
KrzaniÖ und Bara£, V koljevci hrvatske povjesnice S. öl f. — Vgl. auch Die
österreichisch-ungarische Monarchie Bd. Dalmatien S. 162—164.
*) Klaiö, Hrvatska plemena od XII. do XVI. stoljeda. Rad jugoslavenske akademije.
Bd. 130, 8.13 ff. — Raöki, Hrvatska prije XII. vieka (Rad jugoslav.akad. 67, 8.134).
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
265
Edlinger waren ursprünglich dasselbe. Erst mit der Zeit verwischte
sich diese Beziehung, da auch andere, selbst Deutsche, in den Edlinger¬
rang aufsteigen konnten *) und außerdem das an Zahl schwache kroatische
Herrenvolk in den slowenischen Massen aufging. Mit ihm verschwand
aber auch das „plemeniti ljudi“, es erstickte in dem viel gebräuch¬
licheren Käses. Nur in * Edlinger* klang noch Jahrhunderte später
das kroatische Urwort nach, frei lieh ohne daß sich die Deutschen dessen
noch bewußt gewesen wären. Denn was sie bewog, gedankenlos von
unedlen «Edlingem* zu reden, war einzig und allein die abstumpfende
Macht der Überlieferung; wo diese fehlte, wo ihnen, wie im Lateinischen,
die Wahl des Wortes noch freistand, hatten sie für den Edlirger nur
die Bezeichnung gemeinfrei-libertus übrig.
Man kann diese Erörterungen nicht beschließen, ohne eines über¬
raschenden Gegenstückes in Ostrußland zu gedenken. Wie man im
neuen «Akademischen Wörterbuch der russischen Sprache* unter dem
Titel «knjaz* nachlesen kann und wie mir Herr Prof, Nachtigall auf
Grund eigener Erfahrung bestätigt, wird nämlich der Wolgatatar noch
heute von den Bussen „knjaz* (Fürst) genannt, obwohl er seinem Be¬
rufe nach nur Bauer, Händler, wenn nicht gar bloß Fuhrmann oder
Hausierer ist Ein schwacher Schimmer jener glanzvollen Tage, da
seine Vorfahren als Herren in Bußland schalteten, liegt eben noch
heute auf ihm, selbst wenn er nur als Hausierer umherzieht Ebenso
wenig wie einst der Nachkomme der kroatischen Eroberer Kärntens,
unterscheidet sich also heute der Tatar Ostrußlands wirtschaftlich von
seinen Nachbarn und trotzdem hier wie dort dieselbe Erscheinung: um
seiuer ehemaligen Herrnstellung willen nannte man jenen «Edlinger*,
heißt dieser «Fürst*.
An der wichtigen Bolle, welche die kroatischen Edlinger in der
Entstehungsgeschichte des Karantanerstaates spielten, kann man nun
auch die politische Ohnmacht des slowenischen Volkes ermessen.
Denn man bedenke: 629 waren die Alpenslawen der awarischen
Herrschaft ledig, 631 wurden sie im Aufträge Dagoberts schon von
den Langobarden besiegt, zum Teil wahrscheinlich auch unterjocht,
um 650 aber saßen bereits Kroaten unter ihnen und legten ihnen
den Grund zu staatlichem Leben und Selbständigkeit Sucht man sich
die Abfolge dieser Ereignisse zu deuten, so ist man fast überzeugt
die Slowenen hätten sich, unfähig ihre Freiheit aus eigener Kraft zu
behaupten, die Kroaten als Schützer und Ordner ins Land gerufen,
oder wenigstens willig bei sich auf genommen, ähnlich wie später die
*) Zahn, ürkundenbuch f. Steiermark II S. 493.
266
Ludmil Hauptmann.
Basischen Slawen den Stamm der Bulgaren x ) oder die Bossen aben¬
teuernde Waräger zu Herrn annahmen. Politische, staatserhaltende
Kraft war den Slowenen unter dem Druck der awarischen Herrschaft
abhanden gekommen, erst die Einwanderung des politisch begabten
kroatischen Kriegerstammes hat den Karantanem jene Unabhängigkeit
verschafft, deren sie sich bis zu den großen Umwälzungen des 8. Jahr¬
hunderts erfreuten.
IV. Die Begründung der bayrisch-fränkischen Herrschaft
Die Conversio erzählt im vierten Kapitel, um die Mitte des
8. Jahrhunderts hätten die Awaren neuerdings begonnen, Karantanien
zu bedrängen. Auf das Hilfsgesuch des Slowenenf&rsten Borat seien die
Bayern herbeigeeilt und hätten die Awaren verjagt, dafür aber sich
„die Karantaner und ihre Nachbaren (confines eorum)* unterworfen.
Da man in confines die Krainer erblicken will *), diese jedoch, wie wir
oben dargetan haben, bis dahin den Awaren untertan waren, so hätten
wir den Sieg der Bayern als das Ende der Awarenherrschaft über
Krain zu betrachten. Allein, wer sagt, daß confines richtig gedeutet
ist? Man konnte das schon aus militärischen Gründen bezweifeln.
Denn es ist doch wahrscheinlich, daß die Awaren nach ihrer Nieder¬
lage nicht über die südlichen Gebirge, sondern längs der Drau aus
Kärnten geflohen seien. In diesem Falle stand ihnen die alte Bomer-
straße am linken Drauufer zur Verfügung. Wenn, was naheliegt,
die siegreichen Bayern ihnen nachsetzten, so kamen diese daher nicht
nach Krain, sondern nach Steiermark nördlich der Drau und es wäre
dann sehr begreiflich, daß die Bayern bei dieser Gelegenheit die Slawen
Mittelsteiermarks unter ihre Botmäßigkeit gebracht hätten.
Wirklich braucht man von Kapitel 4 der Conversio nur um
wenige Zeilen zurückzugreifen, um diese Vermutung gerechtfertigt zu
sehen. Dort staht nämlich: „Wir kommen jetzt darauf zu sprechen,
wie die sogenannten Karantaner und ihre Nachbarn im
heiligen Glauben unterrichtet und bekehrt worden sind“ *).
Wenn hier der Salzburger Schreiber ankündigt, er wolle erzählen,
wie sein Bistum „die Karantaner und ihre Nachbarn“ fürs Christen¬
tum gewonnen habe und wenn derselbe Schreiber gleich darauf unter
dieser Überschrift kurz berichtet, wie die Bayern vorher erst die
„Karantaner und ihre Nachbarn“ unterwerfen mußten, so ist daraus
t) Niederle, Slovanakö staroZitnosti II S. 407.
*) Koe a. a. 0. S. 263 A. 3. — Niederle a. a. 0. II S. 343.
*) Conversio cap. 3.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
267
doch nicht nur klar, daß beidemale mit confines dieselben Nachbarn
gemeint sind, sondern auch, wo man sie zu suchen hat Denn außer
im engsten Karantanien, in Kärnten, haben Salzburger Glaubensboten
nur in Steiermark und Unterpannonien nördlich der Drau gewirkt 1 ),
nur hier können also die confines gewohnt haben. Daran zu zweifeln,
ist umso weniger gestattet, als eine andere Stelle der Conversio in
der Tat ausdrücklich auf die „Nachbarn der Karantaner nördlich
der Drau bis zu ihrer Mündung in die Donau“ *) hinweist.
Da aber Westungam noch bis auf Karl den Großen den Awaren
gehörte, so verengt sich das Gebiet, das die Bayern ihnen um 750
entrissen haben sollen, schließlich noch mehr und es bleibt für die
damals befreiten „Nachbarn der Karantaner“ nur ungefähr Mittel¬
steiermark übrig, d. h. mehr oder weniger ausschließlich der Dud-
lebengau.
Untersteiermark und Krain allerdings behielten die Awaren auch
weiterhin in ihrem Besitze. Man darf das behaupten nicht etwa bloß
im Vertrauen darauf, daß ein Gegenbeweis aus den Quellen unmöglich
ist, sondern weil die Umstände, die Tassilos Sturz begleiteten, es in
nicht mißverständlicher Weise bezeugen. Von fränkischer Seite erfahrt
man nämlich, daß damals die dem Bayemherzoge verbündeten Awaren
in Friaul einfielen 8 ). Da man dabei so wenig wie 610 und 663
von einem Widerstande der Slowenen an der Sawe hört, obwohl der
Weg die Awaren gerade durch deren Land geführt haben muß, so ist
es nur ein Gebot folgerichtiger Quellenbehandlung, wenn man erklärt,
auch 788 seien die Krainer den Awaren noch untertänig gewesen.
Diese Auffassung stützt sich übrigens auch auf andere kaum weniger
starke Belege, so vor allem auf die Quellenberichte über den ersten
Feldzug Karls des Großen gegen die Awaren. Darin heißt es, „das
Heer, das Pippin seinem Vater zur Unterstützung geschickt, sei in
Illyrien eingerückt [und von dort nach Pannonien gezogen] und
habe gleich dem Heere Karls alles mit Feuer und Schwert verheert“ 4 ).
Dadurch sei es gelungen, „in jenen Gegenden die Grenzen zu
sichern“ 6 ).
i) Conversio cap. 5—8. Mühlbacher, Regesten der Karolinger n. 461.
*) Conversio cap. 8. Dazu Pirchegger, Karantanien und Unterpannonien zur
Karolingerzeit. Mitteilungen d's Instituts für österreichische Geschichtsforschung
33. Bd., S. 296.
9 ) Annales Einhardi ad 788.
<) Annales Laureshamenses ad a. 791.
*) Mon. Germ. Epist. IV 32 ep. 7 (Alcuini.
268
Ludmil Hauptmann.
Nach allem, was über den verkehrsgeographischen Zusammenhang
Westungams mit Oberitalien feststeht, kann unter Illyrien in dem Fall
nur das Slowenenland an der Sawe zu verstehen sein. Nur in
Feindesland aber * rückt man ein". Halt man daher zu dieser auf¬
fälligen Ausdrucks weise wiederum die früher erwähnte Nachricht, daß
die Awaren 788 als Tassilos Bacher in Friaul oder, wie eine andere
Quelle sagt 1 ), in Italien eingefallen seien, so ist es wohl nicht zu
bezweifeln, wo fränkischer Boden aufhörte und Feindesland begann.
Nur Italien war fränkisch, Illyrien, unser Kraiß noch awarisch.
Zu demselben Ergebnisse kommt man schließlich auch, wenn man
die Nachrichten über die kirchliche Ordnung im neu unterworfenen
Awarenlande sammelt Aus ihnen eifahrt man folgendes:
Als Erich von Friaul 795 durch einen kühnen Vorstoß gegen die
Theiß die awarische Macht vernichtet und den Häuptling erobert
hatte, sandte Karl im Jahre darauf seinen Sohn Pippin von Italien
mit einem Heere nach Ungarn, um die letzten Funken des Wider¬
standes auszutreten. Da aber Erich seine Arbeit so gründlich getan
hatte, daß sich die Franken bei der endgiltigen Besitznahme keiner
ernstlichen Hindernisse mehr versahen, so war es Karls Plan, bei
dieser Gelegenheit auch sofort die kirchlichen Verhältnisse zu regeln,
damit das Bekehrungswerk unverzüglich beginne. In erst* Linie
kamen dafür Arno von Salzburg und der gefeierte Patriarch von Aquileia,
Paulin, in Betracht. Alkuin wandte sich daher sogleich mit der Auf¬
forderung an sie, in den neugewonnenen Gebieten das Christentum zu
verbreiten 2 ). Weil jedoch Paulin zwei Briefe unbeantwortet ließ,
mahnte ihn Alkuin in einem dritten Schreiben besonders eindringlich
an seine Christenpflicht und stellte ihm vor, daß „aller Augen auf ihn
gerichtet seien, um zu sehen, was er tun werde“. Denn „seine Weis¬
heit, sein hohes Ansehen und außerdem noch die Nähe des
Heidenlandes“, all das scheine ihn für diese Aufgabe geradezu
vorherbestimmt zu haben 8 ).
In dar Tat ließ sich Paulin dadurch bewegen, mit Arno in Pippins
Gefolge nach Ungarn zu gehen. Dort vereinbarten beide Kirchen¬
fürsten in gemeinsamer Beratung mit anderen Bischöfen die allge¬
meinen Grundsätze, nach denen sie die Bekehrung durchführen
wollten 4 ), dann zogen sie unter dem Schutze des Heeres wieder heim,
*) Mon. Germ. Epist. IV 528 n. 20 (Karl der Große an Faatrada).
•) Mon. Germ. Epist. IV 143 ep. 99 und 153 ep. 107.
3 ) Mon. Germ. Epiat. IV 143 ep. 99.
4 ) Giannoni, Paulinus IL, Patriarch von Aquileia S. 43. — Jaffö, Bibliotheca
rerum Germanica rum VI S. 311—318.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
269
unterwegs »aber, so heißt es in der Conversio, gab Pippin an Arno
Unterpannonien zwischen Raab, Donau und Drau zur Mission 1 ).
Nach der bisherigen Ansicht hatte damit Salzburg alles erhalten,
was durch den siegreichen Feldzug Erichs dem fränkischen Reiche
ein verleibt worden war. Da es jedoch sicher ist, daß man gerade
Paulin besonders bestürmt hatte, an der Bekehrung mitzuwirken,
und er diesem Drängen schließlich auch nachgegeben hatte, so bliebe
nichts übrig als zu glauben, man hätte ihn zuerst unter großen
Versprechungen nach Ungarn gelockt, dann aber mit leeren Händen
wieder zurückgeschickt. Allein das widerspricht durchaus der Bolle,
die Paulin am karolingischen Hofe spielte 2 ). Es ist daher viel
einfacher und richtiger, ohne Hintergedanken anzunehmen, daß auch
er seinen Anteil an dem eben gewonnenen Awarenlande bekommen
habe. Nur muß man dann dieses weiter fassen, als es bisher
geschehen ist. Denn da Unterpannonien nördlich der Drau an Salz¬
burg fiel, war in Ungarn für Aquileia überhaupt nichts mehr frei,
d. h. das an Paulin gediehene Stück des Awarenlandes muß außerhalb
Ungarns gelegen haben. Es gibt aber nur ein Gebiet, das Erich auf
seinem Marsche von Friaul nach Pannonien unterworfen haben kann
und das zugleich später tatsächlich unter der kirchlichen Hoheit von
Aquileia erscheint: das ist das Land an der alten Bömerstraße, Unter¬
steier und Krain. Von diesen Gegenden durfte Alkuin mit Becht
sagen, daß Paulin schon wegen ihrer Nahe berufen sei, sie zu
bekehren.
Die Befreiung der Slowenen vom awarischen Joche war also in
drei Abschnitten erfolgt: zwischen 623 und 629 hatten die Karan-
taner, Samos Siege ausnützend, ihr Land von den Awaren gesäubert,
um 750 entrissen dann diesen die Bayern Steiermark nördlich der
Drau und 795 brach endlich Erich ihre Macht auch iu Untersteier
und Krain. Seither waren alle Alpenslawen unter fränkischer Herr¬
schaft vereint
V. Die karolingische Ordnung.
Durch die Vernichtung des awarischen Reiches hatte Karl der
Große die Pflicht unternommen, für eine neue Ordnung der Dinge im
Osten zu sorgen. Der Jahrhunderte alte Haß der Slawen gegen ihre
awarischen Peiniger war durch die Siege der Franken zu blutigen
Taten entfesselt worden und drohte, die Donauländer auf lange Zeit
J ) Conversio cap. 6.
s ) Gi&nnoni a. a. 0. passim.
270
Ladmil Hauptmann.
zum Schauplatz wüster Kämpfe zu machen* Um dies nach Möglichkeit
zu verhindern, wies Karl der Große den Besten der Awaren eigene
Banngebiete an, wo sie unter sich nach ihrer Vät9r Art leben sollten*
So siedelte er den Kapkan Theodor mit seinen Leuten zwischen
Petronell und Steinamanger an 1 * * ). Allein es erging den Awaren wie
den Indianern in den Reservationen Nordamerikas 8 ). Der Kolonisten¬
strom machte an der Grenze ihrer Weidegründe nicht Halt und wenn
sie sich auch zuweilen in verzweifelten Aufständen gegen die bayrische
slawischen Einwanderer erhoben 8 ), ändern konnten sie ihr Schicksal
nicht mehr, die alte Nomadenherrlichkeit war vorbei.
Daß sich aber diese Entwicklung ohne nachhaltige innere Wirren
vollzog, die raubgierigen Nachbarn den Anlaß zu Einfällen hätten
liefern können, das war der straffen Markenverfassung Karls des Großen
zu danken. Leider sind über sie die Quellen so verschwiegen, daß
seit jeher den verschiedensten Vermutungen Tür und Tor offen stand.
Man erkannte wohl, daß Karl das weite Gebiet zwischen Friaul und
der Donau in zwei Verwaltungssprengel zerschlagen und den einen
dem Grenzgrafen au der Donau, den anderen dem von Friaul zugeteilt
hatte, aber wie die Grenze verlaufen sein mag, darüber gingen die
Meinungen wirr durcheinander. Dümmler glaubte, der Friauler habe
ganz Karantanien und Unterpannonien in seiner Obhut gehabt, andere
dagegen nahm en den Lauf der Drau als Grenze der beiden Amts¬
bezirke an 4 ). Dieser Ansicht schloß sich jüngst auch Pirchegger an.
Sein Verdienst ist es, endgiltig dargetan zu haben, daß keine dar
Marken das ganze Volk der Karantaner beherbergte, sondern daß gerade
ihr Land durch die karolingische Ordnung entzweigeschnitten wurde 5 ).
Nur darf man nicht vergessen, daß mit der Teilung noch lange nicht
die Draugrenze bewiesen ist Dafür bringt Pirchegger nur eineu Beleg —
es fragt sich, ob er genügt
Während der Kämpfe der Franken gegen Liudewit, den Fürsten
des kroatischen Zwischenstromlandes, unterwarfen sich, wie die frän¬
kischen Reich sannalen melden, dem Markgrafen Balder ich von Friaul
die Krainer und ein Teil der Karantaner, der zu Liudewib abgefallen
war 6 * ). Pirchegger erblickt in diesen Karantanem untersteirische
i) Annaies regni Francorum ad a. 805.
*) Marquart, Osteuropäische und ostasiatische Streifzüge S. XIX.
*) Annaies regni Francorum ed a. 811.
4 ) Die verschiedenen Ansichten zusammengestellt bei Pirchegger a. a. 0.
8. 274 n. 6.
*) Pirchegger a. a. 0. S. 275 ff.
•) Annaies regni Francoru n ad a. 820.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
271
Slowenen 1 ) und glaubt daher, daß die Drau die Nordgrenze des
Friauler Sprengels gewesen sei *). Indessen, verträgt sich dieser Schluß
mit der Darstellung der Quelle? Wir lassen sie im Auszuge folgen:
I. (Zum Jahre 819). „Als Balderich in das seiner Leitung unter¬
stellte Land der Karantaner einmarschiert war, kam ihm dort das Heer
Liudewits entgegen. Er griff es mit einer kleinen Schaar an, während
es längs der Drau vorrückte, fügte ihm schwere Verluste zu und
veijagte es aus jenem Lande* *).
II. (Zum Jahre 821). „Als der Winter vorüber war . . . schickte man
drei Heere gegen Liudewit Das eine zog von Italien über die Julischen
Alpen, das andere durch Karantanien, das dritte durch Bayern und
Oberpannonien . . . Das mittlere, das durch Karantanien vordrang, war
vom Glücke begünstigt, obwohl es an drei Orten mit den Feinden
zusanimenstieß. Denn, nachdem es die Gegner alle drei Male in die
Flucht geschlagen und die Drau überschritten hatte, kam es
rascher an den vereinbarten Sammelplatz als die beiden anderen
Heere . . . Als die Truppen zurückkehrten, unterwarfen sich Balderich
die Nachbarn der Friauler, die Krainer, die an der Sawe wohnen.
Dasselbe tat dann auch der Teil der Karantaner, der von uns
zu Liudewit abgefallen war* 4 ).
Nach I sprechen militärische Erwägungen gegen die Drau als
Nordgrenze eines Karantaner Bezirkes, der zu Friaul gehört habe.
Die Hauptstadt Liudewits war Sissek an der Kulpa 5 ); schon damals
und nicht erst unter Braslav zu Ende des 9. Jahrhunderts muß also
das Herz des Kroatenstaates der Flußwinkel zwischen der Sawe, Kulpa
und Odra gewesen sein. Eilt man aber dann untersteirischen
Bundesgenossen nach Nordwesten an die Drau zu Hilfe, wenn sie
einen Angriff von Süden über die Sawe erwarten? Das wäre —
um es durch einen Vergleich im Großen besser zu veranschaulichen —
ungefähr so, wie wenn uns in einem Kriege mit Italien Rumänien
seine Truppen nach Schlesien schickte. Aus I ist daher die Draugrenze
nicht zu beweisen. Ebenso wenig aber auch aus EL Denn die ab¬
trünnigen Karantaner kämpften ja gegen die Franken nördlich der
Drau. Schließlich muß man sich sagen, daß die Drau als Grenze
geradezu unmöglich ist Man braucht das nicht einmal damit zu
begründen, daß in Kärnten doch die Karnischen Alpen und Karawanken
*) Pirchegger a. a. 0. S. 275.
*) Ebenda 8. 276 ff.
*) Annales regni Francoruin ad a. 819.
4 ) Ebenda ad a. 821.
•) Ebenda ad a. 822.
272
Ladmil Hauptmann.
die natürliche politische Scheide gegen die Mark Friaul gewesen wären.
Entscheidend ist vielmehr folgendes: Yon Borut, Gorazd, Hotimir und
Waltunk empfangt man aus den Quellen immer den Eindruck, daß sie
ganz Karantanien beherrschten *). Dasselbe gilt für Pabo, den deutschen
Nachfolger der slowenischen Volksherzoge, der etwa 844—861 regierte *).
Nur in der Zwischenzeit sei also Karantanien in eine Nord- und Süd-
hälffce zerfallen? Wie hätte aber dann vernünftiger Weise Kaiser
Ludwig bei der Reichsteilung von 817 erklären können, er überlasse
Ludwig unter anderm „die Karantaner“ 8 ), wenn er doch zugleich
durch denselben Vertrag die ganze Südhälfte Karantaniens Lothar zuge¬
wiesen haben soll? Außerdem ist noch etwas zu bedenken. Ohne
Kampf waren die Slowenen beim Sturze Tassilos unter die fränkische
Herrschaft geraten und so treu halfen sie fortan Karl in den Kämpfen
gegen die Awaren, daß man ihnen ruhig ihre heimischen Herrscher
beließ und später deren deutsche Nachfolger verhielt, sogar die alt¬
slowenische Einsetzungsfeier in aller Umständlichkeit über sich ergehen
zu lassen. Während man so auf der einen Seite die Eigenliebe des
slowenischen Volkes sorgfältig schonte, wird man sie doch nicht auf
der anderen durch die Zertrümmerung seines Staates mutwillig verletzt
haben. Kurzum, man begreift, nach der Drau kann das Ostland nicht
aufgeteilt worden sein. Wie sonst?
„Als (827) die Bulgaren drauaufwärts zogen und die in Pannonien
sitzenden Slawen mit Feuer und Schwert heimsuchten, vertrieben sie deren
Fürsten und setzten an ihre Stelle bulgarische“ 4 ). Im folgenden Jahre
„wurde deswegen Herzog Balderich von Friaul abgesetzt, da wegen
seiner Untätigkeit das Heer der Bulgaren Oberpannonien (richtig:
Unterpannonien) ungestraft verwüstet hatte“ 5 ).
Daß sich die Bulgaren bei ihrer Plünderung auf das rechte Drau-
ufer beschränkt hätten, ist nicht anzunehmen. Aber selbst in diesem
Falle hätte der Vorwurf der Untätigkeit mindestens ebenso den Grenz¬
grafen an der Donau getroffen, wenn sein Gebiet wirklich bis zur
Dran gereicht hätte. So geht schon aus dieser Stelle hervor, daß sich
die Mark Friaul noch über diesen Strom nach Westungarn
erstreckt haben muß.
*) Converaio cap. 4f.
*) Kämmel, Anfänge des deutschen Lebens in Österreich S. 215. — Pirchegger
a. a. 0. 8. 277.
•) Mon. Germ. LL. I 8. 198.
«) Annales regni Francorum ad a. 827.
*) Ebenda ad a. 828.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
273
Das ist auch sehr einleuchtend; einmal deshalb, weil Westungarn
durch Erich und Pippin von Friaul aus unterworfen war und dann
besonders darum, weil Earl der Große durch eine solche Gebietsord¬
nung nur dem alten, uns wohlbekannten Naturzwang Rechnung trug,
der schon seit Jahrhunderten Westungam, Untersteiermark und Krain
als feste geographische Einheit zusammengehalten hatte. Es erübrigt
daher bloß, innerhalb dieses ausgedehnteu Gebietes die Sitze jener
Karantaner festzustellen, über die Markgraf Balderich von Friaul
geherrscht haben solL Das gelingt ohneweiters, wenn man an der
Hand der Conversio verfolgt, wie der Name Karantaner allmählich
einen immer weiteren Sinn bekam.
Noch für die Zeit vor 750 zahlte nämlich die Conversio die
mittelsteirischen Slowenen nicht zu den Karantanera 1 ); bei der Dar¬
stellung der Awarenkriege Earls des Großen dagegen faßte sie unter
diesem Namen schon beide Gruppen der Alpenslawen zusammen 8 ). Sie
durfte das mit gutem Grunde tun, weil in der Zwischenzeit infolge
der Vereinigung Mittelsteiermarks mit Karantanien 8 ) die Bezeichnung
des Eemgebietes auch auf das Nebenland batte übergehen können. Da
nun die Slowenen, die nach dem Ende des Awarenreiches das ent¬
völkerte Westungarn besiedelten, offenbar aus diesem Neukarantanien
einwanderten, so darf man sich nicht wundem, in dem Excerptum de
Karentanis schließlich auch die westungarischen Slowenen Karantaner
genannt zu sehen 4 ). Ihnen war eben ihr Name aus der alten Heimat
in ihre neuen Sitze nachgefolgt Die Untersteirer, zum mindesten die
südlichen, hießen dagegen noch zu Liudewits Zeiten ganz anders. Sie
waren bis dahin immer von den Karantanem getrennt gewesen, hatten
dafür aber mit den Slowenen im heutigen Krain stets in innigster
Beziehung gelebt 6 ). Die Folge davon war, daß man die Slowenen
zu beiden Seiten der Sawe, d. h. in Krain und der südlichen Unter¬
steiermark als ein Volk, als Krainer bezeichnete 6 ). Wie KumSic im
*) Conversio cap. 4: dazu die Bemerkungen über die Bedeutung von confme»
oben S. 266 t
*) Ebenda cap. 3: quousque Franci ac Bago&rii cum Quarantanis con-
tinuis affligendo belüs eos (sc. Hunos) superaverunt. Quarant&ni sind hier ganz
allgemein die durch Tassilos Sturz unter fränkische Hoheit gekommenen Alpen -
slawen, also die eigentlichen Karantaner und die noch von den Bayern dazuge¬
wonnenen Bewohner des steirischen Vorlandes im Osten von Kärnten; vgl.
oben 8. 266 f .
•) Vgl oben 8. 267.
*) Mon. Germ. SS. XI S. 16; dazu Pirchegger a. a. 0. S. 298 f.
*) Vgl oben S. 267 ff.
•) Annales regni Franc, ad a. 820: Camiolenses, qui circa Savum fluvium
habitant.
274
Ludmil Hauptmann.
Zbornik Slovenske Malice I S. 97 mitteilt, schreibt Stanko Vraz noch
1838 an Safafik, daß «schon gewöhnlich die Bewohner des Gillier Kreises
Krajnci genannt werden“. Sporen dieses Sprachgebrauches lassen sich
auch in alten untersteierischen Gegendnamen ohneweiteres erkennen.
Denn Kraintsche östlich von Cilli, für das man im 15. Jahrhundert
«in der Krain“ sagte, Kraina nördlich von Bann und Krajina, südlich
des Gonobitzer Berges 1 ) gemahnen auch den Laien lebhaft genug an das
bekannte Wort Chreina, das in den ältesten Urkunden als die slawische
Bezeichnung für Krain auftritt 8 ). Wenn daher die fränkischen Beichs-
annalen melden, Balderich von Friaul habe ein Gebiet der Karantaner
beherrscht, so bezieht sich das unmöglich auf Untersteiermark, sondern
nur auf das slawische Kolonialland in Unterpannonien nördlich der Drau.
Dann und nur dann ist es aber auch verständlich, warum Liudewit seinen
karantanischen Bundesgenossen an die Drau zu Hilfe zog und diese
die Franken gerade an der Drau erwarteten. Denn hier war die Süd¬
grenze ihres Gebietes.
Die politische Ordnung im Osten war demnach die, daß Karan-
tanien im engeren Sinne mit Oberpannonien verbunden war, während
Unterpannonien nördlich der Drau, mit Krain durch Untersteier und
allenfalls das westkroatische, von Slowenen bewohnte Zagorjancr Berg¬
land zusammenhängend, unmittelbar Balderich gehorchte; und unter
dessen Leitung stand auch Liudewits Staat in der weiten Mulde
von Sissek.
Diese Auffassung gewinnt noch dadurch an Wert, daß man durch sie
endlich auch die Entscheidung Karl des Großen von 811 über den
Grenzstreit zwischen Aquileia und Salzburg richtig verstehen lernt.
Wer immer bisher die Ansicht verfocht, die karolingischen Marken
hätten sich an der Drau berührt, der ließ es sich nicht nehmen, mit
einem Seitenblick auf die Urkunde von 811 zu betonen, daß sich im
Frankenreiche öfter die politischen und kirchlichen Grenzen deckten.
Wenn man daher aus Karls Verfügung erfahre, die Drau habe die
Sprengel von Aquileia und Salzburg geschieden, so sei es nur methodisch
anzunehmen, daß auch für die beiden Marken dieselbe Grenzlinie
gegolten habe 8 ). Da man nun aus der Conversio wußte, daß 796
*) Zahn, Ortsnamenbuch 8. 112. — Trstenjak, Weriand de Graz (nach einer
Besprechung Rntars in Z?on Bd. 6 8. 46.
*) Mon. Germ. Dipl. II S. 56 n. 47 und Font. rer. austr. Dipl. 31 8. 36 n. 37
(973): Camiola — quod vulgo Creina marcha appellatur.
9 ) Krones, Handbuch der Geschichte Österreichs 1, 274. Hasenöhrl, Deutsch¬
lands südöstliche Marken im 10., 11. und 12. Jahrh. Archiv für österreichische
Geschichte 82, 533. Giannoni, Paulinus IL, Patriarch von Aquileja 8. 60. Werunsky,
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
275
Pippin das eben eroberte Westnngam nördlich der Drau an Salz¬
burg gegeben hatte 1 ), so hielt man es für sehr wahrscheinlich, daß
dieser Fluß schon damals als Grenze zwischen beiden Kirchen bestimmt
worden sei und meinte, die etwas später erfolgte politische Ordnung
habe sich infolgedessen hier nur an die schon vorhandene kirchliche
Einteilung angelehnt Das bedeutet aber für die Urkunde von 811,
daß Karl der Große die Diözesanbezirke Salzburgs und Aquileias nicht
erst damals nach der Drau voneinander getrennt habe, sondern
daß sein Urteil nur die alte Grenze gegenüber den Anfechtungen
Aquileias feierlich habe bestätigen sollen. Im Eifer der Logik
bedachte man jedoch nicht, daß gerade Karls Schiedspruch von 811
zu solchen Vermutungen am wenigsten Anlaß gibt
Dort wird erzählt, daß Erzbischof Arno und der Nachfolger des
Patriarchen Paulin von Aquileia, Ursus, vor Karl erschienen seien, um
ihn entscheiden zu lassen, zu welcher Diözese Karantanien von rechts-
wegen gehöre. Ursus gab nämlich vor, ein altes Recht darauf zu
haben, weil Karantanien vor dem Einbruch der Langobarden in Italien
von Aquileia abhängig gewesen sei; Arno dagegen berief sich auf
Verordnungen einiger Päpste, die jenes Land zu Salzburg geschlagen
hätten. Dann heißt es wörtlich:
„Um die beiden Kirchenfürsten miteinander zu versöhnen und
für alle Zukunft ihnen und ihren Nachfolgern jeden Grund zu Streitig¬
keiten zu nehmen, geruhten wir (Karl), nach gründlicher Behandlung
ihres Falles die genannte Provinz Karantanien so unter sie zu teilen,
daß die Drau, die mitten durch jenes Gebiet fließt, die Grenze zwischen
beiden Sprengeln sei — Zugleich . . . befehlen und gebieten wir, daß
die hier anwesenden verehrungswürdigen Männer Maxentius, der erst
kürzlich der Nachfolger des Patriarchen Ursus geworden ist, und Arno,
der Erzbischof von Salzburg, in dieser Sache nie mehr eine Klage
erheben, sondern zufrieden sein sollen mit dem Urteil, das wir nach
Recht und Billigkeit . . . gefallt haben. Denn es erschien uns am
richtigsten, jene Provinz, auf die sie beide angeblich Rechte besitzen,
unter sie zu teilen, weil es uns peinlich gewesen wäre, die Ansprüche
des einen oder andern als falsch und nichtig zu erklären 11 *).
Jeder Unbefangene muß schon aus dem Wortlaut der Stelle
erkennen, daß erst durch diesen Erlaß die Drau in ganz Karantanien
österreichische Reichs- und Rechtageschichte S. 265 n. 1. Kos, Gradivo 1. Bd.,
XXXV. Pirchegger &. a. 0. 8. 3 ff.
q Convenrio cap. 6.
*) Mon. Germ. Diplom. Karol. 1 n. 211. — Böhmer-Mühlbacher, Regesta i‘
perii 2. Auf. 1 n. 461.
276
Ludmil Hauptmann.
als Grenze zwischen Salzburg und Aquileia festgelegt worden ist
Bisher kann sie es gar nicht gewesen sein. Denn angenommen, sie
hätte dort schon vorher die Grenze gebildet, so hätte sich Karl durch
seine Entscheidung 811 rückhaltlos auf die Seite Salzburgs gestellt
und Aquileia öffentlich ins Unrecht gesetzt Gerade eine solche ein¬
seitige Stellungnahme aber wollte er ja nach seinen eigenen Worten
um jeden Preis vermeiden und darum war für ihn ein Ausgleich der
einzige Weg, der aus dem Streit der beiden Kirchenfürsten zu einem
dauernden Frieden führen konnte. Erinnert man sich, daß nach
unseren Ausführungen Aquileia 796 aus der Awarenbeute Krain und
Untersteiermark erhalten hatte, so wird es auch sofort klar, worin der
Ausgleich bestand. Denn dann ergibt sich, daß Aquileia 811 auf
Kosten Salzburgs zu seinem bisherigen Missionsgebiet noch Süd¬
kärnten bekam. Nicht wenig dürfte zu diesem Ausgleich die Erwägung
beigetragen haben, daß 796 durch die Verleihung des nördHchen
Unterpannonien an Salzburg Aquileia eigentlich verkürzt worden war,
weil es gestützt auf den Brauch, kirchliche und politische Grenzen
zusammenfallen zu lassen, Diözesanrechte im ganzen Bereiche der
Mark Friaul hätte beanspruchen können. Wenn es daher 811 Süd¬
kärnten empfing, so mag das eine wenn auch späte Entschädigung
für den Verzicht auf Westungam nördlich der Drau gewesen sein.
Freilich war dadurch hier im Südosten des Karolingerreiches der
Zusammenhang zwischen politischer und kirchlicher Einteilung voll¬
ständig zerstört Denn wie man früher die Mark Friaul auf Salzburg
und Aquileia aufgeteilt hatte, so war es jetzt mit der „Provinz*
Karantanien geschehen.
VI. Die Reform Ludwigs des Frommen.
Die politische Ordnung Karls des Großen überlebte den Tod ihres
Schöpfers kaum 14 Jahre. Ihren Zweck, das christliche Abendland
vor den Barbaren des Ostens, vor allem den Bulgaren, zu schützen,
erfüllte sie nur, solange bloß die Donauländer der Wetterwinkel
Europas waren. Diese Voraussetzung traf aber schon für das dritte
Jahrzehnt des neunten Jahrhunderts nicht mehr ganz zu, da sich
damals an der Adria im dalmatinischen Kroatenreich eine zweite Brut¬
stätte politischer Gefahren gebildet hatte. Zwar hielt Ban Borna,
vielleicht auch sein Nachfolger Ladislaus treu zu den Franken, aber
wie unverläßlich so entlegene Vasallenstaaten waren, dafür hatte man
an dem Herrscher Binnenkroatiens, an Liudewit, ein warnendes
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
277
Beispiel 1 ). Was dieser getan, konnten über kurz oder lang auch die
dalmatinischen Kroaten tun — und dann war die Sicherheit der
italischen Küsten dahin.
Wir wissen nicht genau, ob es bereits in den zwanziger Jahren
so weit kam, jedenfalls aber genügten schon die Piratenfahrten der
«üddalmatinischen Narentaner 8 ), um Friaulem und Venetianern einen
Vorg38chmack der Schrecken zu verschaffen, die ihrer harrten, wenn
auch noch die seegewaltigen Kroaten an der ganzen Küste von Albona
in Istrien bis zur Cetina in Dalmatien gegen sie losbrachen. Es ist
leicht zu verstehen, daß sich durch diese Entwicklung die politische
Lage des Markgrafen von Friaul sehr verschlechtert?. Denn nun sollte
er nicht mehr nur die Wacht an der Sawe gegen die Bulgaren halten,
sondern auch die an der Adria gegen die Slawen der östlichen Küsten.
Diese doppelte Aufgabe aber zersplitterte seine Kräfte und ließ
befürchten, im entscheidenden Augenblicke könnte an der entscheidendem
Stelle der Grenzschutz versagen. Dagegen konnte nur ein Mittel helfen*
und das war, die Aufgaben säuberlich zu trennen. Die Seepolizei in
der Adria, die war naturgemäß von Italien aus zu besorgen; demselben
Lande dazu aber noch die Grenzhut ii Pannonien aufzubürden, war
militärisch falsch, die übertrug man vielmehr am besten dem Grenz¬
grafen an der Donau. Bisher hatte er sich mit dem Markgrafen von
Friaul in sie geteilt —- wenn er nun die Grenzhut ganz in seine
Hände nahm, so könnt? das nur nützen, lag doch darin die sicherste
Gewähr einer einheitlichen Binnenpolitik. Nicht politische Kurzsich¬
tigkeit, sondern staatsmännische Klugheit trieb also dazu, sobald wie
möglich, die karolingische Südmark wieder aufzulösen, damit nur
Friaul und Istrien bei Italien bleibe, Krain, Untersteiermark und Unter¬
pannonien nördlich der Drau dagegen mit den übrigen Alpenländem
vereinigt werde.
Den Anlaß zu diesen Gebietsveränderungen gaben die Ereignisse
von 827 und 828. Damals zogen nämlich die Bulgaren sengend und
brennend in Unterpannonien umher, ohne von Balderich, dem Mark¬
grafen von Friaul, gestört zu werden. Der Kaiser setzte ihn darauf
wegen Untätigkeit ab und zerschlug seine Mark in vier Graf¬
schaften 8 ). Zwei davon waren Friaul im engeren Sinne und Istrien,
von den beiden anderen kann man vorläufig nur sagen, daß sie sich
*) Annales regni Francoram ad a. 818, 819, 820, 821.
*) JireCek, Geschichte der Serben I S. 196. — Marquart, Osteuropäische und
ostasiatiscbe Streifzüge S. 248 f.
*) Annales regni Francoruin ad a. 827, 828.
278
Ludmil Hauptmann.
irgendwie in den Rest der alten Mark, Westungarn und Untersteier-
mark-Krain, geteilt haben müssen. Während aber jene bei Italien
verblieben, ist es sicher, daß diese schon 828 ihrem westlichen Hinter¬
land angegliedert wurden. Denn den Hachezug gegen die Bulgaren
unternahm man nicht mehr von Italien aus, sondern dazu wurde noch
828 Ludwig von Bayern beordert 1 ). Daß seither die ganze Ost¬
grenze dem Schutze des Herrn der Donauländer anvertraut war, zeigte
sich auch zehn Jahre später im Kriege mit Ratimir, dem Fürsten von
Sissek. Gegen seinen Vorgänger Liudewit war noch Balderich von
Friaul ausgezogen 2 ), gegen Ratimir jedoch schickte man 838 Ratbod,
den Grenzgrafen an der Donau 8 ). Von einem italischen Heere war
nicht mehr die Rede, Adria- und Donaupolitik waren jetzt reinlich
geschieden, wie es der Größe ihrer Aufgabe entsprach.
Welche aber waren nun eigentlich die beiden Grafschaften, die
nach der Auflösung der Mark Friaul in Untersteiermark-Krain und
Westungarn eingerichtet wurden? Wenn man sich erinnert, daß nach
den Awarenkriegen Unterpannonien nördlich der Drau von Karantanera
besiedelt wurde, während südwestlich davon zu beiden Seiten der Sawe
die Krainer saßen, so scheint es unbedingt erwägenswert, ob nicht die
Verwaltungsreform Ludwigs des Frommen an diese nationalen Ver¬
hältnisse angeknüpft und eine Grafschaft Westungarn neben einer an
der Sawe geschaffen habe. Um das zu entscheiden, geht man am
besten von den Zuständen um 850 aus.
In Unterpannonien lebte damals der aus Nordungam vertriebene
Slawenfürst Pribina mit seinem Sohne KozeL Durch die Gnade Lud¬
wigs des Deutschen hatte er viele Güter zuerst zu Lehen, dann zu
Eigen erhalten, auf deren verwilderten Boden er Scharen von deutschen
und slawischen Kolonisten berief 4 ). Er war aber nicht etwa bloß
Großgrundbesitzer, sondern zugleich auch Fürst mit einem eigenen
„Dukat“ 5 ). Das Herz dieses Fürstentums war die Gegend am Platten¬
see, wo die Moosburg lag; von hier reichten Pribinas Besitzungen bis
nach „Ruginesuelt“, in der Grafschaft Dudleipa, nach Pettau, Fünf¬
kirchen 6 ) und an den Fluß „Valchau“ 7 ).
i) Annales Fuldenses. Mon. Germ. SS. I, 359.
*) Annales regni Francorum ad a. 819, 820.
*) Conversio cap. 10.
«) Ebenda cap. 11; Böhmer-Mühlbacher, Regesta imperii 1 n. 1387, n. 138S d .
•) Regesta imperii 1 n. 1442.
•) Vgl. n. 3 —5, dazu: Bitterauf, Die Traditionen des Hochstiftes Frei¬
sing 1 n. 887. — Pez, Thesaurus anecdotorum 1, 233. — Hauthaler, Salzburger
Urkundenbuch 2, 36°. — Regesta imperii 1 n. 1858. — Conversio cap. 11, 13.
T ) Regesta imperii 1 n. 1387.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
279
Über die Gegend, in die man den Yalchan zu verlegen habe, war
man lange im Unklaren. Oefele dachte an den Valpo, der bei Esseg
in die Drau mündet 1 ); Pirchegger suchte dagegen den Yalchan, Kos
folgend*), in dem Flusse „Velih“ in der Nähe des Plattensees oder in
einem „Walchenau“ *), Niederle endlich erklärte ihn für die Vuka, die
sich zwischen Drau und Sawe bei Yukovar in die Donau ergießt.
Nach der Zusammenstellung der Namen, die sich seit dem zweiten
Jahrhundert nach Christus für die Vuka finden, kann man allein
Niederle recht geben 4 ). Er führt nämlich an: Ulca fluvius, Ulcus
amnis, Oookxoc und bringt aus späteren ungarischen Quellen auch
den Namen eines Ortes an demselben Flusse: castrum Wolkou, Wulc-
kow, Walkow, Walko, villa Uulchoi, Uelchea.
Die sprachliche Erklärung von Yalchan ist nun überaus leicht
€h steht zunächst für k um des starken Hauches willen, mit dem man
es aussprach: Yalkau. A vor 1 erklärt sich aus der Schwierigkeit,
das halbvokalische 1 von vlk (Wolf) schriftlich wiederzugeben. Die
verschiedenen Auflösungsarten ersieht man aus der obigen Reihe.
Entweder schlug man ein e vor (Ufelchea), ein u (Wülckow), ein o
(Wölkov) oder ein a (Walkow); damit gewinnt man für das urkund¬
liche Valchau die Form Ylkau.
Das au ist die Endung, die aus dem Hauptwort ein besitzan¬
zeigendes Eigenschaftswort macht Diese heißt eigentlich ov (Walkow),
in der Aussprache aber lautet sie leicht wie au. Man braucht zum
Vergleiche nur an die in Urbaren slowenischer Grundherrschaften
überlieferte Ortsbezeichnung Fresau für Brezovo zu denken. Das
ergibt für «fluvius Valchau“ fluvius Ylkov, oder einfach das
Grundwort zu Ylkov: Vlka. Da aber das altslawische halbvokalische 1
im Serbischen zu u wird, so folgt daraus weiter: Valchau—Vuka.
Für den Umfang des unterpannonischen Fürstentums würde dies
lehren, daß Pribinas Herrschaft im Süden bis ins östliche kroatische
Zwischenstromland, nach Sirmien, gereicht habe. Das wäre auch sehr
begreiflich. Denn während Sirmien durch ungeheure Wälder und
Sümpfe von der Westhälfte des kroatischen Tieflandes getrennt war,
hing es enge mit Ungarn zusammen, weil es dessen Völkern einen
ebenso bequemen Weg nach Byzanz bot, wie Untersteiermark-Krain
nach Italien. Die Ost- und Westhälfte des kroatischen Zwischenstrom-
*) Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der kgl. bayrischen Akademie in
München 1893 S. 298.
*) Koe, Gradivo 2, S. 109 Anm. 1.
*) A. a. 0. S. 283.
4 ) Slovanakl starozitnosti 11, 150 und 366. *
19*
280
Ludmil Haupt mann.
landes hatten daher Jahrhunderte lang jede ihr eigenes Schicksal: Die
Börner verbanden Sirmien nicht mit dem Becken von Sissek, sondern
schlossen es mit dem nördlich anstoßenden Ungarn am rechten Ufer
der Donau zur Provinz Pannonia inferior zusammen. Die Hunnen
berannten Sirmium im Osten, zerstörten Aquileia im Westen, die
Awaren sicherten sich gleichfalls die Straßen nach Kons tan tinopel und
an den Po und die Magyaren taten dasselbe, indem sie einerseits
ihre Posten zwischen Donau und Sawe vorschoben, anderseits sich den
Weg durch Untersteiennark-Krain nach Oberitalien erzwangen. Das
Becken von Sissek aber lag zwischen den beiden Heerstraßen immer
wie eine Verkehrswüste da. Es würde daher nur ein Fortwirken
uralter geographischer Einflüsse bedeuten, wenn in der Karolingerzeit
wirklich wohl das Fürstentum Sissek nur in lockerer Abhängigkeit
von den Franken gestanden hätte, Sirmien dagegen zusammen mit
Unterpannonien nördlich der Drau unmittelbar mit ihrem Reiche ver¬
eint gewesen wäre.
Indes, war das zur Zeit Ludwigs des Deutschen noch politisch
möglich? Erich von Friaul hatte allerdings die fränkische Herrschaft
bis auf Sirmien ausgedehnt, allein 827 war doch dieses Gebiet den
Bulgaren zugefallen und ein Bachezug der Franken im folgenden
Jahre*) hatte so wenig Erfolg erzielt, daß die Bulgaren schon 829
von neuem fränkische Grenzlande brandschatzten *). Da Sirmium um
900 nachweislich ein bulgarisches Bistum war, so gilt es als ausge¬
macht, die Franken hätten 827 für immer den Donau-Sawewinkel vor
den Bulgaren geräumt 8 ). Dieser Ansicht zuliebe sagt man sogar dem
Erzbischof von Sirmium, Method, nach, er habe nie in der Stadt, nach
der er den Titel führte, seinen Sitz gehabt. Wir müßten daher den
Valchau trotz des unanfechtbaren sprachlichen Zusammenhanges mit
Vlka irgendwo nördlich der Drau suchen, denn südlich hätte Ludwig
der Deutsche um 846 Pribina beim besten Willen nichts .melir zu
schenken gehabt
Allein der Widerspruch zwischen der bisherigen Auffassung und
unserer früher geäußerten löst sich, wenn man unbefangen den Gang
der Ereignisse überdenkt, wie ihn die Quellen beschreiben: Ungefahr
836 war nach dem Zeugnis der Gonversio Pribina aus Oberungarn vor
dem Mährerfürsten Mojmir zu Ratbod, dem Grenzgrafen an der Donau
geflohen. Da er sich aber bald mit diesem zerstritt, so entwich er zu
*) Annales Fuldenses. Mon. Germ. SS. 1, 359.
») Ebenda 1, 360.
•) Jireöek, Geschichte der Serben 1, 194.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
281
<len Bulgaren. Doch auch hier litt es ihn nicht lange und er begab
sich daher zu Batimir, dem Fürsten von Sissek. Als nun Batbod im
Aufträge Ludwigs des Deutschen Batimirs Land eroberte, setzte Pribina
über die Sawe und versöhnte sich durch Vermittlung des Grafen Salacho
wieder mit Batbod 1 ).
Sucht man sich nach diesen Angaben die politischen Verhältnisse
der dreißiger Jahre zu vergegenwärtigen und die so gewonnene Einsicht
durch andere Nachrichten zu vertiefen, so ergibt sich schließlich
folgendes:
In Sissek herrschte zu jener Zeit Batimir, der sich, glücklicher
als sein Vorgänger Liudewit, wahrscheinlich schon 827 im Bunde mit
den siegreichen Bulgaren die Unabhängigkeit von den Franken errungen
hatte. Da sich die Bulgaren damals des bis dahin fränkischen Sirmien
bemächtigt hatten *) und Batimir so ihr unmittelbarer Nachbar geworden
war, konnte Pribina um 838 ungefährdet aus Bulgarien zu ihm reisen,
ohne befürchten zu müssen, unterwegs in Sirmien seinem Feinde Batbod
in die Arme zu laufen. Jedoch seines Bleibens war hier nicht lange,
weil Batimirs Land gerade um jene Zeit wieder von den Franken
unterworfen wurde. Seither blieb es in dieser Untertänigkeit, ja später
hielten seine Bewohner so treu zu den Karolingern, daß Fürst Braslaw
von Arnulf sogar noch Unterpannonien nördlich der Drau zur Ver¬
waltung bekam 8 ). Erst die Magyaren machten dann dem fränkischen
Einfluß an der Sawe ein jähes Ende.
Beachtet man nun, daß in den dreißiger-vierziger Jahren Bulgarien
unter Thronwirren und unglücklichen Kämpfen mit den Serben litt,
und daß 845 eine bulgarische Gesandtschaft am fränkischen Hofe in
Paderborn erschien 4 ), so wird man unsere Auffassung gerechtfertigt
Anden, daß jener Valchau, an dem 846 Ludwig der Deutsche Pribina
Kundert Hufen verlieh, in der Tat die Vuka am rechten Ufer der
Drau sei. Denn ohne Zweifel hatte Batbod im Verfolge seines Sieges
über Batimir die unsicheren Verhältnisse in Bulgarien ausgenützt, um
auch Sirmien wieder ans Karolingerreich zu bringen, von dem richtigen
Gefühl geleitet, daß man der Kroaten von Sissek nur sicher sei, wenn
man sie möglichst streng /on ihren früheren Bundesgenossen, den
Bulgaren, abschließe. Die Gesandtschaft von 845 bedeutet dann die
*) Conrersio cap. 10.
*) Jiredek, Geschichte der Serben 1, 194.
*) Annales Fnldenses. Mon. Germ. 88. 1, 413.
4 ) Jireöek, Geschichte der Bulgaren S. 149. — Dümmler, Geschichte des ost-
fr&pkiachen Reiches 2. Aufl. 1, 285; Über die älteste Geschichte der Slawen in
Dalmatien 8. 393.
282
Ludmil Hauptmann.
Anerkennung der fränkischen Erfolge durch die Bulgaren und die
Schenkung von 846 den Beginn einer weitausgreifenden Kolonisation
unter der Leitung des treuen Pribina.
Daß an dieser Besiedelung auch Deutsche beteiligt waren, ist
nicht nur mit Bücksicht auf die Bolle des Deutschtums in Unter-
pannonien als wahrscheinlich anzunehmen l ), sondern erhellt auch
unmittelbar aus einem geographischen Eigennamen* Nordwestlich von
Esseg liegt nämlich der Ort Valpovo. Die Endung des Wortes ist
slawisch, nicht so der Stamm. Da der Wasserlauf, an dem Valpovo
liegt, heute Vucica (Wolfsbach) heißt, so ist es sicher, daß das in
Valpovo enthaltene Valpo das alte deutsche Wlpo oder Wulpo ist und
das a wie in Valchau nur als Vorschlag vor das halbvokalische 1 ge¬
raten ist Das Wortpaar Valchau-Valpo gehört nun zu jenen bedeut¬
samen geographischen Namenszwillingen, die sich dort finden, wo
Deutsche in slawische Gebiete eingewandert sind. Zwei besonders auf¬
fallende Beispiele dafür kennt man aus der Umgebung von Graz.
Unweit des Kroisbaches fließt dort der Bagnitzbach, dessen Name
aus dem slowenischen rak (der Krebs, Krois) abgeleitet ist*) und
gleichfalls bei Graz erhebt sich der Geierkogel neben dem Schocket,
d. h. dem Sitze des sokols 8 ). Beidemale ist es offenkundig, wie die
Namengebung erfolgt war: die schütter wohnenden Slowenen hatten
hier und dort einen Berg, einen Fluß in ihrer Sprache getauft und
die Deutschen, die später einwanderten, hatten nicht den Ehrgeiz,
bodenständige Namen durch Übersetzungen zu verdrängen, sondern
bezeichnten damit lieber benachbarte Örtlichkeiten. Ähnlich muß es
auch in Sirmien zugegangen sein: Deutsche wanderten über die Drau
nach Sirmien, hörten dort von einem Flusse Vlka, unserem »Valchau*
und übersetzten nnn diesen Namen mit Hilfe des gut deutschen
Wlpo-Valpo, um damit den Nachbarfluß des »Valchau* oder einen Ort
an ihm zu bezeichnen.
Alles, was man über das Schicksal Sirmiens im 9. Jahrhundert
erfahrt, reimt sich somit auf unsere frühere Behauptung, daß das
i) Vgl. die Namen der Zeugen, die der Weihe der von Pribina erbauten
Kirche za Moosbarg 860 beiwohnten: Converaio cap. 11.
*) £ trekelj, Prispevki k poznavanju slovenskih krajevnih imen po ncmskem
Ötajexju. Oasopis za zgodovino in narodopiqje I S. 80.
*) Für die Ableitung von Schökel aus sokol ein schlagendes Gegenstück in
dem Dialektwort Scheckei, das ursprünglich die volkstümliche Umbildung für den
Namen des Raubritters Sokol von Lamberg war: Güttenbergcr, österreichischer
Schulbote 56, 465.
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
283
Fürstentum Pribinas und Kozels im Süden bis in den Donau-Sawe-
winkel gereicht habe l ). Nur wo die Westgrenze ihres Landes gewesen
sei, ist noch nicht ohneweiters zu erkennen, da man nicht weiß, ob
die Grafschaft Dudleipa zu Earantanien oder Unterpannonien gehört
habe. Doch ist die Entscheidung dieser Frage durch die scharfsinnigen
Bemerkungen Pircheggers über die Urkunde Ludwigs des Deutschen
▼om 20. November 860 bereits angebahnt 8 ). Sie erwähnt für Öster¬
reich, Westungarn, Steiermark und Kärnten etwa vierzig Orte, an
denen Salzburg Besitzungen hatte. Die Aufzahlung ist so dürr, daß
einfach Name auf Name folgt; nur zwei „item“ zerlegen die Liste in
drei Abschnitte, die nach Pircheggers überzeugendem Beweis der Ein¬
teilung des karolingischen Ostens in Ober-, Unterpannonien und
Earantanien entsprechen. Auf Grund dieser Entdeckung suchte er nun
die Grenze Unterpannoniens gegen Earantanien festzustellen und fand
dabei folgendes:
Die Beihe der unterpannonischen Orte endet mit Nestelbach bei
Uz, dann kommen bereits in Earantanien die Baab, Tudleipin, Sulm,
ferner eine Kette von Orten bis Treffen im Bezirke von Villach,
schließlich gelangt man über Obersteiermark wieder an die Baab zurück,
wo als letzter Salzburger Besitz auf karantanischem Boden Langraben
bei St Buprecht erscheint. Die Grenze zwischen Earantanien und
Unterpannonien verlief daher unzweifelhaft zwischen St. Buprecht und
Nestelbach. Ihre südliche Fortsetzung möchte man sich mit Hilfe der
Angaben über Tudleipin zurechtlegen. Dieser Ort, der nach seinem
Platze in der Urkunde von 860 zwischen Baab und Sulm, etwa an
der Mur, zu suchen ist, war Mittelpunkt der gleichnamigen Grafschaft.
Ihr gehörte zwar noch der mittelsteirische Gnasbach an, nicht aber
der Lendvabach, der östlich von Gleichenberg entspringt und parallel
der Mur in Westungam fließt 8 ). Die Grafschaft lag also ganz in der
Mittelsteiermark und man sollte meinen, ihre Grenze und damit auch
die Karantaniens gegen Unterpannonien habe sich zwischen den
beiden Bächen hingezogen.
*) l)aß Sirmien zu Unterpainonien geschlagen worden ist, ergebe sich nach
Karquart übrigens auch aus folgender Stelle bei Porphyrogennetos: »Flußaufwärts
liegt eine Stadt namens Sirmiam von Belgrad zwei Tagreisen entfernt ; dort be¬
ginnt Groß -Mähren . das die Magyaren besetzt haben und über das früher
äwendoplok herrschte«. Marqurt behauptet nämlich, Konstantin habe hier Groß-
Kahren mit Pribinas Reich verwechselt. Ist das wahr, so wäre diese Stelle aller¬
dings auch ein Beweis dafür, daß Pribinas Fürstentum und damit das ostfränkische
Reich sich bis nach Sirmien erstreckt haben.
*) Pirchegger a. a. 0. S. 290 ff.
*) Ebenda S. 294.
284
Ludmil Hauptmann.
Merkwürdigerweise will gerade Pirchegger davon nichts hören, da
ihm die politische Zugehörigkeit von Dudleipa zu zweifelhaft ist Nach
einer Quellenmeldung war nämlich dort Kozel begütert, sein Vater
Pribina hatte sogar in Dudleipa eine Kirche weihen lassen; da aber
beide die Herren von Unterpannonien gewesen waren, so neigte man
bisher der Ansicht zu, Dudleipa habe derselben Landschaft angehört,
obwohl das in keiner Quelle steht Es entspricht jedoch Pircheggers
behutsamer Art daß er um dieser landläufigen Annahme willen sogar
der von ihm so glücklich ausgelegten Urkunde von 860 nicht unbe¬
dingte Beweiskraft zuspricht Zwar meint er, die beiden Fürsten
könnten auch außerhalb Pannoniens königliches Gut erhalten haben,
etwa im angrenzenden Karantanien. Dann wäre der Widerspruch
zwischen den Nachrichten der Quellen nur scheinbar. Doch er kommt
davon gleich wieder ab, denn so etwas „lasse sich wohl weder beweisen
noch ableugnen 11 .
Pirchegger treibt damit die Vorsicht zu weit Wenn der Ver¬
fasser der Urkunde so bewandert war, daß er neunzshn karantanische
Gegenden und Siedlungen genau in der ihrer Lage entsprechenden
Ordnung anführt wird er dann gerade von Dudleipin nicht einmal
das Verwaltungsgebiet gekannt und den Ort aus Versehen in
Karantanien anstatt Pannonien vermutet haben? Solche Gedanken
widerlegen sich auch dadurch, daß ja Pannonien erst unter Karl dem
Großen an die Deutschen fiel, Dudleipa dagegen schon von den Bayern
zu Karantanien geschlagen worden war, sodaß die Dudleben in deu
Awarenkriegen bereits zu den Karantanern zahlten.
Wie soll man es aber dann verstehen, daß Fürsten Unterpannoniens
in Karantanien begütert waren? Pirchegger dachte, wie gesagt, an
die Möglichkeit der König habe ihnen eben auch außerhalb ihres
Herrschaftsbereiches Besitzungen verliehen. Doch warum? Königsland
muß es in Pannonien selbst genug gegeben haben. Hier im eigenen
Fürstentum Pribina etwas zu schenken anstatt in einer fremden
Grafschaft, hätte gewiß den Vorteil gehabt daß sich der Besitz hätte
leichter verwerten lassen. Die Sache wird daher anders zu erklären
sein. Unterpannonien war ein 'wichtiges Grenzland des karolingischen
Reiches. Aus dem Beispiel der Ostmark, die mit dem Traungau ver¬
bunden war, aber ersieht man, daß solche Gebiet; zur Erhöhung ihrer
Wehrfähigkeit als Marken eingerichtet und mit einer Grafschaft im
Rücken als sicherem Hinterland ausgestattet waren. Ein ähnliches
Verwaltungsgebilde war offenbar auch das Fürstentum Pribinas: Unter¬
pannonien die Mark, Dudleipa dahinter die Grafschaft, durch die jene
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
285
im Mutterlande verankert war. Der Besitz Pribinas in Dudleipa hat
dann nichts mehr Wunderliches an sich; er war entweder ein Ausfluß
königlicher Gnade oder geradezu das Amtsgut des Grafen.
Und nun zurück zur Reform von 828! Von den vier Verwal-
tungssprengeln, in die man damals die karolingische Südmark zer¬
schlug, kennen wir jetzt die drei Marken Istrien, Friaul und Unter¬
pannonien. Zieht man diese Bezirke vom Gebiete des allen Groß-
Friaul ab, so engt sich der Baum, den die vierte Mark eingenommen
haben kann, auf das Land zu beiden Seiten der Sawe ein. In der
Tat wird gerade hier zwischen Friaul und Unterpannonien eine
„marchia iuxta Sawam“ erwähnt, zu der nachweislich beide Ufer dieses
Flusses in Untersteier und Krain gehörten. Wiewohl sie erst für 895
urkundlich bezeugt ist 1 ), wird man doch ihre Entstehung nach den
obigen Ausführungen unzweifelhaft in das Jahr 828 verlegen und
nun auch in jenem Salacho, der um 838 als Graf an der Sawe
gebot, den ersten geschichtlich bekannten Markgrafen dieses Gebietes
erblicken *).
Die Reform Ludwigs des Frommen bestand also darin, daß er
Balderichs Groß-Friaul in vier Marken auflöste und davon zwei, Istrien
und Friaul im engeren Sinne, bei Italien beließ, Unterpannonien und
die von den Krainern bewohnte Mark an der Sawe aber mit Karan-
tanien verband. Erst seither war die Voraussetzung gegeben, den
Namen Karantaner auch auf die untersteirisch-krainischen Slowenen
auszudehnen.
* *
Unsere Darstellung ist zu Ende. In rasch wechselnden Bildern
sind drei Jahrhunderte alpenslawischer Geschichte an uns vorüberge¬
zogen. Als Awarenknechte, sehen wir, traten die Alpenslawen in die
Geschichte ein: nicht ein festgefügtes Volk, sondern, wie das Beispiel
der Duljeben lehrt, ein loses Völkergemengsel, in zitternder Unter¬
würfigkeit gehalten durch Besatzungen seiner Herren. Erst nach 623
zu Samos Zeiten errangen die Alpenslawen ihre Freiheit, jedoch nicht
auf lange. Denn schon um die Mitte desselben Jahrhunderts mußten
die Karantaner wandernde Kroaten bei sich aufnehmen, die fortan
als Edlinger unter ihrem 3ai.emfürsten das Land beherrschten, während
die Slowenen an der Sawe neuerdings den Awaren erlagen, die mit
*) Jaksch, Mon. hist. duc. Car. 1, n. 3. — Dazu Pirchegger a. a. 0. 8. 297, 301.
*) Conversio cap. 10. — Schon von Pirchegger a. a. 0. S. 279, 301 als wahr¬
scheinlich angenommen.
286
Ludmil Hauptmann.
großem Geschick nach den Schlägen der samonischen Zeit ihre Vor¬
herrschaft in den Donauländern wieder aufrichteten. Zwar unterwarfen
sie sich nicht mehr die ganze Slawenwelt yon den Sudeten bis hinab
an den Balkan, sondern besetzten nur das österreichische Alpenvor¬
land, dann die Landschaften an der ’pannonisch-friaulischen Straße und
Sirmien, aber sie erzielten dabei doch einen vollen Erfolg. Denn der
Besitz dieser Länder öffnete ihnen wieder den ersehnten Weg nach
Byzanz, Italien und Bayern und legte zugleich an drei Stellen Breschen
in den Slawenwall, sodaß den Awaren die Selbständigkeit Karantaniena
und des Kroatenreiches an der Kulpa nicht mehr gefährlich werden
konnte, waren doch diese Staaten durch die Umklammerung zu poli¬
tischem Stilleben verurteilt
Erst die Abkehr von dieser klugen Selbstbeschränkung in den
vierziger Jahren des 8. Jahrhunderts erschütterte von neuem die Macht
der Awaren und gab den Anstoß zum Vormarsch des Deutschtums
nach dem Osten. Denn die Bayern retteten nicht nur Borut um den
Preis seiner Selbständigkeit vor den Angriffen der Awaren, sondern
entrissen diesen auch noch das steirische Vorland Karantaniens nörd¬
lich der Drau. Und als später 791 Karl der Große bis an die Baab
vordrang und 795/96 Erich und Pippin in zwei Zügen Krain, Unter¬
steier und Westungarn eroberten, wurden die Awaren in „Reservationen“
dem langsamen Untergang preisgegeben, die Alpenslawen aber in die
christlich-germanische Welt einbezogen. Der fränkische Staat gab
ihnen eine politische Ordnung, indem er ihnen entsprechend der
alten, geographisch-geschichtlich bedingten Zweiteilung ihres Stammes
zwei Verwaltungsbezirke schuf: die Ostmark mit Karantanien, die Mark
Friaul mit Krain, Untersteiermark, Unterpannonien nördlich der Drau —
und die fränkische Kirche nahm sie in ihre geistige Obhut, indem
sie 796 dem alten karantanischen Sprengel Salzburgs Westungam
nördlich der Drau hinzufügte, Krain und Untersteiermark aber dem
Patriarchate von Aquileia zuwies. Seitdem dann Karl der Große 811
in einem billigen Ausgleiche Südkämten bis zur Drau an Aquileia ver¬
liehen hatte, wurde an den kirchlichen Verhältnissen nicht mehr
gerüttelt Wohl aber an den politischen. Denn unter dem frischem
Eindrücke der Mißerfolge im Bulgarenkriege zerschlug man 828 Groß-
Friaul in vier kleine Marken, von denen Friaul und Istrien, bei Italien
verbleibend, die Wacht an der Adria übernahmen, während die Marken
an der Sawe und in Unterpannonien, unter der Oberleitung des Grenz¬
grafen an der Donau, das Reich vor den Barbaren des Ostens zu
schützen hatten. Diese Reform bewährte sich auch so gut, daß man
Politische Umwälzungen unter den Slowenen etc.
287
bald die Verluste von 828 wettmachen konnte. Der Graf der Ostmark
beugte durch einen glücklichen Feldzug die Kroaten von Sissek wieder
unter die fränkische Hoheit und eroberte im Anschluß daran sogar
Sirmien von den Bulgaren zurück. Da man das neugewonnene Gebiet
zu Unterpannonien schlug, war mit einem Male an der Donau ein
Vorwerk fränkischer Beicbsmacht geschaffen, stark genug, um den
Kroatenstaat an der Kulpa vom slawischen Osten zu trennen und für
eine friedliche Durchdringung vorzubereiten. Die unter Pribinas Augen
sich vollziehende deutsche Einwanderung war bestimmt, diese Ent¬
wicklung zu beschleunigen.
Das Brondolo-Privileg Leo’s IX.
Von
E. v. Ottenthal.
(Mit zwei Tafeln).
In der Autographen-Sammlung des Freiherm yon Lanna in Prag,
welche im J. 1911 durch das Antiquariat Gilhofer und Ranschburg in
Wien zur Versteigerung kam, befand sich ein Stück, welches im Auk¬
tionskatalog XXXIII unter Nr. 44 (S. 15) als bisher unbekanntes
Original Leo’s IX. für das Kloster Brondolo bei Chioggia (1053 Marz 12)
auigeführt ist. Das war somit das älteste unzweifelhafte Original einer
echten Papsturkunde auf österreichischem Boden 1 ) und es ist auf das
freudigste zu begrüßen, daß dem k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv
durch die wissenschaftsfrenndliche Freigebigkeit des Auswärtigen Amtes
der Ankauf und dadurch die Erhaltung dieses interessanten Dokumentes
für Österreich ermöglicht wurde. Mir aber ist es gegönnt, es hier zu
veröffentlichen und zu erläutern.
Das Privileg lautet:
£ Leo episcopus servus servorum dei monasterio s&nct? trinitatis f
sanctdqne Michahelis archangeli in partibna Uenetie, loco qni dicitur Brvndolos»)
peeito atque per id Alteberto abbati suisque snccesBoribu s canonice infcran-
tibus in perpetuum b ). Sanctq trinitatis fidem c ) indubitanter confessi et
omni confitentes tempore non desistimus adorare, ut oportet, venerari
*) Die Originalität des Priv. Benedikts VÜI. für Ragnsa von 1022, JL. 4042,
hat schon Bresslau in Mitteil, des Inst. 9, 26 Anm. 2 mit vollem Rechte ange»
fochten.
Ä ) erstes v karr, aus 0 — b ) zweites p sofort korr., wohl aus e — c ) nach¬
träglich mit Tinte überfahren.
Das Brondolo-Privileg Leo’s IX.
289
semper et coßjere. Cuius amoris et in huius sancti nominis virtutem
confessionis pnvilegio dncti loca d ) sancta verq in unitate trinitati dicata
pio affectu gaudemus promoveri et nostro, si fieri potest, studio reformari,
inter quq unam illud quod sopra diximus monasterium cum 6 ) omnibus
bonis suis corroboramns et firmamus per sanctq apostolicq sedis privi-
legium, quq vel ad presens iuste possidet Tel insto dono possidebit, in
perpetuum et nominatim illa, quq omquam sibi collatio f ) est largita
fidelium, scilicet curtem &) Banioli cum omnibus suis pertinentiis et his
quq sibi marchio Almericus legaliter contulit, et quicquid habet in
castello. quod positum est in monte Guttulo, et quicquid habet in Sacco,
quicquid etiam in turre de Sile et Burdiliaco et possessiones in Cliua
rnaiore et minore et cum omnibus suis pertinentis h ), cappellas 1 ) unam
sancti Benedicti, aliam sancti Viti k ), tertiam sanctq Perpetuq, et hqc
omnia in partibus üenetiq; et 1 ) quq habet in comitatu Senogalliensi et
infra muro8 ipsius civitatis. Statuentes apoetolica censura, ut nullus imperator
aut rex patriarca archiepiscopus episcopus marchio comes vicecomes aut ga-
staldio aut aliqua hominum lu ) magna vel parva persona audeat hanc ecclesiam
apostolico privilegio firmatam presuptuoee h ) invadere aut bona eins
quoquo modo ledere aut subtrahere, sed neque episcopus Metomaucensis D )
qmlibet aliqnid amplius exigat a monasterio, quam quod ipsa exigit rectitudo
aut rectitodini ac regulq sancti Benedicti non contradicens consuetudo,
sed potius gratis 0 ) impendant quod suum est eidem ecclesiq, scilicet
oonsecrationes ecclesiarnm et p) altarium, ordinationes monachorum, crisma et
oleum aanctum. Canonicq igitur huius institutionis et confirmationis teme-
rarium violatorem < l) usque ad s&tisfhctionem apostolicum anathema con-
demnet, conservatorem vero principe cqlestis exercitus intervenienfte] r )
ABCHANGELO trinus et unus DEUS exaltet.
(B.)*) (B. dep.) (BV.) (Komma)
Dat. Ulf IDVS marcii per manus Friderici diaconi sanctq apostolicq
sedis bibliothecarii et cancellarii vice domni HEBIMANNI ABCHICAN-
CELfLABII j r ) et Coloniensis archiepiscopi, anno domni LEONIS NONI
PAP AE indictione vt.
Das Original ist 0*63 m hoch, 0*324—0*343 m breit, nicht ganz
regelmäßig rechteckiger Form, am rechten Band außerdem nachträglich
beschnitten, so daß nun in der Strafformel und in der Datierungszeile
einige leicht ergänzbare Buchstaben fehlen. Das kräftige italienische
Pergament muß nicht auf das beste bearbeitet gewesen sein, namentlich
auf der Fleischseite schuppt sich die durch Kalzinierung geglättete
Oberfläche vielfach ab, wodurch der Schein von Basuren vorgetäuscht
d ) 1 sofort aus anderm Buchstaben verbessert — «) karr, aus com — f ) o und
erstes 1 korr. aus anderm Buchstaben, — c) u verbessert aus t — **) Or. —
*) cappe durch teilweise Rasur sofort korr. aus capel — k ) V korr. aus u —
! ) e k irr. in Initial-E — m ) h korr. aus m — ®) Metoucensis mit nicht an ganz
richtiger Stelle nachgetragenen ma — °) r korr. aus a — P) sofort korr . aus an¬
deren Buchstaben — <i) korr. aus temerarius violator — r ) Pergament am Rande
nachträglich beschnitten — •) Devise: Misericordia domini plena est terra.
290
E. y. Ottenthal.
wird. Blinde Linien sind von der Rückseite her sehr stark eingeritzt. Ihr
Abstand vermindert sich von oben nach unten immer mehr. Das Merk¬
würdige ist, daß die Horizontallinien nur für die rechte Hälfte der
beschriebenen Seite gezogen sind, eine Verlängerung nach der linken
ist nur für die Umrandung der Rota und für die Datierungszeile im
Bereich der Möglichkeit Eine ähnliche Sachlage berichtet Pflugk-
Harttung Acta pont. Rom. 2, 82 für Jaffe-Löwenfeld n° 4324, das
wegen seines Alters jedenfalls zum Vergleich herangezogen werden kann,
wenn es auch nach Kehr freie Fälschung ist *). Daß die Linien unseres
Privilegs unpassender Weise für die rechte Hälfte des Textes gezogen
sind, erklärt sich offenbar aus der Eindrückung a tergo — dort setzten
sie ja am richtigen Rand des Blattes an 8 ).
Der ganze Kontext des Privilegs, das ich der Kürze halber fernerhin
mit der Sigle LBr. bezeichnen werde, ist in einem Zuge geschrieben.
Auch ein Wechsel der Tinte kann nicht mit Sicherheit behauptet werden,
wenn mir auch scheinen will, daß die Farbe in der Datumformel lichter
sei, auch als bei den dünnschaftigen Buchstaben der Devise.
Die Bleibulle ist abgefallen. Sie war in der unter Leo häufigen
Art, nämlich ohne Falte mittelst einer Schnur befestigt, welche durch
vier kreuzweise, zwischen Rota und BV. gestochene Öffnungen lief 3 ).
Die Rückseite enthält keinerlei Vermerk seitens der Kanzlei und
auch seitens des Empfängers nur Archivnotizen seit dem 16. Jahrh.,
wie sie von gleichen Händen auch auf den übrigen Klosterurkunden,
welche ich sah, zu treffen sind.
Wie dieses Original in die Sammlung Lanna kam, fehlt jede An¬
gabe. Da aber das reichhaltige Klosterarchiv in den Vierziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts auf einer Pergamentauktion in Nürnberg
i) Gotting. Gel. Anzeigen 1903 S. 594. ln seiner als grandlegend für die
Diplomatik Leos IX. oft von mir zu zitierenden Abhandlung Scrinium und Pa-
latium, Mitteil, des Inst. Ergänzungsband 6, 84 Anm. 1 scheint er es in die Zeit
Nikolaus II. oder Alexander II. zu setzen, jedenfalls ist es wohl eine alte Fälschung,
da dem Schreiber nach dem kleinen Faks. bei Pflugk-Harttung Specimina T. 107
die kursive Verbindung ri noch geläufig ist. — Pflugk-Harttung, Die Bullen der
Päpste 162 sagt: Einige Male wurde ein Teil liniert, ein Teil nicht — gibt aber
nach seiner leidigen Gewohnheit keine bestimmten Belege an, die eine Nachprüfung
ermöglichen würden.
*) Daß man es in solchen Dingen nicht so lieickel nahm, beweist auch das
von Kanzleihand geschriebene Originaldiplom Lothars IIL für Hersfeld, Stumpf,
Reichskanzler n° 3317, für das man sich eines zu einem zweispaltigen Text her¬
gerichteten Bücher-Blattes bediente.
*) Vgl. Pflugk-Harttung in Hist. Aufsätze G. Waitz gewidmet S. 614. An
gleicher Stelle* und in gleicher Art ist die Bulle in dem zeitlich naheliegenden
JL. 4287 (1053 Jan. 2) befestigt
Da« Brondolo-Privileg Leo's IX.
291
feilgeboten worden war 1 ) und Bestände desselben teils damals teils
später an das Germanische Museum in Nürnberg, an das Beichsarchiv
in München, in der Hauptmasse an das General-Landesarchiv in Karls¬
ruhe und von da an die Universität Heidelberg gelaugten *), so erklärt
sich auch das Abirren eines anderen wertvollen Splitters ohne weiteres.
Das Archiv* von Brondolo ist nach dem bisher bekannt gewordenen
Bestand von Fälscherhänden freigeblieben, das wird auch durch das
neu aufgefundene LBr. bestätigt Diese Urkunde wurde schon im Auk¬
tionskatalog zutreffend als Original bezeichnet
Die Originalität und damit die Echtheit ergibt sich unwider¬
leglich 8 ): 1. aus der eigenhändigen Eintragung der Gebeformel durch den
päpstlichen Kanzleivorstand Kardinal Friedrich. Die Schrift der Gebe¬
formel in LBr. — ich verweise ein für allemal auf die beigegebene
Tafel — stimmt bis in alle Einzelheiten mit den übrigen eigenhändigen
Datierungen Friedrichs. Die nächste Verwandtschaft weist unter den
mir in Faksimile zugänglichen Leo-Urkunden das keine zehn Wochen
ältere Privileg für Bamberg JL. 4287 aut Ich konnte mich zum Ver¬
gleich einer photographischen Beproduktion bedienen, welche unser
Institut der Güte Pro£ Bresslau’s verdankt 4 ). Aber auch schon die in
Einzelheiten ja meist nicht ganz genaue Wiedergabe in Pflugk-Harttungs
Spedmina T. 22 genügt zur Nachprüfung meiner Behauptung. Man
beachte die Buchstabenbildung und den Schreibgebrauch bei: Dat, Sc$,
bibliothecarii (besonders das li), Cancell, vice, HERIMANNI (das
Schluß-1 kehrt hier bei ian und in JL. 4298* bei IVL wieder), archi-
cancellarii (besonders a, c und N), C und S in Coloniensis, die bizarre
Bildung <’es aus älterm Kanzleibrauch stammenden kurialen A in Anno,
die ansteigende Buchstabenhöhe des beidemalig majusklen LEONIS,
die überhöhten P in papae, endl.ch die Schreibung von indict VI, be¬
sonders jene des ct und die Form des V. In einigen Kleinigkeiten
*1 Wattenbach im Neuen Archiv f. altere deutsche Geschichtskunde 11, 389;
nach Simonsfeld im Archivio Veneto 32, 111 im J. 1854.
S. zuletzt Knöpfler im Hist. Jahrbuch 24, 308. Gerade die Papsturkunden
and nach Wattenbach N. A 12, 408 zu verschiedenen Zeiten an das Germanische
Museum gekommen, haben also wohl mehrfachen Besitzwechsel erfahren.
*) Durch das liebenswürdige Entgegenkommen der Direktion des H.-, H.- und
Staatsarchivs war es mir möglich dieses Stück gleich nach der Erwerbung in meinen
Übungen duruhzunehmen. Ver chiedene Ergebnisse der Schriftvergleichung waren
auch von meinen Hörern selbständig und unabhängig gefunden worden, namentlich
von d«*m damaligen Mitglied des Institutes, Herrn Hauptmann Hajsmann.
«) Durch ihn besitzt das Institut auch vollständige Reproduktionen von
JL. 4172, 4177, 4195, 4260, 4272, 4283; bei meinen späteren Verweisungen auf
die genannten Originale sind stets diese photographischen Faksimiles gemeint.
292
E. v. Ottcuthal.
stehen andere Autogruphe Friedrichs l ) noch näher, so die Cauda des e
in — JL. 4267 (Arch. pal. itol. VI, 5); das f in friderici —
•TL. 4279 (Spee. T. 23), das Abkürzungszeichen in Dat -- JL. 4301
(Spec. T. 23 bei archiepi). Diese Feststellungen schließen die theoretische
Möglichkeit aus. daß LBr. etwa eine wenn auch mit ausgezeichnetem
Gelingen hergestellte Nachbildung einer originalen Leo-Urkunde sei.
Die Origimditüt ist 2. gesichert durch die Umschrift in der Rota,
welche gleichen Ductus, gleiche Buchstabenformen und gleiche Ab¬
kürzungen aufweist wie speziell die mir in Photographie oder Lichtdruck
vorliegenden Abbildungen der Originale JL. 4250, 4267, 4272, 4283 *).
Außerdem verweise ich unter zeitlich nächstfolgenden auf die bei Pflugk-
Harttung T. 24 reproduzierten Roten von JL. 4298 und 4298 a von
1053 Mai 29 und Juni 14, bei welchen freilich gerade in den schlicht ge¬
schriebenen Worten der Devise die fragliche Genauigkeit der Pausen
deutlich zutage tritt. Darum kann auch das zeitlich nächst voran¬
gehende Privileg JL. 4290 (T. 114) nur in wenig Einzelheiten ver¬
glichen werden 3 ).
Diesen beiden entscheidenden Punkten widerspricht keines der
äußeren Merkmale des LBr., wohl aber unterstützen andere Beobach¬
tungen das gewonnene Ergebnis. Das monogrammatische Benevalete
und das sogenannte Komma entsprechen in allem dem damaligen
Kanzleibrauch. So dünne Striche finden wir auch in dem unvollendeten
BV. des gleichfalls von Friedrich selbst datierten JL. 4287, während
der Spitzbogen des Komma in JL. 4290 und 4301, die Stellung der
vorgelagerten hackenartigen Punkte in JL. 4290 und 4298 dem LBr.
am meisten verwandt ist Das gleiche trifft auch bei der Zeichnung
und Inschrift der Rota zu, namentlich der Punktsetzung vor und
nach P.
Dagegen vermag ich die Schrift des Urkundentextes sonst nicht
nachzuweisen. Sie gehört den unter Leo IX. seit 1052 dienenden
*) Sie sind aufgezählt bei Kehr Scriniom a. a. 0. 6, 84. Doch ist JL. 4288
wohl nur aus Versehen genannt denn dessen Gebeformel gehört der gleichen Hand
an wie JL. 4278 (Spee. T. 24, Kehrs Notar C), wie Herr H&jsm&nn in meinen
Übungen bemerkte. 8ie gebraucht auch die dem Kardinal selbst fremde Namens¬
form Fredericus.
*) Jene von JL. 4265 in Bibi, de TEc. des Chartes 64, 568 ist so klein und
unklar, daß sie zum Vergleich undienlich ist.
*) Über dessen Originalität vgl. die durchwegs überzeugenden Ausführungen
Kehrs in Festschrift für den Hanseschcn Geschichtsverein, Göttingen 1900, S. 73ff.
Das Brondolo-Priroleg Leo’s IX. 203
Kanzleinotaren C und D 1 ) ebensowenig an als einem der bisher unter
Leos Pontifikat nur vereinzelt nachweisbaren Schreiber 8 ).
Das Schriftbild macht ohne weiteres klar, daß unserm Ingrossisten
die päpstliche Kanzleischrift, oder sagen wir überhaupt die diplomatische
Minuskel, wie sie in den Herrscherurkunden jener Zeit gebräuchlich
war, nicht geläufig war. Man betrachte nur die wechselnden, insbe¬
sondere in den ersten Zeilen ungeschickten Verzierungen von f und f,
die cauda von $, die mühsame Qestalt des Abkürzungszeichens, die
schwankende, zum Teil verunglückte Verbindung von ft, auch daß
f meist auf der Zeile steht und demgegenüber die unverhältnismäßig
große Unterlänge von r, die aber dem Schreiber doch ungewohnt ist,
denn manchmal fehlt sie, mitunter ist sie von ihm nachgetragen.
Indes erhielt unser Schreiber leidlich genaue Unterweisung über
den Brauch der päpstlichen Kanzlei bei der Ausstattung der päpstlichen
Privilegien, wahrscheinlich dadurch, daß er Ausfertigungen derselben
als Muster benutzen konnte. Das ersehen wir nicht bloß aus den schon
besprochenen Schriftzeichen, sondern auch aus der Schrift selber, zumal
aus der verlängerten Schrift der ersten Zeile, aber auch aus Einzelheiten
der Minuskel des Kontextes. Und zwar bestehen gewisse Überein¬
stimmungen mit der Schrift des Kardinals Humbert 8 ), des vertrauten
Begleiters Leos DL, der auch als Urkundenschreiber aushalf, denn wie
Kehr nachwies 4 ), hat er im J. 1050 in Süditalien JL. 4227 für S. Maria
in Gradibus zu Arezzo und 1057 zu Florenz JL. 4368 für Leos Kanzlei¬
vorstand Friedrich, nunmehr Abt von Monte Cassino mundiert 6 ).
Bei Humbert nun finden wir regelmäßig, nur viel zierlicher und
schwungvoller die gleiche komplizierte Auslaufschleife des g wie in
*) Ich behalte die von Kehr Scrinium 6, 84 verwendete Bezeichnung durch¬
wegs bei.
t) Nämlich: JL. 4177, 4184 (vgL Kehr 1. c. 84), 4267, 4272 und das in
manchen Scbreibeigenheiten damit übereinstimmende, aber nicht gleichhftndige 4287,
4290, 4298». Auf JL. 4227 wird alsbald zurückzukommen sein.
•) Gerade darauf hat H. Hajsm&nn selbständig in meinen Übungen hinge¬
wiesen.
4 ) Diplomatische Miszellen in Gött. Gel. Nachr. 1900, 106.
*) Von beiden dürftige Faksimiles bei Pflugk-Harttung Spec. T. 19 und 28.
Außerdem steht zum Vergleich noch das von Kehr Dipl. Miszellen 106 und Scri¬
nium 6, 92 aufgezühlte Material an Datumformeln und eigenhändigen Unter¬
schriften zu Verfügung, wovon mir aber nur die in den Sperimina teilweise reprodu¬
zierten Gebeformeln von JL. 4878, 4374, 4376, 4884, 4414, 4426, 4429, 4488,
4436, das Facsimile von 4376 bei Pasqui Doc. di Arezzo 1, sowie die Unterschrift
von 4413 in Arch. pal. ital. VI, 6 und für die Gebeformel von 4896 die Abbildung
in Arch. pol. ital VI, 12 zugänglich sind.
Mitteilungen XXXVI.
20
294
E. v. Ottenthal.
LBr. Ferner in dem zeitlich näherstehenden JL. 4227 bei d und q die
Zackung oder Wellung der Bogenlinie, die bei LBr. in der ersten Zeile
bei P und R und häufig im Kontext bei d und p zu sehen ist. Auch
die Verzierung des f mit Doppelschleife, wie sie unserm Schreiber etwa
Z. 3 bei confitentes, Z. 4 bei semper, amores, Z. 5 bei si leidlich ge¬
lang, eignet Humbert für diesen und für andere Buchstaben mit Ober¬
länge ! ), wie er denn auch das allgemeine diplomatische Abkürzungs¬
zeichen in dem gleichen Stil bildet (speziell als Doppelschleife in JL. 4368
und in den Datumformeln von 4376, 4384) und auch für die Art wie
LBr. das Abkürzungszeichen bei Ober- und Unterlänge macht, findet
sich bei Humbert in JL. 4368 ein Beleg.
In der verlängerten Schrift von LBr. kommt dreimal Majuskel-R
vor, jedesmal in der Weise, daß Bogen und Schräge selbständig in
größerm Abstand von einander an den Schaft ansetzen. Diese charak¬
teristische Form kehrt in dem mir zugänglichen Material an Faksimiles
der Leo-Urkunden nirgends wieder, wohl aber jedesmal in der Gebe¬
formel Humbert», wenn überhaupt ein R abgebildet ist 8 ). In dem
Faksimile des von Humbert geschriebenen JL. 4368 findet sich auch
ein entsprechendes B. Übereinstimmung mit Humbert herrscht auch
im Gebrauch des balkenlosen kapitalen A der verlängerten Schrift. Diese
im übrigen ja lang und vielfach schon verbreitete Buchstabenform be¬
merkte ich in Papsturkunden — ich muß immer betonen, daß allerdings
nur ein beschränktes Material an Abbildungen zur Verfügung steht —
zuerst ganz vereinzelt und falls die Abbildung genau ist, in abweichender
Gestalt im Privileg Benedikt VIII. für Fulda JL. 4057 (Pflugk-Harttong
Spec. T. 10). Der Kanzler Petrus bürgerte sie dann beim Worte Dat.
der Gebeformel ein 8 ) und machte auch in der verlängerten Schrift von
ihr Gebrauch. Humbert bedient sich dieser Buchstabenform in der
Gebeformel regelmäßig bei anno. Aber während Petrus stets beide
Schenkel nach außen verlaufen läßt, biegt Humbert beide mit einem
Hacken nach rechts um — ebenso auch der Schreiber von LBr. Auch
an die Vorliebe für überhöhtes a sowohl am Eingang wie im Innern
des Wortes (man vgl. die Faks. von JL. 4227 und 4368) darf immer¬
hin hingewiesen werden.
Diese Übereinstimmungen sind schon wegen des Grades ihrer Ge¬
bräuchlichkeit nicht gleichwertig. Die G-Schleife darf als persönliche
*) Beispiele in den Paks, von 4227, 4375, 4376, 4395 n. s. w.
*) So in JL. 4373, 4374, 4375, 4376, 4395, 4413, 4433, 4435.
*) So in JL. 4133 Specimina T. 14; in JL. 4116* lür Brondolo ist dieser
Buchstabe nach der Abbildung im Anzeiger des German. Museums 1885 T. 10
leider zerstört.
Daa Brondolo Privileg Leo"e IX ^Q5
Eigenheit Hmnberts augesproehen werden. Bei ihm, dem Lothringer,
55 t es Dicht veränderlich, wenn er in solchen : Defcsd-]«. seiner Schrift
giach seinem Landsmann Ltetbuin (z. B. im JL. 4195) an die Tradition
i*r damals noch allgewaltiges Königsurlninde anknüpft IW gilt wohl
m:h von der Zockinig öder Wellung der Bogenlinien gewisser Bueh-
joaheii, die *dat der geschwungenen b y
'i, s, P in der ^erlajag^rten Schrift auch hei den KhnÄleiuoiaren Kon-
wk lt xwä M&qtmh* Itl* mehrfach yorkommt ^V Ja d^ßtliche An-
ti nge ^ den STot&ren Ottos UX ; Bildih>i{d äi fiteri-
b«*t CL %ilheit B* *), welche &&ehf den L^legungio in der Einleitung
Sickeis zur Diplomatö^Au«^be nämtiich Deutsche »ind *). . TTjpid ebenso
ist die Döppebcbieife von f und f speziell dem Notar Wurithar A in
Samllei. fleinriebi IIE geläufig ♦} Bebn- yiÄlgebrwbteö' .• ba) kenlosen
Sftpiiale-Ä kommt nur die besondere Form m Betrübt und ich will
nicht unterlA^u iru bemerken, daß die Bumbertfomi keine Seltenheit
ist Und die Beofehtung, daß die IJb^Shwg des
a> der Mitte de« Wortein der ersten Hälfte des XL Jahrh, in Frank¬
reich und NWerbthfingeii stärker üblich war, mag riellehht hei Beran-
riebung eines größeren Materials eine Korrektor erfahren ; die Sache
schien mir in diesem Zusammenhang nicht wichtig genug, um auf ihre
Vödoiguiig viel Zeit zu verwenden ,' . ■ , 4
Im Gegensätze zu diesen deutschen* heriehungavraße frä::irischen
&*&euU'U in den Schrifteigentflmliehfeeiten flömberts emheini die
K-Fonn als eim italienische Ich finde m im. Protokoll über eine Ent-
fsdbeiduug- Söy^tm:.rll.v auf ; /ebner ronitacheu Synode für das Kloster
S. Pietro von .Perugia aus dem L l(A)2 i deren Originalität al>er mangels
aifer formalen ttrkit^Üiehes Heglaatdguög kaum erweisbar sein wird 6 ),
«imn in der Gntergehrtft des Bischöfe Sigftid einer jedenfalls vor
UMh geschriebenen Urkunde von Bobbio *), endlich in einer dem
XL Jahrhundert angehdrigen Abschrift eines B&mmater 2Jotariabin~
*) % B. Kawerorkimtieu m Ahbildui^eh LT, 17* LL & 5,
*) Eteuöa Xi. 2, &;ÖC Xfi, 11, 10.
*) -tfetk <teriv, JMplom&ta Bl, .386*& . ; .
*) YgL Kwerairk iö Abh. lt, 11 uud 13.
•) Arch. p&L ibd. B, U8 Allerdings bezeichnet
4, 67 da* Stock kl» Original. Ita liümitsverveKhitta• • jrtyty,, ä.
ist g» ala iß amitura roruana oancellereflea g^hriv^^V: b
fkt dar. J. ICC® kbm i» KiCOi* aiiagejch lotsen exscbektf. "4Vf ,#
r»* «eVr •*<&! .*&!<& \ebwsr j&bgfcre Kopie and in
*j pÄknanle ün Afch v ffcpr. )ü?i«bardo, ‘KL'SeÄ ;
plö5mta;4, y c * '':'^;.v
296
E. y. Ottenthal.
struments vom J. 973 x ), in Buchform sorgfältig geschrieben. Die
kursiven Formen der Notariatsschrift, die auch von Anfang an nicht
fehlen, nehmen gegen Schluß immer mehr zu. Der Schreiber wird
mit dem Arch. pal ital. Bavenna zuzuweisen sein. In den Notariats¬
kreisen scheint diese Form im übrigen nicht verbreitet gewesen zu
sein, wenigstens fand ich sie in den zahlreichen Stücken dieser Art, die
wir jetzt im Arch. pal. ital. abgebildet finden, nirgends. Ebenso wenig
in den nicht zu dicht gesäten Abbildungen italienischer Handschriften
des XL Jahrh. In den Kaiserurkunden in Abbildungen stieß ich auf
diese Form nur beim Diplom Heinrichs HL St n° 2216, dessen Schreibar
ein Italiener ist 8 ). Aus diesem Befund erschließe ich, daß Humbert
diese Form in Italien kennen gelernt habe. Und wenn wir dann unter
Alexander II. diese BrForm häufig treffen, sowohl bei Schreibern welche
sich der Curiale, als solchen welche sich der fränkischen Minuskel be¬
dienen ®), so liegt die Annahme nicht zu fern, daß sie durch Humberts
Tätigkeit als Kanzler ihre Beliebtheit erlangte. Schon Peitz hat darauf
hingewiesen, daß Rainer, der ja schon unter Alexander II. päpstlicher
Notar war, diese Form auch gerne im Register Gregors VII. verwendet 4 ).
Daher scheint mir das Auftreten dieser Buchstabenform in LBr. für dessen
Schriftvorlage bedeutungsvoll zu sein.
Einzelne der hier geschilderten Schriftmerkmale finden sich nun
auch in anderen Leo-Privilegien. In erster Linie sei JL. 4272 für Köln ge¬
nannt das am 7. Mai 1052 in Süditalien von einem gleichfalls
sonst nicht bekannten Schreiber ausgefertigt und dessen Originalität
bestens verbürgt ist da die Datumformel von gleicher Hand wie in
JL. 4278 und 4298, also von dem Notar 0 Kehrs geschrieben ist®).
Auch hier finden wir die G-Schleife, Zackung der Bogenlinie des D,
Verzierung des f durch Doppelschleife, gelegentlich, jedoch nur zu An¬
fang des Wortes auch überhöhtes a. Außerdem noch gemeinsam mit
Humbert allein die abwechselnd gebrauchte einfache und doppelte
Schleife des diplomatischen Abkürzungszeichens und die elegante Gestalt
des S, wie sie von Humbert wenigstens aus JL. 4368 (1057) bekannt ist 6 ).
*) Arch. pal. ital. HI, 74-81.
*) Kaiserurk. in Abbild. H, 6 und dazu Text S. 21.
*) So nach Pflugk-Harttungs Specimina JL. 4557 (T. 32), 4634 (T. 34), 4667
(T. 35), 4673, 4636 und 4687 (all» T. 38) und 4767 (T. 39).
4 ) W. Peitz, Daa Originalregister Gregors VII. Wiener Sitzungs-Ber. Phii.-
Hist Kl., Bd. 165. V. Abh. 97.
•) Kehr, Scrinium 6, 84 und dazu oben S. 292 Anm. 1. — Das Or. von
JL. 4272 scheint Kehr damals noch nicht gekannt zu haben.
•) Pflugk-Harttung, Spec. T. 26 bei S. Benedicti und 81.
Das Brondolo-Privileg Leo’s IX.
297
Beim Kölner Privileg finden wir also gewisse Übereinstimmung mit
der Humbertschrift, die allerdings auch anderweitig sich erklären kann,
über das LBr. hinaus x ). — Nach der Schriftprobe bei Pflugk-Harttung
Spec. T. 23 scheint es, als ob auch der vereinzelte Schreiber von
JL. 4298* (für S. Stefano al Chienti, in Unteritalien ausgestellt) die
Zackung der Bogenlinien und die schwierige G-Schleife versucht hätte.
Die letztere findet sich ganz ähnlich in dem 1049 zu Beims entstan¬
denen Privileg für S. Peter zu Chalons JL. 4184, dessen Originalität
freilich nach dem vorliegenden Faksimile 8 ) mit Kehr anzuzweifeln ist,
das aber jedenfalls auf eine echte und sicher in der Nähe Lothringens ent¬
standene Schreibvorlage zurückgeht Daß Humbert auch damals beim
Papste weilte, ist zwar, so viel ich sehe, nicht zu belegen, aber aus
innem Gründen durchaus wahrscheinlich.
Es lassen sich also in mehreren Privilegien Spuren eines Einflusses
der Schrift Humberts nachweisen. Am umfänglichsten und klarsten in
LBr. Wenn ich trotzdem die Frage offen lasse, ob die Beeinflussung
eine direkte oder indirekte, d. h. durch die Schrift eines Schülers oder
Nachahmers Humberts vermittelte war, offen lasse, so geschieht das
einmal, weil die veröffentlichten oder sonst mir zugänglichen Schrift¬
proben sowie überhaupt der gegenwärtige Stand der Forschung über
die Urkunden Leos IX. eine voll ausreichende Grundlage für die Er¬
ledigung dieser Frage noch nicht gewähren. Dann aber auch, weil
LBr. mit JL. 4272 und 4298* sich untereinander darin näher stehen,
daß die verlängerte Schrift nach der älteren Sitte der Papstprivilegien
aus unbetonten, dünnen, langgestreckten Buchstaben besteht, während
die beiden Humbert-Originale stark betonte, epigraphische oder Initial-
Majuskeln aufweisen. Es muß angesichts der Mannigfaltigkeit, die wir
gerade bei der verlängerten Schrift unter Leo treffen, und angesichts
des geringen Vergleichsmaterials dahingestellt bleiben, ob diese Diskrepanz
nicht eine bloß zufällige oder scheinbare ist. Ein Blick auf die Schrift¬
proben in den Specimina zeigt, daß die Kanzleinotare Leos bald die
eine bald die ander Art der Ausstattung vorziehen, es könnte also
auch Humbert in einem andern (etwa von LBr. als Muster be¬
nutzten) Privileg sich der älteren Art der verlängerten Schrift bedient
haben.
*) Mit JL. 4272 stimmt da .in in der verlängerten Schrift der ersten Zeile
und in dem hoch Übei der Mitt Hänge angesetzten Kopf von f und f JL. 4287
für Bamberg (in Deutschland ausgestellt) bei sonstiger weitgehender Verschiedenheit
der Schrift so stark Überein, daß man direkte Benutzung des Kölner Privilegs oder
eines von gleicher Hand geschriebenen Stückes annehmen möchte. Sollte diese
elegante Schrift einem Kölner angehören?
*) Specimina T. 18, vgl. Kehr, Scrmium 6, 82.
298
£. v. Ottenthal.
Wie dem auch sei, in LBr. treffen so viele Charakteristika der
Schrift Humberts zusammen, daß man an Musterbildung durch den
Einfluß jenes Mannes denken muß, der einer der nächsten Vertrauten
und ständigsten Begleiter Leos war, der nachweislich zur Zeit der Aus¬
stellung von LBr. bei ihm weilte, der früher (1050) wie später (1057)
nachweislich Privilegien schrieb und den Kanzler Friedrich nach dessen
Erhebung zum Papst in der Leitung der Kanzlei ablöste. Unser LBr,
ist nach diesen Darlegungen nicht bloß vom Kanzleivorstand eigen¬
händig signiert, sondern auch mit guter Kenntnis der damaligen Kanzlei¬
bräuche und in engem Anschluß an sie geschrieben worden. Für einen
ständigen Kanzleibeamten, von dem wir etwa zufällig jetzt erst eine und
bislang die einzige Beinschrift entdeckten, möchte ich unsem Schreiber
w egen seiner sichtlichen Unbeholfenheit und Ungeübtheit nicht halten.
Denn auch von den vereinzelten Schreibern unter Leo ist höchstens jener
von JL. 4267 (Spec. T. 21) in der Urkundenschrift so w r enig geschickt.
Kehrs Untersuchungen, welche auf ausgebreiteter, wenn auch noch
nicht auf Kenntnis aller Originale Leos aufgebaut sind, haben doch
mit voller Sicherheit gezeigt, daß damals oft außer der Kanzlei stehende
Männer zur Dienstleistung in der überaus dürftig besetzten Kanzlei
herangezogen werden mußten, namentlich bei den langen, weiten und
vielfach auch recht raschen Beisen *). In welchem Kreise haben wir
nun den Schreiber zu suchen? Unter den Schreibkräften des Empfängers,
oder des vorübergehenden Aufenthaltsortes des Papstes, oder in der
dauernden oder zufälligen Umgebung des Papstes ? a )
LBr. ist datiert vom 12. März 1053, ist also in Italien ausgestellt.
Nach der mißglückten Synode zu Mantua (Febr. 21) zog der Papst
nach Bavenna. Außer seiner ständigen Begleitung, zu welcher Kardinal
Humbert zählte, finden wir hier die Bischöfe von Metz, Chur, Vienne,
Grenoble, Sitten und besonders zahlreich jene aus Mittelitalien, von
Bimini, Montefeltre, Sarsina, Pesaro, Sinigaglia, Cervia, Forlimpopoli,
Forli, Comacchio, Cesena und Imola. Am 13. März (IIL id. mart.)
entschied er in der alten Exarchen-Besidenz die strittige Bischofswahl
von Puy, ließ den von ihm anerkannten Elekten Petrus durch den
Kardinalbischof Humbert zum Priester und gleich am folgenden Tag
in Bimini zum Bischof weihen 8 ). Der Papst muß demnach mindestens
*) Scrinium 6, 82.
*) Vgl. die richtigen Bemerkungen Kehrs, Dipl. Miszellen, Gött. Gel. Nadir,
1900 S. 104 und Bresslau, Urkundenlehre 1 *, 234.
*) Alle diese Einzelheiten erfahren wir aus der Forma electionis Petri episcopi
Aniciensis, welche Mabillon Ann. ord. s. Benedicti 4, 742 aus einem Codex Ani-
ciensis abdruckte. Die Forma electionis ist eine protokollartige Aufzeichnung über
Das Brondolo-Privileg Leo’s IX.
299
am 12. März schon in Ravenna anwesend gewesen sein, LBr. ist also
in Ravenna ausgestellt.
Bei den seit Alters regen Beziehungen Venedigs mit Ravenna,
liegt es nahe, daß die Mönche des venetianischen Lagunenklosters ihre
älteren Privilegien mit der Bitte um Bestätigung hier und nicht schon
in Mantua vorlegten, jedenfalls ist anzunehmen, daß die Gesandtschaft
des Klosters bis zur Erfüllung des Gesuches an der Kurie verblieb. Es
ist also die Mundierung unseres Privilegs durch einen Mönch von
Brondolo durchaus im Bereich der Möglichkeit Das Archiv von Brondolo
enthält bis ins 11. Jahrh. zurückreichende Bestände. Aber wenigstens
die in Deutschland zurückgebliebenen Privaturkunden sind ausschließlich
Notariatsinstrumente aus Chioggia und Sinigaglia, von den Mönchen
des Klosters herrührende Dokumente befinden sich nicht darunter l ).
Daß die Mönche einen Notar aus diesen Städten mitgeführt hätten, ist
an sich höchst unwahrscheinlich, jedenfalls erschließen diese Notariats¬
instrumente keinen Zusammenhang mit der Schrift unseres LBr.
Sollte ein Ravennate der Schreiber gewesen sein, so wird man
naturgemäß wieder weniger an einen Notar sondern an einen Kleriker
der Domgeistlichkeit oder einen Mönch der dortigen Klöster denken.
Es steht zu spärliches Abbildungsmaterial zur Verfügung um diese
Frage weiter zu verfolgen. Es kann nur auf folgende Gesichtspunkte
Leos Entscheidung und die Bisehofsweihe Peters, in ungewöhnlicher oder doch
unregelmäßiger urkundlicher Form abgefaßt und sichtlich zum Teil verderbt Über¬
liefert*, aber in ihrem wesentlichen Inhalt durchaus unanfechtbar schon wegen der
vollständig zutreffenden, für Puy vielfach gleichgiltigen Bischofsliste, welche über
‘jiuns Series ep. hinaus durch das treffliche Buch von Gerhard Schwartz »Bischöfe
Reichsitaliens« vielfach bestätigt wird. — Eine Unstimmigkeit, welche für den
Ausstellungsort des LBr. nicht bedeutungslos ist, liegt in den überlieferten Tages¬
angaben: III. id. mart., luna XVIJI, feria VI. Beide letztem Zeitmerkmale würden
'len 12. März ergeben. Schon JaftS in den Papstregesten emendierte in feria VII.
Trotz der entgegenstehenden Angabe des Mondalters stimme ich dem aus nicht
chronologischen Gründen zu, weil nämlich Samstag der herkömmliche Tag der
Priesterweihe war und weil nach Schwartz 1. c. 157 als Tag der Weihe Erzbischof
Heinrichs von Ravenna, die nach der Forma electionis gleichzeitig mit jener des
Bischofs von Puy erfolgte, der 14. März auch anderweitig belegt ist.
*) Die Direktion des Germanischen National-Museums in Nürnberg schickte
mir die dort verwahrten, Herr Prof. Hampe die im Besitz des histor. Seminars in
Heidelberg befindlichen, für xr ch in Frage kommenden Originale gütdgst noch
Wien, das k. bayer. allgem. Reichsarchiv in München erteilte über die dort befind¬
lichen Brondolo-Urkunden Aufschlüsse, welche eine Autopsie unnötig machten.
Allen diesen Stellen sei auch hier der verbindlichste Dank ausgesprochen. — Meine
Au sicht, im Herbst 1914 den an das Staatsarchiv zu Venedig zurückgekommenen
Bestand einzusehen, fiel wie so vieles andere in den Abgrund des Krieges.
300
E. v. Ottenthal.
hingewiesen werden. LBr. zeigt keine Spur von Gewöhnung an kursive
Schrift. Die wenigen Tafeln dagegen mitNotariatsinstrumenten des XI. Jahrh.
aus Bavenna und den benachbarten Städten im Arch. pal ital. Bd. III und YII
zeigen eine ausgeprägte, ausgeschriebene Kursive l ). Aber auch in der erz¬
bischöflichen Kanzlei scheint man in Bavenna ebenso zäh wie in der päpst¬
lichen, wenn und solang sie mit den stadtrömischen Notaren in Zu¬
sammenhang blieb, der altersgewohnten Notarschrift treu geblieben zu
sein, denn auch noch die durch besondere Ausstattung der ersten Zeile
sich abhebenden erzbischöflichen Urkunden von 1107, 1126. 1148 un i
1156, welche Arch. pal. ital. YII, T. 45—48 abgebildet sind, zeigen
mehr oder weniger die notarile Kursive, obAvohl die erstero vom tabellio
Ugo prepositus et magister notariorum sancte Bavenn. ecclesie geschrieben
ist Aus dem XI. Jahrh. stehen mir keine einschlägigen Abbildungen
zu Gebote, aber man wird kaum glauben dürfen, daß die deutsche Ab¬
kunft der Erzbischöfe Widger, Hunfrid, wahrscheinlich auch Heinrichs
zeitweise eine Änderung des noch später festwurzelnden Schreibgebrauchs
zu erzeugen imstande war.
Man wird daher den Schreiber unseres Privilegs wohl eher in
Kreisen zu suchen haben, in welchen man sich schon früher und all¬
gemeiner und auch für Urkunden von den Ausläufern der Kursive ab¬
gewandt hat. Auch in Italien hat man um die Mitte des XL Jabrli.
schon mehrfuch für bischöfliche Urkunden, besonders wenn sie spezifisch
kirchlichen Inhalts waren, der Herrscherurkunde in etwas angeglichene
Formen gesucht und in Zusammenhang damit haben derartige Schreiber
sich wohl auch von der alten Schrift emanzipiert oder waren ihrer,
wenn sie aus ganz anderra Berufekreis hervorgegangen waren, gar nicht
mächtig. Schon eine vom Subdiakon Sigmar als cancellarius s. Vero-
nensfe ecclesiae 845 geschriebene Urkunde -) zeigt einen überraschend
starken Einschlag diplomatischer Minuskel Dann verweise ich — es
stehen leider nur ganz ungenügend wenige Schriftproben zu Gebote —
auf das schon besprochene Synodaldekret von 1002 8 ), das nach meiner
Meinung sehr wohl eine in Perugia ein paar Jahrzehnte später ent¬
standene Kopie sein könnte und ebenso wenig auch nur die leiseste
Spur von Kursive zeigt wie LBr. Namentlich sehen wir, daß man in
Toskana zu unserer Zeit diese Schrift schon ganz geläufig schrieb, vor
*) Wie sich solche bei kalligraphischer Sorgfalt auf linierte; j Blatt gestaltete,
kann man aus dem oben S. 296 Anm. 1 besprochenen Stück Arch. pal. it. III.
74—81 ersehen.
*) Arch. pal. ital. III, 13. — Zur Sache vgL auch Brcsslau Urkundenlehre
2 *, 81.
s ) S. oben S. 295.
Das ßrondolo-Privileg Leo’s EX.
301
allem in Florenz, wofür auf die hochinteressante Kopie des Privilegs
Benedikts IX. von 1038 *) nnd auf die Schrift in den von Florentiner
Notaren geschriebenen Privilegien Nikolaus II. *) verwiesen werden kann,
ln Arezzo, dessen Urkunden durch die verdienstliche Ausgabe Pasqui’s
bequem zu überblicken sind, beginnen die Bischöfe schon seit Anfang
desXI. Jahrh. gelegentlich sich statt des Notariatsinstrumentes der Siegel¬
urkunde mit besonderem an das Diplom angelehnten Formular zu be¬
dienen 3 ). Als Schreiber nennen sich in solchen Fällen anfangs can-
cellarii. dann öffentliche Notare, denn wir finden sie nicht für die Ge¬
schäfte des Bischofs allein. Über die Schrift der Urkunden und speziell
der bischöflichen ist leider fast nie eine Angabe gemacht, aber das
bischöfliche Privileg n° 288 von 1078, von dem eine Abbildung bei¬
gegeben ist, zeigt, daß der Notar Teuzo reine diplomatische Minuskel
schreibt Und das ist ein Notar, welcher auch für Private tätig ist 4 ),
ln Oberitalien fanden sich damals wohl mindestens an jedem Domstift
Kräfte die der diplomatischen Minuskel mächtig waren. Aus Bresslaus
Ausgabe der Urkunden Konrads II. ersieht man, wie häufig lokale
Schreibkräfte für die Diplome der dortigen Beichsstifter damals heran¬
gezogen wurden oder derartige Kopien anfertigten, offenbar ebenso in
reiner diplomatischer Minuskel wie die S. 295 erwähnte Urkunde des
Bischofs von Bobbio. Ihrer bedient sich auch ein Kanoniker von Reggio,
welcher 1059 das Privileg Nicolaus II. und auch ein Diplom Hein¬
richs IV. für seine Kirche mundiert hat 5 ).
Aus der Beschaffenheit der Schrift läßt sich also kein genügender
Haltpimkt finden, in welchem Kreis wir den Schreiber zu suchen haben.
Sicher ist nur, daß wir es mit einem Italiener, oder doch einem Ro¬
manen zu tun haben. Das zeigen die Sprachformen: Brondolus korr.
>) JL. 4109, abgebildet bei Kehr, Diplomatische Miszellen. Gött. Gel. Nachr.
1898 nach S. 612.
*) Kehr, Scrinium 6, 91. Auch der Notar Aymo, welcher, doch wohl schon
in Toskana JL. 4413 wesentlich in den Formen eines Notariatsinstrumentes nieder-
schrieb, meistert die fränkische Minuskel vollständig, Arch. pal. ital. VI, 6.
*) Das erste Beispiel bei Pasqui Documenti di Arezzo 1, 129 n° 94 von
1009, bezeichnenderweise mit der Firmierung: Johannes diaconus cancellarius et
canonicus consensi descripsi et subscripsi, dann von 1026, 1027, 1033, 1037, alle
von Gerardus cancellarius geschrieben (n° 125, 127, 163, 166), andere von 1028,
1041, 1057 ff. von Notaren (n® 129, 161, 182, 183) und zwar n® 182 und 183
vom gleichen Tag aber von vor »chiedenen Notaren.
4 ) So Pasqui n® 229, 230, 231, 242, 243. — Ausnahmsweise scheint auch
schon ein Notar Andreas im J. 1023 eine notarielle Schenkung des Bischofs an
das Kloster S. Flora zu Arezzo in diplomatischer Minuskel geschrieben zu haben,
da Pasqui hier ausdrücklich bemerkt: scritta di bei minuscolo.
*) S. Kehr, Scrinium 6, 90, Anm. 3.
302
E. v. Ottenthal.
in Brundolus, com korr. in cum, Michahelis; ob auch die unklare
Konstruktion zu Beginn der Disposition: Cuius amoris etc. auf dieses
Konto gehört, bleibe dahingestellt
*
♦ *
TL Prüfen wir nun, ob wir durch die Untersuchung des Diktats
einen weiteren Einblick in die Beschaffenheit unseres Privilegs ge¬
winnen können
LBr. bestätigt die aufgezählten Besitzungen des Klosters, sichert
deren ruhigen Besitz und umgrenzt Rechte und Pflichten des Diözes&n-
bischofs von Malamocco. Es ist also in der Hauptsache eine Kon¬
firmation des im Original erhaltenen Privilegs Benedikts IX. vom 6. Juni
1044 1 ). Aber wie der Kleinsatz bei meinem Abdruck ausweist, ist vom
Wortlaut der Vorurkunde nur weniges herüber genommen LBr. ist
wesentlich selbständig abgefaßt. Und zwar entspricht es durchwegs
den neuen, freien, sehr mannigfachen Dictamina, welche das Bild der
Urkunden Leos IX beherrschen aber auch verwirren
Zum Vergleich ist gleich die Adresse geeignet und zwar stehen
hier am nächsten JL. 4264 für Farfa von 1051, JL. 4268 für S. Maria
in Pomposa von 1052 und JL. 4303 für S. Maria auf dar Insel Tremiti
von 1053.
LBr.: monasterio sancte ... in partibus V. ... in loco qui dicitur
B. posito atque per id A. abbati suisque successoribus canonice intran-
tibus in perpetuum.
JL. 4264: ecclesiae sanctae . . . quae ponitur in Ph.... et pro ea
B. abbati et iuste intrantibus suis successoribus in perpetuum.
JL. 4268: ecclesiae gloriosae . . . sitae in ... et per eam . . . ab¬
bati tuisque successoribus iuste intrantibus in perpetuum.
JL. 4303 *): ecclesie beate ... in insula que dicitur ... et per
eam G. abbati suisque successoribus canonice intrantibus in perpetuum.
Dazu erwähne ich noch von dem lückenhaft und sehr verderbt
überlieferten JL. 4263 für Subiaco 8 ): ecclesie beati . .. qui ponitur in
.. . et per te .. . iustis successionis (!) in perpetuum.
Zu beachten ist hier einmal die Voranstellung der durch den Patron
bezeichnten Kirche vor dem Abt. Das finde ich zuerst gesichert in
JL. 4240 für Toul 4 ), ebendort 1050 Okt ausgestellt Die Wendung
! ) Veröffentlicht von Wattenbach iin Neuen Archiv 12, 408.
*) Pflugk-Harttung Acta 2, 80.
*) Regesto Sublacense 5ö.
4 ) JL. 4186 kommt als Fälschung nicht zu Vergleich.
Das Brondolo-Pririleg Leo’s IX.
303
wurde dann in der Kanzlei gang und gäbe. Sie findet sich l & in
JL 4261 von der Hand des Notars B und in JL. 4298 von jener des
Notars C. Eine zweite charakteristische Wendung ist dann intrantibus
statt des früher schon mehrfach gebrauchten promovendis. Dieser Aus¬
druck ist mir vor JL. 4264 nicht vorgekommen und in der Verbindung
mit canonice zuerst in JL. 4270, 4272, 4274 (Notar B), 4298 (Notar C),
also auch diese Phrase wird neben Fortdauer der altem Kanzleibrauch.
Das Kloster pflegt als Kirche des Schutzheiligen bezeichnet zu werden,
außer in LBr. findet sich monasterium nur noch in JL. 4301 (Notar C)
ftr S. Trinita in Bari und 4168 f&r Nonantula l ).
In der Arenga von LBr. erscheint als charakteristisch die homi-
Kenartige, auf den Schutzpatron hinzielende Fassung, an welche sich
unmittelbar die Dispositio anschließt, in deren Eingang der Arcngenge-
danke nochmals durchleuchtet Zu bequemerer Übersicht wiederhole ich
wieder den kurzen Satz:
Sancte trinitatis fidem indubitanter confessi et omni confitentes
tempore non desistimus adorare, ut oportet, venerari semper et colere.
Cuius amoris et in huius sancti nominis virtutem confessionis privilegio
ducti loca sancta vere in unitate trinitati dicata pio affectu gaudemus
promoveri et . . reformari, inter qu$ . ..
Ich habe hier die gleichen Privilegien wieder zum Vergleich heran¬
zuziehen:
JL. 6264: „Initium sapientiae thnor domini“. Cuius timore ac
debita reverentia commoniti pro glorioso filio et casto gloriose matri
simul et castae honorem libenter exhibemus pia devotione .. . Inter
haec siquidem ... desideramus, ut sicut inter caeteras nominis fama
ita et necessariis rebus gloriosius exaltetur per nostram humilitatem
s. Pharph. ecclesia . .. Solebant semper ecclesiis bona sua confirmari
... per ap. privilegia . . . quae non refutabit . . . Moria. Suscipe ergo
s. virgo . . . bona .. . nostro tibi firmata privilegio . .. Cum benedic-
tione filii tui posside quae possides ... et vice tua tibi . . . abbati . . .
concedimu8.
JL. 4268: Begina caelorum dei genitrix super choros angelorum
exaltata, ut a nobis pia exultetur devotione . .. providere debet sollertia,
scilicet in locis nomini tuo dicatis augeudo beneficium, quo sui speciales
*) Pflugk-Harttong, Acta f, 76, ohne Schufiprotokoll, Tiraboechi Storia di No-
nantola 1, 104 gibt aut anderer Kopie das J. 1049 als Ausstellungsjahr an. Nach
dem Wortlaut der Adresse bezweifle ich das (ev. für die echte Grundlage). Das
Privileg könnte ebensogut 1053 gelegentlich der 8ynode von Mantua gewährt
worden sein. Allerdings soll nach Muratori Ant ItaL ö, 680 Abt Anselm schon
1049 gestorben sein.
304
£. y. Ottenthal.
commodius tibi possint exhibere servitium. Quapropter te . . . volumus
preesse.
JL. 4303: Omnium sanctorum merita, cum sicuti oportet, solempni
veueratione colamus, dignum utique et iustum est, ut reginam caelorum
post ereatorem suum filium (suum) unigenitum omni creature devota
mente preponamus et in locis specialiter sibi dicatis, bona .. . hilari
exhibitione faciamus.
JL. 4263. Im Eegestum Sublacense ist von der Arenga nur der
Schluß überliefert: servitoribus suis ministrari oportet habile suflragium.
Cnde tibi sancte et reverende pater 1 ) tua tibi confirmamns .. . pia et
devota observatione. Digna soror tuo virgo Scolastica . . . possideat
fraterne caritatis speciali reverenüa . ..
Die Verwandtschaft dieser vier Arengen vor allem in Auffassung
und Gedankengang, aber teilweise doch auch in Satzbau und Wort¬
schatz wird einleuchten. Und zwar ist die t bereinstimmung eine kreu¬
zende und dabei eine so frei bewegliche, daß nicht an gemeinsames
Muster, sondern nur gemeinsames Diktat zu denken ist Eine ähn¬
liche Haltung der Arenga zeigt auch schon das Privileg für die Fa¬
milienstiftung Leos Woffenheim JL. 4201: 0 sancta et admirabilis crux,
in qua J. Chr. dominus noster pependit Devictus amore, imo destrictus
debito begnadet der Papst das von seinen Eltern gestiftete Kloster.
Hier ist aLo die Arenga geradezu als ein Stoßgebet stilisiert, abweichend
von den untereinander und mit LBr. viel näher verwandten Urkunden
für Farfa, Pomposa, S. Maria Tremiti.
Sonst fand ich in den mir zugänglichen Texten von Leo-Urkunden
derartige Arengen nie *). Wohl aber wird häufiger so wie in JL. 4263,
4264 und LBr. in der Narratio oder Dispositio die Widmung an den
Klosterheiligen oder des Papstes religiöse Verehrung für ihn betont.
So zuerst in dem enthusiastisch an den h. Theodat gerichteten Privileg
für S. Die (JL. 41Ö7), dann in jenem für Donauwörth (4207), Ambronai
(4217), S. Maria in Gradibus zu Arezzo (4227, Or. von Humbert ge¬
schrieben), S. Maria in Hesse (4245), Besan^on (4249), Gorze (4250),
Monte Cassino (4274 und 4298). Der Brauch beginnt also während
jenes Aufenthaltes in Deutschland, auf welchem auch die inhaltlich wie
q Gemeint ist 8. Benedictue. Aus dieser Anrede des Klosterpatrons möchte
ich folgern, daß seiner auch schon in der Arenga gedacht war.
*) In JL. 4197 für S. Deodat (Galilaea) ist die Adresse an den Schutzheiligen
gerichtet, während (wenigstens in unserer Überlieferung) eine Arenga fehlt. Die
Nennung der beiden AposteifÜrsten in JL. 4267 für S. Pietro in Perugia bezieht
sich deutlich auf die Schutzverleihung, nicht auf den Klosterpatron, der nur Petrus
all in ist.
Das Brondolo Privileg Leos IX.
305
formell neuartigen Privilegien einsetzen und zuerst ein deutscher
Notar eintritt Ich kann hier auf diesen Punkt nicht näher eingehen,
sondern bemerke nur, daß die aufgezählten Stücke sonst nicht nähere
Berührungspunkte mit der oben vorangestellten Gruppe aufweisen.
Die Sanktionen fallen in LBr. aus dem Kähmen, wie er durch
den Liber diurnus gegeben war, ebenfalls teilweise heraus. Die Straf¬
formel ist ungewöhnlich knapp und kurz: CanonicQ igitur huius in-
stitutioms et confirmationis temerarium violatorem usque ad satisfac-
tionem apostolicum anathema condemnei Sie findet sich ganz ähnlich
in JL. 4268: violatorem igitur huius sacri privilegii, nisi resipuerit et
ad condignam satisfactionem venerit, apostolicum anathema condemnet»
Der Ausdruck anathematis ap. vinculo con’empnatus auch in JL. 4263,
dessen schwungvolle Strafformel sonst in ihrer Artung JL. 4245 und
den vom Notar B geschriebenen l ) 4253 und 4254 nahe steht Der
nackte Ausdruck apostolicum anathema (statt nostrum ap. anath. oder
nostrum anath.) ist unter Leo überhaupt selten, er fiel mir nur in
JL. 4213 auf, wo er aber mit der alten Formel 64 des Liber diurnus (ed.
Sickel) Zusammenhängen wird, dann in dem jedenfalls überarbeiteten
JL. 4261 und endlich in JL. 4303 in der Wendung temeratoribus ...
anathema ab apostolica sede. So ist auch in diesem Punkte auf die
Übereinstimmung vor allem zwischen LBr. und Pomposa, aber doch
auch jene mit Subiaco und S. Maria di Tremiti Gewicht zu legen 2 ).
Die Heilformel in LBr. gedenkt wieder der Schutzheiligen, hier
beider, des Erzengels Michael und der Trinität, und läßt so den in der
Arenga angeschlagenen, in der Disposition fortgespielten Akkord rhyth¬
misch und wirkungsvoll ausklingen. Ein Vorbild hiefttr bietet allerdings
schon die Formel 96 des Liber diurnus (ed. Sickel), welche den Be¬
obachtern des Privilegs Lohn aus den Verdiensten des Schutzheiligen
und der Apostelfürsten verheißt, wie auch in n° 101 neben der gött¬
lichen die Strafe S. Peters gedroht wird. Aber eine, allerdings nur
beiläufige, Durchsicht der Privilegien ergab, daß diese Wendungen im
X. und in der ersten Hälfte des XL Jahrh. nur selten gebraucht wurden.
Unter Leo IX. sind die ersten sicheren Fälle 8 ) das schon besprochene Pri¬
vileg für Woffenheim JL. 4201 von 1049 Herbst, in welchem das
hL Kreuz für die Bestrafung, sowie jene für Ambronai und Florenz
JL. 4215 und 4230 von 1050 Apr. 30 und Juli 13 (ersteres in Rom,
letzteres wohl in Florenz ausgestellt), in welchen der Patron in der
Segenformel angerufen wird. Es stimmt bestens zu ihrem Inhalt, daß hier
*) Kehr, Scrinium 6, 82.
-) Die Strafformei in <4264 dagegen ist als Seitenstück zur Arenga gehalten.
*) Auch hier würde JL. 4186 eventuell vorhergehen, vgl. oben S. 302 Anm. 4.
306
E. v. Ottenthal.
die Nennung von Heiligen gleichzeitig mit den inbrünstigen Ausdrücken
der Heiligenverehrung in den anderen Urkundenteilen auftaucht und
sich seit dem sehr individuell gehaltenen, dem Papst sichtlich sehr am
Herzen Hegenden Privileg für sein Woffenheim immer starker verbreitet;
sie wird unter den neuen Notaren kanzleigemäß, d. h. wir treffen nun
bei Originalen aller Kanzleinotare 1 ) derartige Wendungen, aber in den
Elaboraten keines von ihnen ständig oder auch nur in der Fassung
8tätig. Bald wird der Apostelfürst als der eigentliche Inhaber der
obersten Gewalt des Papstes genannt, häufiger so wie in LBr. die
Schutzheiligen der Kirche, bald fungieren sie als Rächer der Übertretung,
bald als mächtige Fürsprecher für die Gehorsamen wie in LBr. Auch
der Ausdruck des himmHschen Lohns ist sehr abwechslungsreich, mit¬
unter sehr breit Dies sollte vorausgeschickt werden für die richtige
Beurteilung der nachfolgenden Vergleichsstellen. Ich stelle wieder die
knappe Fassung von LBr. voran.
Conservatorem vero principe cqlestis exerdtus interveniente archan-
gelo trinus et unus deus 8 ) exaltet Dem steht am nächsten einerseits
JL. 4268, anderseits 4264.
JL. 4268: Conservatorem vero dominae nostrae b. Mariae intercessio
laetificet
JL 4264: Exaltata super choros angelorum Maria exaltet conser-
vantem bona sua, pro dominae suae reverentia princeps apostolorum
P. ditet illum semper benedictione apostoHca, annuente hoc virginis
patris ac virginis matris dei omnipotentis gratia.
Die „Erhöhung“ im Himmel ist nur diesen beiden Privilegien eigen.
Häufiger heißt es, daß der Gehorsame intercessione (JL. 4263, 4298),
precibus (4274), adiuvante (4215, 4254), meritis (4303) des Heiligen
das ewige Leben haben oder die göttliche Gnade genießen oder daß
ihm S. Petrus das Himmelstor erschließen (4242, 4267, 4309) solle.
Es ist ganz natürlich, daß diese dem ausgedehnten Schatz der kirch¬
lichen Gebete und Schriften entnommenen, den geisthchen Diktatoren
vom taghellen Gebrauch geläufigen Wendungen stark wechseln, aber
auch bei den verschiedenen Urkundengruppen leicht meinanderklingen.
Als Beleg für beide Behauptungen seien hier noch die Heilformen der
im übrigen nahestehenden Priv. für Subiaco und Tremiti angeführt.
JL. 4263: Hilaris ad hanc domum dei dator et prudens pro do-
no uno centuplum accipiat et. . . vitam etemam sibi beatus idem pater *)
‘) So JL. 4230 (Lietbuin), 4254 und 4259 (Notar B), 4274, 4298, 4301 (Notar C),
4283 (Notar D).
*) Brondolo war eben S. Michael und der Dreifaltigkeit geweiht.
a ) Nämlich Benedictus, ko muß jedenfalls statt des sinnlosen partes gelesen
werden.
Das Brondolo-Privileg Leo’» IX.
307
optineat Et quoniam beati P. hec abbatia est propria, qui sdbi bona
fecerit, eum ipsum — apud deum pium intercessorem habeat
JL. 4303: Piis vero observatoribus eins sempitemam a filio et do-
mino ip8iu8 perpetuae Virginia Mariae recompensationem meritis eins
8anctoramqne apoatoloram patrociniis pro sna benevola et devota obe¬
dien tia concedi preobtamus. — Beide erinnern am meisten an JL. 4264.
Der Ausdruck hilaris auch in JL. 4303 in der Arenga, sowie ja auch
sonstige gemeinsame Wörter in verschiedenen Urkundenteilen dieser
Stücke dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein werden 1 ).
In LBr. wird der Empfänger weder in der Adresse noch in der
Dispositio in direkter Bede angesprochen, desgleichen in JL. 4264 und
4303, dagegen wohl in JL. 4263 und 4268. Es ist darauf kein Gewicht
zu legen, die Notare B und C wechseln in diesem Belang ebenso.
Ähnlich verhalt es sich mit dem unvermittelten Übergang von Arenga
zu Dispositio, namentlich ohne Erwähnung der Urkundenbitte in LBr.
Auch das finden wir bei verschiedenen, nicht vom gleichen Diktator
herrührenden Leo-Privilegien, wenn auch weit seltener als das Gegenteil
und so darf immerhin angemerkt werden, daß LBr. auch diese Eigen¬
tümlichkeit mit JL. 4263, 4264 und 4268 gemein hat
Arenga, Eingang der Dispositio und die Sanktionen von LBr. tragen
in ihrem Stil ein dem persönlich gefärbten Ton dieser Partien ange¬
paßtes Gepräge, ab und zu eine gezierte Wortstellung (venerari semper
et colere, amoris et in huius s. nominis virtutem confessionis, collatio est
largita fidelium, Metamaucensls episcopus quilibet (— Vorurk.) principe
cele8ti8 exercitus inveniente archangelo). Dagegen ist rhythmischer Schluß
der Satzteile oder Beimprosa nicht beabsichtigt In den beiden Privilegien
für die großen und durch ihre ganze Geschichte in der Kirche hochan¬
gesehenen Abteien Subiaco und Farfa ist der Schmuck der Bede ein
reicherer und kommt daher auch rhythmischer Tonfall öfter vor, un¬
willkürlich, denn es fehlt auch nicht an Stellen, an welchen solcher
Satzschluß unterlassen ist, obwohl er mit leichter Umstellung der Worte
herzustellen wäre *). In dem Privileg für Pomposa ist diese Zier seltener,
*) Aa sonstigen übereinstimmenden Wendungen könnte noch hingewiesen
werden auf: LBr. potsidet vel iusto dono possidebit mit JL. 4263 posaidet vel
in poeterum possidebit, 4264 concessa sunt vel in posterum concedentur; LBr. in-
vadere, ledere aut snbtrahere, 4264 nullus invadat, nullus minuat, nullus sub-
trahat; immo = 4264.
*) 8o etwa JL. 42^3: oportet habile suffiragium, frateme caritatis speci&li
reverentia, liberalis tradidit usus, oder Wortstellungen wie tibi solitario solitarium
elegisti, morte moriutur duplici und 3264: cupimus suffiragium, necessarium susci-
piamus commodum; tene quae tenes, posside quae possides, simul et chrisma; ex-
308
E. v. Ottenthal.
in jenem für das weltentlegene Inselkloster in Treniiti fehlt sie fast
ganz. Es besteht somit auch in diesem Punkte kein Gegensatz zwischen
LBr. und den ihm sonst in positivem nahe verwandten vier Urkunden.
Wenn nun diese fünf Stücke nach ihrem Diktat zusammengehören,
so wäre es gewiß die nächstliegende Annahme, daß sie auch von gleicher
Hand geschrieben waren, ulso von einem Kanzleinotar. Leider sind die
Urschriften der vier andern Privilegien nicht mehr erhalten, oder doch
nicht zum Vorschein gekommen. Der Schriftbefund des LBr. ergab aber
an sich Bedenken gegen solche Vermutung 1 ), welche dadurch nur ver¬
stärkt werden können, daß nach dem Diktatbefund der Schreiber von
LBr. bei dieser Niederschrift schon seit zwei Jahren Notar der päpst¬
lichen Kanzlei und noch immer in der diplomatischen Minuskel so
ungewandt und unbeholfen gewes »n wäre. Das führt zur andern Mög¬
lichkeit, daß Schrift und Diktat vou LBr. auseinanderfallen und dafür
ließen sich auch die vielen aber sofort verbesserten Verschreibungen
unseres Or. geltend machen. So wäre denn nur der Verfasser des LBr.
wiederholt und zwar im Zeiträume mehrerer Jahre zur Kanzleiarbeit
herangezogeu worden.
Es konnte wahrscheinlich gemacht werden, daß für LBr. die Hand
des Kardinals Humbert musterbildend war; Kehr hat nachgewiesen-),
daß dieser nicht bloß JL. 4227 und 4368 geschrieben, sondern auch
diese beiden und JL. 4366 verfaßt habe. Sollte er nun auch der Dik¬
tator unserer Gruppe sein? Daß er als tonangebende Persönlichkeit
der Kurie öfter konzipierte als mundierte, wäre ja recht begreiflich. Da
wir von Humbert ein Stück kennen, das älter als unsere Gruppe ist
und zwei die jünger sind, so besitzen wir ein sehr günstiges Vergleichs¬
material, umsomehr als Humbert einen recht ausgesprochenen Stil hat,
welcher sich während dieser wenigen Jahre kaum irgendwie änderte.
Sehen wir nun zunächst die Arengen oder die Strafformeln dieser Huin-
bert-Privilegien an, so finden wir in Gedankengang und Phraseologie
ein wesentlich anderes Bild als in unseren fünf Stücken. Humbert be¬
tont in seinen Arengen stets die Höhe und Pflichten der Papstgewalt,
weist nicht einmal auf die Schutzheiligen der begnadeten Kirchen hin,
obwohl zwei dieser Stücke ebenfalls Benediktinerklöstem zugehören.
In der vorausgehenden Adresse ist auch bei den jüngem Viktorprivi¬
legien der Kirchenvorsteher, nicht die Kirche vorangestellc, ja in JL. 4368
communicatio — indignatio, maioribus — minoribus; exaltata super choros angelorum
Maria. Daneben auch Satzschlüsse wie JL. 4263 fidelet» semper fuimus, intercessoreiu
habeat, JL. 3264 nos infringere noluimus, suscipiamus commodum.
i) S. 298.
•) Nachr. der Gött. Ges. der Wiss., Phil.-Hist. Kl. 1900, 103 ff.
Das Brondolo-Pririleg Leo’s IX.
309
nur dieser genannt Auch das Latein ist in LBr. viel weniger korrekt,
doch konnte das zur Not als Folge von Diktieren erklärt werden« An¬
derseits finden sich aber manche, auch einzelne seltenere Ausdrücke in
beiden Gruppen gemeinsam, so aus LBr. nominatim, firmare (statt con-
firmare), consuetudo institutio, sed potius = 4366, letzteres auch
4227; suffragium in 4263 =• snfiragari 4227; unde in 4263, 4303
= 4366, 4368, maledicatur 4263 = 4368; minuat in 4264 — 4227,
4366; maxime 4264 — 4366, 4368, utique in 4303 = 4227, 4366;
recompensatio 4303 = 4366. Endlich ist in der Heilformel der
beiden Viktorprivilegien der Segen precibus s. Mariae (4366), bezw.
interventu patris Benedicti (4368) verheißen, immerhin ähnlich wie
in den beiden zeitlich spätesten Stücken der Brondologruppe x ).
Eine gewisse Verwandtschaft ist also wohl zu erkennen, sowohl in
einzelnen Ausdrücken, als, worauf mehr Gewicht zu legen ist, in der
Gesamthaltung. Die Humbertstücke gehören gleichfalls dem neuen Typus
an, wie er durch die deutschen Päpste in die päpstliche Kanzlei Ein¬
gang gefunden hat. Die Privilegien jüngerer Fassung heben sich von
der Gesamtheit der alten, noch wesentlich an die Formulare des Liber
diurnus angelehnten weit stärker ab als untereinander. Da tritt das
Gemeinsame am augenfälligsten hervor: die Betonung eines starken
persönlichen Bandes, welches den Aussteller mit dem Empfänger oder
dessen Schutzheiligen oder dessen kirchlicher Stellung verbindet, der
Ausdruck der religiösen Gefühle vor allem in Heiligen- und Beliquien-
kult sowie der hierarchischen Bestrebungen, welche die Seele des Papstes
ganz erfüllen. Das ist Grundton dieser Leonischen Privilegien *). Er findet
sich in einer Gruppe, welche Waas lediglich auf Grund der Beachtung
gewisser stilistischer Eigentümlichkeiten, namentlich von Beimprosa,
Rhythmus und Kursus dem Diktat des Papstes selbst zuschreiben will *),
er waltet in der Gruppe, welche wir hier näher betrachteten, er findet
z. ß. viele Anklänge in Stücken, welche der Notar B geschrieben hat,
er leuchtet aber auch in JL. 4292 und 4293 durch, welche nach der
Scriptumformel sicherlich von stadtrömischen Notaren der päpstlichen
Kanzlei mundiert waren« Er fehlt in den Privilegien aus den ersten
Monaten von Leos Pontifikat, aber er ist nicht unter diesem Papst erst-
*) Vgl. jedoch die Ausführungen S. 305, 306.
f ) Ich fasse auch hier nur die formale Seite ins Auge, da der Inhalt des
LBr. keinen Anlaß gibt auf die positiven Neuerungen des Rechtsinhaltes einzu¬
gehen, wie sie namentlich Hans Hirsch in mehreren seiner Arbeiten einläßlich
beleuchtet hat
*) Leo EX. und Kloster Muri, Archiv f. Urkundenforschung 5, 359 ff.
310
£. v. Ottenthal.
malig zu treffen. Schon unter Clemens IL enthält das Privileg für
sein heißgeliebtes Bamberg (JL. 4149) einen solchen Erguß. Mundiert
ist diese Urkunde von einem Kanzleischreiber Heinrichs III., gleich dem
um vier Monate altem Privileg für Hamburg-Bremen 1 ). Aber die
blumenreiche warmblütige Sprache mit vielfacher Neigung zu Beimprosa
und rhythmisch abklingenden Satzschlüssen ist nur dem Bamberger Stück
eigen. Haben wir es hier mit einem Prunkstück des sonst so sachlich
nüchternen Kanzleimannes zu tun oder reicht dieses Diktat in eine
höhere Sphäre hinauf? Die innem Gründe, aus welchen Waas das
Diktat einer Gruppe von Leo-Privilegien dem Papst selbst zuschreibt,
dürften so ziemlich auch hier geltend gemacht werden können. Aber
wir werden mit solchen Schlüssen doch äußerst vorsichtig sein müssen,
wenn wir auch die früheren Vorstellungen von reichlichem Personal und
genauer Arbeitseinteilung der päpstlichen Kanzlei für diese Zeit auf¬
zugeben haben. Es ist doch noch ein großer Unterschied, ob ein
Papst wichtige Stücke seiner amtlichen Korrespondenz selbst diktiert
oder seine Privilegien selbst abfaßt
Wohl aber dürfen wir als sicher hinstellen, daß wir im Clemens-
Privileg für Bamberg und in den neuartigen Privilegien Leos Aus¬
arbeitungen besitzen, die den Geist dieser deutschen Päpste atmen und
daher ihren Ursprung in den leitenden Kreisen der Kurie von damals
haben müssen. Eine sichere und scharfe Scheidung der einzelnen Dio-
tamina jener Übergangszeit ist jedenfalls nur, wie Kehr in seinen ein¬
schlägigen Arbeiten wiederholt andeutete, auf Grund einer kritischen
Durcharbeitung des ganzen Stoffes möglich, wenn sie überhaupt
restlos gelingen wird. — Und so muß ich hier, wo ich nur das eine
neu aulgefundene Original Leos veröffentlichen und erläutern will, bei
dieser Frage Halt machen und mich mit dem Ergebnis bescheiden, daß
die Fassung von LBr. jener der Privilegien JL. 4263, 4264, 4268 und
4303 am nächsten steht daß sie durchwegs dem modernen Sil der
Leo-Urkunden entspricht auch manche Anklänge an die Humbertstücke
zeigt jedoch auch solche Abweichungen von seinem Stil, daß man den
Verfasser wohl nur in dem von Humbert angjregten und beeinflußten
Kreis zu suchen haben wird. Wie die Schrift des LBr. auf Kanzlei-
mustem beruht so ist die Fassung als Kanzleielaborat anzusprechen.
♦
* *
III. Über den materiellen Inhalt unseres Privilegs genügen wenige
Worte. Es steht mitten innen zwischeu jenem Benedikts IX. von 1044
*) Bresslau in dieser Zeitschr. 9, 22. s. auch Kehr, Sctinium 6, 80.
Da« Brondolo-Pririleg Leo’« IX.
311
Juli 6 x ) und jenem Calixt IL von 1122 *), ersteres im Original er¬
halten^ letzteres in einem Transsnmt des Xlll. Jahrh., welcher allerdings
päpstliche Kanzleischrifk nachahmt, aber nicht jene des ausstellenden
Papstes, sondern wie sie im XIII. Jahrh. üblich war. Nur Kota, päpst¬
liche Unterschrift und Benevalete sind im calixtinischen Stil gehalten.
Nach Formular und Wortlaut besteht gegen den Inhalt keinerlei Be¬
denken. Yor- und Nachurkunde enthalten Besitzbestätigung, eine
namentliche Aufzahlung des Besitzes jedoch nur LBr., welches daher
für die Lokalgeschichte selbständigen Wert besitzt Die Stellung zum
Diözesanbischof ist in unserm Privileg, obschon mit Benutzung der
Yorurkünde, so doch in einer Fassung gegeben, welche den strengen
Anschauungen Leos gerecht wird: der Bischof darf nichts vom Kloster
verlangen, was Hecht (rectitudo) und Ordensregel widerspricht; wenn
Benedikt IX. angeordnet hatte, daß der Bischof für die Yomahme der
Weihen und Abgabe des h. Öls nur eine seit alters festgelegte Ent¬
schädigung fordern dürfe, so sagt Leo: gratis impendat, quod suum est
Nicht minder bedeutsam ist, daß die Schutzverleihung der Yorurkunde
nicht wiederholt wird, ebensowenig das von Benedikt in eigner Urkunde
vom gleichen Tag gewährte Vorrecht des Abtes bei der Messe Sandalen
und Dalmatica zu tragen 8 ). Die Verleihungen des schlecht beleumun¬
deten Papstes werden überhaupt gar nicht erwähnt. Die Nachurkunde ist
nach dem wieder fest gewordenen Brauch der Kanzlei Calixt II. stilisiert
«ie beruft sich nur auf predecessorum nostrorum constitutionem, ohne
Namen zu nennen, schließt sich aber in ihrem Inhalt naher an das
Privileg Benedikts an, verleiht insbesondere wieder Schutz. Brondolo
wird für die Erlangung der Bestätigung nur dieses weitergehende Pri¬
vileg vorgelegt haben, nicht die schwungvolle, religiös angehauchte^
•aber einschränkende Urkunde Leos. Diese hat also auf die Weiterent¬
wicklung der Gerechtsame des Klosters kaum Einfluß geübt.
*) Zuerst und alleinig veröffentlicht durch Wattenbach im Neuen Archiv
12, 408, vgl. oben S. 802.
*) Nicht ganz genauer Abdruck durch Knöpfler im Histor. Jahrbuch der
Görresgesellsch. 24, 763.
Or., gedruckt Neues Arch. 11, 389.
21 ♦
Über das Testament des hl. Franz von Assisi,
üuellenkritische Studie
von
Vlastimil Kybal.
Das Testament des hl. Franz von Assisi gehört zu jenen Schriften
des Poverello, die seine Ideen und seine Ausdrucksweise am echtesten
kundgeben und die auch sehr gut beglaubigt sind. Deshalb können
wir dieses Schriftstück einer systematischen und durchaus positiven
Untersuchung unterziehen x ).
1. Die handschriftliche Überlieferung des Testamentes ist
zwar sehr reich, aber sie ist bisher weder vollkommen aufgezeichnet
noch kritisch durchforscht Es fehlt bisher eine vollständige Zusammen¬
stellung aller Handschriften, in welchen das Testament enthalten ist,
und eine darauf begründete handschriftliche Filiation; ebenso mangelt
es an einer genauen Kritik des Textes und an einer darauf sich stützenden
definitiven Edition. Sabatier verzeichnete zuerst den grundlegenden
cod. Assisiensis n°. 338 2 ); später machte er auf cod. Mazarin. 989
(v. J. 1460). cod. Vatic. 4354, cod. Riccardi 1407 (v. J. 1503, ital)
*) Aus der allgemeinen Literatur s. 1. Hase, Franz von Assisi, 8. 136 und
Renan, Nouvelles JÜtudes d’histoire religieuse, S. 247 (beide bezweifeln die Echt¬
heit des Testamentes); — 2. K. Müller, Anfänge des Minoritenordens, S. 109—
111 und Sabatier, Vie de S. Franpois d 1 Assise, S. 384— 389 (s. auch unten); —
3. Loofs, Das Testament des Franz von Assisi, in Christi. Welt, 1894, Nr. 27,
28, 29. W. Goetz, Die Quellen zur Geschichte des hl. Franz von Assisi, S. 11—16.
Die weitere Literatur s. unten.
*) Vie, S. 384.
Über das Testament des hl. Franz von Assisi.
313
und auf cod. Univ. Bonon. 2697 (y. J. 1503, ital.) aufmerksam l * * ); endlich
verzeichnet« er cod. Florent BibL Naz. Magliabecchi XXXVIII, 52 und
cod. Vatic. 7650*). Goetz fügt zu den von Sabatier genannten Hand¬
schriften cod. Ognisanti aus Florenz hinzu 8 ). P. Lemmens zahlte in
seiner Edition der Schriften des Franz 13 Handschriften des Testamentes
auf yon welchen folgende neu sind: cod. collegii S. Antonii in Rom;
cod. der Pariser B. Nat lat 18.327; cod. der Haager Stadtbibliothek
K. 54; cod. der Berliner königlichen Bibliothek lat 196; cod. der
Liegnitzer Bibliothek der St. Peter- und Paulkirche, cod. 12; cod. der
Prager Kapitelbibliothek B. XC.; cod. der Lemberger Universitätsbib¬
liothek, cod. 131; cod. des Klosters St Florian in Österreich, cod. XI.
148 4 * ). Endlich hat H. Böhmer im ganzen 43 Handschriften des
Testamentes genannnt, von denen folgende neu sind: Rom, S. Isidoro,
cod. 1/25; Rom, BibL Vallicellana, B. 131; Florenz, cod. Riccardi 1491
und 1670; Florenz, B. Laurentiana XXII. cod. VI. 22; Volterra, cod. 313;
Verona, Bibi. Nazionale, cod. 1230; Basel, Staatsbibliothek cod. B. VII,
32 und CV, 19; Douai, BibL, cod. 807; London, British Mus. Cotton
Nero A XIII und Addit 27.868; Oxford, Bodleian Library, Rawlinson
320 ; Canoniciana Miscellanea 528; Durham, Cathedral Library n°. 302
und 871; Dublin, Trinity College 347; Köln, Stadtarchiv, W. 12° 75;
Düsseldorf, Landesbibliothek C. 103; München, kgl. BibL lat 18. 530 b ;
Leipzig, Univ.-BibL 660; Berlin, kgl. Bibi, theol. lat qu. 22 und 43;
Wien, HofbibL lat 2233 und 3473 6 * ). Aber auch diese Zusammen¬
stellung ist nicht vollständig; so liest man zum Beispiel das Testament
in der Prager Univ.-Bibl. in cod. IV. D. 1, f. 428 a/b aus dem 15. Jh. 6 )
und es besteht kein Zweifel, daß auch in anderen Bibliotheken weitere
Handschriften gefunden werden können.
l ) Speculum perfectionis (Collection de documents pour 1’ histoire religieuse
et littäraire du Moyen-fige, t. I. 1898, p. CLXV1II, CLXXUI und CLXXV; vgl.
ibid. p. 309 und 313. Über den cod. Bologn. neuerlich in der Ed. Bartholi,
p. CXXV.
*) Fr. Francisci Bartholi Tract. de Indulgentia (Collection, t. U. 1900), p. CXXIX
und CXLY1.
*) Goetz, Quellen, S. 12, Anm. 2.
4 ) Opuscula s. Patris F.-ancisci Assisiensiß. Ad Aquas Claras 1904, S. 175.
*) Boehmer, Analekten zur Gesch. des Franciscus von Assisi, Größere Aus¬
gabe. Tübingen und Leipzig 1 X)4, 8. LVI.
*) YgL Truhlär, Catalogus cod. M8S. lat., Pragae 1906, nr. 6Ö5. Der Kodex
stammt aus d. J. 1455—65 und der darin enthaltene Text des Testaments ist von
dem Texte der Edition Lemmen’s und Bochmers stark verschieden. Über den cod.
der Prager Metrop. Kapitelbibliothek B. XC (f. 303 b —307* s. oben), vgl. Patera-
Podlaha, Soupis rukopisft knihovny metropolitni kapitoly Pra£sk6 1910, nr. 405.
314
Vlastimil Kybal.
Leider ist bisher die Filiation aller dieser Handschriften des Testa¬
mentes nicht durchgeführt worden und es ist nicht einmal der ursprüng¬
liche und beste Text fixiert. Es ist unrichtig, wie Goetz behauptet J ),
daß „die Abweichungen der einzelnen Handschriften und Drucke für
den Inhalt ohne Bedeutung sind“, denn diese Abweichungen haben
sowohl für den Text als auch insbesondere für die Geschichte des Textes
Bedeutung. Die definitive Edition, welche weder Lemmens 2 ) noch
Böhmer ö ) bieten, muß sich selbstverständlich auf die grundlegende assi-
siensische Handschrift stützen; weil aber diese wahrscheinlich erst aus
dem 14. Jh. 4 ), höchstens aus der zweiten Hälfte des 13. Jh 6 ) s tamm t,
ist es natürlich, daß die Varianten aller wichtigeren Handschriftenfamilien,
wenigstens des 14. Jh., nicht bedeutungslos sind, und daß es kein „exc&s
d’erudition« wäre, wie Sabatier meint 6 ), wenn sie kritisch gesammelt
würden. Außerdem hat das Testament, wie bekannt, in der Entwicklung
des Minoritenordens, besonders der Abzweigung der Spiritualen eine be¬
sondere Bedeutung 7 ), sodaß nicht bloß für den Text allein, sondern auch
für seine weitere Geschichte seine Darstellung in der handschriftlichen
Tradition, welche die Handschriften des 14. und 15. Jh., wie auch alte
Drucke 8 ) darbieten, von Interesse wäre.
2. Die Echtheit des Testamentes ist unbestreitbar. Sie ist außer
den Handschriften durch Nachrichten ursprünglicher Quellen
*) Goetz, 1. c.
•) Opuscula, 1. c. S. 77—82.
•) Analekten, S. 36—40. Nach dieser Edition werden weiter die Zitate an¬
geführt. Den einfachen Text des cod. Assis, bietet schon Sabatier in Spec.
8. 309-313.
4 ) Vgl. Goetz, 8. 53, Anm. 1.
®) Vgl. Boehmer, 1. c. S. XV—XVI.
®) Vgl. Sabatier, Examen de quelques travaux recents §ur les opuscules
de 8. Fransig, in den Opuscules de critique histor., t. II, fase. X. 1904, S. 127:
»Collectionner p. ex. les variantes que präsente le Testament de saint Francis
dans les manuscrits du XTV e siecle, serait tout au moins perdre son teinps, puisque
noa avons d’ excellents manuscrits du siecle pr6c6dent. Sauf potir des details saus
importance, le texte est ötabli«.
7 ) Vgl. Fr. Ehrle, Die Spiritualen im Verhältnis zum Franziskanerorden
und zu den Fraticellen, im ALKG HI. 1887 p. 553 sq. passim.
8 ) Alte Drucke führt z. B. Sabatier im Spec. S. 309 an; es sind besondere
folgende: Firmamentum trium ordinum, Pariser Ed. 1512 f. 19 und Venetianer
Ed. 1513, I. pars, f. 21a/b. Speculum Morin, tract. HI. f. 8». Wadding, Ann&l.
1226 n. 35, t. II. p. 143—145. Opera b. Francisci, ed. De la Haye, p. 20; ed.
Horoy, col. 269—274. Acta SS., Oct t. IL p. 663. Chronologia historico-legalis,
I. p. 15—16. Hieher gehören auch alte HandschriftenSammlungen, wie Hubertmus
von Casale, Arbor, lib. V, c. 3 u. 5; Bart. Pisanus, Conform., 1. HT. c. 2; Alvarua
Pelagius, De planctu ecclesiae, 1. n. passim. Vgl. auch ALKG HI, p. 53 und 168.
Über das Testament des hl. Franz von Assisi.
315
belegt Celano (ca. 1228-9) zitiert das Testament direkt und wörtlich
in 1 CeL 17, indirekt in 1 Cel. 32, 39, 1 CeL 45 und versteckt in
2 CeL 163 x ). Julianus von Speier in der Legende von ca. 1233-5 a )
und gleicher Weise Bonaventura (vgL auch IV. 3) berufen sich auf das
„Testieren* des Franz an einer 8telle 5 ). In den anderen Quellen er¬
wähnt das Testament die Legende trium sociorum, 3 soc. 11 (vgL auch
3 soc. 26) und zitieren es 3 soc. 29 4 ). Speculum perfectionis fuhrt
den Wortlaut des Testamentes allgemein im c. 9 und wörtlich in o 11
und 26 an; der Hinweis im o 55 bezieht sich nicht auf unser Testa¬
ment 6 ). Endlich führt der Bruder Leo in der „Intentio regulae* n. 14
und 15 das c. 7 des Testamentes an 6 ). Die Belege stimmen im Wesen
nicht überein (bloß 1 Cel. 17 handelt von derselben Sache wie 3 soc. 11,
und der altfranziskanische Gruß: „Dominus det tibi pacem“ wird in
gleicher Weise bei Julian, Bonav. III. 2, 3 soc. 26 und im Speo o 26
angeführt); man kann daraus schließen, daß das Schriftstück den an¬
geführten Autoren aus eigener Anschauung bekannt war und daß sie
es nicht gegenseitig entlehnten. Über das Testament spricht auch
eine nichtfranziskanische offizielle Quelle, nämlich die päpstliche Bulle
„Quo elongati* vom J. 1230 7 ).
Diese äußeren Belege der Echtheit können durch innere Belege
ergänzt werden. Goetz 8 ) führt davon besonders den ungekünstelten
Ausdruck des ungelehrten Autors und die freie Disposition des Schrift¬
stückes an, in welchem die Gedanken frei und ungeordnet wie in der
gesprochenen Bede fließen. Hieher gehört auch der Umstand, daß im
Testamente Gedanken enthalten sind (wie die Ehrfurcht vor den Priestern,
Warnungen vor kirchlichen Privilegien und die Betonung der Hand¬
arbeit), welche in späterer Zeit unmöglich wären.
*) S. Francisci Assimensis Vita et miracula, additis opusculis liturgicis, auc-
tore Fr.Thomado Celano, ed. P. Eduardus Alenconiensis, Romae 1906, pp. 20,
33, 41, 47 und 292. Auf diese Edition beziehen sich alle anderen Zitate aus
Celano.
*) Acta SS. Oct t. ü. p. 579.
*) S. Bonaventurae Legendae duae, ed. ad Aquas Claras 1898, p. 22—23
(Legenda maior III. 2). Vgl. auch Bonaventuras ep. de tribus quaestionibus. Opera
omn'a, t. VIII, p. 335.
«) S. Francisci legenda trium sociorum, ed. M. FalociPulignani. Ful-
giniae 1898, S. 30, 48 und 51.
•) Speculum perfectionis, eil. Sabatier. p. 21, 28, 52 und 99.
*) Documenta antiqua Franciscana, ed. Lemmens, t. I. p. 97.
7 ) Apud Sabatier, Spec. perf., S. 315—316.
•) Goetz, 1. c. S. 14—15.
316
Ylaatimil Kybal.
3. Die Entstehung des Testamentes versuchte, so viel mir be¬
kannt ist, bisher nur Sabatier 1 ) zu erklären« Mit Rücksicht auf die
eigentümliche Art der schriftstellerischen Arbeit des Franz, welche darin
bestand, daß der Heilige immer wieder zu demselben Gegenstände zu¬
rückkehrte, um ihn zu ergänzen und zu vervollkommen, glaubt Sabatier,
daß Franz einigemal sein Testament von neuem zusammenstellte und
zwar immer am Ende seiner seelischen Krisen, Und so unterscheidet der
französische Forscher mindestens vier Testamente: das erste, welches
er in Siena dem Br. Benedikt von Pirato (Spec. c. 87) diktierte, das
zweite, welches er vielleicht über Porciimcula schrieb (Spec. c. 55), das
dritte Testament ist das unsere imd das vierte ist für die hl. Klara und
ihre Schwestern verfaßt Mit dieser Auslegung stimmt jedoch P. Lem-
mens nicht überein-), welcher ad 1 einwendet daß aus dem Be¬
richte über das Testament des Pirato nicht eine allgemeine Proposition
mehrerer Testamente deduziert werden könne, von der die übrigen
Legenden nichts sagen; ad 2 wendet er ein, daß der Bericht über das
Porciuncula-Testament anders im Texte Sabatiers und anders in der älteren
Redaktion derselben Quelle lautet; im Spec. c. 5, ed. Sabatier, p. 99,
heißt es: „in morte sua fecit scribi in testamento, ut omnes fratres
facerent similiter*, während in der Edition des P. Lemmens (Doc. ant
Franc. II. 60) gesagt wird: „circa mortem suam hanc ecclesiam fratribus
in testamentum reliquit“.
Trotzdem muß gesagt werden, daß die Auslegung Sabatiers den
Kern der Wahrheit enthält Vor allem spricht für sie der psychologische
Zustand des Franz in den letzten Jahren seines Lebens, ein Zustand,
welcher kurz durch zwei Worte ausgedrückt werden kann: durch die
schwere und mehr oder weniger klare Sorge um die Schicksale des
Ordens in der Zukunft und durch die große Sehnsucht nach Fixierung,
sozusagen Verewigung jener Prinzipien seines Evangeliums, welche in
der letzten Zeit von fremden und abgeleiteten Einflüssen zurückgedrängt
oder bedroht waren. Ebenso ist der instinktive Beweggrund maßgebend,
welcher Franz zum ersten Versuche eines Testamentes führte und von
dem Spec. c. 87 erzählt Diese Erzählung ist allerdings in ein recht
künstliches Kleid gehüllt (Sabatier, S. 174, Anm. versucht dies ver¬
geblich durch das Beispiel der Volkslamentationen Mittelitaliens zu er¬
klären), aber es besteht kein Grund dafür, den einfachen Kern des
Berichtes zu verwerfen. Dieser besteht in dem Faktum, daß Franz
schwer krank in Siena damiederliegend (im April 1226), seinen Priester,
J ) Sabatier, Spec. perf. S. XXXIII. Anin. 2.
*) Opuseula, 1. c. S. 174—175.
über da« Testament des hl. Fram von Aäö».
•ieö Br: Benedikt von Pirato,
sieh rief iixj 4 4}tm mit gebrochener
klimme diktierte, daß er alle Brüder, welche im Orden sind oder in den
Orden eiutr^ten werden, bis in Ewigkeit segne-, »n Wille bestehe vor
$m damn daß ulk gegenwärtigeu und zuküiüOgen Brüder
feidben mn« Andenken«, Segens and Testamentes (in $igrm&
mürbe ..mene- et benedietionis et tesi&wenti) emander immer so lieben,
wie er ä liebte ; zweitens sollen sie immer y unsere Frau Armut* lieben
Aö.d *mhalik*i itüd drittem; den Prälaten and Blmkern der Kirche treu
söd untertan ftem J). Das ist alles, wm wir über das irrste Testament,
hsp. Tnrtefetäowmt des Franz winsen. Ee deshalb zu verwerfen, weil
ihm mehl die allgerneme Fro^öidtiuii der weiteren • Testamente- de-
»laxiert werden Tflß&ue, ade?weil der Spec. au« dem 14. Jh. von ihm
^orh:, wäre übereilt Ixö Wesen isi es ein. natürlicher Bericht über eine
ftüit oa^rfkJac* Saete (Fraß?: wollte sieh wenigstens so von den Brüdern
• ".r^’evhiedeü) und die drei Hauptgedanke igegenseitige. .Liebe.. Armut
ftrid Bfgetehheit der Kircdie gegenüber! entsprechen ganz dem seelischen
tiusUnde und der Alentelität des Franz im gegebenen Augenblicke.
Aber dieses Vortes tarnent ist nicht erhalten; obwohl e$ mfyesdbnei&n
'•■•’eieti sollte; es bleibt von ihm nur vier erwähnte Bericht.
AVas das Testament über die PetciunenU-K ircbe anbe«
«hgt »«.» kann die betreffende Stelle einen ‘gewissen Verdacht
mtem daß die mit der Tendenz g^dirfeben dei Munerkirehc
wzzmhfii der ‘ neuerrfchfetea' de* in. Franz in Assisi
tSaiir zn verleih^. & wird nämlich itu 3pt^ c, i|ö gesagt, daß Fmnz
BjTX'iunaiUi übermuf liebte -15t ptopte&$ Ofährt Jtpi) ex tune
cworitimhi reveretitiam et rlevofcipoein in ijska häkoih, atyu* ut fr^trex
fteaüriak' sernper in eordibus smar haber-ens, in morte mit fceit scribi ?\
&.'tfestäaaeö.tö> ut omnes frutnis taeerent wnliter, •rirea • rnorietu
Ä to rum generali mipiskro et atih fratribns diVit :• ,Luenni fv ’Muriae
4* Pnrduncula volo ordinäre t# relimpiete iratribuB i# : nt
' ^^cäatet- «i&f&xkf&i ; ; *Htöjte
■ ■ ' :
2um
b ^^J§g|gS
318
Vla8fcimil Kyb&l.
Ordeusgeneral und allen Brüdern beim Abschiede empfahl Sicher ist
wenigstens der Wunsch des Franz (nach Spec. c. 7), daß Porcroncula
ein Muster und Beispiel der ursprünglichen Armut allen „Luogen* der
Franziskaner sein sollte und daß er im c. 7 des Testamentes bei der
Bestimmung über die Armut aller Ordensgebäude wahrscheinlich an
Porciuncula dachte. Aber die von Geist und Wort des Franz inspi¬
rierten Autoren des Speculum haben jene Bestimmung des Testamentes
in ihrem Sinne entwickelt und geordnet, sodaß sie als die Bestimmung
eines anderen Testamentes erscheint, obwohl sie in Wirklichkeit ent¬
weder bloß der Widerhall der Gespräche des sterbenden Vaters (vgL
1 CeL 106) oder der Widerhall der parafrasierten Bestimmung des be¬
kannten Testamentes (vgl. Spec. e. 9, 10, 11: quum b. Fr. constituisset)
ist *). Dasselbe gilt von der Stelle über die Verehrung der Priester im
Spec. c. 10, welche nur c. 3 des Testamentes wiedergibt. Im ganzen
muß gesagt werden, daß Franz kaum ein besonderes Testament zu¬
gunsten von Porciuncula verfaßt hat
4. Über die Entstehung und die Formation des eigent¬
lichen Testamentes haben wir sehr wenige Nachrichten. Die Quellen
(s. oben) sprechen über das Testament als über ein Faktum, sie sagen
aber nichts von seiner Entstehung und seiner Entwicklung. Spec. c. 9
sagt lakonisch: „Nam et circa mortem suam in testamento suo scribi
fecit 44 und bemerkt im c. 11 bei Gelegenheit des Widerstandes der
Brüder gegen hölzerne und irdene Klostergebäude: „Sed b. Francisco»
nolebat contendere cum ipsis, maxime quia erat prope mortem et gra-
viter infirmabatur. Unde tune in testamento suo scribi fecit“. Papst
Gregor IX. (der ehemalige Kard. Hugolino) bemerkt über die Abfassung
des Testamentes (in der Bulle Quo elongati 1230, Spec., S. 315): *Sed
sanctae memoriae b. confessor Christi Franciscus, nolens regulam suam
per alieuius fratris interpretationem exponi, mandavit circa ultimum
vitae suae, cuius mandatum dicitur Testamentum, ut verba ipsius regulae
non glossentur“. Die Kürze und Inhaltlosigkeit dieser Berichte er¬
klären es, daß auch die modernen Biographen in der näheren Da¬
tierung des Testament3s schwanken und miteinander nicht überein-
*) Jener Schein eines anderen Testamentes bleibt aber doch, wenn wir uns
streng an den Spec. halten. Spcc. c. 9 sagt nämlich, daß Franz im Testamente
verzeichnen ließ, »quod omnes cellae et domus fratrum esseat de lignis et
luto tantum, ad conservandam melius paupertatem et humilitatem c . Über die¬
selbe Sache spricht auch Spec. c. 11; wenn wir jedoch von den Worten ,prope
mortem« (es konnte auch früher geschehen) absehen, scheint aus dem Kontexte
hervorzugehen, daß die betreffende Bestimmung in die offizielle R e g e 1 eingetragen
werden sollte, was aber durch den Widerstand der Minister verhindert wurde.
Über das Testament des hl. Kranz von Assisi.
319
s timm en. Sabatier 1 ) verlegt es in die letzten Tage des Franz in
Porduncula, Goetz 2 ) weist jedoch mit Recht darauf hin, daß im Te¬
stamente die Abschiedsstimmung fehle (Franz verspricht hier zu ge¬
horchen, das Officium zu verrichten und beinahe mit der Hand zu
arbeiten!) und daß auch die Zeit „circa mortem«, von der Spec. c. 9
spricht, jahrelang bei langsamer Auflösung des Körpers des Heiligen
dauerte; aus diesen Gründen verlegt Goetz das Testament in die letzten
Jahre des Franz. P. Lemmens 8 ) wiederholt bloß die Verlegung der
Bulle „Quo elongati« in die Zeit „circa ultimum vitae suae« und auch
der letzte größere Biograph des Franz, C u thb ert 4 ), versetzt das Testament
unmittelbar vor den Tod des Franz 5 ). Böhmer 6 ) führt jedoch aus,
daß Franz dieses Schriftstück noch im bischöflichen Palaste in Assisi
in der Zeit vom Mai bis zum September 1226 diktierte „in dem
Bewußtsein, daß er nicht mehr auf ein langes Leben zu rechnen habe,
aber ohne zu ahnen, daß der Abschied so nahe sei«. Man kann mit
Böhmer übereinstimmen und seine Ausführungen durch eine kurze
psychologische Charakteristik des geistigen und gefühlsmäßigen Pro¬
zesses des Franz in den letzten Monaten seines Lebens ergänzen, welche
ich in meiner Schrift über den hL Franz versucht habe und aus welcher
ideelle und psychologische Voraussetzungen des Testa¬
mentes selbst gewonnen werden können 7 ).
i) Sabatier, Vie, S. 384.
*) Goetz, 1. c. S. 15—16.
») Opuscula, S. 173.
4 ) Fr. Cuthbert, Life of St. Francis of Assisi, 2. AufL 1913, S. 378ff.
*) Ähnlich hat es schon A. Clarenns in Hist, tribul., ap. Döllinger, Beiträge
zur Sekteng., II. 459 (quibus [se fratribus] circumsedentibus breve testamen tum
scribi mandavit). Aber diese Quelle ist nicht rein und auch die angeführten Worte
sind nicht ganz unbestreitbar.
•) Analekten, S. XLI.
7 ) Vgl. meine böhmische Schrift, Der hl. Franz von Assisi, Prag 1913,
S. 228iL Von anderen Biographen s. Fr. Tarducci, Vita di S. Francesco
d’ Assisi, 1904, S. 386, welcher den geistigen und gefühlsmäßigen Ursprung des
Testamentes also erklärt: »Ahime come il proseguiroento dell’Ordine aveva male
cormposto alle promesse de’ suoi primordi! Ora i frati volevano comode abitazioni,
buoni cibi, e libri, e scienza, e titte le cose che si accompagnano alla prudenza e
previdenza umana; e la sua Da na la Povertä trovava appena in tutto 1’ Online
qua e lä un qualche cavaliere che le restasse fidele! Questo pensiero an-
goseioso, che da anni gli op^rimeva lo spirito, in quelle ultime ore della sua
vita si fece intensissimo e non gli dava requie; e l’agonia morale del
povero morente vinse in affanno quella atrocissima che gli davano i suoi dolori
fisici. In quell’ ansia crudele d* oppressione chiamö frate Angelo e gli dettö il
suo testamento«. Weiter charakterisiert der Autor das Testament als »suprema
320
Vi&§fcimil Kybal.
Die erste Voraussetzung dieser Art war die Erweckung zu neuem
Leben, welche Franz auf dem Todeslager im bischöflichen Palast in
Assisi traf 1 ).
Diese Erweckung betraf Geist und Willen, welche umso stärker
waren, je schwächer der Körper wurde. Der sterbende Franz hatte
Riesenpläne und brannte vor allem vor Sehnsucht, „ad humilitatis re-
verti primordia* (wie Celano sagt) und seinen Leib dem ursprünglichen
Dienste Gottes wiederzugeben. Insbesondere wollte er zu den Aus¬
sätzigen zurückkehren und ihnen dienen, wie er ihnen am Beginne
seines neuen Lebens diente. Auch wollte er ein ganz verachtetes Leben
führen, wie er es früher tat, und wollte endlich die Menschen meiden,
die verlassensten Stellen aufsuchen imd dort der reinsten Kontem¬
plation sich widmen *). Er wollte dieses neue Leben nicht nur zur
eigenen Befriedigung beginnen, sondern um dadurch zum letztenmale
seiner Brüderschaft Vorbild und Beispiel zu sein. Dies lag umso schwerer
auf seinem Herzen, je schmerzhafter die Erinnerung an die verlorenen
Kämpfe um die Regel und je unklarer und unbefriedigender der Aus¬
blick in die Zukunft des Ordens war, welcher schon in der Gegenwart
den Unrechten Weg ging. Insbesondere war der einfache Geist des
Sterbenden empört durch die Studien, welchen viele Brüder auf Kosten
demütiger geistlicher Tätigkeit nachgingen. Franz haßte diese nach
Prälatenwürden und Hofluft sich sehnenden Brüder, er nannte sie Toren
und die Pest des Ordens 8 ). Auf die Frage eines Bruders, was sein
letzter Wille betreffs des wissenschaftlichen Studiums der Brüder-Kleriker
aus Büchern, welche diese in Menge hätten, sei, erklärte der kranke
Franz ausdrücklich, daß kein Bruder etwas anders haben sollte als ein
Kleid mit Strick und Unterhosen, wie die Regel es bestimmte 4 ). Er
verhärtete sich nicht nur gegen die Brüder-„Meister“, sondern auch
gegen die Minister, welche die Brüderschafc beherrschten. Eines Tages,
als die Krankheit schwerer ihn bedrängte, erhob er sich aufgeregt auf
seinem Lager und rief aus: „Wer sind jene, welche meinen Orden aus
e8pre88ione del suo pensiero e della sua volontä« (S. 386) und als > parte integrante
della Regola« (p. 387).
*) »Sabatier erfaßte diesen Vorgang sehr fein und drückte ihn mit folgenden
Worten aus: ,On devine chez Francois cette disparition presque abeolue de 1&
douleur, ce renouveau de vie, qui devance si souvent 1’ approche de la catastrophe
finale« (Vie, S. 384).
f ) 1 Cel. 103, ed. P. Eduardus, p. 108—109.
*) 1 Cel. 104, ed. P. Eduardus, p. 109—110: »Videbat enim multos ad
magisterii regimina convolare, quorum temeritatem detestans, ab huiusmodi peste
sui exemplo revocare studebat eoe«.
4 ) Spec. perf. c. 2, ed. Sabatier, p. 6.
Über das Testament des hl. Franz von Assisi.
321
meinen Händen rissen? Wenn ich aber auf das Generalkapitel komme*
werde ich ihnen meinen Willen zeigen!“ Der Bruder, welcher ihn aus¬
forschte, fragte den Heiligen, ob er vielleicht die Provinzialminister ab-
setzen wolle, welche solange die Freiheit mißbrauchten. Franz jedoch
antwortete entkräftet: »Sie sollen leben, wie sie wollen! Der Schaden,
welchen einige Minister anrichten, ist doch kleiner als das Verderben
vieler gelehrter Brüder“ l ).
Dies sind nach meiner Ansicht die seelischen Voraussetzungen des
Testamentes, welches Franz damals Stück für Stück zusammenstellte
und den treuen Brüdern diktierte.
Goetz 8 ) sprach die Vermutung aus, daß die Gedanken des Testa¬
mentes in demselben Augenblick aufgezeichnet wurden, in welchem
sie ausgesprochen waren. Sabatier 8 ), der mit Goetz übereinstimmt,
sagt, daß das Testament, obwohl es lang meditiert wurde, doch „ä un
moment tres particulier“ entstanden ist und die Spuren davon trägt;
es ist »piece de circonstance“ oder ein improvisierter Akt, der durch
aktuelle Bedürfnisse hervorgerufen wurde. Ich möchte weder mit dem
einen (augenblickliches Diktieren) noch mit dem anderen (aktuelle Im¬
provisation) übereinstimmen. Das Testament entstand aus den ange¬
führten psychologischen Voraussetzungen des sterbenden Ordensbegründers
(das ist prius) und wurde durch den nahenden Tod eher »hervorgerufen“
als durch »aktuelle Bedürfnisse“; diese Bedürfnisse wurden nur durch
die Nähe des Todes aktuell und im Testamente wurde ihnen nur
»sub specie mortis“ genüge getan. .. . Damit ist auch gesagt, daß das
Testament mehr ist als eine Improvisation und daß es ein großes, aller¬
dings konkretes und aus Lebenserinnerungen, Erfahrungen und starkem
Willen erwachsenes Programm enthält Wie das Testament in
formeller Hinsicht entstand, i4t schwer zu entscheiden; die freie Dispo¬
sition des Inhaltes setzt nicht eine freie Stilisierung in der Art des
gesprochenen Wortes voraus; mit Hinsicht auf den Umfang und die
Mannigfaltigkeit des Inhaltes kann eher auf eine allmähliche Ab¬
fassung, Stück für Stück, der Lebhaftigkeit der Erinnerungen und der
Intensität der Fragen gemäß, welche den Sterbenden beschäftigten, ge¬
schlossen werden. Eine noch feinere Analyse wird vielleicht feststellen,
daß das Testament inhaltlich und formell eine Kooperation des Franz
und seiner treuesten Gefährten (besonders vielleicht des Br. Leo) in dem
Sinne darstellt, daß beim Diktate die Worte des Testierenden durch ge-
f ) 2 Cel. 188, ed. P. Eduardus, p. 309—310 u. Spec. c. 41, ed. Sabatier,
p. 73—74.
*) Goetz, 1. c., p. 14.
*) Opuflcnles de critdqne historique, 1. c., p. 152.
322
Ylastimil Kybal.
meinsame Arbeit stilisiert wurden, wobei der statutenartige Charakter
des ganzen Schriftstückes berücksichtigt wurde. Daß es sich um eine
schnelle, gleich ins Beine eingetragene Improvisation handelt, halte ich
für ausgeschlossen.
5. Die sachliche undformelleAnalysedes Testamentes 1 )
kann nur mit der Anknüpfung an jenen grundlegenden psychologischen
Moment der Bückkehr zur Jugend beginnen, den ich oben betonte.
„Volebat ad serviendum leprosis redire denuo et haberi contemptui,
sicut ahquando habebatur“, sagt Celano über den Kranken (1 CeL 103,
L c.). Der wörtliche Ausdruck dieses Bestrebens ist eben der Beginn
des Testamentes: „Dominus ita dedit michi fratri Francisco incipere
faciendi penitentiam: quia cum essem in peccatis, nimis michi videbatur
amarum videre leprosos. Et ipse Dominus conduzit me inter illos et
feci misericordiam cum illis. Et recedente me ab ipsis, id, quod vide¬
batur michi amarum, conversum fuit michi in dulcedinem animi et cor¬
poris. Et postea parum steti et exivi de seculo“ (c. 1). Diese ein¬
fache und kernige Erinnerung an das offenbarste und ausdruckvollste
Faktum der Konversion wurde von den drei Genossen (3 soc. 11) und
von Celano (1 CeL 17 und 2 CeL I. 9) parafrasiert und es scheint
wahrscheinlich, daß sie auch im vorliegenden Wortlaute den Stachel
einer an die ganze Brüderschaft gerichteten Ermahnung enthielt; man
muß sich nämlich erinnern, daß Franz in der Beg. II. c. 9 *) die Brüder
aufforderte, freudigen Umgang mit den Armen, Kranken, Aussätzigen
und Bettlern zu pflegen und daß er im c. 8 derselben Begel das An¬
nehmen von Almosen für die nötigen Bedürfnisse der Aussätzigen zu¬
ließ, während in der offiziellen Begel des J. 1223 jede Erwähnung der
Aussätzigen unterdrückt wurde! Wir wissen aber, daß Franz mit den
ersten Brüdern zum Zeichen niedrigster Demut und Selbstüberwindung
*) Bei dieser Analyse berücksichtige ich besonders, wie aus dem folgenden
ersichtlich ist, inwiefern die einzelnen Sätze des Testamentes insbesondere auf
frühere Regeln, resp. andere Schriften des Franz reagieren. Sabatier führte
beim Abdrucke des Testamentes im Spec. S. 309—313 Parallelen aus erzählen¬
den Quellen, vor allem aus dem Spec., an, vergaß jedoch, daß zahlreicher und be¬
deutender die Parallelen zwischen dem Testamente und den vorhergehenden eigent¬
lichen Schriften des Franz, besonders aber den Regeln sind. Vgl. auch
K. Müller, Anfänge, S. 110—111. Richtig sogt E. Brem in seiner soliden, aber
nicht immer richtigen Schrift: Papst Gregor IX. bis zum Beginn seines Pontifikats
(Heidelberger Abh., H. 32), 1911, S. 98 Anm. 2: »Das Testament richtet sich
einmal, ohne daß Franz es will, direkt gegen die Regel, und zweitens gegen die
von Hugo geförderte laxere Interpretation der Regel«.
f ) Reg. H. ist die Regula non bullata v. J. 1221; s. Analekten, S. 1—26,
wovon sie zitiert ist. Reg. III. ist die offizielle Regel v. J. 1223, ibid. S. 29—35.
über das Testament des hL Franz von Assisi.
323
für die Aussätzigen sorgte 1 ) 1 und aus der vorliegenden Antithese:
amarum-dulcedo kann geschlossen werden, daß Franz den Brüdern sagen
wollte, sie sollten sich nicht scheuen auch den Ärmsten der Armen
demütig zu dienen.
Im c. 2 erinnert Franz an seinen Glauben an die Kirchen (fidem
in ecclesiis) und das einfache Gebet zu Jesus Christus: „Adoramus te,
domine Jesu Christe“. Diesen Satz können wir für die einfache Erin¬
nerung an den ersten wörtlichen Ausdruck des Gotteskultes ansehen,
dem Franz mit seinen Brüdern sich ergab; er kannte noch nicht das
Officium der späteren Jahre, voll von Landes und von den üblichen
kanonischen Gebeten 2 ). Weil Franz später im c. 10 dieses Officium,
welches Beg. II. c. 3 und Beg. HL c. 3 vorschrieb und welches er
selbst eifrig einhielt (s. auch c. 4 des Testamentes), anbefiehlt, bedeutet
die angeführte Erwähnung keine Vorschrift, sondern bloß eine einfache
Erinnerung an den ersten liturgischen Gruß, der freilich bei Franz
zugleich ein Ausdruck der Verehrung des Kreuzes und der Kirche des
Herrn in der ganzen Welt war. Darüber sprechen auch 3 soc. 37,
1 CeL 45 und Bonav. IV. 3 (hier wird aber das Vaterunser hinzuge¬
fügt), vgl auch Anon. Perus, in A. SS. Oct II. 501. Das Gebet „Ado¬
ramus“ war natürlich nicht ursprünglich, sondern dem Breviar. Roman,
zum Tage der Auffindung des hL Kreuzes (3. Mai), ant III. Noct (ed.
Bonav., p. 34, n. 1) entnommen.
Nach dem Glauben an die Kirchen bekennt Franz seinen Glauben
an die Priester (c. 3). Es ist ein längeres Kap.tel, seine Gedanken
aind nicht neu, neu aber ist ihr logischer Konnex und der auf ein
bestimmtes Ziel gerichtete Ausdruck. Sachlich bekennt hier Franz seine
Verehrung der römischen (d. h. nichtketzerischen) Priester, ihres Amtes,
besonders aber der Darreichung des hL Altarsakramentes wegen. Von
dieser Verehrung reden auch zahlreiche andere Quellen, z. B. 1 CeL 62,
2 CeL 146, 3 soc. 57 und 59, Spec. c. 10 und 64; Franz selbst for¬
derte zur Verehrung der Priester in Beg. IL c. 19 und in den Adrno-
nitiones c. 26 auf, Im Testamente ist die Betonung interessant, mit
welcher Franz den Brüdern das Aufsuchen der Priester anempfiehlt,
auch wenn diese sie verfolgen; es soll auch von armen Landpriestem
die Bewilligung zum Predrigen eingeholt werden. Franz spricht zwar
*) 8. 1 Cel. 39 und Spec., c. 44, 68 und die weiteren ibid. angeführten Be¬
lege, S. 79 Anm. 1 und in Aetna b. Francisci, ed. Sabutier (Collection, t. IV), 8.110
Anm. 1. Interessant ist, daß weder die 3 soc. noch Bou.» Ventura über die Aus¬
sätzigen sprechen.
*) >In simplieitate Spiritus ambulantes, adhuc ecclesiasticum officium lgno-
rnbant«. 1 Cel. 45.
324
Vla8timil Kybal.
in der ersten Person (volo recurrere ad ipsos — nolo predicare ultra
voluntatem ipsorum), aber es ist offensichtlich, daß er zugleich an alle
Brüder dachte, vor allem an die gelehrten und weniger demütigen (vgl.
unten c. 8). Den eigentlichen, sozusagen statutaren Sinn der Worte
über die Hochachtung der Priester begreifen wir noch besser, wenn
wir beachten, daß in der lieg. II. c. 19 und 23 diese Hochachtung an¬
befohlen wird, in der offiziellen Reg. III. hingegen alle Äußerungen
dieser Art unterdrückt sind; sie enthält überhaupt kein Wort über
Priester außerhalb des Ordens, der Orden erscheint hier in allen seinen
Funktionen als abgeschlossene und sich selbst genügende Gesellschaft!
Franz protestiert gewissermaßen bei der Betonung seiner eigenen Hoch¬
achtung der Priester gegen die durchgefüfcrte Veränderung und verteidigt
zugleich jenen aushilfsmäßigen und intermediären Charakter, der dem Mi-
noritenorden ursprünglich eigen war. Daß diese Hochachtung nicht aus einem
kirchlichen Opportunismus stammte, sondern eine natürliche Konsequenz
der Verehrung des Altarsakramentes war, betonte richtig Sabatier') und
es geht auch klar aus der Stilisierung des Testamentes hervor. Franz
sagt hier, er wolle nicht in den Priestern „ considerare peccatum“, weil
er in ihnen den Sohn Gottes erkennt, dessen Leib und Blut sie im
Sakramente genießen und darreichen. „Et hec sanctissima misteria,
sagt er weiter, super omnia volo honorari, venerari et in locis pretiosis
collocari. Sanctissima nomina et verba eius scripta, ubicumque invenero
in locis illicitis, volo colügere et rogo, quod colligantur et in loco ho-
nesto i collocentur. Et omnes theologos et qui ministrant sanctissima
verba divina, debemus honorare et venerari, sicut qui ministrant nobis
8piritum et vitam“. In diesen Worten steckt eine interessante Mischung
von Gefühlen und Gedanken. Formell finden wir hier eine gewisse
Ausdruckskadenz, welche mit den Worten .nolo — volo“, weiter »rogo*
und endlich „debemus“ angedeutet wird; erstens spricht der Autor seine
Ansicht und seinen Willen aus, dann die Bitte zu den Brüdern und
letztens legt er eine bestimmte Verpflichtung auf. Sachlich ist das
laute und begründete Bekenntnis des eucharistischen Kultus des Franz
bemerkenswert; anfänglich kam dieser Kultus bei ihm unklar und naiv
durch den Sinn für die Reinheit der Kirchen zum Ausdruck (cf. Spec.
c. 56 und 57); später in dem Bestreben nach einem würdigen Auf bewahren
des Altarsakramentes, welches er auch in der Regel den Brüdern auf¬
erlegen wollte (Spec. c. 65); endlich, als dies Bestreben bei den Mi¬
nistem auf Widerstand stieß, durch offene Propagation des Gedankens
mittels eigener Schriften. Wir müssen beachten, daß der Gedanke der
‘) Opuscules de critique historique, t. II. p. 158 ff.
Über das Testament des hl. Franz von Assisi.
325
besonderen Verehrung der Eucharistie in keiner Regel durchgeftLhrt
wurde! Deshalb empfahl ihn Franz mit solchem Eifer in seinen Briefen
ad clericos, ad custodes, ad populorum rectores, ad capitulum, ad fideles;
vgl. auch Adm. c. 1. Im Testamente wiederholt er zum letztenmale
diese Gedanken als seinen letzten Willen (cf. Spec. c. 65); er tut es
aber nicht mit der früheren Vehemenz und Überzeugungskraft, sondern
mit der Demut eines Sterbenden und mit einer gewissen Scheu,
welche in den letzten zwei Sätzen zum Ausdruck kommt, in welchen
er bittet und empfiehlt, was ihm teuer ist; die Wendung von der
Hochachtung der Theologen (!) kann sogar eine gewisse Konzession
sein, falls es sich nicht um fremde Interpolation handelt.
Im c. 4 sind viele historische Erinnerungen und einige psycho¬
logische Daten enthalten. „Et postquam Dominus dedit michi de fra-
tribus, nemo ostendebat michi, quid deberem facere, sed ipse Altissimus
revelavit michi, quod deberem vivere secundum formam sancti evangelii*.
Dieser Satz zeigt den ganzen Franz: niemand (verstehe kein Minister
und Prälat) zeigte ihm die Wege des neuen Lebens für die Brüder¬
schaft, sondern Gott selbst offenbarte ihm/ daß dieses ganze Leben dem
Evangelium gemäß gestaltet werden müßte. Franz meint hier wahr¬
scheinlich die „Offenbarungen“ der betreffenden biblischen Stellen
welche ihm beim Öffnen der geschlossenen Bibel vor dem Altäre vor
Augen kamen, wie er es mit seinen ersten Brüdern Bernhard und Peter
versuchte (3. soc. 29). Dies geschah Mitte April des J. 1209 (cf. 1 Cel. 24).
Die Folge der Offenbarung war, daß Franz zunächst eine kurze Regel
seinem Häufiein diktierte und daß er dann diese Regel vom Papste be¬
stätigen ließ. „Et ego, sagt Franz wörtlich im Testamente, paucis verbis
et simpliciter feci scribi et dominus Papa confirmavit michi*. Sabatier l )
schloß aus dem Zusammenhänge dieser Worte mit 3 soc. 39, wo es
auch heißt: „haec est vita et regula nostra“, daß diese ursprüngliche
kurze Regel nichts anderes als jene geoffenbarten biblischen Ratschläge
(Math. XIX. 21, Luc. IX. 1-6, Math. XVL 24-27) enthielt. K. Müller 8 )
machte jedoch auf 1 Gel. 32 aufmerksam, wo es heißt, daß Franz zu
der ursprünglichen Regel weniges anderes hinzufügte. Ich erkläre an
anderer Stelle 8 ), daß die Worte Celanos auf einen späteren Zusatz zur
ursprünglichen Regel bezogen werden können, welche zwar ganz kurz
war, aber doch mehr enthielt als bloß die biblischen Stellen. Hier be-
*) Sabatier, Vie de S. Francis, S. 85—86.
*) K. Müller, in der Theol. Lit. Z. 1895, 183.
•) S. meine Schrift: Die Ordensregeln des hl. Franz von Assisi und die
ursprüngliche Verfassung des Minoritenordens, in Goetzs Beiträge zur Kultur-
gesch., B. 20, 1914, S. 12 sq.
Mitteilungen XXXVI.
22
326
Vl&8timil Kybal.
merke ich nur, daß Franz mit der Betonung der Offenbarung und Kürze
seiner ursprünglichen „Regel“ ihre Ursprünglichkeit in dem Sinne ver¬
teidigt, in welchem er auf dem Maikapitel des J. 1220 leidenschaftlich
alle Mönchsregeln verwarf und für die seinige eintrat, denn „Dominus
(wie Franz sich nach Spec. c. 68 ausdrückte) vocavit me per viam sim-
plicitatds et humilitatis et hanc viam ostendit michi in veritate pro me
et pro illis, qui volunt michi credere et imitari*.
Daß in dieser Erinnerung eine gewisse Tendenz der Verteidigung
der ursprünglichen Einfachheit liegt, zeigen auch die weiteren drei
Sätze über die ursprüngliche Armut der Brüder. „Et illi, qui veniebant
heißt es hier, ad recipiendum vitam istam, omnia, que habere poterant,
dabant pauperibus. Et erant contenti tunica una, intus et foris repe-
tiata, cum cingulo et brachis. Et nolebamus plus habere“. Die Ent¬
wicklung des Aufhahmsaktes, von dem im ersten Satze die Rede ist,
habe ich genauer in den Ordensregeln S. 127 sq. dargelegt, worauf ich
verweise; hier genügt darauf hinzuweisen, wie Franz betont, daß die
ersten Brüder all ihr Gut den Armen schenkten, daß sie mit dem not¬
wendigsten Gewände zufrieden waren und sich nicht nach mehr sehnten.
Diese Betonung ist nicht zufällig, denn in der offiziellen Regel des
J. 1223 wurde nicht mehr geboten, daß der neu eintretende Bruder
alles verkaufe, wie es in der Reg. II. c. 2 geschah, sondern es wurde
nur liberal bestimmt, daß der Minister dem neuen Bruder die Worte
Math. XIX. 21 über den Verkauf des Besitzes und die Verteilung unter
die Armen vorlese; außerdem ist die Armut in der offiziellen Regel eher
als das Ziel des wiedergeborenen Lebens dargestellt, nicht mehr als seine
Bedingung und sein Mittel (s. Ordensregeln, S. 146). Auch das Kleid der
Brüder änderte sich (ibid. S. 130-131) und der Besitz überhaupt stieg, we¬
nigstens vorläufig durch gelehrte Brüder, wogegen Franz eben vor seinem
Tode sieh aussprach (s. oben S. 320); es scheint, daß zwischen den Worten:
„Et nolebamus plus habere“ und dem Ausspruche gegen den Besitz
von Büchern (Spec. c. 2) ein enger Zusammenhang besteht Der weitere
Satz über das Officium der Kleriker und das Vaterunser der Laien ist
bloße Erinnerung ohne Tendenz; die letzten Sätze über den freudigen
Aufenthalt in den Kirchen, über die Ungelehrtheit und die Ergebenheit
allen Nächsten gegenüber haben eine verdeckte Spitze gegen die Brüder,
welche ihr Leben in Schulen und in Häusern von Prälaten verbrachten.
Im c. 5 beginnt Franz offen zu reden. Hier ist das erste „firmiter
volo“, welches dann im weiteren in Befehle und Warnungen übergeht
Zunächst erwähnt er, daß er mit eigenen Händen gearbeitet habe und
daß er arbeiten wolle (der schwer Kranke!); nachdem er so auf sich
selbst gewiesen, befiehlt er, daß auch die anderen Brüder ein ehrliches
Über das Testament des hl. Franz von Assisi.
327
Handwerk ausüben sollen; jene, welche kein Handwerk erlernt haben,
sollen es jetzt tun, diese Arbeit sollen sie aber nicht des Gewinnes, sondern
des Beispieles der Arbeitsamkeit und natürlich auch des Lebensunter¬
haltes wegen verrichten; falls sie nichts dafür bekommen, können sie
Ton Haus zu Haus betteln gehen. Diese Worte sind ein Befehl, den
Franz wahrscheinlich deshalb gab, weil in der offiziellen Regel von
Arbeit dieser Art keine Bede war; es ist also eine Reaktion gegen
diese Regel und ihre wesentliche Ergänzung. Merkwürdig ist die Er¬
wähnung des Almosens. Franz läßt hier das Almosen in jenem Falle
zu, wenn die Handarbeit der Brüder nicht entlohnt wird, also in offen¬
barer Not ln der Reg. II. c. 8 wird das Almosen nur für Aussätzige
zugelassen, ln der offiziellen Reg. III. c. 6 hingegen wird das Betteln
allgemein erlaubt (vadant pro elemosina confidenter!). Von den er¬
zählenden Quellen siehe 2 CeL 71-79, Spec. per£ c. 22, 23, 25, 34 über
das Almosen.
C. 6 enthält eine einfache Erinnerung an den ursprünglichen Gruß
der Brüderschaft, den Gott selbst Franz offenbarte: «Dominus det tibi
pacem*. YgL 3 soc. 26, Spec. c. 26, Bonav. III. 2 und Julian von
Speier, L c. Der Regelgruß: «Pax huic domui* (Reg. IL c. 14, Reg.
111. c. 3) ist diesem Gruße nicht unähnlich.
Die Bestimmung über die armen Wohnstätten der Brüder ('s. c. 7)
ist vor allem durch die eigentümliche Intonation interessant, welche
in den Worten liegt: „Caveant sibi fratres*. K. Müller 1 ) glaubt, daß
die Wendung «caveant* auf Stücke der Regel weise, welche in spätere
Zeit zu verlegen sind. Ich habe jedoch in den Ordensregeln S. 97 auf
'Grund der stilistischen Analyse der Regeln gezeigt, daß es in der Reg. IL
im ganzen 14, resp. 13 (in der Reg. HL nur 3) Stücke mit der Wen¬
dung «caveant* gebe, von welchen nicht gesagt werden kann, daß sie
orst später hinzugefügt worden seien. Auch unser «caveant sibi* bestätigt
die Anschauung, daß dies3 Stücke meist dem Franz und wir können
sagen der Regel angehören. Die Bestimmung des Franz bezieht sich
sachlich auf Reg. H. c. 7 und Reg. ni. c. 6; in beiden wird den
Brüdern der Besitz eigener Wohnstätten und Häuser verboten. Die
weitere Entwicklung war wahrscheinlich von diesen übereinstimmenden
Verfügungen so verschieden, daß die Autoren des Speculum für gut
fanden, sich auf die Worte des Testamentes in einem anderen Sinne
zu berufen, als er ihnen eigen war*), denn sie setzten infolge anderer
i) Theolog. Lit. Zeit, 1. c., S. 184, vgl. Anfänge, 8. 190, 191, 193, 194, 195.
*) Spec. c. 9 sagt daß Franz »circa mortem suam in testamen to scribi fecit,
quod omnes cellae et domus fratrum easent de liguis et lnto tantum, ad conser-
22*
328
Vlastimil Kybal.
Auslegung eine andere Bestimmung voraus, nach welcher Franz eine
Konstruktion der Klostergebäude aus Holz oder Lehm gerade angeordnet
hätte (vgl. oben S. 318).
Im c. 8 ist das berühmte Verbot der päpstlichen Privilegien für
die Brüderschaft enthalten. Wenn wir es recht verstehen wollen 1 ),
müssen wir unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die Worte richten,
welche Franz im c. 3 desTestameutes ausgesprochen hat: Franz sagt dort,
wie schon oben S. 323 erwähnt wurde, daß er zu Priestern seine Zuflucht
nehmen wolle (recurrere), auch wenn sie ihn verfolgen sollten, und daß
er gegen den Willen auch der niedrigsten Landpfarrer nicht predigen
wolle. Mit anderen Worten erklärt er hier die Unterwerfung seines
Ordens unter die lokale kirchliche Organisation bei der Erfüllung der
Predigt- und Missionstätigkeit Nichts lag ihm ferner als die Exemtion
der Brüder von der kirchlichen Jurisdiktion! Als die Brüder, welche
um das J. 1218 aus Deutschand zurückkehrten, ihn um ein päpstliches
Privileg an die Bischöfe baten, damit sie ohne Zaudern predigen könnten,
wies er sie „mit großem Tadel“ ab und erklärte, daß er von niemandem
ein Privilegium wünsche, aber daß er allen Hochachtung erweisen und
der Regel gemäß alle Menschen mehr durch Beispiel als durch Worte
zur Buße rufen wolle; auch die Brüder sollen durch ein heiliges Leben
und demütige Ergebenheit die Bischöfe und Prälaten dazu bewegen, daß
sie selbst sie bitten, dem Volke Buße zu predigen und eventuell die
Beichte entgegenzunehmen; ein heiliges Leben und Gehorsam werde
ihnen mehr nützen als alle „Privilegien“, welche zu Hochmut ver¬
leiteten (Spec. c. 50, cf. Ubertin von Casale und Alvaro, ibid. S. 86-87
Anm.). Daher stammte auch bei Franz die Hochachtung der Priester
außerhalb des Ordens (domini mei sunt) und der Kirche überhaupt
von der Franz im c. 3 des Testamentes spricht und welche aus der
offiziellen Regel entfernt wurde, wie die Erwähnung der Priester außer¬
halb des Ordens überhaupt in ihr gestrichen erscheint (vgl. oben S. 324).
Der Orden selbst wurde schon zu Lebzeiten seines Begründers mit Hilfe
der römischen Kirche 2 ) zu einer abgeschlossenen, sich selbst genügenden
vand&m melius paupertatem et humilitatem«. Im Testamente ist aber von hölzernen
oder Lehm-Häusern nicht die Rede. Dasselbe wiederholt sich in Spec. c. 11.
*) Vgl. auch die von einem anderen Standpunkte ausgehende Auslegung bei
Ehrle im ALKG in. p. 503. Franz verbot päpstl. Privilegien zu erwerben,
weil er fürchtete, »daß solche Privilegien seine Stiftung gehässig machen, daher
in ihrer Wirksamkeit hemmen und seine Jünger verführen könnten, aus ihrer
demütigen und unterwürfigen Stellung dem Weltklerus gegenüber herauszutreten*.
Ä ) Diese Hilfe äußerte sich positiv durch wirkliche Privilegien der Kurie im
Interesse des Ordens, s. die päpstl. Bullen schon vom 11; Juni 1219, dann vom
22. und 29. März 1222. Saba ti er, Vie, S. 312—313 und Lern pp, Fr. Elie de
Über da« Testament des hl. Frans von Aamm.
329
Gesellschaft und handelte speziell in der Predigttätigkeit fast eigen¬
mächtig; nach der offiziellen Eegel c. 9 sollte jeder Bruder-Prediger
vom General des Ordens geprüft und approbiert werden und von ihm
das „officium praedicaüonis* erlangen; die bischöfliche Jurisdiktion
wurde nur in dem Sinne aufrecht erhalten, daß die Brüder in einer
Diözese nicht gegen den Willen des Bischofs predigen durften. Es
scheint, als ob Franz im Testamente diese Entwicklung aufhalten und
die Brüderschaft wieder zu ihrem früheren Zustande der Unterwerfung
und Privilegienlosigkeit zurückführen wollte. Zugleich jedoch scheint
er die Schwachheit des einzelnen dem Willen der Masse gegenüber zu
fühlen und daher der Ernst und die Harte der von der ganzen Autorität
des Begrüngers getragenen Bede: „Precipio firmiter per obedientiam
fratribus universis, quod ubicumque sunt, non audeant petere
aliquam litteram in curia Bomana, per se neque per interpositam per-
sonam, neque pro ecdesia neque pro alio loco, neque sub spede pre-
dicationis neque pro persecutione suorum corporum: sed ubicumque
non fuerint recepti, fugiant in aliam terram ad faciendam penitentiam
cum benedicüone Dei*. Die Brüder sollten daher weder direkt noch
indirekt (d. h. vor allem durch den Kardinal-Protektor des Ordens)
päpstliche Privilegien weder für ihre Kirchen noch für ihre Klöster in
Anspruch nehmen; damit war indirekt gesagt, daß die Brüder diese
Stellen weder zu eigen haben (vgl c. 7) noch durch sie aus der ge¬
gebenen Diözesanorganisation austreten dürfen. Wie aus Spec. c. 10
erhellt, wünschte Franz, daß die „Klöster* der Brüder ganz arme, aus
Erde und Holz errichtete und mit lebendigem Zaune umgebene Hütten
sein sollten und daß die Kirchlein der Brüder eher gottesdienstlichen
Funktionen der Brüder selbst, als Predigten für das Volk dienen mögen,
denn die Brüder in den großen Kirchen des Weltklerus das Wort Gottes
verkündigen sollten 1 ). An zweiter Stelle sollten die Brüder päpstliche
Privilegien nicht für ihre Predigt- und Missionstätigkeit verlangen,
<L h. sie sollten nicht um schriftliche Erlaubnis zur Predigt in den
Cortone, S. 58. Später wurden diese Privilegien äußerst zahlreich, s. die Nummern
bei Potthast, angeführt bei H. Hm feie. Die Bettelorden und das religiöse Leben
Ober- und Mittelitaliens in XIII . J., in den Beitr. zur Kulturgeschichte, bgg. von
W. Goetz, Heft 9, 1910, S. 76 -7' 7 .
<) Vgl. auch Ang. Clarenus im ALKG. HL p. 76: »Et dicebat b. Fran¬
cisco, quod placeret sibi, quot fratres haberent parvas ccclesias pro orando et
divina pro se ipeis officia celebrando, et irent ad predicandum ad ecclesias secu-
lares et ibi audirent cum pace sacerdotum Confessiones i Horum, qui ei devocione
veflent nostris maturis «acerdotibus confiteri, et non fierent iste congregaciones
gentium in locis fratnuu et strepitus aliorum fratrum solitudinem inquietans*
Ähnlich ibid. S. 168.
330
Vl&ptimil Kybal.
Diözesen und um Begleitbriefe für persönlichen Schutz bitten; sie sollten
vielmehr mit freiwilliger Erlaubnis, ja auf die Aufforderung der Bischöfe
hin predigen; wenn sie in irgendeiner Diözese zur seelsorglichen Arbeit
nicht zugelassen würden, sollten sie schnell diese verlassen und in einer an¬
deren Diözese Buße mit Gottes Segen predigen. Aus allem geht hervor,
welche Rücksicht auf die gegebene kirchliche Organisation Franz in¬
spirierte und welches Gewicht er bis zu seinem Tode auf die rein apo¬
stolische Weise der Tätigkeit seiner Bußbrüderschafk legte *).
Im c. 9 offenbart Franz seinen Willen in Sachen der inneren Zucht
in der Brüderschaft Er spricht wieder von sich selbst legt aber sein
»ich will* in den Mund und in die Seele aller einzelnen Brüder. »Et
firmiter volo, erklärt er, obedire ministro generali huius fraternitatis et
aüi guardiano, quem sibi placuerit michi dare. Et ita volo esse captus
in manibus suis, ut non possim ire vel facere ultra obedientiam et
voluntatem suam, quia dominus meus est. Et quamvis sim simpler et
infirmus, tarnen semper volo habere clericum, qui michi faciat offitium,
sicut in regula continetur*. Diese Erklänmg hat einen zweifachen
Sinn, einen persönlichen, welcher Franz selbst betraf, und einen über¬
tragenen, welcher sich auf die übrigen Brüder als Ganzes und als Ein¬
zelne bezog. In persönlicher Hinsicht sehen wir, wie der Sterbende
verspricht seinem General und welchem Bruder immer, der zu seinem
Vorgesetzten oder Guardian bestimmt wurde, sozusagen Kadavergehorsam
zu leisten. Diese Erklärung ist paradox, wenn sie rein persönlich auf
die Zukunft des testierenden Verfassers bezogen wird, wenn sie nicht
bedeuten soll, daß er bis zum letzten Atemzuge den Willen des Vor¬
gesetzten erfüllen wolle. Bei Franz kann dies vorausgesetzt werden,
denn wir wissen aus 3 soc. 57, aus Spec. c. 46 und 2 Cel. 151, daß
er im J. 1220 (also sechs Jahre vor seinem Tode) die Leitung des
Ordens dem Br. Petrus Catanii übergab, diesem »obedientiam et reve-
rentiam“ (2 CeL 143 und Spec. c. 39) versprach und von ihm seinen
Genossen Angelus zum Guardian, d. h. zum lokalen Vorgesetzten sich
erbat (vgL Bonaventura VI. 4). Diesem Guardian war er dann bis
zum Tode statt des Generals gehorsam; seine Demut war so groß, daß
er aus Liebe zu Jesus und als Vorbild des wirklichen Minoritenordens
dem letzten Novizen, der ihm zum Guardian gegeben würde, gleich
fleißig Gehorsam zu leisten erklärte wie dem ältesten Mitbruder. Je
näher der Tod kam, desto eifriger war seine Demut und ihre Äuße-
l ) Für die weitere Entwicklung mit Hinsicht auf die päpstl. Privilegien für
den Orden, s. Ehrle, 1. c. S. 571 sq.
Über das Testament des bl. Franz von Assisi.
331
rangen 1 ). Franz war natürlich wirklich demütig, aber er forcierte
auch die Demut; in diesem Lichte muß seine persönliche Erklärung
vom Gehorsam dem Minister und Guardian gegenüber betrachtet werden
(vgl. bea den zweiten Satz: „Et ita volo esse captus in manibus suis“).
Aber die Sache hat noch einen tieferen Hintergrund und die gegebene
Erklärung kann nicht nur als Reflex des Geistes des sterbenden Ordens¬
gründers, sondern auch als lauter Ruf an gegebene Wirklichkeiten auf¬
gefaßt werden; wir können wirklich sagen, warum Franz so laut rief und
wohin er rief! In den Ordensregeln (S. 121, vgl. 145) habe ich ausgefülfrt,
daß in der Regelgesetzgebung zwischen dem Gehorsam der Regel des
Franz vom J. 1221 und der offiziellen Regel vom J. 1223 ein wesent¬
licher Unterschied bestehe. Es handelt sich nifcht so sehr um den Ge¬
horsam der Brüder den Vorgesetzten gegenüber, obwohl auch hier
Unterschiede vorhanden sind, wie um die persönliche Demut einerseits
und die persönliche Freiheit anderseits. In der offiziellen Regel waren
die Brüder viel freier als in der vorhergehenden Regel, wobei freilich
die Freiheit den Mönch anging und nicht den Menschen, der tot war.
Praktisch ging man wahrscheinlich bald noch viel weiter und der Ge¬
horsam der gelehrten Brüder wurde lockerer (cf. Spec. 11 und 48). Und
dem wollte der sterbende Franz Einhalt tun! Ihm war der Ordens¬
gehorsam bloß Folge des persönlichen Gehorsams und dieser war ihm
freiwillige Entsagung und ein persönliches Opfer für Gott (vgl Admon.
c. 3). Deshalb predigte er geradezu einen Kadavergehorsam den
Vorgesetzten gegenüber, denn der freie Bruder kehrte nach seiner Meinung
,ad vomitum proprie voluntatis“ zurück und wurde eo ipso zum „Mörder“
der Ordenszucht (ibid.). Andererseits verteidigte Franz in der Reg. II.
c. 4 die Selbständigkeit der Brüder gegenüber den Vorgesetzten in der
Erfüllung der Regel selbst, was aus der offiziellen Regel'verschwand.
Und so wollte Franz durch seinen schroffen Befehl im Ordensgehorsam
wieder einen ethischen und individuellen Begriff der Selbstverleugnung
und nicht die Summe von Regelvorschriften und Ordnungen sehen. Jeder
Bruder sollte seinem Guardian (der den General vertrat) als seinem
Herrn gehorchen und in seinen Händen so gefangen sein, daß er nichts
ohne seinen Willen, geschweige denn gegen seinen Willen und Befehl
tue; so sollte er immer Demut und Gehorsam üben und durch diese
Tugenden der königlichen Freiheit des Geistes und der Liebe ent¬
gegen gehen.
') »Sicque in huiusmodi perseverans, qunnto mapis appropinquabat morti,
t&nto magia erat sollicitus considerare, quomodo in omni humilitate et paupertate
et omni virtutum perfeclione poaeet vivere atque mori«. Spec. c. 46.
332
Vlastimil Kyb&l.
Der letzte Satz im c. 9: „Et quam vis 8im simplex et infirmus,
tarnen semper volo habere clericum, qui michi faciat offitium, sicut in
regula continetur 44 , ist zwar durch den konditionellen Ausdruck merk¬
würdig (besser wäre eine kausale Fassung mit quia oder cum), aber
sonst ist der Inhalt klar. Wie wir aus Spec. c. 87 und 117, wie auch
aus der Bemerkung des Bruders Leo (Spec. S. 175, Anm. 2) wissen,
las oder wenigstens hörte Franz als Gesunder und als Kranker das
Regelofficium zum Zeichen seines Gehorsams (vgl. Reg. HI. c. 3), ebenso
wfe zum Zeichen fortwährender Adoration des Leibes Christi.
Im c. 10 tritt Franz mit fast bizarrer Strenge als Verteidiger des
uniformen Regelofficiums auf. Der erste Satz lautet allgemein: „Et
omnes alii fratres teneantur ita firmiter obedire guardianis suis et facere
offitiura secundum regulam 44 . Der erste Teil ist in verfassungsrecht¬
licher Hinsicht ein Kuriosum, denn Franz befiehlt hier Gehorsam einem
Organ gegenüber, von dem in der Ordensgesetzgebung keine Erwähnung
geschieht (Ordensregeln S. 118). In den Regeln ist bloß von den
Ministern und Kustoden, aber nicht von den Guardianen die Rede, und
der Ordensgehorsam (obedientia) bezieht sich in ihnen nur auf das
Verhältnis der Brüder zu den Ministem und umgekehrt Franz aber
nahm mehr Rücksicht auf sein Beispiel als auf die Regelverfügungen,
was auch aus den weiteren Sätzen erhellt In diesen Sätzen wird, kurz
gesagt die prozessuelle Ordnung gegen Brüder aufgestellt welche das
vorgeschriebene Officium nicht einhalten oder ändern sollten oder (ein
interessanter Zusammenhang!) welche der Ketzerei verdächtig waren.
Solche Brüder sollten von ihren Mitbrüdem dem nächsten Kustos über¬
geben werden, welcher den Gefesselten als Verbrecher Tag und Nacht
scharf bewachen soll, damit er ihm nicht entschlüpfe, bis er ihn per¬
sönlich dem Minister übergeben habe. Der Minister soll ihn in Be¬
gleitung von Wacht haltenden Brüdern dem Kard. Hugolino senden,
welcher der Herr, Beschützer und Besserer des ganzen Ordens sei. —
Diese Verfügung ist etwas in der Regelgesetzgebung und in anderen
erzählenden Quellen unerhörtes 1 ); auch aus den Schriften des Franz
kann sie nicht in zufriedenstellender Weise erklärt werden 2 ). Wir
Vgl. nur Reg. II. c. 19: »Omnes fratres sint catholici, vivant et loquantur
catholice. Si quis vero crraverit a fide et vita catholica in dicto vel in facto et
non se eraendaverit, a nostra fratemitate penitus expeilatur«. Vgl. ibid. c. 20
(a sacerdotibus catholicis).
*) Aus diesen lesen wir bloß in der ep. ad capitnluin, c. 6 (Anal. S. 6) eine
gewisse Erklärung ; Franz bittet die Kleriker das Officium mit reinem zu Gott ge¬
wandtem Sinne zu lesen und verspricht für seine Person und für seine Genossen so
zu tun: »Quicumque autem fr&trum — fügt er hinzu — hec observare nolnerint.
Über dos Testament des hl. Franz von Assisi.
333
wissen zwar, daß Franz je naher er dem Tode war, desto eifriger litur¬
gischen Handlungen und den Geheimnissen der Messe ind des Evan¬
geliums und dem Gebete sich widmete (vgL oben S. 323); wir wissen auch,
daß er besondere „Laudes dei“ im Zusammenhang mit dem Vaterunser
verfaßte oder wenigstens zusammenstellte und sich zu eigen machte,
und auch daß er „sollicitus erat semper dicere et aliis fratres ardentissima
voluntate et desiderio docebat et excitabat ad dicendum easdem laudes
sollicite et devote* (Spec. c. 82); weiter wissen wir, was für eine heilige
Handlung für ihn sein besonderes * officium passionis domini* war, und
endlich ist bekannt, daß durch beide Regeln (Reg. IL c. 3, Reg. HI.
c. 3) den Brüdern die Abhaltung des Officiums, der Laudes und Gebete
anbefohlen wurde, „secundum quod debent facere*. Aber daß die bloße
Vernachlässigung dieser. Pflicht so strafwürdig, so dem ärgsten Ver¬
brechen gleichgestellt wäre, das wußte niemand und weiß niemand bis
jetzt >). Die Sache wird noch merkwürdiger, wenn wir die hier aus¬
gesprochene Strenge, ja Grausamkeit gegen den Sünder mit der Milde
vergleichen, mit der Franz in der ursprünglichen Regel, resp. im Ent¬
würfe der Regel wirkliche sittliche Vergehen, nämlich Todsünden, be¬
handelte; er bestimmte hier (vgL Ep. ad ministrum und über die ganze
Angelegenheit s. Ordensregeln, S. 50-51), daß ein solcher Sünder selbst
sich an seinen Guardian wenden solle; dieser solle das Vergehen unter¬
suchen, wobei die Zeugen barmherzig sein und über die Sünde vor
anderen schweigen sollen *). Zum Gericht ist der Sünder dem betreffenden
Kustos zu übergeben und dieser solle wieder barmherzig mit ihm ver¬
fahren. Ein Bruder, der eine gewöhnliche Sünde begangen hat, sollte
noch einfacher und milder abgeurteilt werden: er sollte einem Mit¬
bruder beichten, wenn kein Priester da wäre; der Priester solle ihm
dann die kanonische Absolution erteilen, und ihm Buße auferlegen,
welche aber nur darin bestand, daß er ihm die Worte der Schrift in
Erinnerung rief: „Gehe und sündige hinfort nicht mehr!* ...Im Testa¬
mente hingegen werden für die Vernachlässigung oder Änderung des
non teneo cos catholicos nec fratres ineos; nolo etiam ipsos videre nec loqui, donec
penitentmm egerint*.
•) Sabatier, Spec., S. 312 schweigt bei diesem Stücke und die übrigen
Forscher beziehen es, soviel :'ch weiß (s. Goetz, S. 14 und Redersdorff, Die
Schriften des hl. Franciscus von ^issisi, Regensburg 1910, S. 88 Anm.), aut den Unge¬
horsam im Orden oder in der ürche überhaupt. In Wirklichkeit bezieht sich aber
die Stelle auf das Officium! Siehe weiter im Texte.
*) »Et omnc8 fratres, qui scirent eum (sc. fratrem) peccasse, non faciant ei
rerecundiam nec detractionem, sed magnam misericordiam h&beant circa ipsum
et teneant mul tum privatum peccatum fratris mei, quia »non est opus sanis me-
dicus, sed male habentibus«. (Act. IX. 12). Ep. ad ministrum, Anal., p. 29.
334
Vlastimil Kybal.
Officiums alle Brüder, der Kustos, Minister und der Protektor des Ordens
alarmiert und »per obedientiam* (d. h. durch die oberste Mach: des
Ordensgründers und auf Grund des Ordensgelübdes, welches einem Pro¬
fessionalschwur gleich kam) aufget'ordert den Sünder Tag und Nacht wie
den ärgsten Verbrecher gefangen zu halten!
Mir scheint, wir können diesen scheinbaren Widerspruch in den
Anschauungen und Ausdrücken des Franz nur dann erklären, wenn wir
uns nicht auf den sittlichen, sondern den dogmatischen Standpunkt
stellen. Franz fordert ein so strenges Einschreiten in einem weit
ernsteren Falle als beim bloßen Vernachlässigen des Officiums, er fordert
es im Falle von Ketzerei! Dies beweisen vor allem zwei Umstände:
1. die Anführung aller Ordensinstanzen beim prozessuellen Vorgehen*
besonders aber des Beschützers und „corrector* des Ordens, des Kard.
Hugolino, dem der sündige Bruder übergeben werden sollte, natürlich
zur Besserung in Sachen des Glaubens (in Sachen der Zucht waren die
Provinzialminister kompetent, Reg. III. c. 7); 2. die Stilisierung des
Vorsatzes: »Et qui inventi essent, quod non facerent offitium secundum
regulam, et vellent alio modo variare, aut non essent catholici ...*
Dieser Wortlaut ist im letzten Stücke ganz klar, aber auch der vor¬
hergehende Teil ist klar, wenn wir uns daran erinnern (was regelmäßig
trotz der großen Bedeutung übersehen wird), daß unter dem Officium
in der offiziellen Regel das Officium der römischen Kirche oder päpst¬
lichen Kapelle verstanden wird, welches erst kurz vorher durch den
berühmten Liturgisten, den Kard. Gencius, eingeführt wurde, der eben
damals als Honorius III. die päpstliche Würde inne hatte und dessen
rechte Hand wieder der Kard. Hugolino, der Protektor der Franziskaner,
war. Dieses Officium (auch Breviar oder Officium breviatum capellae
papalis genannt) übernahm auch Franz als Officium des Ordens, weil
es kurz (in einem Band enthalten) und billig war und er führte die
bis dahin unerhörte Neuerung ein, daß der Ordenskleriker es bei sich
tragen und auch außerhalb des Chores rezitieren könne; so trugen die
Brüder bei ihrer Wanderung durch die Welt das Büchlein in einem
am Halse hängenden Futteral mit sich und verbreiteten so das päpst¬
liche Breviar in^ der ganzen Welt*). Aber das päpstliche Officium be¬
deutete noch mehr als eine liturgische Neuerung: es bedeutete zugleich
das offenbare Bekenntnis des orthodoxen römisch-päpstlichen Glaubens
in seinem ganzen Umfange und durch ihn wurden die Minoriten im
*) Vgl. P. Hi larin, Saint Francis d’ Assise et le brevinre romain, in den
Etudes franc. V. 1901, S. 490—604, und dessen Edition: Offices rhytmiques de
St. Francis et de St. Antoine, 1901.
Über das Testament des hl. Frans von Assisi.
335
13. Jh. eo ipso „zur Avantgarde des päpstlichen Hofes in der ganzen
katholischen Welt“ 1 ). Inwieweit auf diesem liturgischen Felde ketzerische
Theorien sich geltend machten, kann nicht genau gesagt werden *). Wenn
nicht in der Theorie, standen praktische Ketzer und Franziskaner
wenigstens unbewußt in gegenseitiger Opposition. Während z. B. die
Waldenser deshalb als Ketzer erschienen, weil sie den Befehlen der
Päpste und Konzilien nicht Gehorsam leisteten 8 ), waren die Minoriten
von Anfang an und besonders durch die Regel des J. 1223 dem herr¬
schenden Papst und seinen kanonischen Nachfolgern wie auch der ganzen
römischen Kirche (Reg. UI. c. 1) zu professionellem Gehorsam verpflichtet;
„aus dem katholischen Glauben und den kirchlichen Sakramenten“
werden die neuen Brüder und ähnlich auch die Prediger (c. 9) geprüft.
In liturgischer Hinsicht, welche uns hier interessiert, waren die Kleriker
durch die offizielle Regel verpflichtet, das Officium „secundum ordinem
Romanae ecclesiae“ zu halten (Reg. IU. c. 3; hingegen Reg. II. c. 3:
secundum consuetudinem clericorum Romanae ecclesiae). Sobald daher
die Brüder dieses Officium vernachlässigen, besonders aber es ändern
sollten, dann würde eo ipso ihr Unabhängigkeitsverhältnis der Kirche
gegenüber mit Hinsicht auf die Disziplin, die Liturgie und schließlich
auch das Dogma gelöst und sie würden aufhören, „Katholiken“ rö¬
mischer Observanz zu sein. Dies wollte Franz, der ein intensives Ge¬
fühl der Ergebenheit der römischen Kirche gegenüber hegte, absolut
verhüten und wandte sich daher mit einer fast inquisitionsartigen Strenge
gegen jene Möglichkeit
Im c. 11 beginnt der Abschluß, wie früher im c. 7 der eigentliche
Inhalt des Testamentes begann. Franz verwahrt sich hier dagegen, daß
das Testament für etwas gehalten werde, was es nicht sein wolle. „Et
non dicant fratres: ,Hec est aha regula 4 , quia hec est recordatio, am-
monitio, exhortatio et meum testamen tum, quod ego frater Franciscus
parvulus facio vobis fratribus meis benedictis propter hoc, ut regulam,
quam Domino promisimus, melius catholice observemus“. In diesen
«) P. Hilarin, 1 . c.
*) Die Katharer, welche ihre religiösen Funktionen besonders auf das »Con-
soiamentum« beschränkten, können hier nicht herangezogen werden. Bei den Wal¬
densern behindert die Untersuchung der Umstand, daß sie sich für Katholiken
hielten, daher die Messe hörten, die Firmung und mit Ausnahme der Beichte auch
die anderen kirchlichen Sakrair mte beibehielten. Vgl. F. T o c c o, L’ eresia nel
medio evo, S. 177 sq.
•) „In primis igitur arguuntur de inobedientia, quia scilicet non obediunt
ecclesiae Romanae*, sagt Foncaldo (zit. Tocco, 1. c. 8. 177 Anm. 2). Dieser Un¬
gehorsam bezog sich speziell auf die Verwerfung der bischöflichen Approbation
der priesterliehen Prediger.
336
Ylastimil Kybal.
Worten äußert sich die große Naivität und der Eifer des „Poverello“.
In fast allen früheren Kapiteln reagiert er auf die offizielle Regel, er¬
gänzt und berichtigt sie in einem der Regel oft entgegenlaufenden
Sinne; am Schlüsse aber sagt er, daß er, „Franciscus parvulus“, all’ dies
nur deshalb tue, damit die Brüder die offizielle Regel „besser katholisch*
einhalten! In den vorhergehenden Kapiteln will er „firmiter“, daß die
Brüder mit der Hand arbeiten und ein Handwerk erlernen sollen, warnt
sie sieh Kirchen anzumaßen, verbietet „firmiter« „per obedientiam«
allen Brüdern päpstliche Privilegien zu fordern und verpflichtet sie alle
zum Gehorsam den Guardianen gegenüber und zur Einhaltung des
Regelofficiums, — aber am Schlüsse sagt er: dies ist ein bloßes „Erinnern«,
„Ermahnen“ und „Auffordern“ und — mein Testament! Die alten
Genossen von Franz erkannten es besser, wenn sie dieses Schriftstück
„den letzten Willen“ nannten (cf Spec. c. 65) und noch treffender
wurde es von Kard. Hugolino charakterisiert, der es als Papst Gregor IX.
„Mandat“ nannte l ). Übrigens hat der Protest des Franz einen ironischen
Beigeschmack, und zwar in dem Sinne, weil der Autor ihm zufolge mit
dem Testamente zu „katholischerer“ Einhaltung der Regel beitragen
will, mit demselben Testamente, in welchem er vor den Privilegien
und eo ipso vor dem Höhepunkt des Rechtes und der römischen Lehre
wie vor dem Teufel warnt und in welchem er faktisch die Regel kor¬
rigiert und ergänzt! Das Wort „catholice“ kann natürlich auch noch
als Widerhall der katholischen Entrüstung des vorhergehenden Kapitels
gelten und Franz meinte es sicher an beiden Stellen ehrlich.
Im c. scheint es, als ob der Stolz der Gründers und der be¬
kannte Sinn für die Unantastbarkeit schriftlicher Denkmäler in Franz
erwachte a ). Er verbietet hier „per obedientiam« dem General, den
Ministem und Kustoden etwas zu diesen Worten hinzuzufügen oder
etwas zu streichen; und er befiehlt, daß sie diese Schrift immer neben
der Regel bei sich haben und sie zusammen mit der Regel auf den
Kapiteln vorlesen sollen. An und für sich scheint diese Verfügung
unschuldig, aber sie hatte in Wirklichkeit bedeutende Tragweite: das
Testament wird nicht nur der Regel gleich gestellt, ihr Inhalt wird
auch der Aufmerksamkeit der ganzen Brüderschaft auferlegt, ja, man
kann sagen, zur Pflicht gemacht! Zu diesem Zwecke sollen die Regel
*) In der Bulle »Quo elongati«, im Spec. perf., S. 315 (cuius mandatum di-
citur testamentum), S. 316 (in praedicto mandato).
*) Vgl. 1 Cel. 82: »Et quod non minus est admirandum, cum litteraa oliquas,
salutationis vel admonitionis gratia, faceret scribi, non patiebatur ex hiis
deleri litteram aliquam aut sillabam, licet euperflua saepe aut incom-
petens poneretur«.
Über das Testament des hl. Franz von Assisi.
337
und das Testament vorgelesen werden l ). Franz forderte damit aller¬
dings nichts neues, denn er bat in der ep. ad capitulnm generale
wenigstens die Vorgesetzten des Ordens, „nt hoc scriptum apud se
habeant, operentur et studiose reponant* (Anal S. 62); in der ep. ad
costode8 forderte er die Verbreitung und Verkündigung des Inhaltes des
Briefes „urque in finem* (Anal. S. 64), und in der ep. ad fideles sprach
er den Wunsch aus, daß der Brief denen vorgelesen werde, die selbst
nicht lesen können, und daß es heilig befolgt werde „usque in finem*
(AnaL S. 57). Wichtiger ist die weitere Bestimmung, in welcher Franz
das Glossieren der Regel und des Testamentes verbietet „Et omnibus
fratribus meis, clericis et laycis (sagt er wörtlich), precipio firmiter per
obedientiam, ut non mittant glosas in regula neque in istis verbis,
dicendo: Ita volunt intelligi. Sed sicut dedit michi dominus simpliciter
et pure dicere et scribere regulam et ista verba, ita simpliciter et pure
sine glosa intelligatis et cum sancta operatione observetis usque in
finem*. In sachlicher Hinsicht stellt sich Franz in dieser Verfügung
auf dieselbe gesetzgeberische Linie, wie er es schon in der Reg. II. tat
Auch dort verbietet er am Ende des c. 24 streng, aus der Regel etwas
zu streichen, zu ihr etwas hinzuzufügen, oder eine andere Regel anzu-
nehmen. Derselbe Gedanke der Exklusivität erfüllte wahrscheinlich
Franz auch beim Verfassen des definitiven Entwurfes der Regel vom
J. 1223, wie die halblegendarische Erzählung von den vom Himmel
gesprochenen Worten Christi bezeugt: „Frandsce, nihil est in regula
de tuo, sed totum est meum, quidquid est ibi; et volo, quod regula sic
observetur ad litteram, ad litteram, [ad litteram], sine glosa, sine glosa,
sine glosa* 2 ). Interessant wäre zu wissen, was Franz mit den Worten
von der „regula* und ihrer einfachen und reinen Abfassung meinte
(sicut dedit michi dominus simpliciter et pure dicere et scribere regulam).
Auf die Regel des J. 1210 würden dieselben Worte hinweisen, welche
er dort im c. 4 anwendet (ego paucis verbis et simpliciter feci scribi);
dem steht aber die Tatsache entgegen, daß er diese Regel an der an¬
geführten Stelle bloß mit dem Worte „vita* bezeichnet, während er
sonst überall (c. 7, 10, 11) mit dem Worte „regula* die offizielle Regel
des J. 1223 meint Andererseits ist es nicht leicht an die Selbst¬
täuschung von Franz zu glauben, daß er nämlich behaupten sollte, daß
i) Der Orden gehorchte dem Willen des Gründers in dem Maße wenigstens,
daß bis heute jeden Freitag beim gemeinsamen Mittagmahle in allen Franziskaner-
klOstem mit der Regel auch das Testament vorgelesen wird (Rederstorff, S. 89
Anm )
*) 8pec. perf M c. 1, ed. Sabatier, p. 4. Cf. Actus in Valle Reatina, c. 2,
ibid., p. 259.
338
Vlastimil Kybal.
Gott ihm die offizielle Regel „simpliciter et pure* diktieren und auf¬
zeichnen ließ, da wir doch wissen, wie radikal und gewaltsam diese
Regel yon den Ministern geändert wurde. Die Behauptung gar, daß
diese Regel aus so reiner und einfacher Inspiration Gottes hervorge¬
gangen sei wie das Testament, ist offensichtliche Täuschung. Tatsache
ist, daß Franz in Selbsttäuschung befangen war und zwar nicht nur
in historischer (mit Rücksicht auf die Regel vom J. 1223), sondern
auch in psychologischer Hinsicht; diese Selbsttäuschung bestand dann,
daß er alle seine den Brüdern mitgeteilte Worte für eine Inspiration
Gottes hielt, welche reines Verständnis und einfache Erfüllung des in¬
spirierten Inhaltes erfordert l ). Was Franz von Gott „rein* empfing,
das sollte auch für Gott „rein* erfüllt werden! Bedeutungsvoller ist,
daß Franz das Glossieren auch der offiziellen Regel verbot; er gestattete
keinem Bruder eine Interpretation der Regel (nolens Regulam suam
per alicuius fratris interpretationem exponi, in der Bulle, Quo elongati,
Spec. S. 315), ja, er verbot einen ähnlichen Versuch für immer. Die
offizielle Regel enthielt dieses Verbot nicht und deshalb wollte es Franz
ex post im Testamente festlegen. Es ist das letzte Bestreben seines
zähen Geistes nach Reinheit und Exklusivität der eigenen und zu eigen
gemachten Gedanken.
Das letzte Kapitel des Testamentes (c. 13) enthält den Segen, den
Franz von Gott allen denen erbittet und kraft seiner Macht bestätigt,
'welche die Bestimmungen des Testamentes einhalten werden. Dieser
Segen ist wohl durchdacht ausgedrückt und hebt sich so von den
früheren Segenerteilungen des hL Franz ab 8 ). In der Reg. IL c. 24
sagt er bloß: „Et exoro Deum, ut ipse, qui est omnipotens trinus et
unus, benedicat omnes .. .* (vgL Spec. c. 76). Ähnlich einfach segnet
er am Ende der ep. ad capitulum (si in eis perseveraverint usque in
finem, benedicat eis Pater et Filius et Spiritus Sanctus. Amen), in der
ep. ad capitulum (Benedicti vos a domino, qui feceritis ista), in der
ep. ad clericos (sciant se benedictos a Domino Deo) und in der ep. ad
*) Ata von Gott inspiriert galt ihm nicht nur das Testament, sondern auch
die Reg. QI., cf. Spec. c. 1 (aiiam regulam, quam Christo docente scribi fecit)
Bonav. IV. 11 (ac si ex ore dei verba susciperet) und Ang. Clareno, Exp. reg.
in Anal., S. 87.
’) Diese Segen waren nicht nur in den Schriften, sondern auch in allen
feierlicheren Reden und Taten des Heiligen eine gewöhnliche Erscheinung. 8o
segnete er die ersten Brüder, welche in die Welt hinauszogen (3 soc. 37), segnete
die Brüder am Ende der Kapitel Verhandlungen (3 soc. 59, Spec. c. 87) und s»jnete
vor seinem Tode die Stadt Assisi (Actus, c. 18 und Spec. S, 329—331), den Bruder
Bernhard (Actus, c. 5 und Spec. c. 107) und olle Brüder (Spec. c. 88, 2 Cel. 216).
über das Testament des hl. Franz von Assisi
339
custodes (sei ant se habere benedictionem Domini Dei et meam). Im
Testamente erbittet Franz für jene, welche seinen Willen befolgen, im
Himmel den Segen des Vaters und auf Erden den Segen des Sohnes,
des Geistes, aller himmlischen Tugenden und aller Heiligen. Und diesen
Segen bestätigt ihnen Franz, soweit er kann, innerlich und äußerlich_
♦
♦ *
Es ist natürlich, daß ein so exklusiv pointiertes (sine glossa) und
so sacerdotal betontes Testament sehr bald Zweifel und Verlegenheit
besonders bei den Ministem hervorrie£ welche solcherweise neben der
offiziellen Hegel, teilweise sogar im Gegensätze zu ihr eine neue Hegel
vor sich hatten. Jene Zweifel bezogen sich nicht nur auf das Testa¬
ment, sondern auch auf die eigentliche Hegel (besonders auf die Fragen
der Einhaltung der Gebote, resp. der Haeschläge des Evangeliums, auf
die Geldfrage, auf die Frage des Besitzes von Häusern, der Bestrafung
von Todsünden, der Erlaubnis zur Predigt, der Aufnahme neuer Brüder
durch die Vikare, der Wahl des Generals, des Betretens von Frauen-
klöstem); der ursprüngliche Zweifel jedoch galt der Frage, ob der Orden
verpflichtet sei das Testament als reines Mandat einzuhalten. Dieser
Zweifel wurde schon im vierten Jahre nach dem Tode des hL Franz
auf dem Generalkapitel vom 26. Mai 1230 laut ); die Folge davon
war die Entscheidung des Papstes in der Bulle „Quo elongati* vom
28. September 1230. In dieser Bulle wird der Streitgegenstand er¬
läutert*) und direkt erklärt, die Brüder seien nicht verpflichtet das
Testament als Mandat zu beobachten, und zwar deshalb, weil Franz
ohnA Zustimmung der Brüder, besonders der Minister seinen Nachfolger
nicht binden konnte, und auch nicht band, da er die Leitung nicht
mehr „par in parem* in ne hatte, ln rein rechtlicher Hinsicht bemerkt
Lempp 8 ), daß der Papst recht hatte, denn Franz sei nach der Ab¬
dikation nichts mehr als ein einfacher Bruder gewesen. Vom allge¬
meinen S andpunkt war aber die Erklärung des Papstes doch nicht
begründet, wie Sabatier betont 4 ): Franz trat im Testamente nicht
*
*) Vgl. Ed. Lempp, in der ZKiG., XIH. p. 1—19 und den. Fr. Elie
de Cortone, 8. 88 u. 96 sq.
*) Aber nicht immer genau und richtig; die Bulle sagt, daß Franz bestimmte
»ot verba iprins regulae non glossentur*, oowohl doch Franz im Testamente will,
*nt non mittant glosas in regula neque in istis verbis (d. h. im Testamente
«elWt) direndo: Jta volunt intelligi 4 (auch diese Worte werden in der Bulle nicht
genau angeführt).
*) Lempp, Fr. Elie, 8. 66.
«) Sabatier, Vie, S. 387, Anm. 2.
340
Vlastimil Kybal.
als General, sondern als Ordensbegrönder auf! Aus unserer Analyso
erhellt, daß er auch als höchster Gesetzgeber auffcrat, der bis zum letzten
Lebenstage das geistliche „officium praelationis* l ) behalten wollte und
der mit Rücksicht auf den ungünstigen Einfluß der Minister und Ma¬
gister, sowie auf die Schwächen der offiziellen Regel mit aller Kruft
bestrebt war, „die Brüder den Weg gehen zu lehren, den Gott ihm
selbst gewiesen hatte* und so Gott für sein Werk Rechenschaft abzu-
legen . .. *). So verleugnte der Serafische Vater auch im letzten Atem¬
zuge seines Lebens sich selbst nicht
l ) Cf. Spec. c. 71: Er entsagte dem Generalat im J. 1221 mit Rücksicht auf
seine Krankheit, »tarnen si secundum voluntatem me&m fratres vellent ambulare,
nunc propter ipsorum consoiationem et utilitatem nollem, quod alium ministrum
haberent, nisi me, usque ad diem mortis meae . . . imo tan tum gauderem de boni-
tate fratrum proper lucrum ipsorum et lucrum meum, quod si facerem in lecto in-
firmu8, non me pigeret satisfacere eis, quia officium meum, id est praelationis, cst
spirituale tantum, vid. dominari vitiis et ipsa comgere spiritualiter et emendare«.
*) Ibid.: »Verumtarnen usque ad diem mortis meae non cessabo saltem exemplo
et bona operatione docere fratres ambulare per viam, quam mihi dominus ostendit,
quam docui et ostendi verbo et exemplo, ut eint inacusabiles coram deo, et ego
non tenear ulterius de ipsis coram Deo reddere rationem«.
Kleine Mitteilungen.
Ein Brief des Matthäus von Krakau aber die Judenfrage (um
1400 ). Vor Jahren gab ich in den „Mitteilungen des Instituts* 24, S. 388
an, daß ein von dem Theologieprofessor zu Heidelberg, nachmaligen Wormser
Bischof Matthäus von Krakau (f 5. März 1410), verfaßter Brief die Stellung
erörtert, die der Christ im geschäftlichen wie im allgemeinen Leben dem
Judentum gegenüber einzunehmen habe. Seitdem tauchte der Brief außer
in den beiden genannten Handschriften I F 273 und I F 286 der
Breslauer Universitätsbibliothek auch ebenda I Q 50 auf, wo er als „Epi¬
stola ad archiepiscopum* sich verzeichnet findet 1 ). Indem I Q 50 (C) ab¬
geleitet zu sein scheint aus I F 286 (B), wo der Brief im Jahre 1411
zur Miederschrift gelangte, war es nötig, für den nachstehenden Text
in erster Linie I F 273 (A) zugrunde zu legen. Diese Handschrift ist
schon im Frühjahr 1406 gefertigt worden, und zwar zu Neiße, weshalb
auch der in der Überschrift Blatt 100 a dieses Kodex enthaltenen An¬
gabe, Matthäus von Krakau sei zu der betreffenden Zeit schon Bischof
von Worms gewesen, nicht ohne weiteres Glauben beizumessen sein
wird. Matthäus wurde erst am 19. Juni 1405 mit dem Bistum Worms
durch den Papst Innozenz VH. providiert Da es nun unwahrscheinlich
ist, daß Matthäus 9 Schriftchen in der kurzen Zeit bis zum Frühjahr 1406
von Heidelberg oder Prag aus an das entlegene Neiße, in dem der
*) F. Franke, Matthäus von Krakau, Bischof von Worms, sein Leben, Cha¬
rakter und seine Schriften zur Kirchenreform. Dissertation. Greifswald. 1910. S. 133.
Nur ist hier unrichtig angenommen, es sei der Brief an den Erzbischof eine an¬
dere Schrift als Matthäus* Werk »De commercio cum Judeis«, auch hat Franke
meine auf den Kodex I F 273 bezügliche Notiz a. a. 0. übersehen.
*) H. V. Sauerland im Jahrbuch für Lothringische Geschichte 15, 1903»
S. 474.
Mitteilungen XXXVI.
23
342
Kleine Mitteilungen.
Schreiber von 1 F 273 arbeitete, übertragen sei, und auch nichts von
spezielleren Beziehungen bekannt ist, die Matthäus von Krakau zum
Prager Erzbischof Zbynök von Hasenburg (f 1411) gehabt hätte, spricht
alles dafür, daß der Brief in die Zeit vor 1405 gehöre, und an ('en
dem Matthäus nahe befreundeten Prager Erzbischof Johann von Jenstein
(f 17. Juni 1400 ) l ) gerichtet ist Vorausgegangen ist in I F 273,
Blatt 1—100 das anonyme Werk „Meditatio de decore domus dei,
que est anima“, und es heißt im Vorsteckblatt der Handschrift mit
Rücksicht auf deren erste zwei Abhandlungen: Item post primum
librum argumenta et raciones, quod camifices *) non debent participare
Judeis.
Incipit epistola scripta per magistrum Mathe um de Cracovia, sacre
theologie doetorem, episcopum Wormaciensem, et directa archiepiscopo
Pragensi, contra carnifices, quod non debeant participare Judeis*).
Houorabilis domine! Instanter petivisti a me aliquid notare, et scribi
abusivam ymmo perfidam Christianorum nomine quorundam participacionem,
qua in commerciis negocii carnifices communicant cum Judeis. Ecce, mi
dilecte in Christo Jhesu frater et amice, respondeo breviter per istam con-
clusionem unicam: Christiani non debent habere convictum neque commercium
cum Judeis, presertim in casu, de quo scripsisti. Probatur, quia est peri-
culosum, quia est suspectum, quia est scandalosum, quia est indignum, quia
est illicitum. Primum pitet, quia malorum consorcia eciam bonos cor-
rumpunt, quanto magis eos, qui ad vicia proni sunt, sicut sunt commu-
niter simplices laici adhuc valde imperfecti Hoc advertens psalmista
dixit: cum sacrosanctus eris, item Ecclesiastici capitulo 13: qui, inquit,
q Vgl. Über ihn die auch auf die weitere Literatar bezugnehmende Abhand¬
lung in den Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 42,
(1903) S. 269—275.
*) Matthäus verwirft nicht nur im allgemeinen die Ansicht, daß ein Verkehr
zwischen Juden und Christen stattfinden dürfe, da die Juden unrein, und die
Feinde des von ihnen gekreuzigten Heilandes sind, (congregatio S&thanae) sondern
will insbesondere auch, daß Schlachtvieh (Rinder, Schafe etc.) nicht im Wege
des Kaufes oder THUsches an die Juden, die ihr Geld meist durch Wucher
erworben haben, abgegeben werden dürfe. Der Prager Erzbischof hatte eine
darauf bezügliche Anfrage an den Matthäus gerichtet. Das Thema wurde in
etwas anderer Gestaltung um jene Zeit mehrfach ausführlich in Gelehrtenkreisen
behandelt, z. B. von einem ungenannten Magister, der der Universität Köln
nahe zu stehen scheint, in dem Werk: Quaestiones, an expediat Judeoa
commornri Christianis: Stadtbibliothek zu Trier Hds. 265, Blatt 192a—195b. Das
Incipit lautet: Tnictaturus de commercio liabendo cum usurariis, quales suntJudei
generaliter, ln die ersten Jahre des 15. Jahrhunderts gehören hier am Rhein auch
des Matthäus von Krakau Beziehungen yum Magister Gerhard von Hoengen. Vgl.
G. Sommerfeldt, Gerhard von Hoengen mul Albert Engelschalk (Neues Archiv
39, 1914 8. 761—764.
•) B: Epistola magistri Mathei de Croccovia.
Ein Brief des Matthäus von Krakau Ober die Judenfrage (um 1400). 343
tangrt picem, coinquinabitur ab ea, et qui communicat superbo, induet su-
perbiam. Et alibi: qui iungit se fomicariia, exit nequam, malus. Ita eciam,
qui communicat Judeo, qui non solum malus est et spiritualis fomicator,
verum eciam perfidus est, blasphemus et publicus peccator, erit nequam;
et de fadli discit mores Judei, sive judayzare et de fide Christiana dubi-
tare, sectamque Judaicam probabilem reputare, et per consequens a Christo
Jhesu, vero sponao, fomicarL Propter hoc dominus deus quondam precepit
populo suo, ne fedus et societatem iniret cum geDtilibus et infidelibus, ne
disceret opera eorum, de quo Exodi 23, ubi dicitur: non inibis cum eis
fedus, ne forte te peccare faciant in me. Multos enim mixtos inter se pec-
care fecerunt, qui didicerunt opera eorum, qui diis alienis servierunt, a
deo vero fomicando. Quemadmodum scnptura sacra in multis processibus
apertissime, tarn in lege quam prophetis, expressit, ymmo et Salomon sapien-
tissimus. dictus aliquando filius dei et amabilis domini, conversans uxoribus
alienigenis didicit opera earum, ydola faciendo eademque venerando. De
quo 3. Begum 11.
Secundum patet, quia, qui cum Judeis habet negocia et commercia,
videtur favere ymmo fovere perfidiam ipsorum et in ipsa comnranic&re,
quantum ad maligna opera ipsius; quod manifeste beatus Johannes ex-
pressit c. secunda: videte, inquit, vosmetipsos, ne perdatis, que operati estis,
sed ut mercedem plenam accipiatis, quia omnis qui procedit, et non per-
manet in doctrina Christi, de um non habet Qui autem permanet in doo-
trina, hic et filium et patrem habet Si quis venit ad vos, et hanc doc-
trinam non affert, nolite eum recipere in domo, et ave ei ne dixeritis. Qui
enim dicit: ave, communicat operibus eins malignis. Quod dicit: suspectus
est valde, quod sit fautor et amicus Judeo rum, cum particeps fiat in ope¬
ribus malignis eorum. Ecee si solummodo salutans et in domum reci-
piens suspectus est, quod communicat operibus Judeorum malis, quanto
magis habens negocia et commercia cum eis! Tercium probatur, quia alii
Christiani infirmi in fide videntes quempiam conversari commerciaque
habere cum Judeis, credunt hec licere, ac<.ipientes exemplum simile agendi
et faciendi. Et ita per scandalum ruunt b ). Vel si fortassis similia non
faciunt, iudicant tarnen tales esse amicos Judeo rum et ipsorum perfidie
fautores, et sic iterum scandalizantur per iudicium temerarium. Ecce propter
hec et eciam alia, eciam si liceret conversari Judeis, adhuc tarnen, quia
non expediret propter infirmos in fide, homo Christianus non deberet con-
verBari eis. Quod apostolus in simili notavit cum dixit ad Bomanos 9: Si
propter cibum frater contristatus, iam non secundum caritatem ambulans,
noli cibo tuo illum perdere, pro quo Christus mortuus est c ). Et Srquitur
interpositis paucis: bonum est non manducare carnem, et non bibere vinum,
nee in quo fratev tuus offenditur aut scandalizatur aut infirmitur, etloquiturde
hiis, qui conmederunt ea, que in veteri lege fuerunt inmunda d ) reputata et
prohibita, quamvis non essent prohibita neque reputata inmunda in nova
lege, saltem a firmis in fide, sed solum ab infirmis et nuper a Judavsmo
conversis, qui iudicaverunt illos perfectos transgredi precepta legis. Sic in
proposito, quantum ad illos, qui negocia et commercia habent cum Judeis,
et alios infirmos ChristLinos, qui boc vident. Huius exemplum dedit nobis
b ) B: innunnt. — «) ln C hier und an einigen anderen Stellen Zusätze am
Bande von drr Hand des Kopisten. — d ) A: munda.
,23
344
Kleine Mitteilungen.
Christus salvator noster declinans gentiles, ne Judei scandalizentur, videntes
eum conversari gentilibns contra prohibicionem legis. Propter hoc eciam
idem salvator noster dominus Jhesus Christus precepit discipulis suis
dicens: in viam gencium ne abieritis, in civitates Samaritanorum ne in-
traveritis, Mathei 10. Quartum probatur: indignum valde, jmmo videtur
esse sacrilegium, quod populus Christianorum qui est populus dei, cum
populo dyaboli communionem liabeat, quemadmodum beatus Johannes in-
nuit e ) in Apokalypsi 2, ubi Judeos synagogam, id est congregacionem
Sathane, appellat dicens ad quemdam: loquens blasphemaris ab hiis, qui
se dicunt Judeos esse, et non sunt, sed sunt synagoga sathane. Item in¬
dignum et ignominiosum nimis, ymmo et absurdum est, quod Christianus
cum illo communicat, qui cottidie deum et redemptorem suum, dominum
nostrum Jhesum Christum, gloriosamque eius matrem virginem Mariam
omni laude dignisrimam blasphemat, et omnes sanctos nostros novi testa-
menti perfidos et dampnatos appellat, atque fidem nostram verissimam et
omnen christianitatis statum errorem dicit et reputat. Nonne hoc videtur
valde indignum, quod aliquis unquam cum tali maledicto blasphemo, per-
secutore crucis Christi, aperto inimico sevissimo, communionem habet et
amiciciam servat. Cuius finis interitus et gloria in confusione, qui terrena
sapit secundum apostolum Philipp. 3; Christiani autem finis et salus et
gloria in maximo honore, cuius conversacio in celi* est. Hec enim, celestis
esse debet. Die, queso, michi, o tu ficte Christiane, unus ex populo Christi
nomine, non re, voce, non virtute, quis unquam potuit vel poterit esse
simul amicus duorum inimico rum, quales sunt Christus dominus tuus et
dominator tuus, redemptor fidelissimus, parte ex una, ex parte vero altera
Judeus, persecutor et inimicus eiusdem domini dei, amatoris tui, et salutis
tue perfidelissimus. Unde secundum beatum Johannem in c., 3. capi-
tulo: qui vult esse amicus huius seculi, inimicus dei constituitur. Ita
qui voluerit esse amicus Judei secularis, et inimici Christi, contra preceptum
ecclesie, inimicus efficitur Christi. Ecce, verOrum Christianorum conversacio
celestis esse debet, Judeorum autem terrena esse dinoscitur. Finis Christia¬
norum fidelium est gloria etema, Judeorum autem confusio sempiterna.
Quare indignum valde esse videtur, quod Christianus communicet Judeo,
quod advertens apostolus dixit 2. Corinth. 6: Que convenöio ad Belial, aut
que pars fidelis cum infideli, et Ecclesiastici 13: Que communicacio sancto
homini ad cimem. Sanctus itaque homo est Christianus baptismo sancti-
ficatus, canis vero Judeus, et quiHbet alius infidelis extra ecclesiam katho-
licam existens, prout habetur Apokalypsi G. capitulo, ubi dicitur: foris canes
et inpudici et homicide, et omnis, qui amat et facit mendacium. Quintum
probatur: communicacio cum Judeis est prohibita nunc Christianis, quemad¬
modum quondam prohibita erat Judeis cum gentibus et Samaritania. Non
enim convertuntur Judei Samaritanis, Johannis 4. Ergo communicacio talis
est illicita. Prohibicio hec habentur 28 questione 1 nullus, ubi dicitnr:
nullus eorum, qui in sacro suo ordine, aut laicus, azima eorum man-
ducet, aut cum eis habitet, aut aliquem eorum in infirmitatibus vocet suis,
aut medicinam ab eis percipiat, aut cum eis in balneo lavet. Si vero
*) A: tune.
Beiträge zur historischen Topographie OberOeterreichs.
345
quispiam hoc fecerit, si clericus est, deponatur, lacius yero excommunicetur.
Ecce, si in illis, qne videntur esse necessitatis, prohibitum est cum Jndeis
perfidissimis communicare, multo plus prohibitum esse yidetur in hiis,
que non sunt necessitatis, sicut est habere commercium et negocia cum
eis in vendicionibus et emcionibus causa communis lucri ex parte car-
nificii. Item apostolus 1. Corinth. 2 dicit: si is, qui frater nominatur,
est fornicator vel avarus vel ydolis serviens, aut maleficus aut ebriosus
aut rapax, cum huiusmodi nec cibum sumere, hoc intelligitur, cum
publice sunt tales, et nolunt desistere. Et si cum hiis, tune f ) maxime
cum Judeis, qui sunt publici peccatores, et non fratres. De quibus apostolus
loquitur: si foris sunt maledicti etc. Item ex alio patet esse illicitum,
presertim in vestro casu, quia Judei modemi temporis raro aliud habent
quam per usuram acquisitum, quod tenentur restituere. Nec possunt illo
mediante emere vel vendere, sicut nec illo, quod furto vel rapina quis
acquisivit Et si sic, tune illicitum esse videtur, quod aliquis particeps sit
lucri in negociis mactacionis pecorum vel pecudum emptarum pro huius¬
modi et taliter acquisiti. Ecce, reverende domine, hec pauca notavi exau-
diendo preces vestras, quamvis valde invitus fecerim propter multos emulos,
detractores veritatis. Dominus sit vobiscum, et det cor humile, discretum et
constans in adversis, amen.
Königsberg i. Pr. Gustav Sommerfeldt.
Beiträge zur historischen Topographie Oberösterreichs.
1. St Florian. In dem Kampf um den hl. Florian hat J. Stmadt
auch in seiner Abhandlung »Innviertel und Mondseeland“ (Archiv f.
österr. Geschichte 99. Bd. 1912), S. 505—516 wieder das Wort er¬
griffen. Veranlassung bot ihm das Pfarrdorf St Florian am Inn. In¬
dem er die bekannten Vergabungen 1 ) der Frauen Liutswind und Prun-
hild an den hl. Florian, die in den Zeitraum nach dem Sturze Tassilos
und der Kaiserkrönung Karls d. Großen (788—800) fallen, beherzt der
Pfarrkirche St Florian a. Inn zugute kommen läßt erhebt er diese zur
ältesten Kultstätte des hL Florian.
Ich möchte mir gestatten, eine abweichende Ansicht zu vertreten.
Zunächst ist an die schwerwiegende Tatsache zu erinnern, daß die
beiden Schenkungen im Traditionskodex unter den Traditionsnotizen
des Mattiggaues stehen und daß man bisher mit Hecht daraus gefolgert
hat die Objekte müßten auch in diesem Territorium liegen. Das hat
zwar, wie auch Stmadt beiwkt schon Jodok Stülz als Schwierigkeit
empfunden. Aber sowenig sie ihn abgehalten hat hier an das Stift
St Florian zu denken, so wenig hat sie Stmadt gehindert diese Schen-
f ) A: is, tune.
*) ÜB. 1, S. 450, n. 21 und 22.
346 Kleine Mitteilungen.
kungen mit dem ziemlich weit entfernten St Florian a. I. in Verbin¬
dung zu bringen.
Es ist von vornherein weder die eine noch die andere Auffassung
einleuchtend. Viel näher liegt doch die Annahme, daß diese Güter dem
hL Florian bei Utendorf-Helpfau mitten im Mattiggau gewidmet worden
sind. Es ist dieses St Florian zwar heute nur eine Wallfahrtskapelle,
eine Filiale von Helpfau, aber es kann wie in so vielen nachweisbaren
Fällen das Verhältnis umgekehrt gewesen sein, die Kirche also in den
ältesten Zeiten eine größere Bedeutung gehabt und erst später zugunsten
der heutigen Pfarre eingebüßt haben.
Wenn ich mm weiter die Lage der drei St. Florian betrachte, so
fallt mir auf, daß sie alle in der Nähe von Römerorten und Römer¬
straßen liegen:
St Florian bei Laureacum, St Florian bei Schärding auf römischen
Fundamenten*) an der Römerstraße von Braunau nach Passau und
St. Florian bei Utendorf-Helpfau an der Römerstraße durch das Mattigtal
von Straßwalchen nach Braunau, in nächster Nähe des schon durch
seinen Namen als Römerort gekennzeichneten Mauer(kirchen).
Stmadt scheint mir in der Frage mit Unrecht die Kontinuität
römischer Traditionen auszuschalten. Wenn in Lorch neben älteren
auch noch römische Münzen aus dem 7. Jahrhundert ausgegraben
winden, so spricht das doch zunächst für den Fortbestand von Resten
romanischer Bevölkerung und kaum für Einschleppung byzantinischen
Geldes durch die Ungarn 2 ).
Und die Bayern wären doch wahrscheinlich nicht auf den Ge¬
danken gekommen, menschliche Niederlassungen m immerhin auffallen¬
der Zahl im 6. und 7. Jahrhundert als Walchenorte zu bezeichnen,
wenn schon 100 oder 200 Jahre von Romanen weit und breit nichts
mehr zu sehen gewesen wäre. So restlos pflegen die Rechnungen der
Weltgeschichte nicht aufzugehen.
Darüber kann ja allerdings kein Zweifel sein, daß die Passio s.
Floriani eine später zurechtgelegte Kombination ist, aber der Umstand,
daß man es für zweckmäßig und notwendig hielt, sich die Konstruk¬
tion zu leisten, ist meinem ^Empfinden nach ein Zeugnis für schon
Bestehendes.
Ich glaube daher, daß der Kultus eines heiligen Florian in unserem
Lande auf die römische Zeit zurückgeht — alle drei Floriankirchen
liegen an Römerstraßen und in nächster Nähe von Römerorten — und
l ) J Lamprecht, Gesch. d. Stadt Schärding, 2. A. 1887, 1. Bd., S. 17.
*) Stmadt in der Archival. Zeitechr. N. F. VIII, 45 f.
Beiträge zur historischen Topographie Oberösterreichs. 347
daß man zur Zeit der bekannten Passauer Fälschungen diesen Heiligen,
von dem kein Mensch etwas Näheres wußte, von dem aber drei Kirchen
des Landes schon Jahrhunderte den Namen trugen, aus durchsichtigen
Gründen literarisch hier lokalisierte.
2. Bosdorf. J. Stmadt hat in seiner Abhandlung „Das Land im
Norden der Donau“, S. 90 f., Anm. 2 den Versuch unternommen, den
besonders aus der karolingischen Zollordnung von 904 bekannten Orts¬
namen Bosdorf als identisch mit dem heutigen Landshag gegenüber
Aschach a. D. nachzuweisen, und stützt sich auf eine Reihe von Ur¬
kunden, aus denen diese Identität angeblich hervorgeht.
Ich kann diese Ansicht nicht teilen und will meinen Standpunkt
begründen. In der Zollurkunde st3ht: c postquam [naves] egresse sint
silvam Pataviam et ad Bosdorf vel ubicunque sedere voluerint et mer-
catum habere’ (ÜB. II, n. 39).
Stmadt meint, hier werde Bosdorf als der erste Landungsplatz
und als die erste Zollstätte nach Passierung des Passauer Waldes ge¬
nannt Mit nichten. Die Landungsstätte ist hier nicht genannt son¬
dern der erste Handelsplatz am linken Donauufer landeinwärts. Bos¬
dorf gehört doch sachlich und grammatikalisch zu vel ubicunque sedere
e; mercatum habere voluerint
Die irrige Auffassung, als sei Bosdorf ein Landungsplatz, also an
der Donau gelegen, überträgt nun Stmadt auf die übrigen Urkunden,
in denen dieser Ort genannt wird, und. sucht das nach UB. H, n. 12
(853 Jan. 18) an St Emmeram geschenkte Bosdorf gleicherweise wie
den in der Urkunde 1111 Aug. 23 (UB. II. n. 97) dem Kloster
St Floriau bestätigten halben Mansus ad Rostorf in Landshag.
Das Rostorf von 1111 lag aber sicherlich in dem ein paar Jahre
zuvor dem Stifte geschenkten Gebiete Eppos von Windberg.
Der Beweis, daß sich Stmadt hier mit seiner Deutung auf falscher
Fährte befindet läßt sich aus den mittelalterlichen Urbaren des Stiftes
St Florian erbringen, wo dieses Bosdorf tatsächlich im Verwaltungs¬
gebiete „Am Windberg“ erscheint 1 ). Auf Bl. 9 des ältesten Urbare
vom Jahre 1386 werden aufgezählt Abgaben de decima ad s. Petrum,
de domo ibidem, de iure civili ibidem, de Ach, de agro in Eostorf, de
decima in Eytendorf. de decima in Würtzling, de s. Stephano etc. Das
genügt zur wenigstens beiläufigen topographischen Bestimmung der
Örtlichkeit Es werden da nach einander genannt: das Pfarrdorf
St Peter am Windberg, Bez. Neufelden, Eidendorf in der Gern. Her-
*) Was V. v. Handel-Mazetti zu der Frage vorbringt (66. Jahresbericht des
Museums Francisco-Carolinum 1908, S. 49 f. u. 75 f.; 67. Jahresbericht 1909, S. 8),
ist. wertlos.
348
Kleine Mitteilungen.
zogsdorf, Bez. Ottensheim, Wirzling in der Ortschaft Petersberg, Gern.
St Johann am Windberg, Bez. Neufelden und St Stephan, ein Pfarr-
dorf im Bez. Neufelden. Die Örtlichkeit Ach vermag ich allerdings
nicht zu bestimmen.
Aus der ßeihenfolge der aufgeführten Zehente ist zu schließen,
daß Bosdorf nicht zu weit von St Peter entfernt war, und eine nähere
Umschau in der Umgebung weist mit ziemlicher Sicherheit auf die
Ortschaft Dorf nö. St. Peter. Es ist nicht ausgeschlossen, daß einst
St. Peter selbst Bosdorf geheißen hat und im 14. Jahrhundert die ur¬
sprüngliche Bezeichnung nur mehr an einer Pertinenz haften ge¬
blieben war.
Wenn wir aber von allen Hypothesen absehen, so bleibt doch die
Tatsache übrig, auf die es hier allein ankommt, daß das Bosdorf der
angeführten Urkunden kein Landungsplatz an der Donau, also auch
nicht das heutige Landshag ist, sondern eine Örtlichkeit im Gebiete
des nachmals von Eppo von Windberg dem Stifte St Florian ge¬
schenkten Landstriches, in der Nähe von St Peter am Windberg, viel¬
leicht dieses selbst war.
Aus diesem Sachverhalt ergibt sich auch, daß Bosdorf nicht wie
Strnadt will, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts seinen Namen
in Landshag geändert sondern noch am Ende des 15. Jahrhunderts als
solches bestanden hat
Vielleicht ermöglicht es eine Durchsicht jüngerer Zehentregister
des Stiftes, den Namen über das Mittelalter herauf zu verfolgen.
Im Anschlüsse an diese Ausführungen möchte ich noch bemerken,
daß auch die Erklärung Stmadts für den Namen Landshag unrichtig
ist Die ursprüngliche Form lautet Landshabe. Diese ist nicht mit dem
Worte Hag = urb8 im Zusammenhang zu bringen, sondern ist im zweiten
Bestandteil die hochdeutsche Entsprechung von Hafen. Der Ort wird
wohl immer so geheißen haben, aber in der älteren Zeit ohne weitere
Bedeutung geblieben sein, wie er denn auch UB. I, n. 593 (13. Jhrh.)
nur portus contra Ascha genannt wird, was jedenfalls auch nicht für
die Gleichung Bosdorf ~ Landshag, sondern für Landshabe — portus
spricht
3. Spital am Pyhrn. Spital a. P. an der oberösterreichisch-steier¬
märkischen Grenze wurde, wie der Name schon andeutet als Hospital,
und zwar für Beisende, die den Pyhrn passierten, vo.i dem Bischof
Otto II. von Bamberg auf den Gründen des Hochstiftes im Jahre 1180
errichtet 1 ). Die alte Überlieferung wußte jedoch zu melden, daß
*) F. Pritz, Geschichte des einstigen Kollegiatstiftes weltlicher Chorherren zu
Spital a. P. im Lande ob der Enns (Archiv f. Kunde österr. Geschichtsquellen
10 TW Iftfto R 9ii
Beiträge zur historischen Topographie OberOsterreichs.
349
schon der Bischof Otto I. (1102—1139) in dieser Gegend ein mit einer
Kirche verbundenes Hospiz erbaut habe. Pritz wollte diese Tradition
z nbewiesenen Sage stempeln, indem er auf den Mangel von Ur¬
kunden und auf die angebliche Tatsache hinwies, daß die ersten Ur¬
kunden des Kollegiatstiftes von einer neugegründeten Stiftung sprechen 1 ).
Seitdem ist die Frage nicht mehr untersucht worden.
Aus dem von mir veröffentlichten Urbar läßt sich aber jetzt zeigen,
daß an der erwähnten Überlieferung doch etwas Wahres ist Darin
wird nämlich an fünf Stellen dieses „Alt-Spital“ angeführt und zwar
als Maierhof (curia, mayr. hof) zu Allten Spital 2 ). Mein Versuch, dieses
Gut topographisch zu bestimmen, ergab, daß dieser Maierhof Alt-Spital
identisch ist mit dem heutigen Hofbauerngute in der Ortschaft Gleinkerau,
Gern. Spital a. P., Bez. Windischgarsten.
Alt-Spital lag demnach nahe dem Markte Windischg-raten und
die Gründung des neuen Stiftes ist zweifellos als eine bloße Verlegung
des schon bestandenen Hospizes aufzufassen. Der zunehmende Verkehr
über den Pyhrn ließ es offenbar als zweckmäßig und notwendig er¬
scheinen, die Herberge dem Passe näher zu rücken.
Der in den Urkunden 8 ) gebrauchte Ausdruck novum hospitale
würde dann nicht neugegründet, sondern neu im Gegensatz zu alt be¬
deuten. Auffallend ist nur, daß der Verfasser einer aus dem Beginne
des 14. Jahrhunderts stammenden Notiz über die Pfarre Wmdischgarsten
im Abschnitte de censu ecclesiarum des ältesten Urbare von Krems¬
münster 4 ) zwar von der auf den Bat des Bischofs Diepold (1172—1190)
von Passau erfolgten Gründung des Hospitals spricht, von einer Ver¬
legung jedoch nichts erwähnt
Da er nun sagt, diese Gründung sei auf Kremsmünsterer Boden ge¬
schehen, und habe der Pfarre Windischgarsten sehr geschadet so ergäbe
sich im Zusammenhalte mit dem oben Bemerkten allerdings der Schluß,
daß zwar eine Verlegung des alten Spitals stattgefunden habe, aber
erat im 14. oder 15. Jahrhundert, daß sich somit der Ausdruck „altes
Spital“ auf das 1180 gründete, nicht aber auf ein noch älteres beziehe.
Sicherheit läßt sich über diesen Punkt erst gewinnen, wenn feststeht
daß die Notiz im Urbar von Kremsmünster verläßlich ist Der Ein-
i) Ebel., S. 251 f.
Ä ) Die mittelalterlichen Stifourbare de« Erzhergogtums Österreich ob der
Enn*, 2. Teil (österr. Urbare, I g. von der kais. Akademie der Wissenschaften,
3. Abt., 2. Bd M 2. Teil), Wien und Leipzig 1913, S. 544 * 4 ; 546, 37 ; 547, 38;
603, 257 ; 606, 381.
») UB. II, n. 302 und 303 und Pritz a. a. O., Anhang II, n. 5—9.
4 ) Die mittelalterlichen Stiftsurbare des Erzherzogtums Österreich ob der Enns,
hg. von K. Schitfmann, 2. Teil, S. 215, N. 5.
350
Kleine Mitteilungen.
druck, den man von den historischen Bemerkungen des Abschnittes de
censu ecclesiarum bei näherer Betrachtung gewinnt, ist nämlich der
eines vielfach schwankenden Gebäudes.
Die wesentliche Erkenntnis, daß dem neuen Spital am Pyhm ein
altes nahe dem Markte Windischgarsten vorausgegangen ist, bleibt jeden¬
falls bestehen und wird durch die zweite Frage nur zeitlich modifiziert
4. OuliupestaL Das in einer Urkunde 1 ) K. Heinrichs II. vom
Jahre 1005 genannte Ouliupestal ist das Kremstal bei Kirchdorf wie
dieser und andere Belege mit voller Sicherheit erkennen lassen. Der
erste Bestandteil des Namens ist als Oliuspes-, Ouliupes-, Olis-, Öles-,
Öles-, Ouls- 2 ) und in willkürlicher Deutung zu Anfang des 14. Jahr¬
hunderts als Ötiles- 8 ) überliefert
Das Urkundenbuch des Landes ob der Enns bringt nun mit diesem
Ouliupestal den Namen Öbleinstal in Verbindung, der in zwei Urkunden 4 )
als Bezeichnung von Gütern begegnet, die ausdrücklich in der Pfarre
Molln lokalisiert werden. Diese Gleichsetzung von Ouliupestal und
Obleinstal ist aber unhaltbar. Wenn auch an sich eine sprachliche
Entwicklung Ouliupestal = Obleinstal mit Annahme einer Metathesis
nicht unmöglich wäre, so spricht doch die in den älteren Belegen
durchwegs auftretende Kontraktion zu Ouls-, Olis-, Öls dagegen. Man
müßte vielmehr heute ein Us- oder Elstal erwarten. Die Gleichung ist
aber auch sachlich unmöglich, da Ouliupestal das Tal der oberen Krems,
Öbleinstal aber nichts anderes als das heutige Eberstal, 0. Ramsau,
G. Molln, B. Grünburg ist 6 ).
5. Schönau. In der Urkunde über die zufolge Anordnung
K. Arnulfs vom 21. März 890 (Mtihlbacher R. J. 1795) vorgenommene
Vermarkung des dem Kloster St Emmeram zurückgestellten Besitzes heißt
es: Haec ratio vel notitia manifestat de marca nostra in loco, qui vo-
catur Braama, quae pertinebat ad Sconinouue et monasterium s. Martini,
quae iniuste diu nobis ablata est, sed nunc tandem reddita est per
Anauuanum et iratrem eius Rihuuassum, hoc est de fluvio, qui dicitur
Braama usque ad locum, qui dicitur Tiufbah, inter cultam et incultam
terram iugera 120 6 ). Dieses Kloster Schönau begegnet auch in der
sogenannten Notitia de servitio monasteriorum 7 ).
UB. II, n. 54.
*) UB. II, 37 und Anh. n. 9; Pez, Thes. III, 760; Steierm. UB. I 401, n. 414.
8 ) Oö. Stiffcsurbare, hg. von K. SchiÜ'mann 11 223, n. 17.
4 ) UB. V, n. 243 und 244; VII, n. 118.
fi ) Die beiden Flußtäler gehörten zwei verschiedenen Grafschaften an. Vgl.
J. Strnadt, Das Gebiet zwischen der Traun und der Enns, Wien 1907, S. 11.
«) Pez, Thes. anecd. I 3, S. 242. Vgl. ebd. S. 245, cap. 71.
7 ) Monum. Germ. hist. Leg. I 224.
Beiträge zur historischen Topographie Oberöeterreichs.
351
Bisher hat man es in Oberösterreich gesucht 1 ), weil die erwähnte
Vermarkung usque Rotagausceit ging und in dem oberösterreichischen
Stück des Botgaues tatsächlich fließende Wasser und Örtlichkeiten
namen« Pr am und Teufenbach Vorkommen. Das ist aber ein irriger
Schluß. Deshalb weil das Kloster in Oberösterreich Besitz hatte, muß
es nicht auch in diesem Lande gelegen haben. Dieses Schönau ist
vielmehr im heutigen Bayern zu suchen. In dem erwähnten Bericht
über K. Ludwigs d. Frommen Ordnung der Reichsleistungen der Klöster 2 ),
der in Bezug auf die landschaftliche Zusammenstellung der bayrischen
Namen durchaus tadellos ist 8 ), wird es mit Metten und Moosburg zu¬
sammen genannt
Linz. K. Schiffmann.
f ) S. Riezler, Geschichte Beierns, 1. Bd., Gotha 1878, S. 288 denkt an Schönau
bei Wels, aber dieses abgelegene Bauerndorf hat dem Stifte Mondsee gehört.
*) Es werden nur Mönchs-, keine Chorherrenklöster und selbstverständlich nur
Reichsabteien genannt.
•) Pinkert in den Berichten über die Verhandlungen d. kgl. sächs. Gesellschaft
der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Kl., 42. Bd., 1890, S. 46—71.
Literatur.
Dr. Oskar Freiherr y. Mitis, Studien zum älteren öster¬
reichischen Urkundenwesen. 4. u. 5. Heft (Schluß). Herausg.
yom Verein f. Landeskunde yon Niederösterreich. Verlag des Vereines.
1912.
Das 1. Heft dieser verdienstvollen »Studien* wurde im 29. Bd. der
Mitteilungen S. 347 besprochen, das 2. u. 3. Heft ebd. 32, 388 ff. im
ersten Abschnitt des Aufsatzes über »Diplomatik und Landeskunde», in
welchem versucht ist, aus den Forschungen von Mitis und Groß allge¬
meine Richtlinien und Forderungen für die Bearbeitung der alpenländischen
Urkunden und im Allgemeinen für die Arbeitsweise der landschaftlichen
Diplomatik abzuleiten. Das hier zu besprechende Heft behandelt die
Urkunden der Babenberger bis zum Abgang des ersten bezeugten herzog¬
lichen Kanzleibeamten, Ulrichs, der 1215 Bischof von Passau wurde. Ergab
sich bei den früheren Forschungen des Vf, daß im 11. Jahrhundert
die Traditionsnotiz das Urkundenwesen der Ostmark noch ganz beherrscht,
daß in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nur wenige echte Siegel¬
urkunden nachzuweisen sind, daß endlich um die Mitte des 12. Jahrhunderts
die Schätzung des Siegels und der Siegelurkunden durchdringt und sich
nicht nur in der Zunahme der echten Urirunden, sondern auch in zahl¬
reichen diplomatischen Fälschungen l ) äußert, so wird nun hier, u. zw.
wieder in der Form von aneinander gereihten Einzeluntersuchungen *), die
*) Zu dieser Gruppe diplomatischer Fälschungen gehört aus dem Urkunden¬
stoff des 4.—5. Heftes zeitlich und sachlich vor allem der Stiftsbrief von Kloster¬
neuburg, der von 1136 sein will, nach Mitis aber i. J. 1141 entstanden ist. Betreffs
dieses Stückes bleibea noch Schwierigkeiten offen, für die ich auch keine sichere
Erklärung weiß, auf die ich aber hin weisen möchte, um ihre Nachprüfung für die
Ausgabe im Babenb. Urkundenbuch anzuregen (s. weiter unten Anhang S. 358).
*) § 50. Die Siegel und Urkunden Leopolds des Heiligen. — § 51. Die Gruppe
Klosterneuburg. — § 52. Das Archiv der Babenberger. — § 53. Die Gruppe
Heiligen kreuz. — §54. Die Siegel und Urkunden des Markgrafen-Herzogs Leopold
(1136—1141). — § 55. Der Baumgartenberger Stiftbrief. — § 66. Die Siegel und
Urkunden des Heraogs Heinrich Jasomirgott. — § 57. Der Wiener Besitz des
Klosters St. Peter in Salzburg. — § 58. Das Jahr 1156 und das erste österreichische
Herzogssiegel. — § 52. Die Stiftbriefe der Wiener Schotten. — § 60. Der Stiftbrief
der Pfarre St. Michael. — § 61. Unbeachtete Babenberger Urkunden (Ende des
Literatur.
353
Entwieklang von der Mitte des 12. Jahrh. tun fe?r m den
,3töiiisö* gebotene I>arsteUußg wird, m glücklicher Weise durch
ü*. seither eysciheoenen Tafeln in Gfc roustSt Mond.'Faiaeo-
grafrix.iea Seri« IL lief. U T. 5 —Uh lief. 17 T. i —iL 4k, gleich-
tai& r .00 M H ie bearbeitet, 15 Babeabergerarkonden biei^n t im Text*
sq VerglekhSÄW^kec noch den betaetfeäddö Eeapf&nger-
&rdiir<?n ^ngerjädkt sind*t&c&^^»Sslfeici^i 5 ^ttBwaiü bietet* diese
Tyrsfiglicheu ÄhhijdungeH nicht nui d^afete^kcbe Beispiele fiir die
llrktmdeaschrift wr^y edtfKcr Ihnpfeögta' (Heüigehkrats^, St, Flomib Schotten,
Äelk* iLdmo^at Seitecktetten, Viktriag) und für- *5 Kjmfclexhäude (?Oü 1203,
1228— 1 ; 24iil, sondern diene» rinch äaihv. wiß&i%£ Bebbrtchtuiig«ö der
»Studien* za veraascb&hiiiiiiöii und einsT Kaehp:tfyaßg zugänglich m
machen, welcher &ve vorsfebägs and ach^&inxHge Fowchangsiut- 4m Vf-
durchaus stamifoälk
Die zweite Hälfte des 12.. 4$hrb t iist das Urkundenwesen der Ost¬
mark noch öö - mirt eine ftbetgafigszeih' Koch' 'winl nur ein gerin&st Teil
«her BechUhmrlta&gm des IJändfößfÜrsiCfn in Siägalnrkuadeij verbrieft.
Betritt- die Zahl der echten Urkunde» für Ledpöhl <1 Heil (bis J1$H) vtwaa
ober ein fisibduteeod, m höben wir für Leopold IT^ Heülfich Jasooiiigöfct
and Leopold V. (—11^4) deren nicht fiel *nn K^bhtrnitert Dnd
.ttnter diesen «tud sus&c&si in überwiegender, später in b»;fjächtEcber Zahl
Stocke der lüieren Art vertreten, . d* h, Aüfeeichnüß^en. die sfoh in ihrer
kurzen, schmucklosen Fassung von den trndiii^ösaotizen hauptsächlich nur
durah die Be^^elung unterscheidBiri Äi^riigu^hi dagegen, die durch
einen rolLutsgebiideten Urkundenstii oder ä<>gnf %reh Anlehnung der
in^ren iterkaiule an Papste und honig^urkumle dcV} f:HirsU?nurkundeu deö
Westens lUmfich siml, tauchen zuerst mix m v^mn^ttea . Beispiel«». ; uüfV-
»iie sich am einer ilömitfcelbärcu Berührung Reichskanzlei oder
aas den) Eint!uh eines Eanzelneu Empfänger* *rrkigr&e. ?).-• Der ßbefgang
za dieser u^öe^ roÜeneu ÖrVtiadtehfo-iiß daStogi -oben" durchaus raja den
Empfängern ! ab* denen die HersteUung der firkftadeu durch ■eigeh»
Schreiber oder durch Bchmbtoräfte irgend einer driften Seite m gut? wfe aus¬
schließlich wx&Ut So smd io Heilig^nkrcuz, wo nicht nm nirs eigene
Klister, sondern auch f^ :»3&re ^«spöichs Urkunden hergesteilt
. ^ Stuck* entstanden, die sidh itv ttehrift und Ausstattung
12- Jjibrhi}. —. § 82. fhe iäcgel «nid Urkunde» topoltls und reiner höhn*
iie der Notare Ulrich ft&ü bi« 1415, — fr ftä\.
Ur^dnog^Uxkc^ödCit ü^d IkTsitÄbeslätignugcn des Kh«h>rs Uiionfeld. — g
IM Stifibmf dW zu Wien, — §'U5. Kloster Lambach tind dm
Euiknufb? von Wefv (&e : Zölduug der ^ «chheXlt. ob Heft 3 ön).
ft Beisp^le eiafschdr .Textls*r>^ i f«a%|
■S.. 382 darnnte «iiöe Urkiifid^ ?«fur *ä^<t tiud
HrJigeukrens;, dm noch ,*te&t*» j»cr öv r ^^;. . ■<*%*'■''
Adern tidua. BcwetÄ öherläßt Abhdd^ugf^v
1K, Taf. 5- und (k , V''* , ;.' .AfJ‘ ..
■ *) Das e^te Bahtmberg^‘.rRtiJck■ .,^
1140 &r dafr.fClostnr prüföah»«; ist,' >v^f
Wft, nicht f>hti£ Eituöuh von ^tumpf ^Xk 1
Auch in dtsr AmjatÄtnulg
fechmherg \ßfo ^ d, Baus ^
Crerhoehfc von •/ • 1 ^ 5 . 7 :^
354
Literatur.
an die Papsturkunde anlehnen 1 ). Formvollendete Herzogsnrknnden haben
auch die Schotten in Wien für sich und für andere Empfänger, z. B. für
Klosterneuburg, ausgefertigt *). Daß diese Wiener Gründung der Baben¬
berger öfters zur Beurkundung landesherrlicher Handlungen herangezogen
wurde, lag ja nahe und läßt sich nicht nur bei Urschriften, sondern
auch bei abschriftlich überlieferten Stücken am Diktat nachweisen.
Einige von Schottenhand geschriebenen Stücke berühren sich nämlich -
bei sonst ganz abweichendem Diktat — mit einer unter Herzog Heinrich
auftretenden neuen Gruppe von Urkunden in Briefstil und mit anderen
Herzogsurkunden in den Bahmenformeln; insbesondere in der Datierung
zeigen sich Beziehungen zu der am Hofe damals im Schwange befindlichen
Gleichung: Wien =Favianum. So hat der Vf. angenommen, daß die^e Urkunden
von den Empfängern vorbereitet wurden, an der Fertigstellung ihres
Diktats aber das Schottenkloster irgendwie mitgewirkt hat. Er betont aber
mit Recht, daß hiebei an eine Art Kanzlei nicht zu denken sei. Denn, wenn
auch bei der Zerstreutheit des Stoffes, (insolange nicht die seinerzeit ange¬
regten landschaftlichen Plattenarchive eine vollständige Übersicht über alle
Urkundenschriften bis 1200 bieten), die Herstellung durch die Empfänger
sich nur für einen Teil der älteren Babenbergerurkunden sicher nach¬
weisen ließ, so hat doch die Schriftvergleichung soviel sichergestellt, d&fl
unter ihnen bis 1194 kein Beispiel für Herstellung durch den Aussteller,
also die Vorstufe für eine eigentliche Kanzlei, vorkommt.
Auch aus dem Abschnitt 1194—1215, für welche zwanzig Jahre
allein mehr echte Urkunden vorliegen, als für das ganze Jahrhundert vor¬
her, ließen sich nur drei Gruppen von je vier bezw. drei Urkunden finden,
bei denen die gleiche Hand für verschiedene Empfänger schreibt, die also
sichere Fälle von Herstellung durch Schreibkräfte des Ausstellers sind*).
Der Übergang von der überwiegenden Empfängerherstellung zu einer
Art von Kanzlei vollzieht sich auch noch in dieser Zeit fast nur auf dem
Gebiet des Diktates. Ein Anhang zu g 62 gibt auf S. 393—408 eine
sehr dankenswerte Zusammenstellung von häufig wiederkehrenden Formeln
und Formelverbindungen aus herzoglichen Urkunden, auf Grund deren
Mitis drei Diktatgruppen bildet, in denen die Mitwirkung der Kanzlei znm
Ausdruck komme. Die erste, als »Wiener-Gruppe» bezeichnet, umfaßt 10
bezw. 13 Urkunden von 1180—llv>2; die zweite, welche dem Notar
Ulrich zugesprochen wird, 25 bezw. 28 Urkunden von 1195—1212;
die dritte, auf den Notar Heinrich bezogene, Gruppe 17 Urkunden von
1195—1216. Neben der Zurückführung auf das persönliche Diktat dieser
drei Diktatoren rechnet Mitis aber auch damit, daß die fraglichen Formel-
J ) Studien S. 286 ff., 380 A. 2. Mit Recht lehnt Mitis die Annahme einer
besonderen Cisterzienserschrift ab und läßt die auffallenden Ähnlichkeiten, die in
den Urkunden verschiedener Cisterzen begegnen und die Vermutung einer beson¬
deren Ordensschrift haben entstehen lassen, »auf die weitverbreitete Schulung an
dem gemeinsimen römischen Vorbild zurückgehen«. Weitere Bemerkungen über
die Schreibgewohnheiten von Heiligenkreuz Mon. Pal. H, 17, Taf. 9.
*) Vgl. die Abbildung und die Bemerkungen Mon. Pal. H, 16, Taf. 7—8.
*) Vgl. Studien S. 381; eine vierte Hand aus der Zeit vor 1215, die nach
Mitis vermulich Kanzleihand ist, Mon. Pal. II, 16, Taf. 10 b. Die Kanzleihände
ebd. 17, Taf. 3 c, 4 und 5 aus den Jahren 1228—1246 gehören nicht mehr dem in
den Studien besprochenen Zeitraum an.
Literatur.
355
berührungen auf ein Formularbuch am Hofe zurückgehen könnten.
Daß einzelne Stücke dieser drei Gruppen nun aber auch deutliche
Berührungen mit Empfänger-Diktatgruppen, z. B. der Heiligenkreuzer und
Lilienfelder, zeigen, wird ansprechend aus der Anschauung erklärt, die der
VC über das Zusammenwirken der Notare und der Parteien entwickelt. Es
mag, da die Beinschrift meist noch der Partei überlassen blieb, dieser oft
ein Konzept eines Notars übergeben worden sein, von dessen größerer oder
geringerer Ausgefiihrtheit es abhing, wie sich im endgiltigen Wortlaut
sein Stil mit dem Stil des Empfängers mischte 1 ). Umgekehrt mögen oft
auch die Parteien Entwürfe eingereicht haben und je nachdem diese völlig
urkundenmäßig abgefaßt waren oder nicht, wird der Notar sein eigenes
Diktat schwächer oder stärker zur Geltung gebracht haben.
Alle diese Gedanken sind scharfsinnig entwickelt und sehr ansprechend.
Ein endgiltdges Urteil wird aber in einzelnen Fragen doch erst möglich
sein, wenn einerseits im geplanten Babenbergischen Urkundenbuch die
Angaben über die Hände der einzelnen Urkunden vorliegen und das Ver¬
hältnis der Diktatgruppen zur Schriftprovenienz erkennen lassen, anderseits,
wenn auch das Diktat der Empfängergruppen mit der modernen diploma¬
tischen Technik monographisch bearbeitet sein wird, wofür die »Studien»
und die Arbeit von Groß über das Urkundenwesen der Bischöfe von Passau
(Mitteil. Ergbd. d. 8, 555 ff) eine breite Grundlage bieten und musterhafte
Vorarbeiten darstellen. Dann erst wird sich Gewißheit auch über einen
Punkt ergeben, bei dem ich gewisse Zweifel nicht verhehlen kann, ich
meine die Annahme des Vf., daß die Formel: datum per manu« sich auf
die Übergabe des Kanzleikonzepts an die Partei bezieht (S. 392). Mir
scheint das nicht sehr wahrscheinlich. Nicht auf die Verantwortung für
das Konzept, an dem ja die mundierende Partei im eigenen Interesse noch hätte
ändern können, kam es an, sondern auf die Verantwortung für die Reinschrift,
die vor der Besieglung geprüft, werden mußte. Überall sonst bringt man
die Formel mit der Bekognition der Urschrift zusammen (Redlich
Privaturkunden S. 138 ff, Breßlau I*, 6D8); und daß diese Bekognition
auch bei den Babenbergerurkunden bei der Besieglung als dem entscheidenden
Moment erfolgte, dafür scheint mir gerade der älteste Kanzleivermerk auf
der Plica der Urkunde für Seitenstetten vom Jahre 11 .-13 zu sprechen:
Ego Ulricus sigillavi ex mandato domni ducis Liupoldi Austrie Styrie-
que presentem hanc paginam presente Hurtungo camarario *). Ulrich wird
die Urkunde wohl nicht ungeprüft gesiegelt haben.
Sehr belangreich sind die Feststellungen des Vf. über die Bolle des
ersten Notars Ülrichs, des nachmab’gen Bischofs von Passau. Er unter¬
zeichnet sich 1213 einmal als »scribu ducis Austrie». Ist die betreffende
Urkun le auch nur abschriftlich erhalten, so wird dies r Titel doch durch
erzählende Quellen hinlänglich gesichert und damit die Tätigkeit Ulrichs
als Landschreiber in dem Umfang und der Bedeutung, die für dieses Amt
*) Faßbar wird dieser Sachverhalt bei den Dopneluusfertigungen, die im Kreis
der Zisterzienserklöster häufig sind, anderwärts besonders bei den Maut]
Vorkommen (vgl. S. ; J 78 L). Die formellen Abwe chungen, welche
untereinander bei gleichzeitiger Übereinstimmung des Wortlautes in
wicht gen Teilen aufweisen, lassen keine andere Auslegung zu.
*) Urkunde und Kanzlei vermerk abgebildet Mon. Pal. 11, 16, Taf. J
i, die im Kreis
356
Literatur.
festgestellt ist 1 ), d. h. die Wirksamkeit als oberster F i n a n z beamt er des
Landesfürsten. Damit ist ein neues Beispiel für die Ansicht gewonnen,
die ich in Meisters Grundriß 1, 202 ausgesprochen und für die jetzt neben
Flandern 2 ), auch Tirol 8 ) heranzuziehen ist, nämlich, daß wohl manche
unter den landesfürstlichen Kanzleien nicht als diplomatische Kanzleien,
d. h. als Stellen für die Beurkundung, aufgekommen sind, sondern daß
die Notare zunächst für das viel umfangreichere sonstige Schreibwerk, also
die Korrespondenz und namentlich die Finanzverwaltung, tätig waren.
Mit dem Urkundungsgeschäft mögen sie zuerst durch die Mitwirkung bei
der Sieglung in Berührung geraten sein, während die Ausfertigung meist
noch Sache der Empfänger blieb. Es folgt dann als nächste Stufe die
Einflußnahme auf das Diktat der Urkunden, woneben die gelegentliche,
und schließlich später die regelmäßige Herstellung auch der Reinschrift
durch die Kräfte der Kanzlei trat.
Diesem Entwicklungsgang entspricht auch die Geschichte des Baben¬
bergersiegels, die Mitis mit glücklicher Hand weit über den bisherigen
Stand gefördert hat 4 ). Wir Anden nämlich bis 1198 nicht weniger als
24 Typen, davon 16 echte auf 60—70 echte Urkunden, also wechseln die Typen
verhältnismäßig viel häufiger als später in der Zeit, wo die Urkundenausfer¬
tigung ins Massenhafte ging. Bei geregelten Kanzleiverhältnissen war eben das
Siegel wohlverwahrt und jederzeit zur Hand. In der älteren Zeit da¬
gegen war dafür weniger gesorgt, Verlust oder Mißbrauch des Siegels trat
viel leichter ein und nötigte öfter, neue Stempel schneiden zu lassen.
Wenn wir, wie früher bei den ersten Heften, so jetzt beim Schlu߬
heft versucht haben, aus den kunstvoll verschlungenen Fäden der
Forschungen von Mitis die Linie der allgemeinen Entwicklung heranszn-
heben, so tritt dabei wieder die Fülle von Einzelfunden und Einzelergebniasen 4 j
i) Vgl. Dopscli, Mitteil. d. Instit. 18, 247. — Die Ausgabe der Babenberger-
urkunden wird wohl eine schärfere Abgrenzung zwischen Kanzlei und Landschreiber¬
amt ermöglichen.
*) Vgl. Pirenne, La chancellerie et lcs notaireg des comtes de Flandre, in
Mälanges Julien Havet (1895) S. 733 ft'., besonders 740 ff.
•) Vgl. Heuberger in Mitteil. Erg.-Bd. 9, 167 ff. und ebd. 33, 442, wo ge¬
zeigt ist, w;e die Kanzleivermerke in Tirol sich aus der Praxis der Kammer ent¬
wickeln. Auch in der Österr. Kanzlei hängen die ältesten Kanzleibücher mit der
Finanzverwaltung zusammen (vgl. Stowasser ebd. 35, 688).
*) Den ganzen Fortschritt, der hier über die Darstellung bei Sava, Die
Siegel der österreichischen Regenten erzielt ist, wird die bevorstehende Veröffent¬
lichung von Mitis, »D e Siegel der Babenberger« anschaulich werden
lassen. Hier sei an Einzelheiten nur z. B. auf die Angaben über das bisher unbe¬
schriebene markgräfliche Siegel Leopolds IV. (S. 288) oder auf das in § 58 gegen
die zunächst auftretenden Bedenken als echt erhärtete erste österreichische Herzogs¬
siegel (Abb. bei S. 340) hingewiesen. Wichtiger als die einzelnen Funde und
Beobachtungen aber ist an den sphragistischen Teilen der Studien ihr organischer
Zusammenhang mit der diplomatischen Fragestellung. Angesichte der im modernen
Betrieb der Siegelkunde gelegentlich auftretenden Neigung, die Betrachtung der
Siegel zu stark zu isolieren and das diplomatische Moment vor dem archäologisch¬
stilkritischen ganz zurücktreten zu lassen, bieten die Studien von Mitis ein gut»
Beispiel dafür, wie notwendig und fruchtbar es ist, den Zusammenhang zwischen
Urkunde und Siegel in iedem einzelnen Falle, und den Zusammenhang zwischen
Siegelkunde und Urkunäenlehre im allgemeinen stets zu beachten.
*) Die Studien bringen nicht nur die Beschreibung neuer Siegel (s. Anm. 4),
sondern auch verschiedene neue Texte, darunter Überraschender Weise sechs unge¬
druckte Babenbergerurkunden (für Heiligenkreuz 1139/40, Altaich 1177—80, Biburg
Literatur.
357
iler »Studien» zurück. Zahlreich sind in dieser Übergangszeit die Urkunden,
die zu Schwierigkeiten und Bedenken Anlaß geben, d. h. Widersprüche
in den eigenen Angaben, Widersprüche zwischen Inhalt und Zeitangabe,
zwischen Zeitangabe und Schriftcharakter, zwischen Schrift und Siegel auf-
weisen oder mit anderen unzweifelhaften Urkunden unvereinbar sind, oder
durch Rasuren und Korrekturen Verdacht erwecken. Aus der vollkommenen
Kenntnis der allgemeinen Entwicklung wie der einzelnen Gruppen und
ihres Zusammenhangs konnte nun Mitis viele dieser Schwierigkeiten aus
nachträglicher Ausfertigung, Innovation, gutgläubiger Verbesserung, Ersetzung
fehlender Siegel durch spätere Siegel erklären; andere Fälle sind als
diplomatische, d. h. rein formelle Fälschungen zur Sicherung rechtmäßigen
Besitzes auf Grund älterer Traditionsnotizen (oder auch ohne solche Grund¬
lage) erwiesen. Ein Bruchteil endlich wurde als juristische, d. h. inhalt¬
liche' Fälschung enthüllt. Dabei handelt es sich meist um die in den
früheren Heften der »Studien* gekennzeichneten typischen Fälle, um
Vogtei- und Zehntstreitigkeiten, um die Flucht unter die Vogtei des
Landesherren, der nicht nur gegen Laienvögte, sondern auch gegen die
Rechtsansprüche des Diözesanbisehofe ausgespielt wurde, so namentlich Ende
des 12 m Anfang des 13. Jahrhunderts, schließlich um die Zurückdrängung
des zu stark gewordenen Einflusses der landesfürstlichen Gewalt in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Einen individuellen Anlaß haben
dagegen die Fälschungen, die das Schottenkloster gegen eine etwaige
Schädigung durch di« von H. Leopold VI. beabsichtigte Errichtung eines
Wiener Bistums schützen sollten.
Den Reichtum an Ergebnissen und die Sicherheit dieser Ergebnisse
verdankt auch das Schlußheft der »Studien* nicht nur dem diplomatischen
Spür- und Scharfsinn des Vf., sondern namentlich der methodischen Anlage
der ganzen Untersuchungen, auf deren grundsätzliche Bedeutung ich schon
MitteiL 32, 390 f., 402 f. aufmerksam gemacht habe. Das chronologische
Verzeichnis der besprochenen Urkunden auf S. 448—457 gibt bis 1215
etwa anderthalb hundert Babenbergerurkunden an. Um für ihre Kritik
eine möglichst breite Grundlage zu gewinnen, hat Mitis die Urkunden
aller Empfänger weit über diesen Zeitpunkt hinaus, also wohl die viel¬
fache Zahl an Urkunden, untersucht. Er ist so auf alle jene z. T. über¬
raschenden Beziehungen gekommen, die den Urkundenbestand einer
historischen Landschaft eben zu einer Einheit machen. Diese Einheit muß
für alle Arbeiten an einzelnen Urkundengruppen der babenbergischen
Länder fortan als gegebener Rahmen gelten. Jedenfalls kann der Verein
für Landeskunde von Niederösterreich auf solche Vorarbeiten zu dem von
ihm geplanten Babenberger Urkundenbuch, wie es diese vom Vf. seinem
1185, Walderbach 1197, Garsten 1198—1203, Heiligengeistspital in Wien 1240^;
für einige Urkunden sind neue und bessere Überlieferungsiörmen nachgewiesen,
überdies eine Reihe von verlorenen Urkunden. — Von den zahlreichen Einzeler¬
gebnissen sei nur hingewiesen auf die der §§ 61 und 58, welche die Hinterlegung
des Archivs der Babenberger in Klosterneuburg, die Klosterneuburger Überlieferung
des Privilegium minus und den Zeitpunkt seiner Entfernung aus diesem Kloster,
sowie die Ereignisse des Jahres 1156 betreffen und für das Babenbergerarchiv ein
verlorenes DK II. (1023—1035) nachweisen. Für die Geschichte Wiens sind die
§§ 60 und 64 Über die gefälschten Stiftbriefe der Michaelerkirche und des Heiligen-
geistspitals wichtig.
Mitteilungen XXXYT. 24
358
Literatur.
Lehrer Oswald Redlich gewidmeten »Studien* und die gleichfalls von Mitis
bearbeiteten, den Babenbergern gewidmeten Tafeln inChronsts Monuments
paläogrnphica sind, stolz sein. Die Fachgenossen aber sehen mit Spannung
der Ausgabe entgegen, die den Abschluß so vorzüglicher Vorarbeiten
bilden soll.
Anhang: Die Entstehungszeit des Klosterneuburger Stiftbriefes.
Mitis hat in durchaus überzeugender Weise für diesen Stiftbrief (Fischer
Merkw. Schicksale v. Klosterneuburg 2, 124) und das von gleicher Hand
geschriebene Einzelblatt, das z. T. Font. rer. austr. II, 28. Bd., loß abge¬
druckt ist, einen ausführlichen Bericht über die feierliche Weihe der
Klostemeuburger Basilica im September 1136 als gemeinsame verlorene
Vorlage erschlossen. Den Verlust eines so wichtigen Stückes erklärt er
damit, daß es im verlorenen ältesten Traditionskodex — oder im verlorenen
Teil des heute erhaltenen — aufgezeichnet war. Während nun der Stift¬
brief »in völlig glaubwürdiger Weise die Verlesung des päpstlichen Schutz¬
privilegs erzählt*, greift das Einzelblatt, welches bezeichnender Weise seinem
Weihebericht eine Abschrift des Privilegs von 1137 nov. 30 unmittelbar
voraussehickt, aus diesem eine Einzelheit, die Formel »Obeunte vero . . .*
heraus und umschreibt sie in scharfer Kürze: »ut post obitum Hartmanni
prepositi . . . inperpetuum liceat fratribus libera electione uti*. Mit Recht
sieht Mitis in diesem Einzelblatt ein Plaidoyer für die freie Propstwahl,
die das Stift gegenüber dem Einfluß der herzoglichen Gründerfamilie bei
einer Vakanz geltend machen wollte. Fraglich aber ist mir, ob es sich
dabei um die Vakanz nach der Erhebung Propst Hartmanns zum Bischof
von Brixen (l 141) handeln kann. Mitis meint, alle späteren Vakanzen
wären ausgeschlossen, weil die nächste erst 1167 nach dem Tode Mar-
quards eintritt, das Einzelblatt aber in dieselbe Zeit gehören müsse, wie
der von gleicher Hand geschriebene Stiftbrief, der 1156 schon als Vorlage
benützt erscheint (§ 58; ebenso auch 1162 in der Bestätigung Heinrichs
Jasomirgott für Klosterneuburg).
Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß Stiftbrief und Einzelblatt
durchaus nicht zur gleichen Zeit entstanden sein müssen. Auch wenn ein
und derselbe Mann sie geschrieben hat, können Jahre zwischen ihrer
Niederschrift liegen. Und in der Tat meine ich, daß der Stiftbrief vielleicht
früher entstand, als das Einzelblatt. Wäre er erst abgefasst, nachdem das
Stift die mangelnde Sicherung seines Propstwahlrechts von Seiten der
Gründerfamilie empfunden und das »Plaidoyer* des Einzelblattes aufzu¬
zeichnen für gut befunden hatte, so ist kein Grund abzusehen, warum der
Stiftbrief, statt diesen Punkt in gleicher Weise zu betonen, wieder zu einer
farbloseren Darstellung zurückkehrte. Eine Fälschung wäre darin ja in
keiner Weise gelegen gewesen. Das päpstliche Privileg von 1137 hat ja
wirklich die freie Propstwahl zugesichert; ob freilich die verlorene Papst¬
urkunde, die Leopold 1136 angeblich verlesen ließ, das auch schon tat, ja
ob sie überhaupt je vorhanden war und verlesen wurde, wissen wir nicht.
Aber nach 1137 drückte das Einzelblatt einen berechtigten Anspruch des
Klosters aus. Wenn man erst nach seiner Aufzeichnung zur Fälschung
eines förmlichen Stiftbriefes fortschritt und sich sogar ein Siegel Leopolds
verschaffte, um es nachzuschneiden, so hätte man wohl nicht versäumt, eine
Anerkennung des päpstlicherseits verliehenen freien Wahlrechts durch Leo-
Literatur.
359
Rechnet man dagegen mit der Möglickeit, daß der Stiftbrief vor dem
Einzelblatt entstand, so entfallt der Zwang, wegen des Vorhandenseins des
Stiftsbriefes i. J. 1156 ansznschließen, daß das Einzelblatt sich auf die
Vakanzen von 1167 oder 1168 bezieht Der Stiftbrief wäre dann
1141—1156 anzusetzen. Damit ist auch ein Widersprach vermieden, der
zwischen dem Ansatz zu 1141 und der eigenen Annahme von Mitis besteht,
daß die gemeinsame Vorlage der beiden Texte darum nicht erhalten sei,
weil sie im verlorenen Teil des Traditionskodex stand. Dieser Kodex ist
nach der von Mitis S. 258 gebilligten und durch n. 117 der Zeibig’schen
Ausgabe (F. R. A. II, 28. Bd.) auch ziemlich sichergestellten Ansicht erst
auf Veranlassung Propst Marquards angelegt worden, also nach der
Vakanz von 1141. Lt dies richtig, dann könnten Stiftbrief und Einzelblatt,
deren gemeinsame Vorkge ja in diesem Kodex stand, nicht im Jahre der
Vakanz selbst (1141) entstanden sein.
Wenn man unsere Anordnung der in Betracht kommenden Texte für
die wahrscheinlichste hftlt — und über Wahrscheinlichkeiten wird hier kaum
hinauszukommen sein — so würde der Stiftbrief von Klosterneuburg aus
keinem anderen Beweggrund entstanden sein, als aus dem pietätvollen
Wunsch, einen förmlichen Stiftbrief des Gründers zu besitzen, also aus jenem
Wunsch, dem wir um die gleiche Zeit die diplomatischen Fälschungen in
Göttweig, Seitenstetten, Erla und St. Nikolaus in Passau entspringen sehen
{vgL die Kennzeichnung dieser Gruppe Mitteil. 32, 395).
Oder kann man Motiv und Entstehungszeit des Stiftbriefes innerhalb
der Jahre 1141—56 wenigstens vermutungsweise näher bestimmen? Das
1147 febr. 24 zu Regensburg ausgestellte DKonr. III. (Stumpf Nr. 3534)
weiß nichts von einem Stiftbrief. Aber es erwähnt auch die päpstlichen
Privilegien nicht und ist nach der Zeugenliste wohl überhaupt ohne Da-
zwischenkunft des Klosters für dieses von den Babenbergern und dem
ehemaligen Propste, Bischof Hartmann v. Brixen, erwirkt. Man kann da¬
raus keine Schlüsse auf das Nichtvorhandensein der Gründungsurkunde
i. J. 1147 ziehen. Alles was man etwa sagen könnte, ist, daß dies Diplom
die Babenberger noch voll spontanen Interesses an Klosterneuburg zeigt,
für das sie von Konrad m. den königlichen Schutz und eine Marchfutter¬
schenkung erwirken. 1155 dagegen siedelt Heinrich Jasomirgott an den
Mauern Wiens die Schotten an, deren Wirksamkeit er als Herzog v. Bayern
schätzen gelernt hatte. Sollte am Ende die Besorgnis der älteren Gründung,
daß durch die neue Gründung das Interesse der Gründerfamilie sich
mindern könnte, den Anlaß gegeben haben, um 1155 sich einen förmlichen
Stiftbrief zu verschaffen? Oder hat Propst Marquard, der wiederholt in
Bayern war, zu Reichersberg, an dessen Spitze sein Bruder Gerhoch stand,
die von diesem erwirkte schöne Urkunde Herzog Heinrichs gesehen und
wurde dadurch zur Fälschung des Stiftsbriefes angeregt, mit dessen Hilfe er
1162 dann die Urkunde erwirkte, in der Herzog Heinrich die »privilegia«
seiner Vorfahren bestätigte? Eine bestimmte Antwort ist uns hier ver¬
sagt. Aber für die Entstehung des Stiftbriefes erst kurz vor 1156, wie
sie durch diese beiden Annahmen gegeben wäre, spricht ja der Umstand,
daß das Einzelblatt mit seinem Hinweis auf das Propst Wahlrecht, der JA
Stiftbrief, aber auch in der Bestätigung durch Herzog Heinrich 1162
fehlt, vermutlich im Zusammenhang mit den Vakanzen von 1167 und ]
24*
360
Literatur.
entstanden sein mag. Die Gleichheit der Schrift würde zwar auch einen
längeren Abstand zwischen den beiden Stücken nicht ausschließen; wahr¬
scheinlicher aber läßt sie die Entstehung des Stiftbriefes kurz vor 1156
.erscheinen, wobei der Abstand der beiden Stücke nicht viel über ein Jahrzehnt
betragen würde. Triftiger ist aber wohl ein anderer Grund, der nahelegt, den
Stiftbrief vom frühesten Zeitpunkt — also dem Jahre 1141 — möglichst weit
abzurücken. 1141 lebten in und außerhalb des Stiftes noch zahlreiche
Zeugen der Einweihung von 1136, die genau wußten, daß damals eben
keine Urkunde Leopolds ausgestellt worden war, weil sie sonst verlesen
worden wäre. Und obwohl es sich beim Stiftbrief^ wie öfter erwähnt,
.nur um die »pia fraus« einer rein formellen Fälschung handelte, so muß
auch ftir eine solche ein gewisser Zeitabstand, ein gewisses Verblassen der
Erinnerung als psychologische Voraussetzung gelten.
Innsbruck. Harold Steinacker.
Konrad Beyerle, Die Urkuhdenfälschungen des Kölner
Burggrafen Heinrich HL von Arberg. (Deutscbrechtliche Beiträge
Band IX, Heft 4). Heidelberg 1913, Carl Winter.
Die Göttinger Juristenfakultät hat den neunten Band der deutsch¬
rechtlichen Beiträge ihrem Senior Ferdinand Frensdorff als Festschrift
zu seinem achtzigsten Geburtstage gewidmet. Vier Arbeiten sind darin zu
einem stattlichen Bande vereinigt 1 ). Uns wird im folgenden nur deren
letzte, Konrad Beyerles Untersuchung über die Urkundenfälschungen des
Kölner Burggrafen Heinrich DL von Arberg beschäftigen. Über diese sind
bis jetzt zwei'Besprechungen erschienen. E. Liesegang, der selbst zu den
von Beyerle erörterten Fragen vorher Stellung genommen und zu ihrer
Kläre ng manches beigetragen hatte, anerkannte neidlos den Erfolg der neuen
Arbeit und die Richtigkeit ihres Gesamtergebnisses (Zeitschrift der Savigny-
Stiftung für Rechtsgeschichte, germ. Abt. 35, S. 560 ff). Er wies es als
arge Kleinmeisterei weit von sich, etwa verfehlte Datierungen von Schreins-
einträgen u. dgL aufzuspüren und dem Verfasser anzukreiden, denn ihn
beseelte das richtige Gefühl, daß ein solcher Irrtum in den Einzelheiten^
zumal wenn er durch die schwierige Eigenart des Quellenmaterials bedingt
ist, nur betont werden sollte, wenn dadurch das Gesamtergebnis beein¬
trächtigt wird; im andern Falle aber wird man besser tun, den Hauptton
darauf zu legen, daß der große Wurf gelungen ist. Das ist bei Beyerles
Buch der Fall. Und darum hat E. Liesegang den besseren Weg gewühlt
als Dr. Luise von Winterfeld (Westdeutsche Zeitschrift 32, S. 37 7 ff.).
Denn obwohl sie bemüht ist, dem gelehrten Verfasser — und zwar durchaus
nicht immer mit Glück — diesen und jenen Irrtum nachzuweisen, gibt
l ) K. Lehmann: Zum altnordischen Kriegs- und Beuterccht. — 0. Schreiber:
Das Testament des Fürsten Wolfgang zu Anhalt. — P. Lenel: Wilhelm von
Humboldt imd die Anfänge der preußischen Verfassung. — K. Beyerle: Die
Urkundenfälschungen des Kölner Burggrafen Heinrich HI. von Arberg.
Literatur.
361
sie am Ende die Richtigkeit des zu Beweise stehenden Satzes zu, daß der
Bnrggrafenschied und die Vogturkunde von 1169 Fälschungen der Zeit um
1230 sind und zu einander in einem bedingten Verhältnis stehen. Nur die
Folgerungen, die aus dieser von Beyerle festgestellten Tatsache für die
kölnische Geschichte gezogen werden können und die der Verfasser selbst
nicht alle als ganz gesicherte hinstellt, nur die Begründung des historischen
Hergangs aus der kölnischen Geschichte heraus, werden durch die erhobenen
Einwände im einzelnen berührt. Das Ergebnis, die Feststellung und die
zeitliche Festlegung der Doppelfälschung bleibt aufrecht. Und ein paar
übersehene Druckorte ändern daran schon gar nichts. — Wenn aber Fräulein
von Winterfeld eben jene Dame ist, der Eonrad Beyerle in seinem Buche
für die »verständnisvolle Mitarbeit € dankte, dann muß eine Rezension aus
ihrer Feder und besonders eine solche doch merkwürdig anmuten.
In der Kölner Rechtsgeschichte kommt dem Bnrggrafenschied (fortan B.)
und der Vogturkunde (fortan V.), die beide aus dem Jahre 1169 stammen
sollen, eine vielumstritten*, aber allgemein anerkannte große Bedeutung zu.
B. ist uns als angebliches Original, an dem Siegel des Erzbischofs Philipp
von Heinsberg und des Domkapitels hängen, erhalten geblieben. Es ent¬
scheidet hier Bischof Philipp zwischen dem Burggrafen Heinrich II. von
Arberg und dem Vogte Gerhard von Eppendorff einen Streit, der sich um
das Recht des Vorsitzes im echten Ding (Witzigding) und um das Räumungs¬
recht, d. L das Recht, verkehrshindemde Häuserüberbauten zu brechen, er¬
hoben hatte. Und zwar geschah das, wie B. ausführlich berichtet, indem
der Erzbischof ein altes Amtsweistum des Burggrafen erneuerte. Dies hatten
die Schöffen und Amtleute der Richerzeche in ihrem Schrein verwahrt und
der Erzbischof mußte es ihnen erst abverlangen; denn nur ungern gaben
es die Bürger heraus. Es war aber durch sein hohes Alter fast unleserlich
geworden und arg beschädigt. Dieses alte Weistum wurde nun erneuert.
V. ist ein einfacher Lehenbrief des Erzbischofs Philipp, in dem dieser
dem Vogte Gerhard von Eppendorff die Stadtvogtei, die bisher durch jähr¬
liche Amtseinweisung war vergeben worden, erblich nach dem Rechte der
Erstgeburt übertrügt. Als Fürbitter für Gerhard von Eppendorff erscheinen
Kaiser Friedrich I. und Herzog Gottfried von Brabant. Darüber hinaus
aber betont V. das Recht des Mitvorsitzes des Vogtes im Kölner Schöffen¬
gericht neben dem Burggrafen und hebt hervor, daß in den Witzigdingen
dem Burggrafen allein ein Vorsitzrecht zukomme. Erschwert wird bei V.
die Sachlage dadurch, daß es nicht im Original, sondern nur in verhältnis¬
mäßig späten Kopien aus dem XV., XVL und XVII. Jahrhundert erhalten
ist. Die beste — zuerst von Seeliger verwertete — ist die von 1578,
da sie erwiesenermaßen das Original am verläßlichsten wiedergibt.
Um die Bedeutung dieser beiden Urkunden, um ihre Echtheit vor
allem handelt es sich. Mit vollem Rechte erklärt Beyerle, daß die der
Erbverleihung in V. angefügten Bestimmungen über die Vogtrechte auffallen
müssen und einen Zusammenhang mit B. von vomeherein sehr wahrscheinlich
machen. Denn eben um den Vorsitz im Witzigding war der Streit zwischen
Burggraf und Vogt entbrannt, den B. schlichten wollte. Und B. wie V.
wahren nun dem Burggrafen sein gutes, altes Recht auf den alleinigen
Vorsitz im echten Ding. Es wollen beide Urkunden aus dem Jahre 1169
362
Literatur.
stammen, sie weisen starke textliche Gemeinsamkeiten auf und ihre Zeugen¬
reihe ist dieselbe. So liegt der Gedanke einer inneren Zusammengehörigkeit
wohl nahe genug und es gibt, wie der Verfasser richtig ausfuhrt, nur die
drei Möglichkeiten, daß erstens beide Urkunden echt sind, oder zweitens
eine auf Grund der andern gefälscht wurde, wobei es sich dann trägt,
welche Urkunde nun die echte sei; oder daß drittens endlich beide Urkunden
gefälscht worden sind. Ich habe das Ergebnis schon, oben vorweggenommen:
es ist Beyerle gelungen, nachzuweisen, daß beide Urkunden, wie sie uns
fiberliefert sind, eine einheitliche Fälschung im Interesse des Burggrafen
darstellen, die Heinrich IU. von Arberg ums Jahr 1230 verfertigen ließ.
Darin, in der gedanklichen Verbindung der beiden Urkunden, in der
richtigen Erkenntnis der einheitlichen Fälschungstendenz, die ihnen beiden
zugrunde liegt und die sie als Doppelfälschung von nun ab kennzeichnet,
liegt der Fortschritt, den Beyerles Untersuchung für die Forschung be¬
deutet. Denn daß beide Urkunden, so wie sie vorliegen, nicht echt sein
können, war bereits bekannt; nur ihre Zusammengehörigkeit war der bis¬
herigen Forschung entgangen. Die Literatur über diese Frage ist ungemein
groß. Der Verfasser setzt sich eingangs mit ihr auseinander und schon
E. Liesegang, der selbst Partei ist, hat ihm das ehrenvolle Zeugnis ausge¬
stellt, daß er das in durchaus sachlicher und vornehmer Weise getan hat;
das war innerhalb dieser Schriften nicht immer der Fall.
Und nun legt Beyerle zunächst die Fälschung von B. dar. Der Schrift¬
charakter entspricht, wie Stumpf schon nachwies, der ersten Hälfte des
dreizehnten Jahrhunderts und weist B. den Jahren 1220—1240 zu. Die
beigegebene Abbildung bestätigt diesen Befund, den der Verfasser neuer¬
dings ausführlich begründet. Es war auch schon bekannt, daß das an der
Urkunde hängende Kapitelsiegel eine Fälschung ist, für die man eigens
einen Siegelstempel schneiden ließ. Und Beyerle tritt auch der Auffassung
bei, daß das an sich echte Siegel des Erzbischofs Philipp doch nur zu Un¬
recht an dieser Urkunde hänge, daß es nämlich ein Siegel sei, das von
einer echten Urkunde gelöst und dann zur Siegelung dieser verwendet
wurde. Die Gründe, die er dafür nach Tannerts Vorgang bringt, sind
im Zusammenhang mit allen anderen Verdachtsmomenten überzeugend. Auch
das war schon erkannt, daß die Zeugenreihe von B. zum Jahre 1169 nicht
stimmt, daß sie vielmehr nur in der Zeit von 1182—89 möglich ist. Sie
zählt im ganzen 21 Namen. Es würde zu weit führen, im einzelnen den
Beweis wiederzugeben, den Beyerle mühsam zusammentrug, um endlich
»mit größter Wahrscheinlichkeit * die Zeitgrenze, innerhalb der diese Zeugen¬
reihe allein möglich ist, auf die beiden Jahre 1182 und 1183 einzuschränken.
Ob sie frei erfunden oder aus einer echten Urkunde übernommen wurde,
beantwortet der Verfasser in einem späteren Absatz dahin, daß sie nicht
frei erfunden sein könne. — Es finden sich in ihr auch die Kölner Bürger:
Ludwig von Mommersloch, Rikolf Barfuss und Heinrich Raze. Die in B.
angewendeten Namensformen Munberslog, Parfusus und Ratio sind nun 1169
eine glatte Unmöglichkeit, wie schon v. Richthofen darlejte. Sie gehören
einer späteren Zeit an und sind erst nach 1215 (Munberslog) etwa denkbar,
in jener Zeit also erst, in die auch die Schrift der Urkunde weist.
Kein Zweifel also, daß B., wie es uns vorliegt, kein Original sein kann.
Doch kommen zu diesen Merkmalen noch inhaltliche Unmöglichkeiten, die
Literatur.
363
endgültig dartun, daß B. auch eine materielle Fälschung ist. Es ist wirklich
nichts mit des verstorbenen Siegfried Rietschel gleich geistvoll wie
leidenschaftlich durchgefochtenem Versuch, B. als eine echte Urkunde zu
retten. Das Auseinanderklaffen von angeblicher Jahreszahl (1169) und der
allein möglichen Zeit der Zeugenreihe (l 182/83) läßt sich befriedigend nicht
erklären. Auch ist die Erzählung über das dem Schrein der Richerzeche ent¬
nommene alte Amtsweistum des Burggrafen verdächtig, denn sie verschleiert
den Hergang tatsächlich mehr als sie ihn auf deckt. Und das Widerstreben
der Schöffen und Amtleute der Richerzeche, das in ihrer Obhut befindliche
Amts weistum dem Erzbischof auszuliefern, ist nicht ohne weiteres ver¬
ständlich. Es sollte doch nur ein Amtsstreit zwischen Burggraf und Vogt
damit entschieden werden. Feinsinnig hat da Beyerle ausgeführt, wie dieses
Widerstreben dadurch begründet wäre, daß in dem angeblich erneuerten,
tatsächlich auch verfälschten Weistum eben auch Dinge stehen, die der
Bürgerschaft zuwiderliefen. Darum — um das wieder auszugleichen —
enthält dieses angeblich erneuerte Weistum ja auch Erwähnungen von
bürgerlichen Freiheiten, die mit dem Burggrafenamte nichts zu tun hatten,
deren alte Verbriefung aber den Bürgern erwünscht sein mußte, z. B. die
Zollfreiheit an den erzbischöflichen Zollstätten. Der Fälscher legte eben die
Gefühle seiner Zeitgenossen, deren errungenen Freiheiten das ältere Weistum
natürlich entgegenstand, in die Seele von deren Vorfahren hinein, als er
die Erzählung um den Ämterstreit ersann. Wir werden noch davon hören.
Ersann er aber auch den Ämterstreit, oder bildet dieser den echten Kern
der ganzen Erzählung? Für 1169 glaubt Beyerle den Ämterstreit als
unmöglich erweisen, für zwei Jahrzehnte später aber ihn als wahrscheinlich
annehmen zu können. Leider kann der Verfasser für diese Ansicht, für
die manches spricht, direkte Zeugnisse nicht erbringen. Aber zu alledem
kommt noch nach Beyerle die Tatsache des zum Teil verfälschten Rechts¬
inhaltes von B. Ich folge nur dem Vorgänge des Verfassers, wenn ich
dessen Erörterung die Echtheitsfrage von V. voranstelle. Sein bisheriges
Ergebnis aber setze ich wörtlich hieher: B. ist eine formale und zum Teil
inhaltliche Fälschung aus den Jahren 1220—1240, hergestellt unter Ver¬
wendung einer alten Aufzeichnung über die Rechte des Kölner Burggrafen
und unter Anfügung der echten Zeugenreihe einer erzbischöflichen Urkunde
aus den Jahren 1182/1183.
Durch den an den einfachen Text über die Belehnung angefügten
Satz von dem Rechte des Burggrafen, im Witzigding den Vorsitz zu
führen, was in B. auch als ein Recht des Burggrafen in Anspruch genommen
wird, rückt V. in eine bedenkliche Nähe des als Fälschung erkannten B.
Eb ist viel über das Verhältnis der beiden Urkunden geschrieben worden.
Ich kann hier die frühere Literatur, die Beyerle ja sorgsam gesichtet und
benutzt hat, übergehen und führe nur deren letzte Erscheinungen an.
S. Rietschel bat V. als Fälschung angesehen und wollte B. für echt hriten,
ja B. als die Grundlage von r . betrachten. Dagegen nahm Seeliger Stellung.
Ihm galt B. als Fälschung und er deckte auch gegen V. Verdachtsmomente
auf, die Rietschel entgangen waren. Von einer Zusammengehörigkeit der
beiden Urkunden, von einer innerlichen Bedingtheit und Einheit sprach
zuerst Oppermann. Aber er tat es — wie Beyerle richtig ausfühl t —
364
Literatur.
unter einem falschen Gesichtswinkel, da er sie aus kirchlich-herrschaftlicher
Tendenz entstanden sein läßt.
Beim Nachweis der Fälschung von V. entfallen natürlich die für B.
allein schon entscheidenden Momente des Schriftbefundes und der Siegelung,
weil wir — wie ich schon ausführte — nur spätere Kopien besitzen. Aber
die Fälschung liegt klar. Die textliche Abhängigkeit der beiden Urkunden
von einander ist augenfälb’g; es muß eine der andern als Vorlage gedient
haben oder beide müssen zugleich entstanden sein. Auch V. ist angeblich
1169 geschrieben; die Zeugenreihe, die der von B. vollkommen gleicht,
gehört aber zu 1182/83 und ist aus denselben Gründen wie in B. erst um
1220 in solcher Form möglich. Kommt dazu das Hervorheben des Vorsitz¬
rechtes im echten Ding und die Tatsache, daß B. als eine Fälschung um
1230 entlarvt worden ist, — man wird zugeben, daß die Logik nicht nur
zuläßt sondern fordert, die beiden Urkunden zusammenzurücken, sie als
eine Einheit gedacht sich vorzustellen.
Es lag nicht im Interesse des Vogtes, wenn die Urkunde neben seinem
Erbrecht auf die Vogtei das burggräfliche Vorsitzrecht im echten Ding be¬
sonders hervorhob. Wie wollte man das Rätsel, da ja V. nun doch auch
keine echte Urkunde sein kann, anders lösen, als eben damit, daß V. den
selben Zwecken dienen sollte wie B., den Interessen des Burggrafen?
L. v. Winterfeld hat Recht, daß nicht alle vom Verfasser vorgebrachten
Gründe durchschlagend sind. Ich bin auch nicht überzeugt, daß B. die
Vorlage von V. gewesen sein müsse, wie Beyerle weiter annimmt, denn sie
sind, wie -r eben nachwies, zugleich, aus einem Guß heraus entstanden.
Gewiß spricht manches für B. als erstes Produkt des Fälschers. Aber be¬
weisen ließe sich das wohl nicht und es tut nichts zur Sache. Worauf läuft
nun ein Streit hier nach dem glücklich erbrachten Beweis der Doppel¬
fälschung hinaus? Der Ein wand, daß auch für einen mittelalterlichen
Menschen die beiden Urkunden von einem Tage stammen müßten, ob nun
in der einen eine Monatsangabe stand und in der andern nicht, beweist
nichts gegen die Tatsache des Verdachtsmomentes; ob mense Maio oder nur
(me)nse Maio auf Rasur steht, kann ich auf Grund des Faksimile allein
nicht entscheiden. Es ist auf jeden Fall eine Verstärkung des Verdachts¬
moments und es kann das übermäßige Gewicht, das Beyerle dem einen oder
dem andern Gliede in der Beweiskette verlieh, den Beweis nicht entkräften.
Denn solche Verschiedenheit in der Wertung wird immer sein. Diplomatische
Forschungen sind kein Rechenexempel und gehen in dem Sinn nie restlos
auf, um an ein Wort von Beyerle mich anzulehnen.
Nach Feststellung der Doppelfälschung auf Grund eines Burggrafen¬
weistums und einer echten Urkunde Erzbischof Philipps aus den Jahren
1182/83 einer- und auf Grund einer echten Lehensurkunde, aus der
Beyerle die Jahresangabe 1169 stammen läßt, was er jedoch selbst nur
als wahrscheinlich bezeichnet, anderseits, untersucht er die ganze Lage der
Dinge und schließt sich Seeliger an, der das hauptsächliche Streitobjekt
neben dem Anspruch auf den alleinigen Vorsitz und die Gefälle der echten
Dinge und dem alleinigen Räumungsrecht gegen Überbauten in dem Ju¬
dicium de hereditatibus erblickt, das B. § 1 dem Burggrafen zugesprochen
wird. Im Judicium de hereditatibus sieht Beyerle auch die materielle
Verunechtung des Rechtsinhaltes. Mit vielem Geschick erschließt zunächst
Literatur.
365
der Verfasser au 3 den übrigen Bestimmungen von B., gegen wen sich die
Fälschungen kehrten und führt aus, daß die in B. eingeschobenen Sätze
über die libertas civium nostrorum Coloniensium eine Captatio benevolentiae
der Bürger in diesem Streite seien, in dem den »Ansprüchen des Kölner
Burggrafen . . . gegenüber der Praxis der Schöffen und gegenüber den
weiteren Vertretungen der Kölner Bürgerschaft, in zweiter Linie auch ge¬
genüber dem Stadtvogt* Geltung verschafft werden sollte.
Darauf wird der Versuch unternommen, aus der Geschichte Kölns
einen weitau'»greifenden Nachweis zu erbringen, wie es denn mit diesen
burggräflichen Rechten und ihren Gegenbestrebungen stand. Beyerle er¬
weist zuerst das Räumungsrecht als dem Burggrafen rechtlich zustehend
und legt in mühseligem Ausbeuten der Schreinseinträge dar, wie es »schon
seit über einem Halbjahrhundert in seinem Bestände ernstlich gefährdet
(war), als die Fälschung von B. ihm eine neue Stütze verleihen sollte*.
Schwieriger liegt die Frage bei den Witzigdingen. Kein Zweifel, einst
hielt der Kölner Burggraf das echte Ding, aber bald nach der Mitte des
zwölften Jahrhunderts hörten — nach Beyerle — die Witzigdinge des
Burggrafen auf, allgemeine Dingversammlungen der Kölner Bürger zu sein
und es minderte sich ihr Umstand immer mehr bis auf den Kreis der
gchöffenfähigen Geschlechter; in diesen Witzigdingen war aber nun der
alleinige Vorsitz des Burggrafen gefährdet durch den Mitvorsitz des Vogtes,
der diesem im Schöffending zustand. Es spricht manches dafür, meint
Beyerle, daß eben seit 1169/70 der Vogt eine gleiche Stellung zu erringen
begann neben dem Burggrafen. Der Verfasser zieht hier zum Beweise das
Weistum des Niederich heran und sucht aus der Entwickelung dort auf
die altstüdtischen Verhältnisse zurückzuschließen. Dagegen wurden Bedenken
laut. Das sind aber Fragen so schwieriger Natur, die so enge mit der
eigensten kölnischen Stadt- und Verfassungsgeschichte verknüpft erscheinen,
tlaß ich mir ein Urteil darüber nicht Zutrauen darf. Doch leuchtet mir
ein, »daß das allmähliche Versiegen der allgemeinen Dingpflicht die Witzig-
•dinge wenig mehr als dem Namen nach über die gewöhnlichen Schöffen¬
dingtage heraushob* und damit für den Burggrafen die Gefahr entstand,
sein erwiesenes alleiniges Recht des Vorsitzes mit dem Vogte etwa teilen
xu müssen, wie das Beyerle schon seit 1169 als tatsächlich auch annimmt.
Wenn so damals nach des Verfassers Ausführungen die Macht des Vogtes
eine Steigerung erfuhr, will er doch nichts von einem Ämterstreit in diesem
Jahre wissen. Freilich muß ein solcher doch stattgefunden haben, das
■scheint Beyerle »die Betonung der Witzigdinge in den Vorbehalten der
Burggrafenpfandschaft von 1197* zu erweisen. Er faßt sie als einen Beweis
dafür, daß damals wirklich der Burggraf einen Vorstoß versuchte, die
»Witzigdinge und ihre Zuständigkeiten zurückzuerobern*. Es fiele damit
der Ämterstreit zwischen Burg;?raf und Vogt vor 1197. Aus der Niedericher
Bchreinskarte sucht Beyerle das zu belegen, denn die inneraltstädtischen
Schreine schweigen. Vorsich 4 *g formuliert er darum so, daß wichtige An¬
zeichen darauf hindeuten, es hätte damals der Burggraf einen Vorstoß ver¬
sucht, um die alte Stellung wieder zu erlangen. Ob er Erfolg damit hatte ?
Das Schöffenfragment von 1198—1220 bezeugt kein Witzigding des Burg¬
grafen, »damals stand vielmehr das Schöffenkolleg auf der Höhe seiner
Macht und drückte die stadtherrlichen Richter tunlichst beiseite*. Ein
366
Literatur«
dauernder Erfolg war also dem Vorstoß Heinrichs IL von Arberg sicherlich
nicht beschieilen. Es waren vielmehr »in der Zeit da der Falscher von
B. und V. zu Gunsten der burggräflichen Witzigdinge die Feder ansetzte,
(diese) ein erloschenes, mindestens ein tatsächlich so gut wie unterdrücktes
Institut des zentralen Schöffengerichts*. Der Anspruch auf den Vorsitz in
ihnen aber stand dem Burggrafen rechtlich und historisch zu.
Die schwierigste Frage bildet die Deutung des Judicium de heredi-
tatibus. Es ist die meistumstrittene Bestimmung von B. und darum hat
Beyerle keine Mühe gescheut und alle nur denkbaren Deutungen, die jemals
gegeben wurden, einer eindringlichen Untersuchung unterzogen. Er faßt
Judicium de hereditatibus schließlich als das Hecht der Erbgangsstütigungen.
Es leiten den Verfasser dabei gute Gründe; und er hat umfassende Unteiv
suchungen angestellt, die für eine künftige Geschichte des Schreinswesens
überhaupt zu beachten sein werden. Es steckt in diesem zweiten Teile
des Beyerle’schen Buches überhaupt eine solche Menge für die Kölnische
Geschichte wichtiger Einzelheiten, daß ihre Erörterung den mir zustehenden
Raum weit überschreiten würde. Ob alle Möglichkeiten, die er sehen und
ahnen läßt, sich als richtig erweisen werden, wird die künftige Forschung
lehren.
Nach dieser lehrreichen Skizze des historischen Entwicklungsganges bis
zu der kritischen Zeit, in die unsere Fälschungen fallen, versucht Beyerle,
an dem bisher ungedruckten Quellenmaterial aus dieser und der folgenden
Zeit den gewissermaßen positiven Quellenbeweis für die richtige zeitliche
Einreihung der beiden Fälschungen zu erbringen. Das ist ihm trefflich
geglückt. Es läßt sich der Nachweis erbringen, daß damals zwischen 1220
und 1240 der Burggraf Heinrich HI. von Arberg im Vordringen begriffen
war. Als er die Burggrafschaft übernahm, da war dieses Amt von der
Höhe seiner einzigen Bedeutung tief herabgesunken. Aus seiner Amtszeit
aber sind genug zahlreiche Schreinseinträge nachzuwe sen, die Witzigding,
Räumungsrecht und Erbgangsstätigungen seinem Amte wieder unterworfen
zeigen. So ist auch der positive Nachweis erbracht, daß der Burggraf
Heinrich IH. »alle die Amtsrechte den Schöffen und dem Vogt gegenüber
in gewiasen Grenzen zunächst durchgesetzt hat, die er in B. und V. in
Anspruch nahm: Witzigdinge, Räumungsrecht und Judicium de hereditatibus*.
Dazu dienten dem Burggrafen die beiden Fälschungen, als deren Grund¬
lagen auch Beyerle die vorhin schon angeführten, verloren gegangenen
echten Urkunden annimmt; in die echte Lehensurkunde (V.) schob der
Fälscher den Zusatz über die Witzigdinge ein und in ein echtes Weistum,
das vielleicht in einem echten Schied gestanden hat, brachte er die Er¬
wähnung der bürgerlichen Freiheiten und was er sonst noch brauchte, um
seinen Zweck zu erreichen, dem burggräflichen Vorstoß um Rückerlangung
der alten Machtstellung eine rechtliche Grundlage zu schaffen.
So war diesen Fälschungen auch Erfolg beschieden. Aber von Dauer
war der nicht; und überdies diente er am Ende doch nur, wie Beyerle
treffend ausführt, dazu, »dem erzbischöflichen Stadtherrn wjrtvolle Hoheits¬
rechte zu retten und dauernd zu erhalten*. Denn als Heinrich^ III. Erbe
und Nachfolger, Burggraf Johann von Arberg, im Jahre 1279 sein Burg¬
grafenamt an den Erzbischof veräußerte, tat cs dieser nicht mehr aus und
Literatur
367
wurde so der Erbe dessen, was an dauerndem Erfolge der kühn und klug
gedachten Fälschung etwa geblieben war.
Wir haben bei unserer Betrachtung dieses glänzend geschriebenen
Buches uns stets das Ziel vor Augen gehalten, zu dem der Verfasser kommen
wollte. Und wir sahen ihn dieses Ziel erreichen auf oft recht ver¬
schlungenen Wegen. Er hat bei seinem Gange manchen Ausblick eröffnet,
den wir nicht in Betracht zogen. Denn wir glaubten besser zu tun, wenn
wir gleich ihm das Ziel im Auge hielten, und es schien uns zweckdien¬
licher und gerechter zu sein, die Frage an das Buch vor allem so zu
stellen, ob sein für die Kölner Geschichte so wichtiges Ergebnis richtig sei,
ob wirklich V. und B. als eine Einheit zusammengehören und als eine
wohldurchdachte Doppelfälschung ums Jahr 1230 im Interesse Heinrichs HI»
von Arberg entstanden sind. Der Satz stand zum Beweise und dieser ist
Konrad Beyerle einwandfrei geglückt.
Wien, im Feber 1915. Otto H. Stowasser.
Württembergische Geschichtsquellen. Hgb. von der
Württembergischen Kommission für Lan desgeschichte. XIII. Band
Urkundenbuch der Stadt Stuttgart Bearb. von Dr. Adolf
Rapp, Privatdozent in Tübingen. Stuttgart W. Kohlhammer 1912.
XXU und 680 C. 8°.
Zu den bereits von der Württembergischen Kommission für Landes¬
geschichte veröffentlichten Urkundenbüchem der Städte Rottweil, Eßlingen
und Heilbronn ist nun auch das der Stadt Stuttgart getreten. Es reicht
von der ersten Erwähnung der Stadt im Jahre 1229 bis zum Todestag
Herzog Eberhards im Bart (24. Febr. 1496). Aufgenommen wurde, was
sich auf die Stadtgemeinde und ihre Gemarkung, also auch Berg, Gablen-
berg, Hes'ach mit Böheimsreute, und die Einwohner bezieht. Dabei wurde
auch auswärtiger Besitz von Stuttgarter Bürgern, soweit der Bearbeiter ihn
erreichen konnte, mitberücksichtigt, hingegen von geistlichen Körperschaften
und geistlichen Personen, die ihren Sitz in Stuttgart hatten, wurde nur
bereingenommen. was die Gemeinde oder ihr Gebiet berührt, nicht aber,
was deren auswärtigen Besitz angeht
Nach diesen Grundsätzen ist der Stoff gesammelt werden. Besonderes
Lob verdienen bei der sorgfältigen Arbeit, an der auch Archivdirektor Dr.
von Schneider und Archivrat Jlehring mit Rat und Hilfe werktätigen An¬
teil genommen haben, das Sach- und Wortregister mit einer verdienstlichen
Zusammenstellung ehrender Beiwörter, und das Orts- und Personenregister.
Beigegeben ist ferner ein Siegelverzeichnis ‘ und ein Grundriß der Stadt¬
gemarkung aus den 1840er «fahren.
Donaueschingen. Georg Tumbült.
368
Literatur.
Hohenlohisches Urkundenbuch. Im Auftrag des Gesamt-
hauses der Fürsten zu Hohenlohe hgb. von Karl Weller und Christian
Belschner. Band HI. 1351—1375. Stuttgart, W. Kohlhammer 1912.
IV. und 830 S. 8®. M. 15.
Der UL Band dieses großen Urkundenwerkes fuhrt, obschon er dem
H., 1901 erschienenen Bande an Umfang nicht nachsteht, die Publikation
nur um 25 Jahre weiter. Da mit den fortschreitenden Jahren der Stoff
naturgemäß anschwillt, dürften bis zur Vollendung des Unternehmens, dessen
Abschluß mit dem Zeitpunkt der Trennung der beiden Hauptlinien Neuen¬
stein und Waldenburg um die Mitte des 16. Jahrhunderts geplant ist* noch
eine ziemliche Anzahl Bände und eine geraume Spanne Zeit erforderlich
sein. Fs liegt in der Natur der Sache, daß bei der sich steigernden Zahl
der Urkunden die Wiedergabe in Begestenform eine noch stärkere Ver¬
wendung gefunden hat, als in den beiden ersten Bänden, während im
übrigen die Grundsätze der Bearbeitung dieselben geblieben sind. Die Re¬
gesten zweier dem Geschlecht Hohenlohe angehöriger Bischöfe, des Bischöfe
Friedrich von Bamberg (1344—1352) und des Bischofs Albrecht von Würz¬
burg (1345—1372) sind in diesem UI. Bande zusammengezogen worden.
Daß auch hier Nachträge und Berichtigungen zum I. und IL Bande er-
scheinen, erschwert ja allerdings die Benutzung, jedoch sind solche Nach¬
träge einmal unvermeidlich und andererseits zeugen sie von der emsigen
Borgfalt, die die Bearbeiter fortgesetzt an ihre Aufgabe verwenden. Das
von Professor Belschner in Ludwigsburg hergestellte Orts-, Personen- und
Sachverzeichnis ist in ein Alphabet gebracht worden. Die Redaktion des
ganzen Bandes lag in der bewährten Hand Wellers, während sich im übrigen
die beiden Bearbeiter gleichmäßig in die Aufgabe geteilt haben.
Donaueschingen. Georg Tumbült.
Franziska Weissenborn, Mühlhausen i. Thür, und das
Reich (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgesch. hrg. von
G. v. Gierke, 108. Heft). Breslau M. u. H. Marcus 1911. 88 S. 8°.
Die Stadt Mühlhausen zahlte zwar im 13. Jahrh. Stadtsteuer, erhielt
aber wiederholt Befreiung, insbesondere übertrug der Kaiser 1337 der Stadt
gegen 1000 M. Silber alle im städtischen Gebiete liegenden Reichsgüter. Da
diese 1000 M. nie zurückgezahlt wurden, so berief sich Mühlhausen noch
im 18. Jahrh. auf sie als Beweis der Steuerfreiheit. Friedrichs UI. For¬
derung, die Stadtsteuer zu bezahlen, traf auf Mühlhausens entschiedensten
^Widerspruch. Die Stadt erklärte, sie sei sich nicht bewußt, dem Reiche
eine Steuer zu schulden oder auch jemals eine solche gezahlt zu haben.
Wiederholte Steuerforderungen des Reiches führten zu keiner Zahlung; die
Karls VI. 1713 führte zu juristischen Erwägungen sehr interessanter Art
Seitdem gaben die Kaiser endgiltig ihre Ansprüche auf die dem Reiche bis
zur Mitte des 14. Jahrh. zustehende Stadtsteuer in Mühlhausen auf. In
mannigfachem Wechsel von Erfolg und Nichterfolg erwarb M. das Juden-
Literatur.
36 »
regal. Besonders Karl IV. schwankte im Erteilen und Widerrufen der Pri¬
vilegien. M. weigerte hartnäckig die Zahlung und wurde in Acht und
Bann getan. 1352 aber wurde die Angelegenheit zu Gunsten der Stadt
entschieden. Neue Versuche der Steuererhebung (Opferpfennig, dritter
Pfennig, Krönungssteuer) fanden unter Wenzel, Sigmund, Albrecht IL, Frie¬
drich HL und Karl VII. statt Der Widerstand der Stadt gegen die Zahlung
blieb teilweise erfolglos; sie zahlte an Friedrich HL erst 600 fl. als Krönungs¬
steuer und dann 1000 fl. zur Kaiserkrönung. Dann wurde Mühlhausen
fast 300 Jahre unbehelligt von dergleichen Forderungen gelassen. Aber
Karl VTL forderte 1743 Kronsteuer und Opferpfennig. Es war das Ver¬
dienst des städtischen Syndikus Grasshof, daß seit Mitte des 18. Jahrh. das
Beich seine früheren Ansprüche wie auf die Stadsteuer so auch auf die
Judensteuer aufgeben mußte. Eine Verpfändung der Stadt und somit eine
Übertragung aller Einkünfte an Fremde ist auch Mühlhausen öfter zuteil
geworden, zuerst 1277 durch Rudolf von Habsburg. Von den Verpfän¬
dungen im 13. und 14. Jahrh. ist besonders die Zeit Ludwigs des Baiem
interessant: damals nahm die Stadt eine Zwischenstellung von Reichsstadt
und Territorialstadt ein, sie sollte dem Landgrafen huldigen, zugleich aber
dem König und Reich untertan sein und somit den Anforderungen, die der
Reichsverweser stellte, nachkommen. Die Stadt leistete größten Widerstand,
1332 kam eine gütliche Einigung zustande, M. erhielt gegen eine Summe
von 5000 M. alle Privilegien. Die Verpfändung der Stadt an Günther v.
Schwarzburg wurde rückgängig gemacht. Fast 150 Jahre blieb die reichs¬
städtische Freiheit unangetastet, bis dann Friedrich III., vor allem Maxi¬
milian I. zu einer neuen Verpfändung der Stadt schritten: 1505/06 wurde
Mühlhausen an die Ernestiner Friedrich und Johann von Sachsen ver¬
pfändet. M. rief, durch den Beistand Georgs von Sachsen ermutigt, Erich
und Heinrich von Braunschweig und die hessischen Schutzherren um Hilfe
an. Der König verbot den Mühlhäusern sogar die Beschickung des Kon-
stanzer Reichstages, nahm aber diese Vergewaltigung wieder zurück. Jedoch
wurde auf diesem Reichstag 1507 die Frage der Verpfändung nicht gelöst.
Nach langen Händeln wurde 1508 diese Frage beseitigt; Mühlhausen schloß
einen neuen Schutzvertrag mit Kurfürst Friedrich von Sachsen. Es war
der letzte Versuch von kaiserlicher Seite gewesen, die Stadt ihrer Reichs¬
standschaft zu berauben. — Den Reichsangelegenheiten brachte Mühlhausen
bis 1473 Abneigung entgegen; während der Husitenkriege z. B. stand die
Stadt den Kriegsangelegenheiten interesselos und gleichgültig gegenüber.
Auch die Verhandlungen des Reichstages kümmerten sie wenig. Das Jahr
1474 brachte eine Änderung in das Verhältnis der Stadt zum Reiche. Im
Neusserkriege 1474 unterstüzte sie zum erstenmal das Reich gegen Herzog
Karl den Kühnen von Burgund. Als der ungarische König Mathias Cor-
vinus im Kampfe mit Georg Podiebrad und dessen Nachfolger Mähren,
Schlesien und die Lausitz eroberte und als dies zum Krieg mit Friedrich
führte, hat Mühlhausen zum zweitenmal das Reich mit seinen Truppen
unterstützt. Es folgten weitere Unterstützungen (Geld und Mannschaft) des
Reiches in den Kriegen gegen die Ungarn, Franzosen, Schweizer, Venediger,
Türken bis 1521. Seitdem waren die städtischen Leistungen an das Reich
geregelt. Die Stadt M. hat zwar in dieser letzten Periode bis 1521 noch
wiederholt den Versuch gemacht, den Reichsanschlag abzuschütteln oder zu
370
Literatur.
vermindere, ist aber doch im allgemeinen ihren Pflichten gegen das Reich
nachgekommen nnd hat Interesse an den Reichsangelegenheiten durch rege
Teilnahme an den Reichstagsverhandlungen bewiesen. Es mag, wie die Ver¬
fasserin S. 71 ansprechend vermutet, die Stadt sich ihrer Schwäche den
Nachbarfürsten gegenüber allmählich bewußt geworden sein und daher mit
dem Kaiser mehr Fühlung genommen haben. So ist es Mühlhausen —
abgesehen von der durch den Bauernkrieg hervorgerufenen, kurzen Unter¬
brechung einer sächsisch-hessischen Schutzherrschaft — gelungen, sich als
Reichsstadt bis 1802 zu bewahren.
Die fleißige Arbeit der Verfasserin ruht in erster Linie auf — zu
einem erheblichen Teile noch ungedruckten — Urkunden und Akten des
Mühlhauser Archivs und ermöglicht durch fortlaufende genaue Quellenan¬
gaben die Nachprüfung. Einige für ihre Zeit charakteristische Berichte und
die Darstellung eines Prozesses, den der Mühlhäuser Hauptmann Heinrich
Kämner nach seiner Gefangennahme 1483 mit der Stadt führte, sind als
Anhang beigegeben.
Dresden. Eduard Heydenreich f.
Raim. Steinert, Das Territorium der Reichsstadt Mühl¬
hausen i. Thür. Forschungen zur Erwerbung, Verwaltung und Ver¬
fassung der Mühlhäuser Dörfer (Leipziger histor. Abhandlungen, hrg.
von Brandenburg, Seeliger, Wilcken, H. XXIII), Leipzig 1910. 98 S. 8°.
Das Mühlhäuser Territorium umfaßte die Stadtflur, die städtischen
Forsten, Ackerfluren und Waldungen von 19 Dörfern, Areal zweier Meier¬
höfe und zweier Güter. Seine Entstehung verdankt es dem Zusammenwirken
dreier Momente: 1. der Zielbewußtheit und Rührigkeit des Rates, der mit
steter Benutzung von Zeit und Gelegenheit, alles, was sich ihm bot, durch
Kauf oder Pfandschaft an sich brachte; 2. der Opfer Willigkeit der Bürger,
deren Steuerkraft die Territorialpolitik des Rates sicherlich stark in An¬
spruch nehmen mußte und 3. dem Umstande, daß es Mühlhausen gelang, in
seinem Gebiete alleiniger Gerichtsherr zu werden. Der Ausbau des Mühl¬
häuser Territoriums wird durch den mehr als 300jährigen Kampf des Rates
gegen den Grundbesitz der Geistlichkeit charakterisiert. Trotz Reichsacht
und Interdikt blieb Mühlhausen Sieger. Seit 1444 entwickelte sich der
Ausbau des Territoriums in friedlichen Formen: entweder durch meist mit
Belehnung verbundenen Auskauf oder durch kluge Pfandpolitik brachte die
Stadt bis zum Beginn des 17. Jahrh. den größten Teil des geistlichen
Grundbesitzes an sich. Als Träger der Verwaltung des Territoriums hatten
die städtischen Kämmerer das territoriale Steuerwesen, die Zinsmeister und
Mnrstallsherren die mannigfachen Geld- und Naturalprästationen und die
Fülle der auf dem liegenden Gute der Bürger und Bauern lastenden Erb¬
zinse an Geld, Getreide und Federvieh. Dazu kamen die Heimbürger, die
in stetig sich erweiternder Machtsphäre mannigfach in die wirtschaftlichen
Angelegenheiten der Gemeinde eingriffen. Die Vermittlung des geschäftlichen
Verkehrs zwischen städtischen und dörfischen Behörden lag in den Händen
des Landvogl es. Die Mühlhauser »Untertanen« waren keine Leibeigenen,
Literatur.
371
maßten aber Steuer- und Wehrpflicht, Dienstbarkeit, Geld- und Naturalab¬
gaben leisten. Als Steuern gingen aus den Territorien ein die summa
marcarum d. i. die Steuer vom Gesamtbesitz der Untertanen, die summa
larium (Herdschilling, ursprünglich nur von jedem Hauswesen, dann von
allen Anwesenden mit alleiniger Ausnahme der Waisen gefordert) und das
Ungeld (Kaufgeld). An jährlich wiederkehrenden Fronen waren zu leisten.
Landgrabendienste, Spann- und Handdienste (Kalksteinfuhren; Bierfronen,
wenn der Kat fremdes Bier einlegen wollte; Weg- und Brückenbesserungen,
Räumungsarbeiten, Uferbauten, Holzfäll- und Spaltedienste, Arbeiten im
städtischen Steinbruch), Jagdfronen. Dazu kamen Fronen ohne regelmäßige
Wiederkehr: bei Feuer, Geleit fremder Standespersonen etc. An Geldabgaben
waren zu leisten: Steinbruchs- und Jagdgeld; Trift-, Birnen-, Gras-, Gänse-,
Stein-, Spund- und Weggeld; au Naturalabgaben: jährliches Quantum Birnen,
Trifthafer, Herrenhafer. Schultheißen und Vormünder waren ehrenamtlich
angestellt, genossen aber gewisse Vorteile. Die Lage der Mühlhäuser Bauern
war sehr schlecht infolge des 30jähr. Krieges. Dazu kam eine Steigerung
der Dienste, als der Kat zu Anfang des 18. Jahrh. die Bauern zwang,
»Schockholz 4 zu zahlen und Pflastereinfubren zu leisten. Dazu wurden die
Geldbeträge erheblich gesteigert. Ferner wurde den Bauern ein Teil ihrer
Hutweiden genommen und gegen kaiserlichen Entscheid hohe »Exekutions¬
gelder 4 auferlegt. Von den städtischen Metzgern und Kornhändlern nach
Belieben im Preis gedrückt, von durchziehenden Truppen erpreßt, oft genug
von Mühlhausen für verweigerte Fronen aufs härteste heimgesucht, ver¬
armten. die Dörfer. Diese strengten Prozesse gegen die Stadt beim Kaiser
an, die viel kosteten und trotz günstiger kaiserlicher Entscheidung keine
Abhilfe brachten. So klang das einst gütige und patriarchalische Verhältnis
der Stadt zu ihren Untertanen mit schneidendem Mißton aus.
Steinerts auch als Leipziger Dissertation erschienene Arbeit gibt an
der Hand eines reichhaltigen archivalischen Materiales ein fesselndes Bild
der Territorialgewalt einer ehedem nicht unbedeutenden Beichstadt.
Dresden. Eduard Heydenreich f*
Paul Heidrich, Karl V. und die deutschen Protestanten
am Vorabend des Schmalkaldischen Krieges. 1. Teil: Die
Beichstage der Jahre 1541—1543. Frankfurter Historische For¬
schungen, herausg. von G. Küntzel, Heft 5. Frankfurt a. M. 1911. Josef
JBaer u. Co. — 1L Teil: Die Reichstage 1544—1546. Dieselbe Saniml.
Heft 6. Eb. 1912.
Fritz Hartung, Karl V. und die deutschen Reichsstände
von 1546—1555. Historische Studien, hrsg. von Richard Fester, I.
Halle a. S. 1910, Max Niemeyer 1 ).
Die vorliegenden Untersuchungen, in der Problemstellung nahe ver¬
wandt und zeitlich unmittelbar an einander anschließend, sind nach Anlage
und Wert denkbar verschieden. Während Heidrich in mühevoller Sainmel-
!) Die Niederschrift dieser Besprechung erfolgte im Sommer 1913.
372
Literatur.
arbeit ein großes arcbivalisches Material zusammengetrageu hat, um die Ge¬
schichte der Reichstage von 1541—1546 möglichst bis in alle Einzelheiten
aufzuheilen, hat sich Hartung zum größten Teil auf gedruckte Quellen be¬
schränkt. Ihm lag nicht daran, neue Tatsachen herauszuarbeiten, sondern
»dasjenige Moment hervorzuheben, das dieser Periode ihre bleibende Be¬
deutung für die Reichsgeschichte verleiht*. Und dieses Moment findet er
in der »endgültigen Auseinandersetzung zwischen dem Kaisertum und den
Reichsständen über den Charakter der Reichsverfassung«, die in diesen
Jahren stattgefunden haben soll. Zweifellos war es lohnend, die Vorgänge
dieser Jahre auch einmal von dieser Seite her zu betrachten und sie ein¬
zugliedern in den Verlauf des Ringens zwischen Kaisertum und territorialen
Gewalten um den Einfluß in der Reichsregierung. Ein instruktiver Zeit¬
schriftenaufsatz hätte daraus werden können. Leider ist statt dessen ein
Buch entstanden. Die Folge davon ist, daß Hartung sein Thema immer
wieder aus dem Auge verloren und in breiter Darstellung der Ver¬
handlungen längst Bekanntes wiederholt hat. Es kostet einige Mühe, sich
immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, worauf es dem Verf. in erster Linie
ankommt Hartung ist zu diesem Thema gekommen von seinen Studien
über die Reichsreform her. In Karl V. sieht er den letzten Vertreter des
»universalen Kaisertums«. Das ist richtig. Die Frage ist nur, ob Karl V.
bewußt diesen Gedanken in den Mittelpunkt seiner Politik gestellt hat,
wie H. annimmt. Man wird doch nicht bestreiten können, daß Karls Feind¬
schaft gegen die Protestanten mindestens ebensosehr aus dem religiösen Ge¬
gensatz heraus entsprang, wie aus dem Groll über ihre Unbotmäßigkeit H.
versteigt sich aber zu der Behauptung, Karl habe, um der Monarchie willen,
unbedingt an der kirchlichen Einheit festgehalten und jedes Entgegen¬
kommen gegen Luther abgelehnt (S. 7). Wie er damit den Satz in Über¬
einstimmung bringen will: „Das entscheidende Moment war für Karl doch
die Religion« (S. 101), verstehe ich nicht Ebenso halte ich es für höchst
unglücklich, den schmalkaldischen Krieg und die Absichten, die Karl auf dem
Augsburger Reichstag 1547/48 verfolgte, als »monarchische Reaktion« zu
bezeichnen. Natürlich bedeutete jeder Sieg Karls eine Stärkung des Kaiser¬
tums, jede Niederlage eine Schwächung zugunsten der fürstlichen »Libertät«,
aber für diese Selbstverständlichkeit bedurfte es des modernen Schlagwortes
nicht. Wertvoll in Hartungs Buch ist die ständige Bezugnahme auf die
Zeit der eigentlichen Reicbsreform. Ich will hier nur hinweisen auf die
Ausführungen über den von Karl geplanten Reichsbund, der mit dem be¬
deutungsvollen schwäbischen Bund in Parallele gesetzt wird, und auf die
beiden letzten Kapitel über den Heidelberger Bund und den Augsburger
Reichstag.
Bedeutend erfreulicher ist es, über Heidrichs Untersuchungen zu
berichten. Man muß sich einmal durch den Aktenwust hindurchgearbeitet
haben, den ein einziger Reichstag jener Zeit hinterläßt, um den staunens¬
werten Fleiß ganz zu würdigen, der in diesen beiden Heften steckt. Dabei
hat es Heidrich verstanden, die doch häufig sehr langweiligen Verhandlun¬
gen mit ihren ewigen Wiederholungen derselben Streitfragen lebendig dar¬
zustellen. So erhalten wir ein lebensvolles Bild der Bestrebungen und
gegeneinander wirkenden Kräfte, die den bedeutungsvollen Jahren von
1541 —1546 den Stempel aufgedrückt haben. Ist auch das Gesamtbild
373
dieser Zeit eicht d urch die Entdeckung neuer Tatsachen wesentlich ver-
Behoben worden, so treten die einseinen Zöge des Bildes doch nun dd
plastischer herror. Daß es dadurch gewonnen hätte, kann man freilich
nicht sagen. Es benscht namentlich auf protestantischer Seite eine jämmer¬
liche Kleinlichkeit und Unfähigkeit tot, aber auch der Politik des Kaisen
fehlt jeder große Zog.
Heidrich hat das Jahr 1541 snm Ausgangspunkt seiner Arbeit ge¬
wählt, weil seiner Ansicht nach ent der Regensburger Reichstag dieses
Jahres Karl »von der unbedingten Notwendigkeit des Krieges gegen die
Protestanten überzeugt hatte 4 . Er ist der Meinung, daß Karl noch »in
bester Absicht* auf den Reichstag kam, am einen wirklichen Ausgleich
zwischen den Konfessionen berbeizafuhxen. Erst die Hartnäckigkeit der
Protestanten habe ihn überzeugt, daß sie nur mit Gewalt von ihrem Stand¬
punkt abznbringen seien. Hätte H. darauf geachtet, daß Karl in dem
Moment gegen die Protestanten rauhere Saiten anschlug, als er von ihnen
die »eilende Hülfe 4 bewilligt erhalten hatte, so wären ihm vielleicht auch
Zweifel an der Aufrichtigkeit der anfänglichen Freundlichkeit Karls gegen
die Protestanten gekommen. Daß er wirklich ernsthaft einen friedlichen
Ausgleich für möglich hielt, ist kaum anzunehmen. Im übrigen hebt H.
mit Recht hervor, daß es für den Kaiser am wichtigsten war, durch per¬
sönliche Verhandlungen Kurbrandenburg und Hessen für sich gewonnen zu
haben. Dies hätte wohl auch verwandt weiden können, um die seltsame
Unterzeichnung der protestantenfreundlichen Deklaration zu erklären. An
eine Ȇberrumpelung 4 Karls, wie H. es darstellt, vermag ich noch nicht
recht zu glauben.
Sonst aber wüßte ich gegen Ha Auflassung nichts einzuwenden. Sehr
klar geht ans seiner Darstellung hervor, wie die Protestanten von 1541—
1544 scheinbar von Erfolg zu Erfolg schreiten, dabei aber die Erbitterung
ihrer Gegner dauernd wächst und das Verhängnis immer schneller naht.
Bis Karl 1544 in seinem diplomatischen Meisterstück erst durch weitgehende
Konzessionen die Protestanten von ihrem natürlichen Verbündeten, Frank¬
reich, trennt, dann aber mit dem besiegten Frankreich einen schnellen
Frieden schließt, um plötzlich mit überlegener Kraft vor den eben noch
Triumphierenden zu stehen. Die beiden folgenden Reichstage haben nur
noch die Aufgabe zu erfüllen, die Protestanten hinzuhalten, bis Karl hin¬
reichend gerüstet ist zu dem großen Schlage. Dos Hin und Her des zähen
diplomatischen Ringens, den Wechsel von Furcht und Hoffnung auf prote¬
stantischer Seite, das seltsame Gemisch von religiöser Festigkeit and klein¬
licher Bedenklichkeit unter ihren Führern, die ständig treibende Energie
Philipps von Hessen treten in Heidrichs Darstellung vortrefflich hervor.
Berlin-Steglitz. G. Bonwetsch.
Walter Platzhoff: Frankreich und die deutschen Pro¬
testanten in den Jahren 1570—1573 (Historische Bibliothek, her-
auageg. von der Redaktion der Historischen Zeitschrift Bd. 28). Mün¬
chen und Berlin 1912. XVIII und 215 S. M. 6.—.
In dem Kampf Königs Franz’ L von Frankreich gegen seinen über¬
mächtigen Gegner Kaiser Karl V. ist eines der reizvollsten Kapitel die
Mittcilnnjren XXXVT. 25
374
Literatur.
Frage nach den Beziehungen des allerchristlichsten Königs zu den deutschen
Protestanten. Damals ist die Grundlage für die traditionelle Politik der
französischen Krone nach dieser Richtung hin gelegt worden: nach außen
hin im Interesse des Staates weitestes Entgegenkommen; nach innen hin
Aufrechterha tung der politischen und religiösen Einheit des Staatsgedankens
mit allen Mitteln. Das bedeutete in Frankreich selbst größte Intoleranz
gegenüber den Anhängern der neuen Lehre, ja blutige Verfolgung der¬
selben. Die Frage war nur, wie sich diese innere Politik mit der aus¬
wärtigen in Einklang bringen ließ; die Durchführung dieses Programms
wurde immer schwieriger, seitdem es sich nicht mehr um die Verurteilung
und Hinrichtung einzelner Ketzer handelte, sondern als es galt, die ganze
protestantische Partei zu bekämpfen, gewaltsam niederzudrücken.
Platzhoff hat es unternommen, auf Grund der umfangreichen gedruckten
Literatur, sowie unter Hinzuziehung von Archivalien in Dresden und Mar¬
burg, die Lösung dieses Problemes zu versuchen, für die Jahre, welche in
den Beziehungen der französischen Krone zum deutschen Protestantismus
als die kritischsten bezeichnet werden müssen, für die Jahre vor und be¬
sonders nach der Bartholomäusnacht. Auch er stellt gewissermaßen an die
Spitze seiner Untersuchungen Baumgartens bekanntes hartes Urteil über die
protestantischen Fürsten, daß »von Politik bei ihnen nur vermittelst eines
starken Euphemismus geredet werden könne* (S. 15), und doch ist es nicht
so sehr ihre Erbärmlichkeit als ihre Zerfahrenheit, besonders der sie tren¬
nende religiöse Zwiespalt, welcher der französischen Politik die Einmischung
in die inneren deutschen Verhältnisse so sehr erleichtert hat.
Erbärmlich erscheint doch nur der Hesse, Landgraf Wilhelm: wenn
man seine politische Haltung harmlos deuten will, ein kleiner Gernegroß,
der ohne selbst etwas leisten zu können und leisten zu wollen, trotz all
seiner Ängstlichkeit gleichwohl »am politischen Spiel etwas teilhaben*
wollte, der Typus jener Territorialherren, bei denen die Höhe ihrer An¬
sprüche im umgekehrten Verhältnis zur Größe ihrer positiven Leistungen
steht. Demgegenüber erscheint Kurfürt August von Sachsen politisch be¬
trachtet als durchaus selbständiger Herr seiner Entschließungen: gerade in
der feinen Motivierung der von August damals vollzogenen Schwenkung
zum Kaiserhofe hin und ihrer Rückwirkung auf seine Beziehungen zu
Frankreich möchte ich eines der größten Verdienste von PLs schöner Ar¬
beit erblicken. Die Art, wie August sich allen Versuchen, ihn zur persön¬
lichen Begrüßung des Polenkönigs Heinrich von Anjou bei seiner Durch¬
reise durch Sachsen zu bestimmen, versagte (vergl. besonders seinen cha¬
raktervollen Brief an Johann Kasimir: Beilage Nr. XVHI, S. 1S9 f.), zeigt
aufs deutlichste, daß er ganz genau wußte, was er wollte.
Um zweierlei handelte es sich für die französische Krone bei diesen
Verhandlungen, welche vornehmlich durch den in französischen Diensten
stehenden kursächsischen Ritter Kaspar von Schömberg 1 ) geführt werden,
an dessen Berichterstattung der Verf. eine sehr eindringende, oft sehr be-
l ) Cher Kaspar von Schömberg vgl. — worauf Trefftz in seiner Anzeige in
der deutschen Lit.-Ztg. 1913 Sp. 879 schon hinwies — die vom Verf. nicht herau-
gezogenen, z. T. au? Dresdener Archivalien beruhenden Mitteilungen bei Albert
Fraustadt: x Geschichte des Geschlechts von Schönberg, meißnischen Stammes 4
Bd. I (Leipzig 1869) S. 332—396.
Literatur.
375
TechÜgte Kritik übt: Frankreich will ein Bündnis zu Stande bringen, und
damit im engsten Zusammenhänge Einfluß gewinnen auf die zukünftige
deutsche Königswahl; sodann trachtet Frankreich darnach, nach der Wahl
des Herzogs von Anjou zum König von Polen dessen ungestörte Reise durch
•die Gebiete der protestantischen Fürsten nach Polen zu ermöglichen, eine
um so härtere Zumutung, als gerade Anjou einer der Hauptanstifter der
Bartholomäusnacht und der ihr folgenden Greueltaten gewesen war. Gleich¬
wohl wurde dieses letztere Ziel erreicht, allerdings nicht ohne daß der Fran¬
zose herbe Wahrheiten über seine Schandtaten zu hören bekommen hätte.
In Heidelberg, »der Metropole der deutschen Kalvinisten* wußte er den
Pfälzer zu überraschen und eine, wenn auch höfliche, so doch kühle Auf¬
nahme zu erzwingen; der Landgraf bewirtete ihn in Vacha; der Branden¬
burger, welcher ihn nicht persönlich empfing, konnte es sich nicht ver¬
sagen, als gewöhnlicher Zuschauer den Einzug des Polenkönigs in Frankfurt
a. 0. sich anzusehen; nur der Kursachse zeigte eine unfreundliche Miene,
über auch er verwehrte, ihm den Durchzug durch sein Gebiet nicht. Die
Beise durch Deutschland war erreicht, aber im Grunde genommen handelt
es sich doch nur um einen moralischen, nicht um einen politischen Erfolg.
Die bequemste Route nach Polen hatte Anjou wählen können; ihn über-
haupt von der Erreichung seines Zieles auszuschließen, lag gar nicht in der
Macht der deutschen Fürsten.
Wie wenig wog dieser moralische Erfolg jedoch neben der unzweideu¬
tigen politischen Niederlage in der deutschen Königswahlfrage! So große
Befürchtungen man auch zeitweise in Wien hegen mochte, in den nach der
Bartholomäusnacht gepflogenen Verhandlungen ist überhaupt nicht mehr
die Rede gewesen von dieser Angelegenheit: durch Sachsens Schwenkung
nach Wien hin wurde die französische Kandidatur von selbst erledigt, und
dem Pfälzer konnte man nicht zu muten, den Mörder seiner französischen
Glaubensgenossen sich selbst zum Oberhaupt zu wählen.
Wenn wir von den Pfälzern absehen, welche wegen ihrer Pläne in den
Niederlanden noch nicht jegliche Fühlung mit der französischen Krone preis¬
geben konnten, so erschöpften sich fortan die gegenseitigen Beziehungen in
Truppenwerbungen und Freundschaftsbeteuerungen von französischer Seite, in
Friedensermahnungen von seiten der deutschen Protestanten. Erst mit Hein¬
richs IV. Regierungsantritt wird Frankreich wieder allianzfähig, erst seitdem
wird die Verbindung wieder eine regere, aber auch Heinrichs IV. Staats¬
kunst hat, wie der Verf. zum Schluß seiner Untersuchung hervorhebt, die
deutschen Protestanten in ihrer Gesamtheit zu wirklich großzügiger Politik
nicht zusammenzuschließen vermocht.
Halle a. S. Adolf Hasenclever.
Hengeimüller, Freiherr von: Franz Raköczi und sein
Kampf für Ungarns Freiheit 1703—1711. I. Band. Deutsche
Verlagsanstalt, Stuttgart 1913. IX und 241 S.
Der Titel des Werkes charakterisiert die Stellungnahme des Verfassers
zur Geschichte Räköczis, er erklärt von vornherein den Aufstand als einen
25*
376
Literatur.
Kampf Raköczis für Ungarns Freiheit; diese Auffassung bildet ohne nähere
Beweisführung die Voraussetzung für die späteren Erörterungen.
Gewiß verdankt Ungarn dem Rdköcziaufstande seine Selbständigkeit im
Bahmen des habsburgischen Reiches, denn, wenn auch der Aufstand miß»
glückte, mußte sich der Hof doch zu Konzessionen verstehen, die ein Auf¬
geben der früheren zentralistischen Politik involvierten. Das ist ein Haupt¬
grund für die Verehrung, welche der Name Raköczi in Ungarn genießt,
weil mit ihm eine Idee glorifiziert wird. Doch war das nicht das Ziel,
das Raköczi selbst anstrebte und mit dem er sich zufrieden geben wollte. Er
stritt um die völkerrechtliche Freiheit und Unabhängigkeit eines Ungarn oder
wenigstens Siebenbürgen, dessen Fürst er selbst sein wollte 1 ). Ein selbstän¬
diges Siebenbürgen war immer ein wichtiger Faktor für die Freiheit Ungarns,
so wie sie der Adel verstand. Es war der Hort und die Stütze jeder op¬
positionellen Regung und wußte aus inneren Kämpfen diplomatische Ver¬
wicklungen hervorzurufen und so dem Hofe bei Ausführung absolutistischer
Absichten in den Arm zu fallen. Es wäre aber erst nachzuweisen, daß
Räköczi bei seinem Streben nach einem Fürstentum© Siebenbürgen nur die
Absicht hatte, auf diese Weise indirekt Ungarns Freiheit zu schützen. Ich
versage es mir auch darüber zu rechten, ob um 1700 der ursprüngliche
Zweck der Verbindung Ungarns mit Österreich, der Schutz gegen Osten,
schon so weit erfüllt war, daß das Land eine völkerrechtliche Freiheit
überhaupt hätte bewahren können, ob also ein Fürstentum oder Königreich
Räköczis überhaupt Ungarns wirkliche Freiheit bedeutet hätte. Ich möchte
nur feststellen, daß Raköczis Kampf auf ein eigenes Reich abzielte, daß mithin
persönliche Gründe vorhanden waren, die seine Handlungsweise bestimmten,
daß um seine persönlichen Interessen nicht weniger als um die Ungarns
gefochten wurde. Dann ist es aber doch fraglich, ob man Räkdczi ohne
weiteren Nachweis als »uneigennützigen Patrioten* hinstellen und seinen
Aufstand »seinen Kampf für Ungarns Freiheit* nennen kann. Der Titel dee
Werkes bezeichnet nicht das von Raköczi gewollte Endergebnis und charak¬
terisiert die Intentionen Raköczis kaum richtig. So bleibt Manches unver¬
ständlich und kommt die Arbeit nicht zu einer erschöpfenden Klarlegung
der Grundprobleme, ja meist gelingt es ihr nicht, sich über eine Schilderung
der äußeren Begebnisse ohne entsprechende psychologische Fundierung zu
erheben.
Für eine Hauptaufgabe für den Geshichtsschreiber des Raköcziauf-
standes halte ich es zu zeigen, wie die persönlichen Absichten R&köczis die
übrigen Strömungen für sich zu gewinnen verstanden und sich zunutze
machten. Der Aufstand begann mit einer Bauernrevolte. Bauernunruhen
haben aber selten staatsrechtliche Ziele, sie richten sich meist gegen Be¬
drückungen und Willkürlichkeiten der Grundherren, der Beamten und des
Militärs, so wie gegen die Unterdrückung des Glaubens und der Gewissens¬
freiheit. In Ungarn trafen alle diese Momente zusammen und führten den
Aufstand herbei, an dessen Spitze sich Räköczi stellte, um ihm so eine ganz
andere politische Richtung zu geben. Ein weiterer Faktor war der Adel,
v. H. schildert uns anschaulich, wie oft rein persönliche Kränkungen am
*) Vgl. p. 217, wo v. H. selbst sagt, daß Räköczi vom Anfang an die Ver¬
bindung Ungarns mit Österreich lösen wollte.
Literatur.
377
Hofe die Adeligen ihr nationalmagyarisches Herz entdecken ließen. Der
Adel mochte wohl anch bei der Schilderhebung Raköczis die Morgenröte
«iner Adelsrepublik geahnt haben l ), er verfocht von Anfang an seine staats¬
rechtlichen Ziele, und deshalb gingen auch schließlich seine Interessen und die
KAköczis auseinander, denn jener konnte auch mit einem habsburgischen
Ungarn zufrieden sein, das administrativ selbständig, d. h. in Bezug auf
die innere Verwaltung einem steuerfreien Adel überantwortet war. Wie
nun diese drei Elemente, der Fürst, der Adel und die Bauern mit ihren
verschiedenen Zwecken und Intentionen sich zusammenfanden, scheinbar zu
einer einheitlichen Masse verwuchsen, ohne daß sie wirklich eins wurden,
schließlich sich auch wieder trennten, das klarzulegen, schiene mir die reiz¬
vollste und wichtigste Aufgabe einer Darstellung des Raköcziaufstardes.
Aber eben in diesem Punkte versagt v. H.s Buch, das trotz mancher guter
Anläufe nirgends bis auf den Grund kommt, weil es von einer schiefen
oder zum mindesten unbewiesenen Voraussetzung ausgeht und auf ein tie¬
feres Eindringen in die Zusammenhänge verzichtet.
Wenden wir uns nach diesen mehr prinzipiellen Auseinandersetzungen
dem Buche zu, so müssen wir zugeben, daß im übrigen v. H. seine Auf¬
gabe nicht schlecht gelöst hat. Er schreibt für einen großen Leserkreis
und gibt daher am Anfang eine Übersicht über die ungarische Geschichte
des 16. und 17. Jahrhunderts, die, wenn auch nicht einwandfrei, ganz gut
ist, vor allem aber ein deutliches Streben nach Unparteilichkeit zeigt *).
Freilich als Einleitung für eine Geschichte des Räköcziaufstandes holt sie
zu weit aus, während sie für die Zeit etwa nach 1687 sehr dürftig ist,
kaum Unbekanntes bringt und jedenfalls nicht die notwendige Grundlage
für das Verständnis des Zuständlichen, der daraus resultierenden späteren
Ereignisse und somit des ganzen Aufstandes schafft.
Recht gut gelungen ist aber m. E. die Darstellung der äußeren Er¬
eignisse des Aufstandes, v. H. hat die diplomatischen Verhandlungen tref¬
fend geschildert und besonders die kriegerischen Ereignisse anschaulich ge¬
zeichnet. Wenn auch große Schlachten geschlagen wurden, so handelte es
sich doch meist um einen Guerillakrieg. Wir sehen die aufreibende Wir¬
kung dieser Kriegsführung für die kaiserlichen Heere, den Wechsel des
Kriegsglücks, die Nutzlosigkeit selbst siegreicher Vorstöße der kaiserlichen
Armeen, die wohl ein Kuruzzenheer besiegen und zersprengen, nicht aber
den Gegner unterdrücken und niederhalten konnten, weil hinter ihnen die
Wogen des Aufstandes immer wieder zusammenschlugen.
Weiters noch eine Bemerkung über die Anmerkungen und den wissen¬
schaftlichen Apparat. Der ist nämlich vollständig mißglückt. Unwichtige
Stellen werden mit langen Zitaten belegt, andere bedeutsame bleiben ganz
unbelegt. Die Büchertitel und Aichivsignaturen sind vielfach ganz unge¬
nügend. Ferner wäre es besonders notwendig gewesen, daß der Verf. sich
i) Vgl. z. B. p. 152 die Kl ige Forgäch’s.
*) Freilich finden eich auch bei v. H. Bemerkungen, wie die p. 166: »die
Zollgrenze zwischen den beiden Ländern, die Ausfuhrzölle auf ungarische Produkte
und die den österreichischen Produzenten und Händlern gewährten Privilegien und
Ausnahmen hatten die Bereicherung der einen Seite auf* Kosten der anderen zum
Ziele«, welche von Mangel an Kenntnis der ungarischen Handels- und Zollge-
schichte zeigt.
378
Literatur.
mit Bäkdezis Memoiren als einer der wichtigsten Quellen auseinandergeaetzt,
ihre Zuverlässigkeit im einzelnen Falle geprüft hätte, um so mit den zahl¬
reichen schiefen Urteilen und direkten Unrichtigkeiten, die auf diese Werke
zurückgehen, aufzuräumen. Statt dessen basiert v. H. vielfach seine Dar¬
stellung in wenig kritischer Weise auf diese von Bäkdezi nachträglich ge¬
machten Aufzeichnungen, die aber keineswegs gerade für die Beurteilung
der wahren Absichten Bäkdezis als Quelle dienen können, da sie viel zu
wenig aufrichtig sind und in hohem Maße den Charakter einer Verteidi¬
gungsschrift tragen.
v. H. hat für die in Ungarn gelegenen Orte fast ausschließlich die
ungarischen Benennungen gewählt; dadurch wird der Schauplatz der Bege¬
benheiten für das deutsche Publikum förmlich in ein Nirgendland versetzt,
da die Deutschen wohl ein Preßburg, aber nicht ein Pozsony, ein Gro߬
wardein, aber nicht ein Nagyvärad, ein Tymau, aber kein Nagyszombat etc.
kennen, gerade so wie sie von Mailand, Venedig etc. sprechen. Gar verwirrend
wird die Situation aber dann, wenn v. H. die ungarische Schreibweise der
Ortsnamen verfehlt. Ödenburg heißt nach dem amtlichen ungarischen Orts¬
namenverzeichnis von 1913 S. 1131 und von 1902 S. 1263 Sopron, v. H.
schreibt dagegen Soprony (z. B. S. 43, 113, 136 1 ), Soprony aber ist nach
dem obigen Verzeichnis eine Ortschaft (nicht eigene Gemeinde) im Bekescher
Komitat. An einer Stelle spricht v. H. von der Belagerung von Lipo-
tvär (S. 158), später von dem Zuge Heisters zum Entsätze von Leopoldstadt.
Ich fürchte nur, daß ein solcher Wechsel der Bezeichnung bei manchem
Leser den Eindruck erwecken wird, als handle es sich um zwei verschie¬
dene Orte.
Infolge der eben besprochenen Schwächen kann dem Buche ein beson¬
derer wissenschaftlicher Wert kaum beigemessen werden, doch wird das
deutsche Leserpublikum von ihm nicht ohne Belehrung scheiden und wenn
wir auch in dem Werke nicht eine abschließende, wissenschaftlichen An¬
sprüchen genügende Geschichte Bäkdezis und seines Aufstandes erblicken,
so können wir es doch als eine dankenswerte Bereicherung unseres Wissens
bezeichnen, die gewiß viel guten Willen hat, eine unparteiische Darstellung
zu geben. Daß wir oben unsere Bedenken breiter auseinandergesetzt haben,
hat auch darin seinen Grund, weil dem Verf. in dem noch zu erwartenden
2. Bande Gelegenheit geboten sein wird, manches noch nachzuholen und
zu klären.
Wien. Theodor Mayer.
Julius Szekfü, A szämüzött Räkdczi (Der verbannte
Räköczi). Budapest 1913. 8° VIII u. 418.
Im Jahre 1906 wurden die irdischen Überreste Bäkdezis, des letzten
giebenbürgischen Fürsten und Freiheitshelden, auf heimatlichen Boden zu¬
rückgebracht. In den jahrhundertlangen Kämpfen, welche die Stände Un¬
garns unter der Führung der Fürsten von Siebenbürgen für die Freiheit
der Stände und der Beligion und für das Ungartum gegen die Politik der
*) p. 211 schreibt er richtig Sopron.
Literatur.
379
Dynastie der Habsburger führten, war Raköczis Aufstand der letzte. Im
Bahmen der großartigen Bestattungszeremonien, die einen so gewaltigen
Eindruck machten, legte der König, der Nachkomme der Gegner des Fürsten,
den Ölzweig der Versöhnung auf dessen Grab. Der Raköczikultus der
Ungarn wurde dadurch nur noch erhöht.
Es ist nicht leicht, den Inhalt und die Bedeutung dieses Kultus für
Nichtungam zu erklären. Wir finden in der Geschichte anderer Nationen
schwerlich Gestalten, die das Nationalgefühl mit einem solchen Nimbus um¬
geben hat wie die der ungarischen Geschichte. Die eigenartige politische
Lage Ungarns zur Zeit der Eroberung durch die Türken produzierte diese
Rationalhelden. Dem größten Teil des ungarischen Volkes blieb die Politik
der österreichischen Dynastie mit ihrem Streben, die Macht der Stände zu
brechen, Ungarn, als eine untergeordnete Provinz, durch die Wiener Zentral¬
stellen zu verwalten, den Katholizismus allein herrschend zu machen, teils
fremd, teils verhaßt. Die antidynastischen und antideutschen Strömungen,
die infolgedessen entstanden, fanden immer in dem unter türkischem Pro¬
tektorat stehenden Fürstentum Siebenbürgen, in welchem sich das unab¬
hängige staatliche Leben Ungarns fortsetzte, ihre Unterstützung und Führung.
So entstand eine Beihe von Nationalhelden in den siebenbürgischen Fürsten,
die für die Freiheit der Religion und gegen die Beeinträchtigung der stän¬
dischen Rechte, der Verfassung und des Ungartums kämpften und dabei ihr
Land vor einer Eroberung durch die Türken mit kluger Politik zu schützen
wußten. Die Reihe der Bocskay, Bethlen, Rdköczis beschließt Franz
Raköezi II. Ihn, den Helden, den Führer der Kurutzen, hebt die natio¬
nale Vereinung weit über seine Vorgänger. Raköezi wurde nicht nur
deshalb zum Nationalhelden, weil er gegen die fremde Unterdrückung und
für die Freiheit kämpfte; dies taten auch seine Vorgänger auf dem Throne
Siebenbürgens — und mit größerem und dauernderem Erfolg. Daß er
trotzdem in den Augen der Ungarn höher steht als die früher Erwähnten,
ist hauptsächlich seinen persönlichen Eigenschaften, seinem tragischen
Schicksal und nicht zuletzt der sich mit ihm beschäftigenden Geschichts¬
literatur zuzuschreiben. Raköezi hätte Gelegenheit gehabt, nach der Unter¬
drückung seines Aufstandes, die ihm vom Kaiser Josef I. angebotene Ver¬
söhnung anzunehmen, nach Ungarn zurückzukehren, durch die Übernahme
seiner gewaltigen Besitzungen der reichste Grundbesitzer Ungarns, der Erste
nach dem König zu werden; er verzichtete jedoch nicht auf die Möglichkeit
eines weiteren Kampfes, verließ seine Heimat und lebte Jahrzehnte hindurch
unter seelischen und materiellen Entbehrungen, ohne die Hoffnung aufzu¬
geben, sein Ziel dennoch zu erreichen. — Phantasie und Dichtung der
ungarischen Nation umgaben die, wie aus allen Quellen ersichtlich ist,
äußerst sympathische Persönlichkeit des Fürsten mit einem Nimbus, der nahe
an Abgötterei grenzte. Au<h die Geschichtsschreiber schilderten ihn nur
als einen Menschen, der Schweres fürs Vaterland zu leiden gehabt und doch
immer nur an dessen Befreiing gedacht hatte. Die Geschichtsschreibung
stellte sich, was Raköezi betrifft in den Dienst der Dichtung, aber auch
der Politik. Raköczis unabhängiges Ungarn, sein Ideal, wurde auch das
Ideal einer politischen Partei. So wurde der Fürst nicht nur als Kämpfer
zu einem Freiheitshelden, sondern auch als Mensch zu einem Halbgott er¬
hoben.
380
Literatur.
Nun kommt ein junger, ungarischer Historiker, Julius Szekfü, der
behauptet, daß Raköczi große Fehler gehabt hätte, wie andere Sterbliche
auch. Er beleuchtet den Charakter des Helden, versucht in die ver¬
borgensten Winkel seines Seelenlebens einzudringen und so die Triebfeder
seiner Handlungen zu erkennen. Sein Buch ist eine natürliche Reaktion
auf die vorhergehende, verherrlichende Raköczi-Literatur, wie dies bereits
von einem scharfsinnigen ungarischen Historiker bemerkt wurde. — Kritische
Geschichtsschreibung und zu nationaler Überlieferung gewordene Dichtung
gerieten nun in heftigen Kampf. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich
gegen den Verfasser und sein Werk. Politik und Wissenschaft bekämpften
sich gegenseitig und das Ergebnis ist, daß Raköczi dem unbefangenen Hi¬
storiker heute nicht mehr als ein Halbgott, sondern als eine historische
Persönlichkeit erscheint, »die auch in der neuen, etwas kühlen Darstellung
dem Herzen der Ungarn nahe, ja vielleicht näher steht, als in den bis¬
herigen von schwärmerischer Begeisterung eingegebenen Werken* 1 ).
Es ist gewiß nur eine Frage der Zeit und Raköczi wird auch in
den Augen der Menge seinen Nimbus als Halbgott einbüßen und als
Mensch und Held gewürdigt werden, wie ihn Szekfü darstellt. Meine
Absicht ist es, Raköczi so zu schildern, wie er auf Grund des Bucheä von
Szekfü vor uns steht und besonders jene Momente hervorzuheben und
kritisch zu beleuchten, welche den Sturm der Entrüstung entfachten. —
Der deutsche Leser wird auch daraus entnehmen können, wie die Geschichts¬
schreibung einer kleinen Nation jene Entwicklung der Kritik durchmacht,
welche die großen Nationen bereits hinter sich haben. Wenn der Leser die
Geschichte Ungarns kennt und dessen Freund ist, so wird er diesen Rei¬
nigungsprozeß nicht furchten, sondern als dessen erfreulichen Fortgang
Szekfüs Buch sympatisch begrüßen.
Das Buch beschreibt eigentlich nur die letzten zwanzig Lebensjahre
Raköczis. 1715 —1735, beginnt also nicht einmal mit der Unterdrückung
seines Aufstandes, welcher durch den Frieden von Szatmar 1711 beendet wurde.
Ungerechter Weise wurde Szekfü vorgeworfen, daß er eben diesen Abschnit aus
Raköczis Leben in einer neuen Darstellung brachte, auf Grund deren man nicht
die günstigsten Eindrücke von der Persönlichkeit des Helden gewinnen könne.
Mit demselben Rechte könnte man einem Maler vorwerfen, daß er auf einem
Gemälde nicht den lieblichen Frühling, sondern den traurigen Herbst dar¬
gestellt habe. Szekfü wählte, wie er selber im Vorwort ausführt, diesen
Abschnitt aus dem Leben des Fürsten, weil er »auch ein vom rein mensch¬
lichen Standpunkt aus betrachtet, interessantes psychologisches Moment ent¬
hält: welche Wirkung hatte die Verbannung und ihre ständige Gefährtin,
die Einsamkeit, die moralische und politische Isolierung, die materielle Un¬
gewißheit auf den in der Fremde umherirrenden Fürsten*?
Das zweite Problem, welches Szekfü beschäftigte, war, »die politischen
Bestrebungen des Verbannten in den Rahmen der damaligen europäischen
diplomatischen Bewegungen zu stellen*.
Diese beiden Probleme gaben Szekfü die Anregung zu seinem Werk,
welches einerseits die Schilderung des seelischen Lebens Raköczis und der
J ) Erklärung der ungarischen Akademie der Wissenschaften, die sich an¬
gesichts der heftigen Angriffe, welche wegen dieser ihrer Edition gegen sie ge¬
richtet wurden, Stellung zu nehmen gezwungen sah: Pester Lloyd, 31. März 1914.
Literatur.
381
Triebfeder seiner Handlungen enthält, andererseits die Darstellung seiner
politischen Pläne und Aktionen, die man ohne das Vorige nicht verstehen
kann. Um das Seelenleben Räköczis besser charakterisieren zu können, ist
Szekfli öfter gezwungen, Begebenheiten aus den früheren Lebenstagen des
Pürsten herauszugreifen und mit der einen oder anderen Episode seine Be¬
hauptungen zu unterstützen.
Ludwig XIV. empfing Raköczi mit den größten Ehrenbezeugungen auf
französischem Boden. Der verbannte Fürst verdiente das auch vollkommen,
da er ein Opfer der Politik des Sonnenkönigs war, weil er auf dessen Hilfe
vertrauend, die habsburgische Dynastie auf der Ständeversammlung von
Önod entthronte. Der Sieg des Kaisers und der darauffolgende Friedens¬
schluß mit Frankreich erlaubten nicht, daß Raköczi am französischen Hofe,
wie der heimatlose bayrische Kurfürst und der Titularkönig von England,
als Fürst auftrete. Raköczi erleichterte selber die Lage dadurch daß er
inkognito blieb und den Titel Comte de Charoche (nach dem Komitate
San» in Ungarn) annahm. Seine Bekannten und Freunde zählten ihn zu
jener Partei des Hofes, welche nach dem Tode Ludwigs XIV. der »alte
Hof* genannt wurde und der keinen politischen Einfluß mehr hatte. Szekfü
schildert meisterhaft die Stellung Räköczis am Hofe von Versailles, dessen
dekadente Sitten, übertriebene Etiquette und Intriguen in großem Gegensatz
zu der Geradheit von Räköczis Charakter, zu seiner Bildung und den
Sitten seiner ungarischen Begleiter standen.
Für seine materiellen Bedürfnisse sorgte Ludwig XIV. in augenscheinlich
fürstlicher Weise. Er wies ihm eine Pension von 24.000 Livres an, welche
Summe später noch um 10.000 L. vermehrt wurde, und 200.000 L. aus
den Einkünften des Hötel de la Ville. Die traurige Lage der Finanzen
Frankreichs, welche infolge der langen, verlustreichen Kriege und der Ver¬
schwendungssucht des Hofes während der letzten Periode der Herrschaft
Ludwig XIV. gänzlich zerrüttet wurden, ist bekannt. Raköczi wurde daher,
ebenso wie vielen anderen, die Pension nicht mehr ausbezaklt, obwohl er
das Geld zur Haltung eines entsprechenden Hofstaates sehr dringend be¬
nötigt hätte. Unter solchen Umständen ließ er — wahrscheinlich dem
Rate eines seiner französischen adeligen Freunde folgend — in seinem
Pariser Haus einen Spielsaal einrichten, welcher nach dem Haus »Hötel de
la Transsylvanie* benannt wurde. »Er soll auf diese Weise jährlich 40.000 Livres
Einkommen gehabt haben*. Die Polizei machte dem Leiter dieser Unter¬
nehmung, dem Abbe Brenner, öfter Schwierigkeiten, aber Räköczis Leute
konnten durch ihre Verbindungen bei Hof immer wieder die Nachsicht der
Polizeistrafen erwirken. Von persönlichen Schritten Räköczis in dieser An¬
gelegenheit erfahren wir aus den Akten über den Verkehr seiner Agenten
mit der Polizei nichts.
All das übte auf der Fürsten eine niederdrückende Wirkung aus.
»Um einen Hofstaat halten zu können, war er gezwungen, durch eine Spiel¬
hölle Geld zu erwerben, obvohl er wußte, daß dadurch mehr als eine
Existenz zu Grunde gerichtet werde*. (S. 33). Dieser Umstand und seine bereits
erwähnte Stellung bei Hof bewogen ihn, sich zu den Kamaldulenser-Brüdern
von Grosbois zurückzuziehen und den Hof nur selten aufzusuchen. Hier
begann er, nach dem Muster des hl. Augustin, Konfessionen zu schreiben,
welche einen tiefen Einblick in sein Seelenleben ermöglichen und ohne
382
Literatur.
welche Szekfü dasselbe so zutreffend zu charakterisieren nicht im Stande
gewesen wäre. Hier wurde jene wahre und tiefe Religiosität geweckt,
welche sein weiteres Leben ganz erfüllt und während seiner langen Ver¬
bannung, in der Zeit der Mißerfolge und Demütigungen, seine Seele aufrecht
erhielt und ihm Beruhigung gab.
Hier war es auch, wo ihn die Nachricht vom Tode Ludwigs XIV. er¬
reichte. Szekfü hebt treffend hervor, daß der absolute Herrscher, der Sonnen¬
könig, welcher die letzten Spuren der Widerspänstigkeit der Stände ver¬
nichtete, persönlich mit Raköczi nicht sympathisieren konnte, da jener in
seinen Augen doch nur ein Frondeur war. Um so größer, »ja unbeschränkt
war die Herrschaft Ludwigs XIV. über die Seele Raköczis*. »Der Fürst
erduldete Armut, Verbannung für den König und als er endlich den Ur¬
heber seines traurigen Schicksals persönlich kennen lernte, war er von
dessen Ritterlichkeit und eindrucksvollem Äußeren geradezu fasziniert. — Zn
den wenigen Menschen, welche den Tod Ludwigs XIV. wirklich betrauerten,
gehörte — welche Ironie des Schicksals! — in erster Linie Baköczi*.
Mit dem Tode des Sonnenkönigs änderte sich seine politische Lage.
Seine besten Freunde, die Herzoge von Maine und Toulouse, Tesse, Torcy,
gehörten zu den Gegnern des Herzogs von Orleans, dem es gelungen war,
die Macht an sich zu reißen. Mit der neuen Regentschaft nahm auch die
äußere Politik eine andere Richtung: Frankreich trat in freundschaftlichere
Beziehungen zu seinen alten Feinden, den Habsburgern und England. Das
Ansehen des Kaisers wurde in Folge des spanischen Erbfolgekrieges gehoben.
»Karl VL setzte sein Leben, wie ein Freiheitsheld mit jugendlicher Be¬
geisterung in den Reihen seiner Katalonen gegen den französischen Präten¬
denten kämpfend, aufs Spiel und wachte, als er nun den Thron bestieg,
mit der von seinen Ahnen ererbten Hartnäckigkeit, aber auch mit einer
aus seinen Erlebnissen geschöpften Lebhaftigkeit über die unversehrte Auf¬
rechterhaltung seiner Autorität* (S. 42). Zwischen dem Kaiser und den Türken
brach wegen Venedig im Jahre 1716 neuerdings ein Krieg aus. Raköczi
schickte einen Bevollmächtigten nach Konstantinopel, um den Krieg für
seine Zwecke auszunützen. Der kaiserliche Botschafter in Paris verlangte
hierauf, im Interesse des Friedens und des guten Verhältnisses zu den
Habsburgern, die Ausweisung Raköczis. Dies konnte der Regent doch nicht
tun, erklärte aber, daß der Fürst nur als einfacher Privatmann in Frank¬
reich auftreten dürfe und daß seine Schritte strenge kontrolliert würden.
Raköczi sah ein, daß er dem Bündnis mit dem Kaiser geradeso geopfert
wurde, wie Jakob Stuart dem Bündnis mit England. Er verdoppelte seine
Tätigkeit an dem den Kaiser feindlich gesinnten Höfen. Der Türkenkrieg
brachte die Gelegenheit, die er suchte, um sein Ziel zu erreichen, »Ungarn
auf denselben politischen Standpunkt zurückzuführen, den es fünfzig o ler
hundert Jahre vorher eingenommen hatte* (S. 48).
Im zweiten Kapitel seines Buches erörtert Szekfü, weshalb Raköczi nach
der Türkei reiste, »als in der verlassenen Heimat das Leben nach dem
großen Sturme in friedlicher Ruhe und unter kleinlichen Sorgen dahinging,
als sich schon jedermann ins Unabänderliche ergab, als die Kurutzen statt
des Säbels die Sense zur Hand nahmen, die sie eben schleifen wollten, um
ihre Häuser und Familien vor den Tartarenhorden zu schützen, welche die
Türken ihnen auf den Halsschickten*.
Literatur.
383
Die Haupttriebfeder der weiteren Handlungen Raköczis sieht Szekfü
in dessen brennendem Verlangen, das Fürstentum von Siebenbürgen zu er¬
ringen. Auch von den konföderierten Ständen Ungarns wurde er zum
Fürsten gewählt. Diese Würde galt aber Raköczi nicht so viel wie der
Besitz des Thrones seiner Ahnen. Die Sehnsucht danach erfüllte seine Seele
gänzlich und je unerfreulicher sich die Verhältnisse gestalteten, desto mehr
Kraft und Trost zur Ertragung allen Elends und Kummers gab ihm die
Hoffnung, daß er sein Ziel dennoch erreichen werde. Infolge der tiefen
Religiosität, die sich während der Verbannung in seiner Seele entwickelte,
war sein Fürsteneid von der größten Bedeutung für ihn. In seinem
Innern war er fest davon überzeugt, daß es eine heilige Pflicht sei, um
sein Fürstentum Siebenbürgen zu kämpfen.
Raköczi fühlte sich ganz als Souverain. Er hatte sich dazu entwickelt
unter dem Einfluß des französischen Hofes. Nach seiner Auffassung ist die
Würde eines Fürsten göttlichen Ursprungs, sie ist der erhabenste Beruf aut
Gottes Erde. Er mußte sich daher dorthin wenden, wo auch nur die
kleinste Aussicht auf eine Erreichung seines Zieles vorhanden war und dazu
erschien ihm jetzt der Türkenkrieg als das geeignetste Mittel.
Als Raköczi sich in die Türkei begab, hatten bereits einige seiner An¬
hänger, die sich in Polen auf hi eiten, einen erfolglosen Versuch zur Er¬
oberung des Fürstentums gemacht. Es waren dies ehemalige Kurutzen-
führer. Bercsönyi wollte mit türkischem Geld eine Armee organisieren,
welcher Plan jedoch mißlang. Eszterhäzy fiel an der Spitze eines Tartaren-
heeres in das Land ein, verwüstete einige Komitate, aber das Volk erhob
sich gegen ihn und vernichtete seine Horden. »Bercsenyi und seine Ge¬
fährten verfielen in den typischen Fehler aller Emigranten, als sie glaubten,
daß Ungarn sich auch jetzt auf ihre Seite stellen werde. Durch die vier-
bis fünfjährige Verbannung in Polen blieb ihre seelische Entwicklung auf
demselben Punkt wie vor dem Frieden von Szatmar: sie gewahrten nicht,
daß die von Palffy angebotene Versöhnung die Kurutzen vor einer end-
giltigen Verlotterung schützte*. Der Gegensatz zwischen den Emigranten
und den Ungarn, die zur friedlichen Arbeit zurück kehrten, wurde immer
größer. »Durch den Friedensschluß von Szatmar wurden die Emigranten
verdrängt und ihr Versuch, den Lauf des nationalen Lebens zu hemmen,
endete kläglich*. »Raköczis Namen übte auf die Ungarn keine besondere
Wirkung aus. Das offizielle Ungarn ging ruhig den Weg, welchen ihm
der Friedensschluß vorgezeichnet hatte und das arme Volk der mthenischen
und wallachischen Bauern, erhob sich wie ein Mann, um sich gegen die
Waffenbrüder der die Freiheit verheißenden Kurutzen, die Tataren, zu
schützen* (S. 8 S ).
Als Räköczi in der Türkei anlangte, war der Kampf schon durch den
Sieg des Prinzen Eugen bei Belgrad entschieden. Aber Raköczi setze sein
Vertrauen nicht nur in die Türken, sondern hoffte auch auf Spaniens Bei¬
stand. Außerdem erschien ihm die europäische Lage überhaupt günstig für
seine Zwecke. Szekfü schildert sehr lebendig die diplomatischen Verhält¬
nisse, das Bestreben Alberonis und seine Pläne betreffs der nördlichen
Mächte, das Zustandekommen eines Bündnisses zwischen England, Frankreich,
Holland und dem Kaiser. Alberoni wollte Raköczi ebenso ausnützen, wie
seinerzeit Ludwig XIV. es tat. Er schickte zwar einen Agenten nach
384
Literatur.
Adrianopel, wo sich der Großvezier und Räköczi aufhielten, ohne ihn jedoch
zu ermächtigen, mit der Pforte ein Bündnis zu schließen. Der Empfang des
Gesandten durch Bäkdezi gibt Szekfü Gelegenheit, eine Schwäche des Fürsten
— seine Eitelkeit — zu charakterisieren. Er hielt einen sehr zeremonien¬
reichen Hof in Adrianopel, dessen strenge Etiquette seinen Verkehr mit
Fremden, besonders mit dem französischen Botschafter, nur erschwerte und
seine treuesten Anhänger unnötiger Weise von ihm femhielt
Raköczi ermutigte die Türken zu weiterem Kampfj da er die Hoffnung
hegte, ein Bündnis mit Spanien zu erzielen; ja er ging sogar so weit, dem
Großvezier zu versichern, daß es ihm ein leichtes sei, das Bündnis mit
Spanien zustande zu bringen. Seine Stellung den Türken gegenüber war
eigenartig. Als Fürst wollte er nur nach Abschluß eines Bundesvertrages
gegen Ungarn ziehen, und zwar nur an der Spitze eines ungarischen Heeres,
das er mit türkischem Geld zu werben hoffte. Der Großvezier wollte ihm
eine tatarische Armee unterstellen. » Seine religiösen Ansichten erlaubten
ihm jedoch nicht, dieses Anerbieten anzunehmen. Andererseits aber er¬
kannte er nicht, daß die Pforte seinem Wunsch niemals nachkommen würde*.
» Diese Verhandlungen gewähren uns einen peinlichen Einblick in das mo¬
ralische Elend der Thronprätendenz. Der land- und heimatlose Fürst, den
das Schicksal aller Trümpfe beraubte, wollte um jeden Preis am Spiele der
Mächtigen dieser Welt teilnehmen, die über siegreiche Heere, neue Flotten,
geordnete Finanzen verfügen konnten* (S. 158). Die Pforte schloß aber hinter
dem Rücken des Fürsten den Frieden von Passarovitz. Auch Alberoni, dem als
Kardinal der römischen Kirche seine Verbindungen mit der Pforte zum
Vorwurf gemacht wurden, verleugnete den Fürsten, rief seinen Agenten
einfach zurück und dieser verließ Raköczi ohne diplomatische Formalitäten.
Durch den Frieden von Passarovitz wurde die Lage Raköczis völlig
verändert: er wurde zum Schützling des Sultans. Der Weg zur Flucht
wäre ihm noch offen gestanden, aber sein religiöses Gefühl und die Sorge
um seine Gefährten in der Verbannung, hinderten den Fürsten daran, ihn
einzuschla-’en. ln der Hoffnung auf eine glänzende Zukunft ertrug er
demütig alle Schicksalsschläge, so die ablehnende Antwort der französischen
Regierung, die er um die Erlaubnis zur Rückkehr nach Frankreich ersucht
hatte. Daß er sich auch jetzt noch als Souverain fühlte, erhellt daraus,
daß er mit der Pforte noch immer einen Vertrag abschließen wollte. Der
französische Botschafter, der den Seelenzustand des Fürsten nicht verstehen
konnte, sagte ihm auch, er möge seine Prätensionen mäßigen und beschul¬
digte ihn eines Hochmuts, der zu seiner Lage nicht paßte. Der Fürst ant¬
wortete ihm, die Ausführung seiner Pläne interessiere ganz Europa. Raköczi
verfiel auch in den größten Fehler der Emigranten: er machte sich lächerlich.
»Die Machthaber der Erde gingen achtlos an ihm vorbei, nachdem es sich
herausgestellt hatte, daß er für ihre Interessen nicht mehr brauchbar sei
und sich trotzdem so gebärdete als wenn er ihnen gleichgestellt wäre* (S. 178).
Der Großvezier erzählte lächelnd dem französischen Botschafter, daß Raköczi
■eine jährliche Pension von 2 Vü Millionen Piaster verlange.
Als der französische Botschafter, bei einem Versuche Raköczis, nach
Frankreich zurückzukehren, ihm den Text der Quadruple Alliance mitteilte
und der unglückliche Fürst auch das Mißlingen der italienischen Expedition
Alberonis erfahr, da schwand auch seine letzte Hoffnung auf eine Heimkehr.
Literatur.
385
Diese Krise ging aber rasch vorüber ohne danernde Spuren in Baköczis
Seele zurückgelassen zu haben. Das religiöse Gefühl gewann seit den glück¬
lichen Tagen von Grosbois die unbeschränkte Oberherrschaft in seinem
Empfinden und Denken, wie aus folgendem deutlich hervorgeht: »Er,
Baköczi, müsse sein Land suchen, und wenn er es bis jetzt noch nicht ge¬
funden habe, so werde ihm der Herr, der für seine ersten Diener auf Erden
selbst Sorge trage, gewiß den Weg weisen, der zum Ziele führt*. Eine
Zeit lang blieb Baköczi noch in der Nähe von Konstantinopel und wollte
zunächst die Konstellation ausnützen, bis er 1720 auf Verlangen des kaiser¬
lichen Botschafters nach Bodosto an der Marmarasee gebracht wurde. Sehr
zutreffend charakterisiert Szekfü auf Grund der Briefe Mikes, eines der
Emigranten, die Umgebung des Fürsten, der sich sehr einsam fühlte und
inmitten der strengsten Etiquette, die an seinem Hofe herrschte, ein zurück¬
gezogenes Dasein führte.
Er teilte sein Leben zwischen Beligiosität und diplomatischer Arbeit.
»Er setzte sich immer wieder der beschämenden Ablehnung durch die
Mächte aus, aber sein Schmerz über diese Schmach wurde durch seine Be¬
ligiosität gemildert*. Das religiöse Empfinden verschmolz in seinem Innern
mit der politischen Überzeugung zu einem untrennbaren Ganzen. Er schrieb
Gebete für Gelegenheiten, wie sie im Leben mächtiger Herrscher Vor¬
kommen: Ä la vue du thröne, zum großen Lever, wie er es am Hofe von
Versailles gesehen. Bossuet übte einen großen Einfluß auf ihn aus, doch
mißdeutete Bäköczi seine Anschauungen. In einem längeren Werk: »Traite
de la puissance* leitet der Fürst mit logischer Folgerung aus der Wahl
der Stände sein Becht auf den Thron von Siebenbürgen ab — mit Hinweis
auf Bossuet!
Bäköczis politische Bestrebungen richteten sich in erster Linie auf eine
Bückkehr in christliche Länder. Er verbrachte täglich mehrere Stunden
mit der Abfassung politischer Memoranden, welche oft von einem gänz¬
lichen Verkennen der bestehenden politischen Verhältnisse zeigten. Dieser
Umstand kann uns nicht Wunder nehmen, wenn wir bedenken, wie ver¬
spätet die politischen Nachrichten nach Bodosto gelangten. So wandte sich
Bäköczi z. B. in der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Bodosto an Dubois
mit dem Ersuchen, der Begent möge den Zaren zu einem Angriff auf den
Kaiser bewegen — und der Begent war bereits mit dem Kaiser verbündet l
Dann wollte er durch französische Vermittlung nach Spanien kommen. Mit
der ablehnenden Antwort des französischen Ministers des Äußern erhielt er
gleichzeitig die Nachricht von seinem materiellen Buin. Sein Pariser Agent
Brenner verlor das ganze Vermögen, das der Fürst in Paris besaß, beim
Schwindel von Law. Baköczis alten Freunden gelang es zwar von der
Pariser Begierung eine jährliche Pension für ihn zu erwirken, doch wurde
er materiell fast gänzlich von der türkischen Begierung abhängig. So hatte
er kaum mehr Hoffnung auf Befreiung. »Die Wartezeit steigerte noch seine
Qualen und er verlor immer mehr die Fähigkeit, das Ziel und die Bichtung
seiner Handlungen logisch und aus den Ereignissen folgernd, zu bestimmen.
Seine fortgesetzten Versuche, in ein christliches Land zurückzukehren und
einen europäischen Krieg zu entfachen, können nicht mehr als diplomatische
Schritte angesehen werden* (S. 250 ). In einem Brief schreibt er an einen fran¬
zösischen Freund: »Für mich gibt es keine politische Vernunft, keine Ehre
386
Literatur.
mehr, ich werde allein nach meinem Gewissen handeln und wenn die
traurige Notwendigkeit es verlangt, wird sich auch eine Versöhnung mit
dem Kaiser anbahnen lassen*. »Das Bewußtsein seiner fürstlichen Würde
gestattete ihm nicht, sich ins Privatleben zurückzuziehen und die größte
Freude in seinem traurigen Du sein bereitete ihm der Umstand, daß er in
den diplomatischen Angelegenheiten von Konstantinopel mitsprechen durfte
und noch mehr, daß er in den Verhandlungen der Pforte eine vermittelnde
Bolle spielen konnte*. In der persisch-armenischen Frage kam durch seine
Vermittlung ein Übereinkommen zwischen Bussen und Türken zustande.
Im Interesse der Christen von römischem Bitus überreichte er der Pforte
ein Memorandum. Besonders viele Memoranden schrieb er seit 1724 zur
Orientierung des französischen Botschafters D’Andrezel, der mit der Diplo¬
matie von Konstantinopel nicht vertraut war. Diese Memoranden waren
für Baköczi ohne irgend einen Nutzen. Die feinen Umgangsformen und
die beständigen Ehrenbezeugungen des Franzosen ließen ihn die Wahrheit
vergessen und die Arbeit schuf ihm einen angenehmen Zeitvertreib.
Am traurigsten war für Baköczi, während des Bodostoer Aufenthaltes,
die Anwesenheit der fremden Abenteurer, die sich — wie dies jedem Prä¬
tendenten geschieht — ihm anschlossen. »Die Stellung der Emigranten
ist an und für sich sehr zweifelhaft und so wenig beständig, daß Leute,
denen das Leben viel ernste Arbeit gibt, sich ihnen nicht anschließen
können. Und die Lage fiaköczis war unter allen Emigranten die schlechteste*
{S. 27 s). Die Ungarn, seine letzten Anhänger aus der Heimat, mußten traurig
die Begünstigung der Fremden mit ansehen. Diese Glücksritter wurden vom
Fürsten für ausländische Missionen verwendet: sie waren beauftragt, an
den fremden Höfen diplomatische Schritte zu unternehmen. Sie unterhielten
sich in den fremden Hauptstädten auf Bäköczis Kosten und brachten dessen
ohnehin schwache Finanzen in die größte Verwirrung. Der Fürst mußte
an seinem ärmlichen Hof in Bodosto ersparen, was seine ungetreuen Agenten
in der Fremde vergeudeten. Der erste unter diesen Abenteuerem war
noch von der weniger gefährlichen Gattung, ein Engländer namens Ploutman,
der der Pforte den Vorschlag unterbreitete, auf den Inseln des ägäischen
Meeres durch Baubzüge reich gewordenen Piraten ansiedeln zu lassen und
ein Fürstentum zu gründen. Baköczi ließ sich mit ihm in Verhandlungen
wegen dieses Seeräuberstaates ein. Natürlich wurde aus dem Plan nichts.
Viel verhängnisvoller wurde für den Fürsten ein Ingenieuroffizier
dänischer Herkunft, ein gewisser Paul Bohn, der früher kaiserlicher Offizier
gewesen, und den Baköczi als Sekretär anstellte. Bohns erstes Unternehmen
war, daß er seine Dienste dem kaiserlichen Botschafter in Kon3tantinopel
anbot, der ihn auch wirklich mit einem ständigen Gehalt als Spion in
Bodosto anstellte. Die Botschafter hielten immer eine Vertrauensperson in
Raköczis Nähe, deren Pflicht es war, alle Schritte des Fürsten zu über¬
wachen. Bohn erfüllte diesen Auftrag sehr gewissenhaft und erstattete
über alles, was der Fürst unternahm, genauen Bericht. Am meisten schadete
aber Raköczi ein Franzose namens Vigourox, der das Vertrauen des Fürsten
in unbeschränktem Maße zu gewinnen verstand und während dessen letzter
Lebensjahre die Kolonie von Bodosto gänzlich beherrschte. Er machte lange
Beisen an den europäischen Höfen, um die Kückkehr Bäköczis zu ermög¬
lichen, aber ohne Erfolg. Materiell nützte er den Fürsten auf ganz ge-
Literatur.
3S7
wissenloee Weise ans und verständigte auch den kaiserlichen Botschafter
von dem Verkehr Bakoczis mit dem französischen Botschafter. »Von der
Untreue seiner Vertrauten bat Baköczi nie etwas erfahren, ln politische
und religiöse Träume versunken, bemerkte er nicht, wie wenig der Umgang
mit diesen Menschen seiner würdig war*. Eine ganze Menge Abenteuerer
kamen im Jahre 1727 mit seinem jüngeren Sohne Georg in Bodosto an.
Für die Erziehung der beiden Söhne Bakoczis sorgte der Kaiser, nach¬
dem die Besitzungen des Fürsten durch die Kammer beschlagnahmt worden
waren. Die Söhne Bakoczis wurden am Wiener Hof wie Aristokraten
erzogen. Später erhielten sie vom Kaiser große Besitzungen im fernen
Königreich Neapel. Der jüngere entfloh auf einer Beise nach Italien, fuhr
nach Paris und von dort mit einer zusammengelaufenen Ges ellsch aft nach
Bodosto. Der vergnügungssüchtige, degenerierte Jüngling konnte das ein¬
tönige Leben an dem ärmlichen Hof seines Vaters nicht lange ertragen.
Die Sorgen des Fürsten mehrten sich noch, als sein Sohn nach Frankreich
floh: von dem Gnadengehalt, den er von der Pforte bezog, mußte er nun
auch noch seinen Sohn am Versailler Hof in einer seinem Bange ent¬
sprechenden Weise erhalten. Nach langem Grübeln faßte er einen Plan,
um seine und seines Sohnes Zukunft sicherzustellen.
Die Enttäuschungen der vergangenen Jahre hatten in der Seele des
Fürsten keine Spuren hinterlassen. Sein Ziel war immer dasselbe geblieben:
mit der Hoffnung auf Erfolg den Kampf gegen die Habsburger wieder zu
beginnen. Jetzt aber änderte sich das alles. »Seit 20 Jahren hatte er
Entbehrungen, Demütigungen aller Art zu ertragen, weil er der erbitterte
Feind des mächtigsten Herrschers war und nun erklärte er sich bereit
um seines Sohnes willen vor dem Habsburger das Knie zu beugen, wozu
ihn einst alle Überredungskünste Palflys und Kärolyis nicht hatten bewegen
können*. »Was die Erfahrungen der Jahre nicht zustande zu bringen ver¬
mochten, erwirkte ein gewaltiges menschliches Gefühl: die väterliche Liebe*.
»Der Fürst von Bodosto, dessen Gefühlsleben in dein Formelkram der fran¬
zösischen Etiquette erstarrt zu sein schien, bewies durch diese große In¬
konsequenz, die er aus Liebe zu seinem Kinde beging, daß auch er ein
warm fühlender Mensch war mit einem gütigen Vaterherzen* (S. 29 6).
Er suchte sowohl für sich als auch für seinen Sohn vornehme Fa-
milienverbindungen m der polnischen Aristokratie, zu welcher er während
des Aufstandes Beziehungen angeknüpft hatte. Seine Anträge wurden denn
auch angenommen, aber mit der Bedingung, daß er sich mit dem Kaiser
versöhne. Auf Ersuchen von polnischer Seite bahnten die preußischen und
sächsißch-polnis?hen Höfe den Weg zur Versöhnung in Wien an. Für sich
verlangte Baköczi den Titel eines Fürsten von Siebenbürgen, für seinen
Sohn unter anderem zwei vorderösterreichische Landgrafschaften. Er wollte
nach Polen zurückkehren und falls der Kaiser seine Bedingungen annähme,
ihm seine Huldigung nur brieflich ausdrücken. In der Instruktion für seinen
Bevollmächtigten fugte der Fürst hinzu, wie nutzbringend für den Kaiser die
Versöhnung mit ihm wäre, da er, Baköczi, nicht nur einen außerordentlichen
Einfluß auf die Pforte habe, sondern auch der Frieden im Osten nur von
ihm abhänge, weil Siebenbürgen, Moldau und die Wallachei sich nach der tür¬
kischen Herrschaft zurücksehnten. (Er war also überzeugt, daß die Ver¬
söhnung ebensosehr, wenn nicht mehr, im Interesse des Kaisers läge als in
388
Literatur.
seinem eigenen). Sein größter Feind am Wiener Hof, Prinz Engen, der
aus Konstantinopel über Räköczis diplomatische Schritte fortwährend Mel¬
dungen erhielt, war überzeugt, daß der Versöhnungsversuch nur Heuchelei
sei und lehnte die übertriebenen Ansprüche des Fürsten ab.
»Die schlechten Nachrichten übten auf Raköczi nicht mehr dieselbe
Wirkung aus wie früher. Er konnte ihre Tragweite nicht mehr ermessen
und verfiel in eine eigentümliche Art von Gleichgültigkeit allen Mißerfolgen
gegenüber und wiederholte mit der charakteristischen Hartnäckigkeit des
Emigranten ohne Rücksicht auf Zurückweisungen von neuem die früheren
Versuche. .. In seinen letzten Lebensjahren bietet er uns das traurige Bild
eines politisch Toten. Er merkte nicht, daß sein Ansehen verloren und sein
Einfluß erloschen war und versuchte noch immer hartnäckig das Unerreich¬
bare zu erlangen* (S. 309).
Den letzten Versuch, sein Ziel zu erreichen, machte er, als zwischen
Frankreich und dem Kaiser der Krieg ausbrach, indem er den Plan faßte,
mit Hilfe der Franzosen über Bosnien nach Kroatien einzudringen. Raköczis
Verhandlungen mit der französischen Regierung und seine Verbindungen
mit dem französischen Gesandten verriet Bohn, der die Interessen des Fürsten
in Paris zu vertreten hatte, noch vor seiner Abreise dem kaiserlichen und
dem russischen Botschafter. Bohn wurde in Paris entlarvt, legte, aber
ein so zweideutiges Geständnis über RAköczis Verbindungen mit England
ab, daß der französische Minister des Äußern gegen den Fürsten den Vor¬
wurf erhob, daß er die französischen Interessen verraten habe. Das war
der letzte große Schmerz im Leben des Fürsten. Er starb gebrochen an
Leib und Seele am 7. April 1735.
Die Ergebnisse des Buches sind in einem Schlußwort zusammengefaßt.
»Das Los Raköczis war noch trauriger als das anderer Verbannten, da er
nicht nur von der Heimat getrennt, sondern auch von der Kultur des
Westens und dem Christentum weit entfernt leben mußte. Er hatte keine
Ratgeber, sondern mußte alles aus seiner eigenen Gedankenwelt schöpfen
und seine Seele war noch zu sehr erfüllt von den durch sein Fürstentum
gewonnenen Eindrücken*.
Das Ziel seiner politischen Bestrebungen war, wie wir bereits gehört
haben, die Wiedererrichtung des Fürstentums von Siebenbürgen, das unter
Bethlen und den Räköczis unter türkischem Schutz immer die Verfassung
und die Freiheit Ungarns verteidigt hatte. Nach dem Frieden von Szatmär
trat das unter den Habsburgern vereinigte Ungarn an Stelle des alten
Staatensystems. Die Wünsche, die Raköczi während seiner Verbannung
hegte, richteten sich auf die Neuerstehung der verlorenen Macht. Daher
die Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen, die lange Reihe der Mißerfolge.
Das Leben als Emigrant hat auch eine große Wirkung auf ihn aus
geübt »In Rodosto war er kein Freiheitsheld mehr, sondern ein Prätendent,
der zum Ersatz des endgiltig verlorenen Siebenbürgens mit systemloser
Nervosität auch nach anderen Ländern trachtete*. Für seine Familie war
er eben bereit, seine ganze Vergangenheit zu verleugnen. »Er war ein
Mensch und so blieb ihm auch kein menschliches Gefühl fremd, auch nicht
die Melancholie der Entsagung. Das Leben eines jeden Emigranten ist für
das Gemeinwesen nutzlos. Die Begründung der Verbannung liegt eben
darin, daß die neue Ordnung in der Heimat die Männer der alten Ordnung
Literatur.
389
nicht mehr brauchen kann und daher gezwungen ist, sie zu entfernen. Die
Bestrebungen Baköczis endeten mit einem Fiasko, da in der neuen Ent¬
wicklung des nationalen Lebens kein Platz mehr für das Fürstentum
Siebenbürgen blieb .... All das, was seither fördernd auf das nationale Leben
wirkte, war Bakoczi gänzlich fremd. In den entscheidenden Augenblicken,
als man die Begründung einer neuen Zukunft ins Auge fassen mußte, dachte
niemand an Baköczis längst vergangenes Ideal Die gewaltige Kräftigung
Ungarns im XVIII. Jahrhundert, das gegen das Ende der Regierung
Josefs IL auflodemde Strohfeuer der nationalen Begeisterung; dann bald
darauf die Renaissance des ungarischen Geistes und der Nationalität, die
große Katastrophe und endlich die glückliche Gründung des neuen unga¬
rischen Staates, gingen vor sich, ohne daß ihre Vollzieher, sowohl die Führer
als auch die große Masse, den Namen Baköczis in den Mund genommen hatten € .
»Die Leidenszeit der Verbannung des Fürsten blieb ohne historische
Bedeutung. Sein Lebenslauf ist einer Woge vergleichbar, welche an das
Ufer geschlagen, versiegt, während ihre Gefährten in dem ewigen Strombett
ihrer Bestimmung zueilen*.
So stellt Szekfü das Leben Rököczis in der Verbannung dar, nachdem
er die Quellen *) einer strengen Prüfung unterzogen und eine sorgfältige
Zusammenstellung der einzelnen Daten vorgenommen hatte.
Fünf Monate nach seinem Erscheinen bemächtigte sich die Tagespresse
des Buches. Sie wurde durch eine Besprechung des Pester Lloyd vom
7. März 1914, eines Regierungsorgans, darauf aufmerksam gemacht, welche
das Buch als ein brillant geschriebenes Werk schildert, das den großen
Perspektiven der Zeit ebenso gerecht wird, wie der p >ychologischen Analyse
der Hauptfiguren und das der Nation einen neuen Räköczi schenkte, d. h.
Bakoczi, wie er wirklich war.
Das Lob dieser zufällig halboffiziellen Zeitung, der ungeschickt ge¬
wählte Titel ihres Artikels »Der entgötterte BAköczi*, und eine Polemik
mit Koloman Thaly gaben einen hinreichenden Grund dazu, das Buch zu
einem längere Zeit aktuellen Thema der Tagespolitik und der Tagespre 89 e
ra machen. In einer langen Anmerkung (S. 369—375) greift der Autor
die tendenziöse Geschichtsschreibung weiland Thalys an. Dieser war Poli¬
tiker, Historiker und Dichter, der sich durch die Erforschung und Ver¬
öffentlichung des Quellenmaterials des RAköcziaufstandes große Verdienste
erworben hatte. Er konnte aber seine historiographische Tätigkeit von
seinen politischen Anschauungen nicht streng trennen. »Sein politisches
Ideal war das Ungarn RAköczis und er kämpfte dafür ohne Rücksicht auf
eine Möglichkeit der Verwirklichung*. »In den Akten suchte er nur neue
Belege für den Ruhm des großen Rebellen und den Glanz des Rodostoer
Hofes; über die kritischen Stellen jedoch ging er flüchtig hinweg. All das
Nachteilige, das in den Akten über RAköczis Umgebung enthalten war,
ignorierte Thaly so vollständig, wie wenn es in einer unbekannten Sprache
geschrieben worden wäre*.
Keine objektiven Kritiken, sondern leidenschaftliche Auslassungen er¬
schienen gegen das »unpatriotische Buch* und dessen Autor, Auslassungen,
*) Seine H&uptquellen sind außer den Gedruckten die Korrespondenz D’Andrezel-,^
RAkdcsL, die Korrespondenz Vigouroux’s und die Berichte der kais. Residenten r
Konstantinopel.
Xittailaogon XXXVI.
26
390
Literatur.
welche oft in persönliche Angriffe ansarteten. Die Führung der Hetze
übernahm das Organ derjenigen Partei, welcher Thaly ehemals angehörte 1 ).
Gegen den Autor wurde die Beschuldigung erhoben, daß es der Zweck
Beines Buches sei, den großen Freiheitshelden als einen herabgekommenen
Abenteuerer darzustellen. Zur Geltendmachung dieser Tendenz nehme Herr
Szekfü »der k. k. Historiograph*, alle falschen Dokumente und Wiener
Spionageberichte für authentisch an. Als Beweis für diese und ähnliche
Behauptungen wurden einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Stellen
des Buches, ja sogar einzelne Worte angeführt, ein Verfahren, mit welchem
man auch das Gegenteil leicht beweisen hätte können, nämlich, daß Baköczi
ein Halbgott war. Der gewissenlosen Hetze, welche in den täglichen Ar¬
tikeln geführt wurde, ist es gelungen die Meinung der großen Masse auf
das Entschiedenste zu Ungunsten des Buches zu beeinflussen.
Partei- und Volksversammlungen, Tischgesellschaften und Lesezirkel
verurteilten das Buch — ohne es gelesen zu haben und forderten den
Autor auf, seine Behauptungen zurückzunehmen. Die Universitätsjugend
hielt eine Protestversammlung ab, in welcher Abgeordnete das Buch brand¬
markten. Der Terrorismus ging so weit, daß die Akademie der Wissen¬
schaften, in deren Verlag das Buch erschienen war, in einer Erklärung
feststellte, daß sie den Behauptungen Szekfüs nicht zustimmen könne, ob¬
wohl sie eingestehe, daß: »der große Fürst auch in dieser etwas kühlen
Darstellung unserem Herzen nahesteht, ja vielleicht näher als in den bisher
über ihn erschienenen, von schwärmerischer Begeisterung eingegebenen
Werken* *).
Wenn wir von den lächerlichen Kleinigkeiten schweigen, so waren die
Hauptanklagen — sie wurden von Szekfü in zwei glänzenden Protest¬
schriften widerlegt 8 ) — die man gegen die unpatriotische »Geschichts-
fälschung* erhob, folgende:
Nach Szekfü schöpfte Baköczi zum großen Teil seine Einkünfte aus
der Spielhölle, obgleich, wie er selbst schreibt, Ludwig XIV. reichlich für
seinen Unterhalt sorgte. Der Fürst, so wurde Szekfü entgegnet, wußte
nichts vom Hotel de Transsylvanie. Seine Leute, die die Spielhölle ein-
richteten, mißbrauchten nur sein Vertrauen. Wie bereits bemerkt wurde,
wies Szekfü auf die kritische Lage der Finanzen Frankreichs hin. Baköczi
ward gezwungen, zur Erhaltung seines Hofstaates eine Spielhölle zu er¬
richten. Davon, daß der Fürst von der Existenz dieser Spielhölle nichts
gewußt hätte, kann keine Bede sein, da seine Leute in Angelegenheiten der
Spielhölle des öftem Eingaben an die Minister richteten, denen Baköczi
doch täglich begegnete. Wie hätte seine Umgebung ein derartiges Unter¬
nehmen vor ihm verheimlichen können!? — Die von Szekfü in einer
zweiten Erwiderung mitgeteilten neuen Dokumente lassen keinen Zweifel
mehr an dieser Frage auf kommen 4 ).
*) [Magyarorszäg] 1914 März 7. 18 etc.
*) Pester Lloyd 1914 März 31.
•) Erschienen in »Akademiai Ertesitö« u. ,Törtöneti Szemle« 1914.
4 ) Am meisten charakteristisch ist jene Anklage gegen Szektü, in welcher
eine in dieser Frage benützte Quelle als nicht kompetent bezeichnet wurde. Szektü
benutzte das topographisch-historische Werk eines gewissen Mouton über das »Hdtel
de Transsylvanie« in welchem die amtliche Korrespondenz der Pariser Polizei über
Literatur.
391
Viele Vorwürfe wurden Szekfu auch deshalb gemacht, weil er auch
Ton den Liebeleien des Fürsten Erwähnung tat und dabei auch auf die
Ereignisse der Jahre vor der Verbannung zu sprechen kam. »Nicht ohne
Grund wurde gegen Raköczi die Anklage erhoben, daß er mehr als einmal,
während wichtiger Vorgänge das Land verlief, um seine Lebenslust in
Polen zu befriedigen 4 . »Als der Aufstand schon dem Ende zuging und
die weitzerstreuten Kurutzen keinen Platz mehr hatten, um sich zur Ruhe
zu legen, fahren Raköczi und Bercsönyi unter lustigem Schlittenklang in
Gesellschaft schöner Frauen spazieren 4 . Szekfü fügt aber sofort hinzu: »Die
Empfindlichkeit der Menschen war damals in solchen Dingen nicht so ent¬
wickelt wie heute. Erst durch den Romantizismus des 19. Jahrhunderts
entstand die allgemeine Ansicht, daß Tanz und Unterhaltung zur Zeit der
Schicksalschläge gottlos seien 4 . Wir können noch hinzu fugen, daß Räkoczi
in der reichen vergnügungssüchtigen polnischen Aristokratie umsonst Sym¬
pathie und Unterstützung gesucht hätte, wenn er kopfhängerisch gewesen
wäre. Über die unschuldigen Liebeleien Raköczis am Hofe von Versailles
benützt der Autor nur die Konfessionen des Fürsten selbst, und den Brief¬
wechsel Liselotte’a, der Mutter des Regenten.
Über die Anklagen, welche die Journalisten gegen die Quellen des
Autors erhoben, ist es besser nicht zu reden. Die kaiserlichen Botschafts¬
berichte von Konstantinopel oder Paris kann man nicht im Ernst »Wiener
Spionageberichte 4 nennen. Ebenso braucht man auf den Vortrag Aladar
Ballagis nicht näher einzugehen, da er nur eine Menge von subjektiven
Ansichten und böswilligen Ausstreuungen enthält, ohne sich in die Kritik
der Quellen des Buches einzulassen 1 ). Was an sachlichen Behauptungen darin
enthalten ist, hat schon Szekfu in seiner zweiten Entgegnung widerlegt.
Der durch die Journalisten entfaltete Terrorismus war so groß, daß eine
wissenschaftliche Kritik in den Organen der ungarischen Geschichtsschreibung
über das zweifellos interessanteste Produkt der ungarischen Geschichts¬
schreibung der letzten Jahre bis jetzt nicht erschienen ist. Eine große An¬
zahl ungarischer Historiker protestierte im Namen der Gedanken- und Pre߬
freiheit in einer gemeinsamen Erklärung dagegen, daß dieses Buch zu einer
politischen Hetze mißbraucht werde. Die bedeutendsten und gebildetesten
Historiker (Arpad von Karolyi, Remig v. Bekefi, Karl Tag&nyi, Alexander
Takats, David Angyal etc.) nahmen in Interviews für den Autor gegen die
Anklage der Beschimpfung Raköczis Stellung.
Die einzige längere Kritik mehr wissenschaftlichen Charakters schrieb
eine führende Persönlichkeit des ungarischen politischen Lebens, Graf Julius
Andrässy, der durch ein mehrbändiges Werk auch unter den ungarischen
Verfassungshistorikem einen hervorragenden Rang einnimmt 8 ). Nach der
die Spielbank herausgegeben ist. Nicht nur Journalisten, sondern auch ein Ge¬
lehrter, der heftigste Gegner Szekfüs, behauptete von Mouton, er wäre ein herab-
gekommener Boulevardschriftsteller, der das Buch sicher nur im Interesse eines
günstigen Verkaufes des ,Hötel de Transsylvanie« geschrieben habe. Die Ähn¬
lichkeit von Moutons Namen mit dem Namen eines im Rochette-Prozeß eine Rolle
spielenden Mouthon, gab einen hinreichenden Grund zu einer solchen Behauptung.
Wie aus Szekfüs zweiter Erwiderung hervorgeht, ist Löo Mouton Bibliotheksbe¬
amter und Historiker (et. Hist. Zeitschrift 1914 (Bd. 113) 8. 672), der schon mehrere
Bücher über die Topographie von Paris geschrieben hat.
*) Erschienen in »Akademiai Ertesitö*.
5 ) Magyar Hirlap 1914. Mai 10.
26*
392
Literatur.
Meinung Andrassys bezweckte Baköczis politische Tätigkeit nicht so sehr
die Wiedererlangung des Fürstenthrones von Siebenbürgen, als di* Her¬
stellung der nationalen Freiheit und Unabhängigkeit. Szekfü habe zwei
psychische Beweggründe für die Handlungen Baköczis gefunden: erstens, die
Zähigkeit, mit der Baköczi an dem Plan, die Herrschaft in Siebenbürgen wieder
zu erreichen, festhielt und zweitens das stark ausgeprägte Souveränitätsgefuhl,
für dessen Entwicklung nach Andrassys Meinung die nach polnischem
Muster gebildete Konföderation der ungarischen Stände, an deren Spitze
Bäköczi stand, nicht sonderlich geeignet war. Baköczi schöpfte selbst aus
Bossuet Argumente zur Bechtfertigung der ständischen Auffassung. Szekfü
beschreibe — wieder die Ansicht Andrassys — zwei Baköczis, den Thron¬
prätendenten und den Freiheitshelden und es sei ihm nicht gelungen, diese
beiden Gestalten in eins zu verschmelzen. Bei der Schilderung der diplo¬
matischen Lage stelle er die Aussichten des Fürsten meistens als viel zu
gering dar. Die Anstrengungen Baköczis kämen nur uns lächerlich vor, bei
seinen Zeitgenossen dürfte dies kaum der Fall gewesen sein. Graf Andrassv
verdächtigt durchaus nicht Szekfüs gute Absichten und Objektivität, sondern
nimmt die Meinungsfreiheit in Schutz und empfiehlt dem Autor auch in
Zukunft immer das zu schreiben, was er für wahr befindet.
Szekfü entwarf uns gewiß ein neues Bild des großen Fürsten. Er
stellt Baköczi als Menschen dar und zwar als einen unserer Liebe würdigen
Menschen. Er schildert packend die individuellen Eigenschaften des Fürsten,
seine wahre Frömmigkeit, die Anhänglichkeit an seine Begleiter, sein zu
großes Vertrauen in die Menschen, seine Vaterlandsliebe, aber er ver¬
gißt auch nicht seine Fehler zu erwähnen: die Blindheit seiner Lage gegen¬
über, den Mangel an Menschenkenntnis, die Eitelkeit u. s. w., Fehler, die
wohl zum größten Teil auf das Alter oder die Lage Baköczis zurückzu¬
führen sind. Wenn der Autor auch in der psychologischen Begründung
ein wenig übertreibt und seinen Blick nur in eine Bichtung wendet, so
ist sein Werk doch zweifellos eine schöne Bereicherung der ungarischen
Geschichtschreibung, »welche schon seit langen Jahren kein besseres und
wertvolleres Buch produzierte* x ).
Dazu wird es außer durch die scharfe Quellenkritik hauptsächlich in¬
folge der schönen Komposition und des eleganten Stils, welche das Buch
auch für das große Publikum leicht lesbar machen. Ein gewisser Sarkasmuä
ist allerdings in Szekfüs Ausdrucksweise fühlbar und diesem Umstand dürfte
es wohl in erster Linie zuzuschreiben sein, daß das Buch so heftigen Angriffen
ausgesetzt war. Doch können nur Böswilligkeit und Verblendung behaupten,
daß der Zweck des Buches die Beschimpfung Bäköczis sei. Vom Autor
kann die ungarische Geschichtschreibung sicher noch einige großzügig und
mit scharfer Quellenkritik geschriebene Werke erhoffen, deren sie sehr bedarf.
Das Buch ist eine für Historiker willkommene Erscheinung in der ungarischen
Geschichtschreibung, welche sich schon seit langen Jahren in mehr- oder
minderwertigen Monographien erschöpft, ohne sich mit der Darstellung
größerer Epochen oder der Verbindung der ungarischen und der allge¬
meinen Geschichte allzusehr zu beschäftigen.
Wien. Franz Eckhart.
*) Erklärung A. v. Kärolyi’s.
Notizen.
393
Otto Forst, Ahnenverlust und nationale Gruppen auf*
der Ahnentafel des Erherzogs Franz Ferdinand. Wien,
Halm & Goldmann, 1912, 30 S. 8.
Forst, seit kurzem Forst-Battaglia sich nennend, bietet in diesem auf
dem Gießener Kurs mit Kongreß für Familienforschung, Vererbungs- und
Degenerationslehre gehaltenen Vortrag die allgemeinen Ergebnisse der von
ihm bearbeiteten Ahnentafel des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-
Este. Zunächst verfolgt er ziffernmäßig den Ahnenverlust; dessen Größe
wächst fortlaufend, in der 64er Ahnenreihe fehlt schon mehr als die Hälfte
der theoretischen Ahnenzahl, zu den aus den früheren Generationen er¬
klärlichen Ahnenverlusten kommen weitere. Der deutsche Blutanteil hält
sich konstant, sinkt nicht unter 50 °/ 0 . Aber alle andern Nationen Europas
sind ebenfalls in diesen Ahnensaal vertreten. Durch Maria von Serbien und
und armenische Prinzessinnen ergeben sich die genealogischen Verbindungen
mit Asien; eine Trennung von Orient und Occident ist bei der internatio¬
nalen Ahnenforschung nicht mehr möglich. Bei der Knappheit des ver¬
fügbaren Baumes sei es gestattet, die Mannigfaltigkeit der zum Teil recht
entlegenen Ahnen nur noch durch ein Beispiel zu erläutern: die Spanier
treten in den ersten Generationen als Glieder des Hauses Bourbon, später
des Hauses Habsburg, in noch weiteren Generationen als Glieder des alten
nationalen Königsgeschlechtes von Aragonien und Kastilien auf, dazu kommt
ein besonderer Einschlag spanischen Blutes aus dem Kreise des dortigen
hohen Adels, den Eleonore von Toledo in das Haus Medici und durch ihre
Deszendenz in die ganze europäische Fürstenfamilie brachte. Im Vergleich
mit anderen Fürstenahnentafeln ist die des Erzherzogs Franz Ferdinand
besonders blaublütig. Fehlen doch in ihr z. B. jene russische Katharina,
die als Ahnfrau fast aller nichtkatholischen Herrscher russische Leibeigene
als Kaiser- und Königsahnen erscheinen läßt, die bürgerlich geborene Gattin
des alten Dessauers und der bei manchen katholischen Häusern bemerkbare
Einschlag französischer Kleinbürger aus der Zeit der Napoleoniden. So über¬
wiegt denn der Hochadel in erdrückender Weise. Neben den Angehörigen
der Häuser Habsburg, Lothringen, Wittelsbach, Wettin verschwindet an Zahl
alles andere, auch in fernen Zeiten überwiegt der altfreie Herrenstand des
Großgrundbesitzes. Unfreies Blut bringen die vielen Ministerialengeschlechter,
die ersten Bürgerlichen erscheinen in der Beihe der 2048 Ahnen. Die
beigegebene Tafel I weist das Ergebnis der ziffernmäßigen Berechnung des
Ahnen Verlustes über 15 Generationen auf, die Tafel II verteilt 5629 Ahnen
von Generation I—XIII auf 17 Nationalitäten. Wir können hier nur eine
kurze Notiz über die reichhaltige und verdienstliche Arbeit Forsts geben:
jede Seite enthält eine Fülle interessanter Einzelheiten.
Dresden. Eduard Heydenreich f.
Notizen.
Das 30jährige Jubiläum seines Archivars veranlaßte den Geschichts¬
verein für Kärnten, den 103. Jahrgang seiner Mitteilungen Carinthia I
(1913) als Jaksch-Festschrift herauszugeben. Wie recht er damit
394
Notixen.
getan, lehren Herzberg-Fränkels persönliche Erinnerungen, E. v.
Ottenthals Würdigung der Monumenta historica ducatus Carinthiae,
0. Bedlichß darauf fußende Studie über Siegelurkunde und Nota¬
riatsurkunde in den südöstlichen Alpenländern (anknüpfend
an die Urkunden der Patriarchen von Aquileja wird die Wechselwirkung
deutschen und italischen Urkundenwesens in diesen südöstlichen Gebieten
dargelegt), die Beiträge von F. G. Hann über Dr. v. Jaksch und die
Kunstgeschichte Kärntens, von H. P. Meier über die antiken,
knnst- und kulturhistorischen Sammlungen des Geschichta-
vereines; ihre Um- und Ausgestaltung durch Dr. v. Jaksch,
von M. Wutte über das Archiv des Geschichtsvereines für
Kärnten mit aller Deutlichkeit. Mit der Untersuchung der Edling-
Kazaze-Ortsnamen Kärntens und Steiermarks gibt P. Lessiak einen
»Beitrag zur Ortsnamenkunde und Siedlungsgeschichte der österr. Alpen¬
länder 4 . Indem L. die Edlinger als slavische unter eigenen Bichtem stehende
Bauerngemeinden deutet, erscheint ihm K. — E. faßt er als dessen spätere
Verdeutschung auf — als turkotartarisches Lehnwort, dieses Volk selbst
noch nach der Besiedelung der Alpenländer als Hirtenadel inmitten der
Slovenen lebend. 0. Freiherm v. Dungerns Studie zur Kritik der
mittelalterlichen Nachrichten über Blutsverwandschaft, die
deren Glaubwürdigkeit weit höher als bisher üblich einschätzt, bedeutet für
seinen Versuch, den Kreis mittelalterlicher Dynastengeschlechter nach Mög¬
lichkeit abzustecken, einen beachtenswerten Schritt F. Schneiders Bei¬
trag zur Überlieferungsgeschichte Johanns von Victring befaßt
sich im wesentlichen mit den beiden Handschriften der continuatio Martins
von Troppau, einem Wolfenbütteier Kodex und einer neu aufgefundenen
Handschrift des Escorial, deren einschlägiger Text als Anhang abgedruckt
ist und erläutert ihre Stellung zu einander: alles Vorarbeiten einer Aus¬
gabe des Johannes Victoriensisbreviatus, wie ihn S. nennen möchte. V.Thiels
Beitrag zur Geschichte des Begriffes Innerösterreich führt von
derZeit der Kärntner Mark bis 1564 und erläutert in kurzen Strichen die
Beziehungen der innerösterr. Länder zu einander und zu den übrigen Kron-
ländera. Der »Beitrag zur Geschichte der bäuerlichen Bechtsquellen Kärntens 4 ,
den A. Mell mit der Untersuchung und Edition des Sittersdorfer
Bergtaidings (um 1450) gibt, erscheint, da er »der einzigen bis jetzt
erhaltenen und bekannten Rechtsquelle in kämtnerischen Weinbergbauan¬
gelegenheiten 4 gilt, aller Beachtung wert. A. Luschin von Ebengreuth
hat sich mit einer Erläuterung und Edition von Hanns Ampfingers,
eines wohlbewanderten kämtnerischen Pflegers der ersten Hälfte des 16. Jahrh.,
Bericht über das gerichtliche Verfahren in Kärnten 1544
eingestellt und damit einen wertvollen Beitrag zur Erkenntnis der älteren,
bis 1577 geltenden Landrechtsordnung Kärntens geliefert. Der von S. Stein¬
herz mitgeteilte Bericht über die Stadt Villach von 1563 —
er stammt von dem Nuntius Commendone und dessen Sekretär Graziani —
wirft auf die religiösen Verhältnisse Innerösterreichs vor Beginn der Gegen¬
reformation willkommenes Licht. M. Ortners War Wallenstein in
Kärnten? überschriebener »Beitrag zur Wallenstein- und Sehillerforschung 4
erklärt die Erwähnung Kärntens im Wallensteindrama als Erfindung de»
Dichters, sucht aber für den Sommer 1617 einen Aufenthalt W.’s in Spit.il
Notizen.
395
a. d. Drau zu erweisen. Es erübrigt noch, auf die Beitrüge von V. Po-
gatschnigg, Zur historischen Topographie; Maria Elend und
8t Jakob im Bosentale, 6. Gräber, Die moie als Wappenbild
in der »Krone 4 Heinrichs von dem Tnrlin, K. Sommeregger,
Die Kämpfe nm den Besitz von Villach im Jahre 1813, eine
nach den Akten des Kriegsurchivs gearbeitete Darstellung, F. Franziszi.
Ein tapferer Gailtaler und K. Egger, Grabungen am Zollfelde
1909—1911 zu verweisen.
Wien. J. K. Mayr.
Ihres Lehrers 70. Geburtstag haben seine engeren Schüler mit der
Herausgabe einer Riezler-Festschrift begangen, die von K. A. von
Müller redigiert, die ganze Entwickelung bayrischer Geschichte von den
Tagen der bayrischen Einwandei ung bis zu dem Vorabende der Neube¬
gründung des Deutschen Reiches durchmißt — Den Wintpozing-Orten
des altbayrischen Sprachgebietes gilt die erste Untersuchung von M. Fast-
linger, der, diese in Altbayern aber auch in Niederösterreich vorkom¬
menden Namen als Wendensiedelungen deutend, ihre Entstehung gleich den
bekannten ing- Orten in die Zeit der bayrischen Besiedlung setzt. Ob seine
kühnen Schlußiolgerungen zutreffen, steht dahin. M. Büchners Studie
über Bayerns Teilnahme an den deutschen Königswahlen im
früheren Mittelalter bildet eine willkommene Ergänzung seiner
Forschungen über Erzämter und Kurkolleg. Inzwischen ist sie durch seine
neueste, inhaltlich im ganzen unveränderte Arbeit im 117. Heft der Gier-
keschen Untersuchungen überholt worden. K. Schottenlohers Aufsatz
über den Bebdorfer Prior Kilian Leib und sein Wettertage¬
buch (von 1513 bis 1531) trägt dem Interesse Rechnung, das die Gestalt
Kilian Leibs in der letzten Zeit gefunden hat und bereichert wesentlich
unsere Kenntnisse, die wir bisher aus Leibs Annalen, Briefen und Diarien,
der Darstellung seiner Beziehungen zu Pirkheimer u. a. gewinnen konnten.
Mitten in den Sturm und Drang der religiösen Kämpfe der ersten Hälfte
des 16. Jahrh. führt uns M. Heuwieser mit seiner Studie über Ruprecht
von Mosham, Domdekan von Passau, jenen merkwürdigen religiösen
Schwärmer, der über dem Versuche, durch ein die Mitte zwischen den beiden
Bekenntnissen haltendes Religionssystem die Christenheit wieder zu einigen,
Hab, Gut und Leben verlor. F. Endres, der die bayrisch-spanischen
Beziehungen im Anfänge des Jahres 1625 klarlegt, zeigt, mit
welchem Geschicke es Kurfürst Max und sein Kanzler Jocher verstanden
haben, in dem französisch-habsburgischen Gegensätze eine mittlere Linie
einzuhalten und dadurch Bayerns Selbständigkeit zu bewahren. W. von
Hofmanns Studie über das Säkularisationsprojekt von 1743,
Kaiser Karl VII. und d’e römsche Kurie gilt dem bekannten, von
Preußen angeregten, von England aufgegriffenen Plan, den unglücklichen
Kaiser für den Verlust seines Stammlandes durch einige süddeutsche Bis¬
tümer zu entschädigen. Von Wien aus aller Welt enthüllt, endete dieses
Projekt mit einer schweren Niederlage Karls VII., die sein schwankendes
Kaisertum nicht mehr ganz verwinden konnte. F. So Ileders Untersuchung
der Judenichutzherrlichkeit des Julius-Spitals in Würzburg
reicht von dem Zeitpunkte der Gründung dieses Stiftes (1579) bis ins
396
Nouzen.
19. Jahrh. und gibt mit einer Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen
Stellung der »juliuaspitälischen* Judengemeinde einen — im einzelnen
wohl zu breit geratenen — »Beitrag zur Sozial-, Wirtschafts- und Sitten¬
geschichte Frankens*. Th. Bitterau^ Die Zensur der politischen
Zeitungen in Bayern 1799—1825 beginnt mit einem Rückblicke auf
die Entwickelung der bayerischen Zensur 9eit dem 16. Jahrh. und reicht
über die napoleonische Ära hinweg bis tief in den Vormärz. Mit vielem
Geschick legt B. dar, wie die ursprünglich liberal gehandhabte bayrische
Zensur unter dem Einflüsse Napoleons, später Metternichs zusehends ver¬
schärft wurde. K. A. von Müllers Darstellung der Tauffkirchenschen
Mission nach Berlin und Wien (Frühjahr 1867) fußt gleich seiner
inhaltlich verwandten Studie im 111. Band der Historischen Zeitschrift im
wesentlichen auf dem Nachlasse Tauffkirchens, dessen Durchsicht ihm mit
dankenswerter Liberalität zugestanden wurde. Die Höhepunkte von Tauff-
kirchens Wirksamkeit, die Unterredungen mit Bismarck und Beust, in jenen
kriegsschwangeren Wochen des Frühlings 1867 sind klar und scharf Um¬
rissen und gewähren eine Fülle neuer Erkenntnisse.
Wien. J. K. Mayr.
Die von Freunden und Verehrern zum 70. Geburtstage gewidmete
Festgabe für Gerold Meyer von Knonau (Zürich 1913) zählt fast
zwanzig Beiträge, reicht vom Altertum bis in die neueste Zeit und um¬
spannt in der Liste der Glückwünschenden den ganzen deutschen Kultur¬
kreis, ja mehr als diesen: so recht ein Zeichen der Fruchtbarkeit, der Viel¬
seitigkeit und des Wertes seiner Lebensarbeit. Der Inhalt ist folgender:
H. Blümner, Zu den griechischen Hochzeitsbräuchen. Ober
R. Durrers Bericht über einen Fund von rätischen Privaturkun¬
den aus karolingischer Zeit vgl. unten S. 400. H. Breßlaus
Venezianische Studien gelten den bekannten Verträgen Ottos I. (967)
und Ottos II. (983) mit Venedig, die in zwei von einander unabhängigen,
in wichtigen Punkten differierenden Überlieferungen, in Einzelabschriften
des 10. Jahrhunderts (A) und in Kopialbüchem vom Ende des Mittelalters
(B), auf uns gekommen sind. Fanta hat sich im ersten Ergänzungsbande
dieser Zeitschrift für die Überlieferung A ausgesprochen, wogegen Lenel
die andere Überlieferung (B) vorgezogen hat. Br. pflichtet dieser Auffassung
bei, sichert und erweitert sie durch neue Beobachtungen und befreit damit
die Überlieferung B wohl endgültig von dem Verdachte einer absichtlichen
Entstellung. Den Orts-, Wasser- und Bergname'n des Berchtes¬
gadener Landes hat S. Riezler eine eingehende Untersuchung ge¬
widmet, die darlegt, wie zahlreiche vordeutsche, zum guten Teil romanische
Namen sich im Berchtesgadischen vorfinden; keltische und illyrische Namen
treten stark zurück. C. Rodenbergs Untersuchung der Friedens Ver¬
handlungen zwischen Friedrich IL und Innozenz IV. (1243 —
1244) greift aus dem Ringen zwischen Kaisertum und Papsttum jene Epi¬
sode heraus, da aller Welt der Friede vor der Türe schien und erläutert
die Ursachen, die von neuem zum Bruche führten. Victor van Berchem,
La »ville neuve* d’Yverdun. Fondation de Pierre de Savoie. H. Wart¬
manns Studie zur älteren Geschichte der st.-gallischen Boden-
Notizen.
397
seegegend beginnt mit dem Einbrüche der Alemannen und schließt, die
Siedelungsverhältnisse der karolingischen Zeit, die Entwickelung des Ar-
bongaues, die zahlreichen Konflikte zwischen St. Gallen und Konstanz in
ebendiesem Gebiete kurz berührend, mit Abt Ulrich VTL von St. Gallen
{t 1491), der diesen Widerstreit endgültig zu Gunsten seines Klosters ent¬
schied, sinngemäß ab. H. G. Wirz berichtet über eine unbekannte
Bedaktion des Zürcher Bichtebriefes — einer um 1300 gelten¬
den städtischen Rechtssammlung —, die er ins Jahr 1326 versetzt und
Konradsbuch nennt; Überlieferungsgeschichte und Inhalt sind eingehend
dargelegt. Der Zusammenhang der eidgenössischen Bünde mit
der gleichzeitigen deutschen Bündnispolitik wird von H. N a b-
holz ausführlich beleuchtet: indem er den Inhalt der Schweizer Bünde
ohne Rücksicht auf ihre Entwicklung zu einem Staatswesen prüft, setzt er
sie den gleichzeitigen Bündnissen auf Reichsboden völlig gleich, indem er
den besonderen Geist der Schweizer Bünde erfaßt, zeigt er die Wurzeln,
aus denen der Bundesstaat erwachsen ist. Georg Finster, Sigismondo
Malatesta und sein Homer behandelt Basinio Basini’s Gedicht Hesperis,
das 1456 vollendet wurde. C. Bruns Untersuchung der Orientreise
Leonardos knüpft an die Edition J. P. Richters an, der einen längeren
Aufenthalt Leonardos da Vinci im Oriente angenommen hat, bringt dagegen
gewichtige Bedenken vor und trifft damit wohl auch das richtige. E. Ga-
gliardis Skizze zur Beurteilung der schweizerischen Mailänder¬
kriege versucht dieser wenig erforschten und meist ungünstig beurteilten
Epoche gerecht zu werden und ihr neben den Burgunderkriegen eine nicht
minder wichtige Rolle zuzuschreiben. G. Tobler erläutert auf Grund der
Ratsmanuale das Verhältnis von Staat und Kirche in Bern in
den Jahren 1521—1527 und zeigt die allmählige Erweiterung der
Machtfülle auf Kosten der kirchlichen Behörden, eine Entwickelung, die
mit der Einfügung der Kirche in den Organismus des Staates ihren Ab¬
schluß gefunden hat. Zum Religionsgespräche von Marburg 1529
bringt W. Köhler neue Beiträge; indem er sich von dem persönlichen
Urteile über die Hauptunterhändler, Luther und Zwingli, losmacht und die
Frage von dem Standpunkte des Gegensatzes »Bekenntnis oder Bündnis 4
aus auffaßt, gelingt es ihm, beiden gerecht zu werden: Zwingli war der
Gedanke eines Bündnisses trotz religiöser Gegensätze durchaus vertraut;
Luther habe ihn nie fassen können. P. Schweizer untersucht Neckers
politische Rolle in der französischen Revolution und ver¬
teidigt ihn gegen die Angriffe der Zeitgenossen und Geschichtsschreiber als
einen »tüchtigen, — wohlgesinnten und durchaus aufrichtigen Mann 4 .
W. Oechsli bringt zwei Denkschriften des Restaurators Karl
Ludwig von Haller über die Schweiz aus den Jahren 1824
und 25 die durch die Beurteilung der Schweizer Restaurationszeit »im
Kopfe des folgerichtigsten aller Reaktionäre* wie durch die unverhohlene
Absicht, Frankreich im Sinne dieser Auffassung zum Eingreifen zu bewegen,
überaus beachtenswert erscheinen. A. Stern, Aus deutschen Flücht¬
lingskreisen i. J. 1835 gibt Aufschluß über eine damals in Zürich er¬
schienene Zeitschrift »Das Nordlicht* und deren Begründer Ehrhart und
Cratz. J. Di er au er teilt nach Briefen des Thurgauers Hermann Ruess
i. J. 1862 »Eine Erinnerung an Garibaldi* mit. J. R. Rahns
398
Notizen.
Aufzeichnungen über seine Erinnerungen an die antiquarische
Gesellschaft in Zürich enthalten zahlreiche, charakteristische Züge aus
dem Leben Ferdinand Kellers, ihres Stifters.
J. K. Mayr.
Die Festschrift des Akademischen Historikerklubs Inns¬
bruck, zur Erinnerung an dessen vierzigstes Stiftungsfest (1913) erschienen,
gibt in der Liste ihrer Mitarbeiter Zeugnis von der Gediegenheit und den
Traditionen der Innsbrucker historischen Schule. H. v. Voltelini beginnt
mit einer bedeutsamen Untersuchung über das älteste Innsbrucker
Stadtrecht (1239), die dessen Eigentümlichkeiten und Zusammenhänge
mit fremden Stadtrechten verfolgt. E. v. Ottenthals Studie über die
deutsche Schrift schildert in lehrreichem Überblick Geschichte und
Eigenart der sogenannten deutschen Schrift und erörtert schließlich die
Frage nach dem gegenwärtigen Werte dieser Frakturschrift, wobei 0. prak¬
tische und nationale Gesichtspunkte für und wider abwägt. 0. Redlich
hat Chronologisches, vornehmlich aus Tirol beigesteuert und da¬
mit manche Merkwürdigkeiten der Datierung, so die Bezeichnung der Tage
nach Oster- und Pfingstsonntag mit den Heiligenfesten nach Weihnachten,
die Frauentage zer pelzmesse und ze pflanz, endlich die Bezeichnung Con-
ceptio Mariae und Santrügeltag klargelegt. W. Erbe ns Streifzüge
durch die Geschichte und Vorgeschichte des historischen
Seminars in Innsbruck geben einen willkommenen Überblick über die Be¬
gründung und die verschiedenen Schicksale der Innsbrucker historischen Schule
und stellen so, durch ein verläßliches Verzeichnis aller, auch der früheren
Seminarmitglieder unterstützt, den Zusammenhang mit der Gegenwart her.
J. K. Mayr.
Aus ähnlichem Anlaß gab auch der Wiener akad. Historikerverein eine
sehr gehaltvolle Gabe heraus: Festschrift des akad. Vereines
deutscher Historiker in Wien. Herausg. anläßlich der Feier des
23jährigen Bestandes. Wien 1914, Selbstverlag, 172 S. h°. Wir geben
einen kurzen Überblick der zahlreichen Beiträge, die alle von einstigen
Mitgliedern und von Förderern des Vereines herrühren. Walther Boguth
schildert nach persönlichen Erinnerungen die Gründung des Vereines im
Jahre 1>S9. — H. Steinacker, Der Ursprung der Traditio
cartae und das westgotische Urkunden wesen, zeigt, daß das
westgotische Recht im Zusammenhang mit weit verbreiteter Kenntnis des
Schreibens und Lesens wohl die dispositive Urkunde, nicht aber eine förm¬
liche Traditio cartae kannte, was bei dem so stark romanischen Charakter
des Westgotenrechts gegen »die Annahme eines spätrömischen Ursprungs
der Traditio cartae als eines rechtsförmlichen und die Periektion des Ge¬
schäftes bewirkenden Aktes schwer ins Gewicht fällt*. — Alfons Dopsch.
Reformkirche und Landesherrlichkeit in Österreich erörtert
anknüpfend namentlich an H. Hirschs Forschungen über südwestdeutsche
Verhältnisse, »die Absichten der Landesherm in Österreich und Steier,
mit Hilfe der Reformklöster eine landesfürstliche Obervogtei auszubilden 4
Notizen.
399
und ihre Gerichtsgewalt auch über die noch vorhandenen reichsfreien Dy*
nasten und exterritorialen Immunitätsherrschaften auszudehnen. Dadurch
erscheint nicht so ausschließlich, wie man bisher annahm, die Besonderheit
der Markverfassung als Grundlage der frühentwickelten starken Landeshoheit
in Österreich. — Hans Hirsch, Zur Beurteilung des Registers
Gregors VH. (mit einer Schrifttafel) bringt eine neue willkommene Stütze
für die Originalität des Registers bei. — Richard Heuberger erörtert
eingehend die in einer Urkunde der Herzoge Otto, Ludwig und Heinrich
von Kärnten vom 11. August 1299 von den beiden letzten gebrauchte
Wendung »hac vice sigillis autenticis non utamur*. — Fritz Grüner
untersucht Die Stellung der Habsburger in der Westschweiz
nach dem Tode Albrechts L, die trotz der Katastrophe von 1308
ungeschwächt blieb, ja noch verstärkt wurde; erst die Doppelwahl von
1314 leitete hier den Niedergang der habsburgischen Macht ein. — Frie¬
drich Schneider publiziert zwei unbekannte Dokumente, die beweisen,
daß Johann von Baiern, Bischof von Lüttich, nach der Schlacht
von Othee (1408) ernstlich bemüht war, die verhängnisvollen Folgen dieser
Niederlage für Lüttich abzuschwächen. — Hans v. Voltelini gibt einen
wertvollen Beitrag zur Geschichte der Rezeption des gemeinen
Rechtes in Wien, zeigt, daß bei den Wiener Gerichten erst gegen Ende
des 15. Jahrh. das römische Recht Eingang fand, das im ersten Dezennium
des 16. Jahrh. vor dem Stadtrat schon als geltendes angerufen wird. Die
Stadtschreiber, graduierte Juristen, haben diesen Prozeß jedenfalls gefördert,
der bekanntlich von dem Wunsche nach einem einheitlichen und sicheren
Rechte hervorgerufen und getrieben war. — Paul Heigl bringt Beiträge
zur Geschichte Diethers von Isenburg (1461) und dessen flüch¬
tige Beziehung zu Franzesco Sforza von Mailand, und teilt einen interes¬
santen Bericht über die Absetzung Diethers und die Wahl Adolfs von
Nassau zum Erzbischof von Mainz mit.
Edmund Friess bespricht das Projekt von 1642, die landesfürstlichen
Lehen in Nieder-und Oberösterreich zu allodialisieren, wobei
man aus den von den Vasallen gezahlten Kaufsummen eine Einnahrasquelle
für die schlechten Finanzen erhoffte. Aber der Versuch scheiterte so gut
wie ganz. — Heinrich v. Srbik veröffentlicht mit treffenden einleitenden
Bemerkungen einen Bericht des holländischen Gesandten Gerard
Hamei Bruynincx vom Dezember 1671 über Kaiser Leopold I. und
seine Staatsmänner, eine durch ruhiges und unparteiisches Urteil
wertvolle Schilderung. — Theodor Mayer, Der ungarische Gesetz¬
artikel 11 von 1741, erörtert die Geschichte uni staatsrechtliche Be¬
deutung dieses wichtigen Gesetzes, in welchem von der Zuziehung von
Ungarn zum Status ministerium, das ist zur Staatskonferenz, dein obersten
Ratßorgan des Herrschers die Rede ist. Die umsichtige Darlegung gelangt
zum Schlüsse, daß bei FestLaltung der administrativen Unabhängigkeit
Ungarns doch die Praerogat ; /e des Herrschers in Bezug auf die oberste
Verwaltung und Regierung der habsburgischen Gesamtmonarchie aufrecht
erhalten wurde, worauf eben die Union der zwei Teile der Monarchie be¬
ruht. — Oswald Redlich bietet einen Beitrag zur Geschichte des
Historischen Seminars an der Universität in Wien. Das im
Jahre 1850 begründete Seminar erhielt durch Wilhelm Heinrich Granert
400
Notizen.
seine erste Gestaltung und die vorwaltende Richtung auf die Ausbildung
von Geschichtslehrem für Mittelschulen. Durch die Reorganisation von 1872
und durch die Wirksamkeit Max Büdingers wurde die Einführung in die
Forschung in den Vordergrund gerückt. Von Büdingers Seminarübungen
gibt ein Bericht Prof. Adolf Bauers (Graz) ein anschaulich lehrreiches Bild.
Aus der »Festgabe für Gerold Meyer von Knonau* (vgl. oben S. 396)
möchten wir einen Beitrag von besonderem Interesse eigens hervorheben,
nämlich den Aufsatz von Robert Dürrer, Ein Fund von r&tischen
Privaturkunden aus karolingischer Zeit. Ein Beitrag zur älteren
Bündnergeschichte und zur Entstehungsfrage der Lex Romana Curiensia.
Im Archive des von Karl d. Gr. gegründeten Frauenklosters Münster in
Graubünden fand Dürrer als Umschlag eines späten Rechnungsbuches ein
Pergamentblatt mit Abschriften von 6 rätischen Privaturkunden aus der
Regierungszeit Karl d. Gr. und des Bischofs Remedius von Chur. Es ist der
Überrest eines Kopialbuches, in frühkarolingischer Minuskel geschrieben,
offenbar auch schon um die Wende des 8. und 9. Jahrhunderts entstanden.
Diese Urkunden, die ganz den Typus der rätoromanischen Urkunden auf-
weisen, sind um so wertvoller, als sie der Stadt und Umgebung von Chur
selber entstammen (Empfänger die Hilariuskirche in Cbur und die Carpo-
phoruskircbe zu Trimmis). Dürrer gibt sehr sorgfältige Erläuterungen zu
diesen interessanten Stücken, ihrer Fassung, ihrem sachlichen Gehalt, den
Orts- und Personennamen. »Wir sehen eine fast ausschließlich romanische
Bevölkerung, die unter alten römischen Gesetzen lebt. Die Staatsverwaltung
und das Gerichtswesen erscheinen dagegen unter germanischen, fränkischen
und langobardischen Einflüssen mehrfach umgestaltet. Im kirchlichen Leben
verraten sich starke transalpine Einflüsse* (S. 6l). Durch die Vergleichung
der Schrift dieses Urkundenblattes mit den ältesten Handschriften der Lex
Romana Curiensis und der Capitula Remedii sowie des Sakrament&rs des
Remedius gelangt Dürrer zum Schlüsse, daß sie alle der churischen Schreib¬
schule angehören, die wohl unmittelbar mit der karolingischen Schriftreform
zusammenhängt. Damit wird die Annahme einer Entstehung der Lex Cu¬
riensis um die Mitte des 9. Jahrhunderts endgültig beseitigt und die An¬
sicht Zeumers von der Abfassungszeit zwischen 751—769 neu gestützt
Der gehaltvollen Abhandlung Durrers sind gute Schriftproben beigegeben.
0. B.
Hubert Pierquin, Recueil general des chartes anglosa-
xonnes. Paris A. Picard et Als 1912. 871 S. — Ein Textabdruck mit
einer ganz unzureichenden diplomatischen Einleitung, mit einer am Schlüsse
beigefügten kahlen Aufzählung von Handschriften und Fundorten von Ma¬
terial. Man frägt sich, wozu eine solche Edition dienen soll. Die angel¬
sächsischen Urkunden bedürften vielmehr einer gründlichen Bearbeitung,
welche aber die heutigen. Anforderungen der Diplomatik erfüllen müßte,
wie wir sie an deutsche Urkundenwerke zu stellen gewohnt sind.
O. üL
Notizen.
401
Hubert Pierquin, Le Pofcme Anglo-Saxon de Beowulf. Paris*
Rcaid 1912, IV u. 846 S. — Dieses umfangreiche Werk bietet nicht nur
eine Beowulfausgabe mit Einleitung, Übersetzung, Anmerkungen und Qlossar,
sondern auch eine Geschichte der Besiedlung Britanniens und der sich daraus,
ergebenden Einr ichtun g en, ferner eine Grammatik und Metrik des Alteng*
liachen. Es ist ein Versuch des Verfassers, seinen Landsleuten das älteste una
erhaltene germanische Heldengedicht näher zu bringen, und gewiß ist es sehr
löblich, einen solchen Versuch zu machen. Aber leider ist er mit durchaus
unzulänglichen Mitteln ausgefuhrt. Der Verfasser stützt sich in erster Linie
auf die ältere englische Beowulf-Literatur, namentlich auf die Arbeiten
Kembles, die ja bahnbrechend waren, aber heute längst überholt sind»
Sogar in der Textgestaltung folgt Pierquin im Wesentlichen Kemble. Die
» reiche spätere Forschung wird gelegentlich erwähnt, aber wirklich ver¬
arbeitet ist sie nicht So ist denn das Buch rückständig, und da ea
auch keinerlei eigene Forschung wiedergibt, vermag es uns so gut wie gar
nichts zu bieten.
Wien. - K. Luick.
Die Siegel der Grafen von Freiburg. Von Johannes La hu sen..
Freiburg i. Br. Fr. Wagner’sche Universitäts-Buchhandlung 1913. Mit
vieler Sorgfalt hat Johannes Lahusen hier die Siegel der Grafen von Frei¬
barg zusammengestellt und eine leicht lesbare Beschreibung derselben ge¬
liefert Die Abbildungen sind durchaus schön und wohl gelungen. Und
die Art, wie der Verf. die Siegel mit der Geschichte des Geschlechtes in
Zusammenhang bringt und aus ihr erklärt, gibt dem Ganzen einen feinen Zug»
Otto H. Stowasser.
Die von Hornstein und von Hertenstein. Erlebnisse aus
700 Jahren. Ein Beitrag zur schwäbischen Volks- und Adelskunde von
Edward Freih. von Hornstein-Grüningen. Konstanz 1911. 2 Hefte,
448 S. — Der Historiker nimmt adelige Familiengeschichten meist mit
einigem Mißtrauen iu die Hand. Der Vf. der anzuzeigenden Homsteimschen
Geschichte aber hat mit vielem Fleiß und vielem Verständnis für die Sache
hier die Nachrichten über seine weitverzweigte, in der schwäbischen Ge¬
schichte recht bedeutsame Familie zusammengestellt. Er hat keine Mühe
gescheut und wir erkennen gerne die gewaltige archivalische Arbeit an, die
er geleistet hat. Vollständig kann ein solches Buch ja fast nie sein. Die
vorliegenden zwei Hefte reichen bis zirka 1700. Schade ist, daß die bei¬
gegebenen Abbildungen der Wappen, Siegel etc. unseren modernen An¬
sprüchen nicht ganz genügen wollen. Es war m. E. ein Fehlgriff, daß Vf.
hier aus Gründen der Einheitlichkeit, wie er im Vorwort ausfuhrt, auf das
photographische Verfahren verzichtete. Das schmälert aber endly
Güte der Arbeit nicht, die zu halten bestrebt ist, was ihr Titel
ein Beitrag zur schwäbischen Volks- und Adelskunde, nicht
des Geschlechtes zu sein. Otto H Stoi
r
402
Kotixen.
Herr Louis Keynand, Repetent an der Universität Poitiers, hat ein
Pamphlet über das mittelalterliche Deutschland geschrieben (Les origines
de Tinfluence Fran^aise in Allemagne. I. L’offensive politiqne et
sociale de la France. Paris. H. Champion 1913). Ob er dadurch seinen
eigenen glühenden Deutschenhaß entladen wollte oder vermutete, damit
seiner Nation zu schmeicheln, mag unentschieden bleiben. Der Unterzeichnete
kann jetzt zu seiner Freude seine bereits verfaßte eingehende Besprechung
ungedruckt lassen, da sich in Frankreich selbst die Wissenschaft bemüßigt
gesehen hat, dieses Pamphlet niedriger zu hängen. Herr Grillet hat in der
Revue Historique Bd. 114 S. 155 ff. und Bd. 115 S. 198 ff. gezeigt, daß
Reynaud teils »offene Türen einrennt 4 , teils in der gehässigsten Weise
Deutschland »verleumdet 4 . Es hieße Herrn Reynaud, der sich also er¬
freulicherweise in der Hoffnung getäuscht hat, seinen Landsleuten zu ge¬
fallen, zuviel Ehre antun, sich noch weiter mit ihm zu beschäftigen, und
er kann seinen angekündigten zweiten Band in der sicheren Erwartung
herausgeben, daß diese Art von Geschichtsauffassung auf beiden Seiten der
Vogesen wissenschaftlich erledigt ist 1 ).
Fritz Kern.
Himilzora. In meiner Besprechung der Schrift »Die deutschen
Bestandteile der Lex Baiuvariorum 4 8 ) von Dietrich von Kralik,
Mitteilungen 35, (1914), 154—164 mußte ich S. 157 den Sinn des abair.
Rechtsausdrucks himilzora, bez. himilzorung, überliefert im Accusativ
sing, quod himilzorun vocant MGh. 15, S. 406, var. quod himil-
zorunga vocant ebenda S. 299, der mit dem Delikte der ,elevatio indu-
mentorum super genuclos 4 an einer Freien (libera . . . aut virgo seu uxor
alterius), Kralik S. 81—82, verbunden ist, offen lassen, da ich zora noch
auf »elevutis 4 bezog, die Determinierung dieses eine Handlung bezeichnenden
Wortes mit himil ,caelum* aber keineswegs einzusehen vermochte.
Bei näherer Überlegung bin ich nunmehr zur Überzeugung gekommen,
daß das Abstraktum zora, das nach dem zugrunde liegenden ahd. Zeit¬
worte zeran .rumpere, scindere, lacerare, destruere, certare 4 , Graff V 691,
nur ,ruptio, scissio, destructio 4 bedeuten kann, überhaupt ein viel zu starker
Ausdruck ist um mit ,elevatio‘ gleichgesetzt werden zu können, ein Aus¬
druck, der auch insoferne nicht erwartet wird, als ja das Delikt wesentlich
in dem bloßen Aufheben der Kleider begründet ist und das allfällige Zer¬
reißen derselben nur als ein, gar nicht näher gewürdigter Begleitumstand
angesehen werden müßte.
Da außerdem für ahd. himil keine anderen Bedeutungen als ,coeluin,
Olympus, aether, polus, laqueare, lacunar 4 , Graff IV 938, erweisbar sind
und da des weiteren kein Tropus auffindbar ist, der eine inhaltliche
*) Dies war vor dem Krieg geschrieben. Inzwischen hat eine läppische Raserei
gegen alles Deutsche im ganzen französischen Schrifttum um sich gegriffen. Be¬
rühmte Akademiker schmieren tolleres Zeug gegen die Boches, als Mr. Reynaud
wagen durfte. So würdigen wir dessen Buch heute als einen Erstling des Nouvel
Esprit, der Kriegspsychose.
*) S. A. aus dem Neuen Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Ge*
Schichtskunde, 38. Bd. 1913.
Erwiderung.
403
Beziehung wischen dem abair. Ausdrucke, wörtlich »ruptio, scissio caeli,
und dem ütein. Terminus ,elevatio indumentorum 4 vermittelte, muß man
sich der Aiffassnng zuwenden, daß der abair. Bechtsausdruck einer andern
Spb&re unc zwar am ehesten der religiösen Sprache angehöre und das Delikt
aus dem tesichtspunkte der Sündhaftigkeit betrachte und benenne.
Ob dbei noch eine feinere Unterscheidung zu treffen und der Aus¬
druck entveder als ,Beleidigung des Himmels 4 schlechthin oder, wie etwa
nhd. ,Totsinde 4 , als Bezeichnung einer Handlung zu verstehen Bei, die den
Verlust cfes Himmels zur Folge hat, kann ich dahingestellt sein lassen.
v. Grienberger.
Erwiderung l ).
J. Nistor, Professor an der Universität in Czernowitz, hat in
Bd. XXXV, Heft 1, S. 177 bis 182 dieser Zeitschrift eine Besprechung
meiner Arbeit über >Die ursprüngliche Rechtslage der Rumänen
im Siebenbürger Sachsenlande* veröffentlicht, zu der in Kürze
folgende Bemerkungen sich ergeben.
L Wenn N. zur Stütze seiner Behauptung, daß die Bumänen schon
zur Zdt der Eroberung Siebenbürgens durch die Magyaren in Siebenbürgen
vorhaiden gewesen seien und in Gemeinschaft mit den Bulgaren ein eigenes
bulgarisches (!) Herzogtum im Fogarascher Distrikt gebildet hätten, die durch
keine sonstige Nachricht beglaubigten sagenhaften Erzählungen ungarischer
Chroiiken (Anonymus Belae regis notarius u. 8. w.) als Beweise verwendet,
so dürfte er unter Historikern kaum Beifall finden. Einspruch muß jedoch
dagegen erhoben werden, daß N. auf die längst als Kemenysche Fälschung
erwiesene Urkunde von angeblich 12:51 in diesem Zusammenhang sich be¬
ruft Einer plumpen Löwenthal’sehen Fälschung ist N. weiterhin zum Opfer
gelallen bei Verwendung der angeblichen Urkunde von 1.566, aus welcher
das hohe Alter der rumänischen Siedlungen im Sachsenlande und die ur¬
sprüngliche Bechtsgleichheit zwischen Sachsen und Rumänen hervorgehen
soll- Gleichfalls eine Fälschung ist die von N. verwendete Urkunde von
angeblich 1301, betreffend die angebliche Gerichtsbarkeit der Rumänen von
Olihfalu über die dortigen Szekler. Die angeblichen rumänischen Adligen
von 1288 (nobilibas Ungarorum, Saxonibus, Syculis et Volachis), ferner von
1291 (ab eisdem nobilibua, Saxonibus, Syculis et Olachis) verdanken lediglich
der Interpretation N.’s ihr Dasein, da der Kenner des mittelalterlichen
Lateins und der ungarischen Bechtsinstitutionen die Adligen von den Sachsen,
Szekiem und Rumänen sofort zu unterscheiden wissen wird. Was N. unter
Berufung auf die Urkunden von 1210, 1222, 1223, 1224, 1252 und
12 88 über die angebliche Jurisdiktionshoheit und das eigene nationale
Aufgebot der siebenbürgischen Rumänen und insbesondere der Rumänen
des Fogaraacher Distriktes, ferner über die Rechtsgleichheit dieser Rumänen
mit den Sachsen aussagt, beruht lediglich auf der Nichtkenntnis der un¬
garischen Bechtsinstitutionen sowie auf der Nichtberücksichtigung meiner
einschlägigen Erörterungen über die Grenzburgrumänen, Komitutsboden-
r ) Ein allfälliges Schlußwort bleibt Herrn Prof. Nistor, der seit längerer Zeit
nicht erreichbar ist, Vorbehalten. Die Redaktion.
404
Erwiderung.
rumänen und Sachsenlandrumänen, namentlich über die Art um den Zeit¬
punkt der Entstehung dieser rumänischen Siedlungen. Unter dn an den
Kriegszügen gegen die Bulgaren und an der Schlacht bei Krossenbmnn
teilnehmenden Rumänen sind nicht eigenberechtigte nationale Aufgebote der
Rumänen, sondern zweifellos die vom ungarischen Staat zu Kriegszwecken
angesiedelten und von ungarischen Obergespänen oder Grafen befehligten
Grenzburgrumänen zu verstehen. Die angebliche landständische Gleichbe¬
rechtigung der 8iebenbürgisehen Rumänen mit den anderen Nationen be¬
ruht lediglich auf deren gelegentlicher Zuziehung als Zeugen (ab*r nicht
als stimmberechtigte Mitglieder!) zu anläßlich der Landtage und soxst statt¬
findenden gerichtlichen Verhandlungen, namentlich auch in Rügegericfctsfallen.
Wahrscheinlich kamen auch hiefur bloß die eine untergeordnete Amonomie
besitzenden Grenzburgrumänen in Frage. Die siebenbürgische Herkinft des
im Nibelungenlied erwähnten Herzogs Ramung aus Wlachenland iä noch
nicht erwiesen worden. Glaubt N. mit dem Hinweis auf Xenopd und
Onciul wirklich die rumänische Nomenklatur der Randgebirge Siebenbürgens
zur Tatsache gemacht zu haben? Woher stammt dann die von N. selbst
zugegebene Unmasse von slavischen Orts-, Berg-, Flur- und Flußnamen im
ganzen Verbreitungsgebiet der Nordrumänen? Da die Slaven diese Namen
auf die Rumänen vererbten, mußten sie eben die Vorgänger der Runänen
in diesen Gebieten sein.
2 . Wenn N. mir den Vorwurf macht, daß ich die unerwiesene Ein¬
wanderungstheorie bloß aus der offiziellen ungarischen Geschichtschreibung
übernommen hätte, so trifft mich dieser Vorwurf nicht, da ich für das
Gebiet des Sachsenlandes oder Königsbodens aktenmäßig die nachträgliche
Einwanderung der Rumänen erwiesen und auch für das sogenannte Koni-
tatsbodengebiet durch den Hinweis auf die vom ungarischen König für lie
Ansiedlung von Rumänen durch die Grundherrschaften von Fall zu Fall
erteilten Ansiedlungsbewilligungen wahrscheinlich gemacht habe. Daß auch
meine auf eine nachträgliche Besiedelung der rumänischen Grenzburggebiete
bezughabenden Bemerkungen von N. nicht widerlegt worden sind, dürfte
aus meinen hier unter 1 gegebenen Daten zur Genüge hervorgehen.
Hermannstadt. Georg Müller.
Berichtigung. S. 212, Z. 11 von oben 1. *Wattenbach’s € statt
* W attenbach-Tangl’s € .
404
Erwiderung.
nun&nen and Sachsen!andrumänen, namentlich über die Art um den Zeit¬
punkt der Entstehung dieser rumänischen Siedlungen. Unter dn an den
Kriegszügen gegen die Bulgaren und an der Schlacht bei Krossenbrnnn
teilnehmenden Rumänen sind nicht eigenberechtigte nationale Aufgebote der
Rumänen, sondern zweifellos die vom ungarischen Staat zu Kriegszwecken
angesiedelten und von ungarischen Obergespänen oder Grafen befehligten
Grenzburgrumänen zu verstehen. Die angebliche landständische Gleichbe¬
rechtigung der siebenbürgischen Rumänen mit den anderen Nationen be¬
ruht lediglich auf deren gelegentlicher Zuziehung als Zeugen (ab?r nicht
als stimmberechtigte Mitglieder!) zu anläßlich der Landtage und sonst statt¬
findendengerichtlichen Verhandlungen, namentlich auch in RügegericltsföUen.
Wahrscheinlich kamen auch hiefür bloß die eine untergeordnete Aixonomie
besitzenden Grenzburgrumänen in Frage. Die siebenbürgische Herkmft des
im Nibelungenlied erwähnten Herzogs Ramung aus Wlachenland iä noch
nicht erwiesen worden. Glaubt N. mit dem Hinweis auf Xenopd und
Onciul wirklich die rumänische Nomenklatur der Randgebirge Siebenbirgens
zur Tatsache gemacht zu haben? Woher stammt dann die von N. selbst
zugegebene Unmasse von slavischen Orts-, Berg-, Flur- und Flußnamen im
ganzen Verbreitungsgebiet der Nordrumänen? Da die Slaven diese Namen
auf die Rumänen vererbten, mußten sie eben die Vorgänger der Runfinen
in diesen Gebieten sein.
2 . Wenn N. mir den Vorwurf macht, daß ich die unerwiesene Ein¬
wanderungstheorie bloß aus der offiziellen ungarischen Geschichtschreibung
übernommen hätte, so trifft mich dieser Vorwurf nicht, da ich für das
Gebiet des Sacbsenlandes oder Königsbodens aktenmäßig die nachträgliche
Einwanderung der Rumänen erwiesen und auch für das sogenannte Koni¬
tatsbodengebiet durch den Hinweis auf die vom ungarischen König für !ie
Ansiedlung von Rumänen durch die Grundherrschaften von Fall zu Fall
erteilten Ansiedlungsbewilligungen wahrscheinlich gemacht habe. Daß auch
meine auf eine nachträgliche Besiedelung der rumänischen Grenzburggebiet?
bezughabenden Bemerkungen von N. nicht widerlegt worden sind, dürfte
aus meinen hier unter 1 gegebenen Daten zur Genüge hervorgehen.
Hermannstadt. Georg Müller.
Berichtigung. S. 212, Z. 11 von oben 1. »WattenbachV statt
> W attenbach-Tangl’s 4 .
feil:'?.
War Deutschland ein Wahlreich?
Von
Karl Gottfried Hugelmann.
In der neuesten Forschung ist obige Frage aufgeworfen worden,
deren Beantwortung, seit es eine Wissenschaft der deutschen Rechtsge¬
schichte gibt, niemals zweifelhaft schien. Ein verdienter Gelehrter er¬
klärt es nun allen Ernstes für seine Absicht, „den fundamentalen Satz
der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, daß Deutschland ein Wahl¬
reich war, zu erschüttern*. Die aufgeworfene Frage ist für die Ge¬
schichte unseres Volkes, für die richtige Erfassung seiner Rechtsent¬
wicklung von so großer Bedeutung, daß eine grundsätzliche Auseinander¬
setzung mit der neuartigen und überraschenden Beantwortung, welche
sie durch Frh. v. Düngern gefunden hat, wohl am Platze zu sein
scheint 1 ).
I.
Hiebei muß zunächst, um festen Boden zu gewinnen, festgestellt
werden, daß Frh. v. Düngern keineswegs leugnet, daß „die deutschen
*) Mit diesem Aufsatz entledige ich mich der Aufgabe, folgende Schriften
ru besprechen: 1. War Deutschland ein Wahlreich? Von Dr. jur. Frh. v.
Düngern, Professor in Czemowitz. Erweiterter Sonderabdruck aus der Festchritt
für Adolf Wach. Leipzig 1913, Verlag von Felix Meiner. 4° 70 SS. 2. Grund
Sätze und Anschaungen bei den Erhebungen der deutschen Kö¬
nige in der Zeit von 911—1056. Von Dr. Johannes Krüger. (Gierkes Unter¬
suchungen zur deutschen 8taate- und Rechtsgeschichte, 110. Heft), Breslau, Verlag
ran M. u. H. Marcus, 1911. 8° XVI und 144 SS. Die Bedeutung der besprochenen
Schriften rechtfertigt es wohl, wenn die Besprechung selbst zu einem Aufsatz ge¬
diehen ist.
Mitteilungen XXXVI.
27
406
Karl Gottfried Hugelmann.
Könige und Kaiser aus einer Wahl hervorgingenAber diese »Wahl 4
soll nicht das gewesen sein, „was wir heute (seit der französischen
Bevolution) unter Wahl verstehen *; auch nicht, „was die Bechtage-
schichte bei der Frage der Berufung zum Königtum unter Wahl ver¬
standen hat“. (S. 1). Sehen wir zu, wie Frh* v. Düngern diese beiden
Behauptungen begründet.
„Wir setzen“, so sagt er (S. 1), „wenn wir von der deutschen
Königswahl sprechen, Erwählung in Gegensatz zu erblicher
Berufung 1 ). In allen Ländern Europas, sagt die bisherige Lehre,
wurde im Mittelalter der Herrscher durch ein Thronfolgerecht berufen,
das sich nach erblichen Grundsätzen richtete — nur im römisch-
deutschen Beiche nicht; nur hier, wird gelehrt, lag die Befugnis, den
Nachfolger auf den Thron zu berufen, bei dem Volk; oder doch bei
einer bestimmten Wählerklasse; nur hier fiel nach dem Tode eines
jeden Herrschers das Hecht, den neuen König auszusuchen, wieder an
die Wähler, zu freier Verfügung*.
Ich muß gestehen, daß mir kein einziger Vertreter dieser angeblich
herrschenden Lehre bekannt ist Ja, ich erinere mich nicht, irgendwo
etwas ähnlich Klingendes gelesen zu haben, wie die hier von Frh. v.
Düngern formulierte und — bekämpfte Lehre. Daß jemals jemand in
dieser schroffen Weise die Entwicklung in Deutschland der in allen
übrigen europäischen Ländern gegenübergestellt haben soll, ist doch
von vornherein kaum denkbar. Was aber die herrschende Lehre über
das uns hier zunächst interessierende deutsche Thronfolgerecht anlangt,
so ist es, wenn wir etwa Waitz, Schroeder und Brunner*) als ihre be-
*) Die Sperrungen in den Zitaten rühren vom Verfasser dieses Aufsatzes her.
*) Waitz-Seeliger, Deutsche Verfassungsgeschichte, VI* 8. 163, lehrt: „Un¬
zweifelhaft ist die Wahl seitdem ein wesentliches Moment für die Nachfolge in
der Herrschaft des deutschen Reiches. Aber daß sie ganz und allein gegolten
hätte, läßt sich nicht sagen. Was von altersher zum Wesen des germanischen
Königtums gehörte, die Rücksicht auf das Geschlecht, die Anerkennung eines
Rechtes, welches zuerst und vor andern die Mitglieder dieses hatten, bei der Wahl
in Betracht gezogen zu werden, hat sich alsbald geltend gemacht: mitunter kann
es scheinen, daß die Erbfolge das Übergewicht erhalte; mitunter wirken die beiden
Prinzipien zusammen. Dann treten sie aber auch in offenem Kampf sich gegen¬
über, ohne daß in dieser Periode das eine oder das andere vollständig den Sieg
gewinnen konnte«. — Schroeder, RG.* 8. 481, formuliert kurz: »Das Königtum
beruhte auf einer eigentümlichen Verbindung von Erblichkeit und Wahl«. — Am
schärfsten erfaßt die innere Verknüpfung von Wahl und Erblichkeit seit der ger¬
manischen Zeit Brunner, Grundzüge 8 8.15: »Der König wird aus dem königlichen
Geschlechte gewählt, indem die Wahl den Mangel einer festen Erbfolgeordnung
ersetzt«; und 8. 183 sagt er: »Jahrhunderte hindurch ergänzten sich Wahl und
Erbgang; die Königswahl hielt sich zunächst an das regierende Geschlecht..«.
War Deutschland ein Wahlreich? 407
jrufenen Wortführer ansehen, gänzlich nnriclitig, daß sie die Erwählung
in Gegensatz zu erblicher Berufung setzt Ganz im Gegenteil gipfelt
sie darin, Wahl und erbrechtliche (d. h. kraft Verwandtschaft erfolgende)
Berufung als zwei Faktoren des materiellen Thronfolgerechts in har¬
monische Beziehung zu setzen. Und ich bezweifle, ob Frh. v.
Büngern auch nur einen namhaften Autor anzuführen vermöchte, der
lehrt daß das Becht den König auszusuchen, nach jedem Thron¬
fall zu freier Verfügung an die Wähler fleL
Frh. v. Düngern verwickelt sich m. E. in einen Widerspruch, wenn
er an einer anderen Stelle seiner Schritt (S. 27) die herrschende Lehre
dahin formuliert, sie nehme „eine Mischung von Erbrecht und Wahl¬
recht“ an. Freilich bekämpt er diese Ansicht als etwas logisch Un¬
mögliches, „da durch solche Begriffsbestimmung das Wahlrecht aufhört
das zu sein, was man juristisch als Wahlrecht bezeichnen kann .. .“.
Nach dieser Auffassung steht die Erwählung allerdings in begriff¬
lichem Gegensatz zu erbrechtlicher Berufung. Sie ist aber nicht herr¬
schende. Lehre, da diese das Wort Wahlrecht wie wir gesehen haben, in
ganz anderem Sinne gebraucht sondern ein Charakteristiken der eigen¬
artigen Lehre v. Büngerns.
Dieser konstruiert nämlich einen m. E. sonst der Bechtssprache nicht
geläufigen Begriff der WahL „Freiheit der Entscheidung ist ein Grund¬
erforderais des modernen Wahlbegriffes; Wahlrecht heißt für uns ge¬
radezu: das Becht frei zu wählen; wo die Freiheit der Wahl irgend¬
wie illusorisch wird, empfinden wir dies als eine Vernichtung des
Wahlrechts“. (S. 2). Zunächst: was meint v. Büngern mit dem schil¬
lernden Ausdruck „irgendwie illusorisch“? Baß „auch die Ent¬
scheidung moderner Wähler nie ganz frei“ ist gibt er selbst zu; daß
bei der Königswahl „die Entscheidung unter den (mehreren) Thron¬
folgeberechtigten durch die Wahl getroffen wurde“, lehrt er auf der¬
selben Seite. Man wäre also versucht in der Anzahl der passiv —
sagen wir vorsichtig — Legitimierten das Unterscheidungsmerkmal zu
suchen: sind deren viele, so kann man von Wahlrecht sprechen; nicht
aber, wenn ihrer nur wenige sind. Baß dieses — fließende — Merkmal
nicht zutrifft lehrt ein Blick auf die Terminologie moderner Gesetze:
die jüngste Geschichte des politischen Wahlrechts in Österreich kennt
Wählerkurien, bei denen sich die aktiv und passiv Legitimierten an
den Fingern einer Hand abzahlen lassen; trotzdem hat man immer vom
Wahlrecht dieser Kurien gesprochen. Und wie will Frh. v. Büngern
unter seiner Begriffsbestimmung eine der modernsten Formen des po¬
litischen Wahlrechts, die Proportionalwahl mit gebundener Liste,
unterbringen?
27 *
408
Karl Gottfried Hugelmann.
Er verschiebt nun allerdings in den weiteren Ausführungen seine
Begriffsbestimmung durch die Einfügung eines neuen, juristisch tiefer
dringenden Merkmals (S. 3): eine ~EHn«ehranlmng des passiven Wahl¬
rechts sei allerdings möglich, aber niemals dürfe ein Anspruch des Kan¬
didaten auf Berufung bestehen; einen solchen schließe das Wahlrecht
im modernen Sinn begrifflich aus. Allein auch diese Unterscheidung
widerstreitet dem heute allgemein geläufigen Sprachgebrauch. Nach
preußischem Staatskirchenrecht wählt das Domkapitel den Bischof aus
einer vom König angenommenen dreigliederigen Liste: haben nicht die in
die Liste angenommenen als einzige Kandidaten einen Anspruch darauf,
daß niemand anderer, als einer von ihnen, gewählt wird 1 )? Trotzdem
spricht man ganz allgemein von der Wahl der preußischen Bischöfe.
Trotz Frh. v. Düngern behaupte ich, daß die moderne Bechtssprache
unter Wahl jeden Vorgang versteht, bei welchem kraft
Eechtes eine Mehrheit von Personen durch ihre Willens¬
erklärung die Berufung eines von mehreren in Betracht
Kommenden zu einer Funktion herbeiführt.
Wenn also der Begriff des Wahlrechts bei Frh. v. Düngern zu
enge gefaßt ist, so ist es vollends unrichtig, die Bezeichnung „Wahl¬
reich“ auf Bepubliken im modernen Sinn einzuschränken. Ganz im
Gegenteil bezeichnet er signifikant gerade die Mischformen zwischen
Bepublik und Monarchie. Für wirkliche Bepubliken, wie Frankreich
oder Nordamerika, ist er ganz und gar nicht geläufig. Grimms Deutsches
Wörterbuch definiert Wahlreich zwar ganz allgemein als „Beich, dessen
Herrscher gewählt wird“, setzt es aber in erster Linie gleich mit regno
elettivo und regnum electicium. Was die Wissenschaft der Staats¬
lehre anlangt, so unterscheidet sie fast durchwegs die Bepublik von
der Wahlmonarchie (vgl etwa: Wagener, Staats- und Gesellschafts¬
lexikon, XHL Band, 1863, S. 350ff.; Botteck im Art Monarchie in
Botteck und Welcker, Staatslexikon, X. Band, S. 660; Bluntschli im Art
Monarchie in Bluntschli und Brater, Deutsches Staatswörterbuch, VL Band,
i) Vgl. über diese Listenwahl Rösch, Der Einfluß der deutschen protestan¬
tischen Regierungen auf die Bischofswahlen (Studien des Collegium Sapienti&e zu
Freiburg i. B., IV. Band), Freiburg i. B. 1900. Man mag vielleicht darüber ver¬
schiedener Meinung sein, ob die Aufnahme in die Liste den Aufgenommenen einen
öffentlichrechtlichen Anspruch, gewühlt zu werden, gewährt. Aber derselbe Zweifel
ließe sich wohl auch bei der Berufung zum mittelalterlichen Königtum geltend
machen; fest steht schließlich auch hier nur, daß nach objektiven Normen des
Staatsrechts nur bestimmte Verwandte als Kandidaten in Betracht kommen; ob
aus einer solchen objektiven Norm ein subjektiver öffentlichrechtlicher Anspruch
der einzelnen zu dieser Gruppe gehörigen Personen felgt, ist eine nicht ohneweiters
zu bejahende Frage.
War Deutschland ein Wahlreich?
409
S. 708; Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 1* 1875, S. 582, EL 6 1876,
S. 148). Und wenn sie überhaupt das Unterscheidungsmerkmal zwischen
Monarchie und Republik Zunächst nicht in der Art der Berufung des
Staatshauptes, sondern in seiner Eigenschaft als Träger der Souveränität
findet: so leuchtet doch ein, daß die so gefaßte Monarchie, auch wo
die Berufung des Staatshauptes durch Wahl erfolgt, Tendenzen zur
Erblichkeit leicht zugänglich sein wird; gerade dann finden wir dann
die Wahlmonarchie, das Wahlreich kat' exochen.
Wir müssen also die Kritik v. Dungems an der herrschenden
Lehre ablehnen. Ein reines Wahlrecht behauptet diese für das deutsche
Mittelalter nicht; und auch bei einem durch Verwandtschaft begrün¬
deten Anwartschaftsrecht ist ein Wahlrecht und ein Wahlreich be¬
grifflich möglich.
Nun ist es aber an der Zeit, uns nach den positiven Ergebnissen
der Forschung v. Dungems umzusehen, um zu ihren Abweichungen
Ton der wirklich herrschenden Lehre Stellung zu nehmen.
n.
Die neue Lehre v. Dungems läßt sich etwa folgendermaßen zu¬
sammenfassen.
Auf den deutschen Thron sind immer nur Abkömmlinge Karls
des Großen (in weiblicher Linie) gesessen« Bis in die Zeit der Staufer
war diese Abkunft, wenn auch nicht durch ausdrücklich formulierten
Bechtssatz gefordert, so doch rechtlich notwendig. Zum mindesten war
Blutsverwandtschaft mit dem letzten Träger der Krone Voraussetzung
für die Berufung zur Nachfolge. Unter den durch sie Legitimierten
entscheidet die „Wahl“, u. zw. beruft sie den Nächstverwandten, soferae
er geeignet (insbesondere mächtig genug) ist, sonst den Geeignetsten.
An dieser sogenannten »Wahl* mitzuwirken, war seit dem 9. Jahr¬
hundert nur die von Düngern als Dynasten bezeichnet« Gruppe der
Freien berufen; Deutschland war also im Mittelalter eine Aristokratie.
Indem sich in dieser durch Konnubium verbundenen Aristokratie der
Dynasten mehr und mehr das Blut der Kaiser ausbreitete, sodaß es
um 1200 kaum mehr einen Dynasten nichtkarolingischer Abstammung
gab, »verschmolz der Kreis der Königswähler mit dem Kreis der Thron¬
folgeberechtigten*. »Die Wahlerversammlung ist* nun »die Gerichts¬
versammlung der Standesgeiiossen, die darüber entscheidet, welcher von
mehreren Berechtigten mit dem Königsamt betraut werden soll*. Ge¬
rade damals hört man aber auf, die Karlsabstammung zu betonen,
weil sie »zu banal* geworden war, weil ihrer sich auch ganz verarmte
410 Earl Gottfried Hugelmann.
Dynasten, die nie für den Thron in Betracht kommen konnten, za
rahmen vermochten.
Da sonach die Wahl, weil die Wähler nicht .nach ihrem freien
Belieben durch ihre ungebundene Entscheidung 11 den König bestimmten,
„eine reine Formalität* (S. 26) war, konnte man auf den «Ausweg*
verfallen, «sieben bereits faktisch oder traditionell Bevorzugten* aus
dem schwankenden Wählerkreis «das Amt (sciL dieser Scheinwahl) zu
überlassen“, wobei «jedenfalls* die Erzämter eine «besondere Bolle
gespielt* haben; so seien die Gründe für die Entstehung des Kur-
fÜr8tenkolleg8 «rein technische* (S. 23) gewesen. Die Goldene Bulle
soll «nicht das Zustandekommen einer Neuregelung, nicht die gesetz¬
liche Fixierung eines bestehenden Bechtszustandes in der Art einer
Kodifikation*, sondern «einen theoretisierenden Versuch, diesen Hechts-
zustand zu erklären*, darstellen, wobei «der Jurist den Kern der Sache
nicht ergriff sondern in der Oberfläche, in den Formalien, stecken blieb*.
«Das materielle* auf Verwandtschaft beruhende «Thronfolgerecht konnte
sich unabhängig von der Goldenen Bulle ändern oder erhalten* — und
es hat sich erhalten.
So in der Hauptsache die Theorie des Frh. v. Düngern. Wenden
wir uns ihrer Kritik zu! Betrachtet man diese Theorie, so scheint zu¬
nächst allerdings klar, wie Frh. v. Düngern dazu kommt, den Charakter
des alten Reiches als den eines Wahlreiches zu leugnen. Wenn es
wahr wäre, daß das, was sich äußerlich als Wahl darstellt, nur eine
Formalität ist, dann wäre ja die Bezeichnung «Wahlreich* eine am
äußeren Schein klebende, das innere Wesen verkennende Bezeichnung.
Ganz unfaßbar ist es mir aber bei näherem Zusehen, wie man zu
diesem Vordersatz gelangen und in der von Düngern selbst beschriebenen
Funktion der «Königswähler* nur eine «Formalität* erblicken kann,
von der es mehr oder minder gleichgiltig ist, wem ihre Vornahme zu¬
stehl Selbst wenn man in dieser «Königswahl* — weiter gehend*
als v. Düngern — nur ein rein deklaratorisches Urteil über das ma¬
teriell eindeutig bestimmte Thronfolgerecht erblicken wollte,
wäre diese Auffassung schwer begreiflich. Die Funktion, zu urteilen,
pflegt man sonst selbst in sehr geringfügigen Fragen als keine «For¬
malität* zu betrachten und die Verteilung der richterlichen Kompe¬
tenzen hat zu schweren Verfassungskämpfen Anlaß gegeben. Und hier
soll plötzlich das Urteil in der allerwichtigsten Frage des Staatsrechts
eine belanglose Formalität sein, deren Ausübung sang- und klanglos
von einem Organ auf ein anderes übertragen wird. Nun liegt aber die
Sache noch anders: nach Frh. v. Düngern war das materielle Thron¬
folgerecht viel weniger bestimmt, als etwa nach Krüger — wir kommen
War Deutschland ein Wahlreich?
411
darauf noch zurück —, ▼. Düngern lehrt und betont, daß beim Thronfall
mehreren Personen ein Anspruch auf den Thron zustand und daß
diese Kollision von Ansprüchen durch die Wahl geregelt werden
soll Und dieser konstitutive Akt von unabsehbarer Bedeutung für die
Politik des Staates soll die gleichgiltigste Bagatelle gewesen sein, welche
man aus „rein technischen Gründen* von der Gesamtheit der Fürsten
an einen Ausschuß derselben widerspruchslos übertragen konnte. Man
spricht heute soviel vom „lebenden Recht*. Man vergegenwärte sich doch
das wirkliche Staatsleben! Man denke z. B. einen Augenblick daran,
daß im gegenwärtigen deutschen Reich oder in Österreich-Ungarn eine
noch so beschrankte, an materielle Rechtssatze gebundene Auswahl
(ich finde trotz des angeblichen begrifflichen Gegensatzes in der
deutschen Sprache keinen anderen Ausdruck) zwischen mehreren Thron¬
folgeberechtigten möglich wäre. Gewiß wäre niemand weltfremd genug,
zu meinen, daß sich diese Funktion wegen ihrer Belanglosigkeit als eine
bloße Formalität widerstandslos vom Reichstag auf den Bundesrat oder
von den Parlamenten auf die Delegationen übertragen ließe.
Fürwahr! Die Funktion der Königswahl, wie Frh. v. Düngern selbst
sie schildert, ist keine Formalität Sie ist ein konstitutiver Akt
von grundlegender staatsrechtlicher Bedeutung. Ihre Untersuchung
nach allen Richtungen ist zum mindesten so notwendig, wie etwa
die Untersuchung der „Formalien“ des gerichtlichen Verfahrens, und
ihre Übertragung an die Kurfürsten hört gewiß nicht in Folge ihrer
Bedeutungslosigkeit auf, ein Problem zu sein. Sie verleiht mit Recht
dem alten Reich den Namen eines „Wahlreichs“.
UL
Es könnte scheinen, als ob mit dieser Beantwortung der an die
Spitze gestellten Frage die Auseinandersetzung mit der Theorie v. Dungerns
beendet wäre. Damit würden wir ihr aber in keiner Weise gerecht
geworden sein. Denn man kann die Konstruktion des Thronfolge¬
rechtes in dieser Theorie auf das entschiedenste ablehnen und doch
die wertvollen Ergebnisse der Dungem’schen Forschungen anerkennen.
Ja, gerade wenn man die rechtsdogmatische Aufstellung eines begriff¬
lichen Gegensatzes von Wahl und Berufung zur Thronfolge kraft Ver¬
wandtschaft verwirft, wird man v. Dungerns Arbeiten um so dankbarer
als einen Beitrag zur rid eigen Abgrenzung beider organisch neben¬
einander wirkenden Faktoren des Thronfolgerechtes würdigen.
Es ist zweifellos, daß der Gedanke einer Berufung zur Thronfolge
kraft Verwandtschaft von Haus aus eine weit bedeutsamere Rolle spielte,
als insbesondere die neuere Spezialliteratur über die Königswahl sich
412
Karl Gottfried Hugelmann.
häufig zum Bewußtsein brachte *). In dieser Beziehung haben die Auf¬
stellungen von Dungems durch die das Quellenmaterial sorgfältig und
kritisch abwägende Untersuchung Krügers für die Zeit bis Heinrich IV.
eine neue, sehr beachtenswerte Stützung erfahren.
Von ganz besonderem Werte erscheint mir weiter der von Düngern
herausgearbeitete, das mittelalterliche Staatsleben beherrschende Ver¬
wandtschaftsbegriff. Man war vielfach zu sehr von der Vorstellung
befangen, nur die agnatische Verwandtschaft als Berufungsgrund zur
Thronfolge gelten zu lassen und bei Erlöschen des Mannesstammes ein
fast völlig freies Wahlrecht anzunehmen. Der weite, selbst die Schwäger¬
schaft mitumfassende Verwandtschaftsbegriff, den v. Düngern entwickelt,
gewährt ein vollständigeres Verstehen der politischen Ereignisse, welche
beim Aussterben des Mannesstammes in der deutschen Geschichte ein-
treten, und findet m. E. auch in den Krüger’schen Forschungen seine
volle Bestätigung. Er ist in sehr glücklicher Weise mit ständegeschicht¬
lichen Erkenntnissen, um deren Aufhellung sich ja Frh. v. Düngern
große Verdienste erworben hat, verknüpft Die Dynasten als Königs¬
wähler — diese Formel ist zweifellos für Jahrhunderte richtig. Und es
leuchtet leicht ein, daß bei dem eben gekennzeichneten Thronfolgerecht im
Zusammenhänge mit der genealogischen Tatsache, daß die Dynasten
untereinander verwandt waren und sich mehr und mehr das Blut
Karls des Großen unter ihnen ausbreitete, tatsächlich nur Abkömmlinge
Karls des Großen (in weiblicher Linie) auf den deutschen Thron ge¬
langten.
IV.
War nun aber die Abstammung der Könige von Karl dem Großen
rechtlich notwendig? Diese Frage wird von Frh. von Düngern,
wenn auch nicht mit voller Schärfe, bejaht. Meines Erachtens muß
sie mit aller Entschiedenheit verneint werden.
Zunächst ist hervorzuheben, daß selbst die deutlichste Ausprägung
des Bechtssatzes, daß ausschließlich Verwandte des Königs zur Thron¬
folge berufen sind, die Abstammung von Karl dem Großen noch nicht
zu einer rechtlichen Voraussetzung der Thronfolge macht, mag die¬
selbe hiedurch auch tatsächlich auf Abkömmlinge Karls des Großen
*) Unglücklich ist z. B. die Formulierung bei Krammer, Das KurfÜrstenkolleg,
S. 3: »Der Übergang zu einem völlig neuen Herrschergeschlecht (1034), dem ein
erbrechtlicher Anspruch nicht zur Seite stand, das von dem letzten Könige in
keiner Weise zum Nachfolger designiert war, schuf die Notwendigkeit, den neuen
König, dessen Herrenrecht nunmehr allein auf des Volkes Stimme beruhte, in einer
rechtschaffenden, rechtsetzenden Form zu küren«. Das Buch Krammers besprechen
wir in dieser Zeitschsift an anderer Stelle.
War Deutschland ein Wahlreich?
413
eingeschränkt sein. Von einer rechtlichen Voraussetzung könnte
nur dann gesprochen werden, wenn ein Bewußtsein von der Gebunden¬
heit der Wähler an die Abkömmlinge Earls des Großen erweislich wäre,
wenn — konkret gesprochen — das Bewußtsein bestanden hatte, daß
auch der relativ nächstverwandte Dynast nicht gewählt werden darf,
wenn er ausnahmsweise nicht von Karl den Großen abstammen sollte.
Von einem solchen Bewußtsein kann aber doch wohl kaum die Bede
sein; vor allem deshalb nicht, weil nicht einmal die genealogische Tat¬
sache der Verbreitung des Blutes Karls des Großen unter den Dynasten
den Zeitgenossen so bewußt war, wie sie von der heutigen Forschung
erkannt wurde. Dabei soll gar nicht geleugnet werden, daß die Familien
im Mittelalter gewöhnlich mehrere Generationen zurück mit ihrer Ge¬
nealogie vertraut waren.
Weiter aber, glaube ich, bedarf auch die Annahme einer ausschlie߬
lichen Berufung der Verwandten einer Einschränkung, die bei Frh. v.
Düngern zu wenig, bei Krüger gar nicht zum Ausdruck kommt. Das
Thronfolgerecht kraft Verwandtschaft war nicht nur durch die Kon¬
kurrenz mehrerer Berechtigten eingeschränkt, es war auch an die
Voraussetzung der Eignung des Berufenen geknüpft, es war nur ein
relatives. Dieser Gedanke leuchtet nach meiner Ansicht klar aus
den Quellen, wenn man sie einer unbefangenen Betrachtung würdigt *).
i) Als ein früher und sehr weitgehender Beleg (Ür die deutsche Auffassung,
daß Tauglichkeit eine Voraussetzung der Herrscherstellung ist, kommt insbesondere
die — allerdings zunächst den bayrischen Herzog (der aber doch entschieden die
Stellung eines Stammeskönigs hatte) betreffende — Stelle der lex Baiuvariorum,
text. tert. II, 10 (MG. LL. 1H 390) 23, in Betracht: Si quis filius ducis tarn superbus
vel stultus fuerit, ut patrem suum dehonestare voluerit ... et regnum eins au-
ferre ab eo, dum adhuc pater potest iudicio contendere, in exercitu
ambulare, populum iudicare, equum viriliter ascenderc, arma
vivaciter baiulare, non est surdus nec cecus, in Omnibus ius-
sionem regis potest implcre: sciat se ille filius contra legem fecisse. Hier
versagt wohl jeder Versuch, kirchlichen Einfluß anzunehmen: zu deutlich spricht
— von anderem abgesehen — die auch dem deutschen Privatrecht bekannte typische
Formulierung; in letzter Linie kann man es auch unter dem germanischen Rechts¬
gedanken der Publizität verstehen, daß Herrscher nur sein soll, wer auch nach
außen als solcher auftreten kann. — Ein weiterer unverdächtiger Zeuge der
deutschen Auffassung ist Widekind, wo er (I cap. 25; Schulausgabe pag. 33) von
dem Übergang des Königtums auf das sächsische Hans berichtet; i ^>-htig es
■ein mag, daß Widekind die ar jebliche Ansprache Konrads an Ebf^* “**-
fanden hat, ebenso schwerwiegend bleibt es, daß er, durch und dt
gewiß nicht angekränkelt von kanonischen Rechtsideen (vgl. Watt
lands Geschichtsquellen, I 7 SS. 3f»ö f.), von einem Gedanken bebet
mit dem in der lex Baiuvariorum zum Ausdruck kommenden in
«ammentrifft. Und im Zusammenhalt mit Widekind wird man imi
414
Karl Gottfried Hugelmann.
Hier kommt y. Düngern der Wahrheit immerhin naher, als Krüger*
wenn letzterer der Macht gar keine Bedeutung bei der Wahl beimessen
und das Thronfolgerecht von Kindern als eine ursprüngliche germanische
Einrichtung ansprechen will 1 ).
War aber schon die Verwandtschaft mit dem letzten König nur
eine relative Voraussetzung des Thronfolgerechts, so kann umsoweniger
von einer rechtlichen Gebundenheit an die Nachfolger Karls des Großen
die Bede sein«
Diese Beweisführung ist nun allerdings von einem ganz andern
Begriff des Hechts getragen, als ihn Frh. v. Düngern seinen Aus¬
führungen zugrunde zu legen scheint Zwar darin, daß wir nicht nach
einer verfassungsrechtlichen Satzung, ja nicht einmal nach einer klaren
Formulierung einer Bechtsüberzeugung zu suchen brauchen, daß diese
vielmehr in lebendiger Bechtsgewohnheit sich betätigt haben und aus
ihr allein erkannt werden kann: darin stimme ich — fast möchte ich
sagen selbstverständlich — mit Frh. v. Düngern überein. Nur muh
Cont. Reg. ad a. 919 (Schulausgabe pag. 156), bei welcher ja an sich eine kano-
nistische Färbung eher anzunehmen wäre, einiges Gewicht beilegen dürfen. —
Wenn ferner Über die Thronnachfolge Heinrichs 11. Thietmar lib. V. cap. 25 (Schul¬
ausgabe pag. 121) bemerkt, daß er iure consanguinetatis et aetatis virtutum-
que maturitate ... in regem eligeretur, so kann man hierin nach der
ganzen Fassung, bei der bereitwilligen Anerkennung des Geblütsrechte gewiß keine
kirchliche Tendenz, sondern nur eine Äußerung erblicken, daß dieses Geblütsrecht
durch die Tauglichkeit des Berufenen bedingt war. — Schließlich taucht der Ge¬
danke, daß die »habiliores« für die Wahl in Betracht kommen, auch bei der Wahl
Konrads II. im Berichte Wipos (Cap. 2, Schulausgabe pag. 13) wieder auf; dabei
kommt es wieder nicht darauf an, ob der ältere Konrad wirklich so gesprochen
hat; als Zeugnis für eine verbreitete Rechtsüberzeugung bleibt die Stelle bestehen«
— Alle hier besprochenen Stellen zitiert auch Krüger, aber seine Würdigung der¬
selben ist m. E. nicht ganz unbefangen; wenn man sie im Zusammenhangs
betrachtet, kann man die aus ihnen sprechenden Gedanken unmöglich aus kirch¬
lichen Einflüssen ableiten. Baß Krüger den Quellenzeugnissen nicht ganz unbe¬
fangen gegenübersteht, zeigt sich ferner auch darin, wie wenig Gewicht er S. 75-
darauf legt, daß Heinrich H. in einer Urkunde nicht nur sein Erbrecht, sondern
auch dessen Anerkennung durch das Volk betont, und wie er es S. 123 Anm. 7
unterläßt, aus der Volküberzeugung, daß die Anerkennung der Erbfolge durch das
Volk notwendig sei, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
J ) Krüger stellt S. 73 Anm. 7 folgenden Gegensatz auf: »Die Auflassung de*
Königtums scheint mir vorwiegend ein Zeugnis kirchlichen Geistes zu sein, indem
man dem König bestimmte Pflichten, namentlich auch die »advocatia ecclesiae« etc»
auferlegte. Für die germanische Auflassung des Königs als Heerführers und höchsten
Richters werden sich schwerlich solche Pflichten nachweisen lassen«. Da drängt
sich denn doch von selbst die Frage auf, ob nicht auch der höchste Richter eine*
Amtes, eben des Richteramtes, waltet und ob ein Kind die Pflichten eines Heer¬
führers und höchsten Richters erfüllen kann.
War Deutschland ein Wahlreich?
415
es eben eine Rechtsgewohnheit sein, und das Kennzeichen einer solchen
kann wieder nur darin gefunden werden, daß sich irgendwie das Be¬
wußtsein der Gebundenheit an diese Gewohnheit kundgibt Schon an¬
dernorts *) habe ich gesagt, daß ein Absehen von diesem Kennzeichen das
allerwesentlichste Moment aus dem Rechtsbegriff ausscheidet, ihm sozu¬
sagen das Rückgrat bricht
Es könnte vielleicht scheinen, als ob der Unterschied zwischen
mir und Frh. v. Düngern nur in einer anderen Wertung der Quellen¬
zeugnisse läge. Es könnte so scheinen, wenn v. Düngern nicht —
durch Heranziehung eines modernen Beispieles jeden Zweifel daran be¬
seitigte, daß es sich um eine verschiedene Auffassung der Grundlagen
aller juristischen und daher auch rechtsgeschichtlichen Forschung, deren
Gegenstand doch eben Geschichte des Rechts ist, handelt Frh. v.
Düngern erklärt es (S. 5 Anm. 2) für rechtlich unmöglich, daß der
deutsche Kaiser einen 21jährigen Bauernburschen zum Reichskanzler
ernennt Der einzige Beweis hiefür ist daß eine solche Ernennung
politisch unmöglich und undenkbar ist Hier aber setzt m. E. der
Irrtum ein: nicht alles, was das politische Handeln staatlicher Organe
bestimmt ist Rechtszwang. Daß Bauern Minister wurden, ist in
europäischen Kulturstaaten vorgekommen. Daß eine politische Lage,
in der ein 21jähriger Bauernbursche deutscher Reichskanzler wird, nicht
vorstellbar ist se i zugegeben. Hier aber wirken rein soziale, politische
Kräfte; nicht Rechtszwang. Die Rechts Überzeugung, daß eine solche
Ernennung, wenn sie unter einer ganz außergewöhnlichen, wie gesagt
heute gar nicht vorstellbaren politischen Lage doch erfolgte, wenn der
Ernannte vielleicht ein alle sozialen Voraussetzungen und Schranken
überspringendes politisches Genie wäre, rechtswidrig und nichtig wäre:
diese Rechtsüberzeugung besteht nicht. Ich bekenne mich zur Lehre
vom lebenden Recht; nur habe ich sie immer dahin verstanden, daß
sie geschriebenes „Recht“, welchem eine lebendige Rechtsüberzeugung
entgegensteht zu den Toten wirft, wo sein Platz ist; nicht aber dahin,
daß sie Gewohnheiten, die nicht von einer Rechtsüberzeugung ge¬
tragen werden, zum Recht erhebt
Wollte man, wie Frh. v. Düngern es tut die Grenze zwischen Ge¬
wohnheitsrecht und lediglic/i sozialen und politischen Kräften ent¬
springender Übung fallen lassen, so müßte das öffentliche Recht jeden
festen Boden verlieren. Wh schon angedeutet: politische Lagen, unter
denen ein Bauer Minister wird, sind durchaus denkbar, politische Lagen,
in denen er Ministerpräsident bzw. Reichskanzler, wird, vielleicht nicht
*) Die Wahl Konrads IV. zu Wien im Jahre 1237, Weimar 1914, S. 46.
416
Karl Gottfried Hugelmann.
Und dies soll nun das Kennzeichen eines Bechtssatzes sein? „Zum Wesen
jeden Hechts gehört nun einmal* nach Frh. v. Düngern „klare und
feste begriffliche Gebundenheit und bestimmte Abgrenzung der einzelnen
[Rechtsverhältnisse gegeneinander* (S. 27). Daß im Gegensatz zu dieser
— vielleicht sogar zu weit gehenden Formulierung — der Rechtsbe¬
griff selbst in der Theorie v. Dungems völlig fließend wird, ist ihr
schwerster Fehler.
Y.
Wie bedeutsam diese — an sich in das Gebiet der Rechtsphilo¬
sophie fallenden — Fragen für die historische Methode sind, läßt sich
gerade an den beiden Schriften, die vornehmlich zu unserer Unter¬
suchung Veranlassung boten, zeigen. Es ist nämlich ganz auffallend,
wie die Behandlung der Quellen bei Frh. v. Düngern durch seinen
Rechtsbegriff beeinflußt ist
Ich stimme mit Frh. v. Düngern natürlich darin überein, daß die
Beschaffenheit unserer mittelalterlichen Quellen der Feststellung von
Rechtszuständen bedeutende Schwierigkeiten in den Weg stellt Gewiß
lag es vielfach außer ihrem Gesichtskreis, Rechtssätze abstrakt zu for¬
mulieren; und nichts wäre verkehrter, als aus dem Fehlen solcher For¬
mulierungen allein weitgehende Schlüsse zu ziehen. Und wenn
Frh. v. Düngern (S. 42) „das Verstehen der Quellenwendungen aus
der Zeit heraus“, ihre Wertung „nach dem Eindruck, den sie auf ihre
Zeitgenossen machen konnten und sollten*, fordert, so ist das eine
Wahrheit von der mir nur unerfindlich ist was sie mit der „Über¬
windung der Scholastik* zu tun hat
Nun liegen aber für unsere Frage mindestens zwei erstklassige
Quellenzeugnisse vor, welche einen unbedingten Thronfolgeanspruch der
Verwandten oder gar der Abhömmlinge Karls des Großen deutlich aus¬
schließen, welche abstrakte Formulierungen der entgegengesetzten
Rechtsüberzeugung enthalten. Gewiß wird man — Krüger stellt hie¬
rüber in der Einleitung zu seinem Buch sehr besonnene Erwägungen
an 1 ) — auch solchen Formulierungen gegenüber vorsichtig sein und
i) Im einzelnen kann ich allerdings auch der Quellen-Interpretation Krögers
nicht immer folgen, wie sich schon aus den obigen Anm. zu 88. 413 u. 414 ergibt.
Stellenweise hat sein — sonst vielfach mit Glück betätigtes — Bestreben, die psycho¬
logischen Motive der handelnden und berichtenden Personen zur Interpretation zu ver¬
werten, etwas Gesuchtes. So insbesondere bei der Beurteilung des Berichtes Wipoe über
die Wahl Konrads n., SS. 102/103; gerade wenn der jüngere Konrad seine Nieder¬
lage voraussehen konnte, ist sein Verhalten auch ohne Annahme heroischer Selbst¬
verleugnung sehr erklärlich. Ein anderes Beispiel bietet das angeblich gespannte
Verhältnis zwischen Sachsen und Bayern, welches S. 79 Anm. 26 durch eine ge-
War Deutschland ein Wahlreich?
417
sehr genau prüfen müssen, ob sich in ihnen die herrschende deutsche
oder eine oppositionelle, fremde, etwa kanonische Bechtsüberzengnng
ansprägt. Aber bezeichnend ist es, wie v. Düngern mit diesen beiden
Zeugnissen sich abfindet.
„Wie konnte Eike um die Mitte (?) des 13. Jahrhunderts darauf
kommen, schlechthin Freiheit für das jedenfalls doch eher strengere,
das passive Wahlrecht, zu normieren?* (S. 38). Düngern beantwortet
diese Frage in, wie ich gerne zugebe, scharfsinniger Weise aus der in*
diyiduellen Standeslage Eikes. Und wenn wir sicher wüßten, daß wirklich
das passive Wahlrecht auf die Dynasten oder die Abkömmlinge Karls
des Großen oder auf einen noch engeren Kreis beschrankt war, so wäre
gewiß diese Erklärung für die abweichende Formulierung bei Eike
durchaus annehmbar. Was aber befremdet, ist der Umstand, daß
v. Düngern die Formulierung Eikes gar nicht als ein gegen seine
Theorie sprechendes Argument wertet Daß sich zur Not eine der all¬
gemeinen Bechtsüberzengnng ins Gesicht schlagende Formulierung durch
Eike erklären ließe, ist doch kein Grund dafür, einen solchen Wider¬
spruch ohne zwingende Anhaltspunkte anzunehmen. Frh. v. Düngern
kommt aber zu einer derartigen Annahme in der Hauptsache dadurch,
daß diese Formulierung politisch unmögliche Thronkandidaten
mitumfaßt Auf Grund dieser, wie wir gesehen haben, unzulässigen
Vermischung von politischer Möglichkeit und rechtlicher Gebundenheit
tritt er an den Sachsenspiegel nur mehr mit dem Versuche heran, für
den für ihn unzweifelhaften Widerspruch eine mögliche Erklärung zu
snchen. Und so fest ist er in dieser Vorstellung befangen, daß er
nebenbei die ganz irrige Behauptung aufstellt das passive Wahlrecht
sei jedenfalls eher strenger. Wie falsch dies ist zeigt ein Blick auf
jene Wahl, die Frh. v. Düngern selbst als reinsten Typus der Wahl
ansieht auf die Papstwahl: hier ist das aktive Wahlrecht auf die Kar¬
dinale beschränkt während mit wenigen Ausnahmen jeder giltig ge¬
taufte Mann (!) wählbar ist *). Und diese Ordnung ist durchaus zweck-
legentiiche unmutige Äußerung Thietmars über die Bayern belegt wird. Die Unter¬
schätzung der Bedeutung der Wahl ist es offenbar auch, welche Krüger veranlaßt
S. 136 Anm. 16 die wiederholte Wahl Heinrichs IV. zu Bodfeld 1056 trotz guter
Beglaubigung kurzerhand für unwahrscheinlich zu erklären; mein Aufsatz über
diese Wahl in dieser Zeitschrift XXVH 209 ff. scheint Krüger nicht bekannt zu
sein. Sehr gut hingegen ist z. B. dasjenige, was S. 71 Anm. 7 über die die Karls-
Abstammung betreffenden Stellen gegen Frh. v. Düngern bemerkt wird. Die nötige
Korrektur erfuhren Krügers gewiß sehr verdienstvolle Ausführungen durch ein
kurzes, aber gehaltvolles Nachwort Gierkes über das »Geblütsrecht«.
i) Vgl. Hinachius, System des Kirchenrechts, L Band SS. 279 f. Die Aus¬
nahmen betreffen Kinder, Geisteskranke und Häretiker.
418
Karl Gottfried Hugelm&nn.
mäßig und vernünftig; durch die Beschränkung des aktiven Wähler¬
kreises wird an sich die Wahrscheinlichkeit geschaffen, daß aus diesem
Kreise in der Kegel auch der Kandidat entnommen wird, hief&r werden
auch ohne Kechtszwang soziale Kräfte wirken; nur aus ganz be¬
sonderen Gründen wird bei einem so beschränkten Wahlrecht ein ganz
besonders geeigneter Außenseiter als Kandidat in Betracht kommen, und
eben deshalb wird die rechtliche Möglichkeit seiner Wahl offen
gelassen. Aus denselben Gesichtspunkten ist es gar nicht unmöglich,
daß sich im 13. Jahrhundert wirklich eine Rechtsüberzeugung geltend
machte, die das aktive Wahlrecht auf die Kurfürsten einschränkte, das
passive auf alle Freien ausdehnte — mit dem klaren Bewußtsein, daß
die Einschränkung des aktiven Wahlrechts einen sehr sparsamen und
zurückhaltenden Gebrauch dieser Möglichkeit gewährleiste, man also
einer rechtlichen Einschränkung des passiven Wahlrechts entraten könne.
Noch weniger gelungen ist m. E. die Art, in der sich Frh. v. Düngern
mit einem zweiten, noch unzweideutigeren Quellenzeugnis für den Cha¬
rakter des Reiches als Wahlreich auseinandersetzt (S. 44), mit dem be¬
kannten Satz, des Otto v. Freising: non per sanguinis propaginem, sed
per electionem reges creari. „Objektivität ist eine Ambition des mo¬
dernen Gelehrten; der mittelalterliche erzählt die Dinge didaktisch, wie
er sie gesehen wissen wollte. Otto v. Freising plädierte für den Ein¬
fluß der Aristokratie in einem Zeitpunkt, wo dieser Einfluß gefährdet
war. Es kam ihm gar nicht darauf an, den Einfluß des Blutsverbandes,
der offensichtlich bestand, in aller Form zu leugnen. Seine Zeit wird
ihn verstanden haben“. Ich muß gestehen, daß mir diese Sätze un¬
verständlich sind. Man mag sich mit der größten Entschiedenheit zu
der Forderung bekennen, die Quellen aus ihrer Zeit zu verstehen: das
kann doch nicht bedeuten, daß man jemals aus Quellen das gerade
Gegenteil von dem herauslesen darf, was in ihnen steht. Non per
sanguninis propaginem descendere reges kann doch schlechterdings
nichts anderes als eine Leugnung des entscheidenden Einflusses des
Blutbandes bedeuten! Wäre dem anders, d ann wäre es eigentlich
schade um jede auf die Erkenntnis der Quellen aufgewendete Mühe.
Und nun bedenke man, daß ein Verwandter des staufischen Hauses
diesen Satz niederschrieb! Er mag einseitig, übertreibend, unjuristisch
formuliert sein; ich behaupte aber, daß er unmöglich hätte geschrieben
werden können, wenn die Wahl als Faktor der Berufung auf den
Thron im Rechtsbewußtsein der Zeit jene minimale Rolle gespielt hätte,
die Frh. v. Düngern ihr zuweist 1 ).
*) Daran würde sich auch nichts ändern, wenn wirklich die l>ekannte Stelle
hei Otto v. Freising, wie Krammer, Das Kurfürstenkolleg, SS. 8/9 Anm. 2, be
War Deutschland ein Wahlreich?
419
Die letzte Erwägung leitet schließlich auch zu der methodo¬
logischen Frage über, wie der Bechtshistorikcr Formulierungen des
Thronfolgerechts von außerdeutscher, insbesonderer päpstlicher Seite als
Erkenntnisquellen zu werten hat Selbstverständlich hat v. Düngern
recht, wenn er ihnen mit der größten Skepsis gegenübersteht. Trotzdem
scheinen sie mir aber nicht ganz unbrauchbar für die Erkenntnis des
herrschenden Bechtsbewußtseins. Zunächst darf nicht vergessen werden,
daß die Papste aus den einfachsten Erwägungen politischer Klugheit
an Elemente des deutschen Bechtsbewußtseins anknüpften, dieselben
allerdings einseitig betonten und dadurch zu Bausteinen ihres bürokra¬
tischen Systems machten l ). Weiter aber muß erforscht werden, wie
die deutsche öffentliche Meinung, wie das deutsche Becht auf diese
päpstlichen und überhaupt kanonischen Formulierungen reagiert hat
-Gerade diese Beaktionserscheinungen sind m. E. besonders
wertvolle, von Frh. v. Düngern völlig vernachlässigte Erkennt¬
nisquellen des deutschen Bechtsbewußtseins. Daß auf die
einseitigste Betonung des Wahlrechts durch die Kurialisten fast nie¬
mals von der Gegenseite — auch in der schärfsten Polemik — das
Wahlrecht schlankweg geleugnet wurde, ist der stärkste Beweis dafür,
daß man dasBeich mit vollem Becht ein Wahlreich nennt
Und daß auch in dieser Polemik niemals die Notwendigkeit der Ab¬
stammung des Königs von Karl dem Großen formuliert wurde, beweist
schlagend, daß sie im Bechtsbewußtsein der Zeit keine Stätte
hatte*).
*
_ * *
hauptet, nur das Referat eines 1152 gefundenen Weistums sein sollte. Auch dann
ist dieses Weistum und sein widerspruchsloses Referat durch Otto v. Freising ein
Yollgiltiges Zeugnis gegen die Lehre v. Dungems.
>) So nimmt die heutige Königswahlen-Forschung an, daß die Lehre von
principaliter Berechtigten durch Innozenz ID. aus dem Kreise Adolfs von Köln
übernommen wurde. Ich werde darauf in einer Rezension von Krammers Kur¬
fürstenkolleg zurückkommen.
*) Die beiden schroffsten Formulierungen, unter gänzlicher Verneinung des
Erbprinzipe, hat das Wahlprinzip durch die Kurie bei der gegen Heinrich IV. in¬
szenierten Wahl eines Gegenkönigs und im Kampf gegen die Hohenstaufen in der
Bulle Venerabilem gefunden. — Über den Standpunkt beider Parteien zur Zeit
Heinrichs IV. handelt vor allem (unter Nachweis der einschlägigen Literatur) Mirbt,
Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII. S. 348 f. Seine Darstellung bedarf aber
m. E. einer Korrektur. Es ist allerdings richtig, daß zur Zeit Heinrichs IV., zu
4er das Erbrecht ja fester stand, als jemals sonst, das Reich auch theoretisch ver-
•einzelt als Erbreich gefaßt wurde, u. zw von vereinzelten Vertretern sowohl der
kaiserlichen als auch der päpstlichen Partei, insbesondere von dem kaiserlichen
Walram von Naumburg (vgl. Ewald, Walram von Naumburg, Bonner Dissertation
420
Karl Gottfried Hugelmann.
Wir sind am Ende. Bereits oben (S. 411) wurden die Verdienste
der Theorie des Frh. v. Düngern in vielen Belangen hervorgehoben. In
den aUerwichtigsten Punkten allerdings gelangten wir zu abweichenden
Ergebnissen: die Karls-Abstammung der deutschen Könige ist nach
der hier vertretenen Ansicht vom Wesen des Rechts und der dadurch
bedingten Wertung der Quellen keine rechtlich notwendige; und die
Leugnung, daß Deutschland ein Wahlreich war, beruht auf einer will¬
kürlichen Konstruktion dieses Begriffs.
Mit dieser Stellungnahme aber — das möchte ich zum Schluß
aufs entschiedenste betonen — wären wir den Forschungen v. Dungems
noch immer nicht voll gerecht geworden. Der von ihm erbrachte Nach¬
weis nämlich, daß alle deutschen Könige und Thronkandidaten
von Karl dem Großen tatsächlich abstammen x ), bleibt eine der wert-
1874, S. 75 ff.). Heinrich IV. selbst aber — in diesem durchschlagenden Punkt
ist die Darstellung Mirbts m. E. nicht ganz richtig — hat in seinen offiziellen
Aktenstücken das Wahlrecht niemals geleugnet, ln der von Mirbt, bezw.
Waitz, auf den sich Mirbts beruft, herangezogenen Stelle (MG. Leges II pag. 47,
vgl. nunmehr MG. Gongt. I Nr. 62) stellt Heinrich IV. lediglich seine regia po-
testas als a Deo concessa dem Anspruch des Papstes, daß er das regnum et im-
perium verleihe, gegenüber ; die Wahl wird hier ignoriert, aber nicht geleugnet,
denn auch die Würde des Erwählten pflegte das Mittelalter auf Gott zurückzu¬
führen. Was aber die zweite Stelle anlangt (MG. Leges H pag. 46, vgL nunmehr
MG. Const. I Nr. 60), so ist unter der omnis haereditaria dignitas, welche Hein¬
rich IV. angeblich ab illa sede debebatur, der Patriziat zu verstehen, wie der Zu¬
sammenhang mit anderen politischen Kundgebungen der Partei Heinrichs IV.
deutlich zeigt: es wird hier darauf angespielt, daß Gregor VH. schon bei seiner
Wahl (inprimis) die noch im Papstwahldekret anerkannten Rechte Heinrichs IV.
verletzte. Da nun das Papstwahldekret Heinrich IV. tatsächlich nur ein Recht
einräumte, welches sein Vater Heinrich HL ganz besonders geübt
hatte, konnte man von einem haereditarium ius in dem Sinne eines vom Vater
überkommenen Rechtes sprechen, ohne den Charakter des deutschen Königtums
als eines Wahlkönigtums prinzipiell zu leugnen. — Daß der Bulle Venerabilem
nicht mit einer Berufung auf das Erbrecht, sondern im Gegenteil mit der schärfsten
Betonung des freien Wahlrechts begegnet wurde, ist offenkundig. Erst Friedrich IL
machte schüchterne Versuche, die Wahl seines Sohnes Konrads IV. ausschließlich
auf das Erbrecht zu stützen; aber die Art, in der er es tut, zeigt gerade, wie sehr
er sich dabei im Widerspruch mit der deutschen Rechtsüberzeugung befand. Hie¬
rüber habe ich in meiner Schrift Die Wahl Konrad IV. zu Wien im Jahre 1237
SS. 42 ff. und 46 ff. (bes. S. 49 Anm. 2) gehandelt. — Schließlich verweist Krüger
S. 72 Anm. 7 sehr mit Recht gerade auf Otto von Freising als sicheren Zeugen
gegen die Notwendigkeit der Karls-Abstammung (Chron. lib. VI Cap. 32:
Heinricus tertius, supradictae Giselae filius,.ipso [patre] mortuo, 89. ab An¬
gusto solus regnavit, in ipsoque dignitas imperialis, quae per longum iam tempus
a sein ine Karoli exulaverat, ad generosum et antiquum germcn Karoli reducta est).
i) Der Nachweis bezüglich der Könige findet sich in dem bekannten Buche
v. Dungerns, Thronfolgerecht und Blutsverwandtschaft der deutschen Kaiser seit
War Deutschland ein Wahlreich?
421
Tollsten Bereicherungen unseres historischen Wissens. Lehrt er uns
auch nicht einen Teil des Bechts unserer Vorfahren erkennen, so
zeigt er uns dafür, daß das Recht die Gesamtheit der die historische
Entwicklung bedingenden sozialen und politischen Kräfte mit nichten
erschöpft. Und nur noch bedeutsamer, will mich dünken, erscheint in
dieser Beleuchtung die Erkenntnis, für deren Vermittlung der Historiker,
und nicht zuletzt der Rechtshistoriker, Frh. v. Düngern zu Dank ver¬
pflichtet bleibt
Karl dem Großen (2. Aufl. 1910), bezüglich der Thronkandidaten im I. Exkurs der
hier besprochenen Schrift
MittaUaagsn XXXTI.
Die Urkondensammlung des Codex Ud&lrici.
Von
Hans Hussl.
Der Codex Udalrici ist durch zwei in der Anordnung des Stoffes
last durchaus (übereinstimmende Handschriften, von denen sich die
eine in Wien, die andere in Zwettl befindet 1 ), vollständig überliefert
Das Werk teilt sich in zwei Bücher von ungleicher Große; das
erste Buch enthält nur 22 kleine Gedichte und eine aus den Briefen
des zweiten Buches geschöpfte Sammlung von Briefanfängen, das zweite
hingegen 379 Stücke, von denen die meisten sich als auf Grund echter
Urkunden und Briefe hergestellte Formulare erweisen. Den Widmungs-
Versen, mit denen das erste Buch beginnt, ist zu entnehmen, daß der
Bamberger Alumne Udalrich das Werk an den Bischof von Würzburg
namens Gebhard im Jahr 1125 überreicht hat Da die Handschriften V
und Z übereinstimmend noch jüngere Stücke aufweisen 2 ), muß die
Originalhandschrift über 1125 hinaus, mindestens bis 1134 fortgeführt
worden sein. Ein derartiger Nachtrag (E 1) steht zu Beginn des zweiten
*) Codex bibliothecae c&esareae Vindobonensis 398, im folgenden mit der
Sigle V bezeichnet, und Codex monasterii Zwetlensis 283, im folgenden mit Z an¬
geführt. Herausgegeben wurde der Codex Udalrici von Eccard, Corpus historicum
medii aevi 2 (die Stücke in der Reihenfolge von V; es ist nur diese Handschrift
benützt) und von JafF6, Bibliotheca rerum Germanicarum 5 (beruht auf allen
Handschriften, die Stücke sind zeitlich geordnet); doch gibt JaffS nur jene Urkunden
wieder, für die der Cod. Udalrici einzige Überlieferung ist (Vorrede S. 5). Ich
zitiere fortan nach E-(Eccard-)Nummem; zur Auffindung der sonstigen Drucke
dienen die Übersichten bei JafiS S. 13—16 und unten S. 446 f. — Über die Spur
einer verlorenen Handschrift vgl. Bresslau’s Vorbemerkung zu DK. H. 140. Indes
ist zu beachten, daß gerade E 121, auf das es dabei ankäme, in Z an ganz anderer
Stelle eingetragen als in V (vgl. unten S. 440 u. 446), wohl nachgetragen ist
*) E 366 erwähnt ein Ereignis von Ende des Jahres 1133 in solcher Weise,
daß man Absendung des Briefes zu Beginn des Jahres 1134 annehmen muß. E 367
Die Urkundensarpmlnng des Codex Udalrici.
423
Buches, und das Ende desselben wird durch eine annähernd geschlossene
Reihe solcher jüngerer Stücke gebildet Es sind bei 40 Briefe, die mit E 322
beginnen und der Zeit von 1125—1134 angehören *). Das zweite Buch des
Codex Udalrici zerfällt somit in zwei Teile: einerseits in einen bis 1125
reichenden Hauptteil, andererseits in einen bis 1134 reichenden Nachtrag.
Der Hauptteil des zweiten Buches läßt sich, was bisher nicht genug
beachtet wurde, in drei Teile gliedern, von denen der erste nur die ersten
neun, oder, wenn man den an der Spitze stehenden Nachtrag einrechnet
zehn Stücke (E 1—10), die vorwiegend kanonistischen Charakter tragen,
umfaßt während der zweite, von E 11 bis E 121 reichend, eine Urkun¬
denformularsammlung, der dritte, mit E 122 beginnend, eine Muster¬
sammlung für Briefe darstellt Zwischen den beiden letztgenannten Teilen
-des Codex gibt es auch sonstige Unterschiede. Die Briefe sind in der
Hauptsache nach zeitlichen Gesichtspunkten geordnet was bei den Ur¬
kunden in keiner Weise der Fall ist Ein wesentlicher Unterschied
zwischen der Urkunden- und der Brie&ammlung liegt ferner in der Größe
des Zeitraumes, dem die Stücke angehören. Während erstere Urkunden
von 645—1125 enthält also einen Zeitraum von nahezu 500 Jahren
umspannt umfaßt die letztere nur 70 Jahre, nämlich die Zeit von 1054
(E 188)—1125. Die folgenden Ausführungen werden sich nur mit der
Urkundensammlung, E 11—121, eingehender beschäftigen.
Der Codex Udalrici ist. ein Formelbuch; es erscheinen daher die
einzelnen Stücke meist nicht in vollem Umfange, sondern in gekürzter
Gestalt Die Art wie die einzelnen Stücke behandelt sind, ist ver¬
schieden. Oft ist die Urkunde mit allen Teilen wiedergegeben, oft
fehlt das Schlußprotokoll, oft wird nur der Text geboten. Eigennamen
werden nicht selten ungekürzt genannt; ist dies nicht der Fall, so
werden sie entweder durch N. ersetzt oder es wird der Anfangsbuch¬
stabe des zu kürzenden Wortes geschrieben. Es läßt sich nicht fest¬
stellen, daß an die verschiedene Herkunft der Stücke, die unten darge¬
legt wird, verschiedene Behandlung der Urkunden sich knüpft. In dem
kanonistischen Teil, nämlich bei den Nummern E 5, 6, 7, 7* findet
sich allerdings eine andere Kürzungsart: hier werden Eigennamen durch
richtet sich an Lothar als Kaiser, gehört also in die Zeit von Sommer 1133 bis
Ende 1137. Von den nur in V aufgenommenen jüngeren Stücken E I 23, E 368,
370—372 wird hier abgesehen.
*) J. Bachmann, im Neuen Archiv 38, 535 f. kommt zur Annahme, daß die
Stücke E 329 und 330 noch bei Lebzeiten, des Bischofs Rüger von Würzbuzg
abgefaßt seien (gest. 1125 August 26), in welchem Falle diese zwei Briefe aus der
Reihe der nach 1125 entstandenen Stücke zu streichen sein dürften.
28*
424
Hans Hussl.
ille, iste ersetzt Das mag sich dadurch erklären, daß die Vorlagen,
aus denen jene Formeln geschöpft sind, bereits diese für Udalrich
fremde Kürzungsweise hatten 1 ). In der Urkundensammlung verdient
besondere Erwähnung die Wiedergabe des Schlusses des Papstprivüegs
E 77. Die Datierung fehlt, dafür findet sich der Vermerk: Item pri-
vilegia Benedicti papae ut supra. Gehören diese Worte wirklich zu
E 77, nicht etwa als Überschrift zum folgenden Stück, so dürfte anch
hier Beeinflussung durch die Vorlage anzunehmen sein, da die vorher¬
gehenden Urkunden E 64—76 Diplome Heinrichs IL sind.
Die Urkundensammlung des Codex Udalrid setzt sich zusammen
aus 85 Diplomen, 13 Papsturkunden, einem Synodaldekret, 11 Privat¬
urkunden und einem Brief. Von den drei Urkundenarten die sich
finden, stehen für unsere Untersuchung die Diplome im Vordergründe
des Interesses. Diese überwiegen bei weitem und geben somit der
ganzen Sammlung den Anstrich eines Königsurkundenformelbuches. Das
älteste von den vertretenen Diplomen ist eine Urkunde König Sig¬
berts U. für Stablo (E 46) von ungefähr 648, das jüngste Stück eine Ur¬
kunde Heinrichs V. für Bamberg (E 98) aus den Jahren 1111—1125*
Bezüglich der Anordnung der Diplome befolgte Udalrich ein
ganz eigenartiges System. Er gruppierte zumeist nach Herrschemamen,
das heißt es sind Urkunden, welche von Ludwigen, Ottonen, Heinrichen
ausgefertigt sind, zusammengestellt. Die Vereinfachung geht noch weiter,
so daß Diplome, welche von Herrschern gleichen Anfangsbuchstabens
stammen, durcheinandergemengt sind. Dies erklärt sich daraus, daß
der Ordner den Namen kürzte und nur den Anfangsbuchstaben wieder¬
gab. Die 85 Diplome der Urkundenformularsammlung sind folgender¬
maßen geordnet:
Voran gehen zwei Diplome die noch nicht in diese Ordnung ein¬
gereiht sind: E 13 und E 14*). Dann aber folgen E 17—25, 28—30
Diplome von Herrschern, die den Anfangsbuchstaben C haben 8 ). Von
dieser C-Gruppe gehören E 17—21, 28—30 zu Carl, 22, 24 zu
Carlmann, E 23, 25 zu Conrad.
*) Zeumers Ausgabe, Mon. Germ. Formulae Extr. 1, 18, II, 2, 8, 22, läßt
allerdings diese gemeinsame Vorlage für E 5 bis 7» nicht erkennen.
*) E 13 (von Ludwig HL) und 14 (von Araolf) stammen ebenso wie die
zwei vorhergehenden Papsturkunden aus Lorsch.
’) E 15 und 16 sind Papsturkunden; E 16 bezieht sich wie die folgenden
Stücke E 18—27 auf Regensburg. E 26 und 27 sind von Arnulf auqgefertigk Die
Urkunden schieben sich wohl deshalb hier ein, weil sie wie die vorhergehenden
Stücke für Regensburg bestimmt waren. Inwieweit der Sammler die Zugehörigkeit
der C-Urkundeu zu den einzelnen Herrschern beachtet oder gekannt hat, könnte
nur durch Einsichtnahme in die Handschriften festgestellt werden. Diese scheinen.
Die Ur kundenmmm 1 ung des Codex Udalrici.
425
E 31—36, 39—45 stammen von Herrschern deren Namen mit L
beginnen *). E 31 ist von Lothar, E 32 von Ludwig und Lothar,
E 33—36, 39—45 sind von Ludwigen ausgestellt
Die Urkunden 48—54 stammen geschlossen von Ottonen 8 ).
Die Diplome 59—76, 81, 85, 88, 90—98, 101—105, 109, 111
und 120 sind von Heinrich II., HL, 1Y. und V. ausgefertigt Die
Heike ist hier deshalb so stark durchbrochen, weil sich vielfach päpst¬
liche und private Urkunden einschieben, die eingangs den Namen
Heinrich nennen oder doch zur Gruppe Bamberg gehören 8 ). Überdies
wird am Schluß, wo E 117, 118, 121 von Karl d. Gr., Ludwig d. Er.
und Konrad II. herstammen, das System wieder ebenso verlassen wie
am Anfang.
soviel man aus den Drucken ersieht den Ausstellemamen teils auszuschreiben,
teils zu kürzen, teils ganz wegzulassen, und die Herausgeber haben stellenweise
nach Gutdünken ergänzt. Auf diese Art sind E 23 und 2ö, die von Conrad L
stammen, mehrfach (ygL M.* 2091, 2099) für Urkunden Karls d. Gr. gehalten
worden.
*) E 37 und 38 sind Privaturkunden; sie schieben sich deshalb hier ein, weil
sie ebenso wie die vorhergehenden (E 34—36) und die folgenden (E 39—43)
Diplome aus Regensburg stammen.
*) E 46 und 47 sind von Sigbert II. ausgefertigt; sie sind hier eingereiht,
weil sie wie die zwei folgenden Diplome aus Stablo gekommen waren; aus Stablo
stammen auch zwei Urkunden am Schluß der Otto-Gruppe, E 55 von Hilderich H.
und E 66 von Theoderich 1. ausgestellt.
*) E 57 und 58 sind nicht Diplome; allein E 57, dessen Original nach Aus¬
weis der Rückenaufschrift schon im 11. Jahrh. als Privileg Heinrichs galt (vgl. Mon.
Germ. DipL 3, 169), trögt in V, Z und C (vgl. Jaft6 Bibi. 5, 27 n« 7, Anm. a) die
Überschrift De Heinrico primo imperatore; E 58 ist überschrieben; Privilegium
Henrici Wirzburgensis episcopi; beide Stücke gehören also zur H-Gruppe. E 77
—80 nennen eingangs Kaiser Heinrich als Intervenienten oder als Empfänger.
E 82 ist an den Würzburger Bischof H. gerichtet und hier wie in E 83 ist von
H. imp. bzw. rex. die Rede. E 84 ist zwar von Konrad II. ausgestellt allein Eccard,
also wohl Handschrift Y, schreibt die Urkunde H. zu. E 86, 87 stammen wie 83—
85 und 88 aus Bamberg. E 89 ist wie die folgende von Heinrich ausgefertigte
Urkunde für Goeß bestimmt. E 99 und 100 sind beide für Bischof H. von Bam¬
berg ausgestellt E 106 ist eine Freilassungsurkunde Conrads H. (D. 27, vgl.
‘Quellenstudien aus dem hist. Seminar Innsbruck 5, 45), als Intervenient erscheint
quidam H. E 107 hat als Aussteller: H. Bavariorum dux. E 108 nennt eingangs
den Bischof N.; nachdem aber die Urkunde von Bischof Hartwig stammt, stand
auch hier ursprünglich H. E 1T0 gehört wie 107—109 und 111 zur Empfänger¬
gruppe Bamberg. E 112 ist von H. marchio ausgestellt E 112, 114 dürften wie
die Stücke 107—111 aus dem Bamberger Archive stammen. E 115 ist von Karl HI.,
E 116 von Arnulf ausgestellt; allein die Handschrift Y nennt wie aus Eccard zu
•ersehen, in beiden Fällen H. als Ausfertiger.
426
Hans Hussl.
Man sieht somit, wie Udalrich in seinem Formular-Kodex Ordnung
schuf: Erst trennte er die Urkunden von den Briefen, dann gliederte
er die ürkundenformularaammlung in vier Teile: die C-, L-, 0-, H-Gruppe.
Ist dieses Schema manchmal durchbrochen, so gab, abgesehen von den
am Anfang und Schluß zugefügten Nachträgen, die Herkunft der
Stücke Veranlassung. Denn Udalrich zeigt das Bestreben, Urkunden
gleicher Herkunft möglichst beisammenzulassen. Die Stücke E 11—14
stammen aus Lorsch. Die zwei restlichen Lorsch er Urkunden E 64,
65 schließen sich nicht an, weil sie zur Heinrich-Gruppe gestellt werden
mußten, da sie von Heinrich IL herrühren. Von E16—27 waren sechs Stücke
für Si Emmeram bestimmt. An sie schließen sich geschlossen die sechs
Stücke der Empfangergruppe Reims, so geordnet, daß die drei ersten,
von Carl ausgefertigt, zur vorhergehenden C-Gruppe, die drei letzten,
von Lothar und Ludwig ausgestellt zur folgenden L-Gruppe stoßen.
Man möchte fast glauben, daß Udalrich deshalb auf die C-Gruppe die
L-Gruppe folgen ließ, weil die Urkunden für Reims in diese zwei Teile
gegliedert werden konnten. Die Ludwig-Gruppe ist nun von E 34—43
aus St Emmeramer Stücken aulgebaut Somit erscheinen von E 16—43
zumeist Urkunden für Regensburg, die von E 27—34 durch 6 Reimser
Urkunden unterbrochen werden. Unterbrochen deshalb, weil der Grund¬
satz die Urkunden nach Ausstellemamen zu ordnen es verlangte. Auch
die Stücke für Stablo sind zusammengruppiert: E 46—49; wenn E 55,
56, zwei Urkunden, die gleichfalls hiehergehören, abgesprengt sind, so
geschah dies mit Rücksicht auf die eingeschalteten Diplome, die ge¬
schlossen der Otto-Gruppe angehören. Bei den Bamberger Urkunden
kommt die Zusammengehörigkeit zunächst in folgenden Gruppen zum
Ausdruck: E 57—63, 67—74, 76—88, 95—102, 107—111. Die Stücke
für Goeß 89, 90, Salzburg 91, 92, Hainburg 93, 94, zum Teil auch
die für Hamburg 117—119 sind beisammen gelassen. Es unterliegt
somit keinem Zweifel, daß Udalrich bei der Anordnung ein zweifaches
System befolgte: einerseits nach Ausstellern zu ordnen, andererseits die
Herkunft der Stücke möglichst zu berücksichtigen.
Haben wir uns im bisherigen mit der Kürzungsart und mit der
Anordnung der Stücke beschäftigt, so wird im folgenden ihre Herkunft
zu erörtern sein. Die Diplome gliedern sich in Bezug auf ihre Em¬
pfänger in zwei größere Gruppen, Bamberg und Regensburg, und in
mehrere kleine, die sich teilweise auf jene beiden zurüi kführen lassen*
(Stablo, Reims, Lorsch usw.). Will man der Entstehungsweise dieser
Sammlung von Kaiserurkunden-Formularen nachgehen, so wird es sich
als notwendig erweisen, auch den Formeln für Privat- und Papstur¬
kunden, die sich bei Udalrich finden, Beachtung zu schenken.
Die Urkundensammlung des Codex Udalrici.
427
Am einfachsten erklärt sich die Aufnahme jener Urkunden in das
Formelbuch Udalrichs, die für Bamberg selbst bestimmt sind: es sind
39 Stücke. Diese 39 Urkunden zerfallen in zwei Gruppen: 35 Stücke sind
an die bischöfliche Kirche gerichtet, wenn man E 101 einrechnet, in
welcher Urkunde Heinrich HI. verordnet, daß in das Grab des Herzogs
Melns von Apulien niemand beigelegt werde. Dieses Diplom kam in
das bischöfliche Archiv, weil das Grab des 1020 verstorbenen Herzogs
in der Domkirche von Bamberg lag *). Die vier restlichen Stücke sind
für andere Empfänger in Bamberg ausgestellt, doch läßt es sich dar¬
legen, daß auch sie in das bischöfliche Archiv gelangt sind. E 74
(DH. H. 318), E 83, 108 sind für das Domkapitel, bezw. die Kanoniker
in Bamberg bestimmt Diese drei Urkunden stammen aus dem Archiv
des Domkapitels; nachdem das bischöfliche und das domkapitelsche
Arcliiv nachweislich erst seit dem 16. Jahrhundert getrennt waren,
ursprünglich aber beide Urkundengruppen im Domsegerer (sacrarium)
lagen 2 ), so überrascht es nicht, daß Udalrich neben Urkunden, als deren
Empfänger das Bistum erscheint, auch solche verwendet, die für das
Domkapitel bestimmt sind. Eine Urkunde findet sich, die für das Kloster
St Michelsberg ausgefertigt ist: E 67 (DH. II. 389). In diesem
Diplome schenkt der Kaiser dem Kloster ein Gut das er von einem
seiner Kapellane erhalten hatte. Die Namen der Urkunde, die nur bei
Udalrich überliefert ist sind im Formular nicht genannt Aus dem
Michelsberger Güterverzeichnis 8 ) läßt sich entnehmen, daß der Kapellan
ßothard ein Gut namens Gimbsheim dem Kaiser übergeben hat das
dieser dem Kloster übergab und das später an die bischöfliche Kirche
vertauscht wurde. Nimmt man nun (wie das auch Bresslau tut) an,
daß das namenlos überlieferte E 67 mit der Schenkung dieses Gutes
Gambsheim identisch ist 80 erklärt sich das Vorkommen des Stückes
im Cod. Udalrici einfach; denn mit dem Gute Gimbsheim kam gewiß
auch die Urkunde des Königs an den Bischof; auch dieses Stück wird
also von dem Sammler dem bischöflichen Archiv entnommen sein.
Es ergab sich also von 39 Urkunden, welche in die Formelsammlung
Aufnahme gefunden, daß sie zur Zeit der Abfassung, das ist um das
Jahr 1125, im bischöflichen Archiv zu Bamberg lagen 4 ). Allein es
i) VgL Hirsch-Bresslau, ^ahibftcher des deutschen Reichs unter Heinrich II.
3 ? 160 und Steindorff, Jahrbücher d. d. Reichs unter Heinrich Iü. 2, 264.
•) Haeutle, »Das ehemalige llrBtbischöfliche Archiv in Bamberg«, Arcliivalische
Zeitschrift N. F. 1, 108.
*) Giesebrecht Geschichte d. deutschen Kaiserzeit 2 5 , 600.
4 ) Bresslau, Urkundenlehre 1, 629 hatte die Annahme vertreten, daß Udalrich
aus »Bambenrer Archiven«, also mindestens aus zweien geschöpft habe. Oben wurde
428
Hans HussL
läßt sich dies nicht nur von jenen Stücken nachweisen, die für Bamberg
bestimmt sind, sondern auch von solchen, deren Empfänger an anderen
Orten weilten.
E 93, 94 entsprechen zwei Urkunden, durch welche Kaiser Hein¬
rich HL die Kirche in Hainburg (bei Preßburg) beschenkt (St. 2414, 2415).
Beachtet man den Überlieferungsort dieser beiden Urkunden, so zeigt
sich, daß beide Originale in Bamberg lagen. Dasselbe ist bei E 50 der
Fall, in welcher Urkunde Otto II. der Kirche des hL Lantpert, ehemals
in Kärnten, Besitzungen schenkt (DO. IL 292). Daß dieses Diplom
bereits im 13. Jahrhunderte in Bamberg lag, geht daraus hervor, daß
es im Liber privilegiorum Bambergensium eingetragen ist 1 ).
Drei weitere Formeln sind hieher zu zählen, nämlich E 54, 58 und
80. Sie entsprechen Urkunden für Heinrich II. und für dessen Vater; sie
gelangten nach Bamberg, weil die betreffenden Güter dahin kamen -).
E 114 ist für Kitzingen, östlich Würzburg gelegen, ausgestellt.
Hier erklärt sich die Aufnahme in den Cod. Ud. daraus, daß die Abtei
eine Besitzung des Bamberger Bistums war (vgl. DC. II. 7, St 2589).
Zahlreich sind die Stücke welche für Begensburg ausgefertigt sind.
Hierher sind folgende 29 Eccard-Nummem zu rechnen: 16, 18—27, 34
—43, 45, 51—53, 66, 75, 115, 116. Diese Gruppe zerfällt in zwei
Teile: einerseits Urkunden, die aus dem Archive von St Emmeram
stammen, andrerseits Stücke, die dem Archive der königlichen Marien¬
kapelle, oder auch „alte Kapelle* genannt angehörten.
Aus dem Klosterarchive von St Emmeram stammen einmal jene Ur¬
kunden, die für Emmeram ausgestellt wurden, nämlich folgende 20 Stücke:
16, 18, 23, 25—27, 34—43, 61, 53, 66, 115. Im Klosterarchiv lagen
ferner zwei Urkunden, die fremde Empfänger aufweisen: E 22, 24.
In E 22 (M 8 1537) schenkt Karlmann seinem Priester Job Be¬
sitzungen im Donaugau — Die Urkunde enthält die Bestimmung, daß
die Güter nach dem Tode Jobs an St Emmeram fidlen sollen. Hierin
ist der Grund zu suchen, weshalb dieses Stück in das Klosterarchiv
kam. Die Urkunde ist erhalten in der Urschrift und in einer Abschrift
aus dem 11. Jahrhundert; beide stammen aus St Emmeram.
versucht zu erweisen, daß Udalrich nur ein Archiv, nämlich das bischöfliche, be¬
nützte. Auch Bresslau, Vorbemerkung von DH. H. 389, dachte nur an das bischöf¬
liche Archiv, wiederholt aber Urkundenlehre 2 f , 253 die alte Fassung,
i) VgL Hon. Germ. DD. 2, 899.
*) Zu E 80 vgl. DH. H. 382, Pereis in Hist Aufsätze für K. Zeumer S. 490 f.
und Brackmann, Studien und Vorarbeiten 1, 113; über die durch Heinrichs Hand
an Bamberg gelangten Urkunden s. Mon. Germ. DD. 2, 898 und 3, 727.
Die ürkundensammlung des Codex Ulalrici.
429
Das zweite Stück £ 24 (M 2 1539) stellt eine Urkunde dar, durch
welche Karlwiann einen Vertrag, der zwischen dem Abte und den
Mönchen des Klosters Mondsee geschlossen wurde, bestätigt Dieses
Diplom ist sonst nur in einem Emmer&mer Chartular aus dem 11. Jahr¬
hundert enthalten. Der Grund dafür, warum diese Urkunde nach St Em¬
meram kam, liegt darin, daß Mondsee seit 833 (vgL M* 1349) zum
Besitz des Regensburger Klosters gehörte.
Weniger sicher ist die Zugehörigkeit von £ 17 und E 52. In dem
erstgenannten richtet Karl 4 Gr. an den Erzbischof N. eine Anfrage über den
Taufritus. Karl sandte eine Enzyklika gleichen Wortlauts an die Erz¬
bischöfe seines Reichs (M- 474). Daß eine Abschrift davon auch nach
St Emmeram gelangte, ist möglich, aber nicht zu erweisen. Auch von
E 52 wissen wir, wenn diese Urkunde wirklich für die bischöfliche
Kirche bestimmt war 1 ), nicht, wann und wie sie in das Klosterarchiv kam.
Die Einreihung im Cod. Ud. spricht aber in beiden Fällen für Zuge¬
hörigkeit zur Gruppe St Emmeram.
Die zweite Abteilung der Gruppe Regensburg bilden jene Urkunden,
die aus dem Archive der königlichen Marienkapelle herrühren. Für
diese Kirche sind drei Urkunden unserer Sammlung bestimmt, E 20.
45, 75; in diesem Archive sind aber auch drei Urkunden erhalten,
welche andere Empfänger aufweisen: E 19, 21, 116.
ln der einen, E 19, verleiht Karl III. cuidam fideli nostro quandam
eapellam. — Sucht man die Urkunde, die dieser Formel entspricht, so
findet man, daß dieses Formular nach M 2 1652 abgefaßt ist In
M 2 1652 schenkt Karl 1LL seinem Getreuen Euprant eine Kapelle mit
der Bestimmung, daß sie nach dessen Tode an die k. Marienkapelle
in Regensburg fallen solle. In dieser Verfügung liegt offenbar der
Grund für die Aufbewahrung im Archiv der Marienkapelle.
Die nächste in Betracht kommende Urkunde ist E 21 (M 2 1710).
Hierin verleiht Karl UL dem Abte Engelmar, was der k. Kapelle in
Regensburg in der Stadt gehört, als lebenslängliches Eigen. — Das
Original der Urkunde trägt eine Dorsualaufschrift von derselben Hand,
welche solche auch auf andere Urkunden aus dem Archive der Marien¬
kapelle (so E 20 = M 2 1690) anbrachte.
In einer dritten Fornel E 116 (M 2 1920) beschenkt Amolf die
Kirche zu Roding (in der (berpfalz). Die Kirche in Roding kam an
die Marienkapelle und mit ihr auch die Urkunde selbst 2 ). Es liegen
i) So Budde im Arch. f. Urkundenfechg. 5, 166; anders Sickel zu DO. II. 204.
’) In J-L. 15371 Brackmann, Germania pontificia 1, 279 n° 2 (gedruckt:
Ried, Codex dipl. Ratisponensis 1,263) bestätigt Papst Lucius HI. der alten Kapelle
in Regensburg: ecclesias in vestro fundo sitas, Kotigen scilicet cum apenditiis suis ..
430
Hans Hu881.
also im Cod. Ud. drei Urkunden vor, welche die Marienkapelle als
Empfänger haben, und es finden sich drei weitere Diplome, die au
andere Empfänger gerichtet sind, aber auf dargelegte Art in das Archiv
dieser Kapelle gekommen waren.
Wir haben bisher die Geschichte der Urkunden aus der Gruppe
Regensburg bis zu dem Punkte verfolgt, da die einen in das Archiv
des Klosters Sh Emmeram, die andern in das Archiv der Marienkapeüe
gelangten. Es würde nun darzulegen sein, wie der Bamberger Udalrich
zur Benützung dieser Urkunden kam. Die Stücke für die Marienkapelle
kamen mit dieser Kirche selbst nach Bamberg. Diese königliche Ka¬
pelle wurde nämlich im Jahr 1009 von König Heinrich IL an Bamberg
geschenkt (DH. II. 196). In der Urkunde ist von capella sive abazia
intra urbem Radesponam die Rede. Daß auch das Archiv übergeben
wurde, erweist der Umstand, daß in dem ältesten Repertorium des Bam¬
berger Archivs, in dem Registrum generale aus der Mitte des 15. Jahr¬
hunderts, als 5. Abteilung die alte Kapelle in Regensburg genannt
wird x ). Da sämtliche sechs Urkunden, die aus dieser Gruppe sich im
Cod. Ud. finden, älter als 1009 sind, und ihre Originale, soweit er¬
halten, aus dem Bamberger bischöflichen Archive stammen, so unterliegt
es keinem Zweifel, daß Udalrich sie eben dorther geschöpft hat
Schwieriger ist es, eine Erklärung für die Übernahme der 22 (oder
allenfalls 24) Stücke aus dem St Emmeramer Archive zu finden; sie
sollen daher weiter unten (S. 441 ff.) im Zusammenhänge mit jenen
11 Stücken besprochen werden, von denen es sich ebenfalls nicht sicher
feststellen läßt, auf welchem Wege sie in den Cod. Ud. gekommen
sind.
Aus dem bisher Gesagten ergab sich folgendes: 39 Urkunden, welche
Formularen des Cod. Ud. entsprechen, sind für Bamberg bestimmt und
lagen um 1125 im bischöflichen Archive; 6 Stücke kamen durch die
Schenkung der Marienkapelle in das bischöfliche Archiv Bamberg,
7 weitere in kleineren Gruppen auf verschiedenen Wegen. Es liegt
also bei 52 Urkunden nachweislich Überlieferung durch das Bamberger
bischöfliche Archiv vor.
Noch fünf Stücke dürften zu dieser Gruppe zu rechnen sein:
E 104 (St 2988 b) 1077—84, Heinrich IV. beschenkt seinen
Diener R.
E 105 (St 2988a) 1056—84, Heinrich IV. beschenkt seinen
Diener H.
*) Haentle, Das ehemalige türstbischöfliche Archiv in Bamberg in Archivaliche
Zeitflcbrift N. F. 1, 108. Vgl. Brackmann, Germ. pont. 1, 279.
Die Urkundensammlung des Codex Udalrici.
431
E 106 (DC. II. 27) 1024—26, Konrad II. läßt die Magd A. frei.
Der Cod. Ud. bietet die Empfänger dieser Urkunden nur mit dem
Anfangsbuchstaben; das Eschatokoll fehlt gänzlich, weshalb sich weder
Ort noch Zeit der Ausstellung ermitteln lassen. Die Urkunden, welche
diesen Formularen entsprechen, sind nicht bekannt; es ist daher nicht
möglich, aus dem Überlieferungsorte Schlüsse auf den Empfänger zu
ziehen. Bei solcher Lage kann nur die Formel selbst und ihre Ein¬
reihung Aufschluß geben. Diese drei Stücke stehen bei Udalrich un¬
mittelbar hintereinander; das ist umsomehr beachtenswert, als E 106
von Konrad ausgestellt, vereinzelt unter den von Heinrichen ausge¬
fertigten Urkunden steht Würde man diesen Umstand auf gemein¬
same Herkunft der Stücke zurückführen, so könnte man vermuten, daß
alle drei Urkunden aus Bamberg stammen, denn für E 104 ist dies
wahrscheinlich, da hier der Bischof von Bamberg als Intervenient ge¬
nannt wird. Nachdem ferner acht vorhergehende Stücke (E 95—102) und
die fünf unmittelbar folgenden (E 107—111) für Bamberg bestimmt
waren, so werden wohl fast sicher auch unsere drei Diplome dem
Bamberger Archive entstammen.
Zu den in Bamberg überlieferten Urkunden dürften ferner noch zwei
Stücke für Würzburg zu zählen sein.
E 82 stellt einen Brief dar, den Johann IV., Patriarch von Aquileia,
an den Bischof von Würzburg Heinrich I. sandte. Dieser Brief fand
in die vita Heinrici II. imperatoris Aufnahme, welche ein Bamberger
Diakon, namens Adalbert, um 1146 schrieb 1 ). Adalbert benützte Ekke¬
hard, Otloh, Udalrich und das Bamberger Archiv selbst Sein Werk
liegt uns in zwei Rezensionen vor; die jüngere unterscheidet sich von
der älteren hauptsächlich dadurch, daß in ihr Urkunden aus dem Bam¬
berger Archive, das für Adalbert erst nachträglich geöffnet worden war,
eingeschaltet sind 2 ). Man könnte annehmen, daß Adalbert diesen Brief
*) Waitz, M. G. SS. 4, 798 und Wattenbach, Geschichtsquellen 2 6 , 384.
*) Diese eingeschobenen Stücke, welche den beiden älteren Handschriften, der
Gurker und der Gothaer, fehlen, sind c. 7—19. Vgl. Arndt, Zur Vita Heinrici H.
imperatoris in Forschungen zur deutschen Geschichte 10, 604 und W. Schmidt,
Über die älteste Handschrift der Adalberti vita in Forschungen z. deutschen Ge¬
schichte 9, 361. Der Umstand deß die Urkunde DH. II. 514, welche in der vita
Heinrici des Adalbert auf den B ief des Patriarchen folgt (c. 15), gefälscht ist,
dürfte die Echtheit von E 82 v bei Adalbert cap. 14) wohl nicht verdächtigen.
Denn DH. H. 514 ist, wie Bloch, Jseues Archiv 25, 220 und Bresslau, Vorbemerkung
zu DH. H. 514 ausführen, Fälschung des Diakons Adalbert. Der Brief E 82 kann
aber deshalb nicht von Adalbert gefälscht sein, weil er schon 1125 vorlag. Adalbert
wollte eine Zusammenfassung über das Entgegenkommen geben, das Heinrich II»
gegenüber Bamberg an den Tag gelegt. So verfaßte er aus den echten Urkunden
432
Hans Hussl.
aus Udalrich schöpfte; doch dürfte dagegen wohl der Umstand sprechen,
daß Adalbert den Namen des Würzburger Bischofs Heinrich ausschreibt,
während wenigstens die Handschrift V des Cod. Ud. ihn nur mit der
Kürzung H. bietet. Aller Wahrscheinlichkeit nach lag der Brief um
1146 im Bambergischen Archiv. Daß schon Udalrich ihn hier fand, dafür
spricht auch die Einreihung. Die vorhergehenden und folgenden Stücke
(E 76—81, 83—88) entstammen dem bischöflichen Archiv. — Das
Stück dürfte deshalb nach Bamberg gelangt sein, weil es die Antwort
auf ein Bundschreiben ist, das die Bamberger Kirche betraf, und einen
Glückwunsch über die Gründung des Bistums darstellt
Noch ein zweites Stück für Würzburg ist im Cod. Ud. überliefert:
E 112. In dieser Formel schenken der Markgraf H. und seine Ge¬
mahlin A. der Kirche von Würzburg praeposituram N. in pago N.
Ussermann l ) bringt nach einer Abschrift aus dem Archive in Heiden¬
feld die entsprechende Urkunde, welche besagt daß Graf Hermann und
seine Frau Alberada die Probstei Heidenfeld au Würzburg schenkten.
— Gräfin Alberada hatte sich in zweiter Ehe mit dem Markgrafen
Hermann vermählt. Beide schenkten ihre ganze Herrschaft, zwischen
Itz und Main, an die von ihnen erbaute Kirche Banz und übergaben
sie an das Bistum Bamberg. Um die Einwilligung des Bischofs von
Würzburg zu erlangen, übergab ihm der Markgraf die Propstei Heiden¬
feld. Es ist unsere Urkunde, welche am 7. Juli 1069 ausgefertigt
wurde. Am selben Tage bestätigte der Bischof von Würzburg Adalbert
die Gründung der Kirche Banz 8 ). Im Jahre 1071 unterfertigte Hermann
die Urkunde, durch welche er Banz an Bamberg übertrug 8 ). Das Gebiet
blieb bei Bamberg und das Kloster, das nach dem Tode des Stifters
verfallen war, wurde von Otto wieder hergestellt 4 ).
Durch diese Beziehungen Bambergs zum nahen, innerhalb seiner
eigenen Besitzungen gelegenen Heidenfeld ist es erklärlich, daß die Ur¬
kunde oder eine Abschrift nach Bamberg gelangte.
Bei 57 Stücken könnte sich also die Aufnahme in den Cod. Ud.
dadurch erklären, daß die entsprechenden Vorlagen sich zur Ab¬
fassungszeit des Formelbuches im bischöflichen Archive zu Bamberg
befanden; im folgenden soll gezeigt werden, daß auch Texte solcher Ur-
diese neue ohne böswillige Absicht. Die Kompilation ist mehr als ein stilistischer
Kniff, als eine selbstnützige Fälschung aufzulassen, wie auch sonst dem Diakon
sich keine Fälschungen nachweisen lassen.
*) Ussermann, Episcopatus Wirzeburgensis, cod. probationum 21.
*) Ussermann, a. a. 0. 22.
*) Ussermann, a. a. 0. 23.
4 ) Ussermann, a. a. 0. 78.
Die Urkundenßammlung des Codex Udalrici.
433
knnden in den Codex aufgenommen wurden, deren Originale sicherlich
nie nach Bamberg gelangt sind.
Da sind die Stücke der Gruppe Lorsch zu erörtern. Das Kloster
Lorsch erscheint in folgenden Stücken als Empfänger: E 11 (J-L
4189), E 12 (J-L 3834), E 14 (M 2 1927), E 64 (DH. II. 272), E 65
(DH. H. 244).
In E 13 (M 2 1572) schenkt Ludwig III. im Jahre 881 seinem
Getreuen (im Cod. Ud. ist der Name nicht genannt, in der dem For¬
mular entsprechenden Urkunde heißt er Humbold) das Gut Alsheim.
— Da dieses Gut 884 durch eine Schenkung Karls III. (M 2 1687) an
das Kloster Lorsch kam, erklärt sich die Aufnahme der Urkunde in
das dortige Archiv.
Im Cod. Ud. liegen somit sechs Stücke vor, welche im Lorscher
Archive sich befanden l ): das jüngste dieser Stücke (E 11) stammt aus
dem Jahre 1049, das älteste gehört dem Jahre 881 an (E 13). Da
drängt sich nun die Frage aufj wie Udalrich zu diesen Lorscher Stücken
gekommen ist Die Originale der Urkunden dürften im 12. Jahrhunderte
in Lorsch gelegen haben, wo der Verfasser des Chronicon Laureshamense
sie benützte (M. G. SS. 21, 337); sie können von Udalrich schwerlich
verwertet worden sein. Einfacher erklärt sich die Frage, wenn wir in
Erwägung ziehen, daß alle sechs Urkunden in jenem berühmten Codex
Laureshamensis sich finden, dessen erster Teil das genannte Chronicon
Laureshamense, welches 35 Folien umfaßt, dessen zweiter den Codex
traditionum entschließt, der 193 Folien zahlt; im Chronicon sind obige
sechs Stücke enthalten 2 ) Diese Chronik entstammt nicht der Feder eines
Mannes; fünf Hände waren an ihr beschäftigt. Der erste Schreiber
war bis foL 34' tätig; er hat, wie Pertz ausführt, in der Zeit von 1167
—80 geschrieben *), der Text der fünften Hand scheint nach 1266
zum Abschluß gekommen zu sein. Auf den ersten 34 Folien finden
sieh unsere sechs Urkunden. Daß zwischen dem Werke Udalrichs und
der Chronik von Lorsch ein Zusammenhang besteht, dürfte wohl fest-
stehen 4 ). Die uns erhaltene Chronik kann jedoch nicht dem Udalrich
i) Bereit» Säckel, Acta Kar. 1, 13 bemerkt, daß Stücke für Lorsch sich im
Codex Udalrici finden. K. Pertz in Mon. Germ. SS. 21, 334 übersah £ 13.
*) Du Chronicon Laureshamense ist herauagegeben in MG. SS. 21: auf*
Seite 411 findet «ich E 11, auf S. 399 £ 12, S. 375 E 13, S. 380 £ 14, S. 404
E 64 und £ 65.
*) über den Cod. L mrpsham . vgL Pertz MG. SS. 21, 335 ff. und WatUife,
hach, Deutschlands Geachichtaquellen 2 # , 402 f.
« Die Ton Waitz in der Vorrede zu Ekkehard» Chronicon univenale “
SS. 6, 5 aufgeste&te Annahme, daß Ekkehard (das wäre also nach Brenlan’s Q
im N. Arcfarr 21, 189 ff. richtiger Frutoif von Bamberg) die Annale» Laurial
ä
434
Haag H u b s I.
Vorgelegen haben, da sie erst nach 1167 begonnen wurde, es muh von
Udalrich eine ältere Handschrift benützt sein, doch laßt sich aus der
heute erhaltenen Chronik das ältere Werk kaum herausschälen. Die
untere Zeitgrenze des verlornen älteren Codex ist durch E 11 gegeben, er
muß also zwischen 1049 und 1125 entstanden oder vorläufig abge¬
schlossen worden sein. Eine genauere Zeitbestimmung ist aber deshalb
nicht möglich, weil nicht zu erweisen ist, ob zur Zeit der Benützung
des Chronicon durch Udalrich die nächstfolgenden jüngeren Stücke aus
den Jahren 1065 (St 2661) und 1067 (St. 2703, 2704, 2710) schon
eingetragen waren oder nicht Denn die Gesichtspunkte, von denen
sich Udalrich bei der Auswahl der Stücke leiten ließ, sind schwer zu
ersehen. Von den vielen Urkunden, die für Lorsch ausgestellt wurden
und in der heutigen Chronik erhalten sind, wurden nur sechs aufge¬
nommen. Die Chronik enthält über 60 Diplome, die vor dem Jahre
1049 ausgestellt sind, bei Udalrich erscheinen davon nur vier. Es wird im
Auge zu behalten sein, daß Udalrich einen Musterbriefsteller verfassen
wollte und daher die Stücke nach seinem Geschmacke in willkürlicher
Weise zusammenstellte. Auch aus dem Bamberger Archive sind ja bei
weitem nicht alle Urkunden übernommen, ohne daß für die Auswahl
der Grund angegeben werden könnte: im Bamberger Archive sind bis
1125 über hundert Diplome erhalten, im Codex Udalrici erscheint
davon nur ungefähr der dritte Teil.
Nebst diesen Lorscher Stücken trifft man auch solche für Bei ms.
In den Cod. Ud. fanden sechs Urkunden, die für Reims ^stimmt sind,
Aufnahme; von diesen sind fünf für die Kirche in Reims, eines (E 31
M 2 1072) für Bischof Ebo ausgestellt. Für den Bamberger Alumnen
wurden diese Stücke dadurch zugänglich, daß sie alle in dem Werke
Flodoards, Historia Remensis ecclesiae, enthalten waren 1 ). Ihn hat
Udalrich, wie schon Sickel, Acta Carolinorum 1, 13 bemerkt, benützt
E 28—30 sind im 4. Kapitel des dritten Buches. E 31 im 20. Ka^
pitel des zweiten Buches, E 32, 33 im 19. Kapitel dieses Buches über¬
liefert Die geringfügigen Abweichungen, die bei Udalrich gegenüber
Flodoard auftreten, sind in den Fußnoten der Ausgabe der Historia
angegeben. Bei Udalrich stehen alle sechs Urkunden unmittelbar hinter¬
einander, wie es der gemeinsamen Herkunft und den oben beobachteten
benützte, könnte als Zeichen engerer Beziehungen zwischen Lorsch und Bamberg
gedeutet werden; aber die betreffenden Stellen (Waitz a. a. 0. Anm. 56) sind nicht
bloß dem verlorenen Lorscher Codex, sondern auch anderen Handschriften der
Annales regni Francorum eigen, vgl. die Ausgabe von Kurze S. 28, 38, 64 u. 100.
*) Flodoardi Historia Remensis, herausgegeben in MG. S8. 13, 406 ff.; E 28
auf Seite 477, E 29 auf S. 478, E 30 S. 477, E 31 S. 473, E 32 S. 470, E 33 S. 469.
Die ürkundensammlung des Codex Udalrici.
435
Regeln entspricht Daß Udalrich das Werk des Flodoard benützte
kann nicht überraschen, denn dieses war im Mittelalter stark verbreitet
{vgL SS. XIII. 407). Die ältesten erhaltenen Handschriften der Historia
gehen in das 13. Jahrhundert zurück; die im Cod. Ud. erhaltenen Texte
beruhen daher auf einer verlorenen älteren Handschrift, was ihnen be¬
sonderen Wert verleiht
Für die Einreihung der sechs Urkunden in die Formelsammlung
war die Herkunft maßgebend; doch sind sie so eingestellt daß die
drei letzten Stücke E 31, 32 (von Lothar, bezw. Ludwig und Lothar
ausgestellt) und E 33 (von Ludwig) bereits zur L-Gruppe stoßen.
Im Codex Udalrici finden sich ferner sechs Stücke, die für das
Kloster Stablo bestimmt waren: E 44 (M* 545) 47, 48 (DO. 1IL 33),
49 (DO. II. 219), 55, 56; zu diesen Urkunden gehört noch E 46,
welches Stück für Cougnon, eine mit Stablo verbundene Abtei, ausge¬
stellt wurde. Diese sieben nieder-lothringischen Urkunden fanden in
den Cod. Ud. durch eine Handschrift Eingang, die aus Stablo
stammt nach Bamberg kam und heute noch in der königlichen Bib¬
liothek daselbst liegt*). Ihr ursprünglicher Bestand, zu dem auch die
vier in den Cod. Ud. übergegangenen Merowingerurkunden E 46, 47,
55 und 56 gehören, ist in der ersten Hälfte des 10. Jabrh. geschrieben,
E 44, 48 und 49 sind um das Jahr 1000 nachgetragen worden. Da
die seit diesem Zeitpunkt für Stablo ausgestellten Urkunden keine Auf¬
nahme mehr fanden, so scheint die Handschrift zur Zeit der Gründung
des Bistums Bamberg, im Jahr 1007 oder bald darnach, in die dortige
Dombücherei gekommen zu sein 2 ).
Bezüglich der Anordnung der Urkunden im Formelbuche Udalrichs
ist auch hier zu beobachten, wie sich die beiden Absichten, die Stücke
nach Herkunft und nach Herrschernamen zu ordnen, kreuzen. E 44 (von
Ludwig I. ausgestellt) ist zur Ludwig-Gruppe gezogen; E 46, 47, beide
von Sigbert II. ausgefertigt schieben sich zwischen die Ludwig- und
Otto-Gruppe, so daß die beiden folgenden E 48, 49 (von Otto IL und
Otto UL) zur Otto-Gruppe stoßen. E 55, 56 (von Hilderieh II. und
Theoderich UL) sind zwischen die Otto- und Heinrichurkunden ein¬
gestellt
Im Folgenden sollen 11 Urkunden erörtert werden, bei denen sich
die Berührung mit Bamberg nicht verfolgen läßt die aber gerade deshalb
erhöhtes Interesse verdienen, E 15, 89—92, 103, 117—121.
*) Dieser Kodex trägt die Standortsminimer E III 1; bereits Sickel^* 1 “
den Zusammenhang zwischen Udalrich and dieser Handschrift Acta Kaxf*
*) Vgl. Rieger »Der codex Stabulensis der k. Bibi, zu Bamberg« b
!»rieht de» Franz Josef-Gymnasiums in Wien, 1882, S. 19 tf.
436
Hans Hussl.
In E 15 bestätigt Papst Gregor IV. dem Kloster Fulda seine
Privilegien. Von Papst Gregor IV. sind zwei verschiedene Privilegien¬
bestätigungen für Fulda erhalten, J-L 2568 und 2569 1 ). Die erst¬
genannte ist in einer Einzelkopie und außerdem im Codex Eberhardi
(8. 7 und 71) auf uns gekommen, die zweite dagegen in einer Einzel-
kopie und durch den cod. Ud., unser E 15. Diese zweite Urkunde nun,
J-L 2569 wurde mit guten Gründen als eine Fälschung angesprochen
und ihre Entstehung wurde in das zweite Drittel des 11. Jahrhunderts
gelegt *). Die Urkunde scheint nach J-L 4134 (Clemens II. für Fulda)
und J-L 4170 (Leo IX. 1049 Juni 13 für Fulda) hergestellt zu sein,
die Datumzeile erinnert stark an jene, welche J-L 2605 (Leo IV. für
Fulda) aufweist Als terminus a quo der Fälschung ergibt sich 1049, in
welchem Jahre J-L 4170 ausgefertigt wurde. — E 15 ist im Codex
Udalrici zwischen Lorscher Urkunden (E 11—14) und einem Stück
für St Emmeram (E 16) eingeschaltet und stellt die einzige Aus¬
fertigung für Fulda in der ganzen Sammlung dar. Es wäre verlockend,
die Formel zu dem darauf folgenden Emmeramer Stück zu stellen.
HiefÜr fanden sich gewisse Anhaltspunkte. Die Urkunden für St Em¬
meram stehen in Beziehung zu einem Begensburger Mönche Otloh,
indem mehrere Stücke (E 16, 18, 27, 43) von ihm gefälscht zu sein
scheinen. Otloh verließ 1062 sein Kloster und begab sich nach Fulda*
wo er bis 1066 weilend, mit Benützung des dortigen Archivs mehrere
Werke schrieb 8 ). Wenn nunmehr in Fulda um diese Zeit Urkunden¬
fälschungen entstehen, die ihre Spitze gegen Mainz und Würzburg
kehren, auf welche Bischöfe Otloh mit Haß erfüllt war, so könnte man
auch hier die Hand des in Regensburg geübten Fälschers erkennen 4 ).
*) Tangl, in Mitt d. Inst. 20, 234, 236 Anm. 4 Bucht das AnssteUdatnm der
echten Urkunde Gregors IV. J-L. 2568 in der Zeit 827—842 und zwar eher in
den späteren als in den früheren Jahren.
*) Harttung, JLKplomatisch-historische Forschungen S. 347 f. und 370 ff., wo
aber die Überlieferung im cod. Ud. nicht berücksichtigt ist.
*) Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen 2 6 , 66.
4 ) Meine Vermutung ließe sich erhärten, wenn J-L. 2569 stilistischen An¬
klang an die Emmeramer Fälschungen aufweisen würde; allein J-L. 2569 schließt
6ich so stark an J-L. (3907 =) 4134 und 4170 an, daß nur eine unabhängige
Stelle bleibt: nec umquam ab aliquo episcopo consecrationem expetat nisi a Ro¬
mano pontifice, nec consecratus ad aliud monasterium in Fuldensi introducatur vel
praeponatur monasterio; auch zu dieser Wendung findet sich teilweise eine in¬
haltliche Parallele in J-L. 4134 (3907): ut nullus inde futurus abbas consecrationem
unquam accipere presumat nisi ab hac nostra apostolica sede. Ein deutlicher An¬
klang an die vier Fälschungen Otlohs für Regensburg zeigt sich hier nicht: die
Entscheidung der Frage muß der zusammenhängenden Untersuchung der Fulder
Urkunden, die Stengel begonnen hat, überlassen bleiben.
Die Urkundensammlung des Codex Udalrici.
437
Sollten sich Beziehungen zwischen Otloh und diesen Fulder Fälschungen
bestätigen, so würde die Vermutung nahe liegen, E 15 sei auf dem¬
selben Wege wie die Emmeramer Stücke, denen beachtenswerter Weise
das Stück beigegeben ist, in die Formelsammlung gekommen.
In E 89 bestätigt Papst Benedikt VlLL im April 1020 .die
Stiftung des Klosters Goeß (bei Leoben), J-L 4028; in E 90 verleiht
Heinrich II. am 1. Mai 1020 dem Kloster Goeß Immunität, DH. TL
428. E 89 ist nur bei Udalrich erhalten, E 90 jedoch außerdem im
Original, das in Graz liegt 1 ). Oben ergab sich, daß Urkunden für
fremde Empfänger nach Bamberg kamen, weil entweder das Empfänger-
archiv selbst oder aber das geschenkte Gut in den Besitz von Bamberg
kam. Hier aber handelt es sich um Immunitätsverleihung, und daß
Goeß an Bamberg gekommen, läßt sich nicht erweisen. Die nach Goeß
gelangten Urkunden früherer Herrscher und die Heinrichs II. für Goeß
liegen in Graz. DH. II. 428 lag 1230 noch in Goeß, was daraus
hervorgeht, daß die Abtissin des Klosters die Urkunde an die Kanzlei
Friedrichs II. einreichte, um eine Bestätigung zu erbitten 8 ). Das Ori¬
ginal der Urkunde dürfte somit schwerlich für Udalrich zugänglich ge¬
wesen sein, man wird an ein anderes Mittelglied zu denken haben 8 ).
In diesem Zusammenhang verdient der wegen enger Übereinstimmungen
zwischen DH. II. 230, 428 und dem auf eine verlorene Urkunde Hein¬
richs H. zurückgehenden DH. HI. St 2151 mehrfach 4 ) erwogene Ge¬
danke Beachtung, eine mit DH. 11. 428 eng verwandte Fassung sei
möglicher Weise durch längere Zeit in der Kanzlei aufbewahrt worden.
Man könnte vermuten, daß die Formel E 90 in Zusammenhang mit
jener in der Kanzlei zurückgebliebenen und als Vorlage für DH. II.
428 verwendeten Fassung stünde. Doch erscheint dies deshalb unwahr-
f ) Über den Aufbewahrungsort des Originals von DH. H. 428 Uhiirz, in der
Hist. Ztschr. 98, 257 und MG. DD. 4, 430, über E 89 Brackmann Germ. pont. 1, 96.
*) Böhmer-Ficker, Reg. Imp. V. n° 1780.
*) Vielleicht könnte auch erwähnt werden, daß J-L. 4028 in Bamberg aus¬
gestellt und DH. H. 428 wohl in Bamberg konzipiert wurde. Letzteres ergibt sich
ans J-L. 4028, wo es heißt: •. confirmaremus .. monasterium . . ab Aribone per-
fectum et in libertate dilectdssimi filii H. imperatoris commissum. War also die
Handlung des in der Immunitätsurkunde des Kaisers verbrieften Rechtsaktes bereits
während des kaiserlichen Aufenthalts in Bamberg (von wo J-L. 4028 datiert ist)
vollzogen, so ist doch kaum anzunehmen, daß im Jahre 1020 Konzepte dieser
Urkunden in Bamberg zurückgeblieben und bis auf Udalrichs Zeit dort erhalten
geblieben wären.
4 ) Vgl. Oefele in den Sitzungsberichten der phil. phil.-hist Kl. der bayr. Ak.
1894, 271, Bresslau's Vorbemerkungen zu DH. II. 230 und DH. H. 428, dunn
Stengel, Immunität 1, 324 Anm. 1 und Bresslau's Nachtrag in MG. DD. 4, 429.
Mitteilancon XXXVI. 29
438
Haus UubsI.
scheinlich, weil die Formel sich fast vollkommen mit DH. IL 428 deckt
und auch Eigennamen aus dieser Urkunde übernommen sind (Aribo, Adala,
Go88ia in comitatu Liubana), so daß zweifellos E 90 erst aus dem 1020
ausgestellten DH. II. 428 abgeleitet ist. Nur eine Urkunde mit der in
Frage kommenden Fassung ist jünger als DH. II. 428: St 2151 für
Ebersberg. Für dieses Diplom hat aber E 90 nicht als Vorlage ge¬
dient; denn es sind Änderungen, die E 90 gegenüber DH. II 428
aufweist, nicht auf St 2151 übergegangen 1 ). Als Vorlage wurde in
diesem Falle wohl das Deperditum, welches bereits unter Heinrich II.
für Ebersberg ausgestellt wurde, benützt 2 * ).
E 91 und E 92 sind Urkunden Heinrichs 111. für Salzburg. In
E 91 (St 2502) schenkt der Kaiser das Gut Naunzell in Friaol;
durch E 92 (St 2468) erhält die Salzburger Kirche eine Besitzung bei
Boßbach im Mattiggau 8 ). Es ist hervorzuheben, daß diese zwei Ur¬
kunden und die zwei vorherbesprochenen bei Udalrich zusammen grup¬
piert sind (E 89—92). Der Erbauer des Klosters Goeß, der in E 89
und 90 als Intervenient genannte Aribo, war Kaplan der Salzburger
Kirche 4 ), welche in E 91 und 92 als Empfängerin erscheint Diese
vier Stücke könnten für Udalrich aus derselben Quelle stammen 5 ).
Vier Urkunden weisen Hamburg-Bremen als Empfänger auf:
E 103 (St 2934), E 117—119 (D. Kar. 245, M* 928, J-L 2574).
E 118 und 119 stellen Fälschungen dar, die für Hamburg aus¬
gestellt sind. Solche Verunechtungen für das Erzbistum Hamburg-
Bremen sind zahlreich; es lassen sich mehrere Fälschungsperioden unter¬
scheiden. E 118 erscheint im Cod. Udalrici mit Erweiterungen ver¬
sehen. welche der vierten Fälschungsperiode angehören 6 ). Diese um¬
faßt 13 Stücke: zwölf Papstprivilegien, unter denen J-L 2574 =
E 119 sich befindet 7 ), und dieses Diplom Ludwigs des Frommen =
l ) DH. 11. 428 und St. 2161: in honorem vero sanctae, E 90 in honorem
sanctae. DH. H. 428 und St. 2151 dedicatum ... abalienavit. E 90 dedicavit . .
abalienavit.
*) Stengel, Immunität 1, 213 Anm. 5 und Bresslau in MG. DD. 4, 429.
*) Martin, Salzburger Urkundenbuch 2, 156 n. 91 und 153 n. 89.
4 ) Hirsch, Jahrbücher d. deutschen Reiches unter Heinrich II. 3, 166.
fi ) Vgl. die Bemerkung Martins a. a. 0. 2, 155 n. 91.
•) Curschmann, Die älteren Papsturkunden des Erzbistums Hamburg 127
Anm. 3, 128.
f ) E 119 ist von Gregor IV. ausgestellt; die Urkunde Gregors für Hamburg
ist in mehreren Texten erhalten, unter denen sich zwei Redaktionen unterscheiden
lassen (Curschmann a. 0. 72). Die jüngere kennzeichnet sich durch eine Wendung,
welche den Machtbereich der Hamburger Kirche bis an das Eismeer ausdehnt.
E 119 gehört dieser letzteren Gruppe an, die nach Curschmann S. 73 Anm. 8
Sie U rkandennaiiim lang des Codex Udalrici.
439
E 118. Um eine zeitliche Festlegung der Fälschung zu gewinnen,
zieht Curschmann die Aufnahme dieser Urkunden in den Cod. Yicelini
des Klosters Abdinghof bei Paderborn l ) heran, der spätestens 1123 ent¬
stand, welches Jahr mithin den termiuus ad quem unserer Fälschungen
bietet Als terminus a quo nimmt Curschmann das Jahr 1122 an, da
man sich in Bremen von interpolierten Papsturkunden nur Erfolg er¬
warten habe können, nachdem der Friede zwischen Kaiser und Papst
im Wormser Konkordate hergestellt war 8 ). E 117 ist ein verunechtetes
Diplom Karls des Großen für Bremen, das wahrscheinlich im 10. Jahr¬
hunderte angefertigt wurde; es ist auch bei Adam von Bremen er¬
halten 8 ). Mühlbacher hält es trotz einer guten Lesart für wahr¬
scheinlich, daß Udalrich dieses Diplom aus Adam geschöpft habe. Da
aber E 117—119 im Cod. Udalrici beisammen stehen und inhaltlich
Verwandtschaft aufweisen, dürften sie wohl auf gleichem Wege nach
Bamberg gelangt sein und E 118, 119, bedeutend jünger als Adam,
können sich in seinen Gesta Hamaburgensis ecdesiae nicht vorgefunden
haben. Es ist daher, auch abgesehen von jener Lesart, unwahrscheinlich,
daß E 117 aus dem Werke Adams stamme.
Für den Gang unserer Untersuchung wäre die Festlegung des ter¬
minus a quo der Fälschungen von besonderem Werte. Aber gerade
diesbezüglich wurde die Annahme Curschmanns von der Kritik nicht
anerkannt und gesagt, daß die 4. Fälschungsgruppe möglicherweise weit
vor 1122 liegen könne 4 ). Brackmann nimmt als terminus a quo
1075 an; in diesem Jahre schloß ungefähr Adam von Bremen seine
Gesta ab, in welchem Werke unsere Urkunden nicht erwähnt werden,
wiewohl sämtliche als echt erwiesenen Urkunden bei ihm genannt er¬
scheinen. Brackmann ist geneigt, diese Fälschung auf Grund des
Schriftcharakters und namentlich inhaltlicher Momente an die Stiftung
des Erzbistums Lund im Jahre 1104 zu knüpfen 6 ). Bei solchen Zweifeln
gewinnt E 103 an Wichtigkeit Das Stück ist echt und aus dem Jahre
1096 datiert Es kann daher diese Urkunde und es können folglich
wohl auch die drei oben besprochenen Fälschungen erst nach 1096
nach Bamberg gelangt sein 6 ).
und S. 128 1122/1123 entstanden sein soll; nach dem cod. Ud. gedruckt Cursch-
mann S. 16 ff. Er. l b .
*) Vgl. Curschmann S. 8 Anm. 5 und 8. 127.
t) Curschmann a. a. 0. 128.
») MG. SS. 7, 288; vgl. Sickel, Acta Karol. 2, 394.
«) Tangl, Neues Archiv 36, 629.
») Brackmann, Güttingische gelehrte Anzeigen 1911, n° 8, 8. 506 und 509.
ft) Bei Udalrich ist E 103 von den restlichen Hamburger Stücken abgetrennt
und, weil von Heinrich IV. ausgestellt zur H-Gruppe gezogen. Bei E 117—119
29*
440
Hans Hussl.
Als ganz vereinzelt ist E 120 zu erwähnen, eine Besitz- und
Immunitätsbestätigung Heinrichs II. für Mainz (DH. IL 139). Die
Urkunde ist in beiden Handschriften, V und Z, erhalten und außerdem
ex vetusta copia archivali unter den Papieren Schunks in der Stadfc-
bibliothek zu Mainz. In diesem Fall kann man erwähnen, daß der
Kaiser, bevor er nach Mainz zog, in Bamberg weilte, wo auch die
vorhergehenden Diplome ausgestellt sind (DH. II. 134—138). Sollte der
Wortlaut von DH. II. 139 schon in Bamberg festgestellt worden sein,
so wäre begreiflich, daß man das Konzept dort der Aufbewahrung wert
befunden hätte.
In E121 urkundet Konrad II. für die Ministerialen von Weißen¬
burg (DK. II. 140). Die Urkunde ist in V und Z, ferner in einer
Abschrift des 18. Jahrhunderts ex veteri membrana tegulis affixa in
Ms XIII 881 f. 19 der k. Bibliothek zu Hannover erhalten *). Über das
Alter der Fälschung handelt am ausführlichsten Usinger 2 ), der das Stück
als „um mindestens 100 Jahre später abgefaßt* ansieht, als seine Da¬
tierung von 1029 anzeigt, und der es für sehr wohl möglich hält, daß
die Urkunde eigens angefertigt wurde „um in die zweite Bedaktion
des Codex Udalrici aufgenommen zu werden“. Daß E 121 in V den
Schluß der Urkundensammlung, in Z dagegen, wo die Ordnung sonst,
von einer äußerlich erklärbaren Verschiebung (s. unten S. 446) abge¬
sehen, mit V übereinstimmt, den Schluß der Briefsammlung bildet,
kann die Vermutung Usingers nur unterstützen. Aber auch wenn die
A ufnahm e von E 121 schon bei der ersten Bedaktion des cod. Ud., vor
1125, erfolgt sein sollte, so dürfte bei der geringen Entfernung Weißen-
burgs von Bamberg die Annahme, daß dieses Dienstrecht durch die
Weißenburger Ministerialen nach Bamberg gelangte, viel für sich haben 3 ).
ist das System namenweiser Ordnung verlassen, dafür aber der zweite von Udalrich
beobachtete Gesichtspunkt, Zusammenstellung der Stücke gemeinsamer Herkunft,
berücksichtigt.
l ) Vgl. Bresslau’s Vorbemerkung zu DK. H. 140 und oben S. 422 Anm. 1.
*) Usinger, Gött. geh Anzeigen 1870, 8. 126 führt namentlich zwei Gründe
eingehend aus: die günstige Stellung der Clientes und die hohe Vergütung, welche
den Weissenburger Ministerialen im Kriegsfälle zugesprochen werden. Den Anfang
des zwölften Jahrhunderts nimmt als Entstehungszeit an Waitz, Verfassungsge¬
schichte ß», 341; vgl. auch Steindorif, Jahrb. d. Deutschen Reiches, 1, 415. Bresslau,
Vorbemerkung zu DK. II 140, enthält sich genauerer Zeitbestimmung, glaubt aber
daß E 121 wahrscheinlich etwas jünger sei als das in eine Urk. Bischof Günthers
(1057—1064) eingereihte Bamberger Dienstrecht (E 113).
•) Wenn die übereinstimmende Überlieferungsart des Weißenburger und des
Bamberger Dienstrechts den Gedanken nahe legt, Udalrich selbst als Verfasser oder
Überarbeiter beider Stücke anzusehen, so scheint dagegen der Umstand zu sprechen,
daß die Ausdrucksweise in beiden Dienstrechten kaum Berührungen zeigt (Eigen
Die Urkundensammlung des Codex Ud&lrici.
441
Im Anschluß an diese 11 Stücke, von denen es sich nicht fest¬
legen ließ, wie sie in den Cod. UcL gelangten, ist es nötig nochmals
(vgl. oben S. 428 f.) auf die 22 bis 24 Formeln umfassende Gruppe
St Emmeram zurückzukommen. Es sind zwar sehr viele dieser Ur¬
kunden in einem Emmeramer Kopialbuche aus dem 11. Jahrhunderte
überliefert, und es könnte an die Möglichkeit gedacht werden, daß durch
dessen Vermittlung ein großer Teil der Stücke nach Bamberg gekommen
wäre. Allein diese Annahme ist deshalb ausgeschlossen, weil Udalrich
bei E 18 und 35 Teile des Eschatokolls bietet, die im Kopialbuche
fallen gelassen sind. Die Stücke sind chronologisch ungeordnet, doch finden
sich drei Eccardnummem, die in derselben Beihenfolge stehen, wie die
entsprechenden Urkunden erlassen wurden*). Da Udalrich nirgends
das Bestreben zeigt, die Formeln zeitlich zu ordnen, so dürfte sich diese
Beihenfolge auf die Vorlage zurückführen.
Laßt sich somit keine Erklärung geben, wieso Udalrich zur Ver¬
wertung dieser Urkunden gekommen ist, so kann man doch zeitlich eine
gewisse Grenze ziehen. Von Heinrich 1. bis zu Heinrich II. sind 16 Di¬
plome für St Emmeram erhalten 2 ), vier davon sind im Codex Udal-
rid überliefert (DDO. II. 204, 247, 295, H. H. 443). Das jüngste Stück,
das in die Formelsammlung gelangt ist, stammt aus dem Jahre 1021.
Eigenartiger Weise klafft in der Empfängerliste für Begensburg vom
Jahre 1021—1125 eine Lücke, indem aus dieser Zeit kein Diplom er¬
halten ist Dieser Umstand erschwert den Versuch, die Zeit zu be¬
stimmen, zu welcher die Urkunden aus dem Archiv genommen wurden 8 ).
Diesem Bemühen kommt jedoch die Tatsache entgegen, daß in die
Emmeramer Urkunden mehrere Privilegien aufgenommen erscheinen,
von denen festgestellt ist, daß sie um die Mitte des 11. Jahrhundertes
gefälscht wurden 4 ). Es sind dies E 16, 18, 27, 43. Gewannen wir
heiten von E 113, so das fünfmal erscheinende legare oder das zweimal vor¬
kommende nec non patris et matris, sind in E 121 nicht anzutreffen. Bei E 121
ist die Corroboratio nicht an den Schluß des Kontextes gestellt, sondern in den¬
selben hineingezogen, so daß sich zwischen Corroboration und Recognitionszcile
noch ein Stück des Dienstrechtes einschiebt. Diese unkanzleimäßige Formulierung
dürfte dem im Diplomstil gewandten Formelsammler Udalrich nicht zuzumuten sein.
i) E 34 = M* 2004 ausgefertigt 903 Febr. 14; E 36 = M* 2012 ausgefertigt
903 Aug. 12; E 36 = M* 20!'. 7 r.usgefertigt 904 März 4.
*) Von dem oben S. 429 berührten Zweifel über die Zugehörigkeit von E52
=— DO. II. 204 wird hier abgesehen.
*) Brackmann, Germ. pont. 1, 282 f., Studien und Vorarbeiten 1, 8 ff. ist auf
die Frage nicht eingegangen, obwohl der Cod. Ud. für sein erstes Stück in Be¬
tracht kommt.
4 ) Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen 2 a , 6ö; Lechner im Neuen
Archiv 25, 631; Budde im Archiv f. Urkfechg. 5, 184 ff.
442
Haus Hug81.
aus der Datierung der Stücke nur das Jalir 1021 als den terminus a
quo, seit welchem die Urkunden nach Bamberg gelangt sein können,
so ergibt sich nun die Mitte des 11. Jahrhunderts.
Bei den 24 Emmeramer und den vorhin besprochenen 11 Urkunden
sind Beziehungen zwischen ihren Empfängern und Bamberg nicht er¬
sichtlich. Darf man vielleicht vermuten, daß solche Beziehungen über¬
haupt nie bestanden, daß die Urkunden unmittelbar aus der kaiserlichen
Kanzlei ihren Weg nach Bamberg nahmen? Im folgenden wird die
Möglichkeit zu erwägen sein, ob hier etwa ein älteres Kanzlei-
Formularbuch vor liege, was nahe liegen würde, wenn der Beweis
erbracht werden könnte, daß mehrere von diesen Stücken sich ungefähr
zum selben Zeitpunkte in der kaiserlichen Kanzlei befanden.
Die beiden Salzburger Urkunden (E 91 und 92) wurden im März
1055 uud im Juli 1056 ausgestellt Das Stück für Mainz (E 120) lag
aller Wahrscheinlichkeit nach ein Jahr später in der kaiserlichen Kanzlei;
denn laut St. 2548 bestätigte Heinrich IV. im November 1057 die
Privilegien seiner Vorgänger für Mainz. Diese Urkunde besagt*), daß
die Immunitätsprivilegien der früheren Könige, unter denen sich wohl
auch DH. II. 139 befunden haben wird, der Kanzlei vorgelegt wurden.
St 2548 scheint von einem Manne geschrieben zu sein, der 1056 in
die Kanzlei trat zwei Diplome für Bamberg lieferte l 2 * ), Kenntnis der
Bamberger Immunität besaß und so Beziehungen zu Bamberg verrat 8 ).
Auch für Fulda wurden um diese Zeit die Privilegien bestätigt In
St 2508 liegt eine Immunitätsurkunde Heinrichs DI. für Fulda vor,
die im September 1056 ausgestellt wurde 4 * * * ). Daß bei dieser Gelegenheit
auch die Papsturkunde J-L 2569 (E 15), falls deren Fälschung schon
stattgefunden hatte, eingereicht worden sei, ist um so wahrscheinlicher,
als in jenen Tagen an dem Hof des sterbenden Kaisers Papst Viktor H.
zugegen war. Wir hätten sonach vier Urkunden, die mit Wahrschein¬
lichkeit um 1056 in der kaiserlichen Kanzlei waren. Man könnte
hieher auch das Diplom und das Privileg für Goeß (E 89, 90) rechne^
l ) St. 2548: Archiepiscopus . . Liuthbaldus Moguntinae sedis nostr&m oel-
situdinem adiit, secam afferens praeceptum domini genitoris be&t&e memoriae
Heinrici imperatoris augusti aliorumqne regnm et imperatorum praecepta, in
quibus scriptum inveniebatur, qualiter ipsa sedes Mogontiaceniis ccclesiae .. sab
taitione emunit&tis semper fuisset manita.
•) Winitherius X schrieb St. 2543, 2546 (E 95).
•) Stengel, Immunität 1, 245.
4 ) In St. 2508 bittet Abt Ekberht von Fulda, Kaiser Heinrich IIL möge »more
anteceesorum . . Pippini videlicet Karoli, Ludovici, Chuonradi necnon triam Ottonam
Heinrici et Chuonradi imperatoris augusti fei. mem. sc. patris nostri« dasselbe in
seinen Schatz nehmen. Dieselben Worte allerdings schon in den Vorurkunden.
Die Urkundensammluiig des Codex Udalrici.
443
für die auch die Möglichkeit einer Einreichung um diese Zeit wie bei
Fulda und Mainz besteht. Es ist auffallend, daß Goeß nach Heinrich II.
bis auf Heinrich VI. kein Diplom erlangt haben soll; vielleicht bat
auch dieses Kloster im letzten Lebensjahr Heinrichs III. oder zu
Beginn der Regierung Heinrichs IV. seine Rechtstitel zur Bestätigung
in der Kanzlei vorgelegt. Persönliche Beziehungen zwischen der
kaiserlichen Kanzlei und Bamberg würden sich mehrfach ergeben, so
ist auf den Bamberger Domherrn Günther, der von Mai 1054 bis Ostern
1057 als italienischer Kanzler tätig war und dann den Bamberger
Bischofsstuhl bestieg, sowie auf den Notar Winither X, welcher oben
berührt wurde, zu verweisen. Es wäre also wohl denkbar, daß eine
Sammlung von Konzepten oder von Abschriften eingereichter Urkunden,
deren man sich um 1056 in der kaiserlichen Kanzlei bediente, bald
darnach in das Bamberger Bischofsarchiv gelangt und dort später für
Udalrichs Werk benützt worden wäre.
Allein nicht alle jene elf Urkunden könnten zu dem angenom¬
menen Kern eines älteren Kanzleibuches gerechnet werden. In erster
Linie ist die Empfängergruppe Hamburg-Bremen zu beachten; ergab
sich vorhin als mögliche Abfassungszeit des mutmaßlichen Formel¬
buches ungefähr 1056, so sind die Stücke dieser Empfängergruppe
erst nach 1096 nach Bamberg gelangt, könnten daher hier nicht in
Betracht kommen. Auch E 121 fügt sich nicht, da es wohl im 12. oder
frühestens gegen Ende des 11. Jahrhunderts entstanden ist. Sehr eigen¬
tümlich verhält es sich mit der Gruppe St Emmeram. Wenn wir dem
Bericht Otlohs vertrauen, daß Kaiser Heinrich III. nisibus omnimodis
tractavit, qualiter eundem locum (St. Emmeram) . . ab episcopi potentia
eriperet, und womach damals infolge der Auffindung der Privilegien
eine dem Kloster günstige Entscheidung erreicht, ihre Ausführung aber
durch den Tod des Kaisers vereitelt worden sei l ), so sind noch bei
Lebzeiten dieses Kaisers, wahrscheinlich gerade 1055 oder 1056, die
gefälschten und mit ihnen wohl auch die echten Urkunden von St. Em¬
meram der Kanzlei vorgelegt worden. Dann dürfen auch jene 22 oder
24 Emmeramer Urkunden des Cod. Ud. für das fragliche Kanzleiformel¬
buch von 1056 in Anspruch genommen werden. Aber Otlohs Worte
sind dunkel und lassen die Möglichkeit offen, daß jene Fälschungen
doch erst später, um 1060, zum Vorschein kamen; trifft das zu, so
muß auch von dieser Gruppe abgesehen werden. Für ein älteres
*) MG. 88. 11, 382. Sehr zurückhaltend verwendet diese Stelle Lechner im
Neuen Archiv 25, 631 f., dagegen schenkt ihr Budde im Archiv für Urkfschg. ö,
193 insofern Glauben, als er die Entstehung der Fälschungen zu 1055/56 ansetzt;
auch er aber zweifelt, ob sie damals vorgelegt worden seien.
444
Hu ns Hubs!.
Formelbuck könnten dann nur 0 Stücke in Betracht kommen. Allein
bei diesen Urkunden spricht die Anordnung gegen eine gemein¬
same Herkunft: £ lf) ist ganz von den übrigen Stücken abge¬
sprengt E 120 ist von Heinrich II. ausgestellt; würde dieses Diplom
aus derselben Quelle wie E 90—92 stammen, die ebenfalls Heinrich-
Urkunden sind, so wäre es wohl fast sicher zu diesen gestellt E 120
ist aber am Schlüsse der Urkundensammlung eingereiht und von der
H-Gruppe durch E 117—119 getrennt Es würden somit von den
11 Stücken nur E 89—92 als Bestand des etwa anzunehmenden Kanzlei¬
buchs übrig bleiben. Die Kleinheit der Zahl könnte an sich kaum
gegen die Annahme sprechen, da auch ein in der Kanzlei Ludwigs
des Deutschen entstandenes Formelbuch nur aus fünf Stücken bestand l ).
Bedenklicher wäre die sehr geringe Mannigfaltigkeit des Inhalts (neben
einer Immunitätsurkunde zwei Schenkungsurkunden für Kirchen) und
der Umstand, daß eine Papsturkunde (E 89) schwerlich in dieses Forrnel-
buch der kaiserlichen Kanzlei aufgenommen worden wäre. Dadurch
würde es unwahrscheinlich, daß E 89—92 aus einem Kanzleiformelbuch
herstammen. Oben wurde die Wahrscheinlichkeit angedeutet daß diese
vier Stücke auf einem gemeinsamen Wege nach Bamberg gelangten.
Welches dieser Weg war, bliebe dann allerdings unbekannt
Gegen die Annahme, in diesen 4 Urkunden allein ein Kanzlei^
Formelbuch zu erblicken, darf vielleicht noch ein Umstand geltend
gemacht werden: das Kürzungsverfahren. Wären diese Stücke Beste
eines älteren Formelbuches, so könnte man wohl eine besonders starke
Kürzung erwtirten. Starke Tilgung der individuellen Momente erscheint
aber bei den in Frage stehenden Formeln in keiner Weise. In allen
vier Stücken sind uns zahlreiche Namen erhalten geblieben und E 91
bietet überdies die volle Urkunde mit Eingangsprotokoll und Da¬
tierung 2 ). Dies paßt nicht zu einem Kanzleiformelbuche. Denn ein
Notar hätte bei seinen Aufzeichnungen Invokation und Titel wohl
fallen gelassen, wie denn auch bei den 55 Stücken der Formulae im¬
periales (MG. LL. Formulae 284) und bei sämtlichen Formeln der
sogenannten Collectio Pataviensis (M. G. Formulae 456) das Protokoll
fehlt; wohl aber entspricht es ganz den Gepflogenheiten Udalrichs —
der ja sein Formel buch nicht für Notare schrieb — die Anrufung und
0 Vgl. HubsI in Quellenstudien aus dem hist. Seminar der Univ. Innsbruck
5, 22 bis 38, dazu Bresslau, Urkundenlehre 2*, 233.
*) Auch die Stücke der Gruppe St. Emmeram weisen, soweit aus Eccords
Drucken zu ersehen, in 8 Fällen eine Datierung auf, mehrfach erscheint die Signum¬
zeile und E 36, öl, 63, 66 bieten volles Eschatokoll; das Eingangsprotokoll fehlt
nur bei einer von diesen Urkunden (E 24). Vgl. auch E 15, 89, 120.
Die Urkundensammlung des Codex Udalrici.
445
den Titel wiederzugeben. Sind Eigennamen ausgelassen, so ist das
Kürzungs verfahren dasselbe, das der Sammler bei allen übrigen Ur¬
kunden anwandte. Auch dieser Umstand bestärkt die Annahme, daß
die besprochenen Stücke von demselben Manne zu Formeln umgestaltet
wurden, wie die anderen Urkunden des Cod. Udalrici!).
Überblicken wir diese Erörterungen, so ergibt sich: 57 Stücke
dürften in den Cod. Udalrici aufgenommen worden sein, weil sie zur
Abfassungszeit im Bamberger Archiv lagen; 19 Urkunden wurden durch
Handschriften übermittelt. Bei der 22 bis 24 Stücke umfassenden Gruppe
St. Emmeram und bei den soeben besprochenen 11 Urkunden ließ sich
der Weg, auf dem sie nach Bamberg kamen, nicht mit Sicherheit fest¬
stellen; doch dürfte es wohl wahrscheinlich sein, daß auch mehrere
von diesen Urkunden auf verschiedenen Wegen aus den Empfanger-
archiven nach Bamberg gelangten, wenn es auch gegenwärtig nicht
möglich ist, diese Bahnen klarzulegen. Die Benützung eines älteren
Eanzleiformelbuches ist zwar möglich, aber bisher nicht erwiesen.
i) Es stünde die Möglichkeit offen, daß in Bamberg bereits im 11. Jahrhunderte
ein Kodex sich fand, der als Vorläufer unseres Codex Udalrici in ähnlicher Weise
Urkunden und Briefe vereinte, so daß sich aus der Sammlung Udalrichs der Rest
eines älteren Formelbuches, das vielleicht nicht in der Kanzlei benützt wurde,
sondern lediglich für private Zwecke diente, herausschälen ließe. Erben betonte in
Mitt. d. Inst. 10, 628, daß in einem älteren in Bamberg entstandenen Werke,
in der sogenannten Chronik des Ekkehard von Aura, höchst beachtenswerter Weise
Gedichte, Briefe und Urkunden benützt erscheinen, welche auch bei Udalrich sich
finden. Man könnte vermuten, daß der Verfasser der Chronik diese 12 Stücke aus
einem älteren Bamberger Epistolarcodex geschöpft habe. Allein drei Stücke be¬
ziehen sich auf Epitaphien, die in Bamberg standen; E 100 (J~L 4283) ist eine
Urkunde, die für Bamberg bestimmt war; sie lag daher wohl im Bamberger
Archiv, ebenso wie E 138—141, welche Briefe sich auf Bamberger Angelegenheiten
beziehen. Die Briefe zur Geschichte des Jahres 1076 sind von allgemeinem In¬
teresse, so daß sie wohl stark verbreitet waren, wie sie sich denn auch bei Hugo
Flavin. (MG. SS. 8, 439 ft.) und im Registrum Gregorii VII (Jaffe, Bibi. 2, 256, 401)
finden. Das Material war also vielleicht in Bamberg auch ohne Sammlung zugänglich.
Im Cod. Ud. erscheint die Anordnung der Urkunden so einheitlich nach den zwei
oben dargelegten Gesichtspunkten: gleiche Aussteller und gleiche Empfänger zu
berücksichtigen, durchgeführt, das Kürzungsverfahren so gleichförmig, daß
es schwer fallen dürfte, den Xern eines älteren Formelbuches auch nur mit
einiger Sicherheit herauszuschälen. Zu der Urkundensammlung gehört übrigens nur
eines von den 12 Stücken, lämlich E 100 und dieses ist bei Ekkehard nicht
wiederholt, sondern nnr erwähnt (auctoritate . . confirraavit). Hiebei werden Ein¬
zelheiten angeführt, welche in d nr Urkunde nicht genannt werden, so, daß Friedrich,
•der Kanzler, anläßlich der Bestätigung die älteren Privilegien
(MG. 8S. 6, 196).
44(3
Hans Hussl.
Übersicht
der Urkundenformulav-Sammlung des Codex Udalriei.
Die 1. Spalte enthält die Nummern von Eccard, Corp. hist. 2, 27 ff., welche
zugleich die Ordnung der Handschrift V anzeigen. In Z ist die Reihenfolge nur
dadurch geändert, daß eine Lage (und zwar, nach den Angaben von Jafle, die
Seiten 146—163), auf welcher hier der Schluß von E 82, dann die ganze Reihe
E 83—107 und der Anfang von E 108 stehen, an spätere Stelle verschoben, und
daß E 121 nicht am Schluß der Urkundensammlung sondern zu Ende der ganzen
Handschrift (S. 335) nachgetragen wurde.
Die 2. und 3. Spalte, beide nur bei Diplomen und Papsturkunden ausgefüllt,
enthalten in gebräuchlicher Art gekürzt, die Regestenzahl von Böhmer, Mühlbacher,
Stumpf und Jaffd-Löwenfeld oder, soweit die Diplomata-Ausgabe reicht, deren
Nummer, dann den Ausstellernamen, diesen unter eingeklammerter Beifügung des
richtigen Namens, wo im cod. Ud. ein falscher Anfangsbuchstabe gesetzt ist.
In der 4. Spalte wird der Name der EmpfÜngergruppe genannt u. z. in
Klammer in allen denjenigen Fällen, in welchen die Urkunde nur durch Ver¬
mittlung eines anderen Empfängers in dieses Archiv gelangt ist.
E
Drucke
Regesten
j Aussteller
i
Empfänger-
Gruppe
E
Drucke
Regesten
Aussteller
Empfänger-
Gruppe
11
JL. 4189
Leo IX.
Lorsch
36
M> 2017
L. IV.
S. Emm.
12
JL. 3834
| J. XV.
Lorsch
37
—
S. Emm.
13
M* 1672
l. in.
(Lorsch)
38
—
—
S. Emm.
14
M* 1927
! Arn.
Lorsch
39
M* 1378
L- U.
S. Km™
15
JL. 2569
Gr. IV.
Fulda
40
M» 1345
L. H.
S. Emm.
16
JL. 2500
Leo IH.
S. Emm.
41
M* 1438
L. II.
S. Emm.
17
M« 474
C. I.
('S. Emm.?)
42
M» 1499
L. II.
S. Emm.
18
D. 258
C. I.
S. Etum.
43
M» 1012
L. I.
S. Emm.
19
M« 1652
C. HI.
(Bbg.)
44
M> 545
L. I.
Stablo
20
M* 1690
C. III.
(Bbg.)
45
M* 2069
L. IV.
(Bbg.)
21
M« 1710
C. III.
(Bbg.)
46
D. 21
Sigb.
(Stablo)
22
M» 1637
Cm.
(S. Emm.)
47
D. 23
Sigb.
Stablo
23
M» 2091
Conr. I.
S. Emm.
48
D. 33
O. UI.
Stablo
21
M* 1539
Cm.
(S. Emm.)
49
D. 219
O. II.
Stablo
25
M* 2099
Conr. L
S. Emm.
50
D. 292
O. IL
(Bbg.)
26
M* 1938
Ara.
S. Emm.
51
D. 247
0. IL
S. Emm.
27
M* 1917
Ara.
S. Emm.
52
D. 204
0. II.
i S. Emm.?
28
B. 1696
C. II.
Reims
53
D. 296
0. H.
S. Emm.
29
B. 1621
C. II.
Reims
54
D. 44
0. H.
(Bbg.)
30
B. 1581
C. II.
Reims
55
.0. 29
Hild.
Stablo
31
M* 1072
| Loth.
Reims
56
D. 53
Theod.
Stablo
32
M* 836
L. I. Lth.
Reims
67
—
—
Bbg.
33
M* 801
L. I
Reims
58
—
—
(Bbg.)
34
M* 2004
L. IV.
S. Emm.
59
D. 200
H. H.
Bbg.
36
M* 2012
L. IV.
S. Emm.
60
D. 401
H. H.
Bbg.
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Die Don Carlos-Frage.
Von
Viktor Bibi.
Kürzlich ist au dieser Stelle (XXXV, S. 484 fg.) ein Aufsatz Anton
Chrousts erschienen, der sich mit dem Tode des Don Carlos beschäf¬
tigt und gewiß das größte Interesse verdient Die namentlich in me¬
thodischer Hinsicht mustergültig ausgearbeitete Studie erscheint nämlich
tatsächlich geeignet, die heute förmlich als kanonisch geltende Auf¬
fassung von dem .natürlichen* Ende des unglücklichen Habsburger¬
prinzen ins Wanken zu bringen, .die schon entschiedene Streitfrage
nochmals an die Richter zu verweisen*.
Chroust bringt uns eine längst gedruckte, aber von den Don
Carlos-Forschem übersehene Quelle — es sind die Memoiren des Grafen
Miot de Melito — in Erinnerung, worin über dessen Besuch des
Eskurials im Jahre 1812 berichtet wird. Der Graf, wird da erzählt,
stieg mit dem neuen Könige von Napoleons Gnaden, Joseph Buonaparte,
in die Gruft der spanischen Habsburger hinunter und kam auch zur
Grabstätte des Don Carlos. Er fand den Sarg offen und bemerkte, daß
der Kopf von dem Körper getrennt war, und zwar erhielt er den
sicheren Eindruck, daß er abgeschnitten worden sei. Nach seinen so
bestimmt gehaltenen Worten (.La tete . . . parait evidemment avoir ete
coupee“) erscheint die Möglichkeit, daß sich der Schädel im Laufe der
Zeit aus natürlichen Ursachen von den Halswirbeln losgelöst hätte,
ausgeschlossen. Miot, der den Schädel in der Hand hielt, entdeckte
auch, daß dessen obere Partie angesägt war. Mit dieser Wahrnehmung
erschien jeder Zweifel an der Identität des Skeletts aus dem Wege ge-
Die Don Carlos-Frage.
449
räumt; denn der Infant hatte sich, wie wir wissen, bei einem Sturze
in Alcala eine lebensgefährliche Verletzung am Kopfe zugezogen, die
eine Trepanation des Schädels von Seite des Chirurgen Vesalius not¬
wendig machte.
Miots Erzählung bestätigte nur einen alteren, in dem Memoiren¬
werke des Herzogs von Saint-Simon (1863) veröffentlichten Bericht
dieses Herzogs, der im Jahre 1721 gelegentlich einer diplomatischen
Mission am Madrider Hofe das Mausoleum des spanischen Königshauses
besuchte und vor dem Sarkophag des Don Carlos mit dem ihn be¬
gleitenden Mönche in einen Wortwechsel geriet, in dessen Verlaufe der
Herzog die spitze Bemerkung fallen ließ, er wisse aus bester Quelle,
daß bei der Besichtigung des Sarges von Seite des Königs (Philipp V.)
der Schädel abgetrennt zwischen den Beinen — eine Anordnung, wie
sie für die Überreste Enthaupteter charakteristisch ist — vorgefunden
wurde, worauf dann der Mönch aufs äußerste gereizt erwiderte, der
Infant habe dieses Ende vollauf verdient und übrigens sei dem König
vom Papste die Erlaubnis zur Hinrichtung erteilt worden. Der Herzog
hatte die irdischen Überreste des Prinzen nicht selbst gesehen, aber er
berief sich auf den überaus angesehenen Diplomaten und Vertrauens¬
mann des Königs, Herrn von Louville, als Augenzeugen und überdies
noch auf das Zeugnis des Mönches, der im Zorne die Tatsache der
Enthauptung zugegeben hatte.
Diesen zwei Gewährsmännern Miofc und Louville gegenüber steht
allerdings ein anderes Zeugnis aus dem Jahre 1795: es ist ein ano¬
nymer Brief aus San Lorenzo, an einen unbekannten Empfänger ge¬
schrieben und von Gochard (1858) veröffentlicht, worin ebenfalls auf
Grund von Autopsie die Gewißheit ausgesprochen wird, daß der Infant
nicht enthauptet wurde, sondern in seiner Haft auf natürliche Weise,
infolge Tertianfiebers und seiner unsinnigen Lebensweise, zugrunde
ging, so wie es eben die Geschichtschreiber jener Zeit meldeten.
Der eben erwähnte anonyme Schreiber war ein Spanier, die zwei
anderen dagegen waren Franzosen, Fremde also, die im Allgemeinen
auf Spanien nicht gut zu sprechen waren, und das führt uns zu einer
merkwürdigen, in quellenkritischer Hinsicht gewiß nicht belanglosen
Feststellung. Jene Schriftsteller, die bis weit in das 19. Jahrhundert
Don Carlos auf gewaltsame Weise sterben ließen, sind mit einer ein¬
zigen Ausnahme Nichtspanier. Die Spanier dagegen setzen sich für
Philipps IL Unschuld ein und schieben die ganze Schuld auf den
Prinzen selbst, der sich durch seine selbstmörderische Lebensweise zu¬
grunde richtete, so Juan Lopez in seiner „Relacion de la muerte y
honras funebres del principe Don Carlos 11 (1568) und vor allem der
450
Viktor Bibi.
eigentliche Geschichtschreiber der Regierung Philipps EL Luis Cabrera
de Cordova, in seiner .Historia de Felipe rey de Espana“ (1619), aber
auch Fremde, wie der Florentiner Gi&nbattista Adriani in seiner „Istoria
de’ suoi tempi" (1583). Ein einziger Spanier macht eine Ausnahme:
Llorente in seiner „Historia critdca de la inquisicion de Espana“
(1822—25). Derselbe behauptet auf Grund urkundlicher Belege, die
uns aber leider nicht mitgeteilt wurden, Philipp II. habe eine Kom¬
mission eingesetzt und auf deren Bericht hin das Todesurteil ausge¬
sprochen, das dann aber in einer Form vollzogen wurde, die das natür¬
liche Ende des Infanten glaubhaft erscheinen ließ. Nicht viel anders
hatte schon vor ihm ein Zeitgenosse Philipps II., der Franzose de Thou
in seinem Geschichtswerke „Historiarum sui temporis QI* (1733) den
Sachverhalt geschildert: Der König habe seinen Sohn mit Rücksicht
auf das königliche Blut nicht ordentlich hinrichten lassen, sondern ihm
insgeheim ein rasch wirkendes Gift reichen lassen; der Tod sei dann
monatelang verheimlicht und erst nach dem erfolgreichen Auftreten
Herzog Albas in den Niederlanden bekannt gemacht worden. De Thou
stützte sich bei seiner Darstellung auf das Zeugnis des ehemaligen
Staatssekretärs Antonio Perez, der sich mit dem König verfeindet hatte.
Ungefahr um dieselbe Zeit läßt Brantome in seinen phantastischen
Memoiren (Yies des hommes illustres etc.“ (1666) Don Carlos den Tod
durch Erwürgung finden, während Pierre Matthieu in seiner „Histoire
de France et des choses memorables etc.“ (1606) haarklein zu er zähl en
wußte, wie der Infun t auf Geheiß seines Vaters von vier Sklaven er¬
drosselt wurde, indem ihm zwei die Arme, einer die Füße hielten und
der vierte ,tout doucement“ das Ende herbeiführte.
Wie man sieht, besteht bei jener Gruppe von Historikern, welche
Don Carlos auf* gewaltsame Weise aus dem Leben scheiden lassen,
hinsichtlich der Todesart ein starkes Auseinandergehen der Meinungen,
während bei der anderen Partei eine ebenso auffallende Übereinstim¬
mung herrscht. Diese unbestreitbare Tatsache hat sicherlich viel dazu
beigetragen, daß Leopold Ranke in einer kritischen Studie über Don
Carlos (Jahrbücher der Literatur, Bd. 46, 1829) die Unglaubwürdigkeit
jener außerhalb Spaniens verbreiteten Meldungen darlegte. Der Spanier
Llorente aber, der die Auffassung der fremden Geschichtsschreiber teilte,
kam, da er für seine Behauptungen, wie schon erwähnt, keine urkund¬
lichen Beweise erbrachte, nicht in Betracht. Ranke fand, daß die .un¬
mittelbarsten“ Quellen, die Berichte der Gesandten, jener Auffassung
keine Nahrung zuführten, und so kam er zu dem Schlüsse, daß Don
Carlos, wie es die venetianischen Gesandtschaftsberichte besagten, eines
.natürlichen« Todes, infolge seiner starken Exzesse und auch an der
Die Don Carlos-Frage. 45 1
„großen Unruhe seines Gemütes“ (A h. an Verzweiflung) verschie¬
den sei
Das Urteil unseres Altmeisters der Geschichtsforschung machte
bald Schule: es wurde von einer ganzen Keihe namhafter Historiker
wie Baumer und Prescott anerkannt Mittierweile waren eben mehr
solcher Gesandtschaftsberichte vom spanischen Königahofe über die
Katastrophe bekannt geworden und die neuerlich sich ergebende Über¬
einstimmung wirkte noch überzeugender. Vor allem war es der ver¬
dienstvolle belgische Archivar Gachard, der mit Bienenfleiß alle auf
Don Carlos bezüglichen Dokumente sammelte („Don Carlos et Phi¬
lippe IL“, 1863). Diese Berichte, alle so ziemlich auf einen Ton ge¬
stimmt, bestätigten jene im Grunde auf Cabrera zurückreichende Auf¬
fassung , daß der König angesichts der staatsgefährlichen Umtriebe
seines Sohnes sich genötigt sah, diesen gefänglich einzuziehen, und
daß dann Don Carlos, an und für sich schon schwächlich, lediglich an
den Folgen seiner unvernünftigen Lebensweise gestorben sei.
Zuletzt war es Max Büdinger, der in seinem großangelegten
Werke „Don Carlos 1 Haft und Tod, insbesondere nach den Auffassungen
seiner Familie“ (1891) für Cabrera-Banke eine Lanze brach und, in
vielen Punkten weit über sie hinausgehend, zu folgendem Ergebnis
kam. Von einem grundsätzlichen (politisch-religiösen) Gegensätze zwi¬
schen Vater und Sohn „darf“ man nicht sprechen. Der ganze tragische
Konflikt ist vom rein pathologischen Standpunkte aufzufassen: es sind
„Unarten eines körperlich wie geistig Leidenden“. Don Carlos war
»schwachsinnig“. Seit August 1561 trägt der königliche Dulder die
furchtbare Überzeugung mit sich, daß sein Sohn, der Erbe des katho¬
lischen Weltreiches, infolge seines Schwachsinnes regierungsunfähig sei;
er klammert sich indessen „aus väterlicher Schwäche“ an die Hoffnung,
daß dessen Zustand sich bessern werde. Erst als die Krankheit eine
gefährliche Wendung nimmt und Don Carlos in förmlichen Tobsuchts-
anfallen gegen eine Beihe von Würdenträgern sich tätlich vergreift,
schließlich auch gegen seinen eigenen Vater Mordabsichten hegt (Ranke
hatte dieselben bestritten), sieht sich der „bekümmerte“ Vater ge¬
zwungen, ihn gefänglich einzuziehen, „d. h. zu jenen Mitteln zu greifen,
deren sich auch die gerichtliche Medizin unserer Tage nicht eutschlagen
kann“. „Ich darf gleich hier sagen“, so fährt er fort, „daß die Form
ihrer Anwendung durch König Philipp gegen seinen Sohn von einem
der hervorragendsten Fachkenner auf diesem Gebiete als allen Forde¬
rungen entsprechend bezeichnet worden ist*. (S. 175 fg.).
Aus einem Ideal, das uns aus der Jugendzeit so lieb geworden
ist. aus dem „löwenkühnen Jüngling“, der für Menschenrechte, für die
452
Viktor Bibi.
Freiheit aller Völker schwärmt und in edler Heldengröße bereit ist, für
sie seinen Degen zu ziehen, aus einem feurigen Anbeter der schönen
Königin, wie er uns in der Dichtung entgegentritt, ist unter der Hand
des Historikers ein kränkelnder Idiot geworden, ein bösartiges, gemein¬
gefährliches, durch seine sexuellen Verirrungen ekelerregendes Subjekt,
das sich in •frechem Trotze und knabenhaftem Unverstand“ gegen die
großen Absichten seines „ geistesstarken “ Vaters auflehnt und die stolze
Schöpfung der katholischen Könige ernstlich in Frage stellt
Schillers Darstellung, die auf einen Roman von Saint-Real aus
dem 17. Jahrhundert zurückgeht, war schon von Ranke erschüttert
worden. Dieser hatte nämlich auf Grund von zwei Gesandtschafts¬
berichten gefunden, daß die Ehe des Königspaares eine durchaus glück¬
liche war und das ganze Leiden der Königin anfänglich darin bestand,
daß sie keine Kinder bekam 1 ). Ich bezweifle, ob jene Berichte wirk¬
lich so beweiskräftig sind. Die Beziehungen des Königs zur Fürstin
Eboli, der Frau seines ersten Ministers, scheinen doch mehr als ein
dichterisches Phantasiegebilde gewesen zu sein. Wir besitzen zudem
eine gewiß nicht schlechte Quelle, aus der das Gegenteil hervorgeht.
Auf die Nachricht des kaiserlichen Botschafters am spanischen Königs¬
hofe, Adam von Dietrichstein, daß die Königin gesegneten Leibes sei,
schreibt Kaiser Maximilian II. — es war acht Monate vor ihrem Tode
— zurück: -Daß die königin wieder schwanger, hab ich ganz gern
vernommen, ist auch ain anzeichen, daß der könig ain besserer
ehemann ist als zuvor“ 8 ). Dies nur nebenbei zum Beweise, dass
die Berichte der Gesandten nicht immer eine ganz zuverlässige Quelle
sind 8 ).
Büdinger hat nun der dichterischen Gestaltung vollends den
Todesstoß gegeben und er vertrat die Ergebnisse seiner Forschungen
in einem derart kategorischen Tone, daß jeder noch zweifelnde förm¬
lich Gefahr läuft, selbst als pathologisch-schwachsinnig zu erscheinen.
Diese selbstsichere Art der Beweisführung in Verbindung mit einem
großen Aufwand von quellenkritischen Untersuchungen trug nicht wenig
dazu bei, die alte Streitfrage als erledigt und abgetan anzusehen und
i) Ranke, Kritische Abhandlung über Don Carlos (Sämtl. Werke 40, 41,
S. 490 fg.).
*) Maximilian an Dietrichstein, 1568 Febr. 28. (Nikolaburg, Archiv Dietrich-
stein. Eigh. Orig.).
*) Übrigens findet sich in dem von Ranke angeführten Berichte des franzö¬
sischen Gesandten vom 11. Mai 1564 ein Wort, das ganz deutlich besagt, daß das
gute Verhältnis nicht immer so war: »Sie (Kgin) besitzt den Kg., lebt mit ihm in
Vertraulichkeit, und genießt jetzt (aujourdhuy!) alles Ansehen bei ihm«.
Die Don Carloe-Frage.
453
der Auffassung Büdingers den Charakter eines Dogmas zu geben. Offen¬
bar gestützt auf ihn konnte z. B. Erich Mareks in seiner feinen Studie
über König Philipp IL die Behauptung aufstellen: «Dem Don Carlos
gegenüber hat eine Toraussetzungslose Beurteilung Philipp IL
so gut wie nichts vorzuwerfen. Ich kann es nur in zwei Worten sagen:
zwischen Don Carlos und Philipp handelt es sich nicht um das Bingen
zweier Weltanschauungen, zweier Generationen, wie bei Friedrich
Wilhelm L und seinem Kronprinzen Fritz. Don Carlos war von An¬
beginn her ein Kranker, ein Schwachsinniger, dessen tolles und
haltloses Treiben die Geduld seines Vaters jahrelang auf das grau¬
samste quälte und den kein König als seinen Nachfolger auf dem
Throne eines Weltreiches, ja auf irgendwelchem Throne überhaupt,
hatte dulden können und dürfen. Es mag sein, daß der lange Kampf
mit den unbezähmbaren Unarten dieser kranken Nätur in dem trüben
Philipp schließlich die Vaterhebe zu eisiger Kälte hat erstarren machen;
aber getan hat er gegen seinen Kronprinzen nur, was er mußte; als
er endlich einschritt, da — so lesen wir — sprach er zu seinen Ver¬
trauten, «wie niemals ein Mensch gesprochen* x ); nicht ohne bittere
Thränen hat er seine Pflicht erkannt, erfüllt hat er sie kühl und
mitleidslos, aber wohl ohne Schuld. Der Tod, den Carlos im Ge¬
wahrsam seines Vaters fand, scheint nach ärztlichem Urteil den
Besonderheiten seines Gemütsleidens völlig entsprochen zu haben, nicht
dem König fällt er zur Last* 2 ).
Der heute «allgemeinen* 3 ) Annahme, daß Don Carlos in der wohl¬
verdienten Haft eines natürlichen Todes gestorben sei, würde nun aller¬
dings mit einem Schlage der Boden entzogen sein, wenn es sich her¬
ausstellte, daß Don Carlos wirklich mit dem Schwerte hingerichtet
wurde. Chroust maßt sich kein Urteil darüber an, ob die von ihm
ins Treffen geführten zwei «ernsten und von einander unabhängigen*
Gewährsmänner, Miot und Louville, richtig gesehen haben oder nicht
Gewiß, jene Augenzeugen können sich getäuscht haben. Aber wer sagt
uns, daß nicht auch die Gesandten, die in so schöner Übereinstimmung
von den Verirrungen und dem natürlichen Ende des Infanten berich¬
teten, einer «überaus geschickten, systematischen Täuschung* zum Opfer
f ) Eb ist schon von anderer Seite mit Recht darauf hingewiesen worden, daß
diese gerne zitierten Worte durchaus »nicht rührende, sondern eisigkalte und ent¬
setzliche Worte, indem er ohne Zweifel, haßerfüllt und erbarmungslos, sein furcht¬
bares Vorhaben durch die Pflicht seines königlichen Amtes zu beschönigen be-
fliflen war«, bedeuten. Vgl. Adolf Schmidt, Epochen und Katastrophen, S. 364.
*) Akad. Antrittsrede vom 1. Juli 1893. (Deutsche Bücherei) Bd. 88, 8. 567 fg.
*) Chroust, &. a. 0., S. 489.
Mitteilungen XXXVU
30
454
Viktor Bibi.
gefallen sind? Chroust zieht mit Hecht den Zeitgenossen des Infan teil,
den Abgesandten der aufständischen Niederländer, Herrn von Montignv,
welcher trotz der amtlichen Erklärung, er sei eines natürlichen Todes
gestorben, in Simancas heimlich hingerichtet wurde — eine Tatsache,
die erst im 19. Jahrhundert bekannt wurde — als ein Beispiel dafür
an, daß ein geschichtliches Ereignis der Mitwelt gegenüber verschleiert
werden kann.
Eine Entscheidung über die von Chroust angeregte Frage könnte
nur eine neuerliche Autopsie von Seite eines Fachmannes bringen. Da
in Spanien gegenwärtig eine andere Dynastie am Ruder ist, dürften
ihr keine besonderen Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden. Eines
aber kann jetzt schon gesagt werden: Selbst wenn diese Autopsie das
Resultat, daß der Prinz nicht enthauptet wurde, ergibt, so ist damit
noch lange nicht der Beweis erbracht, daß er nicht auf eine andere,
heute nicht mehr kontrollierbare Weise gewaltsam ins Jenseits be¬
fördert wurde. Dies führt uns zu der Frage: Ist die Auffassung, die
zuletzt durch Büdinger eine so scharfe Prägung erfahren, vor dem
Forum einer streng-wissenschaftlichen Kritik überhaupt haltbar?
Als Bearbeiter der Familienkorrespondenz Kaiser Maximilians II.,
die von der „Kommission für Neuere Geschichte Österreichs» heraus¬
gegeben werden soll, hatte ich mich auch mit dieser Frage zu be¬
schäftigen 1 ). Don Carlos war ja der in Aussicht genommene Schwieger¬
sohn des Kaisers und so hatte dieser ein begreifliches hohes Interesse
an den Vorgängen am spanischen Königshofe. Büdinger, der schon
durch den Titel seines Buches zu erkennen gab, daß er auf die »Auf¬
fassungen der Familie“ einen besonderen Wert legte, ist über die
Stellungnahme des Kaiserhofes sehr rasch hinweggeglitten; nur die
Anschauung des von dem Weltgetriebe etwas abseits stehenden Bruders
Maximilians, Erzherzog Ferdinand von Tirol, fand eine eingehendere
Beleuchtung 8 ). Die Äußerungen des Kaisers wie seines ersten Beraters,
des Vizekanzlers Dr. Zasius, sind, wie ich gleich im voraus bemerken
möchte, nicht geeignet, den Standpunkt Büdingers zu stützen. Im
besten Falle wird man daraus ein deutliches »Non liquet“ erkennen.
*) Es sei mir hier gestattet, der Kommission für die freundliche Bewilligung
zur Verwertung des von mir in ihrem Aufträge gesammelten, ihr Eigentum bil¬
dende^ Materials meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
*) Nebenbei bemerkt hat das von Büdinger erwähnte (S. 268) Aktenstück,
das sich im Auszuge im Innsbrucker Statthaltereiarchive befindet, Dietrichstein zum
Verfasser. Es ist ein Bericht des kaiserlichen Botschafters an den Vizekanzler
Dr. Zasius und vom 26. Juli 1568 datiert (Müuclien, Geh. Staatsarchiv, K. schwarz,
229/1, fol. 309).
Die Don Carlos-Frage.
455
Also selbst jene Personen, die das menschenmöglichste getan haben
werden und vermöge ihrer Stellung auch am ehesten in der Lage
waren, die Wahrheit zu erfahren, geben zu, daß die Sache »dunkel“,
ja »verdächtig* sei. Kein Wunder, wenn diejenigen, welche sie in¬
formierten, selbst sich nicht auskannten, wie z. B. der wohl in erster
Linie in Betricht kommende kaiserliche Botschafter am Königshofe.
Dietrichstein, der schon vor der Katastrophe einmal resigniert be¬
merkte : »Es ist beschwerlich, von ime zue judizieren* l ), war ehrlich
genug, in seinen unmittelbar nach dem Eintritte derselben verfaßten
Berichten an den Kaiser 8 ) und die Kaiserin 8 ) einzubekennen, daß er
eigentlich »nichts* wisse und nur das sagen könne, was »in der ge~
main* geredet werde. Aber auch nach einigen Monaten weiß er dem
Kaiser »nichts gründliches* zu sagen. Alles was man davon rede,
meinte er, sei »alles ain ungewis ding* 4 ). Der französische Botschafter,
der natürlich auch nichts wußte, klärt uns diese Tatsache der allge¬
meinen Unkenntnis auf, indem er seiner Begierung schreibt, daß nicht
sechs Personen die volle Wahrheit wüßten 6 ). Der Prinz war vom
Augenblicke seiner Verhaftung vollständig von der Außenwelt abge¬
schnitten. Die wenigen, die im Gefängnisse Dienst hatten, erhielten
den strengsten Auftrag, unbedingtes Schweigen zu beobachten: sie
wußten, daß sie den Tag, an welchem sie ihm zuwider handelten, nicht
lange überleben würden. Der König hatte auch zur Vorsicht unmittel¬
bar nach der Verhaftung des Infanten Befehl gegeben, alle Kuriere
durch vier Tage aufzuhalten 6 ). In dieser Zeit konnte sich die ge¬
schäftige Phantasie der Nichtwissenden gründlich austoben. Jedermann
weiß es ja aus eigener Erfahrung, hat es schaudernd miterlebt, wie in
einer Zeit, da die öffentliche Meinung unterbunden ist, die Gerüchte
wild aus dem Boden schießen, wie sich um einen mehr oder weniger
wahren Kern das üppige Bankwerk der Legende schlingt
i) Dietrichstein an Maximilian, 1567 April 26. Vgl. Koch, Quellen zur Ge¬
schichte des K. Maximilian II., I, 8. 185.
*) »Die ursach khan niemant aigentlich oder gruntlich wissen«. Dietrichstein
an Maximilian, 1568 Jänner 21; vgl. Koch, 8. 201.
*) »Las causas . . . no hay nadie quien las sepa de rierto«. Dietrichstein
an Kaiserin, 1568 Jänner 19 (Nikolsburg, Archiv Dietrichstein).
«) »Gruntlicher wais und khan ich E. M*. nix affirmieren. Was man davon
geredt, hab ich awer E. M l . zuvor geschriben. Weil es awer alle ain ungewis
ding und solihe Sachen nit wol zue schreiben, mier auch . - . nit gepuren wolt,
so pitt ich E. K. M 1 ., das soliches nit in die weit khum und ich fuer den autoren
geben wurde«. Dietrichstein an Maximilian, 1568 April 22; vgl. Koch, 8. 213.
*) VgL Schmidt a. a. 0., 8. 368.
•) Ebenda, 8. 367.
30*
450
Viktor Bibi.
Der so entstandene Hof- und Stadtklatsch war es also, was die
Gesandten an ihre Kabinette l>erichteten. Es ändert nicht viel an der
Glaubwürdigkeit solcher Berichte, wenn sie von einer »maßgebenden
Persönlichkeit“ herstammten, die vielleicht selbst nichts wußte, also
nicht maßgebend war, oder nichts sagen wollte oder durfte. Was sie
sonst noch Wichteten, war das. was von Seite des Hofes fiir gut be¬
funden wurde, daß sie es wüßten und weitergäben: das ist das — wie
wir heute sagen würden — »offizielle Kommunique“, zu dessen Fest¬
legung man in jenen vier Tagen reichlich Zeit gehabt hatte. Daraus
erklärt sich denn auch jene Übereinstimmung der Berichte, welche die
Historiker von Banke bis zu Büdinger so bestochen hatte. Aber selbst
wenn einer der Gesandten wirklich etwas von der Wahrheit erfaliren
hätte, so würde er sich wohlweislich gehütet haben, dies zu berichten;
mußte er doch damit rechnen, daß der Bote auf seiner Reise bis zur
Grenze angehalten und durchsucht wurde.
Wenn sich also die Zeitgenossen in dem Wirrwarr von einander
widersprechenden Nachrichten nicht zurechtfinden konnten, sind viel¬
leicht wir Nachgeborenen in einer glücklicheren Lage? Die auf* die
Katastrophe Bezug nehmenden Papiere, darunter wohl auch jene, die
bei der Verhaftung des Prinzen in Beschlag genommen wurden, sind
von Philipp 1L vor seinem Tode, im Jahre 1598, verbrannt worden;
der geheimnisvolle »grüne Koffer“ ist verschwunden. Wilhelm Mauren¬
brecher hat bei seinen persönlichen Nachforschungen in Simancas nichts
vorgefunden, was den Schleier des Geheimnisses hätte lüften können,
ebensowenig ich, als ich ein halbes Jahrhundert später dort Nachlese
hielt Unter solchen Umständen ist es vom Standpunkte einer strengen
wissenschaftlichen Forschung sehr gut zu begreifen, daß Maurenbrecher,
der nach dem Erscheinen des Werkes von Gachard einige Aufsätze
über Don Carlos veröffentlichte, seine Überzeugung dahin aussprach,
daß außer den Werkzeugen der königlichen Politik »Niemand* imstande
war, »etwas sicheres über ihn zu wissen“, daß wir auf die verschiedenen
»Gerüchte, die von ihren Urhebern wenig Beglaubigung herleiten
können“, und auf die von den Höflingen verbreitete »mildere Version“
angewiesen seien, um daraus den Schluß zu ziehen: »Welcher Bericht
die historische Wahrheit enthalte oder ihr wenigstens nahe komme,
ich gestehe, ich weiß es nicht; und ich wage es nicht eine bloße Ver¬
mutung auszusprechen“ *). Maurenbrecher sprach diese vorsichtigen,
*) Vortrag vom 11. März 1868 (Sammlung ge mein verständlicher wissenschaft¬
licher Vorträge IV, 90, 1869, S. 28). Ähnlich äußerte er sich in seinem ersten
Aufsatz: Ein Bericht über die Ursachen der Katastrophe, der irgendwie Anspruch
auf »unbedingte Glaubwürdigkeit« machen könnte, sei nicht vorhanden. Wir
Die Don Carlos-Frage.
457
bescheidenen Worte am Ende der Sechziger Jahre des vorigen Jahr¬
hunderts und seitdem ist nichts, aber wirklich nichts zu Tage gefördert
worden, was sein Urteil irgendwie umzuändern geeignet wäre.
Worauf gründet also Büdinger seine mit voller wissenschaftlicher
Überzeugung vorgetragene Darstellung? Nun auf die allerauthentischeste
Quelle, so würde Büdinger antworten, auf den König selbst Büdinger
legte nämlich nach dem Vorbilde Kankes Wert darauf, zu den »bezeugten
Ansichten der Hauptpersonen- vorzudringen. Dies sind in erster Linie
Schreiben der beteiligten fürstlichen Hauptpersonen und dann die Be¬
richte der Botschafter: sie stellen die »authentischen Quellen“ dar 1 ).
Die allerauthentischeste als die unzweifelhaft eigentliche Hauptperson
des spanischen Dramas ist nun — da Don Carlos mundtot gemacht
wurde — der König selbst und Büdinger war in der Lage, auf Grund
der Urkundensammlung von Gachard eine ganze Reihe von Erklärungen
einzusehen, welche Philipp nach der Verhaftung an einige ihm nahe¬
stehende Fürsten und Fürstinnen zur Rechtfertigung seines gewiß un¬
gewöhnlichen Schrittes ausgehen ließ.
Was besagen nun diese hochoffiziellen Kundgebungen, denen Bü¬
dinger einen solchen Wert beimißt, daß er sie stellenweise im Wort¬
laute anführt und ausführlich zergliedert? Im Vergleiche zu dem dort
aufgebrachten Wortschwall recht wenig, um nicht zu sagen: Nichts.
Man möge überzeugt sein, heißt es da, daß der König bei seiner be¬
kannten »Milde und Sanftmut“ — ein Ausdruck, der mit Vorliebe auch
zur Rechtfertigung des Schreckensregimentes in den Niederlanden ge¬
braucht wird — nur durch die »gewichtigsten und zwingendsten“ Gründe
veranlaßt wurde, in dieser Weise vorzugehen, und daß es »zum Besten
und Gedeihen" des Infanten selbst (!) geschah. Man müsse begreifen,
daß er vom Schmerze überwältigt, augenblicklich nicht mehr sagen
könne, aber er werde es gewiß später tun, denn man habe ein Recht,
die volle Wahrheit zu erfahren. Einmal, in einem Schreiben an die
Kaiserin, seine Schwester, bricht er gerade an dem interessantesten
Punkt, wo man die Aufzählung der Ursachen erwarten durfte, plötzlich
mit den Worten ab: »Ich will nicht weiter fortfahren, um den Kurier
nicht aufzuhalten*, wie Büdinger meint, »in voller Sicherheit ge-
seien auf die Eröffnungen des spmischen Kabinettes angewiesen und auf die Mit¬
teilungen der Gesandten, die drraus schöpften. Was sonst noch in den Depeschen
der Gesandten vorkomme, sei Gerücht und Gerede des Publikums von Madrid,
»dem wir gewiss nicht eine entscheidende Stimme beimessen wollen«. (Hiator-
-Zeitschr. 11, 1864, S. 307 fg.).
*) Vgl. Büdinger, S. 158 fg.
458
Viktor Bibi.
schwisterlicher Liebe* 1 ). Ein anderes Mal schreibt er seiner Schwester,
die ihn auf die Nachricht von der Verhaftung ihres Neffen in zarter
Weise darauf aufmerksam gemacht hatte, „daß eines Sohnes Gesund¬
heit, Bedienung und gute Pflege, sowohl für den Körper als insbeson¬
dere für die Seele, des Vaters Sorge sei und immer bleiben werde* (sie
scheint also durchaus nicht so fest überzeugt gewesen zu sein, daß
Don Carlos in der Haft aufs liebevollste behandelt werde -): Der Gegen¬
stand, über welchen er sich ohnehin schriftlich gegen beide kaiserliche
Ehegatten geäußert habe (das hatte er eben nicht), errege ihm solch
„großen Widerwillen“, so daß er ihn nicht zum zweiten Male anführen
und er die Schwester verschonen (sie wollte aber etwas wissen) wolle.
.Nur habe ich mich“, fahrt er fort, „so vertraulich äußern und Euch
meine Brust eröffnen wollen, um Euren Hoheiten zu genügen, wie es
unsere Geschwisterschaft verlangt“. Man ist jetzt gespannt, vielleicht
doch etwas näheres zu erfahren. Aber der König bemerkt nur: „Keinem
Andern habe ich mich zu erklären, da es eine Angelegenheit zwischen
Vater und Sohn ist“ — das heißt also: die ganze Sache geht Nie¬
manden etwas an. auch die Schwester und den Kaiser nicht — und
er schildert dann, wie er dem Prinzen erlaubt habe, die Kommunion zu
empfangen 8 ). Der Königin von Portugal schreibt er: „Die älteren wie
die neuerlich eingetretenen Ursachen sind derart, daß weder ich sie
vortragen noch Eure Hoheit hören kann, ohne Schmerz und Mitleid
zu erneuern*. „Das ist die volle Wahrheit“, bemerkt Büdinger dazu,
„wie sie Philipp 1L der königlichen Dame als Mann von Gefühl nicht
anders und mehr im Einzeln ausführen konnte*. Büdinger sieht in
dieser Zurückhaltung des Königs, in diesen niclitsagenden und ver¬
logenen Phrasen, denen nur zu deutlich der Stempel peinlichster Ver¬
legenheit anhaftet, hochpersönliche, „durchaus in einfacher Wahrheit
gehaltene“ Äußerungen eines vom Schmerz niedergebeugten Vaters,
herzerhebende Zeugnisse seines Zart- und Schamgefühles: der König
will offenbar Niemanden mit widerlichen Einzelheiten aus der Krank¬
heitsgeschichte des Idioten behelligen, er trägt Scheu, seinen Vater¬
schmerz, das Unglück des Hauses vor der Öffentlichkeit zu enthüllen.
*) Philipp II. an Moria, 1568 Jänner 21 (Gachard, S. 653). Vgl. Mauren-
brecher (Histor. Zeitschr. 11, S. 308 f.); Schmidt, S. 371 fg.; Büdinger, S. 221 fg.
*) Die Kaiserin soll auf die Nachricht von der Verhaftung ihres Neffen sofort
erklärt haben, er werde »nicht mehr lebend« heraus kommen. Bericht des floren-
tinischen Gesandten aus Wien, 1568 September 16 (Florenz, Archivio di stato,
Ood. Med. 4329).
•) Philipp II. an Maria, 1568 Mai 19 (Gachard S. 670 f.). Vgl. Büdinger,
S. 1111g.
Die Don Carlos-Frage.
459
Maurenbrecher stimmte mit Gachard darin überein, daß diese „ge¬
wundenen und geschraubten* Auslassungen nur dazu dienten, eine
„scharf und präzis* gefaßte Antwort auf die Frage nach den Gründen
der Verhaftung zu umgehen. Er stellte die befremdliche Tatsache fest,
daß in diesen Kechtfertigungsschreiben „nirgendwo eigentliche bestimmt
formulierte Klagepunkte gegen den Prinzen“ ausgesprochen wären 1 ).
Im Gegenteil, es wird ausdrücklich gesagt daß keinerlei Vergehen des
Prinzen, etwa ein Akt des Ungehorsams oder eine Beleidigung gegen¬
über dem Vater oder religiöse Verirrungen den Anlaß gaben.
Viel wichtiger aber als die anerkennende Zustimmung Büdingers
und der Tadel Gaehards und Maurenbrechers ist die Frage, wie die
Zeitgenossen über die ihnen gebotene „volle Wahrheit* dachteu. Kaiser
Maximilian II. war jedenfalls sehr wenig befriedigt; denn er schrieb
sofort nach Empfang der königlichen Kechtfertigungsschriffc zurück, er
hätte „etwas mehr Klarheit* (mas claridad) gewünscht 2 ). Dem Bot¬
schafter aber schrieb er: Er wolle sich über den „beschwerlichen Casus“,
über den er sich hoch entsetzt habe, nicht näher auslassen, weil er die
eigentliche Ursache nicht kenne, „in suma, ich besorg hochlichen, es
werde ain seltzsam ende nemen*. (Daß auch die Kaiserin nicht zu
sehr von der „Sanftmut* ihres Bruders überzeugt war, haben wir
schon gehört) Gott wolle das verhüten, und er könne es kaum er¬
warten, die eigentliche Ursache der Verhaftung zu erfahren. Dietrich¬
stein möge sieh weiter erkundigen, „dan mier der kunig darvon nix
schraibt*. Der König habe ihm geschrieben, er werde später einmal
„mit der zeit* die Sache auseinandersetzen; „sed interim fhmt mille
discursus und war fil besser, man wiste die ursach, et sic cessarent
discursus* 8 ).
Und doch geben jene offiziellen Erklärungen in einem Punkte,
wenn auch nur andeutungsweise, einen positiven Aufschluß. Der König
weist nämlich auf das „bekannte* eigentümliche Naturell, auf die un-
*) Vgl. Maurenbrecher, Don Carlos (Histor. Zeitschr. 11, S. 309).
*) Ma ximili an an Kg. Philipp II. 1568 Februar 28. Vgl. Gachard, S. 665.
3 ) Maximilian an Dietrichetein, 1568 Februar 28 (Nikolsburg, Archiv Dietrich-
stein, Eigh. Orig.). Am 5. März schreibt dann Maximilian dem Botschafter: Er
könne sich wohl denken, dal der König die Verhaftung nicht ohne große Ursache
vorgenommen habe. »Ist es awer on genuegsame ursach beschehen, so ist es desto
erger, und kan in der w&rhe: i wol schreiben, dos mir der kunig in allen seinen
schreiwen gar khain ursach in specie vermeldt hat« (Vgl. Koch, 2, 8. 52). Erst
am 27. Juli konnte der Kaiser dem Botschafter mittcilen, daß er aus des Königs
Schreiben »zum tail« den Grund der Verhaftung erfahren, er aber dennoch finde,
daß Philipp »schlechte rue« haben werde, so lange er den Prinzen »also halten«
thue. (Ebenda, 8. 52).
460 Viktor Bi ul.
glückliche „Opposition* de« Infanten und gelegentlich noch etwas
deutlicher auf dessen „Mangel an Verstand* und auf die Pflichten des
Herrschers gegenüber dem Staate hin. Durch dieses wohl absichtlich
recht dunkel gehaltene Bekenntnis des königlichen Vaters war es nun
für Büdinger erwiesen, daß Don Carlos „schwachsinnig* und infolge¬
dessen regierungsunfahig war. „Niemals*, meint Büdinger. „wären Zeit¬
genossen und Spätere, Publikum und Forscher auf alle die Abwege der
Phantasie und Darstellung verfallen, welche diese einfache Tatsache
aus den Augen verlieren ließen, wenn man sich ohne Vorurteil an des
so scharfsinnigen wie bekümmerten Vaters Worte gehalten hätte- l \
Nachdem einmal diese Tatsache des Schwachsinns vonseite der
höchsten Autorität, des königlichen Vaters, festgestellt war, kam mit
einem Male Licht in die Vorgeschichte und den Verlauf der Katastrophe:
nun fand alles, was man sich am spanischen Hofe schon seit Jahren
über den Infanten insgeheim und schließlich ganz offen erzählte, eine
jeden Zweifel ausschließende Bestätigung. Das Krankheitsbild des
schwachsinnigen Infanten wurde unter Beihülfe des Psychiaters
Theodor Meynert vertieft: die uns über Don Carlos überlieferten Züge
und Handlungen fügten sich jetzt zu einem harmonischen, geschlos¬
senen Ganzen zusammen. Der Prinz hatte in seiner ersten Jugend
schlechte Erziehungsresultate (es handelte sich, wovon später noch zu
reden sein wird, höchstwahrscheinlich um den religiösen Unterricht)
aufzuweisen — also „Arbeitsscheu*, ein für Schwachsinnige charakte¬
ristisches Moment. Der Prinz überißt sich gelegentlich, trinkt massen¬
haft Wasser — also „Durst-*, beziehungsweise „Angstgefühle*; er
verschmäht den Wein — also „Intoleranz gegen Alkohol*, lauter
„Symptome reizbarer Schwäche“. Der Prinz ist unzufrieden damit, daß
er in einem Alter, da sein Vater schon längst die Weltmonarchie
leitete, wie ein Kind behandelt, ihm kein selbständiger Wirkungskreis
wie etwa die Regierung der Niederlande an vertraut und die in Aussicht
genommene Heirat mit der ältesten Tochter des Kaisers jahrelang unter
den merkwürdigsten Vorwänden verschleppt wurde — also „maß- und
zielloses Verlangen“. Er sinnt endlich auf Flucht, um sich vielleicht
eine Begentenstellung zu erzwingen — „es ist ein gewöhnlicher
Prozeß, wie ihn die fixen Ideen der Schwach- und Irrsinnigen durch¬
machen*. Durch die jahrelang betriebene imwürdige Behandlung aufs
äußerste gereizt, zur Verzweiflung getrieben gibt er einigen Höflingen
Ohrfeigen (wir wissen nicht, ob sie nicht verdient waren), vergreift
er sich angeblich an einigen Würdenträgern, die er für die Anstifter
*) Vgl. Büdinger, S. 175.
Die Don Carlos-Frage.
461
seines Unglücks hält — also „Exzesse und Gewalttätigkeiten-, die sich
nach Büdinger zu Mordabsichten gegenüber dem Vater steigerten —
also „Schwachsinn mit Tobsuchtsanfallen- und sexuellen Verirrungen.
Da konnte auch ein so „gemütvoller* Vater wie Philipp II. nicht mehr
raliig Zusehen: die stolze Weltmonarchie Spanien durfte nicht durch
die „ziellosen Ansprüche und gefahrvollen Absichten seines schwach¬
sinnigen Thronerben- gefährdet werden.
Der Infant wurde denn in der Nacht vom 18. zum 19. Jänner
1568, während er schlief, überfallen, und, nachdem ihm seine Waffen
und Papiere weggenommen worden waren, unter strengste Aufeicht
gestellt Daiß dies nach allen Begeln der modernen gerichtlichen Me¬
dizin geschah, wurde schon erwähnt. In dem sorgsam vergitterten
Turmzimmer des königlichen Palastes ist er sodann an den Folgen
seiner unvernünftigen Lebensweise gestorben Don Carlos verweigerte
nämlich zunächst die Aufnahme von Nahrung, dann aß er wieder zu
viel auf einmal, trank dazu große Quantitäten eisgekühlten Wassers,
wodurch der Magen des ohnehin kränklichen Jünglings derart ge¬
schwächt wurde, daß er keine nahrhaften Speisen mehr vertragen
konnte und so, immer schwächer werdend, eines vollständig natür¬
lichen Todes wie ein Heiliger starb, vollkommen ergeben in sein
Schicksal und versöhnt mit dem Vater. „Sein Tod*, so heißt es in
dem Bundschreiben des Königs an die auswärtigen Höfe, „erfolgte mit
solcher Gotteserkenntnis und Beue, daß er Allen zu großer Befriedigung
und zu Tröste bei dem Schmerze und Mitleiden gereichte, welche dieser
Fall mit sich bringt* 1 ). Büdinger bemerkt dazu: „Einfacher, wahr-
heits- und sachgemäßer konnte das Ereigniß von dem nächsten, schwer¬
geprüften Familienangehörigen den fremden Höfen nicht geschildert
werden*.
Das uns von Büdinger vorgefiihrte, von einem Psychiater über¬
prüfte Krankheitsbild erfuhr noch dadurch eine willkommene Bereiche¬
rung, daß der Prinz in Alcala, wo er die hohe Schule besuchte, sich
eine schwere Verletzung des Schädels zugezogen hatte. Es war im April
1562, als er, zum Stelldichein mit der Tochter des Schloßpförtners
eilend, auf der Treppe so unglücklich auf den Kopf fiel, daß er lange
mit dem Tode rang und nur durch die Kunst des berühmten Vesaliua,
der, wie schon erwähnt, eine Trepanation des Schädels vornahm, nach
der Meinung anderer aber durch die Berührung mit den wunderwir¬
kenden Gebeinen des Mönches Diego gerettet wurde.
Don Carlos war aber, wie wir bei Büdinger erfahren, schon vor
dem Sturze schwachsinnig. Es ist dies einer der Grundgedanken seiner
*) Vgl. Büdinger, S. 270.
402
Viktor Bibi.
ganzen Darstellung, so daß es sieb wohl verlohnt, darauf etwas näher
einzugehen. Schon seit August 1561 wusste der unglückliche König*
wie es um seinen Thronerben stand. Zu dieser Zeit erfolgte nämlich
die förmliche Einladung der beiden Neffen Philipps II., der Erzherzoge
Rudolf und Emst: sie sollten in Spanien an seinem Hofe erzogen
werden, und es wurde dabei angedeutet, daß Rudolf, der älteste Sohn
Maximilians (II.) dereinst berufen sein könnte, auch der Nachfolger des
Königs zu werden. Man muß also, so meint Büdinger, schon damals
am spanischen Königshofe die Überzeugung gewonnen haben, daß Don
Carlos regieruugsunfahig w ar. Diese Annahme erfuhr noch eine Stütze
durch ein Aktenstück, das Maurenbrecher bei einem Besuche des Wiener
Staatsarchives zu Ostern 1874 fand und, wie dieser in seinem Welt¬
entdeckerjubel 4 x ) wähnte, den „Schlüssel zu allen Unklarheiten und
Rätseln- brachte 2 ). Dieses Aktenstück betraf die Verhandlungen über
eine Heirat zwischen Don Carlos und der ältesten Tochter Maximilians,
Erzherzogin Anna, die schon seit längerer Zeit schwebten, aber von
Seite Philipps IL nicht recht vom Flecke gehen wollten. Maximilian,
dem an dieser zukunftsreichen Verbindung sehr viel gelegen war, be¬
trieb sie auf jede mögliche Weise. Da, als er wieder einmal recht un¬
geduldig geworden war, läßt der König durch Herzog Alba dem
kaiserlichen Botschafter Guzman folgendes sagen: „Der Gesundheits¬
mangel des Prinzen, verbunden mit den in seiner Person gelegenen
Mängeln ebenso in Urteil und Wesen wie im Verständnis, welches
weit hinter dem zurückbleibt, was in seinem Alter verlangt wird, be¬
reiten Seiner M*. große Verlegenheit Der König habe, nachdem er
das Vertrauen in die Befähigung seines Sohnes verloren, die Hieher-
sendung seiner Neffen vorgeschlagen*.
Mit diesem Dokument vom März 1562 war also der Schwachsinn
des Infanten schon sechs Jahre vor der Katastrophe und den darauf
vom König abgegebenen Erklärungen in, wie Maurenbrecher meinte^
einwandfreier Weise, gewissermaßen amtlich bescheinigt Daß ein so
gründlicher Kenner der spanischen Geschichte zur Zeit Philipps II.,
dessen Kabinett den dem ganzen Zeitalter anhaftenden Macchiavellismus
in seiner reinsten Prägung vertritt, dieser Regierungskundgebung den
Charakter einer „Offenbarung* 8 ) zubilligt, ist sehr zu verwundern und
psychologisch vielleicht daraus zu erklären, daß ihn die Freude über die
Entdeckung einer Quelle, die der so gewissenhafte Gachard nicht ge-
*) Schmidt in der Beilage zur Jenaer Literaturzeitung 1874, Nr. 52.
*) Maurenbrecher in den »Grenzboten« 1874, 4, 8. 246.
*) Schmidt, ebenda.
Wmm
■ »«P*
-Die Don Carlos Frage’
.kaont Ofleir wenigen* io seiner .'Quejiciimioöttifeög nickt mitgenommen
hatte, gehteinfet Hak
iMI j-der $i0pg /der beiden Extkcr/<Ä äh tletf spanischen. Eönigölinf
verhielt es &*:h in Wirklkhkeit ganz Maximilian II.. damals
noch Kronpnh^ hatte äwb, ein Jahx zuvor dm semc§ Vaters
gefugt und dk> fö^tliehe ßrkl&üfig^^ ahgegeb^ru daÜJ er im ß&vite dW
'feuthwl^h^ü.;. Kirehe ; Mdfeetr .werfe Eine weitere * £%3^e seines?
Ganges ua&fe d&ß eV jfcü<&
Sohne hach Spanien m schicken, dmftit- äiY dort, (mberührt vtVn ketze¬
rischen EiüfiüBson, die nick* wie c\*rp <Ua Beispi«! ‘Mujriiudum# zeigte,
auch schon ata haifcfcrjurfe geltend Tähckfcefi, Ü&t&tv < etf*
zogen würfen Dali Maximilian seihst diesen eigeutJinheu Zweck der
Sendung richtig erkannte-, beivhhst sein Brief au den König* wnriiü er
ausdrücklich erklärte, daß der ^fnslige Thrv^fol^r 30 atü besten der
.Gefahr einer Ansteckung* d. b; einer Litfizterung mit protestautlsdicu
Ideen, entgehe 1 )- Wohl lediglich nns tfrunde . hielt König
Philipp IE die Erzherzoge trotz des Drängens ihres Vaters,, $£ heim-
reisen zu. lassen, das tschöii in 4er nächste# Zeit; jftkre lang*
zuruck- Ais dann, zehn Jahre muh der Einladung der König schon,
wieder verheiratet war und die-Abreise. der Prü?#ii nicht weiter ver¬
schoben werden; : kQnnte>';;ir4aebiP die- {u<^.rm uoeiuuals einen V'erstielu
uhte dein Bfeat lüit der liifitfifiü
ata spanischen Königshöte zu kalten* damit der Thronerbe nicht in den
\eo verdorbenen Landern»’ (teai daüardus p&rfes) Schäden an smuer
Seele erlitte Der Hinweis an! di& möglich^ defe
sehen Hab^hurgenß ist Wohl tferr als K$det anfziifaäsfe Daß At.atfY
milnui II.*' der übrigens, wie kohon ewahnt, sehr bald. die Sohne heim
berief (waa er sicharlich nicht -gejäh... hätte, weim er die besftdkdto.ie
Aussicht äuf die Sukzession.. i.ü* >Spnxiien ; gebäht; hätte), Mellet nicht uu
den Schw^h^mu and die ..• dfe laihuteh. #laubfe;.
beweist in. der m dii>;gru&t^n SEv?#? Oit' (Mi, er. 4 h
verhandluiigcii ood AiÖjfltf : $S£*i*d>
sclialV’t uD.vie^f: . ^ ‘ .
M Vgj
O Slfjnp&gmlo U
an Monteag^iu,, 15^1 ^ ?:^r^ ? ?%.,
464
Viktor Bibi.
festgelegt worden. Es verdient hier hervorgehoben zu werden, daß
Maurenbrecher in seinem ersten Aufsatz, den er unter dem frischen
Eindrücke der Veröffentlichung Gachards geschrieben, einen ganz an¬
deren Standpunkt eingenommen hatte *). Er spricht da durchaus im
Tone der Sympathie von einem „unglücklichen“ Prinzen, der »auf
rätselhafte Weise von seinem eigenen Vater aus der Welt entfernt*
worden ist, der in seiner Jugend eine „gedeihliche Entwicklung* er¬
hoffen ließ. Wohl sei er „heftig“ gewesen, aber dies sei „an und für
sich noch kein allzu schlimmes Übel“. Seit 1559 sei Don Carlos
seinem Vater „als kirchen- und staatsgefahrlich erschienen“. „Der
Gegensatz des Seins und Wesens zwischen Vater und Sohn“ habe sich
in der Folge immer weiter verstärk! Die verschiedenen Ungebürlich-
keiten und Gewalttätigkeiten, die sich Don Carlos angeblich zu Schulden
kommen ließ, werden wohlwollend als „kleine Ereignisse, die an einem
großen, mächtigen Hofe im Leben der Prinzen stattzufinden pflegen*^
bezeichnet Er spricht geringschätzig von „Anekdoten, die über den
Prinzen verbreitet und von den geschäftigen Zungen diplomatischer
Neuigkeitskrämer an ihre Höfe berichtet worden sind“. Er sagt wohl
einmal, der Prinz habe „wenig geistige Fähigkeiten gezeigt“ (wo hätte
er auch dazu Gelegenheit gehabt?), er nennt ihn „eigensinnig und
heftig“, „unordentlich und liederlich“; aber daß er ein Idiot gewesen
sei, davon findet sich kein Wort Im Gegenteil, er stimmt mit Gachard
dahin überein, daß das Testament, das nach dem verhängnisvollen
Sturze abgefaßt wurde, „sehr viel gesunden Sinn und Verstand“ zeige.
In ganz anderer Gestalt tritt uns Don Carlos im zweiten Aufsatze,
der fünf Jahre später erschien, entgegen 8 ). Maurenbrecher spricht da
gleich eingangs von einer „elenden Sache“ und einer „unwürdigen
Person“ und meint dann verächtlich: Selten seien die Sympathien an
eine „unwürdigere und unbedeutendere Persönlichkeit“ verschwendet
worden. Hatte er im ersten Aufsatz von dem „blassen Jüngling* ge¬
sprochen. der das Mitleid und die Teilnahme der Königin angeregt
habe, so ist er jetzt ein „blasser Knabe*, unfähig „der Rivale* seines
Vaters zu sein. Sie, die französische Königstochter, interessierte sich
nur deshalb f&r ihn, um ihn als Schwager (für ihre Schwester) zu ge¬
winnen. Don Carlos erscheint nun auf einmal als „verworren und
unklar in seinen Reden“, schließlich sogar ausdrücklich als „verrückt*.
„Wird man sich wundem*, erklärt er, „wenn ein solcher Prinz viel¬
leicht halb für verrückt halb für kirchen- und staatsgefährlich ange-
*) Hißtor. Zeitschr. 11, (1864).
*) Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vortrüge, IV, 90. 1869.
Z*jz IX« GkrV*-Frss«-
-ko
sehen wurde? Ich denke doch, sein Wesen ist wirklich eine Mischung
aas diesen beiden Elementen A .
Zweifellos gehen die beiden Studien über Don Carlas in der Be¬
urteilung desselben sehr stark auseinander, und so konnte ein scharfer,
aber geistvoller Rezensent behaupten, sie verhielten sich in einander,
„wie die Produkte zweier ganz verschiedener Verfasser, eines II L und
eines M IL* 1 l Hatte Maurenbrecher etwa in der Zeit zwischen der
Veröffentlichung des ersten und des zweiten Aufsatzes neues Material
gefunden? Dies war nicht der FalL Dagegen fand er einige Jahre
später jenes schon besprochene Aktenstück» welches der Verrücktheit des
Infanten auf Grund der amtlichen Erklärung Herzog Albas eine be¬
stimmtere Grundlage gab, die aber, wie wir hörten, zecht zweifelhafter
Natur ist Nur in einem Punkte, und zwar gerade in jenem, der uns
hier am meisten interessiert, ist sich Maurenbrecher auch in seinem
dritten Aufsätze, den er nach dieser Entdeckung veröffentlichte -X treu
geblieben: er wagte auch jetzt nicht, über die näheren Ursachen und
den Verlauf der Katastrophe auch nur „eine Vermutung* auszu¬
sprechen *). Die Gesandten, meinte er sehr treffend, konnten ihre Mit¬
teilungen aus dem spanischen Kabinette geschöpft und dieses wieder
konnte die ganze öffentliche Meinung „in seinem Sinne beeinflußt und
getrübt* haben
Mit dieser Feststellung, die auch Chroust am Schlüsse seines Auf¬
satzes andeutet, kommen wir zur Kernfrage, mit welcher Büdingers
ganzer mühsam aofgebaute Indizienbeweis steht und fallt: Ist das
Zeugnis des königlichen Vaters wirklich beweiskräftig? Jedermann,
der mit der Geschichte Philipps IL einigermaßen vertraut ist, muß
leider dem Urteil Gachards beistimmen, der dem König ausdrücklich
die „Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit* abspricht und es für „voll¬
kommen richtig* halt, daß der venetianische Gesandte Vendiamino ihn
als „Vater der Verstellung* (padre delle simulationi), „von Arglist er¬
füllt* (pieno di artificio) bezeichnet Gachard zitiert eine Äußerung
des langjährigen Botschafters der französischen Krone am spanischen
Hofe, Fourquevaux: Des Königs Grundsatz sei gewesen, „dann offen
zu sagen, was er thun werde, wenn es seine Absicht war, es nicht zu
tun* 4 ). Mit Bezug auf die offiziellen Erklärungen des Königs, denen
Büdinger den Charakter der allerauthentischesten Quelle gab, erklärt
*) Schmidt in der'Jenaer Literaturzeitnng 1874, Nr. 62. Beil., S. 6.
*) Bon Carlos (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge),
2. Auflage. 1876.
*) 8. 36.
«) A. a. 0. 8. 264.
er: Niemand werde glauben wollen, daß sie der Ausdruck der reinen
Wahrheit seien. Philipp habe zu viel Interesse daran gehabt, daß an
die Exzesse und Unordnungen seines Sohnes geglaubt werde, um sie
nicht zu übertreiben, sofern er sie nicht erfand*). Auf Philipp IL
darf füglich das Wort des großen Spötters Talleyrand angewandt wer¬
den, der meinte, Gott habe dem Menschen die Sprache gegeben, damit
er seine Gedanken — verberge. Was soll man von einem Fürsten sagen,
der wenige Tage, nachdem die schärfste Bestrafung der niederländischen
Aufrührer und Ketzer beschlossen worden war 2 ), der Statthalterin der
Niederlande versicherte, es sei nicht seine Absicht, schroff und hart
aufzutreten, vielmehr werde er als „ein guter und milder“ Herrscher
Vorgehen? 8 ) Auf das Beispiel des unglücklichen Abgesandten der
Niederlande, Herrn von Montigny, der in Simancas stranguliert wurde,
trotzdem man dann wiederholt amtlich erklärte, er sei eines natürlichen
Todes gestorben, ist schon hingewiesen worden. Übrigens wundert es
mich, daß Büdinger so felsenfest auf die Glaubwürdigkeit jener könig¬
lichen Bechtfertigungsschreiben vertraut, da doch vom Standpunkt
seiner wissenschaftlichen Überzeugung Philipp zweifellos eine Un¬
wahrheit gesagt hatte. Der König erklärte da nämlich „auf das ent¬
schiedenste“, daß die Gerüchte über eine „Bebellion“ u. dgL grundlos
seien 4 ).
Aber wenn man auch, so wird man vielleicht entgegnen, dem
spanischen Kabinette jede Unwahrheit und Heuchelei Zutrauen dar£ so
wird der König doch nicht in den Verdacht kommen können, seinen
eigenen, einzigen Sohn aus der Welt geschafft zu haben? 6 ) Gewiß,
bäumt sich in uns Nachgeborenen, die wir durch das Zeitalter
der Humanität hindurchgegangen sind, unser Innerstes gegen diesen
Vorwurf auf. Aber wie einmal die Dinge liegen, ist Philipp II. von
‘) Ebenda, S. 603.
*) Beschluß vom 29. Oktober 1566. Vgl. Büdinger, S. 12.
*) König Philipp H. an Margareta von Parma, 1566 November 27 (Reiffen-
berg, Correspondance de Marguerite d’ Autriche avec Philipp H., S. 206 lg.). Dem
Botschafter am Kaiserhofe versichert der König, er werde seine »Milde« walten
lassen; König Philipp 11. an Chantonnay, 1567 Jänner 3 (Colecciön de docu-
mentes in&iitos 101, S. 140 fg.). Wenige Monate später schreibt er demselben
Botschafter, er möge den Kaiser, der neuerdings interveniert hatte, beruhigen,
»tengo por cierto, que el mundo todo quedarä satisfecho de lo que se hace«.
(Ebenda, S. 221 fg.).
“) Büdinger, S. 223 f.
*) E. Mareks sagt in seinem Aufsatz über Philipp II. (Deutsche Bücherei 88,
S. 66): »Es war sein einziger Sohn, den der damals 41jährige Philipp II. damit
verlor; es ist eine Thorheit, zu glauben, der König würde ihn hingegeben haben
ohne Not«. Dies wird heute niemand bestreiten. Aber worin lag die »Not»?
Die Don Carlos-Frage.
4()7
vornherein alles, also auch das zuzumuten. Es ist bekannt, daß der
große Schweiger Wilhelm von Oranien im Jahre 1581 gegen den König
offen die Anklage des Vatermordes erhob. Ja, er behauptete noch
mehr: Philipp habe auch die Königin aus dem Wege geräumt, um
seine Nichte, die Verlobte des Infanten, heiraten zu können. Der
Oranier berief sich dabei auf die Tatsache, daß man am französischen
Königshofe darum wisse 1 ). Banke hielt diese Anklage eines aner¬
kannten Todfeindes des spanischen Königs für unglaubwürdig, doch
billigte er dem Oranier, „der die Achtung und die Bewunderung der
Nachwelt erworben hat“, den guten Glauben zu 2 ). Aber fallt es uns
nicht auch schwer, anzunehmen, daß ein deutscher Fürst vom Schlage
eines Oraniers, ohne ausgiebige Beweise in der Hand zu haben, jene
furchtbare Anklage dem König ins Gesicht schleuderte? Banke machte
es sich bei deren Widerlegung sehr leicht Er fragt: War die Erz¬
herzogin Anna so schön, brachte sie dem König politische Vorteile,
daß er um ihretwillen den Mord der „Friedenskönigin“ und seines
Sohnes zu begehen versucht war? Das gewiß nicht, aber, so könnte
man einwenden, vielleicht brachte sie ihm den gewünschten Erben,
den ihm die Königin ebenso wie die verstorbene Maria von England
versagt hatte. Der König hatte es jedenfalls mit der Wahl einer Nach¬
folgerin sehr eilig. Am 3. Oktober 1568, kaum drei Monate nach Don
Carlos, war die Königin gestorben, und schon am nächsten Tage konnte
der Sekretär Philipps dem Herzog Albrecht von Bayern melden; „Man
versihet sich, es solle Ir. M*. in weilend ires suns . . „ hiebe treten
und sich mit der Kais. M* ältesten fräulein vermeheln“ ®). Ich be¬
zweifle, ob diese Eilfertigkeit des sonst in seinen Entschlüssen so lang¬
samen Königs ein besonders gutes Licht auf den „Gemütsmenschen“
Philipp, wie wir ihn aus Büdingers Darstellung kennen lernten, auf
den zärtlichen Ehemann, als den ihn Banke schildert, zu tirerfen in der
Lage ist Noch widerlicher aber wird es uns berühren müssen, wenn
wir aus einem Schreiben des Kaisers erfahren, daß Philipp noch zu
Lebzeiten der Königin in einer kaum mehr verblümt zu nennenden
Weise durch seinen Botschafter um die Hand der Erzherzogin Anna
*) Dies dürfte stimmen. Der florentinische Botschafter am französ. Königs¬
hofe, Petrucci, meldete seiner Regierung, die Königin-Mutter fange an zu glauben,
daß ihre Tochter vergiftet wurde. Vgl. Desjardins, NSgociations de la France avec
la Toscane, 3, S. 659.
*) A. a. 0. 8. 455.
•) Pfintzing an Herzog Albrecht v. Bayern, 1568 Oktober 4 (München, Geh.
-Staatsarchiv, K. schw. 286/1 fol. 94.
468
Viktor Bibi.
aiihielt 1 ). Wenn der König wirklich, wie der französische Botschafter
berichtete, nach dem Tode seiner Gemahlin „dicke Thränen* vergoß,
so beweist dies vielleicht nnr, daß er sich gut verstellen konnte. Die
Todeskrankheit der jungen Königin war jedenfalls von ganz eigen¬
artigen Umstanden begleitet und auch am Wiener Hofe Hefen allerlei
Gerüchte um 2 ). Den üblen Eindruck über den Tod faßte der Vize¬
kanzler des Kaisers in das kurze, aber vielsagende Wort zusammen:
„vix caret suspitione“ 8 ).
Diese kleine Abschweifung erschien mir nötig, um zu zeigen, daß
die Zeitgenossen dem spanischen König alles zutrauten. Übrigens hat
PhiHpp II. selbst wiederholt auf das bündigste — und das dürfte ein¬
mal wirkhch aus dem Herzen gesprochen worden sein — erklärt, daß
er keinen Anstand nehme, seinen eigenen Sohn zu opfern, wenn dies
der Dieust Gottes — das ist also vom spanischen Standpunkte aus gleich¬
bedeutend mit dem Staatsinteresse — erforderte 4 ). Dies führt uns mm
zur Frage des politisch-reHgiösen Gegensatzes zwischen König und
Thronfolger. Wir wissen bereits, daß Büdinger einen solchen Wider¬
streit der Grundsätze rundwegs in Abrede stellte.
Es ist bekannt, daß sofort nach der Verhaftung des Infanten das
Gerücht aufflatterte, sie sei wegen seiner Hinneigung zur neuen Lehre
erfolgt, und diese Annahme, die immer mehr an Boden gewann, fand
schHeßhch ihren Weg in die Literatur 6 ). Maurenbrecher hat die Mög¬
lichkeit solcher akatholischen Empfindungen nicht bestritten und aus
der Zeit der ersten Jugend des Infanten einige recht beachtenswerte
Quellenbelege zusammengestellt. Im Jahre 1558 — der Prinz war da¬
mals 14 Jahre alt — schrieb dessen Erzieher Honorato Juan, ein Ge¬
lehrter von großem Rufe, dem in den Niederlanden weilenden König
einen recht weinerlichen Brief, worin er das für einen Pädagogen immer
sehr peinliche Einbekenntnis machte, daß alle seine Versuche, den
Unterricht zu fordern, nicht das gewünschte Resultat gehabt hätten und
eine Änderung vielleicht erst dann zu erwarten wäre, wenn der König.
i) Maxim ilian II. an* Dietrich stein, 1568 Oktober 12 (Nikolsburg, Archiv
Dietrichstein Eigb. Orig.). Es ist also unrichtig, wenn M. Ritter (Deutsche Geschichte
im Zeitalter der Gegenreformation etc. 1, S. 402) von dem Kaiser sagt, dieser habe
»mit einer fast unanständigen Eile« seinen Gesandten beauftragt, dem König
Philipp seine Tochter »anzubieten«.
*) Bericht des Gesandten von Ferrara aus Wien vom 11. November 1568
(Modena, Archivio di stato, Dispacci, Germania).
>) Goetz, Briefe und Akten zur Geschichte des 16. Jahrh., 6, 8. 420, Anrn. 3.
*) Vgl. Büdinger, S. 99 fg.
*) Z. B. Adolfo de Castro, Historia de los protestantes espanoles y de su
persecucion por Felipe II. 1851.
Die Don Carlos-Frage.
469
nach Spanien zurückgekehrt, persönlich die Sache in die Hand nähme r ).
Es ist klar, daß die Anwesenheit des Königs nicht etwa deshalb er¬
sehnt wurde, um den Unterricht in der lateinischen Grammatik zu
überwachen; wenn von Unterricht und Erziehung am spanischen Hofe
des 16. Jahrhunderts die Bede ist, denkt man unwillkürlich zunächst
an die Beligion. Der König weist darauf den Hofmeister des Prinzen
Don Garcia de Toledo an, sorgsam auf diejenigen Acht zu haben, mit
welchen Don Carlos verkehre und die ihn von den Studien abziehen
könnten *).
Diese Nachricht, die so mit einem Male das Dunkel der Jugend¬
geschichte des Don Carlos erhellt, gibt umsomehr zu denken, als ge¬
rade damals (15&9) in Valladolid, der Besidenz des Infanten, weitver¬
breitete protestantische Gemeinden aufgedeckt wurden. Um dieselbe
Zeit stand Philipp in Unterhandlungen mit dem Papste, um die
kirchlichen Verhältnisse in den Niederlanden zu regeln. Da finden
wir nun — fünf Monate nach dem Notschrei des Erziehers — auf
einer Weisung des Königs für seinen Gesandten in Born die ge¬
wiß inhaltsschweren Worte an den Band gesetzt: »Vielleicht wird
der Prinz mein Sohn nicht mehr dieselbe Sorgfalt dafür hegen, die ich
dafür trage“ 3 ). Im Mai 1559 fand in Valladolid unter großem Schau¬
gepränge ein Autodafe statt, welches volle zwölf Standen wahrte, wobei
auch der Prinz anwesend war, der einen feierlichen Schwur leisten
mußte, stets dem wahren katholischen Glauben anzugehören und der
Inquisition zu dienen. Im Oktober desselben Jahres findet dann zu
Ehren des nach Spanien zurückgekehrten Königs ein neues Autodafe
statt, wobei drei Personen aus den höchsten Adelsfamilien des Landes
lebendig verbrannt und neun andere erdrosselt wurden, und da ereig¬
nete sich eine Szene, die oft besprochen worden ist Als ein Herr
von Sessa an der königlichen Tribüne vorbeigeführt winde und dem
König die Worte zurief: »Wie können Sie als ein so hoher Edelmann
gestatten, daß man mich den Flammen 4 ) überliefert?“, antwortete ihm
der König eisig und gelassen: »Wäre mein Sohn ein solcher Frevler
wie Du, ich würde selbst das Holz herbeitragen, um ihn zu ver¬
brennen“ 6 ). Wiederum wohnte der Infant diesem grausigen Schauspiel
*) Abgedruckt bei Gachard, S. 37 ; vgl. Maurenbrecher in der Histor. Zeit-
aclir. 11, S. 284.
*) Vgl. Gachard, 8. 28 ; Maurenbrecher, a. a. 0., S. 285.
f ) Vgl. Maurenbrecher, a. a. 0., S. 286 f.
4 ) In Spanien war für Standespersonen die Enthauptung die einzig zulässige
Form der Todesstrafe. Vgl. Chroust, a. a. 0., S. 493.
*) Vgl. Maurenbrecher, a. a. 0., S. 286.
Uittcilunzen XXXVI.
31
470
Viktor Bibi.
bei, das offenbar darauf berechnet war, seinen Glauben zu bestärken,
aber vielleicht, wenn derselbe schon erschüttert gewesen sein sollte,
eher abschreckend wirkte.
Nun hören wir mehrere Jahre nichts. Erst aus dem Anfänge de*
Jahres 1566 besitzen wir wieder eine bemerkenswerte Spur: es ist ein
Schreiben des früher genannten Honorato Juan an Don Carlos selbst
Der geistliche Herr erinnert darin an seihe wiederholten früheren
Vorstellungen. Man müsse, so fahrt er fort, an erster Stelle die Gebote
Gottes achten und befolgen, nicht nur innerlich, sondern auch äußer¬
lich, da der Prinz allen ein gutes Beispiel zu geben verpflichtet sei. Demnach
habe er der Messe und allen anderen gottesdienstlichen Handlungen
mit Aufmerksamkeit und Andacht zu folgen, die Angelegenheiten der
Kirche und ihrer Diener zu achten und namentlich auch die Sache des
heiligen Offizes (Inquisition) durchaus als die seinige zu betrachten; denn
dies sei dermalen eine unerläßliche Notwendigkeit nicht nur in Bezug
auf den Dienst Gottes, sondern auch auf den königlichen Stand, auf
die Buhe dieser Königreiche und ihre gute Verwaltung l ). Dieser Brief
gibt uns doch gewiß einen deutlichen Fingerzeig, daß in der religiösen
Haltung des Infanten irgend etwas nicht ganz in Ordnung war. In
die etwas dunklen Andeutungen des früheren an den König gerichteten
Briefes kommt durch ihn die gewünschte Klarheit. Wir werden daraus
noch nicht schließen können, daß Don Carlos schon im Verdachte stand,
Protestant zu sein, aber daß er zum mindesten als lauer Katholik galt
— eine Tatsache, die freilich schon genügte, mit der Inquisition in
nähere Berührung zu kommen.
Eine noch deutlichere Sprache führt aber ein Brief des Dr. Heman
Suarez, eines freundschaftlichen Beraters des Infanten, vom 18. März
1567. „Was wird die Welt dazu sagen«, klagt er da, „wenn sie er¬
fahrt, daß Eure Hoheit gar nicht beichtet und sich noch an¬
derer schrecklicher Dinge (otras cosas terribles) schuldig macht,
die bei jedem andern Anlaß geben würden zu einer Untersuchung von
Seite des heiligen Offiziums, ob derselbe ein Christ sei oder nicht!«
l ) 1566 Jänner 10. Abgedruckt bei Gachard, 8. 277. Schmidt (S. 276) hat
die französische Übersetzung Gachards »aussi bien intlrieurement qu 1 ext6rieure-
ment« richtig gestellt. Es ist das der typische Ausdrnck für den kirchlichen
Standpunkt Philipps U. t daß es nicht genüge, iin die katholiche Kirche zu glauben,
sondern daß man auch diesen Glauben nach außen hin betätigen müsse. Ganz in
derselben Weise wurde auch Kaiser Maximilian IL, der bereits im Rufe der Hin¬
neigung zur neuen Lehre stand, vom König ermahnt. Vgl. Philipp an Kaiserin,
1569 März 12 (Colecciön de documentos inöditos, 103, S. 166 f.); Philipp an Maxi¬
milian, 1670 Februar 5 (Ebenda, S. 428).
Die Don Carlos-Frage.
471
Er hält dem Prinzen seine feindlichen Äußerungen gegen den Vater
vor und ermahnt ihn, sich zu einem besseren Leben zu bekehren. Eine
Auflehnung gegen den Vater, sagt er weiters, ohne die Mittel zu einer
solchen zu besitzen, sei aussichtslos und tollkühn und gebe den Feinden
des Infanten, deren Zahl von Tag zu Tag wachse, Grund zu sagen,
das sei »Verrücktheit und Verstandesschwäche 41 . Don Carlos
spiele geradezu mit seiner ganzen Stellung 1 ).
Gachard gestand, daß er nicht wisse, was unter den »schreck¬
licheren 8 Dingen, deren sich der Infant schuldig gemacht hatte, zu
verstehen sei. Büdinger, völlig beherrscht von dem Krankheitsbild des
.Schwachsinnes, denkt an sexuelle Verirrungen: »Man sollte meinen:
unnatürliche Sünden! 8 *) Nun, diese Auslegung ist gewiß nicht richtig.
Denn solche geheime Sünden würden den Infanten ebensowenig mit
der heiligen Inquisition in Konflikt gebracht haben, wie die offenen
seines königlichen Vaters. Weit eher könnte man daran denken, daß
der Prinz, dem bisher nur seine Lauheit im Bekenntnisse der alten
Kirche vorgeworfen werden konnte, die Linie, die ihn vom Protestan¬
tismus trennte, bereits überschritten hatte. Der ganze Brief mit seinen
eindringlichen Ermahnungen macht jedenfalls nicht den Eindruck, daß
der Berater und Freund des Infanten, mit dessen Natur er doch ver¬
traut gewesen sein mußte, Don Carlos für schwachsinnig hielt; so redet
man gewiß nicht einem Idioten oder Irrsinnigen ins Gewissen. Er sagt
nur, wenn er es so weitertreibe, werden seine Gegner, deren er ohnehin
schon genug habe, ihn für verrückt und verstandesschwach ausgeben.
Diese letzten Worte verdienen im Hinblicke auf die bei Hofe über Don
Carlos verbreiteten Erzählungen, die dann von den Gesandten weiter
gemeldet wurden und von Büdinger vollinhaltlich geglaubt werden,
entschieden unterstrichen zu werden.
Wir haben indes auch aus der Zeit, da der Prinz bereits hinter
Schloß und Siegel saß, eine ganze Beihe von Zeugnissen, die uns den
*) Vgl. Gachard, 8. 399 f.
*) Vgl. Büdinger, 8. 179. Ich verweise zur Beleuchtung von Büdingers
Methode noch auf ein anderes Beispiel. In dem Rundschreiben, das Philipp nach
dem Tode des Infanten ausgab, wendet er sich gegen den Vorwurf, er hatte seine
Exzesse angehen lassen. Allein hätte er, erklärt er da, Zwang angewendet, so
würde Don Carlos sich gewissen »anderen Dingen« hingegeben haben, welche ge¬
fährlicher für sein Leben und was schlimmer, für seine Seele (!) gewesen wären.
Büdinger (8. 267) erinnert hier den Leser, daß dem Prinzen die Gefühle für Dezenz
und Sauberkeit abhanden gekommen waren. Es handelt sich da aber, wie dies
ein Vergleich mit der Depesche des päpstlichen Nuntius vom 27. Juli 1568 (Gachard,
S. 696) ergibt, um den — Beichtvater, den der Prinz, ebenso wie den Arzt zurück -
gewiesen hätte, wenn man gegen ihn mit Gewalt vorgegangen wäre.
31*
472
Viktor Bibi.
Gedanken nahe legen, daß es sich um einen grundsätzlichen Gegen¬
satz, um Gründe religiös-politischer Natur handelte, die zur Katastrophe
führten. Wenige Tage nach der Verhaftung berichtete der päpstliche
Nuntius in Madrid auf Grund von Informationen, die ihm der Gro߬
inquisitor Kardinal Espinosa in des Königs Aufträge gegeben hatte,
nach Born: Die Einschließung sei lediglich im Interesse des Dienstes
Gottes, der Erhaltung der Keligion und seiner Königreiche erfolgt. Auf
eine Bemerkung des Nuntius, daß man sich erzähle, der Prinz wollte
seinen Vater ermorden, erwiderte der Kardinal: Das wäre das Geringste,
denn dem hätte man yorbeugen können, aber es sei etwas „ Schlimmeres,
wenn Schlimmeres sein könne», dem der König schon seit zwei Jahren
abzuhelfen gesucht habe x ). Vielleicht besagt dieses Zeugnis nichts,
weil man dabei an den « Aufruf zur Empörung* in den Niederlanden
denken kann, den der Infant in der «Ziellosigkeit seines Schwach¬
sinnes“ ergehen ließ. Wir wissen aber aus einem Schreiben des Kar¬
dinals Delfino, daß der Papst große Besorgnisse wegen der kirchlichen
Haltung des Infanten hegte. Als man ihm erzählt hatte, daß vom
König gegen den Prinzen der Vorwurf der Ketzerei erhoben wurde,
rief er mit zum Himmel gerichteten Händen und Augen aus: «0 Gott!
0 Gott! . . . nur zu viel Grund ist zu zweifeln, weil man Uns hat
vernehmen lassen, daß dieser Jüngling keine Bücksicht weder auf
Priester noch auf Mönche genommen hat und keiner kirchlichen Würde
Achtung bewies“ *). Wenn es sich nur um die «Nachrichten aus Lyon“
gehandelt hätte, deren Verlesung dem Papste diesen Schmerzensruf ent¬
lockte, so würde man ohne weiteres an einen von den Protestanten
ausgegangenen böswilligen Klatsch glauben können. Aber aus den
Worten des Papstes kann man doch den Schluß ziehen, daß er ähn¬
liches schon früher und offenbar von autoritativer Seite erfahren hatte.
Halten wir uns alle diese schließlich auch «bezeugten* Ansichten
von beteiligten Personen vor Augen, so verstehen wir es, wenn Mauren¬
brecher die Möglichkeit eines religiösen Gegensatzes zwischen Vater und
Sohn zugibt. Büdinger jedoch lehnt diesen Erklärungsgrund als «außer-
i) Erzbischof von Roesano an Kardinal Alessandrino, 1568 Jänner 24. Vgl.
Gachard, S. 509, 663 f.; dazu Büdinger, S. 204 f. Zehn Tage später berichtet der¬
selbe Nuntius, wieder nach einer Unterredung mit Espinosa: Der König habe gegen
den Infanten einschreiten müssen, weil sonst, die Religion gefährdet gewesen wäre.
Schreiben an Kardinal Alessandrino, 1568 Februar 4. Vgl. Gachard, S. 665.
*) »Sua S* alzö le raani et gl’occhi al cielo esclamando: »0 Dio, o Dio!«,
et soggionse: »pur troppo b da dubitore, percliö a noi b stato fatto intendere, qne
questo giovane non teneva conto n& di preti ne di frati et non faceva stima
d’alcuna dignitä ecclesiastica«. Delfino an Maximilian II., 1568 März 6. YgL Bü¬
dinger, S. 108, Anm. 2, und 207.
Die Don Carlos-Frage.
473
halb ernstlicher kritischer Erwägung stehend“ l ) ab. Da Büdinger in
anderen Belangen, wie in der Frage des Schwachsinnes und der Be¬
ziehungen der Königin zu Don Carlos, Maurenbrecher unbedingte Ge¬
folgschaft leistet, so muß man annehmen, daß er für seine so brüske
Behauptung genügende Beweise hat Dazu gehört einmal jenes Testa¬
ment, das der Infant im Mai 1564 unterzeichnet hatte. Büdinger findet
darin eine Beihe von Bestimmungen, die nur ein auf dem Boden der
katholischen Kirche stehender getroffen haben konnte, wie z. B. die An¬
regung zur Heiligsprechung des Mönches Diego, dessen wunderkräftige
Gebeine, wie wir schon hörten, die Heilung des Infanten von den
Folgen seines Sturzes verursacht haben sollen. Büdinger will gerade
bei dieser Stelle „Ergüsse eines religiös erregten Gemütes“ bemerkt
haben, die nicht „den geringsten Zweifel über die vollkommene katho¬
lische Rechtgläubigkeit “ des Kronprinzen zuließen. Er tadelt deshalb
Maurenbrecher, der im Testamente nur die bei solchen Gelegenheiten
hergebrachten Äußerungen katholischer Frömmigkeit erkannte 2 ).
Es sei hier zunächst festgestellt, daß Büdinger bei der Beurteilung
des Testamentes mit zweierlei Maßen mißt Weil gerade dieses Doku¬
ment von Gachard als ein glänzendes Zeugnis des Verstandes und
Gemütes des Don Carlos aufgefaßt wurde 8 ), findet Büdinger, daß ein
»Teil dieser Lobsprüche“ dem „feinsinnigen“ Doktor Suarez zuzu¬
schreiben sei. Warum sollten, so darf man füglich fragen, jene Ergüsse
eines gläubigen Gemütes ebenso wie alle jenen Bestimmungen, die
Büdinger als Ausflüsse seiner „spezifisch, spanischen, um nicht zu sagen
castilisch gearteten Glaubensempfindung“ bezeichnet, nicht auch von
Suarez herrühren — gar wenn dessen jüngerer Freund „schwachsinnig“
war? Der Nachweis einer echt spanischen Geistesrichtung wird kaum
zu erbringen sein. Wenn der Infant in diesem Testamente einem
jungen Mädchen 1000 Dukaten aussetzt, für den Fall als es sich dem
Klosterleben widmen, 3000 aber, wenn es heiraten würde 4 ), so verrät
diese Bestimmung eher den Geist der Aufklärung. Er scheint also
schon damals freieren Anschauungen gehuldigt zu haben und man kann
sich ganz gut vorstellen, daß der Prinz, der sich aus Pietät für die
Heiligsprechung eines Mönches einsetzte, den Standpunkt vertrat, es
sei mit dem von Christus gepredigten Evangelium der Liebe unverein¬
bar, Andersgläubige zu Tausenden unter den entsetzlichsten Todesqualen
ins Jenseits zu befördern. Aber selbst wenn wir wirklich in dem
i) Büdinger, S. 114.
*) Ebenda, S. 116 fg.
*) Vgl. Gachard, S. 142. Auch von Maurenbrecher; vgl. oben S. 464.
4 ) Vgl. Schmidt, S. 289.
474
Viktor Bibi.
Testamente einen unwiderleglichen Beweis seiner tadellosen kirchlichen
Haltung zu sehen hätten, kann nicht der lebhafte Jüngling seine reli¬
giös kirchlichen Anschauungen seit dem Mai 1564 geändert haben?
Im Jahre 1565 beginnt in Flandern die große Freiheitsbewegung.
Abgesandte der Niederlande, zuerst Egmont. dann Montigny und Bergen
erschienen am spanischen Königshofe, um den König zur Milderung
der harten Ketzeredikte zu bewegen. Gewiß werden sie auch mit dem
Thronfolger in Fühlung getreten sein und ihn für das Schicksal ihres
Landes zu interessieren gesucht haben 1 ). Für Don Carlos eröffnete
sich so die Aussicht, endlich den schon lange erhofften Wirkungskreis
zu finden. Der vorhin genannte Nuntius erwähnte ja in seinem nach
der Verhaftung erfolgten Berichte vom 24. Jänner 1568, daß der Vater
seit „zwei* Jahren sich bemühe, den Prinzen auf den richtigen Weg
zu führen 2 ). Wäre es da so undenkbar, daß der unzufriedene, jahrelang
drangsalierte Prinz schon aus politischer Opposition sich mit der neuen
Lehre befreundete? Vom Kaiser Maximilian II. wenigstens ist be¬
hauptet worden, daß seine evangelische Gesinnung solche politische
Wurzeln habe: die Erbitterung über den Plan Karls V., nach seinem
Tode die spanischen Habsburger sukzedieren zu lassen, u. dgl. mehr s ).
Aber Büdinger weist nach, daß Don Carlos als frommer Katholik
gestorben sei. Nach dessen Tode nämlich wird in Rom ein feierlicher
Trauergottesdienst gehalten, und zwar, wie der dortige kaiserliche Bot¬
schafter bemerkte, in ganz ungewöhnlich feierlicher Form. „Ich denke 6 ,
meint Büdinger, „der in allen dogmatischen Fragen unerschütterlich
strenge Papst war bei seinem dezidierten Vorgehen mit den Exequien
für Don Carlos’ Seelenheil hinlänglich über dessen vollkommen katho¬
lische Gesinnung unterrichtet, so daß auch die heutigen Zweifler sich
beruhigen können 6 4 ). Ich muß offen gestehen, daß ich zu diesen
„Zweiflern 6 gehöre und mich trotz des vollsten Vertrauens in die dog¬
matische Strenge des Papstes Pius V. nicht beruhigen kann. Gerade
die ungewöhnlich feierliche Form des Requiems erscheint mir ver¬
dächtig: vielleicht sollte damit ostentativ, vor aller Welt, bezeugt wer¬
den, daß das Gerede von der ketzerischen Gesinnung des Infanten
grundlos sei, oder war es der Ausdruck der Freude darüber, daß der
*) Der französische Botschafter behauptet dies und erwähnt besonders Mon¬
tigny, der später, wie wir wissen, stranguliert wurde. Fourqrevaux an Königin
Katharina, 1568 Jänner 22 (Douais, D^peches de M. de Fourquevaux, ambassadeur
du roi Charles IX en Espagne, 1, S. 318).
*) Siehe oben S. 472.
•) Zuerst von M. Ritter (a. n. 0., S. 253 f., 263 f.) behauptet.
4 ) Büdinger, S. 110.
Die Don Carlos-Frage.
475
Abtrünnige vor seinem Tode reuig gebeichtet und kommuniziert hatte,
somit die Ehre der römischen Kirche gerettet, der Triumph ihrer Feinde
zu Schanden gemacht wurde? Dabei soll eben angenommen werden,
daß die vom spanischen Hofe ausgegangene Mitteilung, der Prinz habe
vor seinem Tode das früher verweigerte *) Abendmahl genommen, den
Tatsachen entsprach. Mit welchen Mitteln dies erreicht wurde, wissen
wir nicht; aber man kann vermuten, daß alles versucht wurde, um
den Trotz des Infanten zu brechen, und in dieser Hinsicht wäre es
auch vom Standpunkte einer „ voraussetzungslosen“ Forschung von vor-
neherein durchaus nicht ausgeschlossen, daß man — so vieles auch
sonst gegen die Annahme einer Enthauptung sprechen mag — zur
förmlichen Hinrichtung schritt, um den Prinzen angesichts der Ver¬
breitungen dazu, durch die Schrecken des nahenden Todes, zur Er¬
füllung seiner religiösen Pflichten zu zwingen.
Aufhdlend ist jedenfalls die häufige und starke Betonung, daß der
Prinz selbst es war, der im Gefängnisse zu Ostern den Empfang des
heiligen Abendmahls sehnsüchtigst bgehrte, daß der König es ihm, da
er ja »verrückt 4 war, nicht geben wollte, mit Rücksicht auf das be¬
harrliche Drängen aber schließlich nachgab, worauf er dann gleich
einem Heiligen den Eintritt des Todes gar nicht mehr erwarten konnte.
Man sollte doch meinen, daß es bei einem Prinzen aus dem Hause der
katholischen Könige unter gewöhnlichen Umständen ganz selbstver¬
ständlich ist, wenn er mindestens zu Ostern und vor seinem Tode den
Pflichten eines frommen Christen Genüge leistet, und auch selbst im
Zustande geistiger Umnachtung der Trieb dazu so mächtig nachwirkt,
daß er zur Befriedigung drängt.
Man kann mir einwenden, daß ja Don Carlos zu Weihnachten
1567, den verschiedenen nach der Katastrophe in die Welt gesetzten
Berichten zufolge, kurz vor seiner Verhaftung im Hieronymitenkloster
gebeichtet und auch das heilige Abendmahl begehrt habe, das ihm
aber verweigert wurde, weil er in der Beichte gestanden hatte, er hege
gegen „Jemanden* einen Haß. Auf das Hin soll der Infant das Ver¬
langen gestellt haben, ihm eine ungeweihte Hostie zu geben, denn er
legte Wert darauf zur Kommunikation zu erscheinen. Wer sagt uns
aber, ob diese Erzählung, welche in die Kategorie der nach der Ver¬
haftung verbreiteten Legenden gehört, auch wirklich sich zugetragen
hat? Erinnern wir uns an jenen merkwürdigen Brief des Dr. Suarez
*) Der päpstliche Nuntius berichtete drei Tage nach dem Ableben des Prinzen,
derselbe habe anfangs »in seiner Verzweiflung« weder den Beichtvater noch den
Arzt anhören wollen. Erzbischof von Rossano an Kardinal Alessandrino, 1568
Juli 27 (Gachaitl, S. 695).
470
Viktor Bibi.
vom Ende März 1507, uns welchem hervorging. daß Don Carlos gar
keinen besonderen Wert auf Beichte und Kommunion legte *). Vielleicht
wollte man mit dieser Geschichte die für den Hof gewiß recht pein¬
liche Tatsache verschleiern, daß Don Carlos weder beichtete, noch die
Kommunion nahm, was ja, da letztere öffentlich erfolgte, nicht so
leicht verheimlicht werden konnte. Die stark an einen Kolportage¬
roman mahnende Erzählung wird, wenn sie nicht vom spanischen Ka¬
binette selbst ausgegangen ist, jedenfalls dort liebevolle Unterstützung
gefunden haben 2 ): denn man erfuhr daraus, daß der Infant mit aller
Gewalt seinen religiösen Verpflichtungen nachzukommen bestrebt war.
Nebenbei bemerkt folgert Büdinger aus jener Erzählung die Tat¬
sache, daß Don Carlos seinen Vater ermorden wollte. Dieser „Jemand-,
gegen w elchen Don Carlos seinem Geständnis zufolge einen Haß hegte,
war, wie er dann später verraten haben will, der Vater. Die geschäf¬
tige Fama wußte bald näheres: der Haß gegen den Vater erweiterte
sich zu einer Mordabsicht, und ein Kammerdiener des Prinzen wußte
diese Entdeckung ins Einzelne zu schildern. Büdinger beruft sich über¬
dies auf das Zeugnis des päpstlichen Nuntius, der auf seine Frage, ob
das w ar sei, vom Kardinal Espinosa die Antwort erhielt: Das wäre das
Geringste, denn da hätte man sich vorsehen können, es sei aber
„Schlimmeres“ geschehen 3 ). Aus diesen sehr zweideutigen Worten
eine Mordabsicht gegen den Vater, die sowohl Ranke wie Mauren¬
brecher als nicht erwiesen ansahen, abzuleiten, erscheint mir etwas ge-
w'agt. Dies umso mehr, als derselbe Nuntius ein paar Tage später, da
er also schon besser informiert gewesen sein mag, als Gründe der Ein¬
schließung neben seiner Verrücktheit die Absicht zu fliehen, sich der
Armada und der Niederlande zu bemächtigen »und ähnliches* angab,
von einer Mordabsicht aber nichts erwähnte 4 ).
Überaus interessant ist übrigens, wie der König bemüht wjut, den
guten Eindruck, den die Nachricht über die in der Haft erfolgte Oster¬
kommunion auslösen mußte, nicht dadurch zu trüben, daß der Prinz
auch in diesem feierlichen Augenblicke „verrückt* oder „schwachsinnig-
war. Der Kaiserin schreibt er: Man solle nur ja nicht aus der Ge¬
stattung des Abendmahles den Schluß ziehen, daß in dem Prinzen
*) Siehe oben S. 470.
*) Auch Dietrichstein berichtet diese Version in seinem unmittelbar nach der
Katastrophe an die Kaiserin erstatteten Bericht vom 19. Jänne* 1668. Vgl. oben
S. 455.
*) Siehe oben S. 472.
4 ) Erzbischof von Rossano an Kardinal Alexandrino, 1568 Februar 4. Vgl.
Gachard. S. 665 f.
Die Don Carlos-Frage.
477
„kein Mangel an Urteilskraft“ sei; bei Verrückten gebe es Augenblicke,
wo der Geist gesunder sei als in anderen“ 1 ). Der Prinz war also auf
einmal „vernünftig“ geworden, weil er das heilige Abendmahl nahm.
Auch in anderen Berichten finden wir diese Gleichstellung von „ver¬
nünftig“ und „gut katholisch“. Der päpstliche Nuntius z. B. gab in
seinem nach dem Tode des Infanten nach Rom erstatteten Berichte
eine Darstellung seines Verhaltens im Gefängnisse. Zuerst wollte er,
so heißt es da, weder den Beichtvater noch den Arzt zu sich kommen
lassen, was den König nicht wenig beunruhigte. Dann aber habe ihn
Gott „erleuchtet“; habe er vorhin recht „unvernünftiges Zeug“ zu¬
sammengeredet (eose vane et di poco fondamento), so fing er nun an,
ernst und klug (gravemente et da huomo prudente) zu sprechen 2 ). In
ganz gleicher Weise schrieb auch der venetianische Gesandte einige
Tage später: Der arme Prinz habe vier Tage vor seinem Tode die
vernünftigsten und christlichsten Worte der Welt („le piü savie e le
piü cristiane parole del mondo“) gebraucht und es scheine, daß diese
Vernunft, die ihm im Leben nicht beschieden war, ihm Gott zu seinem
Abschiede reichlich gegeben habe 8 ). Dagegen berichtete der sächsische
Geschäftsträger, dem als Protestanten dieser Zusammenhang von „ver¬
nünftig“ und „katholisch“ nicht so eingeleuchtet haben mag: Der
Prinz habe bis zum letzten Augenblicke eine „große Vernunft“ an den
Tag gelegt und durchaus „vernünftig“ gesprochen 4 ). Daß ein Verrückter
lichte Momente haben kann, wird die Psychiatrie gewiß bestätigen;
merkwürdig ist nur, daß sie sich gerade zu Ostern und vor dem Tode
einstellten, und dazu noch im Gefängnisse, wo der Prinz, wie eine
Palastperson sehr bezeiclinend sich ausdrückte, wenn er nicht schon
vorher irrsinnig war, es sicher geworden wäre 5 ).
Diese zum geflügelten Worte gewordene Äußerung, die schließlich
geradeso verbürgt erscheint, wie die andern Nachrichten über die Ur¬
sachen und den Verlauf der Kronprinzentragödie, finden wir allerdings
bei Büdinger nicht, der sonderbarer Weise alles für unglaubwürdig
halt, was mit seiner Auffassung von Philipp, dem gemütstiefen, „be¬
kümmerten“ Vater und dem „Schwachsinn“ des Infanten unvereinbar
ist Der venetianische Gesandte Cavalli nennt es eine „Grausamkeit“
(crudelta), daß der König seinen Sohn, trotzdem dieser wiederholt darum
i) Schreiben des Königs ai Kaiserin Maria vom 19. Mai 1568. Vgl. Büdinger,
S. 112.
*) Siehe oben S. 475 Anm. 1.
*) Cavalli an den Dogen, 1568 Juli 31. Vgl. Vgl. Gachard, S. 700 f.
4 ) 1568 Juli 26. Vgl. Seidemann im Serapeum vom 15. Mai 1855.
*) Schmidt, S. 383.
478
Viktor Bibi.
gebeten hatte, nicht ljesuchte, und auch die Königin wie seine Tante
Johanna daran verhinderte, und er schließt daraus, daß der König etwas
von „äußerster Wichtigkeit“ gegen ihn haben müsse. Büdinger er¬
ledigt diesen uicht unberechtigten Vorwurf kurz mit den Worten: „Wie
wenig kennen doch diese Zeitgenossen den wahren Sachverhalt!“ 1 )
Derselbe Cavalli berichtete auch auf Grund einer Äußerung des Beichtvaters
des Don Carlos, daß der König schon seit „drei“ Jahren mit dem Ge¬
danken der Einschließung umging. Das wäre also ungefähr seit 1565
gewesen. Büdinger nimmt aber, wie wir wissen, an, daß der König
schon seit 1561 die Überzeugung vom Schwachsinn seines Sohnes
hatte; infolgedessen erklärt er die Berichte des venetianischen Gesandten
.für keineswegs eigentlich wichtig“ und wundert sich über Ranke, der
auf diese Kategorie von Geschichtsquellen so eingeschworen war. Das
Vorgehen des Beichtvaters aber, der Büdingers ganzes Konzept störte
— denn wenn es erwiesen ist, daß der König seinen Sohn schon vor
drei Jahren einsperren wollte, wo blieben dann die Absicht des Vater¬
mordes und der Aufruf zur Empörung als unmittelbare Ursachen der Ein¬
ziehung? — nennt er eine „kaum entschuldbare Indiskretion“ a ). Auch
die Berichte des französischen Botschafters, der wieder durch Ruy Gornez
erfahren hatte, daß der König schon seit „drei“ Jahren von dem
Geisteszustand seines Sohnes unterrichtet war, der auch nichts von
einem beabsichtigten Attentat auf den Vater zu berichten wußte, nennt
Büdinger „keineswegs aufschlußreich“ *).
Büdinger, immer beherrscht von der Vorstellung des Schwachsinns,
nimmt auch Änderungen der Texte vor. Hier nur ein Beispiel. Den
Hergang der Verhaftung schildert ausführlich ein Bericht vom 26. Jänner
1568, der nach seinem Fundorte der Lissaboner Bericht genannt wird.
Nach diesem begibt sich der König mit seinem Gefolge um Mitternacht
in die Wohnung des Infanten. Dieser fahrt — er war schon einge¬
schlafen — in die Höhe, versichert den König, er sei kein Verrückter,
sondern ein „Verzweifelnder“, und will Selbstmord begeben, woran er
aber gehindert wird. Und nun heißt es: der König gab dem Herzog
von Feria den Degen, welcher über dem Kopfende des Bettes hing,
und eine Pistole, welche der Infant, als er aufsprang, obwohl er sich
an sie erinnerte, nicht genommen hatte 4 ). Der Sinn ist klar: Don
Carlos, der nach dem Verrat seines Fluchtplanes durch seinen Onkel
i) Vgl. Büdinger S. 306.
*) Ebenda S. 159.
•) Ebenda, S. 218.
4 ) »Did al duque la espada que estuvo a la cabecera, que aunque ae acord<5
della quando aaltd y de un pistolete, no lo tomd«. Vgl. Gachard, S. 6811*.
Die Don Carlos Frage.
479
Don Juan d’Austria für sein Leben fürchten mußte, mag die Waffen
bei sich gehabt haben, sowie er ja auch sein Schlafzimmer sorgfältig
verriegelt hatte, um sich vor einem Überfall zu schützen 1 ). Als er
nun seinen Vater erblickte, machte er keinen Gebrauch hievon. Büdinger
aber, der eine solche Mordabsicht gegenüber dem König annimmt, er¬
gänzt zu „sich an sie erinnerte“ ein „no“ und nimmt als Subjekt des
„no lo tomo“ den König. Offenbar von seinem psychiatrischen Kol¬
legen beraten, faßte er die Stelle so auf, daß der König, der mit dem
Leben glücklich davongekommen war, weil sich der Prinz beim Auf¬
springen aus dem Bette an seine Pistole „ nicht“ erinnert hatte, dieses
neventuell zu abscheulichem Zwecke bestimmte Werkzeug“ nicht be¬
rühren mochte 2 ).
Büdingers Buch macht dem herzensguten Menschen, der an keine
derart grausame Tat eines Vaters und auch an keine Verstellung
glauben konnte, alle Ehre, aber nicht dem kritischen Forscher. Die
Auffassung, Philipp II. sei ein gemütsweicher, zartfühlender Mensch, ein
um das Wohl seines Sohnes zärtlich besorgter Vater und ein liebevoller
Gatte gewesen, ist gewiß originell, aber auf Grund der uns bis heute
vorliegenden Zeugnisse unhaltbar. Büdinger beruft sich einmal auf
eine Äußerung des kaiserlichen Botschafters am spanischen Königshofe,
die allerdings recht günstig lautete. Dietrichstein spricht da von des
Königs „sanftmuetikh guetig gemuet und aigenschafft“, dem „alle
scherf so hoch entgegen“ sei 8 ). Büdinger mißt den Berichten dieses
Botschafters, der mit einer nahen Verwandten des Königs verheiratet
war, in innigen Beziehungen zum spanischen Hofe stand und auch in
religiöser Hinsicht ganz wie Philipp II. dachte, den Charakter »unge¬
schminkter Wahrhaftigkeit“ bei. Wer darf überhaupt ein solches Urteil
4 ) Das Vorhandensein einer Feuerwaffe wird übrigens in einer Quelle, die
meines Wissens noch nicht bekannt ist, höchstwahrscheinlich aus der kaiserlichen
Kanzlei stammt (von dem Vizekanzler Zasius?) und anscheinend alles authentische
über die Ursachen und den Hergang der Katastrophe berichtet, noch auf andere
Weise erklärt: »Etlieh haben furgeben in der gmain, als het der prinz im furgnomen
den vattern umbzupringen und zu erschiessen, und dessen seien zwei buxen under
seim bött gfunden worden; es hat sich aber nit erfunden, dan da er waz der¬
gleichen im sinn gehabt, so het ers leichtlich mögen volziechen. Wol hat er mit
seiner diener wissen 2 buxen alz*it under dem bött gehabt, damit hat er zur
nacht, weill er gegen der maur ’iinauss glegen, da di hnndt ein groß belln ghabt,
under si hinauss zum offtermaln und beim tag auch gschossen«. Vgl. »Bericht des
principe Carlls von Hispania halber« (im Folgenden kurz »Bericht« genannt);
München, Geh. Staatsarchiv, K. schwarz 286/3, fol. 59.
*) Vgl. Büdinger, S. 242.
*) Dietrichstein an Maximilian II., 1568 Jänner 21 (Koch 1, S. 203).
480
Viktor Bibi.
über die Berichte eines Gesandten fällen? Selbst wenn wir annehm es
wollten, daß er nicht absichtlich, etwa aus Liebedienerei, etwas un¬
wahres berichtete, so ist er schließlich ein Mensch, der falsch gesehen
oder gehört, sich also geirrt haben kann.
Wie Büdinger den spanischen König aus dem Zeitalter der blutigen
Kämpfe der Gegenreformation durch die Brille eines gemütstiefen Ge¬
lehrten aus dem 19. Jahrhundert betrachtet, so ist er auch nicht in
den Geist der ganzen Zeit eingedrungen, der es dem Fürsten einfach
zur Pflicht machte, im Interesse der „Staatsraison“, gar wenn es sich
um das Höchste, den Dienst Gottes* handelte, auch einen Mord zu be¬
gehen 1 ). Daß Philipp nicht davor zurttcksehreckte, das hat — um nur ein
Beispiel anzuführen — die heimliche Beseitigung des Sekretärs seines
Halbbruders, Don Escovedo, in dem er den Anstifter der ihm unbe¬
quemen ehrgeizigen Pläne Don Juans d’Austria erblickte, bewiesen.
Daß der König seinem eigenen Geständnisse zufolge auch kein Bedenken
trug, seinen eigenen Sohn hinzurichten, wenn es das Staatsinteresse
erforderte, dies hat übrigens Büdinger selbst erwähnt Auch hatte
sich Büdinger vor allem sagen sollen, daß ein solcher Konflikt zwischen
König und Kronprinzen öfter in der Weltgeschichte vorgekommen ist
daß es sich auch hier um den typischen Gegensatz zwischen dem Vater,
der eifersüchtig über dem ungeschmälerten Besitz seiner Gewalt wacht
und von der Richtigkeit seiner Grundsätze überzeugt ist und dem
Thronfolger, der auch seinen Anteil begehrt und, in anderen Anschau¬
ungen aufgewachsen, die Schwächen des väterlichen Systems besser
erkennend, daraus die Berechtigung zur Kritik und zum selbständigen
Handeln ableitet, drehen könne, man also vorsichtig sein müsse.
Ein einziger Historiker hat meines Wissens auf diesen tragischen
Widerstreit von Vater und Sohn in eingehender Weise hingewiesen:
es ist dies Adolf Schmidt in seinen „Epochen und Katastrophen
(Berlin, 1874), einem in den weitesten Kreisen unbekannten Buche.
Mit Unrecht, denn es ist mit Geist und großer Sachkenntnis geschrieben
und man bekommt sofort den Eindruck, daß der Verfasser, der auch
über tüchtige philologische Kenntnisse verfügt, durchaus seinen Staff
beherrscht 2 ). Er war der Nachfolger Droysens in Jena, und Mauren¬
brecher, der mit ihm in der Don Carlos-Frage in einen heftigen Konflikt
geriet, nannte ihn * einen unserer gewiegtesten und verdientesten
Historiker“ 8 ). Aber er wurde fast vollständig totgeschwiegen. Bö-
*) »Niemand hat«, bemerkt A. 0. Meyer (England und die kathol. Kirche l,
8. 227 f.) »den Meuchelmord unbefangener gebraucht als Kg. Philipp H. in seinem
zu moral insanity ausartenden Fanatismus«.
*) Vgl. über ihn die Allgemeine Deutsche Biographie 31, S. 703 fg.
•) Grenzboten 1874, 4, S. 244.
Die Don Carlos-Frage.
481
r r diiiger nennt ihn mit keinem einzigen Worte. Hat er ihn nicht
gekannt? Dies ist kaum zu glauben, da er seinen Quellenbelegen nach
Maurenbrechers dritten Aufsatz vom Jahre 1876 gekannt hat, in welchem
fast ebenso viel von Schmidt wie von Don Carlos die Eede ist, weil
er sich mit ihm noch einmal kritisch auseinandersetzte.
Schmidt wirft einleitend die Frage auf, welches Urteil Friedrich
der Große in der Nachwelt würde erfahren haben, wenn er nach seinem
vereitelten Fluchtversuche wirklich, wie es der Vater wollte, hingerichtet
worden wäre. Friedrich „den Großen*, meint er, hätte man ihn kaum
genannt, wohl aber einen „Narren* oder „Bösewicht*; man hätte nur
. gewußt, daß er seinem Vater, trotzdem ihn dieser „tausendmal repri-
^ mandiert*, in eigensinnigem Trotze Ungelegenheiten bereitete und dessen
ganzes Lebenswerk zu vernichten drohte; er wäre als lächerlicher Mode¬
geck oder als toller Wüstling erschienen u. s. w.
Was wir, führt er sodann aus, von Don Carlos ungünstiges wissen,
sind meist „absichtlich ausgestreute Hofgerüchte, die für den unbe¬
fangenen Forscher den Stempel systematischer Verdächtigung des
C Infanten an der Stirne tragen“. Philipp hat den prinzipiellen Gegen¬
satz zwischen der Bichtung seines Sohnes und der seinigen frühzeitig
herausgefühlt, ihn zu vernichten beschlossen und durch wiederholte
systematische Lügen die Mitwelt auf den vorzeitigen Untergang vor¬
bereitet Schmidt bezieht sich auf einen Bericht des kaiserlichen Bot¬
schafters Dietrichstein vom 29. Juni 1564, daß er, nachdem er den
Prinzen persönlich gesehen und gesprochen hätte, einen ganz andern
Eindruck bekommen habe: derselbe hätte ganz vernünftig geredet;
er glaube, daß man dessen Fehler absichtlich größer mache. Diese
Fehler seien lediglich auf Versäumnisse seiner Erziehung zurückzuführen,
dagegen habe er unleugbar große Tugenden: er besitze einen scharfen
Verstand* (also das Gegenteil von Schwachsinn!), er liebe tapfere,
kriegerische Leute, sei ein Feind der Unwahrheit und selbst sehr frei
in seinen Beden. Dietrichstein hatte in einem früheren Bericht (vom
22. April 1564) sehr ungünstig über ihn geurteilt, aber damals be¬
richtete er nur das, was er auf Grund einer „Information* gehört
hatte. Auch der Beichtvater des Infanten, der ihn doch kennen mußte,
versicherte nach der Verhaftung: Der Prinz habe Fehler, die wolle er
nicht leugnen, aber nicht solche der Vernunft, und er hoffe es werde aus
ihm etwas Großes werden, denn er habe viele hervorragende Eigenschaften*
Dies wird uus, wie Schmidt nachweist, auch von anderer Seite
bezeugt. Die Statthalterin der Niederlande, Margareta von Parma
schreibt in einem Brief vom 26. August 1564: Don Carlos gebe zu
großen Hoffnungen für die Zukunft Anlaß. Melanchthon erklärte in
482
Viktor Bibi.
seinen geschichtlichen Vorlesungen zu Wittenberg öffentlich: „Von dem
Enkel Kaiser Karls V. höre ich so wunderbare Dinge erzählen, daß
ich überzeugt bin, es wird etwas Großes aus ihm - , und nun erwähnte
er einige charakteristische Züge seiner großmütigen Freigebigkeit
trotzigen Kühnheit und stürmischen Entschlossenheit (also das gerade
Gegenteil von König Philipp II.!). Schmidt weist auch auf das Te¬
stament des Don Carlos vom Jahre 1564 hin, welches Gachard „das
kostbarste Denkmal von dem Geist und Charakter des Don Carlos*
nannte. In dieser Urkunde, welche die „edelsten und großmütigsten
GefUhle* athmet, tritt der Prinz für die Gründung und Erweiterung der
Lehrkanzeln ein. Seine Sklaven sollen freigelassen und zu braven
Menschen, zu Künstlern erzogen werden. Schmidt führt uns auch
einige Beispiele munifizenter Unterstützungen von wissenschaftlichen
Werken (z. B. eines von Guicciardini) an und erwähnt den Besitz einer
reichhaltigen Bibliothek. Der König habe aber seinem Sohne nicht
getraut, ihm keinen selbständigen Wirkungskreis, nach dem sein ehr¬
geiziges Streben zielte, eingeräumt, die Verhandlungen über eine Heirat
mit Maria Stuart und dann mit einer Kaisertochter unter den nichtigsten
Vorwänden zum Scheitern gebracht, ihn auf Schritt und Tritt überwacht,
so daß er endlich den Plan zur Flucht faßte. Mehr als Sympathien für
die bedrängten Niederlande und diesen Fluchtversuch könne man ihm
nicht nach weisen; alles andere sei böser Klatsch. Der Prinz habe ge¬
wiß einen Hang zum „Seltsamen und Ungewöhnlichen* gehabt, seine
„Heftigkeit gab ihm den Anstrich des Überspannten*, wozu man ihm
allerdings reichlich Anlaß gegeben hätte, aber ein böswilliger Idiot sei
er nicht gewesen. Trotz seiner körperlichen Mängel hätten zwischen
ihm und der schönen Königin, seiner früheren Braut, die Gefühle herz¬
licher Freundschaft geherrscht und dieselben seien auch in der lebhaften
Trauer bei seinem Hinscheiden zum Ausdrucke gekommen. Die Frage,
ob Philipp II. der Mörder seines Sohnes gewesen sei, müsse „unbedingt*
bejaht werden.
So weit Adolf Schmidt Zwischen ihm und Maurenbrecher, der sich
schwer getroffen fühlte durch den Nachweis, daß sein zweiter Aufsatz
wesentlich verschieden sei von seinem ersten, und zwar nach der
schlechteren Seite, entspann sich eine sehr lebhaft geführte, ungemein
interessante Kontroverse, an der kein Don Carlos-Forscher Vorbeigehen
darf; denn wir erfahren daraus auch die Kehrseite des Problems. Schmidt
hatte seinem Gegner vorgeworfen, daß er den Unterschied zwischen
der ersten Depesche Dietrichsteins, die auf ein bloßes Hörensagen zu-
Die Don Carlos-Frage.
483
rückging 1 ) und der zweiten, die nach der persönlichen Bekanntschaft
mit dem Infanten erfolgte *), übersehen habe. Maurenbrecher behauptete
dem gegenüber, daß Dietrichstein auch in den späteren Depeschen sich
auf sein erstes Urteil über Don Carlos, welches eben so ungünstig ge¬
lautet hatte, berufen habe. Allein das ist nicht richtig; diese Äußerung
bezieht sich bloß auf die physische Beschaffenheit des Prinzen. Selbst
Büdinger, der so gerne in dieser „wahrhaftigen* Quelle der Dietrich-
stein’schen Gesandtschaftsberichte eine Bestätigung seiner These des
psychiatrischen „Schwachsinns* entdeckt hätte, sieht sich zu dem Ge¬
ständnisse genötigt, daß der kaiserliche Botschafter aus lauter Wohl¬
wollen für Don Carlos und Diensteifer gegen den Kaiser für die „furcht¬
bare psychische ... und die nicht ungefährliche politische Situation des
Königs seinem kranken Sohne gegenüber kein Verständnis* hatte*).
Dietrichstein berichtet bei jeder Gelegenheit, daß man allerlei über den
Prinzen „vorgebe*, das er sich gar nicht niederzuschreiben getraue,
daß man seine Fehler ärger darstelle, als sie in Wirklichkeit seien.
Diese Mängel aber seien durch seine schlechte Erziehung verursacht
worden 4 ). Er gibt zu, daß der Prinz „seltzam“ ß ), heftig und eigen-
*) Dietrichstein an Maximilian, 1564 April 22. Vgl. Koch 1, S. 120 fg.
*) Dietrichstein an Maximilian, 1564 Juni 29. Ebenda,. S. 124 fg
*) Büdinger, S. 185.
4 ) Vgl. seine Berichte an Maximilian vom 22. April; 29. Juni. Koch 1,
S. 122,127 u. 9. November 1664 (Wien, Staatsarchiv, Hispanica) und vom 10. August
1566 (Koch 1, 8. 167). — Diese Tatsache bestätigt auch unser »Bericht« (Siehe
oben S. 479): »So ist er, wie die jungen herrn gflegen zue sein, frisch und frech
gewest und so vil mer daz es dess spaten redens ettwaz in der jugent freier
glassen worden, auss kaiser Carlls bfelch, dan sonst bschechen wer. Als er "nun in
freien willen ettwaz erstarckht, hat sich sein herr vatter underfangen, ine, nachdem
kaiser Car 11 ins closter körnen, streng zu halten; was er wolln fürnemen, ist im
abgeschlagen worden und im nix wören wolln lassen, sondern gthan. was er im
in ginn gnomen, daz hat mann im miessen zuesehen, da man nit ergers von im
gwarten wolln und ine nit gar unsinnig oder verzweipfelt machen, dan er den
kopff gstreckht und schon verharrt gwest, da wol etlich der mainung, wan man
recht undgeburlich mit im umbgangen, es wer ein rech tgschaffner
trefflicher furst worden«. Vgl. dazu die Äußerung des Beichtvaters zu
Dietrichstein, die dieser dem Kaiser am 22. April 1668 berichtete. Vgl. Koch 1,
S. 213%.
*) Bericht an den Kaiser vom 26. April 1567. Büdinger (S. 141) schließt
au« diesem Ausdrucke, daß Dietrichstein über Don Carlos' Zurechnungsfähigkeit
Ijedenklich wurde! »Seltsam 4 ist noch lange nicht »verrückt«. Wenn dem so
wäre, müßte auch Kaiser Maximilian II. schwachsinnig oder verrückt gewesen sein;
< ienn der spanische Botschafter am Kaiserhofe, der wieder einmal mit der religiösen
Haltung des Kaisers nicht ganz einverstanden war, nennt sie »extrano«. Vgl.
Montcagudo an König Philipp II., 1570 November 30 (Colecciön de documento>
o* 110, S. 12 U
484
Viktor Bibi.
willig *) sei, aber er gibt auch den Grund für dieses eigentümliche Wesen
(.aigenschafft und eondizion“) an: die unwürdige Behandlung und die be¬
ständige Hinausziehung der Heiratsverbindung mit der ältesten Kaiser¬
tochter. Der Hauptgrund seiner Unzufriedenheit, berichtete Dietrichstein am
24. Jänner 1566, sei der, daß er bei seinen Jahren (der Prinz war damals
21 Jahre alt!) noch keinerlei „Befehl“ habe, sondern als „minorannis“ ge¬
halten werde 2 ). Dadurch verschärfte sich der Gegensatz zwischen Vater und
Sohn, die, wie Dietrichstein eigens feststellte, von sehr ungleicher Natur
waren 3 ), immer mehr. Es gab Momente, wo das Verhältnis wieder ein
besseres war 4 ). In einer solchen Euhepause des Kampfes wurde der Prinz
mit dem Vorsitze im Staatsrate betraut, welches Amt er dann bis zum Ein¬
tritte der Katastrophe bekleidete. Es ist für uns doch eine etwas un¬
geheuerliche Vorstellung, daß in einem auf die feste Autorität der Be¬
hörden begründeten absoluten Staat, wie ihn das Spanien König Phi¬
lipps H. darstellte, ein notorischer Idiot die Leitung einer gewiß wich¬
tigen Körperschaft innegehabt haben sollte. Es fallt uns auch schwer
anzunehmen, daß die beiden langjährigen Botschafter des Kaise:s und
der französischen Krone, denen doch der Zustand des Infanten auf die
Dauer nicht verborgen bleiben konnte, in diesem Falle von einer
Besserung der Beziehungen, anstatt von einer Besserung des Befindens
gesprochen hätten.
Allerdings behagte ihm auch diese Art von Beschäftigung unter
den Augen des mißtrauischen Vaters und der ihm meist feindlich ge¬
sinnten Höflinge nicht besonders. So strebte er denn mit wachsender
Leidenschaft danach, die Verwaltung einer der vielen Länder des Welt¬
reiches in seine Hand zu bekommen. Das war durchaus kein so un¬
bescheidenes — oder wie Büdinger meinte — „zielloses“ Verlangen,
imd Herzog Alba hatte schon im Jahre 1559, als der Vater von den
Niederlanden zurückkehrte, diesem die Frage vorgelegt, ob jetzt nicht
Don Carlos hinzusenden wäre. Maurenbrecher sagt mit Recht: „Aller
Sitte, aller Überlieferung der spanischen Staatskunst zufolge wäre da-
Ü Der Prinz fing erst im fünften Jahre zu sprechen an. Sein erstes Wort
soll ein »No* gewesen sein. Vgl. Maurenbrecher in der Histor. Ztschr. 11, S. 282.
*) Dietrichstein an Maximilian, 1566 Jänner 24. Vgl. Koch 1, S. 151.
*) »Glaub nit, das ain grossere ungeleicheit in allen sein kunt alls zwischen
vater und sun«; Dietrichstein an Maximilian, 1567 März 10. Ebenda S. 183.
4 ) »vater und sun sten hiercz gar wol«; Dietrichstein an Maximilian, 1567
Mai 18. Ebenda, 8. 189. Auch der französische Botschafter meldet um diese Zeit,
daß der Prinz jetzt gut mit seinem Vater stehe, und bemerkt dazu: ,il commande
absolument en beaucoup de choses et veult obei sans replique*. Memori&le Four-
quevaux6 für Aubespine vom 30. Juni 1567. Vgl. Donais, 1, S. 220.
Die Don Carloe-Frage.
485
mala . . . schon die Zeit nahe gewesen, in der man dem Thronfolger
eine praktische Tätigkeit hätte zuweisen oder wenigstens ihn in ein
tätiges Leben hätte einführen sollen“ *).
Dietrichstein bezeichnete später als die eigentliche Ursache der
schweren Verstimmung des Infanten die merkwürdige Taktik des Vaters,
den Abschluß der Heirat mit Erzherzogin Anna immer aufs Neue zu
verschleppen. Es ist beides richtig. Denn es waren sicherlich nicht
bloß die schönen Augen der Erzherzogin, die ihn so leidenschaftlich
ihre Hand begehren ließen, sondern auch die Aussicht, auf diesem Wege
eine freiere Stellung einnehmen, die Verwirklichung seiner politischen
Bestrebungen durchsetzen zu können*). Auf keinen Fall wollte er
länger unter der Zuchtrute seines Vaters stehen. Er habe geschworen,
berichtete Dietrichstein, „unter sein vater nit zu bleiben“ 8 ).
Doch der Vater stemmte sich solchen Selbständigkeitsgelüsten
kräftigst entgegen, und die Art und Weise, wie er dies tat, läßt es
uns wohl begreiflich erscheinen, wenn der von Haus aus heftig und
trotzig veranlagte lebhafte, überreizte Jüngling in einen Zustand der
höchsten Erbitterung und Verzweiflung gebracht wurde. Lassen wir
einmal für eine kurze Weile die mittelbaren Quellen, die Berichte der
Gesandten bei Seite und hören wir die Tatsachen selbst und die un¬
mittelbaren Zeugnisse. Noch heute nach 350 Jahren überkommt den
völlig Unbeteiligten ein Gefühl der Empörung, wenn er vernimmt, in
welcher Weise vom Könige Jahre hindurch alle Versuche des Prinzen,
durch eiue Heirat einen praktischen Einfluß zu gewinnen, vereitelt
wurden.
Der Prinz war zuerst mit einer französischen Königstochter, der
schönen Elisabeth von Valois, verlobt. Nach dem Tode der englischen
Königin Maria nimmt sie der Vater selbst zur Gemahlin. Bald darauf
stirbt Franz II. von Frankreich und dem Infanten wird die Hand der
*) Histor. Ztschr. 11, S. 289.
*) Dietrichstein an Maximilian. 1566 Jänner 24: Der Prinz sei über den
Aufschub der Heirat sehr ungehalten. Der König fürchte vielleicht, daß er dann
den Sohn »anders als bisher« halten müsse (VgL Koch, 1, S. 151). Der französische
Botschafter behauptete sogar, die Schwierigkeit beim Abschlüsse der Heirat liege
darin, daß der Kaiser verlange, der König solle einen von dessen Staaten seiner Tochter
und ihrem Gemahl abtreten. Fourquevaux an Königin Katharina, 1565 Dezember 25.
(Douais, 1, 8. 35).
*) Dietrichstein an Maximilian, 1566 August 10. Vgl. Koch 1, S. 167 f.
Ebenso am 2. und 8. Jänner 1567. (Ebenda, S. 177). Die Auslegung Büdingers
(S. 82, Anm. 1), daß man »unter« durch ein »statt« zu ersetzen hätte (daß er nicht
statt des in die Niederlande reisenden Vaters in Spanien bleiben wollte) ist gänzlich
unberechtigt.
Mitteilungen XXXVI. 32
486
Viktor Bibi.
durch Gaben des Geistes und durch Schönheit gleich ausgezeichneten
Witwe, der Schottenkönigin Maria Stuart, angeboten. Eine glänzende
Aussicht auf eine hervorragende politische Tätigkeit bot sich ihm dar:
die Herrschaft über das Königreich Schottland und Verdrängung der
„ketzerischen* Elisabeth von dem umstrittenen Throne Englands. Im
spanischen Kabinette wird lange hin- und herberaten. Endlich (Ende
November 1563) faßte man den Beschluß, das Projekt abzulehnen, da
man „ wegen der Beschaffenheit* (por la disposicion) des Prinzen von
der schottischen Ehe die gewünschten Früchte, d. h. Katholisierung
von Schottland und England sowie Sicherstellung der Niederlande, doch
nicht erwarten könne 1 ). Zweifellos bot der Infant nicht die nötige
Gewahr dafür, daß er der richtige Mann gewesen wäre, um als Send¬
bote der katholischen Gegenreformation aufzutreten*).
Um dieselbe Zeit war im Prinzipe beschlossen worden, den Prinzen
mit der ältesten Tochter Maximilians zu verheiraten. Allein der Ab¬
schluß der Verhandlungen zog sich in die Länge, weil man von Seite
des Königs, wie wir schon wissen, den schlechten Gesundheitszustand,
die „Mängel in Urteil und Weseneinwandte 8 ). Wiederum wurde vom
Kaiserhofe aus gemahnt und gemahnt; denn mittlerweile war die Ent¬
scheidung wirklich dringend geworden. Es hatte nämlich nun auch
die Königin-Witwe von Frankreich für ihren jugendlichen Sohn König
Karl IX., um die Hand der Erzherzogin Anna angehalten. Der kaiser¬
liche Botschafter wurde also beauftragt, mit allen Kräften auf eine
rasche Beschlußfassung zu dringen. Die Antwort Philipps entbehrt nicht
eines gewissen Humors. Dietrichstein erhielt nämlich die Versicherung,
der König wolle Maximilian gewiß nicht „hinhalten*, sondern nächstens
einen vertrauten Diener mit seiner Besolution nach Wien senden. Der
Botschafter gab ihm zu verstehen, daß er, da sein Herr auf eine kate¬
gorische Antwort dränge, diese ja auch ihm und zwar sofort mitteilen
könne. Eine Beise von Madrid an den Kaiserhof erforderte nämlich
mit der Bückreise einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten. Der
in Aussicht genommene Gesandte des Königs — es war der Graf
Chantonnay — kam glücklich um nahezu ein volles Jahr später (Ende
März 1565) an den Kaiserhof. Mit größter Spannung war seine An¬
kunft erwartet worden, allein die Besolution des Königs, die er mit¬
brachte, war so ziemlich auf denselben Ton gestimmt, wie die frühere
Erklärung des Herzogs Alba vom März 1562: Der Prinz sei körperlich
und geistig derartig zurückgeblieben, daß man unbedingt warten
*) Vgl. Maurenbrecher in der Histor. Ztschr. 11, S. 294 fg.
*) Siehe oben S. 468 fg.
•) Siehe oben S. 462.
4 ) Dietrichstein an Maximilian, 1564 April 19. Vgl. Koch 1, S. 119.
Die Don Carlos-Frage.
487
müsse 1 ). Dagegen verhandelte Chatonnaj sehr eifrig über eine Ver¬
bindung der Zweitältesten Tochter Maximilians mit dem — zehnjährigen
König Sebastian von Portugal
Mittlerweile hatte am spanischen Königshofe Dietrichstein allerlei
Vorwürfe wegen seiner eifrigen Betreibung der Heirat bekommen, außer¬
dem waren ihm die Eigenschaften des Prinzen in derart schwarzen
Farben geschildert worden, daß er den Eindruck gewann, man streue
absichtlich diese böswilligen Gerüchte aus, um das Eheprojekt zu Falle
zu bringen, und er ganz erstaunt war, als er ihn dann persönlich ge¬
sehen und gesprochen hatte 8 ). Dietrichstein erfuhr aber noch etwas
anderes, das ihm die Verzögerungstaktik des Königs erklären sollte.
Während die Heiratsverhandlungen mit Maria Stuart und dem Kaiser
im Gange waren, war noch eine andere Verbindung betrieben worden,
die bei einer großen und sehr einflußreichen Partei am Königshof leb¬
haft unterstützt wurde. Diese nunmehr vierte Braut war seine Tante,
die Prinzessin Johanna, Kronprinzessin-Witwe von Portugal, und es
hat den Anschein, daß man es bei Hofe mit dieser Heirat wirklich
ernst nahm; denn die um zehn Jahre altere Frau, für die Don Carlos
seit seiner Kindheit lebhafte Gefühle der Verehrung hegte, wäre viel¬
leicht imstande gewesen, ihn im günstigen Sinne zu beeinflussen. Es
sei notwendig, machte man geltend, dem Prinzen eine Gattin zu geben,
die zu regieren verstehe und das ihm Mangelnde durch ihren Verstand
zu ersetzen. Man scheute auch nicht, die gewünschte Eheverbindung
mit dem in medizinischer Hinsicht gewiß bemerkenswerten Hinweise zu
empfehlen, daß der Prinz, den man — dies gehörte nämlich auch zu den
vielen über ihn verbreiteten Gerüchten — als »impotent“ bezeichnete, allein
von ihr Nachkommenschaft zu erwarten hätte: »Ab anderst aine succession
von ime zu erhoffen, so sei die bei ier zu verhoffen(!) “. Allein der Prinz er¬
klärte mit der größten Entschiedenheit, keine andere zur Frau zu nehmen
als die Erzherzogin, und so konnte Dietrichstein schließlich melden, daß
der König in die Heirat eingewilligt und den Infanten in die Niederlande
mitzunehmen entschlossen sei 8 ). Von dieser Heise nach den Niederlanden
sollte nun jahrelang gesprochen werden, doch scheint der König in
Wirklichkeit auch nicht eine Sekunde ernstlich daran gedacht zu haben.
Daß der Infant kein Adonis war, vielmehr eine recht traurige Er¬
scheinung darstellte — etwas höckerig, eine Schulter zu hoch, einen
M Auch in dem Chantonnay mitgegebenen Memoriale vom 12. September
1564 verwahrte sich der König gegen den Verdacht, daß er die Angelegenheit
»verschleppen« wolle (Wien, Staatsarchiv, Familienakten 17). Vgl. Schmidt, S. 309.
*) Vgl. die schon erwähnte Depesche vom 29. Juni 1564 (s. oben S. 481 fg.), die
bei Schmidt in seiner Fehde mit Maurenbrecher eine so große Rolle sp leite.
») Ebenda.
32*
488
Viktor Bibi.
Fuß zu kurz — schwächlich und kränklich war, gab Dietrichstein ohne
weiteres zu *) und in dieser Hinsicht 2 ) konnte er auch in seinen dem
ersten Bericht vom 22. April 1564 folgenden Depeschen nichts Günstigeres
sagen. Der Kaiser beauftragte nun Dietrichstein, wegen der „ Potenz*
des Infanten Erkundigungen einzuziehen; denn er konnte, wie er schrieb,
sich nicht denken, daß er diesen „Mangel“ haben sollte 8 ). Der Bot¬
schafter erfahr aber so Widersprechendes, daß er sich bald nicht mehr
auskannte. Der Leibarzt des Infanten, der es noch am besten hätte
wissen sollen, versicherte Dietrichstein, er sei nicht impotent, und er¬
klärte die Enthaltsamkeit damit, daß Don Carlos infolge seines ersten
Liebesabenteuers und des damit verbundenen unglücklichen Sturzes in
Alcala gründlich abgeschreckt, mit keinem Weibe verkehren und bis
zu seiner Verheiratung warten wolle 4 ). Die Entscheidung über diese
Frage sollte eine „Probe“ bringen. Triumphierend meldete Anfangs
1566 der Botschafter, daß der Infant die Tochter eines Gerichtsdieners
geschwängert haben solle, um sich von dem in seine Potenz gesetzten
Argwohn zu befreien 5 ). Das Gerücht scheint getrogen zu haben, denn
die Probe fand erst nach einem Jahre, und zwar mit günstigem Er¬
folge, statt 6 ). Nun glaubte Dietrichstein, der Abschluß der Heirat
werde jetzt, da das Haupthindernis beseitigt war, rasch vor sich gehen
können. Mittlerweile war ein neuer Gesandter des Königs, Venegas,
am Kaiserhofe erschienen. Er teilte Maximilian im Aufträge seines
Königs mit, daß dieser die Heiratsangelegenheit auf einer persönlichen
Zusammenkunft mit dem Kaiser, die im nächsten Frühjahre (1568)
stattfinden sollte, ordnen wolle. Um den ungünstigen Eindruck dieses
*) Wenn Schiller die Prinzessin Eboli (II, 8) von »Geschenken der ver¬
schwenderischen Natur« sprechen läßt, so wird sich das, wenigstens was die
körperliche Seite anbelangt, vor der Geschichte nicht rechtfertigen lassen. Unser
»Bericht« gibt folgende Schilderung: »Leibs halber gar ubl gmacht, ain lang an-
gesicht, gäch, zornig über der mass, ains plöden gsichts und gehöre, ainer ubln
red, dan er kain 1 noch r pronuncieren können, buklet und hinckhet, dan im du
fuess 1 enger als der ander gwest, impotens«.
*) Siehe oben S. 483.
8 ) Maximilian an Dietrichstein, 1564 August 2. (Nikolsburg, Archiv Dietrich¬
stein Eigh. Orig.).
4 ) Dietrichstein an Maximilian, 1564 Dezember 31. VgL Koch 1, S. 134. (Das
Datum vom 24. November ist falsch). AJs der spanische Botschafter am Kaiserhot
diese Mitteilungen dem Könige berichtete, schrieb dieser auf den Brief »Esta no
vea nadie.« (!) Vgl. Schmidt, S. 312.
®) Dietrichstein an Maximilian, 1566 Februar 11. Vgl. Koch 1, S. 155.
®) Dietrichstein an Maximilian; 1567 Mai 18, Juni 6. Ebenda 189 f. Auch
der französische Botschafter bestätigt dies. Vgl. Memoriole Fourquevnux’s vom
30. Juni 1567 (Donnis 1, S. 220).
Die Don Carlos-Frage.
489
Aufschubes und die Verwirrung zu erhöhen, erzählte Venegas, der
Prinz sei „Mann genug* x ). Maximilian war begreiflicher Weise über
diese jahrelang betriebene Taktik des Hinhaltens nicht wenig erbost.
Seinem Botschafter schrieb er im März 1565: Es mache ihm den Ein¬
druck, daß der König mit ihm „sein Gespött* treibe. Die Erzherzogin
Anna, fügte er hinzu, werde noch „zwischen zwei Stühlen zu sitzen*
kommen, was ihm sehr leid täte, „dan sie mier das liebst kind ist* l 2 * ).
Aber er war yom König wieder beruhigt worden. Am Schlüsse dieses
Jahres konnte er Dietrichstein die freudige Mitteilung machen, daß der
König „jam tandem* erklärte, daß es „richtig* sei 8 ). Als er aber
dann merkte, daß die Angelegenheit doch nicht geordnet war, klopfte
er wieder sehr kräftig bei Philipp an, weil, wie er sich ausdrückte,
seine Tochter „auch nicht jünger* und schließlich auch den französischen
König nicht mehr bekommen werde 4 ).
Büdinger findet in dem Vorgehen des Königs, der seit 1561 um
den Zustand seines Sohnes wußte, aber „aus väterlicher Schwäche* die
Verhandlungen sieben Jahre weiterspann, so daß auch nach der Ver¬
haftung des Prinzen der Botschafter nicht wußte, was zu geschehen
habe, und er noch einmal anfragen mußte 5 * * ), einen rührenden Zug von
Zartsinn und Vaterliebe. Andererseits könnte man es auch als eine
unverantwortliche Rücksichtslosigkeit gegenüber seinem deutschen Vetter
und dessen Tochter bezeichnen, die wohl beide ein Anrecht darauf
hatten, vom König offen und ehrlich über den wahren Sachverhalt un¬
terrichtet zu werden.
Wenn schon der zukünftige Schwiegervater über die dilatorische
Behandlung der Eheverbindung im höchsten Grade erbittert war, so
können wir annehmen, daß dies bei dem noch viel näher betroffenen,
um etwa zwanzig Jahre jüngeren Infanten in weit höherem Maße der
l ) Maximilian an Dietrichstein, 1567 November 10. (Nikolsbnrg, Archiv Die¬
trichstein, Eigh. Orig.). Auch Dietrichstein meldete, daß des Prinzen Gesundheit
sich »nicht wenig gebessert« hätte. Unser »Bericht« erwähnt, daß Don Carlos, als
er zu Anna eine »grosse lieb« gefaßt hatte »viil selzamen Sachen mit reitten,
rennen, thumiem und dergleichen angfangen, darüber er ettlich mal solln den
halse brechen oder jamerlich gschedigt werden, daß es im niemant waren lassen«,
also alles tat, um sich zu kräftigen.
*) Maximilian an Dietrichstein, 1565 März 26 (Nikolsburg, Archiv Dietrich¬
stein, Eigh. Orig.).
*) Maximilian an Dietrichstein, 1565 Dezember 24 (Ebenda, Eigh. Orig.).
4 ) Maximilian an Dietrichstein, 1567 November 10 (Ebenda, Eigh. Orig.)
Maximilian an König Philipp, 1567 November 10 (Colecciön de documentos inäditos;
101, S. 304.
•) Dietrichstein an Maximilian, 1568 April 21. Vgl. Koch 1, S. 216.
490
Viktor Bibi.
Fall war. Es ist menschlich vollkommen begreiflich, wenn der zur
Verzweiflung getriebene Thronfolger schließlich an Flucht dachte und
sich zu diesem Zwecke mit seinem Jugendfreunde Don Juan d' Austria,
welcher das Kommando über die Flotte erhalten hatte, in Verbindung
setzte. Nach unserem ff Bericht“ währten die Verhandlungen mit seinem
Onkel ungefähr drei Jahre, und das Ziel wäre Italien gewesen, um
dann in Midland und Neapel die Regierung an sich zu reißen. Alle
anderen Versionen wie der Plan, seinen Vater umzubringen, Einver¬
ständnis mit den aufständischen Niederlanden, die Absicht, „luterisch“
zu werden, werden dort als gänzlich unerwiesen bezeichnet Beziehungen
des Don Carlos zu den Niederländern sind bisher auch tatsächlich nicht
festgestellt worden. Aber die Mutmaßung einer solchen Verbindung
hat gewiß eine innere Berechtigung. Wir wissen ja aus den Berichten
Dietrichsteins, daß er sich Hoffnungen machte, nach den Niederlanden
zu ziehen, um erstens die Hand der Erzherzogin Anna und dann „mehr
Freiheit und Libertät“ zu erhalten x ). Außerdem ist die Tatsache, daß
die ersten Gewaltmaßregeln in den Niederlanden zeitlich mit der Ein¬
ziehung und dem Tode des Infanten Zusammenfällen, gewiß auffällig 2 ).
Vielleicht wäre der Aufstand der Niederlande, der acht Jahrzehnte die
besten Kräfte Spaniens in Anspruch nahm und unter den Ursachen
des Verfalles der Weltmonarchie an oberster Stelle steht, verhütet
worden, wenn statt des Schreckensmannes Alba ein liberaler Prinz die
Regentschaft übernommen und die aufgeregten Gemüter beschwichtigt
hätte. Niemand Geringerer als der König selbst legt gegen Büdinger,
der es vollständig billigt, daß Philipp nicht duldete, daß die Weltmacht
Spaniens durch die «ziellosen“ Pläne des Thronfolgers gefährdet werde,
Zeugnis ab. Es war im Jahre 1572, als der König, durch das reißende
Umsichgreifen des Aufruhrs und die Niederlagen der königlichen Waffen
stutzig gemacht, den Kaiser zu bereden suchte, einen Erzherzog als
Statthalter in die Niederlande zu senden, weil er erkannt habe, daß
Alba nicht der richtige Mann sei, der Bewegung Herr zu werden, viel¬
mehr es sich empfehlen würde, durch einen Prinzen ihres Hauses, der
Liebe und Respekt einflöße, angemessene Konzessionen zu erteilen 3 ).
Erinnert dieses eigene Todesurteil der niederländischen Politik nicht an
4 ) Dietrichstein an Maximilian, 1567 Jänuar 2 und 8. Ebenda, S. 178.
*) Ebenso der wiederholte Hinweis, daß der König seit 2—3 Jahren mit der
Haltung seines Sohnes so unzufrieden sei. Wußte doch Fourquevaux schon im
Sommer 1567 zu melden, d%ß der König ihn einschließen wolle. Fourquevaux an
Königin Katharina, 1567 August 24. Vgl. Douais 1, S. 257.
•) Philipp an Monteagudo, 1572 September 6 (Coleociön de documentos in*
editos HI, S. 2).
Die Don Carlos Frage.
491
des Dichters Worte: „Schon der Name des königlichen Sohnes, der
voraus vor meinen Fahnen fliegen wird, erobert, wo Herzog Albas
Henker nur verheeren“ ? *)
Noch in einem anderen Punkte — um nur von den wichtigsten
zu reden — kann Schmidt kaum widerlegt werden. Kanke hat, wie
wir schon wissen, die Geschichte von der Liebesneigung zu seiner
schönen Stiefmutter, seiner einstigen Braut, dadurch aus der Welt zu
schaffen gesucht, daß er auf die glückliche Ehe des Königspaares hin-
. wies 2 ). Maurenbrecher lehnte ebenfalls alle die interessanten Fabeln
und Tendenzromane, die namentlich auf Brantöme zurückgehen, ab, gab
aber zu, daß der „blasse und kranke Jüngling“ das Herz imd die Teil¬
nahme der Königin anregte 8 ). Das geschah in seinem ersten Auf¬
sätze. In seinem zweiten ist von Liebe und Mitleid nicht mehr die
Rede; die Beziehungen der Königin zu Don Carlos, findet er, gründen
sich lediglich auf das Gefühl des politischen Interesses: sie wollte, daß
der Erbe des spanischen Weltreiches ihre jüngere Schwester zur Ge¬
mahlin nähme 4 ). Auch Schmidt stellte jede .strafbare Leidenschaft“
in Abrede, aber er spricht von einer .innigen Herzensneigung“, von
einem „inneren Seelenanschlusse“, von einer „mitleidsvollen Teil¬
nahme“ 5 ).
Büdinger schloß sich in dieser Frage ganz Maurenbrecher an. Er
fügte dem Zeugnisse des französischen Gesandten, daß die Königin zwei
Tage lang um den Stiefsohn weinte, bis ihr der König die Thränen
verbot, die ironischen Worte bei: „Die Königin wahrte den Anstand
so artig, daß sie zwei Tage lang über Don Carlos’ Mißgeschick weinte,
bis der König fand, daß es genug sei“ 6 ). Vorher hatte nämlich der
Botschafter gemeldet, daß durch die Gefangennahme und die bevor¬
stehende Erklärung der Regierungsunfähigkeit des Prinzen die Kinder
der Königin mit Gottes Hilfe sukzedieren werden 7 ). Die Bemerkung
Büdingers ist durchaus nicht am Platze. Wir können den Quellenbe¬
legen Schmidts noch zwei andere an die Seite reihen, von welchen
besonders der eine Büdinger, wenn er ihn gekannt hätte, unbedingt beweis¬
kräftig erschienen wäre. Es ist dies Dietrichstein, der in seinem noch am
Tage der Verhaftung des Prinzen an die Kaiserin eistatteten Berichte
*) II. Akt, 2. Auftritt.
*) Siehe oben S. 452.
*) Histor. Ztsohr. 11, S. 290.
4 ) Sammlung gemeinverständlicher wissensch. Vorträge etc. S. 14.
*) Vgl. S. 271 fg.
®) Büdinger, S. 214.
7 ) Fourquevaux nn Königin Katharina, 1568 Februar 8. Vgl. Büdinger, S. 132.
492
Viktor Bibi.
meldete: „La reyna dizen que lo ha sentido en estremo- 1 ). Audi
der Verfasser unseres „Berichtes“, also vermutlich der kaiserliche Vize¬
kanzler Zasius, stellt die Tatsache einer herzlichen Liebe des Don Carlos zu
seiner Stiefmutter fest Bei Erwähnung der Vorbereitungen zum Tode
heißt es da: „Und demnach er die khunigin sein stieffmuetter gar
sehr lieb ghabt, so hat er zue ir gsandt, und ir sein schwacheit
lassen anzaigen mitt bitt, weill er si allweg so gar und herzlich
g e 1 i e b t, so bitt er si, daz si nach seim tod im wolle nach thuen lassen wie
ain getreue muetter alles daz si vermaine seiner seel möge zue guet
körnen-.
Es mag richtig sein, daß sich Schmidt, wie Maurenbrecher etwas
verächtlich meint 2 ), der „romanhaften* Auffassung dieses Verhältnisses
„wieder sehr bedenklich* genähert hat, aber ob seine Gegenausfhhrungen
beweiskräftig sind, möge dahingestellt sein. Daß Büdinger nicht an
die echte, herzliche Freundschaft zweier gleichgestimmten, unter dem
Drucke eines despotischen Regiments fremd sich fühlenden Menschen 3 )
glauben wollte, ist begreiflich. Denn mit dieser Annahme kommt seine
Auffassung, daß Don Carlos ein ekelerregender, bösartiger Idiot war,
ganz bedenklich ins Wanken, weil wir es uns doch nicht gut vor¬
stellen können, daß zwei uns als geistig hochstehend geschilderte Frauen
— denn auch die Prinzessin Johanna soll nach Dietrichstein’s Bericht
auf die Nachricht von der Katastrophe tief erschüttert gewesen sein —
um Don Carlos Thränen vergossen. Und weßwegen hätte die Königin
weinen sollen, wenn es nicht aus aufrichtiger Trauer um den Einge¬
zogenen, dessen Schicksal damals schon besiegelt war, geschehen war?
Nebenbei bemerkt, wirft dieser der Königin von Philipp zuteil ge¬
wordene Befehl kein besonders günstiges Licht auf den Schmerz des
„bekümmerten* Vaters 4 ).
Schmidt hat die Frage, ob König Philipp II. seinen Sohn getötet
habe, „unbedingt* bejaht, und er fügt hinzu, daß der Tod, den er an
ihm vollzogen, ein viel schrecklicherer gewesen sei, als wenn er ihn
*) Dietrichstein an Kaiserin, 1568 Jänner 19 (Nikolsburg, Archiv Dietrich¬
stein, Orig.).
*) ln seinem dritten Aufsatz (1876), S. 40.
8 ) Der Verfasser unseres Berichtes erzählt von Don Carlos: »Seiner nation ist
er von jugerit auff gehass gwest, den Italienern und sonderlich den Teutschen
hold«.
4 ) In dem Bericht des französischen Botschafters von 1666 November 3, der
die Unfähigkeit des Infanten, sich zu verstellen, erwähnte, »Spottworte der Königin
über den thörichten Stiefsohn« zu sehen, wie dies Büdinger (S. 180, Anm. 1) tat,
erscheint mir gänzlich verfehlt. Unser »Bericht« nennt Don Carlos einen » feindi
der unwarhait«.
Die Don Carlos-Frage.
493
gleich bei der Verhaftung oder unter dem Scheine eines gerichtlichen
Verfahrens kurze Zeit darauf hätte vollziehen lassen; „denn er hat
sechs Monate hindurch täglich seinen Sohn hundertfache moralische
Todesqualen bestehen lassen; er hat ihm absichtlich alle Mittel zur
Verfügung gestellt, um sich langsam körperlich zu zerreiben, und er
hat endlich der höchsten Wahrscheinlichkeit nach seit dem 17. Juli
der zögernden Natur durch ein wirksames Mittel nachgeholfen“ *). Ganz
ähnlich meinte auch Gachard, der im Übrigen an ein natürliches Ende
des Infanten glaubt, daß der König an dem Tode desselben doch nicht
ohne Schuld sei. Gewiß habe derselbe seine schweren Ursachen ge¬
habt, Don Carlos seiner Freiheit zu berauben; denn er konnte nicht
dulden, daß sein Nachfolger bei der Rebellion die Hand im Spiele hatte
und er dieselbe nach Spanien gebracht hätte, aber, so fragt er, mußte
er ihn als Staatsverbrecher behandeln, ihm Luft und Licht entziehen,
ihn Tag und Nacht strenge beaufsichtigen lassen? Es war, so schloß
Gachard, nicht das Schwert, nicht Gift, nicht Knebel, was ihn tötete,
„les tortures morales sont aussi un supplice“: Philipp kann schwer
vor der Nachwelt gerechtfertigt werden 2 ). Und Maurenbrecher, der
sich über die Todesart kein Urteil anmaßt, nimmt keinen Anstand, „mit
vollem Nachdruck ganzer Überzeugung“ zu sagen: „Wenn Don Carlos,
wie die offiziellen Berichte wollen, auf die angegebene Weise an selbst¬
verschuldeter Krankheit gestorben ist, so tragen dann die Schuld die¬
jenigen, die dem hilflos eingesperrten, in Allem und Jedem von seiner
Umgebung abhängigen Gefangenen die Mittel verschafft haben, sich
leichtsinnig jene totbringende Erkältung durch Genuß von Eis zuzu¬
ziehen * 8 ).
Diese Anklagen gegen Philipp, über die Büdinger glatt hinweg¬
geht, indem er behauptete, daß ein Schwachsinniger auch heute nicht
sorgsamer bewacht werden könne, finden eine merkwürdige Bestätigung
durch die Auffassung des Kaiserhofes, wie sie uns durch eine Reihe
von persönlichen Zeugnissen überliefert ist Diese besagen uns aber
auch in anderer Hinsicht daß Schmidt es durchaus nicht verdiente, von
•der Geschichtsforschung der letzten Jahre gänzlich totgeschwiegen zu
werden. Daß der Kaiser die längste Zeit überhaupt nichts über die
Ursachen der Verhaftung erfuhr, dann aber nur „einen Teil*, haben
wir schon gehört 4 ). Dasjenige aber, was er erfuhr, muß ihn nicht
besonders von der Notwei digkeit und Berechtigung eines
*) S. 381.
*) 8. 624. '
*) In seinem dritten Aufsatze (1876), S. 35.
4 ) Siebe oben 8. 459.
494
Viktor Bibi.
wohnlichen Schrittes überzeugt haben. Wiederholt äußerte er sich zum
florentinischen Gesandten: Er sei versichert, daß der Prinz die ihm zur
Last gelegten Vergehen nicht begangen habe 1 ). Derselbe Gesandte be¬
merkte einmal zum Kaiser, er habe immer von der „grandezza di
animo“ des Prinzen reden gehört, worauf ihm Maximilian erwiderte:
Dies sei richtig, aber es könne nicht geleugnet werden, daß er „estreino
in ogni sua attione“ gewesen sei *).
Maximilian beschloß auf die Nachricht von der Gefangennahme
des Prinzen hin, seinen Bruder Erzherzog Karl nach Spamen zu senden.
Als Zweck dieser Mission wurde zweierlei angegeben: Aussöhnung mit
den aufständischen Niederländern (d. h. also Ermäßigung der strengen
Ketzeredikte) und „reeouciliation* zwischen Vater und Sohn. Diese
Verbindung der zwei Hauptziele der Gesandtschaft Erzherzog Karls —
ebenso wie der Ausdruck «reconciliation- — gibt gewiß zu denken. Man
wird doch nicht versucht haben wollen, einen Schwachsinnigen, ein
gemeingefährliches Subjekt, das jeden ihm Mißliebigen umbringen
wollte, mit seinem Vater * auszusöhnen 44 ! Man gewinnt vielmehr den
Eindruck, daß es sich hier um einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen
Vater und Sohn handelte, den der Kaiser lebhaft zu würdigen gewußt
haben wird, da er ja auch wegen der schroffen Behandlung der Nieder¬
länder beständig mit Philipp im Streite lag. Der Vizekanzler Dr. Zasius,
der die dem Erzherzog Karl ausgestellte Instruktion dem Kurfürsten
von Sachsen mitteilte, bemerkte dazu: Er glaube nicht, daß diese Sendung
viel Erfolg haben werde; denn die *Albanisch partei*, zu welcher auch
der Minister Buy Gomez — es war dies der eigentliche Gefangen¬
wächter des Don Carlos — gehöre, habe in Spanien die Oberhand be¬
kommen und Herzog Alba selbst werde die «Liberation 44 des Prinzen
hindern 8 ). Der kaiserliche Minister besagte damit, daß das Prinzip
der blutigen Gewalt Albas über dasjenige der klugen Mäßigung (welches
vielleicht von Don Carlos vertreten wurde) gesiegt habe.
Zasius berichtete dem Kurfürsten auch über die Ursachen der Ver¬
haftung, soweit man eben darüber unterrichtet wäre. Der Prinz solle
im Verdachte eines Ketzers stehen und auf Grund einer Anzeige der
Inquisition verhaftet worden sein, bei welcher Gelegenheit man bei ihm
calvinistische Bücher beschlagnahmte. Er (Zasius) für seine Person
glaube aber, daß es sich mehr um politische Gegensätze handle und
*) Berichte Antinoris vom 12. und 16. August 1668 (Florenz, Archivio di
Stato, Cod. Mediceo 4329).
*) Bericht Antinoris vom 16. September 1568 (Ebenda).
*) Zasius an Kurfürst August von Sachsen, 1568 August 1 (Dresden, Haupt-
Staatsarchiv HI 61*, fol 24 b . Nr. 10 (Hs 8522), Bl. 634 f.).
D.'e Don Carlos-Frage.
495
zwar um die „domination*. Eine Verschwörung halte er für ausge¬
schlossen, weil man doch sonst von der Verhaftung auch anderer Per¬
sonen hätte hören müssen. Der Prinz solle eines „hitzigen, gar cole-
rischen und martialischen l ) gemuets* sein, aber selbst wenn das
Attentat auf Don Juan d 1 Austria (der ihn verraten hatte) den Tat¬
sachen entspräche, würde dies die schwere Bestrafung mit Kerker nicht
rechtfertigen; denn „dergleichen hendl“ seien doch besonders bei den
Spaniern nur „klaine peccadiglios“. Aber, so fügte er hinzu, der Prinz
soll auch, wie er „gar spitzfindig und nachdenkig* sei, die Gepflogen¬
heit gehabt haben, alles aufzuschreiben, und da scheint man nun
allerlei „wunderbarliche“ Dinge vorgefunden zu haben; denn man nicht
genug davon schreiben könne, „was solcher prinz für ain geschwinds
köpfllein und hohen gaist, der ad summa et maxima quaeque aspieriert
haben, neben dem er auch ganz unerträglich und seer trotzig sein
soll* Ä ). Also: jähzornig, trotzig, grüblerisch, spitzfindig, exzentrisch,
vielleicht genial — aber nicht schwachsinnig.
Bevor aber Erzherzog Karl seine Beise antreten konnte, verschied
der Prinz und diesmal erfolgte von Seite des spanischen Kabinettes
eine langatmige Darstellung der Ursachen des Hinscheidens. Von seinem
Geheimagenten in Rom, Cusano, erfuhr der Kaiser, daß man dort offen
sich erzähle, die Spanier hätten bei des Infanten Tode mitgeholfen, weil
er im Einverständnisse mit den niederländischen Rebellen gewesen sei,
und der Papst habe den König gelobt, weil er auch seinen Sohn nicht
geschont hätte 8 ). Eine Woche später wußte Cusano zu melden, der
König, welcher den Prinzen im Kerker nicht besuchte, habe bei seinem
Tode keine besondere Trauer an den Tag gelegt, weshalb man in Rom
überzeugt sei, daß der Tod „vorbedacht“ (premeditata) erfolgte 4 ). Maxi¬
milian selbst scheint jedenfalls von dem offiziellen Kommunique nicht
ganz beruhigt worden zu sein, denn er schrieb seinem bayrischen
Schwager: Er habe vorgestern die Nachricht von dem Ableben des
Prinzen gehört „et non caret magna suspicione, satis dictum. Gott
wolle, das die schlraf nit hernach folge, do im anderst also ist, das
ich awer nit hofen will* 5 ). Und einen halben Monat später läßt er
') Auch der Verfasser unseres »Berichtes« erwähnt diesen »kriegerischen
Geist«: »Ain großmuetdger, freigebiger milder fÜrst, dem sein sinn und gmiet zu
kriegen und hohen Sachen gstanden«.
•) Zauns an Kurfürst August von Sachsen, 1668 März 11 (Ebenda, Bl. 372 f.).
*) Cusano an Maximilian, 1668 August 28 (Wien, Staatsarchiv. Romana 30).
*) Cusano an denselben, 1568 September 4 (Ebenda).
*) Maximilian an Herzog Albrecht V. von Bayern, 1668 September 1. (München
Allg. Beichsarchiv, Osterr. Sachen 8, Bl. 124 f.).
496
Viktor Bibi.
sich demselben Herzog gegenüber wiederum vertraulich aus: Er für
seine Person wolle nicht glauben, daß es beim Tode unrecht zuge¬
gangen sei, „awer in dem hatt man bei mir nit recht gethan, derwail
sie den printzen in der custodi gehabt hawen, daß sie ime solliche
excessus geschtat hawen, derweil sie es laicht hetten weren mögen® *).
Ähnlich äußerte sich der Kaiser auch zum venetianischen Gesandten.
Der König, sagte Maximilian, habe alle Ursache traurig zu sein „et
per la morte del figliolo et per il rimorso della propria con-
scientia-. Der Gesandte wußte nicht, wollte der Kaiser damit sagen,
daß der König den Tod „unterstützt 4 * oder daß er ihn nicht verhindert
hätte 2 ).
Dies war auch die Meinung Schmidts. Man hat jedenfalls den
Tod des unbequemen Thronfolgers nicht ungern gesehen. Näheres
wissen wir nicht, aber so viel kann gesagt werden: Die Auffassung,
Don Carlos sei ein böswilliger Idiot gewesen, ist vom Standpunkte einer
strengen historischen Kritik nicht mehr berechtigt, als das uns durch
unseren Dichter so vertraut gewordene Bild des hochherzigen, idealen
Freiheitshelden. Maurenbrecher hat das Buch Schmidts etwas hämisch
als einen „Wiederbelebungsversuch des dichterischen Don Carlos* be¬
zeichnet 8 ). Gewiß: Schiller hat seine Darstellung aus einem Roman,
im allgemeinen keiner erstklassigen historischen Quelle, geschöpft. Aber
den archivalischen Belegen, auf die sich Büdinger stützte, kommt in
quellenkritischer Hinsicht auch keine größere Bedeutung zu, als den —
um einen Vergleich mit der jüngsten Gegenwart zu ziehen — mit
Recht so berüchtigten Reuter- und Havas-Meldungen: auch sie sind
Ausgeburten einer mehr oder weniger frei schaffenden Phantasie.
Das Geheimnis des Turmzimmers im alten Schlosse zu Madrid ist
trotz Büdinger nicht gelüftet; die Geschichte des Infanten Don Carlos
ist eine Frage geblieben, die neuerlich vor den Richterstuhl der Ge¬
schichte kommen muß.
*) Maximilian an denselben, 1568 September 16 (Ebenda, Bl. 137 ff.).
*) Bericht Michelis an den Dogen, 1568 September 16. Vgl. Turba, Vene-
tianische Depeschen vom Kaiserhofe, 3, S. 456.
8 ) Historische Studien über Don Carlos, Grenzboten 1874, 4, S. 244.
Kleine Mitteilungen.
Zu dem Fürsten(Pairs)-gericht. In dieser Zeitschrift (XXXII,
S. 435 ff.) habe ich mich ausführlich über das fränkisch-französische
Königsgericht ausgesprochen, dabei aber eine kurz vorher veröffentlichte
Notiz übersehen, die für die merovingische Zeit einen Punkt bestätigt,
den für das 12. Jahrhundert das deutsche Rolandslied berichtet Die
Erscheinung ist ein mustergiltiger Beleg für die Zähigkeit der Zusam¬
menhänge in der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte und gegen
jene Methode, welche Einrichtungen aus dem Durchschnitt nur von
ein paar Jahrhunderten erkennen möchte.
Nach dem deutschen Rolandslied (diese Zeitschrift XXXII, S. 453)
versammeln sich die Fürsten, die am Königshof zu entscheiden haben,
fern vom König auf einer Wiese und beschließen.
Genau, das gleiche sagt nun der Conrat’sche Traktat (ZS. Sav. St G.
A. 29 S. 248) c. 2. Hier wird scharf zwischen der Gerichtsbarkeit über die
Hofleute (die scola palatii) und über die Volksgenossen unterschieden; über
die ersteren entscheidet ein praeses (der comes palatii oder der senescallus?)
in Gegenwart des Königs. Über die letztem beschließen in Abwesenheit
des Königs, dem erst das gewonnene Resultat vorgetragen wird, die episcopi
et obtimates. Das ist ganz die Form des Rolandslieds. Die Optimaten
sind die Tischgenossen des Königs (qui manducant cum rege). Zu An¬
fang aber steht obtimates ratinii purii acxiones unum sunt Das ist
kein Zweifel, daß rachimburgi acciones; d. h. die Urteilsfinder der Prozeß
gelesen werden muß. Dagegen kann man bezweifeln, ob der Satz
meint, daß die Optimaten und die Urteilsfinder am Königshof identisch
sind, oder ob die Optimaten und die Urteilsfinder im einzelnen
Prozeß zwar sich von einander abheben, aber deshalb unum sunt, weil
sie dieselbe Klasse darstellen. Im letztem Fall würde aus dem Kreis
498
Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien.
der Optimaten eine Bank von Urteilsfindem ausgelesen werden und die
Stelle wäre ein unmittelbarer Beleg für das Pairsgericht
Auf eine räumliche Isolierung der proceres (senatores regni) bei
ihrer Beschlußfassung geht auch die Notiz bei Hincmar de ordine pa-
latii c. 34 (tamdiu ita nullo extraneo approprinquante, donec res sin-
gulae ad effectum perductae gloriosi principis auditui in sacris ejus
obtutibus exponerentur).
So gewinnt man einen Zusammenhang von der merovingischen
Zeit bis in dos spätere Mittelalter.
Würzburg. Ernst Mayer.
Alte serbische Handelsbeziehungen zn Wien. W'ien war seit
jeher eine Fremdenstadt, deren Tore den auswärtigen Kaufleuten
und Heilbedürftigen, Studierenden und Abenteurern offen standen. Die
altehrwürdige Kaiserstadt mit ihrem glanzvollen Hofstaate, ihren Geistes¬
schätzen, mit ihren wohlgepflegten Handelsbeziehungen und ihrem
bunten schillernden Leben bot für jeden der Gäste aus Südost etwas
Anziehendes. Ein breiter Strom von Fremden ergoß sich immer von
Neuem über die engen, stets gedrängt vollen Gassen Wiens. Unter
ihnen beanspruchte eine gewisse Aufmerksamkeit die serbische
Kaufmannschaft, welche einerseits stark zum Emporblühen des
österreichischen Handels nach dem Osten beigetragen, andererseits viel
Kultur und Zivilisation nach dem Osten geführt hat. Die gegenwärtige
Studie möchte nur die Zeit des 16. und des 17. Jahrhunderts ein wenig
beleuchten, Licht und Schatten nach Gerechtigkeit verteilen und auf
Grund alter seltener Bücher und unbekannt gebliebener Archivstücke
ein wahrheitsgetreues Bild entrollen 1 ).
Zweifellos waren die Serben für den Güter-Austausch zwischen Ost
und West in hohem Maße geeignet. Einerseits als türkische Unter¬
tanen die türkische Sprache beherrschend, andrerseits den auch in Wien
zahlreich angesiedelten österreichischen Slawen durch ihre Muttersprache
nahestehend, scheinen sie selbst in der Zeit von kriegerischen Wirren
>) Bei diesem Anlässe sei gestattet, mit dem Ausdrucke verbindlichsten
Dankes hervorzuheben, daß die Abfassung der gegenwärtigen Studie ohne die
gütige Forderung durch die von Hofrat Professor Dr. Josef v. Knrabacek geleitete
Hofbibliothek in Wien, sowie das k. u. k. Haus-, Hof- und Staats-Archiv
und dask. u. k. Reich sfinanz-Archiv (Direktor: Geheimer Rat und Sektionschef
Ludwig v. Thallöczy, Archivar: Dr. Gustav Bodenstein) unmöglich gewesen wäre.
Auch das Archiv des k. k. Ministeriums des Innern und das Archiv
der Stadt Wien, sowie das Gremium der Wiener Kaufmannschaft
haben in dankenswertester Weise meine Nachforschungen unterstützt.
Kleine Mitteilungen.
499
zwischen den Höfen von Wien und Adrianopel den Handel zwischen
der Kaiserstadt an der Donau und dem osmanischen Beiche, das sich
zeitweilig bis nach Gran erstreckte, eifrig gepflegt zu haben. Man darf
annehmen, daß sie auf beiden Seiten gut eingeführt waren und na¬
mentlich durch ihre halb-orientalische Gewandtheit und durch die Kenntnis
der türkischen Verhältnisse und Praktiken den Wiener Kaufleuten zum
mindesten ebenbürtig, wenn nicht überlegen, auf jeden Fall eine höchst
gefährliche Konkurrenz bildeten. Ihre genügsame Lebensführung be¬
lastete den Ausgaben-Konto nicht so stark, wie bei den guten Deutschen,
denen eine größere Aufwendung für kräftiges Essen und Trinken kein
Opfer schien.
In der alten Zeit gingen diese Leute unter den Namen «Baizen«,
ungarisch «raczok«; zahlreiche Orts- und Personennamen diesseits und
jenseits der Leitha erinnern an ihre Anwesenheit, in Wien insbesondere
wird der Name des «Batzenstadels* an dem Wienflusse, welcher wohl
einen Stadel (Schupfen oder Scheune der Baizen) bedeutet, auf sie zu¬
rückgeführt, obwohl seit langem dort kein Baize nachzuweisen ist.
Als Puffer zwischen zwei erbitterten Feinden stehend und bald
den Bömisch-kaiserlichen, bald den Türken dienend, zur Fristung ihrer
Existenz in höchst schwieriger Lage bemüßigt, dabei stets auf die
Warung ihres Vorteils bedacht und nach vorwärts strebend, mußten
die Baizen mehr Konzessionen an das Leben machen, als der Ent¬
wicklung vornehmer Charaktereigenschaften günstig war. Sie kommen
daher in manchen Schilderungen von deutscher Seite schlecht weg. Der
evangelische Prediger Stefan Gerlach, welcher den kaiserlichen Gro߬
botschafter David von Ungnad auf seiner bis 1578 dauernden Mission
nach Konstantinopel begleitete und ein sehr wertvolles «Tagebuch«
(erschienen Frankfurt a. M., Johann David Zunner 1674) geschrieben
hat, sagt auf S. 13: «Die Christen unterhalb Ofens, in Papis, Tolna etc.
. . . unter ihnen wohnt ein böß | diebisch und verräterisch Volck schier
bis in die Bulgarey zerstreuet | welches man die Baitzen nennet ! reden
Crabatisch | daher sie dann auch ihren Ursprung haben | verrathen viel
Christen | helffen auch manchem | umb Geld darvon | sind des Wegs in
die Christenheit wohl erfahren | zeigen den Türcken offtmahls Gelegen¬
heit Vieh und Leute hinwegzunehmen«. Auf S. 532 sagt derselbe
Cerlach: «Da er | der Jung« (welcher der türkischen Gefangenschaft
entfliehen wollte) «außer Zweiffei von Serviern verrathen worden. Dann
es ein gar loses Volck ist, und mit Morden, Bauben, Stehlen nicht viel
1>esser als die Türcken, sind dieser auf* unseren Gräntzen Kundschaffter
und der unsern Verrähter stehen« (recte stehlen) «viel Menschen son¬
derlich Knaben, wo sie solche auff den Gräntzen erhaschen können«.
f)OÖ Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien.
Das Sündenregister der damaligen Baizen ließe sich mit leichter Mühe
vergrößern, wir wollen uns begnügen, aus Hammer-Purgstall, Geschichte
des osmanischen Reiches II 214 anzuführen, daß im Jahre 1551 viele
Festungen und Schlösser in Ungarn in Türkenhände gefallen sind, u. a.
auch das wichtige Csanad, weil die Raizen, aus denen die Besatzung
bestand, zu den Türken übergingen.
Im Handel strebten die Raizen, im Bunde mit den Armeniern, die
gleichfalls dem türkischen Reiche unterstanden, das Monopol der Ver¬
mittelung zwischen Wien und der Türkei an. Sie führten ein in
Wien laut der dem Akte „Ung. 25. Sept. 1669“ im Reichsfinanzarchive
in Wien beiliegenden Listen des kaiserlichen Waghauses in Wien, bei
welchem sich die Mautstatte befand, folgende Waren: Krämerei, Leb¬
zelten, Vitriol, Saffianfelle (am 8. Mai 1665 waren es 1350 Stücke,
eingeführt durch Lukas Pamuzi und Konsorten von Ofen, am 5. März
1668 durch den Raizen Lukas aus Griechisch Weissenburg = Belgrad
1050 Stücke), auch Tabak wurde nach den Mautlisten von 1663—1668
in Wien aus Belgrad und Ofen eingeführt, u. zw. meist je eine Fuhr
von l*/ 4 Zentner. Der Wert, der dafür angegeben wurde, variiert zwischen
61 fl. (9. Sept. 1667) und 70 fl. (3. Febr. 1667), entweder unter dem
Einflüsse der Marktlage oder bedingt durch die Verschiedenheit der
Sorten. Auch Teppiche, härenes Zeug und Horn kamen von Belgrad.
Weitaus bedeutender als die Einfuhr war die Ausfuhr der Raizen
beim kaiserl. Waghaus in Wien. Manchmal erschien derselbe Raize
mit eigenen Waren in Wien, veräußerte sie und ging mitunter noch
am gleichen Tage mit Wiener Ware in seine Heimat ab, so z. B. der
Raize Johann aus Belgrad, der am 11. Mai 1663 mit 1 Fuhr Kram¬
ware, 1 Ztn. schwer, eintraf, dafür 3 fl. 2 ß 24 ^ Maut entrichtete,
und noch am gleichen Tage mit 3 Fuhren, enthaltend 8 l / t Ztn. Draht,
2 Stück glattes Tuch und Krämerei für 1680 fl., wofür er 88 fl. 1 ß 14 ^
entrichtete, heimreiste. Das gleiche machte er am 30. März 1665, er
erschien mit 5 Fuhren, enthaltend 5 1 /« Ztn. Kramware, die einem Zoll
von 17 fl. 4 ß 12 ^ unterlag, und kehrte heim mit 3 Stücken ent¬
haltend 1 Ztn. tradt (Draht) und Krämerei für 3200 fl., wofür er 160 fl.
6 ß 24 ^ entrichtete. Es ist bei dem schleppenden Geschäftsverkehr
der damaligen Zeit nicht wahrscheinlich, daß es dem Raizen Jo hann
in den wenigen Stunden zwischen Ankunft und Abreise gelungen wäre,
die importierten Güter abzuladen, zu vermauten und zu verkaufen, so¬
dann die leeren Wagen mit Wiener Ware zu beladen, zu vermauten
und noch vor Einbruch der Dunkelheit (im März!) abzureisen. Vielmehr
ergibt sich aus den Umständen, daß der Raize Johann, der über einige,
für die damalige Zeit ansehnliche Geldmittel verfügte, in Wien Ge-
Kleine Mitteilungen.
501
schäftsfreunde besaß, die die ankommenden Waren übernahmen und
ihm die für ihn vorbereitete und zum Zunageln reife Exportsendung
übergaben.
Die Mehrzahl der raizischen Kaufleute scheint sich die Arbeit
leichter gemacht zu haben: sie reisten nur auf der einen Hälfte des
Weges in Geschäften, die andere Hälfte des Weges legten sie als Pri¬
vatleute zurück. Es sei gestattet diesen Handelsverkehr etwas näher
zu besehen!
Einfuhr nach Wien.
durch
die
Kaizen
von
erlegte Mautgebühren in den Jahren
1663
1664
Jahr des
Türken
kriegs
1665
|
1666
1667
1668
I
zu¬
sammen
Ofen
—
—
13 fl.
—
15 fl.
3ß244
3 fl.
3ß22/t&
32 fl.
3ßl6^
Bel¬
grad
4 fl.
1 ? 6^
i
59.4.12
I
i
!
1123.4.12
1
33.1.18
37.3.17
263.6.29
zu¬
sammen
4.1.6
i
1
73.—.12 j 123.4.12
48.5.12
40.6.39
i
286.1.15
Ausfuhr aus Wien.
durch
die
Kaizen
von
1663
1664
Jahr des
Türken¬
kriegs
1665 j
1666
1667
1668
Ofen
97 fl.
2ß28/<& ]
—
135 fl.
; 6044
|
60 fl.
lß-4
73 fl.
2 ß 14.4
29 fl.
-ß-4
395 fl.
4ßl64
Bel¬
grad
563.2.14
335.4.28
325.5.18
41.2.16
160.5.5
1426.4.21
zu¬
sammen
660.5.12
471.3.2
385.6.18
114.5.—
189.6.6
1822.1.7
33
Mitteilungen XXXVI.
502
Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien.
Nach den in den Listen enthaltenen Wertangaben einzelner Waren
zu schließen, pflegte die Mautgebühr zwischen 4 und 0 % zu schwanken.
Wenn wir als Durchschnitt 5 % annehmen und diesen Maßstab an
die Ziffern für Einfuhr und Durchfuhr anlegen, so ergeben sich an¬
nähernd folgende Zahlen der Gesamtausfuhr während der Jahre 1603
—1608.
Ofen etwa 7.910, Belgrad etwa 28.530, beide zusammen etwa
30.440 fl.
Für die Gesamteinfuhr dieser Jahre Ofen etwa 050. Belgrad etwa
5.074, beide zusammen 5.724 fl.
Kechnet man Ausfuhr und Einfuhr zusammen, so ergibt sich als
Gesamthandel der Kaizen von Ofen nach Wien 8.560, Belgrad nach
Wien 33.604, beide zusammen 42.164 fl.
Doch erlangen diese Ziffern ihre richtige Größe erst, wenn man
sie, entsprechend dem damaligen höheren Werte des Geldes, mit 5 oder
0 vervielfacht, wodurch erst eine annähernd richtige Angabe des Ein-
und Ausfuhrhandels der Kaizen nach Wien entsteht
Die Baizen brachten damals nach Wien von Ofen: Safi&nfelle.
Vitriol, Leinwand, Tabak, Spezereien, Hausenfische; von Belgrad: in
erster Linie Krämerei, das was wir jetzt orientalische Galanteriewaren
nennen würden, Lebzelten, Tabak, Teppiche, Safianfelle, auch Schwämme
und Gummi. Doch war der Umsatz, wie bereits gesehen, ein geringer,
und nur für Kramware und Safianfelle scheint größere Nachfrage in Wien
geherrscht zu haben.
Erheblicher als die Einfuhr war die Ausfuhr der Kaizen aus
Wien. Nach Ofen brachten sie Draht in großen Mengen, Tuche u. zw.
sowohl gemeines Tuch als schlesisches Tuch, Biberfelle in ganzen
Fuhren, dann auch Reispapier, Cronrasch, einen damals sehr beliebten
Seidenstoff für Frauenkleidung, Nägel und härenes Zeug. Nach Belgrad
in großen Mengen „gemachtes* Messing (zuweilen 9 oder 12 Zentner),
ferner Weißblech und Draht, schwächer, aber auch nicht zu unter¬
schätzen war der Absatz in Tuchen, d. h. in gemeinem Tuch, in
Schöppentuch und in schlesischem Tuch, sogar etwas weniges englisches
Tuch wird genannt Für die Färbereien der damals blühenden und
umfangreichen Stadt (siehe Stefan Gerlach’s Schilderung in seinem
„Tagebuch*) holten sie in Wien Indigo und Alaun, für den Putz der
Frauen die beliebten Seidenstoffe Cronrasch und Schambloth, auch Seide
im Allgemeinen kommt vor. Härenes Zeug (? Loden), Messer, gemachtes
Zinn, mittelst dessen die Klempner die beliebten Weißblechkannen,
Becher und Becken verzinnten, Reispapier, Holzware und Kaffee. Je
eine Ladung mit Draht und Kramware ging von Wien nach Achsech
Kleine Mitteilungen.
503
(wohl Essek) und Timau, worunter ebensowohl die Stadt Tyrnau in
Oberungarn, als auch Tirnovo in Bulgarien gemeint sein kann.
Da uns die Listen auch die Namen der Kaufleute angeben,
ist es möglich nachzuweisen, daß von Ofen sich 22 als Baizen be¬
zeichnte Kaufleute 1663—1668 am Handel mit Wien beteiligten,
welche zusammen 29 Fahrten, 4 herein, 25 hinaus unternahmen.
Obenan steht Constantin Pobabitsch oder Poppowitsch mit einer Ge¬
bührenleistung von 100 fl. 4 ß 44 Sonst Demetr. Somossy (16. — .22),
Elias (5.4.20), Elias Deluca (—.7.26), Georg Zuday (4.5.—), Janosch
Wudtey (9.2.12), Jurkho (6.3.22), Luca (8.6.20), Luca Jacabitsch
(20.2.12) , Luca Marianabitsch (45 • 4.24), Luca Pamuzi, offenbar türkisch
Pamutdschi »der Baumwollmann* (13.4. —), Marco (5.3.26), Marco
Batibobitsch (29 . —. —), Marco Buday (17.5.12), Maria (2.1.6), Mathias
(24.7.14) , Michael Bulclay (20.7.6), Michael Schlossgängl (2.3.2),
Nenekho (16.7.22), Simon (36.6.12), Stefan (18.5.14), Stefan Sieder
(1.—.20).
Auffällig daß sich unter diesen angeblichen Baizen auch zwei echt
deutsche Namen Michael Schloßgängl und Stefan Sieder befanden, viel¬
leicht altangesessene Ofener Deutsche von türkischer Staatsangehörigkeit,
auch fünf Magyaren.
Ein viel größeres Kontingent stellte die Kaufmanschaft der Stadt
Belgrad, von welcher sich 45 Kaufleute auf 82 Geschäftsreisen
(29 herein, 53 hinaus) an den Handel mit Wien beteiligten.
Allen voran der »Balze Johann von Griechisch-Weißenburg* mit einem
Mauterlage von 326.4.4 auf 7 Verfrachtungen, auch noch ansehnlich der
Baize Stephan (113.6.20), Georg Paul (112.2.22), Luca (102.2.24)
und Marenz Kharto Marx, vielleicht ein Italiener, (97.5.18). Mit kleineren
Beträgen sind eingetragen Abraham Jarkh (69.3.18), Andre Zwikh
(9.7.6), Arathin (25.4.24), Anthoni (4.6.12) Demetri (74.4.1),
Damassy (2.2.24), Demetri Domassy (33 5.24), Domenicus (12.4.27),
Georg oder Jura (54.4.28), Georg Foynerari, vielleicht ein Italiener,
(33.5.14) , Georg Mikhalitsch (— .3.26), Georg Mitta richtig Mitar
(18.2. —), Gregor Griekherisch richtig Grigoritsch (30.6.12), Järkho
(21.6.12) , Johann Khrungs, ? ein Deutscher (7.5.6), Johann Khruch
abzuleiten von kruh, serbisch »das Brot* (l 1.2.24), Johann Zakh
(16.3.18) , Hans Michael Naar (auf 11 Fahrten zusammen 10.5.24),
Iron oder Fron (8.2.12), Jurkho (30. — .12), Lucas Jacobobitsch
(3.4.24), Manoldt, vielleicht — Emanuel (27.6.24), Mario (28. — .12),
Mescho (38.1.14), Michael Markhobitsch (3.7.6), Nersso, vielleicht Nerses
(4.7.18) , Nescho (23, —. --), Nicola Arnoldt (4.1.6), Peter (20.4.24),
Stefan Georg (40.5.18), Stefan Iniemakh (l .5.6), Stefan Schindter, viel¬
leicht ein Deutscher, (4.5.2), Stefan Staben (39.2.12), Stoeschan
(25.2.—), Thoma Manigasch (40.2.—), Thoma Mangoth (34. —.—),
Thoma Marath (31.4.24), Welckho (14.5.2).
33*
504
Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien.
In Belgrad befand sich damals eine große Kolonie von Bagusäeru,
die unter türkischem Schutze starken Handel trieben. Wir dürfen
daher über mancherlei italienische Anklänge obiger Namen nicht
staunen.
Lebhafte Konkurrenz erwuchs diesen Baizen, als einige Kauf¬
leute imd Unternehmungen von Wien sich entschlossen, den Gefahren
trotzend, selbst Beisen in die Türkei, wozu damals Ofen und Belgrad
gehörten, zu unternehmen oder auszurüsten. Dem suchten die Raizeu
mit allen möglichen Mitteln entgegenzuarbeiten. Sie verbreiteten in
Österreich die Nachricht vom Ausbruche böser Krankheiten in der Türkei
und malten das Schreckbild der Pest an die Wand, die bei dem da¬
maligen niederen Stande der Heilkunde in unseren Gegenden eine außer¬
ordentliche Gefahr für den ganzen Staat in sich schloß. Wenn solche
Gerüchte, geschickt verbreitet, durch die Luft schwirrten, lachten sich
die Verbreiter derselben schadenfroh ins Fäustchen, denn die Begieningeu
verfügten prompt alle möglichen Quarantänemaßnahmen, die den besser
zu beaufsichtigenden Handel der eigenen Untertanen schwerer trafen
als jenen der Fremden, die oft auf Schleichwegen und im Dunkel der
Nacht einzogen.
Natürlich verursachte es den Wiener Kaufleuten große Schwierig¬
keiten, die Unwahrheit solcher Gerüchte nachzuweisen, bis dahin hatte
ihr Handel schon Schaden genommen. Den Baizen aber war es ein
Leichtes, wann sie wollten, d. h. wenn ihre Geschäfte es erheischten,
die von ihnen selbst ausgestreuten Nachrichten zu widerlegen und Ab¬
stellung der zur Behinderung der Wiener Konkurrenz beantragten Qua¬
rantänemaßnahmen zu verlangen. Im Frühjahr 1671 ereignete sich
ein für diese Dinge typischer Fall; indem wieder durch unbekannte
Personen allerhand gräßliche Nachrichten in Wien in Umlauf gesetzt
worden waren, erfloß eine Allerhöchste Besolution, daß wegen der in
der Türkei einreißenden starken „Contagion“ Niemand, er sei da, wer
er wolle, ohne Paß vom Hofkriegsrat in die Türkei über die Grenze
durchgelassen werden dürfe. Die niederösterreichische Begierung und
Kammer schreibt im Zusammenhänge damit in einem Dekrete vom
16. Februar 1671, daß allhier (in Wien) durch die Bäzen solche »Un¬
wahrheiten und Zeitungen“ ausgestreut werden, daß es fast den
Anschein gewinne, als ob man offene Verräter dahier unterhalte
(Stadtarchiv Wien 13/1671). Bald darnach, etwa einen Monat spater,
stellte sich die Unwahrheit der Pestgerüchte heraus, und sofort fielen
wieder die Quarantäne-Schranken, nicht ohne vorher den Handel der
Erbländer geschädigt zu haben. Als sich derartige Dinge öfters wieder¬
holten, errieten allmählich die Wiener, wem sie solche Unannehmlich-
Kleine Mitteilungen. 505
keiten zu verdanken hatten, und begannen auf die Baizen ein aufmerk¬
sames Auge zu halten.
Der Verdacht, daß sie Verräterei trieben, heftete sich an sie, als
man wahrnahm, daß die Reichsfeinde wiederholt über Zustände und
Vorfälle in den Erblanden besser unterrichtet waren als es in Wien
lieb war. Auffällig mußte es allerdings sein, daß manche Baizen,
wie z. B. Hans Michael Naar aus Belgrad, häufig mit ganz geringem
Warenvorräte in Wien auftauchten und nach kurzer Zeit wieder ver¬
schwanden. Nicht weniger als elfmal war derselbe in kurzen Zwischen¬
räumen hergekommen und hatte immer nur Lebzelten einen Zollbetrag
von fär 6., 8., 10., höchstens 15 ß bei sich. Was war natürlicher,
als daß man diese häufigen Anwesenheiten mit Ausspäherei und anderen
versteckten Absichten des Hans Michael von Belgrad zuschrieb, der
den Beinamen Naar, offenbar „der Narr“, vorgespiegelter Einfältigkeit
verdankte?
Die Organe Kaiser Leopolds in der Türkei warnten wiederholt vor den
Schlichen der raizischen Spione. Der kais. Kurier Gabriel Lenoris berichtete
(Haus-, Hof- und Staats-Archiv „Turcica 8. Okt. 1668“), es sei bei den
Freunden des Kaisers eine große Klage darüber, daß jetzt Baizen, Armenier
und Griechen kaiserliche Privilegien erhalten haben, in Wien offene Läden
zu halten und darin ihre Waren zu verkaufen. Die nach Wien kom¬
menden Türken haben, wenn ihnen auch das Betreten von deren
Wohnungen untersagt ist, Gelegenheit, mit ihnen bei den Läden zu
sprechen. Deshalb rühmen sich die Türken, alle Sachen durch ihre in
Wien ansässigen raizischen Untertanen zu wissen, während von altersher
Übung war, sie nach Wien kommen und gegen Ableistung der Zölle
ihre Waren verkaufen, aber nicht sie in Wien bleiben und dort Läden
eröffnen zu lassen.Die Türken haben mich sogar mit einem Raizen
geneckt, der in Wien vorgab, ein entlaufener Christensklave der Türken
zu sein, sich in den Läden der Baizen aufhielt und dann mit dem
Bischof von Martianopolis in die Türkei reisend, in Gran vor den Jani-
tscharen den weißen Fes aufgesetzt und sich als türkischer Spion zu
erkennen gegeben hat“.
Der kais. Gesandte Job. Philipp Beris, Hof kammerrat, schrieb
(»Turcica 31. März 1671 “1 aus Belgrad (Griechisch-Weissenburg): Man
möge sich sehr von den Baizen hüten, welche sich in
Häusern niedergelassen habtn und durch Hoffreiheiten
geworden sind. Selbe seien durchgehends Spione, wifl^T
ergeben, daß ein renegirter Armenier namens Mene» *
Wien aufgehalten habe bei einem Baizen, so sein Qj
4
i
506
Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien.
„Güldenen Gans“ x ) hat, mit Namen Johannes Deodato „so sich ka¬
tholisch simulierte“. „Da er genug spioniert, hat diser Deodato dem
Menes einen Paß procurirt vom Herrn Nuntio Apostolico, Ihr. fiirstL
Gnaden Herrn Bischoff yon Wien und dem Gremonville“ (französischen
Botschafter) „mit welchem Paß er Menes yon danen ab nacher Rom
gereist, nachgehends wieder auf Venedig und über Bagusa anher“ (nach
Belgrad) „körnen, geht jez hier wie ein Türkh vnd heißt Mahomet,
weiß von Wien mehr zu sagen, als einer der 10 Jahr daselbst gehaust
Vor dißem hat man wohl zugelaßen, daß sie nacher Wien fahren mögen,
man hat ihnen aber einen gewissen Eommissarien beigegeben wie den
Türcken, die auf ihr Thun vnd Laßen Ächtung gehabt, und wen sie
das was sie vonnöthen einkauft gehabt, hat man sie wieder fortge¬
schafft, wobei nichts gefährliches fürgangen sondern Gelt ins Landt
gebracht vnd Ir Mjtt: Mauthgefäll dardurch vermehrt worden, iezund
aber seyn sie wie Bürger dort und wenn sie nichts mehr zu spionieren
wißen, geben sie vor, sie könten den Zinß und ihre nahrung nit mehr
bestehen, nehmen ihre Crämel, gehen davon in dise Länder vnd ver-
rathen alles. Interest Beipublicae, daß dieses ohne Verzug remedirt
werdte“.
Ungemein charakteristisch ist auch ein Schreiben des kais. Resi¬
denten Kuniz ddo. Belgrad 10. Dezember 1673 („Hoff. 15. Februar
1674“ im k. u. k. Finanz-Archiv Wien), worin es heißt, die in
Wien wohnhaften Armenier und Baizen geben ihren Belgrader Freun¬
den, mit denen sie in guter Korrespondenz stehen, Nachricht von
Allem was in Wien vorgeht, namentlich aus dem Hofkriegsrat, z. B.
hat einen Monat vor Kuniz’ Ankunft dortselbst der Kaimakam zu Bel¬
grad den dortigen Angestellten der Wiener Orientalischen Compagnie
zu sagen gewußt, was der Hofkriegsrat in Wien an der Orientalischen
Compagnie in seiner Sitzung getadelt, und „trotzdem werden selbige
Baizen von den Hofkriegsräten und den Kriegssekretären in Wien ge¬
duldet und geschützt, damit sie in Wien noch mehr erfahren und dann
in der Türkei bekanntgeben“. Den schlauen Gesellen konnte natürlich
niemals der Nachweis der Spionage erbracht werden, und auch in Köniz*
Falle wurde die Schuld auf einen französischen Kaufmann geschoben,
welcher ein Schreiben mit politischen Nachrichten aus Wien (von der
französischen Botschaft?) nach Belgrad gebracht haben soll; aber man
war nicht umsonst schon seit mehreren Jahren den Baizen in Wien
mißgünstig geworden. Hierüber gibt willkommenen Aufschluß eine
*) Haus Rotentunnstraße 646 (jetzt 29) dicht neben dem kl. Waghause Roten-
turmstraße 642 und 643 (jetzt abgerissen).
Kleine Mitteilungen.
rx)7
Korrespondenz zwischen kais. Hofkammer und Hofkriegsrat, verwahrt
im k. u. k. Reichsfinanz-Archive unter „NÖ. 3. April 1671.“ Dem
kais. Hofkriegsrate war laut Schreibens vom 12. Jänner 1671 an die
Hofkammer zu Ohren gekommen, daß durch die damalige Ausbreitung
der Kaufmannschaft in der Türkei sehr viele Kaizen, Griechen und Ar¬
menier frei und unabhängig hierher und dorthin geführt werden, welche
bei den Türken zum Nachteile von Ihrer Majestät Dienst tausend
Sachen ausstreuen. Auch treiben hier viele Räzen Handel und halten
offene Gewölbe, desgleichen vor wenig Jahren hier noch nicht ge¬
sehen worden sind. Früher hat der Hofkriegsrat von allen in und aus
der Türkei reisenden Leuten Kenntnis erhalten müssen, jeder Räze hat
sich bei dem nunmehr verstorbenen Dolmetschen D’Asquier anmelden
müssen, der ihm einen türkischen Kurier zugegeben, damit er seine
Waren verkaufen und andere dafür einkaufen könne, und dasjenige,
was er von solchen Personen erfahren, dem Hofkriegsrat mitgeteilt
habe. Jetzt aber weiß der Hofkriegsrat von ihnen gar nichts und
vernimmt, daß die Räzen sogar einen eigenen Körper bilden
und andere Räzen die sie consules nennen, dahier in Ge¬
wölben halten, welche unter anderm auch das Gold außer Landes
fuhren und viele schädliche Berichte ausstreuen. Seine Majestät habe
beschlossen, wegen der Räzen von der niederösterreichischen Regierung
ein Gutachten einzufordern. Die angestellten Erhebungen ergaben, daß
schon 1670 Eingaben eingereicht worden seien, damit im Wege des
Hofkriegsrates den Kommandanten an den Grenzen größte Wachsamkeit
eingeschärft werde, sowohl was die in Diensten von Wiener Geschäfts-
Unternehmungen als auch was die frei reisenden Räzen betreffe. Die
Letzteren, nämlich die frei reisenden Raizen schädigen zwar die
erbländischen Kaufleute sehr, aber man werde ihren Handel mit Rück¬
sicht auf die Friedensverträge mit der Türkei, deren Untertanen sie seien,
nicht wohl sperren können. Auch sind zu Raab und Komorn
seit undenklichen Jahren unterschiedliche Räzen haus-
sässig, die ihre Handelskonsorten in Ofen, Belgrad und
anderen Plätzen haben, diese zu jenen, jene zu diesen reisen, oft
auch nach Wien kommen, monatlich oder so oft es ihnen beliebt sich
unter dem Vorwände voi Handelsschaft dahier aufhalten und alles
ausspähen können, unter anderm auch vornehmlich die damals leider
sehr seltene schwere Münze ein wechseln und außer Landes führen. Ferner
kommen Räzen im Aufträge des Paschas von Ofen auf unbe¬
kannten Wegen ohne ein Grenzhaus zu passieren herauf, er könne
allerdings auch durch die Ungarn (*/ t des Landes unterstanden damals
den Türken, die eine starke Partei in Ungarn hatten) Nachrichten ein-
508
Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien.
ziehen. Dies wäre mir dann zu verhindern, wenn man den Räzen den
Vorwand zu einer Wienfahrt benehme. Man könne zwar dem kais.
Obersten zu Komorn auftragen, auf die hin und wider passierenden
Räzen wohl acht zu geben, was aber die von den Razen in Wien er-
öffneten Gewölbe allbelange, so haben sie wohl dafür beim Hofe Kon¬
zessionen erhalten und werden wahrscheinlich die Kuriere in’s Interesse
gezogen haben — andrerseits sei sehr zu bezweifeln, ob man ohne
Vertragsbruch etwas dagegen machen könne.
Wir ersehen aus diesem Akte, daß die Razen sich in Wien ziemlich
fest eingeuistet haben, während aus früherer Zeit verlautet hatte, daß
man den Raizen als unzuverlässigen Elementen das Betreten der Kaiser¬
stadt nicht erlaubt, sondern sie gezwungen hatte, ihre Waren nur
bis Schwechat zu führen, wohin zum Ankäufe die Wiener Kaufleute
reisen konnten. (Siehe kais. Dekret ddo. Regensburg 26. Jänner 16(54
im Reichsarchive des k. k. Ministeriums des Innern, Abt V. G. 12.
Nr. C 2971).
Auch als Viehtreiber, als Begleiter der großen Kindertrans¬
porte aus Ungarn und der Türkei, kamen zahlreiche Raizen (laut Akt
r Ung. 14. Jänner 1670“ im Reichsfinanz-Archive Wien) nach Öster¬
reich, zum mindesten in die benachbarten Grenzstriche des Königreichs
Ungarn, sehr zum Mißfallen der kais. Militärbehörden, welche befürch¬
teten, daß die gefährlichen Leute in dieser Eigenschaft leicht Weg und
Steg kennen lernen und den Türken verraten könnten.
W ahrscheinlich besaßen die Raizen, weß Standes immer sie sein
mochten, ob Gewölbeinhaber, ob reisende Kaufleute oder Viehtreiber,
eine feste Organisation, an deren Spitze die vorgenannten „eon-
sules“ gestanden sein dürften, welche sich, da es sich ausschließlich
um türkische Staatsangehörige handelte, der offenen oder geheimen
Einflußnahme der türkischen Staatsbehörden nicht entziehen konnten.
Längere Zeit hindurch schwebte das Ungewitter über den serbischen
Händlern, und sicher wären die kaiserlichen Behörden schon vor Jahren
gegen sie vorgegangen, wenn nicht die Besorgnis bestanden hätte,
hiedurch von der allezeit kriegsbereiten türkischen Regierung des Ver¬
tragsbruches bezichtigt und mit einem Kriege bedroht zu werden. Wir
wissen nicht, welchem Umstande der spätere Bruch dieser Beziehungen
zuzuschreiben wäre. Nur das eine ist gewiß, im Jahre 1678 entlud
sich die Wetterwolke über den serbischen Händlern. Das im „ Gremium
der Wiener Kaufmannschaft* verwahrte Abschriftenbuch von Wenzel
Nedorost, Vorstand der «Bruderschaft der Bürgerlichen Handelsleute¬
in Wien (ca. 1710) enthält den Auszug eines Dekrets der niederöster¬
reichischen Regierung an den Stadtmagistrat von Wien. „Vermög
509
Kleine Mitteilungen.
deßen sollen alle Räzzen, außer deß Johann Diodats vnd Constantia
£iriac, welche mit Hof-Freyheiten von Törckhischen Wahren zu handlen
versechen, alsobalden fortgeschafft werden“. Datum 6. Juni 1678. Das¬
selbe Abschriftenbuch erwähnt auch unter demselben Datum ein kaiser¬
liches Dekret an die niederösterreichische Regierung zur Verständigung
derer von Wien, d. i. der Stadtverwaltung, daß zwar die beiden obigen
Raizen Freiheiten für den Handel mit türkischen Waren erhalten, die¬
selben aber mißbraucht haben, daher man sehr auf sie Acht geben
solle. Im Falle von neuerlichen l bertretungen werde man ihre Frei¬
heiten kassieren. Was aber die Übrigen betrifft, die keine Freiheiten
genießen, außer dem Franz Georg Goldtschüz, welcher ein „Polaekh“
sein wollte, anbelangt, nemlich den Gregor Isaac, Peter Georgi, Daniel
Riess, Georg Mihalowiz, Peter Cucowic und Aslan Mihal (offenbar ein
Armenier), so sollen dieselben alsbald abgeschafft werden.
Diese Verfügung ist in mehrfacher Beziehung interessant Vor allem
deshalb weil sie die Namen der ständig in Wien ansässigen raizischen
Importeure von Orientwaren enthält — im Gegensatz zu den früher
gegebenen Listen, welche die Namen der auswärts ansässigen und nur
gelegentlich mit Warensendungen in Wien erscheinenden Importeure
enthält — zwei Gruppen von Kaufleuten, die auf einander angewiesen
und von einander abhängig waren, indem die raizischen Handelsleute
von Ofen und Belgrad die Orientwaren nach Wien führten, und die in
Wien seßhaften Raizen sie dann an Ort und Stelle losschlugen oder
gar an andere Orte versandten. Der Wiener Lokalhistoriker speziell
wird durch die Erwähnung des * Franz Georg Goldtschüz“ interessiert,
welcher niemand anderer ist, als der aus der 2. Türkenbelagerung Wiens
im Jahre 1683 bekannte Franz Georg Kolschitzky, eigentlich Kul-
czyckL, ein Pole aus Sambor, welcher je nach Bedarf als Pole oder als
Raize auftrat (vielleicht war er ein Mischling) und in Wien bis zur
Austreibung der Raizen als angeblicher Raize ein Importgeschäft für
Orientwaren innegehabt hatte. Es zeigt sich, daß der aalglatte Mann
sich schon damals mehr oder minder unverdiente Begünstigungen zu
erwirken wußte, während der ungleich verdientere Original-Serbe Georg
Mihajlowitsch, welcher vordem in der türkischen Residenz Adrianopel
Kammerdiener beim kaiserlichen Residenten Johann Baptist Casanova,
einem gebürtigen Mailänder, gewesen und nun gleichfalls Orientwaren¬
importeur in Wien gewordei war, dem Lose der Verbannung verfiel;
doch muß er später wieder in Gnaden aufgenommen worden sein, denn
im Jahre 1683 hat er den Wienern mit Aufopferung seines Lebens
Boten- und Späherdienste gegen das Heer der türkischen Belagerer
verrichtet.
510
Alte serbische Handelsbeziehungen zu Wien.
Sicherlich war die Austreibung der Kaizen aus Wien 1678 in der
Absicht erfolgt, um für die gefährdete kaiserl. Hauptstadt angesichts
des in immer größere Nahe rückenden Krieges mit der türkischen
Großmacht sich zweideutiger und unzuverlässiger, vielleicht sogar verrat-
drohender Gäste zu entledigen. Die kriegerischen Wirren an der
türkischen Grenze in Ungarn hatten zwar nie aufgehört, immer war
von Neuem dort Blut geflossen; das war indessen schon ein chronischer
Zustand geworden, der den Orienthandel erschwerte, nicht verhinderte.
Der große Krieg, welchen die türkische Regierung nach jahrelangen
Vorbereitungen 1683 eröflhete und nicht weniger als 16 Jahre führte,
schnitt ganz unvermittelt alle Handelsbeziehungen zur Balkanhalbinsel
ab, und erst [nach seiner Beendigung im Jahre 1699 ist es gelungen,
die abgeschnittenen Fäden wieder anzuknüpfen.
Wien.
Carl v. Peez.
Literatur.
Wilhelm Ewald. Siegelkunde (Handbuch der Mittelalterlichen und
Neueren Geschichte. Herausgegeben von G. y. Below und F. Meinecke).
München und Berlin. K. Oldenbourg 1914. Angefügt: Wappen¬
kunde von Felix Hauptmunn. VHI u. 244 SS. 40 Tafeln in Au¬
totypie. VIII u. 62 SS. 4 Tafeln.
Das vorstehend zuerst erwähnte Werk darf unter den von den Frei¬
burger Geschichtslehrern herausgegebenen Handbüchern einen Ehrenplatz
beanspruchen; es hat den Bearbeiter der ersten Hefte des großen Rheinischen
Siegel Werkes zum Verfasser, der durch diese Veröffentlichung und durch
mehrere tiefer auf die Sache eingehende einschlägige Abhandlungen in der
»Westdeutschen Zeitschrift* (Band 30) seine wissenschaftliche Berechtigung
zu einer solchen Arbeit dargetan hatte.
In diesem Buche liegt die erste umfängliche, den heutigen Anfor¬
derungen der Wissenschaft entsprechende Bearbeitung des Themas vor, da
die ausgezeichnete Arbeit Th. Ilgens nur einen Leitfaden, das Buch
Saylers eine zwar immerhin verdienstvolle, indessen doch stark dilettan¬
tische Leistung darstellt. Ewalds Buch bietet auch, was Ilgen sich ver¬
sagen mußte, reiches Anschauungsmateriel, leider aber in so starker, dabei
aber wohl auch nicht immer einheitlicher Verkleinerung, daß der da¬
durch zweifellos stark erhöhte Wert des Werkes doch wiederum sehr beein¬
trächtigt ist. Da trifft es sich denn vorzüglich, daß gleichzeitig mit dem
Verlage von Oldenbourg auch der von Teubner eine Arbeit über »Siegel*
hat erscheinen lassen, in welcher der Hauptwert auf die Anschauungs¬
mittel gelegt ist, während sich der Text auf ein Mindestmaß beschränkt
Beide Arbeiten ergänzen sich so auf das wünschenswerteste. Als Bearbeiter
dieses Teubnerschen Atlasses glaube ich die Verpflichtung, jedenfalls aber
die Berechtigung zur Anzeige der Ewald’schen Arbeit beanspruchen zu
können.
Ich finde die Hauptvorzüge des Buches vor allen entsprechenden
älteren Arbeiten darin, daß der Verfasser sich nicht auf Deutschland be¬
schränkt, sondern auch außerdeutsche Verhältnisse und zwar besonders
512
Literatur.
französische und englische in ganz erheblichem Umfange mit heranzieht; er
hat sie eingehend durchforscht und die Ergebnisse dieser Forschungen
seiner Arbeit zu Gute kommen lassen. Es ergibt sich daraus, in wie aus¬
gedehntem Maße Deutschland von diesen Ländern beeinflußt worden ist;
man könnte sich zu Vergleichen mit dem Einwiiken Pariser und englischer
Mode und Modetorheiten in unserer Zeit veranlaßt sehen. Dann aber hat
der Verfasser in ganz anderem Umfange, als es bisher geschehen war, das
juristische Schrifttum des Mittelalters berücksichtigt und durch seine Dar¬
stellungen des Siegelrechts — um mich so auszudrücken — den Diplo¬
matikern den größten Dienst erwiesen: es kann nicht ausbleiben, daß
Ewalds Ausführungen auch von dieser Seite aus weiter ausgebaut werden.
Durch dieses Heranziehen der außerdeutschen Siegel hat Ewald das
deutsche Siegelwesen erst in den großen Kulturkreis des Mittelalters, aus
welchem allein es erst vollständig verstanden werden kann, eingefügt. Er
konnte? selbstverständlich bei der großen Schwierigkeit, das Material für
solche Studien zusammenzubringen, nur den Anfang machen; aber er hat
damit die Bahn gebrochen und den Weg gewiesen. Ob man aber nicht
noch weitergehen und auch byzantinische Einflüsse aufsuchen muß, ist noch
nachzuprüfen; für die Blei- und Goldbullen steht diese Tatsache ja fest
und ist auch von Ewald genügend beachtet.
Bei der Bearbeitung der juristischen Seite des Siegelwesens tritt
deutlich zu Tage, eine wie bedeutende Bolle England in der ganzen Ent¬
wicklung des mittelalterlichen Urkundenwesens gespielt hat
Eine sehr willkommene Bereicherung der Literatur über Siegelwesen
ist das starke Hereinziehen der Kunstgeschichte, die Ewalds Buch aus¬
zeichnet und zwar nicht nur im allgemein ästhetischen Sinne, sondern auch
im rein technischen: so beschreibt er z. B. nach ersten Quellen die Her¬
stellung der Siegelstempel und läßt dabei keine geringere Autorität als
Benvenuto Cellini zu Worte kommen. Bei dieser Großzügigkeit der Auf¬
fassung und ausgebreiteten Kenntnis auf den verschiedensten weit aus¬
einanderliegenden Gebieten ist es zwar sehr erklärlich, aber immerhin be¬
dauerlich, daß der Herr Verfasser der erheblichen Schwierigkeit, das weit-
schichtige Material ganz zu durchdringen und dann für die Darstellung
übersichtlich zu gruppieren, nicht vollständig Herr geworden ist. Schon
die Stoffverteilung in der Inhaltsübersicht (XI. Abschnitte) erscheint nicht
vollkommen klar und ganz durchdacht. Es ist ja schwer, die verschiedenen
Gesichtspunkte, welche bei der Behandlung des Gegenstandes berücksichtigt
werden müssen, klar festzulegen und richtig zu einander anzuordnen, aber
trotzdem hätte ein tieferes Durchdringen des Stoffes es wahrscheinlich er¬
möglicht, Wiederholungen mehr zu vermeiden und Zusammengehöriges mehr
einheitlich zu besprechen, als es Ewald getan hat. Hoffentlich gelingt
es dem Verfasser bei einer neuen Auflage, die sicher bald notwendig werden
wird, auch nach dieser Rücksicht seine Arbeit noch zu vervollkommen.
Für eine solche Neubearbeitung scheint es mir wünschenswert, nach
Möglichkeit Nachträge zu geben und auf Gesichtspunkte aufmerksam zu
machen, welche an einzelnen Stellen anderen Auffassungen das Wort reden,
als der Verfasser sie zu Grunde gelegt hat. Man wird es mir also nicht
als Nörgelei auslegen, wenn ich zu einer Reihe von Stellen im Folgenden
Bemerkungen mitteile, sondern als Veranlassung der Einzelbemerkungen nur
Literatur.
513
mein Interesse für die Arbeit Ewalds ansehen. S. 9/10 vermisse ich das
zusammenfassende mit reichlichen Abbildungen ausgestattete Werk von
Serafini über päpstliche Münzen und Bullen. — Bei den S. 14/15 Anm. 7
angeführten »Siegeln des Mittelalters aus den Archiven der Stadt Lübeck*
hätte man gerne den Namen des verdienstvollen Zeichners, Sammlers und
Verfassers der Beschreibungen »K. J. M. Milde* erwähnt gesehen. — S. 16
vermisse ich unter den Vorarbeiten zu 0. Posses Kaisersiegeln meine »Reichs¬
kanzlei unter den letzten Staufern* und S. 17 unter den Urkundenbüchem
mit Siegelabbildungen sowohl meine »Kaiserurkunden der Provinz West¬
falen* Band II wie mein Siegener U.-B. und Wyß, Hessisches U.-B. Band I.
— Zu S. 2 7 ff. Die rechtliche Bedeutung des besonders häufig im Osten
einem Boten mitgegebenen Siegelabdruckes ist zweifellos in erster Linie
die der Beglaubigung für die mündlich auszurichtende Botschaft; dieser
Siegelabdruck hat also genau denselben Zweck, wie das an eine geschriebene
Kundmachung befestigte SiegeL Dieser Siegelabdruck ist somit nicht, wie
der Verfasser S. 27 annimmt, ein Ersatz für eine schriftliche Urkunde,
sondern er beglaubigt, wie Ewald S. 30 auch selbst sagt, die Aussage des
Boten. Das selbst gesandte Petschaft kann allerdings auch eine Urkunde
darstellen, die oft wiederholt gebraucht wird, wie das Siegel mit der Umschrift
»Wenceslaus citat ad iudicium* andeutet.
Auch kann ich der von Ewald S. 26 geäußerten Anschauung, das Siegel
mache die in den Urkunden enthaltenen Erklärungen perfekt und beweis¬
kräftig nicht zustimmen: es macht sie nur insofern beweiskräftig, als es die ein¬
fache Niederschrift, welche ja meist von fremder Hand geschrieben war, erst zu
einer Erklärung des Siegelinhabers um schafft. — Zu S. 30. Dieser Be¬
deutung des Siegels entsprechend möchte ich auch die bei Reliquien ge¬
fundenen losen Siegel als Echtheitserklärungen auffassen, nicht aber als
Beweise dafür, daß der betreffende Siegelinhaber eine Translation der Heilig¬
tümer vorgenommen habe. — Zu S. 32. Die Besiegelung von Urkunden
läßt sich doch wohl im Römerreiche mindestens bis auf Augustus zu¬
rückführen, der ja bei seinem Zuge gegen Antonius dem Mäcenas seinen
Siegelring mit der Victoria zurückließ, als er ihm seine Stellvertretung
übertrug.
Über die rechtliche Bedeutung hinaus möchte sich die tatsächliche Be¬
deutung des Siegels wohl schärfer fassen lassen, wenn man genau unter¬
schiede zwischen der Bedeutung, welche der Siegelführer dem Siegel bei¬
legte, als er es an der Urkunde anbringen ließ, und der Bedeutung, welche
das Siegel für die Wissenschaft besitzt, oder um es kurz zu sagen, zwischen
dem Siegel als Zeichen der Beglaubigung und dem Siegel als wissenschaft¬
lichem Kriterium. Z. B. dient die päpstliche Bulle in weitaus den meisten
Fällen nicht als Beglaubigung, wohl aber als Kriterium.
Neu, besonders belehrend und eingehend sind die auf S. 42 ff. ge¬
gebenen Darlegungen über die sigilla autentica nach dem kanonischen
Rechte und ihre Bedeutung für die Publizität der damit versehenen Ur¬
kunden einerseits und ihre Autenticität anderseits. Vielleicht gestattet ein
noch schärferes Eingehen auf die Einzelheiten eine noch klarere Unter¬
scheidung zwischen Publizität und Autentizität und das im Gebrauche dieser
Begriffe bei den Juristen zu beobachtende Schwanken.
514
Literatur.
Für die S. 62, 63 eingehend behandelten inneren Vorgänge in den
Kanzleien bei der Besiegelung bieten die von E. Winkelmann veröffent¬
lichten »Sizilischen und päpstlichen Kanzleiordnungen* (Heidelberg 1880)
hübsches Material; sie verdienten daher neben den S. 67 aufgefuhrten
Schriften herangezogen zu werden. — S. 68 scheinen Siegeltaxe und
Kanzleigebühr gleichbedeutend aufgefaßt zu sein; wir kennen jedoch für
die päpstliche Kanzlei z. B. besondere Siegel-(Bullen-)Taxen. VgL L. Schmitz-
Kallenberg, Practica cancelloriae apostolicae S. 32 ff. und bei Ewald selbst
S. 71 Anm. 5. — S. 71 ist unter »overleker gülden* doch wohl ein
»overlenker* d. h, Oberländischer Gulden zu verstehen.
Die S. 79 sich findende Annahme des Gebrauches mehrerer Stempel
neben einander möchte nicht in dem dort angenommenen Umfange anzu¬
erkennen sein. Ich habe wenigstens zu bemerken geglaubt, daß die
Feststellungen Posses, wonach die Kaiser des 9.—11. Jahrhunderts neben
einander eine Reihe fast gleichartiger Stempel geführt hätten, sehr der
Nachprüfung bedürfen. Aus einem und demselben Stempel kommen, be¬
sonders, wenn er lange im Gebrauch ist und nicht sorgfältig behandelt
wird, so verschiedenartige Abdrücke, daß man sehr leicht bei zu kritischer
Nachprüfung aus diesen Unterschieden auf Verschiedenheit der Stempel, wie
etwa bei den Münzstempeln, zu schließen veranlaßt wird. Und dieser Irrtum
ist Posse beim Beginne seiner Arbeit offenbar öfter untergelaufen. Später
hat er diesen Verschiedenheiten gegenüber einen richtigeren Standpunkt
eingenommen; daher ist auch für die späteren Kaiser nicht mehr eine
solche Fülle von Varianten bei ihm zu finden. Seine diesbezüglichen Auf¬
stellungen möchten daher zu überprüfen und kaum ohne Weiteres als
Grundlage weiterer Schlüsse zu benutzen sain.
Zu dem S. 83 erwähnten Landfriedenssiegel Erzbischofs Friedrichs HL
von Köln (1379—1414) ist zu bemerken, daß schon Erzbischof Heinrich U.
(1300—1332) ein ebensolches Siegel führte (meine »Siegel* Tafel HI, lg).
Die S. 89 ff. besprochenen, besonders in Nordeuropa vorkommenden
»Münzsiegel* dürften Nachbildungen von Bullen in billigerem und leichter
zu bearbeitendem Materiale sein.
Zu dem S. 95 behandelten Gebrauch behördliche Siegel rückwärts mit
dem persönlichen Siegel des verantwortlichen Beamten zu bedrucken, bieten
noch die Siegel der Herforder Bürgermeister auf der Rückseite des großen
Stadtsiegel eine unterrichtende Parallele (vgL Th. Ilgen Westf. Siegel d.
M. Band IV Sp. 6).
Die auf S. 101 sich findenden Bemerkungen über die rechtliche Be¬
deutung der Sekretsiegel hätte man gerne mit den Darlegungen auf S. 93 ff
verbunden gesehen: man würde dadurch wohl einen klareren Überblick
über die Entwicklung dieser Siegelart gewinnen können: ihr erstes Aul¬
treten in England, ihre ursprüngliche Bedeutung in diesem ihrem Mutter -
lande, ihre allmählige Verbreitung in weitere Kreise und die dadurch be¬
dingte Abwandlung ihrer rechtlichen Bedeutung in de l verschiedenen
Ländern, schließlich ihre Verschmelzung mit anderen Siegclarten. Ob die
von Ewald wahrscheinlich gemachte ursprüngliche Beschränkung der Sekret-
siegel auf viri autentici auch später und außerhalb Englands noch im
Brauche gewesen ist, möchte zweifelhaft sein. In allen diesen Dingen hat
die Mode mehr gewirkt, als Gesetz, Recht und Vorschrift.
Literatur.
515
Die S. 104 ff. gegebenen Beispiele für die Vererbung von Siegeln
lassen sich leicht vermehren, wie auch Ewald ja selbst andeutet; der Be¬
deutung der Siegelführer entsprechend möchte ich noch einige z. T. bisher
nicht erkannte oder wenigstens nicht ausdrücklich bemerkte beifügen: die
Weiterführung des herrlichen Reitersiegels Friedrichs L, Kurfürsten von
Brandenburg, durch seinen Sohn Friedrich n., die von Posse in den Wettiner
Siegeln nicht bemerkte Umarbeitung des Reitersiegels Landgrafs Ludwig von
Thüringen für seinen Bruder Heinrich Raspe (meine »Siegel*Tafel IV Nr. 9).
Auch bei den Grafen von Schaumburg finden sich so weit gehende Über¬
einstimmungen, daß man auf vererbte durch Zufügung von Beizeichen und
Umänderung der Umschriften differenzierte Stempel schließen muß; vgl.
[Milde], Siegel der Hol&tein-Schaumberger Grafen Nr. 5 und 16; 14 und
31; 39 und 50.
Zu den Archiven, in welchen größere Sammlungen mittelalterlicher
Typare aufbewahrt werden, wären wohl auch noch u. A. Berlin, Hannover, Mar¬
burg und Münster zu zählen. Da die in den Archiven von Alters her
hinterlegten Siegelstempel die Vermutung der Echtheit für sich haben,
wäre ihre Zusammenstellung gegenüber der immer mehr zunehmenden
Masse von Fälschungen auf diesem Gebiete sehr erwünscht.
Auf S. 12 3 ff. werden die Stoffe, aus welchen mittelalterliche Stempel
gefertigt wurden, besprochen. Bei der Verwendung von Blei kommt wohl
auch in Frage, daß es wegen seiner großen Weichheit sehr schnell und
mit sehr einfachen Werkzeugen bearbeitet werden konnte. Unter den eben¬
falls leicht herzustellenden Schieferstempeln finden sich zweifellos manche
späte Fälschungen (vgl. S. 231); daneben wurde zu solchen Fälschungen
sehr häufig auch der anfangs weiche, an der Luft sich erhärtende Speck¬
stein benutzt. Im Staatsarchive Osnabrück befand sich eine ganze Sammlung
solcher, z. T. künstlerisch gut ausgeführter Fälschungen, welche offenbar
einem Gauner, der falsche Ausweispapiere lieferte, abgenommen worden
waren. Bei der Aufführung des Elfenbeins als Stempelstoff vermisse ich
einen Rückverweis auf das S. 101 erwähnte vetus oaseum sigillum.
Zu S. 129. Auf älteren Siegelabdrücken sieht man außer dem Ab¬
drucke der am Stempel angebrachten Öse auch noch Abdrücke der durch
dis Öse gezogenen Kette (Meine »Siegel*Tafel I Nr. 2, 6). Zu S. 132.
Schwarzstempel möchten in Deutschland zuerst von Notaren zur Anbringung
ihrer Signete in Gebrauch genommen sein; ich finde sie in der Münster’schen
Notariatsmatrikel schon seit 1581 verwendet: die Färbung ist wohl zu¬
erst einfach durch Ruß hergestellt, den man dadurch auf den Stempel
brachte, daß man eine Kerze dagegen anblaken ließ.
Zu S. 145. Die vergoldete Silberbulle, welche Heineccius erwähnt,
erscheint in keiner Weise begxaubigt. Schaten spricht a. a. 0. nur von
einer Bulla inaurata, sagt aber nicht, daß sie silbern gewesen sei, wie denn
überhaupt der Ausdruck unklar ist; alles Sichere, was wir über diese Bulle
wissen, habe ich in Kaiserurkunden der Provinz Westfalen H S. 163 zu¬
sammengetragen. Zu S. 147. Von der Goldbulle König Konrads HL ist
mir auch kein Original, wohl aber eine Zeichnung bekannt, welche ich in
Kaiserurkunden der Provinz Westfalen H S. 403 erwähnt habe. Über die
der Stadt Florenz von Papst Leo X. verliehene, S. 155 erwähnte Bulle hat
516
Literatur.
Cesare Paoli in den Miscellanea Fiorentina Anno I Nr. 4 (Aprile 1886)
eine kleine Abhandlung unter Beigabe einer guten Abbildung veröffentlicht
Zu S. 163. Zu den ältesten ,Münzsiegeln € in Deutschland gehören
wohl die Doppelsiegel der Landgrafen von Thüringen. YgL 0. Posse, Wet¬
tiner Siegel II, 4 und XIII, 4.
Zu 165 ff. Es wäre sehr erwünscht, wenn die ältesten Hängesiegel
einmal eingehender untersucht würden, um die Frage zu entscheiden, welche
Gründe dazu geführt haben, diese doch keineswegs ideale Befestigungs¬
weise der Siegel an Urkunden zu so weitgehender Geltung zu bringen.
Ich habe (Reichskanzlei unter den letzten Staufern Sp. 55) die Vermutung
geäußert, daß eine Nachahmung der Bleibullen vorliegt, welche bezweckte,
mit den unten aus dem Siegel heraushängenden Schnürenden (Schleifen),
die Urkunden verschließen zu können. Zu S. 168. Die aufgedruckten
Wachssiegel unter Papierdecke kommen schon in der Kanzlei Karls IV.
häufig vor, (Vgl. meine »Siegel* Tafel XID, 3 und Th. Lindner, Das Ur¬
kundenwesen Karls IV, und seiner Nachfolger, S. 8 ff.). Zu S. 147. Die
rotgelben Seidenfäden sind Pur die päpstlichen Bullen in Gnadensachen etwa
seit 1200 regelmäßig in Gebrauch; die Hanffäden, Bindfäden, sind nie
gefärbt. Allerdings wird seit dem 15. Jahrhundert etwa die Seide so stark
mit anderen Fäden gemischt, daß man die Mischung kaum mehr als Seide
erkennen und bezeichnen kann.
Zu den S. 175 erwähnten päpstlichen Goldbullen wären noch meine
Bemerkungen in den Mitt d. Inst XIV. 126/128 über eine Goldbulle
Pius* VI. nachzutragen.
Zu den Seiten 177, 178, auf welchen das Siegel als Verschlußmittel
besprochen wird, wäre hinzuzufügen, daß zur Karolingerzeit Pergamentbriefe
auch durch um das zusammengefaltete Schriftstück gelegte und oben ver¬
siegelte Pergamentstreifen verschlossen wurden; ein Beispiel K.-U. i. A.
I, 75.
Bei der Besprechung der Gemmensiegel auf S. 183 ff. hätte wohl aus
Pietät die älteste darauf bezügliche, in ihrer Art vorzügliche Abhandlung
von J. Wiggert, »Wie man im Mittelalter Antike Gemmen zu Siegel¬
stempeln benützte? Halle 1844* Erwähnung verdient.
Über die Porträtähnlichkeit der Siegelbilder wären außer dem S. 180
Anm. 4 erwähnten Buche von Max Kemmerich auch noch seine weiteren
Arbeiten auf diesem Gebiete z. B. sein Aufsatz im »Neuen Archiv* XXXTTI
S. 451—513 und meine Besprechung desselben ebenda XXXIV S. 523—
535 anzuführen gewesen.
Die auf S. 192 nachgewiesene Abhängigkeit des deutschen Königs-
siegeltypus von französischen Vorbildern möchte wohl auch schon bei den
Siegeln Ludwigs des Bayern und Karls IV. festzustellen sein.
Zu S. 197 ist zu bemerken, daß das Rücksiegel Wenzels auf der Brust
des Doppeladlers nicht den luxemburgischen Löwen im mehrfach geteilten
Schilde, sondern den doppelgeschwänzten böhmischen Löwen zeigt.
Zu S. 202 »Reitersiegel und Standbildsiegel* ist zu betonen, daß
»Bildsiegel* nur ganz vereinzelt von einfachen Adelspersonen geführt werden.
Man muß das daher wohl für Anmaßung erklären, dabei aber beachten,
daß diese Adeligen durchweg andere Symbole führen, als die Mitglieder
des hohen Adels und wenn sie dieselben führen, z. B. das Schwert, sie sie
Literatur.
517
anders handhaben. VgL dazu meine »Siegel* Tafel VI 1—3 zusammen-
gehalten mit den Pürstensiegeln auf Tafel IV. Es würde sich wohl lohnen,
über den eigenartigen Gebrauch der Hoheitszeichen auf Münzen und Siegeln
in weiterer Ausführung der darüber vorhandenen ganz spärlichen Literatur
z. B. R. Börger, Belehnungen der deutschen Pürsten nach dem Wormser
Konkordat, Leipziger Dissert. von 1900/1901 S. 33 f. eine eingehende Unter¬
suchung anzustellen.
Auf S. 205 könnte auch noch das von Alwin Schultz in seinen
^ Schlesischen Siegeln bis 1250* Tafel H, 14 abgebildete Siegel Herzog Kon-
rads H. von Glogau Erwähnung finden, dem von einem Turme aus eine weib¬
liche (?) Gestalt den Helm reicht.
‘Zu S. 207. Kommen wirklich auf Siegeln aus dem Ende des
13. Jahrhunderts schon Schildhalter vor? Für Deutschland ist mir kein
Beispiel bekannt.
Die S. 211 ganz kurz berührte Präge der Hausmarkensiegel und ihr
Verhältnis zu den Wappensiegeln verdiente einmal eine eingehende Unter¬
suchung und Behandlung. Einiges Material dazu bieten meine »Siegel*
Tafel VI, 33—45. Weitere Ausbeute gewähren Bübels Dortmunder U.-B.,
Ergänzungsband Tafel IV, 1—3, [Milde], Mittelalterliche Siegel aus den
Archiven der Stadt Lübeck, Bürgersiegel. Man gewinnt den Eindruck, daß
die bürgerlichen Altfreien zuerst mit ihren Marken (Handgemal?) gesiegelt,
dann aber nach und nach Wappen angenommen haben, während die in die
Städte eingewanderten ritterbürtigen Familien ihre Wappen mitgebracht
und in den Städten weitergefuhrt haben. Beispiele ließen sich dafür u. A.
aus Münster i/W., Soest und sonst beibringen.
Auf S. 212 hätte die rechtliche Bedeutung der Stadtherrenwappen auf
Stadtsiegeln wohl eine schärfere Fassung und stärkere Betonung erheischt;
diese Wappen sind doch wohl in den weitaus meisten Fällen als Hoheits¬
zeichen gedacht und dementsprechend widerstrebenden Städten gelegentlich
aufgezwungen worden.
Zu S. 217. Schon Konrad von Diepholz, Bischof von Osnabrück (1455
—1482) führt ein Siegel mit Schild und Helm und auf dem Siegel des
Paderbomer Bischofs Rembert von Kerssenbrok liegt der Schild auf zwei
gekreuzten Bischofstäben (meine »Siegel* Tafel IX 26, 28).
Zu S. 218. Die Typen der AbtaBiegel folgen zeitlich in gemessenen
Abständen den Typen der Bischofssiege], (Vgl. meine »Siegel*Tafel IX
und X).
Auf S. 223 hätten auch noch die deutlich auf die Heimlichkeit hin¬
weisenden Umschriften von Sekretsiegeln: hic latet secretum littere, Holt
dit faste, Secretum meum michi, Hic latet clavis aigilli u. s. w. Erwähnung
finden können.
Die S. 224 besprochene Trennung der Umschrift vom Siegelfelde bietet
ein nicht unwichtiges Erkennungszeichen für das Alter der Stempel. Regel¬
mäßig findet, sie sich in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahr¬
hunderts bei Wachssiegeln, während sie auf Metallbullen schon erheblich
früher vorkommt. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird die
Trennungslinie bei mitteldeutschen Siegel (vgl. meine »Siegel*Tafel IV, 5,
11; VII, 13) stark vervielfältigt und füllt einen Teil des Siegelfeldes. Später
wird sie oft gekerbt, geperlt, von schwächeren Linien begleitet, um schließlich
34
518
Literatur.
im 15. Jahrhunderte profiliert zu werden und im 16. Jahrhunderte sich
bei Prunksiegeln in ein Blattgewinde zu verwandeln (meine » Siegel 4
z. B. Tafel II, 3). Bei Siegeln des 15. Jahrhunderts finden wir nicht selten
den Schild mit Kiemen in das Schriftband eingehängt oder eingeschlungen.
Zu den S. 225 erwähnten zweisprachigen Siegelumschriften könnte
noch die von Th. Ilgen im vierten Bande der Westf. Siegel d. Mittelalters
260, 27 veröffentlichte halbdeutsche und halbhebräische vom Siegel des
Mindener Juden Jesse hinzugefügt werden.
S. 225 ff. gibt Ewald einen übersichtlichen Auszug aus seinen ein¬
gehenden Darlegungen über Siegelbetrug und Siegelmißbrauch, welche er
in der »Westdeutschen Zeitschrift* Bd. 30 veröffentlicht hat. Es läßt sich
nicht leugnen, daß er in diesen Auseinandersetzungen viel tiefer in die
Sache eingedrungen ist und sie vielseitiger angefaßt hat, als seine Vorgänger.
Trotzdem möchte man wünschen, daß gerade er diese wichtigen Fragen
noch einmal durcharbeitete. Ich vermisse z. B. noch den Fall, in welchem
eine an sich echte Urkunde mit einem falschen, d. h. entweder überhaupt
gefälschten oder doch nicht zugehörigen Siegel versehen würde. Dieses
Verfahren kann mit der Absicht des Betruges, aber auch aus Irrtum oder
Fahrlässigkeit angewendet sein. Besonders die nur sehr unvollkommen mit
den Urkunden verbundenen Goldbullen gaben hierzu Veranlassung. So fand
ich an einer unzweifelhaft echten Urkunde Kaiser Friedrichs II. im Vati¬
kanischen Archive das ebenfalls unzweifelhaft echte Goldsiegel des sizilischen
Königs Friedrichs (Herzogs von Neopaktria und Athen) *) befestigt Als ich
den damaligen Vorstand des Archives Mons. Balan auf den Tatbestand auf¬
merksam machte, erklärte er mir lächelnd, das nähme ihn nicht Wunder.
Bei der Überführung des Archives nach Frankreich am Anfänge des 19. Jahr¬
hunderts habe man die Goldbullen, um sie gegen Diebstahl zu sichern, von
den Urkunden abgenommen und unter besonderen Verschluß gebracht Nach
Bückkehr des Archivs nach Born habe man dann die Bullen nach Mög¬
lichkeit mit ihren Urkunden wieder verbunden; dabei könne jedoch leicht ein
Irrtum untergelaufen sein. Warum sollen solche Irrtümer nicht auch an an¬
deren Orten und zu anderer Zeit vorgekommen sein?
Zu den zahlreichen auf S. 229 behandelten Fälschungsarten möchte
noch folgende hinzuzufugen sein. Man befestigte auch echte Siegel an
Fälschungen und zwar besonders an Pergamentstreifen hängende, indem
man von der Kückseite des Siegels oben etwas ausbrach und darauf den
Pergamentstreifen innerhalb des Siegels durchschnitt. Man konnte dann das
Siegel, ohne es irgend weiter zu beschädigen, bequem von seiner Urkunde
abnehmen und an einer Fäschung anhängen; man mußte nur das durch¬
geschnittene Ende des Pergamentstreifens wieder in das Siegel hineinstecken
und das Loch mit Wachs wieder ausfüllen; auf diese Weise sind eine ganze
Anzahl von gefälschten Urkunden des Klosters Dahlheim im Staatsarchive
Münster i/W. mit echten Siegeln versehen.
Zu dem auf S. 231 besprochenen Verfahren könnte noch als weiteres
Beispiel die Tatsache hinzugefügt werden, daß an mehreren gefälschten Erz¬
bischofs-Urkunden des ehemaligen St. Kunibertsstiftes in Köln, welche jetzt
im St-A. Münster i/W. beruhen, das Stiftssiegel angebracht ist (eine dieser
*) Vgl. meine Reichskanzlei unter den letzten Staufern Tafel VH 5.
Literatur.
519
Urkunden erwähnt Knipping, Anna], d. hist. Vereins f. d. Niederrhein LXV,
-S. 205).
Die zweite von Felix Hanptmann gefertigte Hälfte des Bandes ein¬
gehend zn besprechen, fühle ich mich nicht veranlaßt; denn ich bedanre,
ihr nicht dieselbe Anerkennung zn Teil werden lassen zn können, wie der
ersten. Hier findet sich weder so viel neues Material herangezogen noch
stößt man auf so viel neue und richtige Gesichtspunkte, wie in der ersten.
Der Herr Verfasser, der auf dem von ihm bearbeiteten Felde eine gewisse
Autorität besitzt, hat zu sehr bei seiner Arbeit die schriftlichen Quellen
betont, zu wenig das Leben belauscht. Man kann doch wohl auf einem
Gebiete von Gesetz und Recht nicht reden, auf dem die Entwicklung ja
die Mode alles regelt. Ferner begegnet man an mehr wie an einer Stelle
sehr bestimmt ausgesprochenen Ansichten, welche mit den Tatsachen schwer
vereinbar sind (z. B. sind die S. 24 zu Tafel 3, Nr. 124 und 125 gege-
gebenen Erklärungen unrichtig. Zu S. 33 der Tumierkragen ist selbständiges
Wappenbild z. B. bei den westfi Familien Morrien, Grothus, Malmann,
Senden, v. d. Lippe pp. S. 40 Städtewappen als Zeichen der Wehrhaftigkeit.
S. 57 regelmäßige Verleihung von Wappen an neugegründete Städte.
Die ganze Darlegung über die Wappenfähigkeit auf S. 56 ist höchst
anfechtbar, eben so viele der zeitlichen Ansätze.
Sehr dankenswert und sehr wertvoll ist die Zusammenstellung der
Literatur auf S. 5 fL, nur wird auf S. 9 dem Nichteingeweihten kaum zum
Bewußtsein kommen, daß der oben genannte Karl Ritter von Mayer und
der unten erwähnte Mayerfels dieselbe Persönlichkeit darstellen.
Münster i/W. F. Philippi.
Nagl Alfred, Die Rechentafel der Alten. Wien, Holder,
1914. 8°. 86 S. u. 2 Tafeln. Preis: 3 K. (S.-A. aus Sitzungsber. d.
kais. Akad. <L Wiss. PhiL-hist Kl. 177/5).
Diese Arbeit kann in Bezug auf das Abakusrechnen der Alten nach
Maßgabe der vorhandenen Denkmäler als abschließend betrachtet werden.
Sie berichtigt die Aufstellungen des bisher über diesen Gegenstand haupt¬
sächlich zu Rate gezogenen Artikels »Abakus* von Hultsch in Pauly-
W 1880 was Real-Enzyklopädie d. kL A. in wesentlichen Punkten. Insbe¬
sondere wird der resignierte Satz: »Auf Multiplikationen und Divisionen
darf nicht einmal vermutungsweise eingegangen werden, da die Tafel
von Salamis keinen Anlaß dafür bietet* in überzeugenden Ausführungen
widerlegt, die im Archimedischen Stellenwertsatze gipfeln. Von großem
Interesse ist auch das Kapitel über die »Distributio* des Juristen Volu-
aius Maecianus. Es fallen hier Streiflichter auf die so wenig bekannte
römische Buchführung und manche Schwierigkeiten des Währungswesens,
deren selbst Mommsen nicht Herr zu werden vermochte, finden durch
Berücksichtigung des Abakusrechnens ihre überraschend einfache Lösung.
Die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge treten allenthalben klar hervor,
und manche feine Bemerkung bezeugt die Sachkunde und den Scharfblick
des’ Verfassers, z. B. S. 05 über das Hineintragen räumlicher Vorstellungen
34*
520
Literatur.
in die Rechnung. Gleichwohl kann ich der Ansicht* die Logistik sei von
den Griechen als ein Zweig der Geometrie betrachtet worden, nicht bei¬
pflichten; denn sie war ja überhaupt aus dem Rahmen der freien Wissen¬
schaften ausgeschlossen. Druckfehler bemerkte ich nur S. 75 Anm. 1, Z. 5
senis statt semis; S. 9 Anm. 1 gcoftpjv gen. fern, statt masc. Die Ver¬
weisung S. 19 Anm. 1 ist allzu ungenau.
Seitenstetten. A. Sturm.
Konstantin der Große und seine Zeit Gesammelte Studien.
Festgabe zum Konstantins-Jubiläum 1913 und zum goldenen Priester¬
jubiläum von Mgr. Dr. A. de Waal. ln Verbindung mit Freunden
des deutschen Campo Santo in Rom herausgegeben Ton Dr. Franz J.
Do lg er, Prof, in Münster i. W. Mit 22 Tafeln und 7 Abbildungen
im Text Herder, Freiburg i. B. 1913. (XEX. Supplementheft der Rö¬
mischen Quartalschrift). XII und 448 Seiten. M. 20*—.
Kirchengeschichtliche Festgabe, Anton de Waal zum
goldenen Priesterjubiläum (11. Oktober 1912) dargebracht*
Im Auftrag und in Verbindung mit den Kaplänen und Freunden des
deutschen Campo Santo in Rom herausgegeben von Dr. Franz X.
Seppelt, Privatdozent in Breslau. Mit zwei Tafeln und vie rAbbil¬
dungen. (XX. Supplementheft der Römischen Quartalschrift). XTV und
488 S. M. 16-—.
Wer je schon im Schatten des Petersdomes in den Mauern des Kol¬
legiums beim Friedhof der Deutschen geweilt und die große Bedeutung
dieser Stätte deutscher Wissenschaft unmittelbar bei dem bedeutendsten
Archiv und der kostbarsten Bibliothek der Welt gewürdigt hat, der kannte
auch die reiche Segensflut, die von diesem Institut sich über deutsche Kultur
und deutsche Wissenschaft ergossen hat, und diejenigen, die seit 40 Jahren
den Campo Santo besucht und seinen Rektor kennen lernten, wissen auch
das unbestreitbare hohe Verdienst dieses Gelehrten um die Erschließung der
römischen Schätze und seine vielfachen Anregungen auf ganze Generationen
junger Forscher noch höher einzuschätzen, als die gesamte Gelehrten weit
dies schon tut. So ist es denn nicht zu verwundern, wenn ein Jubeltag
dieses Nestors deutscher Arbeit im Ausland Anlaß zu zwei so umfang¬
reichen Publikationen geworden ist, an denen durchwegs erstklassige Spe¬
zialisten gearbeitet haben, die einst als Kapläne oder Gäste an dieser Ge¬
lehrtenschule unter dem Rektorat de Waals gestanden und dort den Grund
zu ihrer Lebensarbeit gelegt haben. Die beiden Jubelgaben, die ebenso
ehrendes Zeugnis für den Jubilar wie für den Spender ablegen, erscheinen
zwar dem äußeren Gewände nur als Supplementhefte der römischen Quar¬
talschrift, eben der Schrift, welche dem Prälaten ihr Entstehen (1887) ver¬
dankt, doch ist der Umfang der beiden Sammlungen ein so großer und
der Inhalt ein so mannigfaltiger, daß es unmöglich erscheint, im Rahmen
einer Besprechung auch nur die Titel der Beiträge aufzuführen. Enthält
ja der von Dölger gasammelte Band nicht weniger als 19 Aufsätze, zum
Literatur.
521
Teil von so beträchtlichem Umfang, daß sie bei selbständigem Erscheinen
mehr Beachtung finden würden; ebenso umfaßt die zweite Sammlung
17 Beiträge. Wenn Dölger meint, daß eine Festschrift, die zwar zum
Jubiläum des Rektors de Waal erscheinen, dabei auch dem konstantinischen
Jubiläum gewidmet sein soll, wegen der Freiheit der Mitarbeiter bezüglich
der Wahl ihrer Themen durchaus kein einheitlich geschlossenes Bild er¬
geben kann, so mag er damit Recht haben, doch wird niemand von
einer Festgabe ein solches erwarten, wenn sie sich auch »Konstantin der
Große und seine Zeit* betitelt. Denn allgemeine Darstellungen Konstantins
haben wir ja gerade genug. Wenn also der Herausgeber das Ziel einer
allseitigen Darstellung Konstantins oder eine Reihe ineinandergreifender
Themen nicht erreichte, so braucht er deshalb noch nicht feierlich zu ver¬
sprechen, er wolle niemals wieder eine Festschrift redigieren. Müßte denn
nicht eine Detailbehandlung dieses Themas nach allen Seiten hin, von Fach¬
männern bearbeitet, zu einer ganzen Reihe von Bänden führen? Gesteht
denn nicht der Herausgeber von sich selbst, daß seine eigenen geplanten
Beiträge unter der Hand so anwuchsen, daß er sie aus der Festschrift
herausnehmen mußte, um sie als selbständige Arbeit zu veröffentlichen? So
sind wir denn mehr als zufrieden, wenn wir nur einzelne Fragen des großen
Themas beleuchtet sehen, aber in einer Beleuchtung, die nur von Autori¬
täten auf ihren Forschungsgebieten erzielt werden kann. Nur acht Auf¬
sätze beschäftigen sich mit historischen Fragen; so schreibt der Herausgeber
Dölger selbst über »die Taufe Konstantins und ihre Probleme*, E. Krebs
über die Religion im Römerreich zu Beginn des IV. Jahrhunderts (eine
sehr gute Übersicht!), Wickenhauser über die »Frage nach der Existenz
von nizänischen Synodalprotokollen* (die Frage kann nur als »höchst wahr¬
scheinlich* im bejahenden Sinn gelöst, ein Beweis kann nicht erbracht
werden), Kirsch über die römischen Titelkirchen zur konstantinischen Zeit
u. s. w. Der größere Teil der Beiträge, elf an der Zahl, ist von Kunst¬
historikern geliefert worden. So bietet A. Baumstark »Konstantiniana aus
syrischer Kunst und Liturgie* (auf Konstantin bezügliche Illustrationen in
syrischen Handschriften), Herzog Johann Georg von Sachsen eine kleine
Studie »Konstantin der Große und die heilige Helena in der Kunst des
christlichen Orients* (hebt die interessante Tatsache hervor, daß beide als
Heilige im Orient verehrt, daher auch regelmäßig gemeinsam dargestellt
werden), Heinrich Swoboda beschreibt ein Bronzemonogramm Christi aus
Aquileja, das zwar nicht aus der Konstantinischen Zeit selbst stammt, aber
dem Labarum in der Form sehr nahe steht, J. Wilpert die Malereien der
Grabkammer des Trebius Justus, eines Christen, mit Darstellungen aus seinem
Leben, J. Strzygowski sieht »die Bedeutung der Gründung Konstantinopels
für die Entwicklung der christlichen Kunst* darin, daß Konstantinopel die
großen asiatischen Kulturen von Persien, Indien und China mit ihren
Formenschätzen dem okzidentalen Mittelalter vermittelte. Daß die Tafeln
im Anhang dem Ganzen de? Werkes sich würdig einfugen, braucht nicht
erst betont zu werden; eine Reihe von Druckseiten ist dmiA** ilr *** ^hen
der Druckerei falsch eingestellt (S. 130—143). — Die zweit \
de Waals von Seppelt gesammelte »Kirchengeschichtli 1
enthält im ersten Teil (Beiträge zur Geschichte der Km
weniger umfangreiche Artikel und zwar einen über »däl
522
Literatur.
päpstlichen Pönitentiarie* von Emil Göller, der so glücklich war, das bisher
seit der napoleonischen Zeit verloren geglaubte Archiv in Rom wieder zu
entdecken — die Registerbände beginnen mit dem Pontifikat Alexanders V. —
weiter einen Beitrag »Zur Entstehungsgeschichte der römischen Rota als
Kollegialgericht« von Franz Egon Schneider, der nachweist, daß die Rota
schon am Ende des 13. Jahrhunderts als Kollegialgericht fungierte, wenn
auch das Urteil als Entscheidung eines einzelnen Auditors erschien, drittens
eine Darstellung von Heinrich Zimmermann, »Die päpstliche Legation zu
Beginn des X1IL Jahrh. im Dienste der Kreuzpredigt, Inquisition und
Kollektorie« betreffend. Der an dritter Stelle eingereihte Aufsatz aus der
Feder Paul Maria Baumgartens, »über einige päpstliche Kanzleibeamte des
13. und 14. Jahrh.« soll Ergänzungen zu den diesbezüglichen Ausführungen
in Bresslau’s Handbuch der Urkundenlehre bringen; besonders ausführlich
geht der Verfasser auf mehrere Vizekanzler der päpstlichen Kanzlei dieser
Zeit und ihre Tätigkeit ein. Die zweite Serie bringt sechs Artikel über
»Deutsche in Rom und an der Kurie«: als Beispiel sei nur die Schilderung
des Aufenthalts des »Kardinals Otto Truchsess von Augsburg zu Rom 1559
—1563« (in Sachen der Reformation) von Stephan Ehses genannt* die
dritte Serie (»Varia« mit 7 Aufsätzen) enthält eine Studie vou Franz Ehrle
über »Die Geschichte der drei ältesten päpstlichen Bibliotheken«, nämlich
die älteste (bis zum 13. Jahrh., die sog. Bonifazianhche (aus dem 13. Jahrh.)
und die avignonesische. Die Namen der übrigen Verfasser wie Konrad Eubel*
Lambert Schulte, Josef Schmidlin (Rom und die Missionen) u. s. w. sind
so rühmlich bekannt, daß ihre Nennung allein dazu genügt, auch diese
zweite Festgabe als ein in Ehren bestehendes Denkmal deutscher Forschung
auf römischem Boden bezeichnen zu können.
Graz. Ernst Tomek.
Die slawischen Sprachelemente in den Ortsnamen
der deutsch-österreichischen Alpenländer zwischen Drau
und Donau. Von Dr. J. Stur. Sitz.-Ber. d. kais. Akad. d. Wissensch.
in Wien. PhiL-hist. Klasse. B. 176, Abh. 6. S. 102.
Bei der Besprechung der Arbeit Stur’s beschränke ich mich auf Orts¬
namen vornehmlich auf die aus Osttirol und Salzburg. In der Einleitung
werden geschichtliche Begebenheiten angeführt. Da erscheinen auch die
Goten in Tirol und Gossensaß, der Gotensitz und noch anderes, was aus
Steubs Herbsttage 160 ff. geschöpft ward, ohne Steub zu nennen. Gossensaß,
urk. Gozzinsazze Steub Zur rhätischen Ethnologie S. 103; Gocensaz
1218 Acta Tirolensia I n. 544, Gozzensaz^ Gozzensas, Gossensass
Archvberichte aus Tirol 14., 15. Jh. II n. 1667 f. 1879, 1916, 1991, ist
der Sitz eines Gozzo, Godizo, Gotizo Förstemann PN. 659, nicht Gotensitz.
Den Zweck, den der Verfasser erreichen will, ist der, an »rund
500 Ortsnamen und alten Namenformen aus dem 9. bis 12. Jh. historisch
und philologisch nachzuweisen, wie sich die einstige Slawizität der öster¬
reichischen Alpenländer in der topographischen Nomenklatur bis heute er¬
halten hat«. S. 34 f. Verstehe ich das recht, will der Verfasser eine be-
Literatur.
523
scheidene Anzahl slawischer Ortsnamen mit möglichst vielen urkundlichen
Belegen vorfuhren. Weil er aber vom einschlägigen Schrifttum nicht viel,
von den Quellenwerken nur wenig kennt, muß er mehr als ein Drittel der
Ortsnamen ohne alte oder junge Namenformen erklären. Viele Ortsnamen,
die geboten werden, behandelt Friedrich Umlauft in Geographisches Namen¬
buch von Österreich-Ungarn, Wien 1886. Dort findet man in den meisten
Fällen dieselbe Erklärung der Namen, dieselben urkundlichen Belege in
entsprechender Auswahl.
Die slawischen Wort- und Namenbildungsmittel -ik- und -iz- (Miklosich
Appellativs 1, 19f., 20 f.), werden beliebig für einander eingesetzt, auch
wo Urkunden den heutigen Formen entsprechend nur -ik- bieten. So bei
Asling S. 62, Döbling 36, Gamring 37, Perschling 41, Raming 44, Sir-
ning 47, Tristing 48 u. a. In Steiermark kommt dieser Wechsel mitunter
vor; in Tirol ist er unbekannt. In Kärnten kenne ich Lesentz 1336
Görzer Urbar 1 ) heute Lessnig bei Sachsenburg. Auf jeden Fall ist diese
Verwechslung nicht Regel sondern Ausnahme.
Aus Salzburg werden von Stur 19 Ortsnamen angeführt; es fehlen
viele wirklich slawische Ortsnamen, wie ich weiter unten zeigen werde.
Von denen, die der Verfasser beistellt, sind 3 deutsch, 2 romanisch.
B1 e s a c h-Kogel n. des Venedigers (Stur schreibt Bleßack) ist deutsch bleßach
von bleße, blöße, kahle Stelle am Abhange eines Berges, mit Schutt oder
Gestein bedeckt, Grasplatz — Wagrein ist Wogen- oder Wasserrein; die
Bedeutung stimmt zur Lage. Vgl. Umlauft S. 263 und Wagram s. Graz
mit hochem Wasserreine — St. Gilgen in Salzburg, die Gilgenberge
in Österreich ob und unter der Enns, der Gilgberg, St. Ilgen und
St. Ilgenertal in Steiermark, sowie die 8. Gilgentage, die Stur in
Urkunden der Stifte Göttweig und Klosterneuburg gefunden S. 53, 57,
S3, 87 stimmen mit den deutschen Namenformen dieses Heiligen, die an¬
derwärts in deutschen Landen Vorkommen, vollkommen überein; mit dem
tschechischen Jilji, falls er nicht gar aus dem deutsehen geborgt ist,,
haben sie nur das gemeinsam, daß alle vom griecli. Aigidios abstammen.
VgL Schmeller, Bayr. Wb. 2 I 902 und die Taufnamen Gilg, Gilig,
Gillig, den Familiennamen Gilger an verschiedenen Orten des untern
Inntales; das S. Giligen-Gilgengotteshaus zu Schwendt an der
bayerischen Grenze und die St. Gilgen tage in Urkunden des 14., 15.*
16. Jh. Archiv-Berichte aus Tirol II n. 723; IV n. 411, 659, 941, 1018,
1086, 1340, 1353, 1368, 1426, 1591, 1581 ff., 1632, 1643, 1750,
1808, 1810.
Gnigl, zwei Orte n. Salzburg, war früher Bachname: in fluvio Gnigl
dicto 1271; unz in ain wass?r, haisset die Gnigel 1405; Grienberger,
Romanische Ortsnamen in Salzburg 1886 S. 36. Darin steckt aqua cuni-
cola Grabenbach, lat. cunicu'us Kanal, Grube — Grödig, Gredig heißt
i. J. 788 ad Cretica; dann Grethica, in villa Grettich 12. Jh. in
*) Ich setze Ihr das Urbar das Jahr 1336. In der Umgebung von Lienz er¬
scheint sechsmal als Besitzerin doinina (mea) senior. Diese war Beatrix, die Mutter
des Grafen Johann Heinrich 1320—1338. Dieser war zwei Jahre alt, als er die
Regierung antrat; 1336 heiratete er eine Tochter Friedrich des Schönen von Öster¬
reich, 1338 starb er. Beatrix kann vom Jahre 1336 an doinina mea senior heißen.
Vgl. 0. Redlich, Acta Tirolensia I Einleitung LXI.
524
Literatur.
Gredich 1334; Grienberger, Die Ortsnamen des Indiculus Arnonis etc.
1886 S. 27 f. Roman. ON. 40 f. Steubiana 1887 S. 10.
In Cretica suche ich aqua, villa cretica von creto, lat. crepitus
Spalt, Riß in übertragener Bedeutung. Vgl. Schneller, Tirol. Namenfor¬
schungen, Innsbruck 1890 S. 180 A. 2. Grödig liegt am Almkanal, der
unfern des Ortes aus dem Almbach abgeleitet wird. Dieser durchtost vor
dem Austritte in die Ebene eine wilde Felsenschlucht, Hangender Stein
genannt.
Lungau, urk. Longave, Longovve u. a. ist keine Zwitterbildung
aus altslaw. lagu. slov. log. Wald, Aue * deutsche Au; slaw. lagova, lagava
— longava, longova führen zum gleichen Ergebnis. Miklosich AppelL
II 297.
In der Südostecke des Kronlandes, Generalstabskarte Zone 17, col. 9
finde ich folgende bei Stur fehlende slawische Ortsnamen: Begoriach
Dorf = pod oder po -f- goriach, Unter-Amberger, slov. gora Berg — P1 a n-
kowitz Spitze = plankovica Plankenstein, slov. planka aus dem Roma¬
nischen oder Deutschen entlehnt — Gabreining Hof = koprivnik Keßler,
slov. kopriva Nessel — Golitsch Spitze = golica Blößenkofel, slov. gol
nackt — GrÖbnitzen Berg = grobnica Grabenstein, slov. grob Grab —
Granglitz Alpe, Alpenwiesen =- kronglica Scheibenalpe, slov. krog Run¬
dung— Lauschitz Alpe; Lanschützbach, Tal, Berg; Großlanschütz
Alpen wiesen; Oberlanschütz Ortschaft = lonöinica (nach Tiroler
Mustern) Naßfeld, Feuchtenwang, Au; altsl. a = tirol. on (o in der Mitte
zwischen a und o); altsl. laka, slov. löka Aue. Bei Lohnschitz in
Steiermark (S. 92) denkt Stur auch slov. loncar Töpfer! — Misslitz-Bach,
Tal, Alpe; vgl. Mislitz ö. Znaim in Mähren, von altsL mlzöti tropfen;
Miklosich Appell. H n. 367 — Morawitz Alpe = moravica, slaw. mo-
rava Aue, Rasenplatz Miklosich a. a. 0. 357 — Oblitzenberg = oblica
Kugelberg, slov. oblica Kugel — öllschützen Ortschaft, nach Tiroler
Mustern = olänica Erlach, slov. oläa Erle — Schrovin Kogel = scro-
vina gora Lueg, slov. scroven geheim — Steinitzenberg — stenica
Wandkofel, slov. stöna Wand — Zmülingwand = Pechwand, alov.
smola Pech, Harz; auch ein PN. smolnik, Pechklauber, Pechbrenner kann
im Namen stecken — Lug au, Dorf und Bach s. Dorf Gastein; zu Lukaw
1352, Lukaw 1337 in der Castaün (Gasteun), Jaksch, Archiv f. vater¬
ländische Gesch. u. Topographie Klagenfiirt 1900 S. 141 f. n. 57 u. 68:
slov. lökava von löka Aue. Daher stelle ich auch Luggau im Lesachtale
von Kärnten an der Grenze von Tirol; gg = k. Miklosich AppelL II 297
stellt diesen Namen mit Unrecht zu asl. lagü Wald.
Aus Ost tirol sind 73 Namen verzeichnet; es fehlen sehr viele, die
meisten Ortsnamen, auch solche, die in den von Stur benützten Pontes
rerum Austriacarum angeführt sind, z. B. Pregrat i. J. 1162 Font. rer.
Austr. 34 n. 93; Pregrad 1177 n. 133; Predegrad, Pregrad 1336
Görzer Urbar; zu Pregraden, 1386 E. v. Ottenthal, O. Redlich, Ajchiv-
Berichte aus Tirol IV n. 337; Pregraten 1601; Prägratten 1719,
Arch.-Ber. n. 339; so lautet auch die heutige Kanzleiform für Pregraten,
hintern Teil der Virgentales am Oberlaufe der IseL VgL tschech. Pred-
hradi, Miklosich Appell. II n. 122 = Vorburg. Predium Libinic h
1169 FRA. 34 S. 41; Libenich 1177 S. 46; Leibnik 1285 S. 173.
Literatur.
525
Leibnigg, zu vnnder Leibnigg 1545 Pustertalische Beschreibung;
heute Leibnig, Unter-, Ober-; sie bilden mit Oblaß die Gemeinde St. Jo¬
hann i. Walde im Iteltale nw. Lienz. Leibniz 1. Bach bei Leibnig und
Berggegend am Oberlaufe des Baches zwischen dem Hochschober und Priak;
mül an Leibniz Pach 1601 Salzburger Urbar. 2. Leibniz, Berggegend
bei Oblaß; Pergwisen gelegen under der albm in der großen Leibnitzen
1583 Salzb. Urb. heute Leibnizwald auf der Karte. Stur S. 63 »ohne
urkundliche Form*, leitet die Namen von slov. lipa Linde ab. Auf Berg¬
wiesen und Alpen sind auch zur Zeit, da die Slawen eindrangen, keine
Linden gewachsen. Gnila Lipa, Zlota Lipa, zwei Bäche in Galizien,
werden jetzt oft genannt. In diesen Namen heißt Lipa doch nicht Linde;
Faule Linde, Gelbe Linde ist selbst für genügsame Slawen keine entsprechende
Bezeichnung von Bächen; vielleicht verstanden sie darunter irgend eine Art
von Bächen. Von lipa sind Lipinik und Lipinica gebildet; die letztere ver¬
drängte später den alten Bachnamen.
Apud Bosanriza, lies Bosamiza basilica S. Michahelis um 1060
FRA. 31 S. 82. Bozsarinza bei Besch Aetas millenaria ecclesiae Inticensis
S. 93; plebanus de Poserniz 1336 Görzer Urbar, heute Pusarnitz Dorf
nordöstl. von Sachsenburg in Kärnten — poZaraica Brand, slov. pozar
Feuer. MikL app. II n. 419.
VII mansos iuxta Lazinich uulgo propter novitatem gerut appel-
latoe 1181 FRA. 31 S. 115; Laznich S. 117, heute Lassnitz bei
Murau in Steiermark. Hier ist die Übersetzung des slaw. Namens beige¬
fugt; slov. laz Kreut, Gereut. Stur S. 90 deutet Lass in g im Ennstal,
urk. Laznich u. a. mit asl. lagü Wald; das ist falsch.
Pusters novale 1091, iuxta Pvsters 1148, supra Pusters 1177
xl a. in monte q. d. Pusters 1196 u. s. w., bis 1327 Pustertz, 1427
am Pustricz sich einstellen, heute Pustritz in Kärnten; aus FRA. Die
Bildungsweise des Namens ist nicht slawisch, die Ableitung von pustarica
ist falsch. Strut 74, MikL app. II 512.
Zuerst muß ich einige Versehen Sturs berichtigen. Aegratl ist kein
Ortsname; so nennen die in Pregraten ein Gartl, Gärtlein. Aznicb in co-
mitatu Pustrissa; hier ist comitatu Pustrissa falsch; an der von Stur an¬
gezogenen Stelle heißt es in monte Aznic. Aznic lag in comitatu L u r n e n s i
Acta TiroL I n. 6*. Teischnitz und Duplago gehören natürlich nicht
zusammen; Teischnitz heißt ein Tal in Kais; Duplago i. J. 828 ist die
-älteste Namenform von Toblaeh, wie auch bei Tinkhauser Diöz. Brixen 1
492, den Stur ohne Band und Seitenzahl anfuhrt, zu ersehen ist. Den
Namen Pustertal leitet nicht Steub von slaw. bystriza ab, sondern
Miklosich, wie Steub in dem Büchlein Zur Namens- und Landeskunde der
deutschen Alpen S. 28 behauptet. Auch dies Werk wird, ohne die Seiten¬
zahl anzugeben, von Stur angeführt.
Den Namen Pustrissa-Pus^>ertal leitet Miklosieh Appell. II n. 512 von
asL pustü de8ertus ab. Alle Forscher, die mit diesem Namen sich be¬
fassen, nehmen diese Erklärmg auf. Huber Alfons, Geschichte Österreichs
I S. 57; Fr. Stolz, Zt„ Ferdinandeum 1906 S. 461 u. a. Darum muß kjh
•der Erklärung des Namens eine grundlegende Bemerkung vorausschk*^
Ums Jahr 800 zerfiel das heutige Pustertal in 3 Teile: 1. in den c<r
Pustrissa, 2. in die Frieisingische Herrschaft Innichen, 3. in den CC
526
Literatur.
Lurnensis. VgL Otto Stolz, Archiv für österreichische Geschichte 102. Bd.
S. 103 ff. Czörnig, Zt Ferdinandeum 1887 S. 156f. Die Westgreuze der
Grafschaft Pustrissa ist in Acta Tirol. I n. 57 LJ. 1002-4 angegeben.
Die Ostgrenze bildet i. J. 769 rivus quae vocatur Tesido, der Teistner-
bach, der hinter Welsberg in den Gsießerbach oder Pidig sich ergießt. In
einer Urkunde d. J. 81G steht: Atto quondam struxit cellulam quae nun-
cupatur Inticha ... in confinio videlicet Pudig]in ... et Camiensi ubi
Draus fluvius oritur, Sinnacher Btr. 2, 379 u. 395. In Pudigin steckt der
eben genannte Pidig oder Gsießerbach, der i. J. 1048 als Waldgrenze ge¬
nannt wird: de flumine quod dicitur Pudi(g)a usque ad flumen quod
dicitur Schwarzenbach »Die Schwarze* in Defreggen, Sinnacher Btr. 2,
395. In einer anderen Urkunde des Stiftes Innichen, die im 12. Jh.
gefälscht wurde, heißt es: in medio comitatuum, qui vulgo vocantur
Pustrussa, Lurno, Catubria ... hoc est ubi ingreditur fluvius Pudip
Rionzum Resch Aetas millen. 52 f. Otto Stolz, Archiv f. öst. Gesch.
102 S. 104f. Damit ist doch soviel erwiesen, daß comitatus
Pustrissa, vallis Pustrissa in alter Zeit beim Pidig oder
Gsießerbache endete.
. . . sufflei at Ezelino et eius filio eiusque heredibus investitura in curia
que vocatur Lonca in Chraine uel in curia que vocatur Intica in Pustris
posita. 1160 FRA. 31 S. 108. Da finde ich zum ersten Male, daß ein Ort
östlich der Pudnerbruggen bei Welsberg als im Pustertal gelegen angegeben
wird. Im Jahre 1377 verleiht Bischof Friedrich von Brixen dem Kapitel
in Innichen und der Geistlichkeit im Pustertal Freiheit der letzten Ver¬
fügung über ihren Besitz. Arch. Ber. 3, n. 2732. Das gleiche tut im
selben Jahre Meinhard, Pfalzgraf von Kärnten und Graf von Görz in seinem
Gebiete »diesseits des Kreuzberges (in Sexten) im Pustertale bis gen
Aezing* = Asling, Arch. Ber. 3 n. 2733; 4 n. 72. In einem Brixner
Urbar um 1400 heißt es: vermerkht die pfarm in dem Pustertal die
cupelfutev geben: Anras, Silian, Velgraten, Inchingen, Toblach,
Niderndorf, Taistn, Entholtz, Olangn, Phaletzn, Santlaurenzen, Eimen¬
berg. Über Kuppelfutter s. Otto Stolz, Arch. f. öst. Gesch. 102 S. 189—
194. J. J. 1398 wird gesagt, daß der wishoff Gumedell (Gandellen) ob
Doblach und der Lanzhof in Sexten im Pustertal liegen. Arch. Ber.
3 , 2344. Im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts reichte
das Pustertal bis zum Kristein- oder Justeinbch *).
In der Stiftsurkunde von Innichen v. J. 769 kommt die Stelle vor;
quia et ipsa loca ab antiquo tempore inanem atque inhabita-
bilem esse cognovimus Resch a. a. O. 23. Darauf berufen sich die Forscher,
welche die Erklärung von Miklosich sich zu eigen machen; so Alfons Huber,
österr. Gesch. I 57 A. 1 und alle andern. Damit wird die Gegend zwischen
dem rivus Tesido, Taistnerbach und dem rivulus rnontis An&rasi Resch 22
als menschenleer und unwohnlich bezeichnet — seit alter Zeit. Cognovimus,
gehört haben wir, sagt Tassilo, natürlich vom Atto, dem Abte von Schamitz,
der den Herzog in Bauzano erwartete. Durch diese grauenhafte Wüste, die
*) Kristeinbach auf der Karte und Tinkhauser 1, 691; Justeinbach Tinkhauser
1, 585 und Arch. Ber. 4, n. 17 i. J. 1409; im S. Justeinbach Arch. Ber. 4, n. 202;
ad S. Justinam 1177 Tinkhauser I 5S9.
Literatur.
527
ja nicht im comitatus Pustrissa, dessen Name von asl. pustü desertus
stammen soll, sich befand, führte die Römerstraße, das einzige großartige
Verkehrsmittel jener Zeit; diese Wüste heißt nicht Pustarizza, Pustriza;
so, nicht Pustrissa müßte sie heißen, wenn die Erklärung von Miklosich
haltbar sein sollte; vgL Stur S. 82, wo urkundliche Formen von bystrica
angeführt werden. Diese Wüste heißt Indi(g)a, vulgo Campo Gelau,
Besch Aetas milL 22; in dieser Wüste werden die Flüsse Rienza Acta
Tirol. In. 121b i. J. 1050-C65 (Vgl. Unterforcher, Zt. f. rom. PhiloL
1910 S. 201 f.) und Pudi(ga) (vgl. Hintner, Gsießer Namen 21 ff.), der
Bach Tesido (Hintner a. a. 0. 26 ff.) genannt; in dieser Wüste liegen die
Orte Duplago-Toblach; Schloß Ligode 1243 Arch. Ber. 3 n. 2512,
Ligode 1336 Rentamt der Görzer, Görz. Urb. zu Ligöd vnder dem Turn
1500, Urbar v. Toblach; jetzt verschollen, Tinkhauser 1, 492, 3. (Hlyr.
ligod-? alban. 14h, lehete leicht, Gust. Meyer Etym. Wb. der alban.
Spr. 239 f. Miklosich App. II n. 326; tschech. poln. ON. Lhota, Lgota).
Camedelle 1362 Arch. Ber. 3, 2341, jetzt Gandellen hinter Toblach
(rätisch cama Fels, Berg, slawisch kamen Stein. E. Täuber, Deutsche
Rundschau f. Geogr. 36. Jg. 4. Heft S. 149). Frumendaeiger 1336
Görz. Urb. in Frumedeigen 1560 Urb. Toblach, heute Frondeigen,
Weiler hinter Toblach. Vgl Schneller Bt. 1, 44; Hintner, Gsießer Namen
39. Virsach 1030 Miklosich Appell. 2 n. 747; Virsach 1273,
seit 1305 Vierschach, Dorf zwischen Innichen und Sillian = versach,
virsach Brand, etruskisch verse = ignem, Müller-Deecke Die Etrusker 2,
510 u. 512. Slav. viröje aus vrhije — cacumina (Miklosich, Appell. 1
S. 19) paßt auch wegen der Bedeutung nicht. Sillian von Silius. In
diese Wüste münden die Täler Prags, Prages 1085 — 97 Acta Tir. 1
n. 372; Sexten, in Sexto (milliario von Littamum) 1203 Arch. Ber. 3
n. 2508; Vilgraten, Valgrattum 1140 Arch. Ber. 5 n. 2501 mit
dem Bache Siligana Steinbach von silex. Resch Aetas mill. 163. An der
der Südseite von Sillian liegen auf der Höhe die Dörfer von Kartitsch 1271
Arch. Ber. 3 n, 2526 = corticia von corte Hof; als Alpe Kartitscha
1389 Arch. Ber. 3 n. 2747 und das keltische Tilliach; Tiliun 1075
—90 Acta Tir. 1 n. 319 ist falsch wie auch die beiden andern Namen
dieser Urkunde; Diliach 1110—22 Acta Tir. 1 n. 426; Tiliach 1330
Brixner Urb. Tiliach 1336 Görz. Urb. Die Forlans nennen das Dorf
Cercinä, Tinkhauser Diöz. Brix. 1, 542, Circinach Act. Tir. 1, 319
war im 11. Jh. der gebräuchliche Name; = Circinacum, lat. circinus.
Scheibe paßt auf die Gestalt der Feldflur. Sturs Erklärung ist schon wegen
der Betonung falsch. Das sind Ortsnamen, die nicht slawisch, nicht deutsch
sind. Die Wüste ist eine Erfindung des Atto.
Pustrissa stammt von Flusse Byrru3, Birrus 6. Jh. Venantius For-
tunatus Vita S. Mart. 4, 648; dann Pirra i. J. 892, 1002, 1048 Resch
Act milL 39, Act Tir. I 57, Sinnacher Bd. 2, 395; dann Flur bei Stegen
von 1300—1714: Pirreve^d, Pirenfeld, Pirnveld, Pirchveld,
Pirl-Veldt Urbar v. Sonntnburg S. 89; Arch.-Ber. 3 n. 951, 1249,
1703, 1734; Urb. d. Pfarrers v. S. Lorenzen; Urb. v. Michelsburg. Die
Anwohner dieses Flusses können Byrrusti geheißen haben. Peristi,
Piristi 17. Jh. jetzt Piristi Hof in Welschellen, Pirestic- oder Purch-
steigerbach 1500 Tir. Weist Pristich Eigenhof in Kastelrut 1396 Arch.
528
Literatur.
Ber. 1 , 323; Pr ist Hof und Flur in Lüsen vgL Müder, Das Tal Lüsen
S. 50. Diese Namen klingen an die angenommenen Byrrusti an, gehen
vielleicht auf diese zurück. Mit den Pirrustae Caes. belL Gail. V 1
haben unsere Byrrusti nichts zu schaffen. Von Byrrusti kann das Tal
Pirrusticia, Prusticia, mit Versetzung des r Pustricia genannt
worden sein. VgL Vidrol, Hof in Asling aus Fridoln 1330 Brixner
Urb. Fridöl 1300, jetzt Ferdore Hof in Enneberg; Kroton, jetzt Co-
frone in Kalabrien.
Usque ad terminos Sclavorum id est ad rivolum montis Anarasi 700
Kesch aetas mill. 22. Das Slawenreieh erstreckte sich gegen Westen bis
zu irgend einem Bächlein auf dem Anraser Mittelgebirge. VgL Otto Stolz
a. a. O. 104f. Der Landstrich westwärts der Lienzer Klause, der zum
Slawenreiche gehörte, wimmelt heute noch von romanischen Flur-, Berg-,
Bach- und Ortsnamen. VgL H. J. Bidermann, Die Romanen und ihre Ver¬
breitung in Österreich, Graz 1877 S. 74 f. u. 201. Da nun die Slawen im
eigenen Lande nicht imstande waren, Romanen und Bajovaren mit den von
diesen herrührenden Namen zu beseitigen, wie kann man westwärts dieser
Grenze slawische Ortsnamen suchen?
Ich beschränke mich auf folgende Namen: Golik, Gopernik,
Strassnik sind Personennamen. Deutschen Ursprunges sind Osink, früher
Asank Flur in Vilgraten; Ragouva-Ragen, alter Namen von Bruneck
und Flurname ist ragowa, ragende Aue, vom Schutt der Rienz aufgebaut.
Dristach-Tristach, spr. Driste, Dorf b. Lienz von tirol. Driste. Gr öden,
in valle Gradena c. 1130—40 Acta Tir. 1, 450b und mehrere Grade n-
täler im Mülltale und westwärts Lienz gehen auf iltyr. grad-, gard-
entsprechend griech. charad- in chäradra, dor. charadeüs zurück. Die Be¬
deutung Schlucht paßt bei allen. Luenzina Acta Tir. 1 n. 71, wo die
20 slawischen Huben zu finden sind, heute Oberlienz und LÖinza 1070
-c. 80 Acta Tir. 1, 253, später Luenz, heute Lienz leite ich von allu-
venza, alluvenzina Schwemm- Bruchboden ab, lat. alluere, alluvio. Die Lage
entspricht. Dölsach 1197 Sinnacher BL 3, 120, Dolsach 1330 Brixner
Urb. D51sah 1336 Görz. Urb. ebenso und ähnlich, aber immer mit 8 in
vielen Urkunden, die in den Arch.-Ber. 4 ausgezogen sind; heute Dölsach,
spr. Dölze. Nah dem Falle von Agunt nach 610 war Dölsach in kirch¬
licher Hinsicht der hervorragendste Ort auf der Ebene von Lienz. Tinkhauser
1 , 576f. Görtschach, Ort bei Dölsach zeigt, wie slaw. Namen auf -ca,
ce bei uns lauten. Dölsach ist Dulciacum von Dulcius, die Deutung des
H. Stur doljani ist falsch. Norsach Görz. Urb. LJ. 1336; auf dem Kofel
bei Norsach 1485 Arch.-Ber. 4 n. 305, Norsach in Theres. Steuerbuch
1778, heute Nörsach, Ortschaft bei Iggelsdorf (amtl. Nikolsdorf) an der
Grenze von Kärnten. Norsach 1336 Görz. Urb. bei Sachsenburg in
Kärnten, heute Nörsach. Die Namen gemahnen an Noreia, Noricum
und an die etruskische Göttin Nortia. VgL Nortinus, Beiname in
Orvieto-Volsinii, norziu, Beiname in Cluaium, Perusia, Miller-Deecke, Die
Etrusker 1, 490. Nursia von nurz in nurziuna, Schulze, Latein.
Eigennamen 535 u. Ar. Norsach kann leicht etrusk. nurtiach sein. Win¬
disch bei Matrei ist Erfindung der fürsterzbischöflichen Kanzlei in Salzburg;
sie wird von >Amtswegen € gebraucht; sonst ist sie zwar nicht unbekannt,
aber unbeachtet Bindisch-Matrei 1334 Arch.-Ber. 4, 346 und weiter
Literatur.
•YJtt
noch einigemale. Matrei, i. 12. Jh. Matrei, Materei, Motor ui»
Matreie Font. rer. Austr. 34 S. 28, 32, 41: Matrey 11U7 Simmehor
Bd. 3 S. 667; Matray 1267 Arch.-Ber. 4 n. 340 und Matveio Tab,
Peutiiig, heute Matrei am Brenner, »das deutsche*, gehören zu den vor»
römischen Namen.
Stur begibt sich auch auf das romanische Gebiet der Namendeutung.
Tiliun S. 66 ist wie Lionza und Beides dieser Urkunde falsch gcschrielx'ii,
es soll Tili ach heißen. Trafoi (am Ortler) = tres viae 8. 99. Der Name
heißt 1327 Trevulio Arch.-Ber. 2 n. 430 = lat. trivolium. Aus trei«
vias kann nimmer Trafoi werden.
Die Arbeit Sturs hat trotz des wissenschaftlichen Aufputzes wenig
Wert. Oft fehlt die Angabe der Lage des Ortes und die Bezeichnung des
Gegenstandes, an dem dieser haftet; es fehlen viele Hunderte sluwiseber
Ortenamen dieses Gebietes; es fehlt eine Karte, aus welcher die Dichtigkeit
und Verteilung der slawischen Ortsnamen zu ersehen ist; es fehlt ein
Namenverzeichnis nach der Beihenfolge der Anfangsbuchstaben der Orts¬
namen. Daß Stur durch diese Arbeit die Erklärung slawischer Ortsnamen
fördert, kann ich nicht behaupten. Sehr viele Namen kommen bei Miklosieh
und Umlauft vor. Wo Stur eigene Wege wandert, sind die Erklärungen
nicht »landläufiger* Namen »kühn*. Ich biete eine Auslese, die auf Ver¬
langen ergänzt werden kann. Cirzinäch 66 = Ireänjo. Do 1 Hoch 61
s doljani. Fröschnitz 83, urk. Froscenice, Froeschnitx b r*m.
Gradenegg 70, urk. Grednich, Graednich 1336 Gör/. Erb.
gr^da, 8lov. grede Gebälk. Gran schäm 86, Cru sc baren — gri/f. j n-
gering 87, Und rin a = slov. dren. Irdning 87, Id in ich, Jedrjich,
Irdninch = tschech. jedlinikü, slov. jela. Kar titsch 63 xlov. k<'Ht
Maulwurf. Landscha 89, Lontsaeb; Landschach 89 und Lorixchifz
92 = loncar Töpfer. Lang 89, Loneh, Lun ko; Lang wich 89,
Lungwiz, Lunchwiz, Lonkuiz = log. Aue. Obgrün 93 dobrinj*.
Planaikogel, Planitzbach 94 = planina. Pleisli ngb.*ch ,79,
Plonsnichbach — plaznica. Büdaehitz 93, Betzschitz —
Blütenkitzehen. Tra»»nitz, Tratten 99 — trata, a nst dem Deof>/:b*n
geborgt. Tröschnitz 100, Trezwiz - tent Zögern itz iWg
und Bach 51, Zekkirniz und Zwerg, itzgrabe n JO' — fcjfone.
Mit Wölfnitz 7%. WoUwitz ir*Vir Ha.:'* fangen, Vv»x/b///
der Name so dunitsk^Jg und tcs /. > 2 n. 7 e/*
Wer solche Erklarcic'efc tob sa* . .v-r '!** v >.* t
Namenfaradnmg ontt
Graz. ■- r. *.e : *■-,? \f, * t
Walther L.e ;r./u \ ', + f ?, \ . d \
festigungen in De«** .l.« i. LLi / .r >v,,/ o
VerfassungagescfciAv' rf^tr/.rjs*en^ A vr. .. y,
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Quelle u. MeT«. TL l. *1 *
Neben dta fTumraubten vor. t#»r ÄLn.^r^, /,,/ .< ,
küum eine Präge o«r Cjemtraen v.m ) ^
1
Literatur.
f>30
den letzten Jahren eine so vielseitige literarische Bearbeitung gefunden hat.
wie die mittelalterliche Stadt. Einen Beitrag zu diesem letzteren Gegen¬
stand will die vorliegende Inauguraldissertation geben; sie bringt mehr und
weniger, als der Titel verspricht, — mehr, insofern sie in st&ndiger, ge¬
schickter und sachlich zutreffender Polemik gegen Bietschel eine gute Unter¬
suchung der Siedlungsbezeichnungen des Früh- und Hochmittelalters bietet,
— weniger, insofern sie nur bei einer auserwählten Zahl von Städten
die Zeit der ersten Befestigung und einiger Befestigungserweiterungen an
der Hand der zugänglichsten Urkundensammlungen und der bisherigen
Spezialliteratur, aber ohne eigene Stadtplanforschungen festzustellen versucht
und sich hierbei auf die Zeit vor dem 13. Jahrhundert beschränkt. Warum
Verfasser seine Untersuchung mit dem 13. Jahrhundert beschließt, das ist
ebensowenig erklärlich, als die Nichtberücksichtigung der Stadt Wien in
einer Arbeit, in der z. B. Städte wie Salzburg, Basel, Utrecht besondere
Beachtung erfahren, zumal da ja speziell für Wien die Baugeschichte er¬
schlossen ist, und andererseits eine Durchsicht der Städteprivilegien des
13. und 14. Jahrhunderts, die zum großen Teil in den leicht zugänglichen
Acta Imperii enthalten sind, ihn vor einem allzu raschen Einlenken in
Rietschels Bahnen um die Mitte des 13. Jahrkunderts (S. 26 u. 76) be¬
wahrt haben würde, ja ihn vielleicht auch für die Zeit nach 1250 meiner,
ihm merkwürdiger Weise unbekannt gebliebenen, aber bereits im Jahre
1910 in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germ. Abt Bd. 31, S. 456
und in meiner Habilitationsschrift: Befestigungshoheit und Befestigung»-
recht, Leipzig 1911, Verlag von Veit & Comp., S. 74 und Noten 3 bis 5,
vertretenen Theorie erhalten haben dürfte.
Die Arbeit gelangt zu folgenden Ergebnissen: Befestigte bürgerliche
Siedelungen gab es schon früher in Deutschland, als die bisherige Forschung
annahm, aber bis zum Auftreten der Normannen und Ungarn herrschte
das Fluchtburgenprinzip; seitdem entstehen einerseits Dynastenburgen, an¬
dererseits befestigte bürgerliche Siedelungen (S. 39). Wenn nun auch
nicht, wie die ältere Forschung betonte, fast alle Stadtbefestigungen dem
Einflüsse der Ungarngefahr ihr Dasein verdanken, so ist doch die ßietschelache
Annahme, daß um 1100 nur 11 Städte (9 Römerstädte und Würzburg
und Magdeburg) befestigte Bürgersiedelungen besaßen, unhaltbar (S. 29
u. 74). Civitas (urbs) wird von der sächsischen Kaiserzeit bis in die Staufer-
zeit farblos gebraucht, sie ist nicht identisch mit befestigtem Siedelungs¬
gebiet, geschweige denn mit »kleinerer Befestigung* (S. 13 und 25). Villa
bezeichnet eine Siedelung, die sowohl befestigt als unbefestigt sein k&nn
und bald Dorf-, bald Stadtcharakter hat (S. 2l). Die Befestigungsfrage ist
für den Begriff »Stadt* im Frühmittelalter von sekundärer Bedeutung
(S. 7); erst von zirka 1250 an beginnt die Befestigung ein Merkmal des
Begriffs »Stadt* zu werden (S. 26 u. 76). Für diese letztere These ist
der Verfasser den Beweis schuldig geblieben; ich bin daher imm er noch
der Ansicht, daß das Befestigungsrecht zwar eine höhere Potenz des Stadt¬
rechts ist, daß aber wie um 1235 und 1270, so auch im 17. Jahrhundert
noch der Unterschied von ummauerten und unbefestigten Städten bestand.
Greifswald. Alexander Coulin.
Literatur.
531
Felix Matuszkiewicz, Die mittelalterliche Gerichts¬
verfassung des Fürstentums Glogau. Darstellungen und Quel¬
len zur schlesischen Geschichte, herausgeg. vom Verein für Geschichte
Schlesiens. Bd. XIII. Ferdinand Hirt, Breslau 1911. 8°. XII und
162 S.
Die Bedeutung dieser Abhandlung liegt vor allem darin, daß sie den
Zusammenhang der mittelalterlichen bis zu Beginn der preußischen Herr¬
schaft gütigen Gerichtsverfassung des Glogauer Fürstentums mit der altpol¬
nischen aufdeckt, einen Zusammenhang, der, wie diese Untersuchung zeigt,
auch in den anderen schlesischen Teilfürstentümern bestanden hat, aber noch
nicht im einzelnen nachgewiesen ist. An die Spitze der Arbeit stellt Verf.
einen Überblick über die altpolnische Gerichtsorganisation und führt den
Nachweis, daß diese auch noch im Fürstentum Glogau bestanden hat, ja
selbst dort, wo kirchliche Untertanen von der landesherrlichen Gerichtsbar¬
keit eximiert wurden, wurde die Opoleverfassung nicht angetastet. Mit der
deutschen Kolonisation wurden für Bauern und Bürger deutsche Gerichte
geschaffen, die ursprünglich Exemtionsgerichte, allmählich zu den ordent¬
lichen Gerichten wurden. Die Kastellanei- und die polnischen Dorfgerichte
sind dann allmählich ganz verschwunden. Für die deutschen Ritter, die ins
Land zogen, sind aber keine neuen Gerichte geschaffen worden. Als Lehens¬
mannen konnten sie jedoch nicht vor die Palatinatsgerichte, die vorzugs¬
weise über Eigengut zuständig waren, gezogen werden; so fanden sie ihr
Recht im iudicium curiae, dem herzoglichen Hofgericht, das zunächst noch
in seiner alten Verfassung als höchstes zentrales Gericht bestehen blieb.
In Glogau wurde nun für deutsche Sachen ein besonderer deutscher Hof¬
richter bestellt und es dauerte nicht allzu lange, so wurde auch kein pol¬
nischer Hofrichter mehr berufen; das Hofgericht war so zum deutschem
Lehnshof geworden. Noch zu Anfang des 14. Jahrhunderts wurde das
zentrale Hofgericht aufgelöst und anstatt dessen in jeder Weichbüdstadt ein
Hofding eingerichtet. Ebenso blieben die polnischen colloquia, die herzog¬
lichen Landtagsgerichte, die im Anschluß an die allgemeinen Reichshoftage
zusammentraten, bestehen, und es zeigt sich, daß hieran neben den pol¬
nischen Adligen auch deutsche Ritter aktiven und passiven Anteü nahmen.
Diese colloquia büden die Vorstufe des Glogauer Manngerichts, das man
bis jetzt allgemein als eine Neuschöpfung für den deutschen Adel ange¬
sprochen hatte. Ganz polnischen Charakter behielten die Palatinatsgerichte,
die wir später unter dem Name Zaude (zuda, iudicium polonicale, poln. sqd,
böhm. soud) wiederfinden. Noch in der Neuzeit sind Lehnsgüter bei der
Allodifizierung in Zaudengüter umgewandelt und damit unter die Juris¬
diktion der Zaude gestellt worden. Man muß also zwischen Lehen, allodi-
fizierten Lehen ohne Zaudeneigenschaft und Zaudengut (ursprünglichem,
erb- und eigenem Gut) unterscheiden. Wie Verf. in einem Exkurs an
einem Beispiel aus dem Erbrecht zeigt, wurde in der Zaude nicht
nur nach polnischem Recht gerichtet, sondern die Zaude blieb sogar in
stetem Konnex mit dem im Königreich Polen geltenden Recht. Um die
Wende des 13. und 14. Jahrhunderts finden wir in Glogau folgende Ge¬
richte: aus deutscher Wurzel die Dorf- und Stadtgerichte, aus polnischer
das Manngericht, die Hofdinge und die Zauden. Polnische und deutsche
532
Literatur.
Gerichte haben sich gegenseitig beeinflußt, aber der polnische Ursprung bleibt
in den drei letztgenannten Gerichten erkennbar, am deutlichsten in der
Zaude. Die deutschen Schöffen sind Urteilsfinder, die polnischen assessores
(Zaudener, zuparii in der Zaude genannt) sind nur Berater des Richters
(des Tschenschen der Zaude = poin. s§dzia), der nach freiem Ermessen das
Urteil fällt Daher schwankte auch die Zahl der Beisitzer und Vertretung
war gestattet 1431 erschien sogar in der Glogauer Zaude eine Frau als
Vertreter. Fremd war auch dem deutschen Recht die Dreiteilung des Ge¬
richts, Verhandlungsleiter, Richter, Beisitzer. In der Guhrauer Zaude ist
die Dreiteilung immer beibehalten, in der Glogauer ging zu Beginn des
15. Jahrhunderts offenbar unter deutschem Einfluß das Tschensch enamt an
den Vorsitzenden (Hauptmann, später Hofrichter) über. Kaiser Karl VI. wollte
wohl 1715 den alten Zustand wiederherstellen, doch erhielt durch ihn der
Tschensche auch den Vorsitz und der Hofrichter wohnte als bloßer Reprä¬
sentant der Staatsgewalt ohne irgend welche Befugnisse den Verhandlungen
bei. Friedrich H. hat die alten Gerichte dann gleich nach der Erwerbung
Niederschlesiens aufgehoben. Der Verf. schildert eingehend die einzelnen
Gerichte, indem er ihre Verfassung, ihre Zuständigkeit und den Rechtszug
bespricht. Auch der Kampf zwischen den einzelnen Gerichten, namentlich
zwischen den Stadtgerichten und dem Mannrecht wird geschildert. Die
Manngerichtsordnung Herzog Sigismunds bedeutete den völligen Sieg des
Adels über die Städte. Oft findet der Verf. Gelegenheit auch auf ähnliche
Verhältnisse in anderen schlesischen Gebieten einzugehen und Ansichten
früherer Forscher richtig zu stellen. Er weist auch auf das interessante
Zeidelding für die Junker der Mallmitzer Heide hin, dessen Kompetenz auf
die Landesgrenze keine Rücksicht nahm, doch weiß er über dieses Gericht
nichts Näheres zu bringen. Die Abhandlung stellt einen sehr wertvollen
Beitrag für die schlesische und überhaupt für die deutsche Kolonisations¬
geschichte dar.
Adolf Kunkel.
Oskar Wilhelm Ganz, Philipp Fontana, Erzbischof von
Ravenna, ein Staatsmann des XIII. Jahrhunderts. Leipzig,
Quelle und Meyer, 1911 (so der Umschlag, das Titelblatt hat 1910).
Xn u. 103 S. 8°. 3.65 M.
Vielleicht der eigenartigste Vorkämpfer im kirchlichen Lager zur Zeit
der Kämpfe gegen die letzten Staufer, von dem der Franziskaner Prä Sa-
limbene von Parma, der ihn gut kannte, die charakteristischen Worte sagt:
super omnes homines de mundo diligebat honores et ... scivit dominari et
baronizare *); mehr ein Kirchenfürst älteren Stils, wie der italienische Epis¬
kopat noch im 12. Jahrhundert manchen aufwies, etwa jenen Volterraner.
dem Friedrich L Fürstenrechte verlieh und den das Volk der fahrenden
Sänger als den bon Galgano, vescovo Volterrano feierte *); mehr ein rauher
*) Ed. Holder-Egger SS. XXXII p. 400.
*) Vgl. Davideohn, Gesch. von Florenz I 817.
Literatur.
533
Kriegamann wie ein Mann der Kirche — lassen wir wieder Salimbene reden:
ipse vero archiepiscopus plus curabat de guerris quam de sanctorum reli-
quiis*) —, hielt er, auch darin den alten Bischöfen Reichsitaliens ähnlich,
die ihr auf feudalen Grundlagen ruhendes weltliches Regiment durch ihre
Reisigen, ihre Masnada, gesichert hatten a ) — seine Leibgarde: familiam ha¬
bebat terribilem et ferocem, . . . erant enim bene XL homines armati, quos
semper secum ducebat, ut essent capitis sui custodes et totius persone, et
timebant eum sicut diabolum, sagt ebenfalls Salimbene, der unermüdliche
Anekdotenerzähler 8 ), der einige nicht besonders authentische, aber recht
amüsante Schnurren hinzufügt, um begreiflich zu machen, daß Philipp von
seinen Kriegsknechten kaum weniger als der wilde Ezzelino da Romano
gefürchtet wurde. Es sind rohe Späße aus dem Lagerleben; einer, der das
Salz auf einer Reise mitzunehmen vergaß, wurde an einem Strick vom
Schiff ins Wasser hinabgelassen und bei der Fahrt mitgeschleppt, ac si esset
unus sturio; ein anderer an einen Balken gebunden und so nahe ans Feuer
gelegt, daß selbst einige seiner Kameraden bei dem grausamen Schauspiel
zu weinen begannen. »Schon weint ihr Elenden? € soll nach unserm
Franziskaner der Herr Erzbischof, der offenbar gegen so etwas abgehärtet
war, ausgerufen, sein unglückliches Opfer aber doch vom Feuer entfernt
haben. Das leidenschaftliche Naturell, das uns diese Züge, mögen sie noch
so anekdotisch sein, andeuten, wird uns von Salimbene auch noch besonders
bestätigt: iste archiepiscopus interdum erat ita melanconicus et tristis et
furiosus et filius Belial, quod nemo poterat ei loqui (vgL 1. Reg. 25, 17 4 ).
Mit den Pflichten des geistlichen Amtes nahm er es, wenn wir wieder un¬
serem indiskreten Gewährsmann glauben wollen, nicht übermäßig genau; er
hatte zwei Nepoten, aber einer von ihnen war sein Sohn, und auch eine
schöne Tochter 5 ). Damit und nicht mit den Kriegszeiten, wie C. meint 6 ),
wird es wohl Zusammenhängen, daß Philipp erst in späterem Alter die
höheren Weihen nahm 7 ), darin seinem gleichnamigen Zeitgenossen ähnlich,
«ler als der Erwählte von Salzburg bekannt ist 8 ). Das Bild des merk-
*) L. c. p. 400.
*) Davidsohn 8. 314 und der Beleg aus dem Jahre 1121 und andere aus
Lucca und Arezzo in meiner Reichsvcrwaltung in Toscana 1 204 Anm. 1.
*) L. c. p. 399; vgl. C. S. 41.
4 ) L. c. p. 400.
») Ebd. p. 399—400.
•) S. 2 Anm. 4.
T ) Über das Datum der Weihe vgl. Amadesius, In antistitum Rav. chrono-
fn-rim ... disquisitiones III (1783) 51, aer die Nachweise bringt, daß Philipp noch
am 4. Januar 1261 (Urkunden im Anhang daselbst p. 193—195 n. 53—54) electus
hieß; so noch am 24. Januar, Tarlazzi, Appendice ai monumenti Rav. II 67 n. 53,
während er auf der Ravennater Synode vom 28. März, Fantuzzi, Monumenti Rav. V
338 n. 65, Savioli, Ann. Bol. HI b 366 n. 728, bereits Erzbischof heißt, und ebenso
am 28. Oktober des Jahres, Tarlazzi 262 n. 175, und fortan regelmäßig. Wenn
ei schon 1258 im Text der Urkunden bei Tarlazzi I 258—260 n. 172—173 den
erzbischöflichen Titel führt, so liegt, falls die Drucke zuverlässig sind, eine Unge¬
nauigkeit des Notare vor; die erste der beiden unterzeichnet Bischof Guidaloste
von Pistoia als Generalvikar Phylippi ... electL So war wohl eben durch das
bevorstehende Provinzialkonzil von 1261 für Philipp der Anlaß geboten, die
Weihen zu nehmen.
®) Vgl. O. Lorenz, Deutsche Gesch. im 13. und 14. Jh. I 176; Philipp, Er¬
wählter von Salzburg, nahm nie die Weihen, was L. mit seinen kriegerischen
Neigungen erklärt ; dazu Aldinger, Die Neubesetzung der deutschen Bistümer unter
534
Literatur.
würdigen Prälaten wäre nicht vollständig ohne die andere Schilderung,
die Saliinbene von ihm gibt, wie er in seiner Pfalz zu Argenta um
Po, ein Responsorium oder eine Antiphon vor sich hin singend, von
einer Ecke zur andern wandelt, et in quolibet tempore estivo bibebat.
quia in quolibet palatii angulo enghestariam optimi et precipui vini ha¬
bebat in frigidissima aqua. Fuit euim, fugt unser schalkhafter Chronist
hinzu, mognus potator et aquam in vino nolebat, eine Tatsache, die als
Gelegenheit benützt wird, um den Traktat de non miscenda aqua vino de>
Primat, jenen köstlichen poetischen Dialog zwischen dem Wein und dem
Wasser, einzuschalten l ). Auch Rolandin von Padua bestätigt die Angaben
von Salimbene durch die Erzählung, Philipp habe als Legat gegen Ezzelino
gleich den andern dem trefflichen Wein aus den Höhlenkellern bei Custozza
gehörig zugesprochen, biß das Gerücht vom Nahen des Feindes den allge¬
meinen Frohsinn in Trauer wandelte 2 ).
Wir verweilen etwas länger bei Philipps (von Canz 3 ) gut gezeichneter)
Persönlichkeit, weil ihr rechtes Verständnis das Urteil über seine Tätigkeit
erleichtert. Wenn er kirchliches Gepränge liebte und aus diesem Grunde
die Elevation der Gebeine des Elysaeus und die Translation des Märtyrers
Savinus vornehmen ließ 4 ), wenn er ein guter Verwalter war — daß er
dabei, dem Vorbild Friedrichs IL folgend, irgendwie schöpferisch vorging,
wäre zu erweisen 5 ) —, wenn er ehrgeizig, weltlich gesinnt und eine starke,
eigenartige Persönlichkeit war, so scheint mir das alles noch nicht zu ge¬
nügen, um ihn den Vorläufern der neuen Zeit 6 ) zuzählen zu können; die
Pflege des Geisteslebens an Philipps Hofe dürfte noch nicht daraus hervor¬
gehen, daß er Minoriten wie die Chronisten Thomas von Pavia und Salim¬
bene von Parma oder den Komponisten Vita zu seinen näheren Bekannten
zählte 7 ); Freigebigkeit und Botenlohn sind erst recht keine Kennzeichen
der Abwendung von mittelalterlichen Anschauungen. So möchte ich ihn ge¬
genüber der in Anlehnung an Burckhardt, wenn auch sehr vorsichtig, gege¬
benen Charakteristik Philipps als Vorläufers des Typs der Renaissanceherr¬
scher gerade für das Gegenteil, für einen Typ des italienischen mittelalter¬
lichen Kirchenfürsten halten, wie sie trotz Reformsynoden und Investiturstreii,
trotz des seit 100 Jahren gestiegenen Einflusses der Kurie auf die Besetzung
der Bistümer und trotz der zahlreichen Provisionen von Kurialen noch bis
Papst Innocenz IV. S. 68. Freilich kamen bei Philipp auch Erbansprüche auf
Kärnten, dessen Herzog Ulrich, sein Bruder, kinderlos starb, in Betmcht; Joh.
Victor, ed. Fedorus Schneider I 173—174. 206—207.
q Salimbene 1. c. p. 430.
*) SS. XXII 116 (Liber IX c. 11), vgl. C. S. 66.
») S. 1. 84—86. 98—99.
q C. S. 89.
C. S. 85; die Angaben S. 82 sind keine genügenden Belege.
a ) C. S. 1 und S. 2 Anm. 1, dazu da« Vorwort
T ) Darauf beschränkt sich, was C. S. 85 Anm. 4 und sonst für diesen Punkt
beizubringen vermag, wenn man von seinem Astrologen Eberhard von Brescia at>
sielit. Im Hang zur Astrologie wird man nichts sehen, was auf die Renaissance
hindeutet; die Anekdote von Salimbene, Philipp sei nach Toledo gewandert tun
die schwarze Kunst zu erlernen, erinnert doch stark au den Nekromanten Gerbert
Der besonders ausgeprägte Hang Philipps zu den Bettelorden ist meiner Ansicht
nach überhaupt bezeichnend für seine etwas vierschrötige Natur; sein Astrolog war
Dominikaner.
Literatur.
535
zum Ende des 13. Jahrhunderts begegnen und den stürmischen Zeiten ent¬
sprachen; nur waren sie im 12. Jahrhundert meist auf der Seite des Rei¬
ches gewesen; jetzt verteilen sie sich auf beide Parteien: während der gute
Galgan von seinen nach Freiheit dürstenden Volterranern erschlagen worden
war A ), während noch zur Zeit Friedrichs II. Pagan von Volterra und Walter
von Luni getreue Parteigänger des Herrschers, dieser sogar sein Kampfge¬
nosse in der Lombardei a ), gewesen waren, steht in der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts Guglielmo degli Ubertini, der bei Campaldino (1289) gegen
die Florentiner fiel, doch vereinzelt auf ghibellinischer Seite. Sehr ähnlich
wie Philipp hat man sich aber wohl seinen etwas älteren Zeitgenossen Mar-
cellin Pete von Arezzo zu denken, der als päpstlicher Generalvikar in der
Mark Ancona in der Schlacht von einem staufischen Heere gefangen ge¬
nommen und von Friedrich H zur Strafe des gebrochenen Eides — er war
Reichsfürst — mit dem Tode bestraft wurde.
Diese abweichende Auffassung der Stellung Philipps innerhalb seiner
Zeit soll aber in keiner Weise die Anerkennung schmälern, die ich dem
sorgfältigen Buche auszusprechen habe. Nachdem zu Anfang betont wurde,
daß wir es mit einer der eigenartigsten Erscheinungen einer großen Zeit
zu tun haben, auch wenn sie weniger als Vorbote künftiger Entwicklung
wie als Verkörperung der Wesensart des Dugento mit eher rückwärts wei¬
senden Zügen aufzufassen ist, ergibt sich schon von selbst, daß eine brauch¬
bare Arbeit über diesen Mann dankenswert ist.
C. betont mehrfach und vielleicht zu stark eine gewisse schroffe Eng¬
herzigkeit Philipps 8 ) und tut vielleicht hervorragenden Kirchenmännem wie
Peter Capocci und Rainer von Viterbo unrecht, wenn er den Erzbischof
von Ravenna mit dem Patriarchen Gregor von Montelungo und dem Kar¬
dinal Ottaviano degli Ubaldini unter den geistlichen Vorkämpfern gegen
die letzten Staufer in erste Linie stellt; darüber läßt sich streiten. Gewiß
war Philipp, dessen Heimat vielleicht doch Ferrara war, trotz seines leiden¬
schaftlichen Temperaments kein Savonarola, wenn auch beide der romagno-
lischen Art wesentliche Charakterzüge verdanken mögen. Aber gerade Philipp
der mit Ottaviano von S. Maria in Via Lata den Mißerfolg teilt, die Tiara
nicht erreicht zu haben, ist — viel mehr wie einer der übrigen Helfer des
Papsttums in der Schicksalstunde der Stauferkämpfe — übersehen worden.
Im Anschluß an Salimbene erklärt C. Pistoia für die Heimat Philipps;
er folgt darin Holder - Egger, der in seiner Ausgabe sich für diese Stadt
entschied; Salimbene nun war selbst über die Heimat seines Gönners im
Zweifel. Einmal sagt er, dieser sei de Pistorio vel de Luca, dann bezeichnet
er den Lucchesen Vita als de contrata sua (Philipps), von dem er auch er¬
zählt, er habe in terra sua sterben wollen und sich dann nach Pistoia
bringen lassen; wiederum heißt er de Tuscia oriundus de districtu civitatis
Pistorii, und allgemein qui erat de Tuscia 4 ). Salimbene dürfte nur ganz
4 ) Reg. Volaterr. n. 316 mit Literatur; F. Schneider in Quellen und Forsch.
VIII 86.
*) Die Gründe, aus denen Friedrich II. ihn Ende 1239 bei seiner Rückkehr
aus der Lombardei gefangen mit sich führte und seine weltliche Herrschaft ein¬
zog, sind unbekannt, vgl. Quellen und Forsch. IX 273.
») S. 35. 98.
4 ) Die Stellen 1. c. p. 83, 173, 184, 393; gut behandelt bereits von Amadesius
l. e. p. 56.
35*
536
Literatur.
im allgemeinen geglaubt haben, Philipp sei aus der Gegend von Lm ca und
Pistoia, ohne bestimmteres zu wissen. Auf Pistoia fuhrt nun vielleicht
in Philipps Leben die Tatsache, die als Ergänzung zu C. bemerkt sei, «laß
1258 Philipps Generalvikar der Pistoieser Bischof Guidaloste war 1 ). Und
doch ist die Frage erlaubt, ob Salimbene wirklich die Heimat des Erz¬
bischofs kannte. Es ist doch manches auffällig 2 ). Der junge Kleriker
wird nach dem Pariser Studium erst Domherr, dann Bischof in Ferrara 3 ),
wo er auch nach seiner formellen Translation nach Florenz wohnen
bleibt: auch später werden seine Kriegszüge von Ferrara besonders unter¬
stützt, und schließlich wird in S. Bartolomeo, dem Cisterzienserstift im Borgo
von Ferrara, das Grab eines Philipp Fontana mit der Jahreszahl 1274 ge¬
zeigt 4 ). Da es nun eine berühmte ferraresische Familie Fontana gibt, wir
aber keine des Namens in Pistoia kennen, lag es nahe, ihn für einen Fer-
raresen zu erklären, und das ist auch von den Älteren außer Amadesius,
der sich auf Salimbene berief 5 ), meistens geschehen. Nun steht aber die
ausdrückliche Angabe, daß Philipp aus dem Hause der Fontana von Ferrara
war, nicht nur in der bis 1324 reichenden Minoritenchronik, wo er Bruder
des Aldigherius da Fontana heißt 6 ), sondern auch in den von Muratori als
Fortsetzung zu Agnellus gedruckten kurzen Biographien der Ravennater
Erzbischöfe 7 ). So bleibt nur jene Urkunde von 1270, in der es heißt,
Philipp müsse ad partes Thusciae, unde ortum assumpsit, reisen 8 ); sie ist
schon vielfach angezweifelt worden 9 ) und scheint mir wegen der Form des
Datums und der notarieilen Publikation bedenklich; ist es eine Fälschung,
so müßte Salimbene benützt sein, und der Zweck wäre in den Streitigkeiten
um die Grafschaft Argenta zu suchen. Aber freilich kann ich ohne Unter¬
suchung des Originals zu keiner sicheren Entscheidung kommen. Sollte die
Urkunde echt sein, dann ist die Pistoieser Herkunft Philipps gesichert und
dann bekommt auch die vereinzelte Nachricht im Pistoieser Nekrolog, er
*) Urk. von 1258 Mai 14, Argenta, bei Tarl&zzi I 259 n. 172; derselbe ohne
den Titel des Generalvikars in Argenta bei Philipp 1266 November 11, ebd. p. 272
n. 183. — Ein Florentiner Familiäre Philipps aus der Ferrareser Zeit wird Bourei
de la Ronciere I n. 893 erwähnt.
*) Die Freundschaft des Minderbruders mit dem Erzbischof kann doch nicht
so innig gewesen sein, wenn dieser, der wegen des Zwistes mit Opizo von Este
und Uberto Pallavicini abgeschlossen in Argenta lebte und nur seine Familiären
zuließ, den Salimbene, der die hochwillkommene Kunde von Urbans IV. Tode
brachte, nicht einmal persönlich sah.
•) Über die Nachricht, daß er Pistoieser Domherr gewesen, s. weiter unten.
4 ) C. S. 96 Anin. 2; auch Barotti, Serie dei vescovi ed arcivescovi di Fer¬
rara (1781) p. 43 (V iscrizione che leggesi su la sepoltura, also wohl nach Augen¬
schein). Fnzzi bestreitet das Vorhandensein der Inschrift.
•) L. c. HI 56.
•) C. S. 87 Anrn. 1. Das Chron. parvum Ferrar., Muratori SS. VIH 487, er¬
zählt, wie Aldigerius de Fontana dem Obizo die Nachfolge in Ferrara sichern will,
verum Ravennas archiepiscopus Philippus et quidam nobiles civitatis praepotentes
Aldigerii reitagabantur sententiae, also wieder auffallend enge Beziehungen Philipp
zu Ferrara, wenn auch der Chronist nichts davon sagt, daß Aldiger sein Bruder sei.
7 ) Muratori SS. II 1 p. 209. Diese bald nach 1286 angelegte Serie, die man
doch nicht mit C. S. 2 Anm. 2 einfach mit der Literatur, in der Philipp als Fer-
rarese bezeichnet wird, beiseite schieben kann, sagt deutlich genug: lste tuit de
domo de illis de la Fontana civium Ferrariae.
8 ) Bei Amadesius HI 195 n. 55.
») Stellen bei Frizzi, Memorie di Ferrara HI (1793) p. 176 Note a.
Literatur.
537
«ei früher dort Domherr gewesen, eine Stütze 1 ), wo nicht, so lege ich weder
auf diese schwachen Fäden, die ihn mit Pistoia verknüpfen, noch auf die
Glaubwürdigkeit des Bruders Salimbene Gewicht und nehme an, er war
Ferrarese und Salimbene begeht, zumal er seiner Sache nicht sicher ist, einen
Irrtum. Die Ferareser Inschrift, auf der, was 0. übersieht, die Behaup¬
tung beruht, der Erzbischof sei im Cistercienserkloster S. Bartolomeo bei¬
gesetzt. 2 ), ist sicher später, doch muß ich mich gegen Frizzi, der sie als
Machwerk des Libanon aus dem 17. Jahrhundert beiseite schiebt, und gegen
Holder-Egger, der sie als spätere Grabschrift irgend eines anderen Fontana
auffaßt, dem gründlichen Abt Guarini Ferranti anschließen, der annimmt,
Libanon werde nicht ohne weiteres die Inschrift erfunden haben 3 ), und
mit Barotti, dem sich ja auch C. anschließt, die Jahreszahl 1274 auf die
Translation des Leichnams nach Ferrara beziehen 4 ). Aber nochmals: das
Problem wird erst durch die Untersuchung der Urkunde \on 1270 zu
lösen sein.
Wie C. wahrscheinlich macht, wurde der Fontana 1239 mit Ferrara
von Gregor IX. providiert, der also seine hervorragende Menschenkenntnis,
wie bei seinem Neffen Gregor von Montelungo, so auch hier bewährt hat.
Philipp ergriff die Gelegenheit, die ihm so geboten wurde, seine politische
Begabung im Dienste des Papsttums zu entfalten. Seine ersten Schritte
zeigen den sicheren Politiker, als der er sich stets bewährt hat. Damals
begann es mit der Macht des Kaisers wie in der Lombardei, so in der Ro-
magna bergab zu gehen. Nach dem Übergang Ravennas unter Paolo Tra¬
versara auf die päpstliche Seite hielt sich nur noch Ferrara staufisch und
der Papst wußte, wen er dort zum Bischof machte: wesentlich durch Phi¬
lipps Verdienst fiel schon im nächsten Jahre Ferrara an die Päpstlichen.
Dieser und andere Erfolge gegen Ezzelino und die Reichspartei verschafften
ihm nach der Absetzung Friedrichs IL zu Lyon, bei der er mitwirkte, die
Auszeichnung, nach Deutschland gesandt zu werden, um die Wahl eines
Gegenkönigs durchzuführen. Wie er die schwierige Aufgabe löste, ist be¬
kannt : weniger, daß nicht unerhebliche Bruchteile von Philipps Archiv aus
dieser Zeit mit für die deutsche Geschichte höchst wichtigen Originalschreiben
an den Legaten durch ihn später in das erzbischöfliche Archiv zu Ravenna
gekommen und von Tarlazzi gedruckt sind 5 ); ich führe den Umstand, den
l ) Bei Zaccaria, Bibliotheca Pistoriensis p. 95 zum 18. September: venerabilis
pater Filippua sancte ecclesie Ravennatis nrchiepiscopus et olim canonicus Pisto¬
riensis; zuerst scheint Davidsohn, Gesch. von Florenz II 1 S. 350 auf den Eintrag
aufmerksam geworden zu sein. — Angedeutet sei der Vermittlungsversuch von
Frizzi 1. c., dem Bertoldi, Vescovi ed arcivescovi di Ferrara (1818) p. 16 Note 45
folgt, Philipp habe aus ferraresischem Geschlecht stammen, doch zufällig in Toscana
das Licht der Welt erblicken körnen.
*) C. S. 97 Anm. 1 nach Barotti und Ughi. Wir Bähen, daß Barotti nach
Augenschein zu berichten scheint.
*) Gius. Guarini Ferranti, Compendio della storia sacra e politica di Ferrara
(1808) II 126—127, der die Inschrift aber auch nicht sah.
4 ) Barotti p. 43, C. S. 97 I nm. 1, der sich nicht hätte auf Amadesius (p. 56)
berufen sollen, weil dieser p. 55 als Todesjahr 1274 annimmt und den Stein
für viel später gesetzt hält. S. Bartolomeo war Cisterzienser-, nicht Benediktiner¬
kloster: die von C. S. 97 Anm. 1 zitierten Angaben gehen auf den S. 96 Anm. 3
behandelten Grabstein zurück.
*) Sie sind selbstverständlich in den Reg. Imn. Abt. V verzeichnet; bei Tar¬
lazzi ist die Archivprovenienz genau angegeben. Es handelt sich um Briefe Gre¬
gors IX. und deutscher Fürsten an den Legaten.
538
Literatur.
C. nicht besonders hervorhebt, an, um zu betonen, wie viel aus den Ar¬
chiven Italiens für uns zu holen ist.
Nach dem Tode von Heinrich Haspe kehrte der Legat nach Ferrara
zurück und blieb dort, da ein Versuch, ihm das Bistum Florenz zu über¬
tragen, scheiterte, bis ihn Innocenz IV. im Jahre 1250 zum Erzbischof
von Bavenna machte, das bereits seit 1240 wieder kaiserlich war; der
Papst hat sich in der Hoffnung, in Philipp den starken Mann zu finden,
der in der Metropole der Emilia wieder Fuß fassen könnte, nicht getäuscht.
Durch den unerhörten Glücksfall des unerwartet frühen Endes Friedrichs II.
begünstigt, konnte er, abermals als Legat, in seine Hauptstadt einziehen
und in der von Kämpfen zerrütteten liomagna Frieden stiften. C. bietet
in seiner Darstellung dieser Tätigkeit, deren politischer Erfolg wegen der
Vormachtstellung von Bologna und des Einflusses der Venezianer auch später
unbedeutend war, eine brauchbare Ergänzung zu Hessel. War hier wenig
zu erreichen, zumal Philipp die romagnolische Legation wieder entzogen
wurde, so folgte er wohl mit Freuden dem Hufe auf das Feld der hohen
Politik, der wiederum an ihn erging, also 1254 der Tod des jungen deut¬
schen Königs Konrad die Ghibellinen abermals ihres legitimen Hauptes be¬
raubt hatte: das Schifflein der Kurie segelte in diesen Zeiten munter von
Erfolg zu Erfolg. Nun rief Innocenz den italienischen Episkopat auf, den
unteritalischen Lehensstaat dem Papsttum unmittelbar zu unterwerfen.
Die Politik der Kurie gegenüber den Bischöfen Italiens vom Wormser
Konkordat bis zum Ende der Staufer sollte einmal, wie das für Deutschland
geschehen ist, gründlich durchforscht werden. Das Ergebnis war, daß der
Einfluß Korns auf die Neubesetzungen sich steigerte, die Provisionen immer
häufiger wurden; an vielen Orten finden wir, daß Kuriale zu Bischöfen ge¬
setzt werden. Man kann den Feldzug, den der Genuese auf dem Stuhle
Petri gegen Manfred veranstaltete, als dieser das Banner der Staufer im
sizilischen Reiche aufpflanzte, eine Kraftprobe des italischen Episkopates
nennen; sie schien über Erwarten gut zu gelingen, wir kennen eine ganze
Reihe von hohen Prälaten, die auf ihre Kosten dem Papstheere Truppen
zuführten 1 ), sicherlich waren es aber viel mehr. Aber diese Kriegsmacht
war in keiner Weise imstande, sich gegen Manfred zu behaupten, obwohl
ihre Kosten mehr als ein Bistum finanziell ruinierten 2 ). Die Bistümer
hatten mit dem staunenswerten wirtschaftlichen Aufschwung der Städte
nicht Schritt halten können, die Ansätze zur Ausbildung geistlicher Staats-
w'esen traten mit verschwindenden Ausnahmen vor den Kommunen zurück,,
und auch die Privatwirtschaft der Bischöfe verfiel wie alle Großgrundherr-
schaften des Landes bei sinkendem Geldwert fortschreitender Verschuldung.
So zerrann der Vorteil, den die Kurie aus dem gewonnenen Einfluß auf die
Besetzung der Bistümer zog, und die mächtigen Stadtstaaten, schon damals
bemüht, im Wettbewerb mit der Kurie ihre Bischöfe ihren Interessen
dienstbar zu machen — was ja Philipp in der Romagna zur Genüge er¬
fahren hat —, haben später im ganzen ihre Aspirationen durchgesetzt.
*) Hier genügt es auf Rodenberg, Innocenz IV. und das Königreich Sizilien
S. 182 Anm. 2 zu verweisen.
*) Über Volterra siehe meinen Aufsatz »Bistum und Geld Wirtschaft « in
Quellen und Forsch. Bd. VHI u. IX, über Florenz Davidsohn H 1 S. 437 Anm. 3, da¬
selbst Anm. 4 über Volterra.
Literatur.
539
Philipp hatte an den diplomatischen Verhandlungen mit Manfred ohne
rechten Erfolg teilgenommen; da sandte ihn der neue Papst Alexander IV.
mit einem wichtigen Auftrag nach Norden in sein vertrautes Arbeitsgebiet,
zum dritten Male wurde er Legat, um den Kreuzzug gegen Ezzelino zu
leiten. Es soll nicht noch einmal erzählt werden, wie ihm der Hauptschlag
glückte, dem gefährlichen Gegner Padua zu entwinden, in dessen Besitz
dieser nie mehr zu kommen vermochte. Philipp versuchte ferner, Brescia
vor den Ghibellinen zu retten, doch beging er einen taktischen Fehler, der
Ezzelino ermöglichte, sich mit Uberto Pallavicini zu vereinigen und ge¬
meinsam mit ihm bei Gambara den Legaten zu besiegen und gefangen zu nehmen.
Brescia wurde die Beute der Sieger, und dort weilte der Erzbischof mit
seinem treuen Astrologen Eberhard, dem er später das Bistum Cesena ver¬
schafft hat, mehr als ein Jahr in der Gefangenschaft, der er auf abenteuer¬
liche Weise entrann.
In seine Metropole heimgekehrt, hat Philipp, der, wie wir sahen, jetzt
erst (Anfang 1261) die Bischofsweihe erhielt, nicht mehr viel wirken können.
Auf Bologna, das damals durchaus kein so sicherer guelfischer Besitz war,
wie C. S. 75 meint, war fortwährend Rücksicht zu nehmen, Manfred drang
in der Mark Ancona vor, und besonders der Umschwung, den nach Alexan¬
ders Tode die Wahl Urbans IV. herbeiführte, bedeutete für Philipp die völ¬
lige Kaltstellung: das Fehlen persönlicher Beziehungen war nie wieder zu
ersetzen. Umsonst war sein Jubel bei der Kunde von Urbans Tode; offen
hatte er Salimbene gegenüber die Hoffnung auf die Tiara ausgesprochen,
aus Dankbarkeit gegen seinen ersten Gönner wollte er sich Gregor X.
nennen *), aber es war anders bestimmt; erst sollte der Franzose Clemens IV.
kommen, und für den Bavennater Erzbischof änderte sich nichts, auch als
Karl von Anjou nach Rom kam, als Manfred den Heldentod fand. Erst als
Konradin über die Alpen stieg, besann man sich an der Kurie auf Philipps
Verdienste. Zum vierten Male Legat, wirkte er in Brescia und Cremonu,
den beiden inzwischen den Ghibellinen abgenommenen Städten, gegen die
Sache des Stau fers mit aller Kraft, trotzdem der alternde Mann kränkelte.
Nach Clemens 1 Tode bat er um seine Enthebung von seiner Legation; als
ihm diese nach einiger Zeit gewährt wurde, kehrte er zwar noch einmal
nach Ravenna zurück, doch sein Ende nahte. Am 18. September 1270 ist
er in Pistoia gestorben.
C. hat das Lebenswerk des Fontana gut dargestellt und es verständ¬
lich gemacht, wie dieser, sicherlich kein Mann ersten Ranges, doch der
päpstlichen Sache auf den verschiedensten Gebieten, in Deutschland und
Apulien, vorwiegend aber in der Emilia und östlichen Lombardei mit her¬
vorragendem Erfolg gedient hat. Das Lebensbild des Erzbischofs, dessen
Züge von allgemeiner Bedeutung C. liervortreten zu lassen versteht, ist
nicht ohne Schwung gezeichnet, die Folie der Zeitgeschichte ist, von kleinen
Verzeichnungen abgesehen, Zeitig gegeben. Freilich waren wichtige Vor¬
arbeiten wie die von Davidsohn und Hessel vorhanden, und mögen ohne archi-
valische Studien Ergebnisse g ößeren Umfanges auch ausgeschlossen sein, so
ist doch anerkennenswert, daß die Darstellung mit ruhig abwägender Kritik
in der Regel das Rechte trifft. Die Quellen sind im ganzen kritisch be-
i) L. c. p. 433.
540
Literatur.
nützt l ) und in wünschenswerter Vollständigkeit herangezogen; von wich¬
tigerer Literatur ist mir nur das Fehlen von E. Jordan, Les origines de
la domination angevine aufgefallen 2 ). Dem Autor und der Anregung seines
l ) S. 83 Anm. 1 hat der Druckfehlerteufel einen schlechten Witz gemacht: er
liißt Philipp sein Domkapitel ersuchen, pro animalibus seiner Vorgänger zu beten.
*) Nur bei der Benützung von Stieve, Ezzelino da Romano könnte C. etwas
vorsichtiger sein, ln dieser Zeitschrift XXXII 665 Anm. 1 stellte ich die von
diesem S. 78 gebrauchte Ortsnamensform Arleseya (statt der bei Rolandiu p. 116
stehenden, dort in der Anm. als Arlesega interpretierten Form Arlexica) richtig:
C. S. 66 liest mau wieder Arleseya. Die ziemlich heftige Polemik St.s gegen meine
Besprechung (in den Anm. zu seinen »Kleinen Nachträgen zur Gesell. Ezzelinos
von Romano 4 , in Histor. Vitrteljahrschr. XVI 77—82), in der er die üblichen Redens¬
arten vom bruchstückweisen Zitieren und willkürlichen Aneinanderreihen der Zitate
macht, und zwar ohne jeden Beleg — was er mir zum Vorwurf macht! —, be¬
strebt sich, wesentlich mit zwei (übrigens ganz mißglückten) Einzelnachweisen den
Eindruck zu erwecken, meine Einwände seien aus der Luft gegriffen, und rechnet
dabei doch etwas zu stark auf die Masse derer, die nicht die Zeit finden, meine
Besprechung nachzuprüfen, als daß ich liier schon Gesagtes, wie über Rolandin.
der wieder Zeitgenosse sein soll, und über St.« Darstellung der politischen Be¬
deutung seintis Helden, zu wiederholen brauchte. Ich bleibe bei meiner Angabe,
daß St. in der Einzelkritik — eine generelle Bemerkung nützt da nichts — die
kritischen Grundlagen, die Lenel für die Wertung der Paduaner Annalistik ge¬
schaffen hatte, nicht benützt hat. Daneben wird mir St. gestatten, über einen Ein¬
zelpunkt wie den Veroneser Aufstand von 1225, den er au den Haaren herbeizieht,
eine von Lenel abweichende Meinung zu haben; ich glaube nämlich wirklich, daß
die 24 eine Volksbehörde waren, und zwar wegen der Analogie mit anderen nach
Zahlen genannten Körperschaften wie den seit 1236 nachweisbaren 24 von Siena,
den 26 von Rom; daß eine Adelspartei nach der Zahl hieße, wäre singulär. Auf
Püllavicini und die Übersicht über die Cremoneser Parteikämpfe bei Astegiano, mit
denen die innere Politik noch lange nicht erschöpft ist, einzugehen liegt kein
Grund vor, da sich meine Bemerkungen nicht auf St. beziehen. Daß die genea¬
logische Legende der Ezzeline von Onara nicht Geschichte ist, sieht jeder, der
einen Begriff von der Stellung des salischen Rechtes in Reichsitalien hat: man
brauchte nicht einmal die zahllosen Parallelsagen zu kennen, auf die ich verwies.
Die 1. Anm. auf S. 662, die beweisen soll, daß ich ganze Sätze von ihm nicht ver¬
standen habe, lautet: »Der mehrfach in Aussicht gestellte Aufsatz ,Der Charakter
. . . .* ist jetzt erschienen 4 (folgt Zitat)! Daselbst Anm. 2 suche ich überhaupt
keinen Satz von ihm, geschweige denn einen auf S. 71, zu verbessern. Objektiv
falsch ist die Angabe S. 82 Anm. 1, daß St. Salzers kleine Abhandlung in seiner
1909 erschienenen Arbeit, deren Einleitung S. 7 das Datum München, Januar 1909
trügt, noch nicht benützen konnte, da jene im 1. Heft des XXXIU. Bandes des
Neuen Archivs, das das Datum 1907 trägt, erschien. Solche Lapsus sind ja kein
Unglück; wenn man aber seinem Rezensenten nachweisen will, daß er keine wissen¬
schaftliche Widerlegung leiste, genügen derartige Argumente in Verbindung mit
der, wie mir scheint, kühnen Behauptung, ich erachte es in der Regel nicht für
nötig, für meine »Gegenbehauptungen 4 Beweise zu versuchen, wohl doch nicht
mmz zu dem gedachten Zweck. Freilich, daß St. den Petrus de Vinea als Legat
bezeichne, die Erzählung von Ezzelins Zug von Modostia nach Monza und ähn¬
liches, das auf gleicher Höhe steht, schien mir, zumal mein ursprünglich für die
Histor. Zeitschrift bestimmtes Referat schon recht umfangreich geworden war, einer
Widerlegung nicht zu bedürfen. Meine Anzeige in der Histor. Zeitschrift, die
St. irreführend als »Besprechung 4 bezeichnet, verzichtet nicht, wie St. wieder irre¬
führend angibt, auf jeglichen Beweis, sondern verweist auf das eingehendere Re¬
ferat. So ist da8 einzige Richtige, was in St.s Polemik steht, daß m der Histor.
Zeitschrift infolge eines Druckfehlers auf den 33. statt auf den 32. Band dieser
Zeitschrift verwiesen wurde. Ich bedaure den Druckfehler tief, muß aber gestehen
daß ich daraufhin nichts von meinem Urteil über St.s Arbeit zurückzunehmen
habe; sein mangelnder 'Wille zur Quellenkritik wie der Mangel an Objektivität
gegenüber der eigenen Leistung — so, wenn er meiner Forderung von Archiv-
Literatur.
541
Meisters Hampe danken wir somit eine solide Arbeit, die uns die Bekannt¬
schaft mit einer wichtigen Persönlichkeit, einem hervorragenden Streiter im
Kampf um das staufische Imperium vermittelt
Frankfurt am Main. Fedor Schneider.
Poetsch, Dr. jur. J.. Die Reichsjustizreform von 1495,
insbesondere ihre Bedeutung für die Rechtsentwicklung.
Münster L W. 1912. III. u. 77 S.
Die vorliegende Schrift enthält die Antrittsvorlesung des Verf. als
Privatdozent in Münster in erweiterter Form. Ausgehend von einer Über¬
sicht über die Ausübung der höchsten Gerichtsbarkeit des Reiches im
Mittelalter, bei der merkwürdiger Weise die doch in der deutschen Literatur
schon häufig beachteten Ausführungen Lechners in Mitt d. österr. Instituts
Ergänzungsband 7 übersehen worden sind, wendet sich der Verf. den Re¬
formbestrebungen, den Verhandlungen und den Gesetzen des Wormser
Reichstages von 1495 und der Eröffnung des Reichskammergerichtes zu.
Das Schwergewicht seiner Ausführungen bringen aber die Erörterungen über
die Bedeutung der Reichsjustizreform von 1495, ein Kapitel das auch
neben dem Buche von Smend seinen Wert behält. Es sind nicht eigentlich
neue Gedanken, die der Verf. bietet; sein Verdienst ist es nur, sie wieder
einmal in klarer und überzeugender Weise ausgesprochen zu haben. Seit
langem galt das Jahr 1495 als ein Epochejahr der deutschen Rechtsge¬
schichte und die Schöpfung des Reichskammergerichtes im Jahre 1495 als
die entscheidende Tatsache. In neuerer Zeit konnte, als man den Vor¬
stadien des Reichskammergerichtes nachging, dies zum Teil übersehen werden,
um so mehr als den Zeitgenossen selber die Bedeutung des Geschaffenen
nicht ganz klar wurde. Sie faßten es als die Fortsetzung des kaiserlichen
Kammergeriehtes, so daß Prozesse, die vor diesem begonnen hatten, vor
dem Reichskammergericht ihre Fortführung fanden. Und doch welch eine
Kluft trennt die beiden Einrichtungen. Dort ein Organ zur Ausübung der
persönlichen Gerichtsbarkeit des Kaisers, besetzt nach der Willkür des Kaisers,
seinem Hofe folgend; hier ein Gerichtshof mit festem Amtssitze, besetzt
durch Vorschlag des Kaisers und der Stände, die Beisitzer notwendig ent¬
nommen zur Hälfte dem Adel, zur Hälfte aber Rechtsgelehrte, ein Organ
nicht zwar der Stände, wohl aber des Reiches, urteilend zwar im Namen
des Monarchen, doch unabhängig von seinem persönlichen Eingreifen nach
Überzeugung der Beisitzer und nach bestimmtem Rechte. So ist im Jahre
1495 mit dem Reichskammergericht das erste moderne unabhängige Gericht
im Reiche geschaffen worden und damit der Keim für eine Entwicklung
der allerbedeutendsten Art. Und daß das Recht, an das das Reichskammer-
gericht gebunden wurde, das Recht des Reiches und das gemeine war und da¬
mit das römisch-kanonische Recht seinen amtlichen Einzug in das höchste
Studien allen Ernstes die »Ergebnisse« seines Besuches in Verona entgegenhält,
über deren Editition auch noch zu reden wäre — treten wieder störend hervor,
und der Versuch, in eigener Sache den Richter zu spielen und den Rezensenten
zu rezensieren, wird wohl wieder die Note »mangelhaft« erhalten müssen.
o42
Literatur.
Gericht des Reiches nahm, ist bekanntlich ein Moment von der höchsten
Bedeutung geworden. Dax in liegt das entscheidende Schwergewicht der
Reicbsrefonn von 14*J5.
Wien. Volte 1 in i.
Hans Ubersberger, Rußlands Ürieutpolitik in den
letzten zwei Jahrhunderten. Auf Veranlassung Sr. Durchl. des
Fürsten Franz von und zu Liechtenstein dargestellt I. Bd. Bis zum
Frieden von Jassy. Deutsche Verlagsanstalt. Stuttgart 1913. (Verölt
der Ges. f. neuere Geseh. Österreichs) X., 380 S.
Der Verf. ist der Begründer des Studiums der russischen Geschichte
an der Wiener Universität und kennt sie wie sicherlich nur wenige in
Mittel- und Westeuropa, namentlich unter den Deutschen Österreichs. Po¬
litisch war es zweifellos ein schweres Versäumnis, daß von Seiten der öster¬
reichischen Regierungen nicht schon seit langem darauf hingearbeitet worden
ist, daß möglichst viele Deutsche die süd- und osteuropäischen Sprachen
erlernen und in Wissenschaft und Politik diese ganze östliche Welt uns
verständlich machen. Wäre das beizeiten in großem Maßstab geschehen, so
wäre die Zentralregieruug nicht so abhängig von den Informationen aus
Kreisen, die nur zu oft ihr eigenes Interesse dem des Staates vorziehen.
Manche Enttäuschungen wären ihr vielleicht dadurch erspart geblieben. —
Dies ist nun freilich Politik, aber sie ist nun einmal nicht ganz von der
geschichtlichen Betrachtung zu trennen. Auch der Verf. kann sich ihr bei
allem Streben nach ruhiger Objektivität nicht ganz entziehen. In dem Werke,
mit dem er seine großen Publikationen begonnen hat »Österreich und Rußland
etc.* (s. diese Blätter Bd. XXIX. S. 323—531) scheint er noch die Absicht
gehabt zu haben, freundschaftliche Beziehungen zwischen Österreich und Rußland
als etwas durch Natur und Geschichte gegebenes darzustellen, also gewisser¬
maßen die Annäherung der beiden Reiche als in der historischen Entwick¬
lung gelegen zu erweisen. Die folgenden Jahre haben in ihm offenbar
eine Wandlung hervorgebracht und ihn zur Überzeugung geführt, daß eine
solche Annäherung aussichtslos, eine Freundschaft Österreich-Ungarns mit
Rußland bei de&sen Ansprüchen auf die Dauer unmöglich sei. Die erste
Ansicht war schön und vielverheißend, aber sie wäre nur möglich gewesen
bei Fortsetzung der russischen Expansionspolitik gegen Asien und Über¬
lassung einer gewissen Vormachtstellung auf dem Balkan an Österreich-
Ungarn, das ja kein anderes Ventil für seine Lebensäußerungen besitzt. Die
Dinge haben sich anders entwickelt. Nach der Niederlage gegen Japan ist
Rußland mit verstärkter Wucht zur Balkanpolitik zurückgekehrt und wir
haben es schaudernd mitzuerleben, was die Folgen davon sind. — Unter
dem Eindruck dieser Wendung hat offenbar der Verf. das angezeigte Werk
geschrieben. Sachlich könnte es fast als Fortsetzung von »Österreich und
Rußland* erscheinen, denn auch in dem hier angezeigten Werk spielt das
Verhältnis zwischen diesen beiden Reichen naturgemäß eine große Rolle;
aber freilich ist die Aufgabe anders gestellt: Es handelt sich jetzt darum,
speziell die Politik Rußlands zu verfolgen. Dabei werden nun so manche*
Literatur.
543
in weiten Kreisen der slavischen Welt lebendige Ansichten über di*se Po¬
litik bekämpft und gründlich ad absurdum geführt.
Im 15. Jahrhundert, als Moskau zuerst mit der Türkei in Berührung
kam, suchte ersteres um jeden Preis Freundschaft mit letzterer zu erhalten;
sehr begreiflich, weil seit 1475 die Krimschen Tataren in Abhängigkeit
vom Sultan gekommen waren und daher von diesem nach Belieben auf
Moskau losgelassen oder von Einfällen dahin zurückgehalten werden konnten.
Moskaus aktive Feindschaft richtete sich damals fast ausschließlich gegen
das polnisch-litauische Reich und gegen dieses wurden die Tataren aufge¬
hetzt. Später freilich wenden sie sich gegen Moskau selbst und Iwan IV.
muß nach dem furchtbaren Einfall von 1571 einen jährlichen Tribut ver¬
sprechen. Die Vernichtung des Krimschen Chanats war eine große Aufgabe
der moskowdtischen Politik, damals aber noch ganz außer Bereich der Möglich¬
keit; ein direkter Kampf gegen die Türkei jedoch war nicht nur unmöglich,
sondern lag auch ganz außerhalb des Gesichtskreises der moskowitischen
Zeit. Südslawische Schriftsteller waren es vor allem, die nach dem Untergang
der christlichen Balkanstaaten und nachdem sich Ungarn und Polen der
Türkei nicht gewachsen gezeigt hatten, Moskau's * historische Mission* ent¬
deckten. Sie bestand aber nicht eigentlich in der Befreiung der Balkan¬
christen (— das Entscheidende ist in dieser Zeit immer der Gedanke des
Christen-, nicht des Slawentums—) sondern darin, daß sich die Orthodoxie,
da die Griechen angeblich vom wahren Glauben abgewichen waren und
nun zur Strafe dafür im zweiten Rom (Byzanz) der »heidnische Kaiser«
herrschte, nach Moskau, als dem dritten Rom gerettet habe. In dieser
Wahrung des rechten Glaubens erschöpfte sich die »Mission* Moskaus.
Daß der Gedanke einer Befreiung der Balkanchristen öffentlich ver¬
kündet wurde, das geschah zum erstenmal in der berühmten Ostersonntags-
ansprache des Zaren vom Jahre 1655. Aber das Slawentum spielt auch
da keine Rolle; zunächst sind die Griechen gemeint und die gleichzeitigen
politischen Verhandlungen betrafen hauptsächlich eine Verbindung mit
den rumänischen Fürstentümern 1 ). Sie führten indes zu keinem Er¬
gebnis und der erste wirkliche Zusammenstoß zwischen Moskowitern und
Türken erfolgte erst 1677 bei Cigirin. Hier war es aber eine ganz an¬
dere Frage, um die es sieh bandelte, nämlich das Geschick der Ukraine. —
Unter Peter dem Gr. erst ist Moskau so weit, einen ernstlichen Krieg gegen
die Türkei zu wagen. Die Grundlage dafür ist der Vertrag mit Polen vom
C. Mai 16S6, der noch unter Sophiens Regierung abgeschlossen worden war.
Auf der Balkanhalbinsel ersehnten die Christen das Eingreifen des rechtgläu¬
bigen Caren, sie fürchteten das Vordringen der (österreichischen, »Papisten*
last ebenso wie die Türkenherrschaft und sandten Boten nach Moskau mit
den schönsten Versprechungen. Aber dort fühlte man sich mit Recht ganz
außerstande, auf dem Balkan einzugreifen; mißlangen ja doch schon die
Versuche gegen die Krim jämmerlich. Erst Peter d. Gr. konnte im J. 1696
Asov erobern, worauf im Februar 1697 der Vertrag mit Österreich zur
Fortsetzung des Krieges geschlossen wurde. Aber schon 1699 ging letz¬
teres den Frieden von Karlowitz ein und Peter, der dies vergebens
b über letzteres vgl. z. B. Slrbu. Mateiu Voda Basarab etc.; meine Besprechung
in diesen Blättern, Bd. XXI, S. 705.
544
Literatur.
zu hintertreiben gesucht hatte, sah sich gezwungen, auch seinerseits Frieden
zu schließen (Juli 1700). In den Verhandlungen hatte er schon die For¬
derungen aufgestellt, Kußland solle freie Handelsschiffahrt auf dem Schwarzen
Meer erhalten, das hL Grab in Jerusalem solle an die Griechen zurückge¬
geben und diesen ebenso wie Serben, Bulgaren, Slowaken (!) freie Religions¬
übung sowie Schutz vor übermäßigem Steuerdruck gewährt werden. Diese
Forderungen konnten zwar nicht durchgesetzt werden, aber sie zeigen doch
schon die künftige Politik Rußlands in nuce, die Anfänge der Dardanellen¬
frage und des Strebens nach einem russischen Protektorat über die Balkan¬
christen.
Idessen — und das ist sehr bezeichnend — diese Fragen sind für
Peter nicht die wichtigsten, weit höher steht für ihn und mit Recht,
die baltische. Das zeigte sich vor allem bei den Verhandlungen, die zum
Frieden am Pruth (ll. Juli 1711) führten. Er war damals sofort bereit,
alle Erwerbungen am Azovschen Meer abzutreten; wenn die Türken fin¬
den Schwedenkönig eintraten, wollte er, um Petersburg zu retten, sogar
alt russische Provinzen opfern. Der Balkanchristen, die er beim Beginn des
Feldzugs aufgerufen hatte, geschieht in seinen verschiedenen Äußerungen
über den Frieden gar keine Erwähnung; sie waren ihm eben doch nur
Figuren auf dem Schachbrett seiner politischen Pläne. Ja, nachdem er
1720 die Umwandlung des Pruther Friedens in einen ewigen erreicht hatte,
stellte er der Türkei sogar das Angebot eines Bündnisses, da, wie er sehr
ketzerisch hinzufügte, solche nicht des Glaubens, sondern der Staatsinteressen
wegen geschlossen werden. — Freilich war davon im Emst keine Rede,
das Verhältnis zwischen beiden Mächten spitzte sich infolge der russischen
Erwerbungen am Kaspischen See wieder zu und nach Peters Tod sah sich
Rußland gezwungen, namentlich da sich Frankreich infolge der polnischen
Heirat Ludwigs XV. von ihm abwandte, mit Österreich ein Bündnis zu
schließen (6. August 172 ß), das Rußland im »Articulus secretissimus* auch
die asiatischen Erwerbungen sicherte, während es seinerseits nicht einmal die
Pragmatische Sanktion garantierte. Indessen die persischen Besitzungen
mußten doch wieder aufgegeben werden (1732, 1735); im Juni 1735 wurde
der Krieg gegen die Türkei beschlossen und damit eine Unternehmung be¬
gonnen, die zu den merkwürdigsten Überraschungen führte.
Die Türkei, die durch den von Rußland vergeblich bekämpften Frieden
mit Nadir Schach freie Hände bekommen hatte, zeigte sich militärisch viel
stärker als man geglaubt hatte, Österreich versagte in dieser Beziehung voll¬
ständig, während Rußland trotz vieler Fehler und Unzulänglichkeiten sich doch
verhältnismäßig gut bewährte. Das Sonderbarste aber war, daß Frankreich,ohne
selbst einen Soldaten zu opfern, die Entscheidung vollständig in seine Hand
bekam, indem es zuerst das durch seine Niederlagen geschwächte Österreich
dazu brachte, ihm absolute Vollmacht zum Friedensabschluß zu erteilen und
dann durch einen Subsidienvertrag mit Schweden auch Rußland auf denselben
Weg drängte. Am 28. August 1739 erfocht zwar Münnich den entscheidenden
Sieg von Stawutsehane, den ersten russischen Sieg in den Kämpfen gegen
die Türkei, aber schon am 1. September wurde der österreichisch-türkische
Friede geschlossen und diesem folgten am 7./18. die Präliminarien zwischen
Rußland und der Türkei. Die tatsächlichen Erfolge der Russen waren sehr
Literatur.
545
gering, sie erreichten nicht einmal ganz den Zustand von 1700, aber es
war doch von der größten Wichtigkeit, daß sie Österreich ans dessen Vor¬
machtstellung gegenüber den Türken (— wie sich später zeigte, endgiltig —)
verdrängt hatten.
Wie weit die Gedanken rassischer Politiker schon damals (1744/5)
gingen, zeigen die Äußerungen des Botschafters in Konstantinopel Vöänjakov.
Bußland, so meinte er, solle die Gelegenheit eines abermaligen türkisch¬
persischen Krieges ergreifen und losschlagen. Alle Christen der Balkan-
balbinsel, besonders die Slawen, seien bereit, sich zu erheben und Rußland
zu unterstützen. Dieses müsse die Türkei aus Europa vertreiben, am Bos¬
porus ein christliches Reich aufrichten und werde so Österreich in dessen
großen Plänen hemmen und das europäische Gleichgewicht von sich ab¬
hängig machen. Statt dessen kam es 1746 zu einem neuen russisch¬
österreichischen Vertrag, der trotz mancher Schwierigkeiten zwischen den
beiden Mächten — so in der schwedischen Verfassungsfrage, besonders aber
in der Frage der ungarländischen Serben, die sich bedrückt fühlten und
von dem russischen Botschafter in Wien in ungehöriger Weise protegiert
wurden — 1753 erneuert wurde. Aber nach dem Hubertusberger Frieden
gelang es Friedrich von Preußen, die Zarin Katharina H. für ein Bündnis
zu gewinnen (April 1764), obwohl er drei Jahre vorher in seiner ver¬
zweifelten Lage ein solches mit der Türkei geschlossen hatte. Als dann
1768 der schon lange drohende Krieg Rußlands mit der Pforte ausbrach,
hatte Katharina zwar die Rückendeckung durch Preußen, aber dafür die
kaum verhüllte Gegnerschaft Österreichs zu ertragen. Es ist — was der
Verf. nicht hervorhebt — das erstemal, daß diese Situation entsteht, eine
ähnliche wie dann wieder 1878. Katharina hat den Plan der Orlovs, bei
diesem Kriege die griechisch-orientalischen Untertanen der Türkei anfzu-
wiegeln, mit Begeisterung ergriffen; aber von der Befreiung der slavischen
Völker ist nicht speziell die Rede. Griechen, Georgier und Rumänen figu¬
rieren in diesem Plan ebenso wie die Montenegriner; die Beziehungen der
letzteren zu Rußland tragen übrigens einige recht abenteuerliche, oft ge¬
radezu schwindelhafte Züge. Die Siege der Russen von 1769 und 1770
führten dann zu der österreichisch-türkischen Konvention vom 6. Juli 1771
und die Gefahr eines österreichisch-russischen Krieges wurde so groß, daß
in der Tat nur die Teilung Polens sie ablenkte. Friedrich 1L hat dabei
mit größter diplomatischer Meisterschaft den beiden Kaisermächten seinen
Willen aufgezwungen. Rußland mußte auf den Gedanken, die rumänischen
Fürstentümer ganz zu gewinnen, verzichten; dafür trat aber der andere,
die krimsehen Tataren von der Türkei loszutrennen, immer stärker hervor
und dies wurde im Frieden von Kütschük-Kainardsche (1774) wirklich
erreicht. Die orthodoxen Untertanen der Türken — so die Griechen
— waren früher ohne Skrupeln der türkischen Rache preisgegeben worden,
aber die Hauptgedanken Katharinas, die Erringung der Herrschaft auf dem
Schwarzen Meer und eine Verbesserung der Grenzen gegen Polen waren
durchgesetzt oder doch der Verwirklichung näher gebracht. Recht inte¬
ressant ist, daß Rußland in den vorangegangenen Verhandlungen für sich
freie Schiffahrt auf dem Schwarzen Meer, zugleich aber dessen Sperrung für
alle anderen Völker verlangt hatte; vor allem wichtig wurden aber die
Artikel 7 und 14 des Friedens, die — allerdings infolge einer unerhört
Literatur.
540
ausgedehnten Interpretation — Baßland das Becht der Fürsprache zu¬
gunsten der griechisch-orientalischen Bevölkerung verschafften. In der
Moldau und Walachei wurde ihm dieses Becht ausdrücklich zuerkannt. An
diesen Frieden knüpften sich sofort die schwierigsten Verhandlungen, der
Friede war eigentlich stets bedroht, bis die Türkei in Verzweiflung im August
1787 wieder den Krieg erklärte. Unterdessen hatte sich nämlich Katharina
wieder Österreich zugewendet (Bündnis 1781), freilich erst nachdem sie die
Garantie des Teschener Friedens übernommen hatte und ohne diese Garantie,
die doch im wesentlichen gegen Österreich gerichtet war, aufzugeben. —
Das Jahr 1783 brachte dann die Einverleibung der Krim, die 1784 in
einer Konvention von der Pforte indirekt zugestanden wurde, das Jahr 1787
die berühmte Zusammenkunft zwischen Kaiser Josef II. und Katharina und
dann kam eben der Krieg. Die Zarin ging mit den größten Hoffnungen
an ihn 'heran. Ihrem jüngeren Enkel (geb. 1779) hatte sie den Namen
Konstantin gegeben und seit 1780 sprach man von ihrem Wunsche, für
ihn ein orientalisches Kaiserreich mit Konstantinopel als Residenz zu be¬
gründen. Die wirklichen Erfolge waren dagegen höchst bescheiden, Öster¬
reich mußte bekanntlich infolge der Haltung Preußens auf jeden größeren
Erwerb verzichten und Bußland gewann im Frieden von Jassy auch recht
wenig, aber was seit 1739 deutlich zu merken war, das wurde jetzt klare
Tatsache: Österreich war als Vormacht auf dem Balkan durch Rußland
verdrängt.
Bis hieher führt der Verf. seine Aufgabe im I. Bande. Die Einzel¬
heiten sind mit großer Ausführlichkeit behandelt, so namentlich die Ver¬
handlungen vor dem Belgrader Frieden (1739). Überall konnte der Verfl
die Literatur, namentlich die russische, in ausgedehntestem Maße heran¬
ziehen, so daß sein Werk in der Tat eine erschöpfende Darstellung der
Frage bringt.
Stark tritt die Tendenz hervor, die »Geschichtslügen € in der russischen
Auffassung vom Verhältnisse Rußlands zu den Balkanslaven zu zerstören
und dies ist insoferne zu bedauern, als es dem Gegner die Möglichkeit
bieten könnte, infolgedessen die Objektivität der Darstellung anzuzweifeln.
Ich lege Wert darauf festzustellen, daß die Beweisführung für den ruhig
Denkenden, der sich ihr nicht bewußt verschließt, durchaus überzeugend
ist. Wer übrigens historisch denkt, weiß ja, daß eine solche uneigennützige
Befreierrolle, wie sie Rußland oft angedichtet wird, nirgends in der Ge¬
schichte vorkommt. So können — freilich auch sie mit einer gewissen
Selbsttäuschung — einzelne Bevölkerungskreise denken, aber niemals ver¬
antwortliche Staatsmänner. Diese werden in entscheidenden großen Fragen
immer — im Sinne ihres Landes und Volkes — egoistisch sein müssen.
Man wird ihnen also daraus keinen Vorwurf machen können, wichtig aber
ist es allerdings, diese Tatsache öffentlich und zweifellos hinzustellen und
dies in wünschenswerter Klarheit zu tun ist das Verdienst von Übersbergers
Buch.
Wien.
Dr. Moritz v. Landwehr.
Literatur.
547
Max Beinitz, Das österreichische Staatsschulden wesen
von seinen Anfängen bis zur Jetztzeit München und Leipzig,
Duncker u. Humblot, 1913. X und 182 S.
Es braucht kaum betont zu werden, daß eine Geschichte des öster¬
reichischen Staatsschuldenwesens eine der wichtigsten und dankbarsten, aber
auch eine der schwierigsten Aufgaben der neueren Geschichte Österreichs
darstellt Ihr Verfasser sollte ebenso genauer Kenner der gesamten Finanz¬
wissenschaft, wie gründlich durchgebildeter Historiker sein; fehlt ihm die
letztere Eigenschaft, so muß man zum mindesten fordern, daß er über den
inneren und äußeren Werdegang seines Staates genau unterrichtet ist und
die allgemeinen technischen Grundsätze historischen Arbeitens befolgt Ich
bedauere, Max Keinitz diese Voraussetzungen durchaus absprechen zu müssen.
Ein begabter Journalist hat sich an ein höchst bedeutendes Thema gewagt
und erweist sich der finanzhistorischen Seite als keineswegs gewachsen.
Allerdings bezeichnet Beinitz im Vorworte den finanzhistorischen Teil vor¬
sichtig nur als Beigabe seines Buches. Da der Titel dem widerspricht und
da diese »Beigabe* immerhin nahezu die Hälfte des Werkes ausmacht 80
kann der Verfasser nichts einzu wenden haben, wenn sich die führende ge¬
schichtliche Zeitschrift Österreichs eingehend mit seinem Buche befaßt.
Es liegt mir ferne zu behaupten, daß Beinitz mala fide die weitgehende
Abhängigkeit verdunkelt hat in der seine finanzgeschichtlichen Darlegungen
von den Arbeiten früherer Forscher stehen; obenbar aber sind ihm die li¬
terarischen Bräuche völlig unbekannt, an denen die gelehrte Untersuchung
festhalten muß und die höchstens der Tagesschriftsteller außer Acht läßt.
Die historischen Ausführungen beruhen ganz überwiegend auf J. v. Hauers
Beiträgen zur Geschichte der österr. Finanzen (1848), auf F. v. Mensis so
verdienstvollen »Finanzen Österreichs* 1701—1740, und seinem Artikel
* Staatsschulden* im österr. Staats Wörterbuch (4. Bd. 2. Aufl.), dann auf
A. Wolfs Geschichtlichen Bildern aus Österreich und auf meinem »Staat¬
lichen Exporthandel Österreichs*. Namentlich Hauer und Mensi sind in
einer Weise ausgenützt, die man nach den Zitaten Benutz 1 nicht ahnen
würde. Er bringt seitenlange Darlegungen, ohne seine Vorgänger, auf
denen sie beruhen, zu nennen, oder er zitiert sie einmal gelegentlich mit
oder ohne Seitenangabe, um dann bei der nächsten Gelegenheit stolz auf
jeden Verweis zu verzichten. Noch bedenklicher ist folgendes: wenn ich
auch nicht bestreiten will und kann, daß Beinitz einzelne Akten des Hof-
kammerarchivs eingesehen hat, so ist es doch ganz irreführend, die von
Mensi bereits zitierten und gründlich verwerteten Akten nochmals zu zitie¬
ren, wenn man ihnen nicht mehr zu entnehmen weiß als dieser Forscher.
Ich habe Beinitz 1 Aktenzitate mit denen Mensis verglichen: kein einziges
Dokument, das dieser nicht bereits anführte! Und doch erstaunlicherweise
an einer Stelle, die ganz auf Mensi ruht, die Bemerkung (S. 16): »man
wird ganz wirr, wenn man die bezüglichen Dokumente im Finanzarchiv
liest*. Oder wozu wird S. 17 das fürstlich Schwarzenbergsche Archiv in
Wien und dann erst Adam Wolf genannt, der allein dieses Archiv benützt
hat? Auf S. 20 führt Beinitz die »Familienaufzeichnungen des Badmeisters
Hans Adam Stamfer* an; der Anmerkung »in diesen liest, man* folgt eine
wörtlich wiedergegebene Stelle, aber kein Wort davon, daß das Ganze wie-
548
Literatur.
•ler Wolfs Geschichtlichen Bildern entnommen ist und daß es sich um das
Gedenkbüchel der Maria Elisabeth Stampfer handelt Diese Proben durften
genügen, um zu zeigen, wie wenig die Hinweise auf archivalische Studien
bei Reinitz besagen.
Die historische Auffassung Reinitz 1 ist — unhistorisch. Der geschicht¬
liche Teil ist durchsetzt von Ausfällen gegen die heutigen Verhältnisse, er
zeigt vor allem eine völlige Verständnislosigkeit gegenüber den Eigenheiten
des absoluten Beamtenstaates, eine Pauschalverurteilung des altösterreichi¬
schen Beamtentums, Ungerechtigkeit gegenüber dem Adel, der bekanntlich
namentlich in Böhmen sehr viel für die Entwicklung der Industrie getan
hat, Übertragung eines liberalen frei wirtschaftlichen Ideals in die Vergangen¬
heit. Eä ist leicht von Frivolität der Leiter des Wirtschaftslebens zu spre¬
chen, wo der historisch Denkende oft nur Mangel an Einsicht findet. Die
Rolle, die im Finanzwesen Österreichs die Stände — nur zu oft hemmend
— gespielt haben, ist Reinitz, der immer nur den absoluten Willen des
Monarchen und seiner Beamten sieht und das Fehlen eines Parlaments in
Altösterreich beklagt, dunkel geblieben.
Die Beweise für die unhistorisebe Auffassung ließen sich leicht ver¬
mehren. Zahlreich sind auch die schiefen Urteile und Irrtümer im ein¬
zelnen. Ich verzeichne einige, ihre Richtigstellung ergibt sich für jeden
fachkundigen Leser von selbst, wenn ich sie nicht beifüge. »Der Staats¬
kredit Österreichs war hundert Jahre hindurch nur die Ausbeutung des
Schwachen durch den Starken, indem die der werbenden Staatsgewalt zur
Verfügung gestellten Mittel niemals dem Vertrauen zum Staate, sondern
den angewandten Mitteln der Staatsautorität zu danken waren* (S. III);
diese Behauptung gilt höchstens von den Zwangsdarlehen, nicht von den
Kreditoperationen im Auslande, die z. T. auf inländische Fonds begründet
wurden. »Das Beamtentum hat* nach Reinitz »den partikularistischen Zug
der Volkswirtschaft zur Zeit Leopolds L und Karls VL stramm eingehalten*
(S. l); Oppenheimer war die einzige (!) und wichtigste Kreditquelle unter
Leopold L, er war der einzige Gläubiger Österreichs (S. 4); es ist bemer¬
kenswert, daß das Finanzarchiv über unwürdige Finanzgeschäfte noch heute
die Akten sorgsam aufbewahrt (S. 9); die Zwangsanlehen trafen zumeist nur
die Juden (S. 12); die Einforderung des Kirchenschatzes unter Leopold I.
ist etwas, was bisher kein Habsburger zu verfugen gewagt hatte (S. 14.
Und Ferdinand I.?); Giro del banco (statt banco del giro S. 15 und 35);
die Erwerbssteuem und Personal- und Klassen steuern rühren erst aus dem
Anfang des 19. Jahrhunderts her (S. 18); der »Freiheitskrieg des Jahres
1848* (S. 19). Die verschiedenen Judensteuem und die Besteuerung jü¬
discher ritueller Bedürfnisse mögen ja eine »Schandsäule des altösterreichi¬
schen Steuersystems* sein (S. 19), so uneigennützige Staatsdiener waren die
Juden doch nicht, wie Reinitz meint. »Unter Karl dem Großen siedelten
sich die ersten Kolonisten am Fuße des Erzberges an (S. 20); das Theatrum
Europäum, das größte Geschichtswerk der damaligen Zeit (S. 21 f.); der
Quecksilber- und Kupferhandel des Staates sicherte ein Monopol für ganz
Europa (S. 23); Leopold berief aus dem Auslande J. J. Becher und Schröder
(S. 33); die Wirtschaftsgeschichte jener Zeit ist eigentlich nur eine Geschichte
der Überschuldung, alles übrige ein mixtum compositum von merkantilisti-
schen Experimenten* . . . , (S. 33). Mensis Erklärung der Barattierung ist
Literatur.
549
viel klarer als die R.8 (S. 37); S. 42 wird wieder einmal Leopolds Hof¬
kammerpräsident Sinzendorff statt ZSnzendorff genannt; S. 58 soll es heißen:
die Aufhebung des Edikts von Nantes, nicht das Edikt von Nantes. Den
Merkantilismus hat R. nur vom staatsfinanziellen Gesichtspunkte aus be¬
trachtet. Welcher Ausdruck: in Österreich waren es die beiden Kaiser
Leopold I. und Karl VL selbst, die zum Mittel des Merkantilismus rieten!
Daß der Staat als Unternehmer eine allgemeine Erscheinung ist, hat R.
auch nicht bemerkt; freilich, in Österreich hätte die praktische Durchführung
der merkantilistischen Wirtschaftsgrundsätze gewiegten Handelsmännern, den
Italienern, Griechen und Juden überlassen werden müssen! Wie oft wurde
dies versucht! Die Bevormundung des französischen Merkantilismus hat
nicht alsbald aufgehört, wie R. meint. Die praktische Betätigung des Mer¬
kantilismus in Österreich hat R. sehr unterschätzt, die Handelspolitik Leo¬
polds I. und Karls VL und ihre Resultate existieren für ihn fast garnicht;
es ist irrig, daß kein Verständnis für die Ausgestaltung der Verkehrswege
vorhanden war, R. weiß nicht, wie alt schon die Verbindung Wiens mit
Italien, aber auch mit Triest ist. Nirgends legt er den richtigen Maßstab
an: die zweifellose Schuld des fiskalischen und bürokratischen Elements
wird ungebührlich vergrößert, »das strenge Prohibitivsystem hat nur ge¬
schadet, nichts genützt*, Unvergleichbares — England und Österreich —
wird gegenübergestellt. Welch’ falsches Bild, das Mißlingen der großzügigen
Reformen Karls VI. hauptsächlich auf die »Drangsalierung der jüdischen
Kaufleute* zurückzuführen. Sogar »die Straße über den Semmering wurde
unter den Babenbergern mit dem Gelde der Juden angelegt*! (S. 57 f.j.
Die Tüchtigkeit der Juden in der Steiermark vor ihrer Vertreibung
1496 läßt sich nicht so geradezu bejahen; völlig falsch aber ist es, die
Juden des Spätmittelalters in der Steiermark als Förderer der -Montan¬
industrie und als Pioniere des Handels und der Industrie zu preisen. Damit
soll natärlich nicht bezweifelt werden, daß in neuerer Zeit die Intoleranz
das Wirtschaftsleben ungünstig beeinflußt hat. Für die erziehliche Wir¬
kung der Prohibitivpolitik fehlt R. selbst in der Zeit Maria Theresias und
Josefs H. der Blick, wie u. a. (S. 60) seine Bemerkung zeigt, Österreich
habe noch unter Josef H. nur über Rohprodukte verfugt. Die österreichi¬
schen Herrscher waren nach R. »für bessere Ratschläge geradezu unzugäng¬
lich* : hat er nie bemerkt, daß sie sogar sehr zugänglich, aber des Talents
der kühlen Rechner, wie es etwa Friedrich Wilhelm I. zeigte, bar waren,
daß sie die Grandseigneurs auch in finanzieller wie in künstlerischer Be¬
ziehung waren? Was sagen die Kunsthistoriker dazu, daß die Blüte der
Kunst unter Leopold I. und Karl VL auf die Flucht des Kapitals vor den
Ansprüchen der Kaiser zurückgeführt wird »damit der Reichtum festgena¬
gelt sei*? Es genügt schließlich wohl auf den Namen Sonnenfels hinzu¬
weisen, um zu zeigen, wie es mit R.s historischen Kenntnissen bestellt und
wie viel von seinem Gesamturteile (S. 68) zu halten ist, daß sich Spuren
der volkswirtschaftlichen Aufklärung in Österreich erst im 19. Jahrhundert
finden. Sein Hauptinteresse fesseln offenbar die »interessanten Staatsgläu¬
biger*, ein Ausdruck, der bis zum Überdruß immer wiederkehrt.
Unter der Literatur vermissen wir namentlich Adam Wolfe Abhand¬
lung über die Hofkammer unter Leopold I., sowie Beers Arbeiten, Die
Staatsschulden und die Ordnung des Staatshaushaltes unter Maria Theresia
Mittoil angon XXXVI. 30
550
Literatur.
(A. ü. G. 82) und die Finanzverwaltung Österreichs 1749—1816 (M. J. ü.
G. 15). Angesichts der Vernachlässigung ungedruckten Materials ist es
erklärlich, daß die Zeit Leopolds I. sehr stiefmütterlich gegenüber der
Karls VI. behandelt ist Die Disposition der Kapitel 1—5 ist nicht durch¬
dacht. Nicht einmal über die jeweilige Höhe der Staatsschuld erhalten wir
verläßliche Angaben. Einige Worte zum Beweise: 22 Mill. betrug die
Staatsschuld nicht am Ende der Begierung Leopolds (S. 40), sondern schon
1701 (nach Mensi), beim Tode Karls VI. ist sie nicht 100 Mill. groß, son¬
dern einschließlich der 50 Mill. Stadtbankschulden 98 MilL; rund 377 MilL
betrug sie nicht beim Tode Josefs IL, sondern bei dem Leopolds IL (nach
Hauer, mit dessen Zahlen aber die Mensis, Artikel Staatsschulden, nicht
übereinstimmen), 466 Mill. nicht im Jahre 1800, sondern 1797; im Jahre
1800 betrug sie nach Hauer schon 689, nach Mensi 605 MilL; nicht durch
die ganzen napoleonischen Kriege, sondern schon bis 1810 hat sich die
Schuld auf 658.224 (nicht 65.822) Mill. erhöht. Dazu kommen nach
Hauer über 1000 Mill. Bankozettel. Die Zahl 1700 MilL für den Staats¬
bankrott von 1811 ist annähernd richtig, nicht ganz genau. Die Angaben
über die Anleihe von 1820 sind Hauer entnommen, der nicht genannt ist
Mit der Gründung der österreichischen Nationalbank 1816, der Schaf¬
fung von Rentenanleihen mit Rothschild als Vermittler, der allmählichen
Regelung des Staatsschuldenwesens seit dem zweiten und dritten Dezennium
des vorigen Jahrhunderts schließt Reinitz’ finanzgeschichtlicher TeiL Für
die Folgezeit hätte ihm Ad. Beers Buch, Die Finanzen Österreichs im
19. Jahrhundert, das er anscheinend nicht kennt, mancherlei geboten. Indes,
dieser zweite Hauptteil seines Werkes bringt nur noch gelegentliche ge¬
schichtliche Bemerkungen und dient in erster Linie einer Schilderung des
Staatsschuldenwesens der Gegenwart und finanzpolitischen Ratschlägen für
die Zukunft. Beers Werk, Der Staatshaushalt Österreichs seit 1868 (Uni¬
fizierung der Staatsschuld) scheint stark verwertet zu sein, wenn es auch
nur einmal zitiert wird. In diesem Teile ist der Verfasser in seinem Ele¬
mente. Nur in knappen Linien möchte ich die Grundgedanken, die den
Historiker kaum mehr angehen, wiedergeben, da das ganze Werk sonst un¬
genügend charakterisiert wäre.
R. spricht sich sehr lebhaft und gewandt für die Durchführung von
inneren Staatsanleihen aus; das Kreditwesen soll sich uneingeschränkt aus¬
bilden, die Verschuldung Österreichs hat nichts Beängstigendes, sondern ist
ersprießlich für Handel und Industrie, das Volksvermögen Österreichs wächst,
der Reichtum hat sich in den bürgerlichen Kreisen (?) eingenistet. Aber
das inländische Kapital sollte ohne Scheu in inländischen Rententiteln an¬
gelegt, der weiteren Verschuldung im Auslande ein Ende gemacht werden.
R. setzt sich ferner sehr für die 1913 in Verhandlung stehenden Steuer¬
vorlagen ein, wendet sich gegen die hohen Kosten der Verwaltung, gegen
die Einwirkung der österreichischen Nationalverhältnisse auf den Staatshaus¬
halt und Staatskredit. Merkwürdig, der Gegner des Merkantilismus steht
dem Neomerkantilismus nicht ferne, da er hohe Importzölle zum Schutze
der heimischen Industrie fordert, die Erhaltung des Geldes im Inlande zur
Hebung der Produktion verlangt, die Anleihen im Auslande bekämpft un i
die Rücklösung der Staatswerte aus Frankreich vertritt. Von einem Schutz¬
zölle zugunsten der agrarischen Produktion wird freilich abgesehen. P er-
Literatur.
551
kennt allerdings die Tragweite des Agrarproblems; die Ursachen der schweren
Lage des Ackerbaues sieht er in der »Schwäche der individuellen Kräfte
und der min deren Tüchtigkeit der österreichischen Landwirte«, in klerikalen
Tendenzen und mannigfachen Vorurteilen, dem Mangel an Aufklärung u. s. w.
ln ihrem schweren Kampfe gegen die Großindustrie soll den Landwirten das
mobile Kapital zu Hilfe kommen; dieser Altruismus ist aber nur Pflicht des
Adels und der Kirche, »der toten Hand«, wie R. die Kirche noch heute nennt:
sie sollen dem Staate in der Reform des A grarkreditwesens beistehen, die
»liberalen Elemente« haben keine derartige ethische Verpflichtung gegen¬
über ihren »politisch und national, mitunter auch konfessionell feindseligen
und unduldsamen agrarischen Mitbürgern«. Ausgaben für Geistlichkeit und
Armee sind unproduktive Lasten! Die ganzen Ausführungen gipfeln in
Vorschlägen für Begebung der Kenten durch eine einzige Gruppe von Geld¬
instituten mit der Postsparkasse an der Spitze, für Wiederbegründung der
Popularität österreichischer Kenten, Verpflichtung der Sparkassen zu Renten-
anlagen und Beschränkung ihrer Hypothekargeschäfte.
Eine Kritik dieser Darbietungen wäre in den »Mitteilungen« nicht am
Platze; sie selbst passen in den ökonomischen Teil der »Neuen Freien
Presse«, nicht in ein Werk, das sich in seinem Titel als historisches gibt.
Die Geschichte des »österreichischen Staatsschuldenwesens von seinen An¬
fängen bis zur Jetztzeit« muß erst geschrieben werden.
Graz. Heinrich Ritter von Srbik.
Alexander von Peez und Paul Dehn, Englands Vor¬
herrschaft aus der Zeit der Kontinentalsperre. Leipzig,
Duncker u. Humblot 1912. XX u. 381 S.
Alexander von Peez hat während eines langen Lebens (1829—1912)
in Wirtschaft und Politik seines Vaterlandes eine große Rolle gespielt und
ist auch publizistisch stark hervorgetreten. So sind die vorliegenden Stu¬
dien und Eindrücke aus einem Gebiete, das ihm durch die Jahrzehnte ver¬
traut geworden ist, der Beachtung weiterer Kreise sicher, zumal er einen
würdigen Genossen seiner Arbeit fand in Paul Dehn, dessen Schriften über
weltwirtschaftliche Fragen längst bekannt sind. Den vorwiegenden In¬
teressen der beiden Autoren entspricht es, daß ihr Buch sich als ein Abriß
der napoleonischen Geschichte darstellt mit besonderer Berücksichtigung der
Bolle Englands und der see- und wirtschaftspolitischen Probleme. Gerade da¬
durch hat das Werk auch erhebliches Gegenwartsinteresse; nicht minder
durch die Propaganda für den Schutzzoll und die Bekämpfung des eng¬
lischen »Freihandelsmärchens«. Hier spricht durchaus der aktive Politiker,
und auch sonst ist das in einem Maße der Fall, daß die historische Treue
darüber oft arg zu kurz kommt. Als eine historische Darstellung ist denn
auch das Ganze überhaupt kaum zu bezeichnen, vielmehr enthalten die 51 (!)
Abschnitte auf 350 Textseiten im wesentlichen nur eine bunte Sammlung
interessanter, oft allzuweit ausholender Lesefri\chte und Beobachtungen.
Manche glückliche Formulierung über bekannte Zusammenhänge findet sich
darunter, aber größer ist die Fülle der schiefen oder unrichtigen Urteile.
552
Literatur.
Die ungenügende Quellen- und Literaturbenutzung ist daran schuld, nicht
minder die ganz einseitige Beurteilung der englischen Politik. Man mag-
den Egoismus der Engländer in dem langen Bingen des legitimen Europa
gegen das Frankreich der Revolution und Napoleons, die brutale englische
Seetyrannei der Zeit und ihre Folgen bis zum heutigen Tage, die Tatsache,
daß England im Jahre 1815 als der eigentliche Sieger unter den geschwächten
europäischen Mächten dastand, noch so pessimistisch einschätzen und wird
doch Peez’ Urteile ungerechtfertigt finden. Erstaunlich ist die Kühnheit
mit der er große historische Entwicklungsreihen skizziert, so wenn er nicht
Napoleon, sondern »die kalte englische Staatskunst mindestens die Grund¬
ursache des zweiten Teiles des langen Krieges* sein läßt. — »England war
und blieb unversöhnlich und kriegerisch*.
Der scharfe antienglische Standpunkt des Buches ist keineswegs gleich¬
bedeutend mit einer Vorliebe für Frankreich. Nicht minder kraß ist es,
wenn in dem Kapitel »Die Franzosen als Freiheitsbringer* die Heereszüge
der Revolution lediglich unter dem Gesichtswinkel der dabei verübten Räu¬
bereien erzählt werden.
Da ein zweiter Band angekündigt ist, soll nicht unerwähnt bleiben,
daß die Komposition des Buches außerordentlich salopp und der Druck, be¬
sonders der Eigennamen, überaus nachlässig ist. Zwei Beispiele für viele:
Als Kapitel 14 folgt »Die zweite Koalition 1799—1802 (!) Marengo* nach
Kapitel 12: »Bewaffnete Neutralität von 1800* und Kapitel 13: »Die
Ermordung Pauls*. Zahllose Wiederholungen sind bei solcher Anordnung
des Stoffes unvermeidlich. — Auf Seite 201 finden sich nicht weniger als
sechs verstümmelte Eigennamen.
Trotz der historischen Bedenken, die sich gegen das vorliegende Werk
erheben, ist es für weitere Kreise der Gebildeten eine anregende Lektüre.
Posen. Alfred Herrmann.
Edmund Ulbricht (f), vollendet und herausgegeben von G. Ro¬
senhagen, Weltmacht und Nationalstaat Leipzig, Dieterich
(TL Weicher). 1911. XXIII und 685 S.
CL Seignobos, Politische Geschichte des modernen
Europa. Entwicklung der Parteien und Staatsformen 1814—1896.
Deutsch nach der 5. Auflage des Originals. Leipzig, Werner Klinkhardt
1910. XVI und 808 S.
Zwei politische Weltgeschichtswerke nicht ganz gleichen Wertes, wie
mir scheint mag auch das erste als Ergänzung des zweiten gedacht sein.
Ich möchte damit nichts geringschätziges über das wohlgemeinte, besonnene,
durchaus nicht gedankenarme Werk von Ulbricht-Rosenhagen sagen.
Vielleicht werden manche Beurteiler — ich zähle mich dazu — ein deut¬
licheres Durchdringen universalistischer Tendenzen in diesem Buche wünschen.
Die Stoffgliederung scheint^ in den Unterteilungen nicht immer ganz glücklich
zu sein, doch verhehle ich mir nicht daß das Urteil just in Einteilungs¬
fragen immer eine subjektive Sache sein wird. Niemals verlieren die Dar-
Literatur.
silier das Maß, wiederholt — etwa m üen Ausführungen über den Kab
vimamfa —• erweisen sie ihre Vertrautheit. mit der jüngsten Jdtvryuui'.
VoreSglich seheint, die imnzosihiacbe Politik beurteilt, die mH- Ihres Welt-
r^ichste&detoeii vor England durchaus nicht deshalb trtfag* weil tie maritime
Mibefolge batte, .sondern well m sieb in ^iner schließlieh
dsoeh ExpafiÄiouspolitik auf dem Kontineiite gei&eL Ähr liegt
dis* gsr»ge&eÖehtÜdbk? Schuld jbtidvrig* XIV> Und hat Napoleon,, der den
Kürüpi Uüt Enghmd:. mit ungi?nii^wi>at Kriegsiiuttelh begann, außer diesem
Tehk-r nMu auch d^ nnheilmlW Politik Ludwigs XIV r , wiederholt? &lüek-
vu*h seid faßt das Ruch mit eurnu Amb'lfck auf .die •(iegcÄvmrt/ab, hfa deren
K eriiö:eielieii die M^r^phl tigfci t; der > Imperial fernen *, der Weltliche her-
vorgeböbcjii vririij die bei allen. bang?» Ikigeiü&tzticihüiHsn doch auch ein
lebendiges Agens mih&lL Es ist das i^kenntniä zu unserer Zukunft im
Wider%ntefe 0 fej; Ka^udr&nifcn, wie sie zumeist aus .dem Munde
geifjineicbef BiJoitmitcu tu den letzfett Jahren laut geworden ß&ch
Das Ulbrich Bosenh^en'ßohe Buch verweist für die Zeit von 1814 v 0 >
wartä ÄÜf: das vielgerübmte WeltgeStdiif’Jbt^werk von Selgnobnii, mit
abichilefitmd, nümnefer m gixfc&r dehtscher; ifyimdtwüig. *} «srfjif^nifc Es be-
zeichnet sieh at?sdniftkUch afe pdßiiscttö (^Schichte und b* schränkt sich in
Die Anlage fast eigenartig und hat mjH überall Beifall, gsfa
diesem Sinne
fumäem Sie ist ein \ r ersu(i. geögrhphiÄ?he T c*hron 6 jbgi$ifae und asomatische
Einteilungsart zu verhixKlun und gelangt m dri* recht unglöichiffaüigeu
örappem, die m s nicht gcachieäen sind t • J)rei
'Viertel des Buches sind der i wierpolitfaebeii itesciücht« der EiiwelstaaOn, je ein
Achtel den mtemationakm Phänomenen (f£h p tt&I i sni us/Uhraia ontan is tu u&
So?ia.llsmna) and der .intcraatiomdmi-Bulitik gevvidtiv*t. Der Vhrfasaer will
un ftimsfo der modernen fränz^^hcü Krieg und lMplo-
ttiatie vor mnem % Politik und l^^ngcschxchbj' sorückteien .fassen, (bc
•jimditi^che; Üestihicbt« dW Erdteils #uf das Gerüst der Brächfeift-
Qujtffp : ßiyr, treibenden'-Kräfte zuraekfiihr^m Er wühlt ilöBie di?> F^rm einer
tfum SebhiJssse heig^efe^aeni die; IfcupWditHngen weisttiivl^ '‘.BihHographlev
<)h veb mir ^Umdmgs denken .kdnnt<v IHe
gr*v(fo ; ; ' nach,. »fen lllwüidhiungstmtwn mfHiierncr %'iteo faßte».
Mk^nkh^ri wird d&bei gestyeilt wenn midi nicht m fa>untwort^w
veraucht. Mit größer Bestimmtheit wird jede andere als indrviduaüstiscJbe
Gc^hiehtsauiTs^CLög für das öchict der ^olitiachmi\h?OhithO ahgelehnfc. DSc
flm Hauptkri^en fek»: welche, di*- paht-fadm Eht-
wiuklluig dea Juodernen Europa fa^tiunnt haben, 18 ^ 0 , 1848 , 1870 . seien
t/loöe ZuiaJle ohiJ^ Üefeliinende Ursache, büä will mir bei aller Ancr-
kt-mmüg dek •' ßr^ ; kv<->> d*rfa \\twk xü
weit gegangim und U)b ^4 : ^r, rkrle Kfaubu;»"
tinden wird, fjiv MiitU: 1 n • : - • /• •
gkubeu e? gerne, Adtwever - ' « /■••'■-v. 5 -^ ;
M Imroerhiu fehlte»
Ho f* (!) statt ^Knegagerkiit* ,
ohne praktiachea..fe^abnis^p^
<örhergeselnmö . 6^¥.4inRüng..$0$ij
«i^chen Armee* u H. w,-
554
Literatur
zeichnende Eigenschaft französischer Geschichtschreiber überhaupt, doch noch
besonders hervorgehoben werden und spricht sich auch durch die Über¬
setzung hindurch noch deutlich aus.
In der ersten Gruppe des Buches fällt der Ton wie natürlich vor
allem auf England, Frankreich, Deutschland, Österreich. Etwas knapp ist
Italien, auch Rußland behandelt. Aber Rußland entbehre eines politischen
Parteilebens und so laufe seine politische Geschichte zu einer Hofgeschichte
zusammen, die durch die Abwechslung von »Westländern* und »Asiaten*
auf dem Throne ihren Rythmus erfahre. England, das politische Musterland,
hat für Europa den politischen Mechanismus, Konstitution, Parlament, Mi-
nistei'verantwortlichkeit, Grundrechte, Sozialismus vorgebildet. Frankreich,
das politische Experimentierland, bildet das Bild einer nur anscheinend
sprunghaften, in Wirklicheit ganz »vernünftigen* Entwicklung: In vier¬
maliger Wellenbewegung— 1792, 1830, 1843, 1870 — spült die repu¬
blikanische Flut das ancien regime schließlich dauernd hinweg. Das deutsche
Reich ist ein Kompromiß zwischen einem Bunde deutscher Nation und einer
Annexion Deutschlands an Preußen. Das Fehlen einer radikalen Linken in
Deutschland bedingt die außergewöhnliche Stärke der deutschen Sozialde¬
mokratie, während die Rechte doppelt, als Zentrum und konservative Partei,
vorhanden ist. Der Gegensatz der beiden Tendenzen ist tief und durchaus
unausgeglichen. Das österreichische Nationalitätenproblem scheint mir
nicht eindringlich angefaßt. Auch fehlt es gerade hier nicht an groben
Verstößen. In Mähren und Schlesien ist die Bevölkerung nicht cechiseh,
sondern deutsch und cechisch, die ungarischen Länder sind nicht die Länder
der Wenzelskrone (l). Höchst lesenswert, auch heute, da die jüngsten Ereig¬
nisse so vieles umgestürzt haben, scheinen mir die Ausführungen über die
ottomanische Frage zu sein.
In der zweiten Gruppe vermisse ich neben Kapitalismus, Ultramonta¬
nismus und Sozialismus den Nationalismus als politisches Agens gefaßt ln
der dritten Gruppe wird die Gliederung nach vier Perioden internationaler
Politik kaum ernsten Widerspruch erfahren; man könnte es natürlich auch
anders machen. 1815—1830: Vorherrschaft Österreichs unter dem Zeichen
des Interventionsprinzipes im Sinne der Aufrechterhaltung der überkommenen
Ordnungen. 1830—1854: die Wiederaufrollung der orientalischen Frage,
die den beherrschenden Gegensatz der Zeit, den zwischen England und Ru߬
land erweckt und wach erhält 1854—1870: Vorherrschaft Frankreichs
unter dem Zeichen des von Napoleon erkorenen Nationalismus, der in großen
Kriegen Mitteleuropa umgestaltet Bemerkenswert erscheint die entschiedene
Art, mit der Gramont für den Krieg von 1870 verantwortlich gemacht,
die spanische Angelegenheit vorsichtig als »ein Werkzeug in der preußischen
Politik* gekennzeichnet, die »Fälschung* der Emser Depesche ganz bestimmt
abgelehnt wird. 1870—1896: Deutsche Vorherrschaft und bewaffneter
Friede. In der Frage um Elsaß-Lothringen ist der Revanchegedanke ver¬
altet; aber die französische allgemeine Meinung stellt dem durch Bismarck
verkörperten Eroberungsprinzip das moderne Prinzip des Selbstbestimmung»-
rechtes der Völker und Bevölkerungen entgegen — darum der unüberbrück¬
bare Gegensatz. Der Dreibund sei aus der orientalischen Frage geboren
worden, die das Dreikaiserverhältnis der Ostmächte zerstört habe. l>it
russisch-französische Verbindung sei die natürliche Gegenaktion dagegen; alvi
Literatur.
555
«larum den Dreibund, der zur Notwendigkeit geworden, einen politischen
Fehler nennen, geht nicht an. So entspreche einer Vormachtstellung Deutsch¬
lands im Okzident eine solche Rußlands im Orient, und schwer und unsicher
laste der bewaffnete Friede auf der Welt. Es sind Betrachtungen, in die
das für unser Empfinden gewiß etwas thematische, aber immer ideenreiche
Buch, Fundgrube und Anregung für jeden Leser, ausklingt.
Wien. H. Kretschmayr.
Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen
und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I.
von Preußen. Herausgegeben von Johann Georg, Herzog von
Sachsen, unter Mitwirkung von Hubert Ermisch. Leipzig. Quelle
und Meyer, 1911. VH, 514 S. 8°.
Unter den 348 Briefen, welche in dieser Veröffentlichung mitgeteilt
werden und den Zeitraum von Juli 1825 bis März 1873 umfassen, über¬
wiegen zunächst die Briefe zwischen Johann und Friedrich Wilhelm IV.
Erst nach der unheilbaren Erkrankung des preußischen Königs wird der
Briefwechsel mit Wilhelm I. ein regerer und wird bis kurz vor dem am
20. Oktober 1873 erfolgten Tode Johanns unterhalten. Die Originale der
Briefe der preußischen Prinzen und Könige befinden sich zum größten Teil
im Besitz des Herausgebers, Herzog Johann Georgs von Sachsen, die Haupt¬
masse der Originale der Briefe König Johanns wird im Hausarchiv zu
Charlottenburg verwahrt. Dies gilt vor allem für den Briefwechsel mit
Friedrich Wilhelm IV., welcher bis auf neun im Hauptstaatsarchiv und in
der KgL öffentlichen Bibliothek zu Dresden befindliche Stücke dieser Pro¬
venienz ist. Das kühlere, mehr sachliche Verhältnis zwischen Johann und
Wilhelm L drückt sich auch in der archivalischen Überlieferung aus. Von
den 94 zwischen ihnen gewechselten Briefen sind zwei Drittel anderer Pro¬
venienz u. zw. befinden sich die Originale von 35 Briefen K. Wilhelms im
Hauptstaatsarchiv und von 2 Briefen im Archiv des auswärtigen Amtes zu
Dresden, von je 6 Briefen K. Johanns im Staatsarchiv und im Archiv des
Auswärtigen Amtes zu Berlin; 10 sind nur im Konzept im Hauptstaats¬
archiv und im Archiv des Auswärtigen Amtes zu Dresden erhalten, 3 liegen
nur in Drucken vor. Nur 29 Stück waren bereits früher teilweise oder
vollständig veröffentlicht worden, die meisten bei Hassel, König Albert als
Kronprinz. Im Anhang stellen die Herausgeber noch die Daten für 54 ver¬
lorengegangene Briefe zusammen. Ein Bekanntwerden dieser wie etwa
noch anderer Deperdita ist bei der planmäßigen und sorgfältigen Durch¬
forschung der Archive und der Literatur durch die Herausgeber kaum mehr
zu erwarten.
Über den politischen Inhalt des Briefwechsels hat der Mitherausgeber,
H. Ermisch, im 32. Band des Neuen Archivs für sächsische Geschichte und
Altertumskunde S. 89 ff. und 317 ff. einen ausgezeichneten Überblick ge¬
geben. Für die österreichische Geschichte ist der Briefwechsel für die
Jahre 1825—1848 zunächst wenig ergiebig. Von gewissem Interesse er-
556
Literatur.
scheint mir nur der Brief vom 15. März 1833 (S. 145), in welchem Prinz
Friedrich Wilhelm den Tod Kaiser Franzens, »des lieben, herrlichen Franzeis.
des letzten Königs der Teutschen* schmerzlich beklagt 1 ) und hinzufügt:
»Ich wollte, man setzte dem Kayser Ferdinand einen Floh ins Ohr, den:
sich vom Papst zu Rom oder Mayland zum Römischen Kaiser krönen zu
lassen 4 . Erst ab 1849 wird die Ausbeute für die österreichische Ge¬
schichte reicher. Das Verhältnis zwischen Österreich und Preußen wird
von da an in den Briefen oft und oft behandelt. K. Johann erscheint
stets als treuer Verteidiger einer Verbindung Österreichs mit dem übrigen
Deutschland. Er tritt gegen die Unionsbestrebungen Preußens 1849 und
1850 auf und rät eine Aussöhnung mit Österreich an: »Ein neuer 7jähriger
Krieg — den Gott verhüte — wird zwar Preußen tapfer finden wie immer;
ob aber der gleiche Erfolg ihn krönen dürfte, bleibt doch dahin gestellt:
denn es ist auch bei Preußens Gegnern vieles anders als damals 4 (S. 267).
Er billigt die von Österreich beantragte W T iederaufrichtung des Deutschen
Bundes 1850, in dessen Kräftigung und Ausgestaltung er das Heil Deutsch¬
lands erblickt. »W T ir wünschen, daß viel Gemeinsames Gute für
Teutschland geschehe, daß dies aber durch den Bund geschehe, damit der¬
selbe in der öffentlichen Meinung gehoben werde 4 ruft er 1860 (S. 400)
aus. Nicht ohne Bewegung wird man die Briefe lesen, welche Johann
und Wilhelm knapp vor und nach der Katastrophe von 1866 gewechselt
haben (S. 437 ff.). In der italienischen Frage steht Johann durchaus auf der
Seite Österreichs und befürwortet das Eintreten des Bundes für dieses. Am
21. März 1859 (S. 386) schreibt er an Prinzregent Wilhelm, nach Mi߬
lingen des englischen Vermittlungsversuches müßten Preußen, der Deutsche
Bund und wo möglich auch England entschieden erklären, daß sie jeden
Mann, den Frankreich über die Alpen schickt, als eine Kriegserklärung be¬
trachten. »Dies wird unsere Ehre, aber auch unser Vorteil erheischen;
denn in den Kampf erst einzutreten, wenn Österreich vielleicht schon in
Italien Nachtheile erlitten hat, dürfte doch immöglich zweckmäßig sein 4 .
Nur in dem Tadel des Verhaltens Österreichs im Krimkrieg schließt er
sich der preußischen Auffassung an, welcher Friedrich Wilhelm in einigen
Briefen z. B. S. 326, 352—354 recht derb Ausdruck gibt.
Der Hauptwert dieser Veröffentlichung liegt aber nicht so sehr in
neuen Nachrichten über die politischen Voigänge als vielmehr in den
vielen Zügen, welche wir zur Beurteilung der persönlichen Eigenschaften
der drei Herrscher und ihrer Beziehungen zu einander daraus gewinnen, die
ja ihrerseits für die Wertung der politischen Vorgänge von Bedeutung
sind. Das geschlossenste Bild erhalten wir naturgemäß von der Persön¬
lichkeit König Johanns. Es wäre nur zu wünschen, daß die nach 1866
niedergeschriebenen Lebenserinnerungen dieses Herrschers, welche sowohl in
den oben erwähnten Übersichten H. Ermischs wie auch in den reichhaltigen
Anmerkungen zu den Briefen selbst mehrfach herangezogen sind, zur Ver-
! ) Von etwas einseitiger Auffassung zeugt die Bemerkung E. Brandenburgs in
seiner Besprechung im Neuen Archiv für Bäche. Geech. 33, 169, daß ihm »die Be¬
geisterung Friedrich Wilhelms für Kaiser Franz, über dessen menschliche und po¬
litische Nichtigkeit heute alle Beurteiler einig sind, befremdend erscheine«. Jedem,
der der Persönlichkeit dieses Herrschers einigermaßen unvoreingenommen näherge¬
treten ist, wird wol eher Brandenburgs Urteil befremdend erscheinen.
Literatur.
557
-öffentlichung gelangen. Ist dies geschehen, so wird es möglich sein, »der
großen und schönen Aufgabe, die eine Lebensbeschreibung des Königs Jo¬
hann stellt, ernsthaft näher zu treten*.
Wien. Ludwig Bittner.
Karl Alexander v. Müller, Bayern im Jahre 1866 und die
Berufung des Fürsten Hohenlohe. Historische Bibliothek Bd. XX.
^München und Berlin 1909. R. Oldenbourg. XVI u. 292 S.
Dieses Buch ist ein Musterbeispiel dafür, welch reiche Ergebnisse durch
erschöpfende und sorgsam ab wägende Verwertung der gedruckten Quellen
für die Beurteilung von Ereignissen gewonnen werden können, die der archi-
valischen Erforschung noch entrückt sind. Der Verfasser hat sich der nicht
geringen Mühe unterzogen, neben den wissenschaftlichen Werken und Ver¬
öffentlichungen über die von ihm behandelten Fragen auch die Tageszeitungen
und Flugschriften in einer Vollständigkeit zu durchforschen, wie sie bei
ähnlichen Darstellungen der neuesten Geschichte wohl selten erreicht worden
ist. Die im Anhang auf S. 227—272 gegebene Zusammenstellung dieser
Schriften ist daher auch von selbständigem Wert in quellengeschichtlicher
Beziehung. Ein weiterer Vorzug dieses Buches ist, daß der Verfasser sich
bei der Darstellung nicht von der gewaltigen Masse des Materials hat er¬
drücken lassen, immer die sichere Führung behält und trachtet, das Wesent¬
liche in ruhiger und besonnener Beurteilung herauszuarbeiten. Er hat des¬
halb darauf verzichtet, seine Arbeit nach der zeitlichen Abfolge der Ereig¬
nisse zu gliedern und es vorgezogen, die hervortretenden Persönlichkeiten
und Strömungen zusammenfassend zu würdigen. Dies ist nur zu billigen
umsomehr als auf S. 211—226 als Anhang 1 ein Kalendarium der in
Betracht kommenden Geschehnisse gegeben wird. In lebensvoller Weise wird
uns so die Wechselwirkung der äußeren Ereignisse, der Politik der leitenden
Staatsmänner und der Öffentlichen Meinung vor Augen geführt.
Die Ereignisse des Jahres 1866 trafen Bayern sowohl in politischer
wie in militärischer Beziehung unvorbereitet. Die Hauptschuld daran trifft
den Lenker der auswärtigen Angelegenheiten, von der Pfordten. Dieser ver¬
schloß ganz im Barme seiner Überzeugung von der Ersprießlichkeit einer
Politik, welche durch Ausnützung des Gegensatzes zwischen den beiden
deutschen Großmächten Bayern eine führende Stellung neben diesen ver¬
schaffen sollte, seine Augen vor dem wirklichen Gang der Dinge und den
tatsächlichen Kräfteverhältnissen. Er brachte es dahin, daß Bayern, als die
Entscheidung nun doch getroffen werden mußte, weder seinem Verbündeten
ein wirksamer Bundesgenosse noch seinem Gegner ein achtunggebietender
Feind sein konnte. Er verhinderte den Anschluß des bayrischen Heeres an
die österreichische Nordarmee was wohl mit eine der Ursachen des unglück¬
lichen Ausganges auf dem böhmischen Kriegsschauplatz war. Es ist dabei
allerdings nicht zu übersehen, daß diese Politik im Lande, besonders aber
auch in einer mächtigen Partei am Hofe starke Stützen besaß, welche auch
nach der Niederlage und nach der durch die Berufung Hohenlohes erfolgten
grundsätzlichen Änderung in der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten
558
Literatur.
noch eine starke Verwässerung des Hohenlohe’schen Programms bewirkten.
König Ludwig II. zeigt gegenüber dieser Politik seiner Minister ganz seine
widerspruchsvolle Natur. Zuerst, untätiges Gewährenlassen, endlich nach
dem Kriege aber doch ein fester Entschluß zur Änderung des Kurses und
beharrliches Festhalten an der Berufung Hohenlohes trotz starker gegen¬
teiliger Beeinflussungen. Diese Berufung Hohenlohes erscheint als das per¬
sönliche Werk des Königs, bei welchem neben dem günstigen Eindruck, den
Hohenlohes Auftreten und Programm auf ihn gemacht hatten, auch der Rat
Richard Wagners mitgewirkt haben mag. Hohenlohe, dessen äußeren und
inneren Entwicklungsgang der Verfasser uns auf das anziehendste entwickelt,
war für die von ihm übernommene Aufgabe der richtige Mann. Von der
Notwendigkeit des Anschlusses Bayerns an Preußen durchdrungen, hatte er
schon bei einer Audienz beim König und in einer Rede in der Kammer der
Reichsräte ganz alleinstehend dieser seiner Überzeugung Ausdruck gegeben.
Andererseits »gehörte er nicht zu den Kämpfematuren, die in überschäumender
Leidenschaft über alle Hindernisse hinweg sich den Weg suchen* und konnte
daher »den Verhältnissen sich anschmiegend, nachgiebig und vorsichtig*
unter mancherlei Zugeständnissen an gegnerische Strömungen und unter
behutsamer Berücksichtigung der Eigenart des Königs die Erreichung seines
Zieles vorbereiten, wenn er auch die tatsächliche Vereinigung Bayerns mit
dem deutschen Reiche selbst nicht mehr durchführen konnte. Gegenüber
diesen führenden Persönlichkeiten bedeuteten die Strömungen in der Be¬
völkerung nicht viel. Gerade diese Ereignisse sind ein gutes Beispiel, welches
Gewicht der Persönlichkeit in der Geschichte zukommt. Auf Grund der
mühsamen Durchforschung der Tageszeitschriften und Flugschriften bietet
uns der Verfasser eine abgerundete und wohldurchdachte Darlegung der
Stellungnahme der öffentlichen Meinung und der politischen Parteien. Sie
zeigt uns beide in hilfloser Zersplitterung und Planlosigkeit. Die öffentliche
Meinung neigt vor dem Krieg mehr zu Österreich hin, ohne jedoch den
leitenden Minister zu rechtzeitiger, energischer Stellungnahme zu zwingen,
schlägt nach der Niederlage plötzlich um und zeigt sich dem Anschluß an
Preußen geneigt, um nach dem Abflauen der ersten Erregung wieder langsam
in das partikularistische Fahrwasser einzulenken.
Einen ähnlichen Entwicklungsgang nehmen auch die Parteiverhältnisse
im Abgeordnetenhaus, wo die kleindeutsche Partei wohl nach dem Kriege
eine gewisse Stärkung erfährt, aber bei weitem nicht eine ausschlaggebende
Stellung erreicht. Bemerkenswert ist, daß die partikularistischen Strömungen
damals noch nicht ihre Hauptstütze in den ultramontanen Kreisen, sondern
in der demokratischen Partei hatten. Die Stellungnahme der Kammer der
Reichsräte — stets partikularistisch-konservativ — ko mm t für die Beurteilung
der öffentlichen Meinung nicht so sehr in Betracht. Als eines der wenigen
erfreulichen Momente erscheint uns die bei Regierung und Volk gleich¬
mäßig vorhandene Abneigung gegen eine Wiederaufnahme der Rheinbund*
politik. Eine meiner Ansicht nach gelungene Widerlegung der von A. v.
Ruville in seinem Buche »Bayern und die Wiederaufrichtung des deutschen
Reiches, Berlin 1909*, vorgetragenen Auffassungen beschließt das durchaus
erfreuliche Buch.
Wien. Ludwig B i 11 n e r.
Literatur.
559
Wien. Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Kultur.
Von Richard Kralik und Hans Schiitter. Mit 555 Hlustrationen.
Wien 1912. Adolf Holzhausen.
Österreichische Geschichte. Von Richard Kralik. Wien
1913. Adolf Holzhausen.
Der Verfasser ist schon vor Jahren mit ein paar Schriften aufgetreten,
die in das Gebiet der Geschichtsliteratur gehören (»Wesen und weltge¬
schichtliche Bedeutung des Germanentums« 1895, »Weltgeschichte nach
Menschenaltem« 1903), aber weiteren Kreisen ist er bis jetzt doch wohl
nur als Dichter, Herausgeber Erneuerer, Ausdeuter älterer Dichtungen, als
Ästhetiker und Philosoph (Weltschönheit, Weltgerechtigkeit, Welt Wissenschaft
1894—95) bekannt, nicht als Historiker. Nun, nachdem er sein sechzigstes
Lebensjahr bereits vollendet hat, erscheint er als solcher, bringt binnen
zwei Jahren diese zwei gewaltigen Bände auf den Markt. Er fühlt selbst,
daß er damit zunächst Befremden und Mißtrauen erregen wird: als
einer, der »den größten Teil seiner Lebensarbeit in anderer Betätigung zu¬
gebracht hat«, kommt er nun »als anscheinender Neuling den Fachhistorikern
in die Quere«. Ich glaube nicht, daß die »Fachhistoriker« die unange¬
nehmsten Kritiker sein werden, aber das große Publikum, die großen Zei¬
tungen, die publizistische Kritik liebt allerdings solche Übergänge in spä¬
terem Alter, wenn ein Schriftsteller schon einmal in ein gewisses Fach ein¬
gestellt, mit einer Etikette versehen, gestempelt und geaicht ist, nicht. Es
kommt dabei freilich auch darauf an, ob er dabei nicht etwa parteipolitisch
verwendbar wird. Wird er das, dann erhält er bei der Partei, die ihn
brauchen kann, nicht nur Verzeihung, sondern doppelte und dreifache An¬
erkennung ftir seine »geniale Vielseitigkeit« : die Gegner brechen natürlich
um so entschiedener den Stab über seine Wandlung, wenn sie nicht vor¬
ziehen, sie völlig zu ignorieren. Der Kritiker von Fach wird schon bei
flüchtiger Lektüre dieser Bücher zugeben, daß sie nicht von einem Dilet¬
tanten herrühren und die Schulung in historischer, rechtsgeschichtlicher,
philologischer und archäologischer Arbeit, die sich der Verfasser als per¬
sönlichen Schüler Mommsens und anderer Meister erworben zu haben rühmt,
nicht verkennen; er wird verstehen, daß wenn der Verfasser gewisse For¬
derungen, die die moderne Geschichtswissenschaft an die Behandlung solcher
Aufgaben stellt, wie er sie sich gewählt hat, beharrlich nicht erfüllt, er
dies nicht deshalb tut, weil er die technische Fähigkeit dazu nicht besitzt
und die Kenntnisse, die dazu gehören, sich nicht zu erwerben versteht,
sondern weil er seinen Aufgaben eben auf einem andern Weg und mit
anderen Mitteln beizukommen gedenkt. Speziell seiner Geschichte Wiens
ist schon von fachlicher Seite 1er* Vorwurf gemacht worden, daß ihr ilas
fehlt, was als das Bückgrat eirer jeden Stadtgeschichte bezeichnet werden
müsse: die Geschichte der Verfassung und der Wirtschaft. Das ist
sehr wahr, ja man kann sagei, Kralik kümmert sich um keines der Pro¬
bleme, die heute sonst für den Stadtgeschichtsschreibung im Vordergrund
stehen: Entstehung der Städte und ihres Rechtes, Verhältnis zur Gmnd-
herrschaft, zum Marktwesen, zur Gerichtsverfassung, Entstehung der städ¬
tischen Stände tu dgL Seiner »österreichischen Geschichte« könnte man
560
Literatur.
ebenso vorwerfen, daß sie an den meisten Fragen, die den Geschichtsschreiber
einzelner Territorien, Landschaften, Nationen* Staaten beschäftigen, vorbei¬
geht: weder auf die Entwicklung der Agrar- oder der Gerichtsverfassung
geht er näher ein, noch wird die Entstehung und Ausbildung des Stände¬
wesens und — im 19. Jahrhundert — des Konstitutionalismus, genetisch
dargelegt, wenn auch gelegentlich ganze Abschnitte aus Yerfassungsurknnden
mitgeteilt werden. Aber alle diese Dinge haben für die Aufgabe, die er
sich setzt, keine so große Bedeutung. In der Geschichte der Stadt kommt
es ihm darauf an zu zeigen, daß sie von den ältesten Zeiten bis in die
Gegenwart stets die Stätte einer eigentümlichen Kultur gewesen ist»
deren Grundelemente dieselben geblieben sind, von der einzelne Trieb*
vielleicht verkümmerten und abstarben, andere sich dagegen um so reicher
entwickelten. In der österreichischen Geschichte dagegen ist es ihm —
wie er selbst sagt — hauptsächlich darum zu tun, »den politischen Aufbau
des Gesamtreiches darzustellen und verständlich zu machen, ihn in seinen
großen Zügen zu verfolgen und in seinen besondersten Äußerungen zu be¬
lauschen — wie wir es lieber formulieren möchten — zu zeigen, daß
Österreich gleichsam als weltgeschichtliche Notwendigkeit potentiell schon
in vorrömischer Zeit vorhanden und sich dazu nur von Jahrhundert zu
Jahrhundert deutlicher herausgebildet hat, daß es zu jeder Zeit einen
ethischen Gedanken verkörpert, eine ethische Mission erfüllt hat. Die Art.
wie er diese seine beiden Leitsätze zu demonstrieren denkt, ist hier wie
dort dieselbe: er schreitet von Generation zu Generation und trägt für jede alle
die Einzelerscheinungen zusammen, die ihm eine Beweiskraft für jene zu
haben scheinen. Und da kommen dann allerdings die Tatsachen des Wirt¬
schaftslebens oder die Verfassungs- und Gerichtsformen nicht so sehr in
Betracht und wenn, so doch eben nur als einzelne Fakta, nicht in ihrer
Entwicklung. In der Geschichte der Stadt mußten ihm da die gesellschaft¬
lichen Phänomene in engerem Sinn, das sogenannte Volksleben, Geselligkeit
Feste, Theater, Literatur, Kunst wichtiger sein, in der Geschichte des Reiches
hohe Politik und Krieg und die Reflexe davon wiederum im Volksleben
und in der Literatur, historischen Werken, Flugschriften, politischen Liedern
Tendenzdramen. Die schwache Seite liegt denn unserer Meinung nach nicht
in. der Ignorierung oder allzu flüchtigen Behandlung gewisser Erscheinungen
und Entwicklungsreihen, auch nicht in einzelnen Irrtümem, wie sie für
den, der sich ohne Jahrzehntelange Vorarbeit an die Bewältigung eines so
ungeheuren Stoffes wagt, unvermeidlich sind, sondern darin, daß die Tat¬
sachen, die der Verfasser auswählt, häufig die Beweiskraft, die er ihnen
zutraut, gar nicht besitzen, daß er sie zu gewaltsam ausdeutet. Besonders
von der »österreichischen Geschichte* gilt dies. Was soll man dazu sagen,
wenn Kralik in der Chronik der 95 Herrschaften Spuren eines vorge¬
schichtlichen Österreichs sieht, weil sie fabelhafte österreichische Herrscher
von der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends bis zu den christlichen
Zeiten in stete Verbindung mit böhmischen und ungarischen Fabeldynastien
setzt! In Marbod und Arminias sieht er das spätere Verhalten, von Öster¬
reich und Preußen vorgebildet: in jenem »trat so recht die österreichische
Vermittlematur, in Erscheinung*, durchaus offen und bieder und niemals
hinterhältig, ist er ihm »der erste österreichische Heldencharakter*. Die
Marc Aurelsäule nennt er ein anschauliches Bilderbuch altösterreichischer
Literatur.
561
Geschichte, mit der Trajanssftule zusammen bilde sie ein 9ehr lehrreiches
» österreichisch-ungarisches Denkmal 4 . Das Ostgotenreich Theodorichs — viel¬
leicht ein Wiener! — ist wiederum eine »Vorahnung der österreichischen Ge¬
samtstaatsidee, eine interessante neue politische Konstruktion mit dem
Schwerpunkt im Süden 4 — »die germanische Italienschwärmerei hat
hier ihre Wurzeln ebenso die italienische Sendung des späteren Österreich
bis 1859 und 1860 und so weiter 4 . Das lateinische Gedicht, dos die Be¬
gründung der awarischen Ostmark durch Pipin erzählt, darf als »Staats¬
grundgedicht Österreichs 4 betrachtet werden, »ein echt österreichisches
Ehrengedicht 4 ist auch die Klage des Paulinus von Aquileja auf den in
Awarenkriegen bei Tersatto gefallenen Herzog Erich von Friaul. In dem
Kapitel »Die Zeiten des siebenjährigen Krieges 4 in der Geschichte Wiens
sind, zumeist aus Khevenhüller, folgende Daten zusammengetragen: Buß-
und Bettage wegen des Erdbebens von Lissabon. Die Gemahlin des spanischen
Gesandten will dem Kaiserpaar nicht die üblichen Handküsse zugestehem
Die Paläste des Grafen Ulfeld und des Grafen Haugwitz (heute Ministerium
des Innern) werden neu aufgeführt. Erzherzog Joseph besteht seine Prüfungen
aus dem Naturrecht und Staatsrecht. Ein neues Oratorium von Wagenseil
wird aufgeführt. Das neue Universitätsgebäude wird inauguriert. Der Kaiser
macht in der Fasten seine gewöhnliche Wallfahrt nach Hernals zu Fuß,
zum erstenmal kann die Kaiserin, bis dahin immer durch Schwangerschaften
verhindert, daran teilnehmen. Der Kaiser vermehrte immerzu die Schön¬
brunner Menagerie. Ein neues Ballet stellt eine durch Sturm zerstörte
Flotte dar und macht Sensation. Friedrich d. Gr. schließt mit England
den Vertrag von Westminster; der preußische Gesandte von Klingrüff
hat eine sehr merkwürdige Audienz bei der Kaiserin. Truppen marschieren
durch Wien nach Mähren und Böhmen. In einer bäurischen Komödie, die
bei Hof gespielt wird, gibt der Kammerheizer Stöckl die Person des Hans¬
wurst und zwar so geschickt, »daß ihm keiner an dem dermaligen deutschem
Theatrt gleichkommen dürfte 4 . Friedrich tut seinen Einfall in Sachsen
und rechtfertigt ihn durch diverse grobe Denkschriften. Erzherzog Max¬
imilian wird geboren — »El rb pastore 4 wird aufgeführt. Der Kammerzahl¬
meister von Dier stirbt und vermacht der Kaiserin 400.000 Dukaten. Erz¬
bischof Trautson stirbt. Kaunitz kommt zu spät zur österlichen Kommunion.
Daß der Kaiser den Pater Parhamer, einen Kinderlehrer zum Beichtvater
wählt, wird spöttisch glossiert u. s. f. Man wird ja zugeben, daß alle diese
disparaten Details ein Kulturbild ergeben, aber für eine spezifische Wiener
Kultur sind sie doch nicht charakteristisch, nicht beweiskräftig für die
Giltigkeit des Leitsatzes. Solche Chroniken haben die andern Haupt- und
Besidenzstädte in jener Zeit ganz ebenso.
Aber auf der andern Seite muß zugegeben werden, daß aus den Zu¬
sammenstellungen Kraliks mitunter auch der künftige Historiker lernen
wird, sie erhellen bisweilen Zusammenhänge, an die bisher nicht gedacht
wurde. Ein spezieller Vorzug beider Werke ist auch, daß die zeitge¬
nössische gedruckte Literatur ausgiebig benützt wird, allerdings schließt sich
ihre Besprechung meist recht äußerlich an die Erzählung, ist nur selten
organisch mit ihr verbunden, sinkt bisweilen auch zu einem bloßen Titel¬
verzeichnis herab. In der Geschichte Wiens werden auch reichlicher als
dies bisher geschehen ist, die Berichte fremder Besucher der Stadt benützt
Literatur.
5Ö2
und zwar bis in die neueste Zeit. Ebenso wie die ja meist Ausgebeuteten
Beschreibungen von Enea Silvio Piccolomini, der Lady Montagu, Nicolais
und Seumes werden auch herangezogeu die Beschreibungen des Mönches
Georg König aus Solothurn (1715), die Tagebuchaufzeichnungen des gleich¬
falls aus der Schweiz stammenden Joh. Heinr. Landolt (1786), die Briefe
Johannes von Müllers aus der Zeit seines Wiener Aufenthaltes (1792 —1804),
Eichendorff, Varnhagen, Bettina v. Arnin, Brentano, Jakob Grimm, Holtei
(1823), Richard Wagner (erster Aufenthalt in Wien 1832), Frances Trollope
(1836—37; ihr Buch »Wien und die Österreicher* übersetzt von Sporschil
1838), Hebbel u. 8. f. bis auf Rodenbergs »Wiener Sommertrage* (1873)
und Tissot (Vienne et la vie viennoise 1878) ja bis Levetus »Imperial
Vienna* (1905) und Bourgets »Visions d’Autriche* (1911). Es hatten
noch berührt werden können: Rankes schöne Stimmungsbilder in seinen
Briefen von 1837, Wolfgang Menzels und Willibald Alexis’ Schilderungen
(1H31 und 1832), aber die wichtigsten fremden Zeugnisse für das Leben
und Wesen der Stadt sind alle verwertet. Auch daß daran erinnert wird,
was an dichterischen und musikalischen Schöpfungen fremder Künstler auf
vorübergehenden Aufenthalten in Wien geschaffen wurde oder hier zum
erstenmal zu Tage trat, ist dankenswert; wir erfahren z. B., daß 1810 die
Uraufführung des Käthchens von Heilbronn in Wien stattgefunden
(Justinus Kerner als Zuschauer!), daß Tieck den ersten Akt seines »Donau¬
weibchens* in Wien geschrieben hat, welche Dramen Hebbels hier ent¬
standen sind u. a.
Mit der Anerkennung dieser Vorzüge wird man aber der Bedeutung
der beiden Bücher noch nicht gerecht. Man wird bei ihrer Lektüre an
die Einteilung erinnert, die Nietzsche in der Schrift vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben von dieser gegeben hat: er unterschied be¬
kanntlich eine kritische, eine antiquarische und eine monumentale Ge¬
schichtsschreibung. Die Kralik’schen Bücher sind wahre Schulbeispiele dieser
letzteren. Ihm ist alles groß in der Vergangenheit seiner Stadt und
seines Vaterlandes und diese Größe in der Vergangenheit verbürgt sie ihm
auch für alle Zukunft. Der hoffhungsfreudigste Optimismus erfüllt ihn, den
Sechzigjährigen! Auch die alleijüngsten Ereignisse der Stadt- wie der Reichs¬
geschichte machen ihn nicht irre, im Gegenteil, er sieht auch da nur
Zeichen von Gesundheit, Kraft und Glück. Der in Wien im Herbst 1912,
als er eben die österreichische Geschichte abgeschlossen hatte, tagende
Eucharistische Kongreß hat in seinen Augen Österreichs Bedeutung als Vor¬
macht der höchsten europäischen Zivilisation aller Welt geoffenbart und in
den darauf folgenden Balkanwirren Österreich ebenso wie in den Zeiten
des Krimkrieges durch seine tatkräftige, sachgemäße Initiative die Ent¬
scheidung gebracht. Stellung für oder wider dieser Auffassung zu nehmen,
ist hier nicht der Ort, wie denn überhaupt die beiden Werke Kraliks hier
mehr als bedeutsame literarische Erscheinungen, als Zeichen der Zeit zu
vermerken, denn als historiographische Leistungen zu kritisieren waren. Als
solche hätten sie hier allerdings abgelehnt werden müssen, da sie die For-
derungen nicht erfüllen, die in dieser Zeitschrift prinzipiell immer erhoben
werden und erhoben werden müssen: Fundierung auf kritisch gesichtete
Quellen imd Heranziehung der neueren Literatur.
Wien, Juni 1914.
E. Guglia.
Literatur.
563
Siegmund Hellmann, Wie studiert man Geschieht«?
Vortrag, gehalten im freistudentischen Ortsverband München. Mit einem
Anhang: Bibliographisches zum Studium der deutschen Geschichte.
Leipzig, Duncker & Humblot, 1911. 8°, 70 S.
Nach Droysen, Bernheim, Langlois und Seignobos, Zurbonsen eine neue
,Einführung*. Dem Werkchen liegt ein guter Gedanke zugrunde. Der
deutsche Student benützt wohl zumeist Bemheim; sein » Lehrbuch* eignet
sich aber — um anderes nicht zu erwähnen — mehr für den Lehrenden
als für den Lernenden und seine »Einleitung* in der Sammlung Goschen
ist zu sehr Auszug aus dem großen Werke, um für den Anfänger recht
passend zu sein. Hellmann will, meine ich, dem Studierenden einen ein¬
fachen und anspruchslosen ersten Behelf geben, ihn ohne alle Voraussetzungen
mit den Grundbegriffen und dem gewöhnlichsten Handwerkszeug seiner
Wissenschaft vertraut machen; als Skizze pädagogischen Charakters, die nur
die ersten Hinweise auf die Theorie uud Praxis bringen, zum Studium erst
aneifem soll, ist die Schrift gedacht und als solche gewiß berechtigt und
brauchbar. Man kann denn auch des Verfassers Ausführungen über die
Fragen nach dem Objekt der Geschichte, dem Verhältnis der äußeren Staats¬
geschichte zu der Geschichte des Hechtes, der Wirtschaft und der geistigen
Kultur, der Stellung der Hilfswissenschaften u. a. ebenso vollständig bei¬
pflichten wie den Winken und Ratschlägen, die er den Studierenden gibt;
ich meine da besonders seinen Hinweis auf den Wert ausgedehnter Lektüre
in den ersten Semestern und seinen Rat, die Quellen als Ganzes zu lesen
und sich vor mechanischer Einzelkritik zu hüten. Der Abschnitt »Literatur¬
angaben und Notizen* bringt eine sehr gelungene Auswahl von Orientierungs¬
mitteln zu den Darlegungen des Vortrages. Etwas genauer muß ich auf
den Anhang »Bibliographisches zum Studium der deutschen Geschichte.
Weltgeschichtliche Darstellungen* eingehen; hier hätte eine geringe Ver¬
mehrung der Seitenzahl vielen Wünschen Abhilfe schaffen können. Freilich
wird bei einer solchen Auswahl immer subjektive Wertung mitspielen.
Manche Bemerkung ist in ihrer knappen Fassung geradezu unrichtig, z. B.
daß Roscher die historische Schule der Nationalökonomie begründet habe,
die Änderungen in der quantitativen und qualitativen Bedeutung einzelner
Quellengattungen für die verschiedenen Epochen hätten eine eingehendere
Charakteristik verdient, Hilfsmittel für die Chronologie fehlen ganz; auch
manche praktische Winke hätten noch Platz finden können, so unter den
Bibliographien ein Hinweis auf die bedauerliche UnVollständigkeit der
»Jahresberichte der Geschichtswissenschaft*, auf die Bedeutung der Literatur¬
übersichten des »Histor. Jahrbuch* für Religions- und Kirchengeschichte,
bei Besprechung der Zeitschriften könnte man eine Notiz erwarten über
den Wert der »Deutschen Geschichtsblätter* für die Zusammenfassung von
Forschungsergebnissen auf bestimmten Gebieten und die Förderung der landes¬
geschichtlichen Studien oder über die zumeist unkritische Haltung der »Mi^
teilungen aus der historischen Literatur*, zur Quellenkunde hätte ich ge*
das gute Büchlein von K. Jacob genannt gefunden u. s. w. Einzelne
Darstellungen deutscher Geschichte erfahren wohl eine* zu einseitig abq
ch^nde Beurteilung, bei anderen wieder fehlt jede kritische Bern er ku
z. B. bei Gebhardts Handbuch ist von der Ungleichmäßigkeit der oiuzel]
564
Notizen.
Partien, bei Jägers deutscher Geschichte von seiner Voreingenommenheit keine
Rede; das aus Wegele übernommene Urteil über Giesebrecht steht in schärf¬
stem Gegensätze zu dem Fueters in der » Geschichte der neueren Historio¬
graphie* ; wie kann Hellmann Jastrows Hohenstaufen mit den in derselben
Bibliothek deutscher Geschichte erschienenen notorisch hervorragenden Wer¬
ken Kitters, Kosers, Heigels in eine Linie stellen, Lindners Habsburger und
Luxemburger aber gar nicht nennen? Einige knappe Worte über den Ein¬
fluß der politischen Strömungen auf den geistigen Chankkter der deutschen
Geschichtsschreibung seit der Romantik wären leicht anzubringen gewesen:
kann man Sybel gleich Treitschke einfach als Gegner des Liberalismus be¬
zeichnen? Unter den Hilfsmitteln der Rechts-, Wirtschafts- und Kirchen¬
geschichte vermisse ich z. B. die wichtigsten national-ökonomischen und
kirchenrechtlichen Zeitschriften, Wetzer und Weltes Kirchenlexikon, das neue
Handbuch von Buchberger. Gut scheint mir dagegen die Auswahl für die
Geschichte des geistigen und künstlerischen Lebens getroffen zu sein. Die
Liste der Desiderata wäre noch sehr leicht zu vermehren; ich habe nur
erwähnt, was wohl jedem beim ersten Einblick auffallen wird. Diese Mängel
lassen sich leicht verbessern, dann wird das Buch seinem Zwecke, den Stu¬
dierenden der Geschichte in ihrer fachlichen Ausbildung an die Hand zu
gehen, noch besser entsprechen, als dies heute schon der Fall sein kann.
Graz. Heinrich R. y. Srbik.
Notizen.
ln der groß angelegten dreibändigen »Einleitung in die Alter¬
tumswissenschaft* herausgegeben von A. Gercke und E. Norden.
Bd. I (2. Aufl 1912) findet sich in dem Abschnitt »Methodik* (S. 1—128)
von A. Gercke ein kurzes erstes Kapitel (S. 1—26) über »Das antike
Buch*, das, wenn es auch nur als »ein historischer Überblick* angesehen
sein will, schon wegen der großen Verbreitung des Werkes in Studenten¬
kreisen, für die es nach der Vorrede in erster Linie berechnet sein soll
in der hilfewissenschaftlichen Literatur nicht unvermerkt bleiben darf.
Von dem Gedanken ausgehend, daß für die Philologie die wichtigsten
Texte die sind, die »in buchmäßiger Form Verbreitung fanden*, will der
Verf. in großen Zügen »die Geschichte der Buchtexte im Altertum und
bis zur Zeit des Buchdrucks* vorführen. Wir übergehen aber hier die
Darstellung, insoweit sie die Entwicklung des griechischen Buches, des
ältesten öffentlichen und privaten Buchhandels, der Abschreibe- und Über¬
setzungstätigkeit in Griechenland betrifft und beschränken uns nur auf die
Richtigstellung einiger wesentlicheren Äußerungen, die sich auf das mittel¬
alterliche Buch- und Schriftwesen beziehen.
Es erzeugt eine ganz falsche Vorstellung von der Entwicklung der
Buchform, wenn es im Zusammenhang mit der Erwähnung der Tätigkeit
der gelehrten Mönchsorden heißt, daß in den Klöstern »die alten Papyrus¬
rollen, die noch existierten, in dauerhafte und bequem nachzuschlagende
Pergamentbände übertragen wurden*. Man kann gewiß in einem kurzen
Überblick darüber hinweggehen, daß es möglicherweise schon in vorchrist-
•tfütiiten,
lieber Zeit gefaltete Papyniäd&tter. gegeben hat, aber . u*$: -' ;(4<>- ; —
104) .mit pugülftree 'mjtmhrmei Pergamenihüeher m SMes.fcnö rurfßt,
mm sich spftteatens ins X Jhltrh« für hteruriscboW^h* nebraeisi ander
-5er Papyrosrolie uä4' 4er pergiuxientn^le, Ans ^ Pergameatbw<ifeeö und de»
pHpyrnsWbes bediente und (faß die ?^fc vom 4. bis'.#* Jahrhundert die¬
jenige m, m welcher mh der fiib 1 die -aatife? Iiitej^ttur' Prozeß
•dar: UmÄdimbuiög ; d€är';Sefa^ dc^/.I^pymsr^fr m den Per^im«nt-
kM&z voUxisht sind Jur wfa^iiscbÄftliebeu Forschung* <iie in
ekter mhbm Id »eracht uicbt fehten durften*
Aä döi Wie ganfaHeh unrichtig dargelegte Auffcfaamea der
Itergamesibüchcr «liblieöt Aich mx Bote über $h EutdWbitmg lie« ifapfers;
der diese durch glänzende Fomböögen gelöste Frage m ganz falschem
Liebte zeigt/ tefr sehe davon ab, daß in der ersten Äaftage direkt
tob B&mnwollenpapier die ffefa war 1 ), was ein englischer Kritiker nicht
mit Unrecht als ein woran von Bankos Grfst äh der Paläo¬
graphie Imeielmeie*), In der mien Auflage heißt ©» nun, daß »man erst
-vrfi dem 12/13*; Jahrhundert-' auch Papier ä»b Hadern mit einem Lmiipen--
ixtiate (charta-;: faiß]a.hy^fa) verfertigte,' eine Erhndwig der Araber, der später
Am Leioenpupter «ur Seite trat*. Vor aBem/ Had&tt ootl Ltuapon ist ein
uttcj dtoellv^ und lieuaaipapser war •insiner;' ein Hadertte Octer Lumpenpapier;
cbaartn hoail^rfns ist afer die Btr/eiehimng (nt ein: früher vielgenanntes
u»& allseits id&Jaä^^ iir^noätmeni^a Papier ans roher JBanm-
woile, das a? aber nicht gegeben hat. Hadernpapier Terfertigte man neben
•wiehern aus den Bastfasern vornehmlich des Maulbeerbaumes in China schon
in Sinex, dem Begum unserer Zeitrechnung recht nahen Periode Von den
Iluneseu erlemtei schon in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts. die
Amber & Kunst des Papkm^hens, d. b, »gefiktes^ Fapieg zu er^ngeji.
Es ist nicht m erweisen* sondern nur recht wnhrschem'lleh^, AfaB/ Avä
Araber auch erst, von den dimeeischeii/ Papiermaudietn tertiten, Papier aus
Hadern m verfertigen. Jadonfallshat aber ä$a. papi^
erst; nuf'-arnhfaoheth Bodtfü; ihr^i ; ;gjrißejEi Aufschwung \m& vou. hier, aber nicht
Von China w* ihre Verbreitung nach Europa genommen;
Axtcb was w : w©uige' .Zeilen später ..über J^llmpscste lesen,' daß nämlich
.-vite PcrgüineiUe mit he,jdnh*jfcoü. Texten ;mi% der cbrisüicheu Zeit religiöse
i^ctoifien »nteebfioen mußten und man m <liesem Zwecke die frühere Schritt
tilgte, ist in dieser Form, besonders für Stiidierenrhv irrefiihrencL »Die
Bitte des I*alxmpöestiereii8 bcötand schon im Altertum*, sagt bekaxmtlieh
Triute ebenso wie in anderer Form Wattenbncb, und Traube an nöderer
Btofe überdies boir />ite ttao ^i -
beben*, da tiß^jrr .g] r kW fit^r «hj^t-iclkp
.j adere christlich» i »t-sk-Vi, ••■•. -, ¥ 'X sv*< $>• v*- v
schrfeben wurde. • :;: ""'
0 Vgl. J. V.
m: Sitetn^BbendiU- <#?
Öd. 168, 5. Abh. &
*) Derselte
die Cbergebung
Kund«), Auch *<A^A§M
und minder wicbuvi'
) /* »■
Notizen.
!>(>()
Der damit in Zusammenhang stehende weitere Satz: »so daß die mo¬
derne Technik Mühe hat, die älteren Schriftzüge dieser Codices, reseripti
oder Palimpseste durch Keagentien wieder leidlich lesbar zu rächenisr
eine gefährliche Aneiferung der Schüler sich gegebenenfalls dieser Methode,
die wir alle auf das schärfste verpönen, zu bedienen, während der oft viel
erfolgreicheren photographischen Methode mit keinem Worte gedacht wird.
Recht unzulänglich auf kaum zwei Seiten zusammengedrängt ist die
Geschichte der lateinischen Buchschrift, woselbst sich Bemerkungen finden,
wie daß aus der langobardischen Mönchsschrift die deutsche oder gotische
Druckschrift hervorgegangen sei, daß die angelsächsische Schrift auf die
merowingisch-fränkische Einfluß ausgeübt habe, daß das westgotische und
das angelsächsische Schriftsystem einige Übung erfordern (als ob dies bei
anderen nicht notwendig wäre), daß — last not least — vor einem MiiV
brauche und einer Überschätzung der Paläographie zu warnen sei, da dir
Konjekturalkritik »der Interpretation, nicht den paläographischen Kennt¬
nissen* entspringe, welch letzteren aber doch sofort wieder zu gestanden
wird, daß ohne sie sich »ein unsicheres Tasten* einstelle.
Man hat nach der Lektüre dieser Seiten das Gefühl, daß es, wie ein
Kritiker bereits angedeutet hat, sich doch empfohlen hätte, Buchwesen und
Paläographie selbständig und wie ich hinzufügen möchte, fachmännisch be¬
handeln zu lassen.
Brünn. B. Bretholz.
Inscriptiones Latinae. Collegit E. Diehl. (Tabulae in usum
scholarum editae sub cura J. Lietzmann). Bonnae A. Marcus u. E. Weber.
1912. — Bezweckt ist ein Faksimileatlas lateinischer Inschriften von den
ersten Schriftdenkmälern an bis ins 15. Jahrhundert, der für die älter?
Zeit RitsehTs Priscae latinitatis monumenta epigraphiea und Hübners
Exempla scripturae epigraphieae Latinae (a Caesaris dictatoris morte ad
aetatem Justiniani) bei Universitätsübungen einigermaßen ersetzen solL Di?
Reproduktionen sind technisch durchwegs gelungen, doch ist nicht zu billigen,
daß ganze Wände des vatikanischen Lapidariums auf so kleinen Baum zum
Abdruck kamen. In diesen Fällen ist der wahre Zweck des Atlasses ver¬
kannt. Tafeln wie 24 sind augenmörderisch, Inschriften wie 18 H 1 nicht
zu lesen. Weniger wäre in diesem Falle mehr gewesen. Den Tafeln
sind die notwendigsten Angaben über Art, Inhalt, Zeit (auch bei den In¬
schriften selbst angegeben), Fundort und Veröffentlichung der Inschriften
(bei den meinen mittelalterlichen auch die allerdings nicht ergänzte Um¬
schrift) vorangestellt. Proben lateinischer Kursive (Pompeii) finden sich
daselbst, p. XIII—XXVI. Auffällig ist, daß die Bronceinschriften nur durch
das S. C. de Bachanalibus vertreten sind. Das Verzeichnis der Abkürzungen
bedarf der Revision. Befremdet es doch, stets eine Form decretu zu finden.
J. Weiss.
Die dritte Auflage von M. Prou Manuel de paleographie la-
tine et fran^aise. Paris 1910, bezeichnet sich ausdrücklich als gänzlich
umgearbeitet. Neu ist schon das Vorwort, in welchem der Verfasser er¬
klärt, daß er sein Werk nicht als vollständiges und wissenschaftliches Lehr-
Notizen.
567
buch für Gelehrte, sondern als ein elementares und praktisches Handbuch
der Paläographie für alle diejenigen die alte Schriften lesen wollen, be¬
trachtet wissen möchte. Man muß hinzufügen, daß es wie anch die
beiden früheren Auflagen in erster Linie für Franzosen bestimmt ist, nach
der Auswahl des Lehrstoffes, der Abbildungen und nach der Angabe der
Literatur. Ohne Frage hat es durch die Umarbeitung gewonnen und zwar
nicht nur für den Interessenkreis für den es zunächst berechnet ist, auf
den aber an dieser Stelle nicht weiter Rücksicht genommen werden solL
Da die neuere Literatur ausgiebig, wenn auch vielleicht nicht immer gleich¬
mäßig herangezogen und verarbeitet ist und für das französische Schrift-
Wesen vom gelehrten Verfasser auch wertvolle eigene Beobachtungen bei¬
gesteuert wurden, wird das Buch namentlich für französische Schreibdenk¬
male auch bei uns mit größerem Nutzen als früher verwendet werden
können. Besonders sei auf das gediegene Kapitel über die tironischen
Noten hingewiesen, welches Jusselin verdankt wird und auf den nützlichen
bibliographischen Apparat. Die den früheren Auflagen des Handbuches
unmittelbar beigegebenen und schon wegen der Anpassung an das Format
oft allzuklein ausgefallenen Schriftproben sind nun zu einem eigenen Album
von 24 Bl. umgewandelt, das zum Teil die früheren Schriftproben, aber
in größerem Umfang wiederholt, daneben aber auch eine bedeutende An¬
zahl neuer beifügt, alle französischer Provenienz. Besonders willkommen
wird man gerade den Zuwachs an Facsimiles französischer Urkunden älterer
und jüngerer Zeit willkommen heißen. E. v. 0.
L. Schiaparelli untersucht in seinenNote paleografiche: segni
tachigrafici nelle notae juris, Archivio storico italiano 1914, den
Ursprung der in den Notae juris vorkommenden und dann als Gemeingut
in das mittelalterliche Abkürzungswesen übergegangenen Abkürzungen für
tpiae, quod, quam, quia, per, prae, pro. Er verweist darauf, daß in den
tironischen Zeichen der Bobbienser Hs., nun Ambrosiana 0. 210 sup.,des Vero¬
neser Codex n° XXII und in Madrider Notae, welche freilich nur in Kopie
des 16. Jahrh. vorliegen, sowie in der Tacliygraphie langobardischer Ur¬
kunden sich Schreibungen dieser Worte finden, welche mit den uns jetzt
geläufigen Abkürzungen teils parallel laufen, teils Zwischenglieder zwischen
den in den tironischen Lexica verzeichneten Noten und den Notae juris
sind. Aus dem Umstand, daß der Gebrauch solcher Kürzungen auch in
Jahrhunderten und in Schreibprovinzen auftritt, welchen die Notae juris
unbekannt oder doch nicht geläufig waren, schließt er, daß die gemeinsame
Wurzel dieser Abbreviaturen, wie in einigen Fällen schon Kopp annab m,
auf sehr alten tachygraphischen Brauch zurückgreife, daß aus diesem auch
die Notae juris schöpften. Für quae und prae , quod und per erscheint
mir die Darlegung fraglos, bei den übrigen besprochenen Wörtern durchaus
wahrscheinlich. E. v. 0.
A. Barone, der sich so eingehend mit der Geschichte des im 18. Jahr¬
hundert zu Neapel betriebenen diplomatischen Studiums befaßt hat (vgl.
Mitt. des Inst. 30, 393 und 33, 178), behandelt nun in den Atti dell 1
5G8
Notizen.
Accademia Pontaniana vol.45 (1915) »au documento del secolo XI im-
pugnato di falsita c difeso nella curia del cappellano mag-
giore*. Es handelt sich dabei um eine Schenkung des vornehmen Nor-
mannen Sanaguala an ein beneventanisches Kloster, die bei Gerichtsverhand¬
lungen der Jahre 1783 bis 1790 namentlich deshalb Bedenken erregen
mußte, weil sie mit dem Incamationsjahr 1008 bezeichnet ist, so daß die
Einwanderung der Normannen in Unteritalien ihretwegen um ein Jahr-
zelmt hinaufgerückt werden sollte. Barone erweist die Originalität des im
Staatsarchiv zu Neapel erhaltenen, in sorgfältiger süditalischer Schrift ge¬
schriebenen Stückes, gibt sein Aussehen durch eine verkleinerte Abbildung
wieder und löst in überzeugender Weise die zeitliche Schwierigkeit: der
Schreiber des Originals hat infolge eines naheliegenden Versehens in de;
Jahreszahl, welche »millesimo octuagesimo octavo* hätte lauten sollen, da*
mittlere Wort ausgelassen. — An derselben Stelle (voL 43,1913) veröffentlicht
Barone unter dem Titel »Per lo Studio de lla paleografia latina* mit
einer Schrifttafel die Beschreibung einer wohl der zweiten Hälfte de>
14. Jahrhunderts entstammenden Legendenhandschrift und begründet mit
den Schwierigkeiten, auf die er dabei stößt, die berechtigte Forderung nach
einer umfassenden, von dem zeitlich Feststellbaren ausgehenden Bearbeitung
der süditalischen Schreibschulen.
Ebenda voL 43 handelt Barone auch »intorno allo Studie
dei diplomi dei re Aragonesi di Napoli*, indem er über die Re¬
gister und über die Originalurkunden des letzten, 1501 durch den ge¬
meinsamen Agriff der Franzosen und Spanier beseitigten selbständigen König*
aus der aragoneaischen Seitenlinie, Friedrich (l49f>—1501), Mitteilungen
macht und sein Wochenmarktsprivileg für Cesare Pignatelli vom 14. Juni
1499 in halber Größe abbildet. W. E.
Paul Lehmann, Vom Mittelalter und von der lateinischen
Philologie des Mittelalters. München, C. H. Beck, 1914. 25 8.
Mit diesem Aufsatze leitet Paul Lehmann den 5. Band der »Quellen uni!
Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters* ein, die von
Ludwig Traube begründet, nunmehr von Lehmann fortgeführt werden. Er
spricht hier zunächst über das Aufkommen des Begriffes und namentlich
der Bezeichnung Mittelalter (media aetas). Wenn Burdach noch 1914 sagen
konnte, daß Begriff und Begrenzung des Mittelalters ein Produkt de*
17. Jahrhunderts waren (Lehmann S. 2 Anm. 6), so war es in der Tat
nicht überflüssig, nochmals ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß der Begriff
eines mittleren Zeitalters zwischen der Antike und der eigenen Gegenwart
schon von italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts, so besonders von
Fiavio Biondo, klar erfaßt wurde. L. nennt auch (S. 5) Villani und
Leonardo Bruni, hier wäre wohl ein Hinweis auf E. Fueters Gesch. der
neueren Historiographie am Platze gewesen. Das Wort Mittelalter aber
wird, wie L. in sehr dankenswerten Nachweisen zeigt, vereinzelt schon 1469.
dann von Vadianus und Beatus Bhenanus und seitdem im 16. und 17. Jahr¬
hundert immer wieder gebraucht, so daß Horn und Ceilarius seit 1666 und
1685 in ihren Hand- und Lehrbüchern mit dieser Bezeichnung nicht*
Notizen.
569
jS'fc'ßGB brachten. Wohl aber ist seit .CeiUriua das Wort *«* jjbmer alige-
Im zweiter Teile schildert k tlle Entwickelung des Sfctuirozti* «tes
natürlich mit bOBöüder^r Mcteieht wf iAt^inisfefie Spracht? und
litiVratur, Manch Nette;*, Lhhrtütebes wird da Wülirt» so etwa Vorläufer
«Jer lateinischen Philologie ^i^ Mittebiiti&rs wie Kaapax Barth und Polytep
Jaeyser, die allgemeine'«. Pakbiees der khgeja -Hemmung un«l drr. endliche«
Forderung ini W« 4* i !>/ Jabrimadevts werden gut etuiruktei«iei i t
L, erkfaknl total vfürdigk tiuet rtwö^ kühl, die Tatsache, <lalV yb«;
.trriftTroÜe Rmporblolibö des StuiBnink der GA&tfh i cdit e des MittedaUers
Vor^'öetxiictg ruul mächtigste- Hille fljur das Erstellet» einer selbständig gv-
-^ujvkpen ktdiAisefaeti fhiJoiogie des Mittelalters- gewesen isk'IMcätbr wifüMbpH
wir. eines Sinnes mit künnriAu« ScLlußw orten, einen ehrenvolle« Hut/ m
Y bring und ütitenbdik 0, fl ..
J nh r ft tim h % n h e x tj i e. H e r *yu « gäbe de r M p n ü m e r* t a
jpffefin n s i at v fmfconbu 1914*
In dem Ifefbdii^jfthv 1SK4 aiud erstiueneA» in tkr Äteridng Scrip-
i o$*£•*: Scrt|d^reä tvTüfn in aVmn ^dkdarum
■**4Uu- Linfyr;&iB *pjscofti Ch-emoneAsis .Opera, ed* OL, 'rfck Joseph
Wipomk Opera* ed Slk ree. Il Kresslau, — in der AJifceilung L^e$; :
IV.-; Cv>e.dil.utiones et Acta Publica Imperöt.orum et Eegimp Turnus
Vfc P&rüs prioj h tx*\ Ho vrdidit 4. Schwalm. —■ Jtf der Abteilung A n*
11go Hui es: Foet&e Latini uxedü aevL Turnus IV, Parti* Jk ia.se. L, edidit
4L;'^tr^terv — ’ I» der Sammlung Aiicf.eres Anti^uii^Jmi: Anetönnft'
Anri.-jiiissiinoranv Tomi XV pars II. ■*. Aldhelmi Opere, cd, B. EhwalÄ,
W. n.
Die Ikarkdt-uiig de» VkterkD für dikj Supplcmeiit-üm dr^ 6. Bönto
<b‘t- Seripivre* reruru Morovnigicarn ui hat tick Avebiviat Kranit
iHumioverV durch den Ahsehluh der 'Ausgaben der „ I^bj. Afee 4 . dev
i.'V itu. Lep> , Treeemii 1 u o d der .* Vita abkitiun A(!u»juiexisium^
fur.dert^ >*>, - •/..'•• ’ • • . ..••. <. ,v ..
Für den :ju. i'oIkknnd der Sr r i »t ».* re ^ hat Prof, Hr. Hbimeisler. die.
fiteste »VHij Ltluuni " iV rtigcesteUt, Tel der ungedrückt« Prolog Huk bald.«
zii seiner Bc^rkdtnög wf dgt |St<rmö; Badhödi al«? L«bdlü^ ifaög^sckJajäsen
werden sollen, 'Lüiü Aldiuodlung über ffj* VcrhäUnis ihr Vit^ Lebui.üi 1
und der tdxtighfi^ ^bd PfpfmekyU'r f4^5^jen'Uieben i
■tfÄl» andere über die v >b«tae \sebfitYeal*urgen:'
stituts für M*ten\ Öt^vbicht^lrrsebung gedrüöfc A
ikH>eitung der »Transktnj '4 ? , Au,v^7iaÜö . ef . .dö«h7 u
immerhin n»>;fc Saehforsubimp^A. nach eu*->
^teilen sein,. > r ' f -,V i
I« der, Serie der ScrijKarus veruiü
a, Auikge deä Liütpxaü^ bearbeitet von P: b >> : >1
;i. Auilage de^ W i po, benrbejtet von Ömshn.
ersten Bände >Serie^ ilrg den von ^
killen B»^:y.ü«scfl. \.mii iteubfehcr Eitskitta^
570
Notizen.
deutschem Register ausgegeben werden. Druckfertig sind auch die Neuaus¬
gabe des Chronicon Urspergense durch v. Simson und der 3. Auflage
des Adam von Bremen durch Prof. Dr. Schmeidler. Umfangreiche kri¬
tische Untersuchungen zur Neuausgabe des Adam von Bremen von Prof
Schmeidler werden im Laufe des nächsten Jahres erscheinen können. —
Prof. Bretholz (Brünn) hat den Text und die Anmerkungen der Cosmas-
Ausgabe im Manuskript abgeschlossen, mit dem Druck soll aber erst nach
Beendigung des Krieges begonnen werden. Auf den gleichen Zeitpunkt
sind die Verhandlungen über die Bearbeitung der durch Uhlirz’ Tod ver¬
waisten Annales Austriae verschoben. — Prof Hofmeister hat die
Chronik des Mathias von Neuenburg weiter gefördert Oberbibliothekar
Dr. Leidinger (München) wird sich den Quellen für die Geschichte Ludwigs
des Bayern widmen. Prof. Steinherz (Prag) war bei der Bearbeitung der
»Autobiographie Karls IV.* durch den Krieg behindert Die Ausgabe der
unter dem Namen Heinrichs von Rebdorf gehenden Chronik,
hat an Stelle des auf dem Felde der Ehre gefallenen Dr. Stäbler, Bresslau
übernommen. Für die Chronik des Johann von Winterthur ist in
Dr. Karl Brun (Zürich) ein geeigneter Bearbeiter gewonnen.
Prof. Levison (Bonn) hat sich mit der Fortsetzung des Gesta Pon-
tifcium Romanorum beschäftigt. Die Untersuchung der teilweise ver¬
wickelten Beziehungen der Handschriften ist so gut wie abgeschlossen und
mit der endgültigen Textgestaltung begonnen.
Nach Beendigung der Neuausgabe Adams von Bremen wird Prof
Dr. Schmeidler wieder der Fortsetzung der italischen Geschicht¬
schreiber der ausgehenden Stauferzeit in der Quartserie nfiher-
treten und hier zunächst der Ausgabe des Tolomeo von Lucca.
In der Abteilung Leges, soweit sie der Leitung Brunner3 unterstand,
hat Seckel zur Vorbereitung der Ausgabe des Benedictus Levita, zwei
weitere Studien im 39. und 40. Band des Neuen Archivs veröffentlicht.
Prof. Freiherr v. Schwerin, der die Ausgabe der Leges Saxonum
und der Lex Thuringorum in Text und Variantenapparat fertiggestellt
hat, wird bis zur Aufnahme dieser Quellen in die Hauptserie eine Oktav-
ausgabe in den Fontes iuris Germanici antiqui voransenden. Prof.
Freiherr v. Schwind (Wien) hat den Druck der Lex Baiwariorum be¬
gonnen und auch während des Krieges langsam gefördert.
Von den der Leitung Seckeis unterstehenden Arbeiten der Abteilung
Leges hat Dr. Krammer den Druck der Lex Salica gefördert und im
Neuen Archiv Band 39 den Vorzug des A-Textes vor allen übrigen Text¬
überlieferungen zu erweisen gesucht. Dr. Bastgen (Straßburg L E.) hat den
Druck des Libri Carolini bei Kriegsbeginn unterbrechen müssen, wird
ihn aber demnächst wieder aufnehmen und zu Ende führen. In der Sektion
Constitutiones et acta publica imperii hat Prof. Schwalm (Ham¬
burg) den 2. Faszikel des 6. Bandes mit den Akten Ludwigs des Bayern
bis Ende 1330 veröffentlicht In der Fortführung der Ausgabe der Con¬
stitutiones aus der Zeit Karls IV. hatte Dr. Salomon mit dem Druck
des 2. Faszikels des 8. Bandes begonnen, mit der Fortsetzung der Ausgabe
ist Dr. K. Demeter betraut worden. Seine unmittelbare Anleitung hat
Dr. Krammer übernommen, der in einem Aufsatz »Die Frage des Laien-
kurrechts vom Interregnum bis zur Goldenen Bulle*, N. A. 39. Band, einen
Notizen.
571
Beitrag zur Erläuterung der Goldenen Bulle und ihrer Voi urkunden gab.
Die Fortsetzung der Karolingischen Konzilien von 843 ab ist
Dr. Theodor Hirschfeld übertragen worden, dessen Kraft uns durch seine
Einberufung zum Heeresdienst leider rasch wieder verloren ging. Infolge
des Krieges ruhen auch die Arbeiten an den Staatsschriften des spä¬
teren Mittelalters, da die Bearbeiter des Marsilius von Padua und
Lupoid von Bebenburg, die Prof. Dr. Richard Scholz (Leipzig) und
Dr. Hermann Mayer (Berlin) Heeresdienst leisten.
In der Bearbeitung der Karolingerurkunden der Abteilung Diplo-
mata hat Dr. Hein die Untersuchung der Urkunden Lothars I. zu Ende
geführt. Archivar Dr. Müller hat die Diktatuntersuchung der Urkunden
Ludwigs des Frommen und die Bearbeitung von Fälschungsgruppen fort¬
gesetzt. Der Abteilungsleiter Tangl war mit der Bearbeitung von Fäl¬
schungsgruppen beschäftigt. — Die Bearbeitung der Diplome Hein¬
richs IH. in der Serie Diplomata saec. XL ist durch den Abteilungsleiter
Bresslau und Prof. Dr. Wibel besonders für die Zeit des Römerzuges 1046
-1047 gefordert worden. Bresslau hat daneben die verwickelte Lage der
Benediktbeurener Fälschungen neu untersucht und zu endgültiger Lösung
gebracht und eine umfangreiche Abhandlung hierüber fertiggestellt, die
später erscheinen wird. — Für die Serie Diplomata saec. XH. hat der
Abteilungsleiter v. Ottenthal die chronologische Einreihung der Diplome
Lothars HL, die Untersuchung der Diktate und die Bearbeitung wichtiger
Gruppen vorgenommen, unterstützt von Dr. Samanek. Prof. Hans Hirsch
hat im Frühjahr 1914 auf einer privaten Studienreise in Italien auch die
besonderen Zwecke der Abteilung gefördert, dann in Wien die Ergebnisse
ausgearbeitet und die Lothardiplome für S. Benedetto di Polirone und
S. Simpliciano in Mailand druckfertig gemacht, bis ihn der Kriegsausbruch
zu den Waffen rief und mit ihm auch Dr. v. Reinöhl, der ihn als ständiger
Mitarbeiter hätte ersetzen sollen. — In der Abteilung Epistolae hat
Geh. R. Tangl die Neuausgabe der Briefe des hl. Bonifatius und
Lullus beendet und den Druck in der hiermit neu eröffneten Oktavserie
«ler Epistolae selectae begonnen. Umfangreiche kritische Untersuchungen
werden im 3. Heft des 40. Bandes des Neuen Archivs gleichzeitig mit der
Ausgabe veröffentlicht werden. Prof. Dr. Caspar war zu Beginn des Be¬
richtsjahres auf einer italienischen Reise begriffen, um seine Untersuchungen
über die handschriftliche Überlieferung der Register Gregors VH. und
Anaklets H. zum Abschluß zu bringen. Privatdozent Dr. Pereis war mit
den Briefen des Anastasius bibliothecarius und dem Abschluß der
Ausgabe des kanonistischen Werkes Bonizos, des Liber de Vita Chri¬
stians, beschäftigt
In der Abteilung Abteilung Antiquitates hat Prof. Strecker den 2. Fas¬
zikel des 4. Bandes der Poetle Latini kurz vor seiner Einberufung im
Druck erscheinen lassen können. Für die Fortsetzung ist so weit vorge¬
arbeitet, daß der Druck der 3 Abteilung wird in Angriff genommen werden
können, sobald Strecker friedlicher Tätigkeit wiedergegeben sein wird. —
Den Druck des 4. Bandes der Necrologia hat Stiftskanonikus Dr. Fast-
linger in München dem Abschluß nahegebracht. Die Bearbeitung des Re¬
gisters durch Dr. Sturm bat mit der Ausgabe gleichen Schritt gehalten.
Berichte.
572
Den 2. Faszihel des 15, Bandes der Auetores antiquissimi nnd
mit ihm die Beendigung des Textes der Aid heim-Ausgabe hat Geh. Hof¬
rat Ehwald in Gotha im Sommer 1914 erscheinen lassen können.
Bericht der Kommission für neuere Geschichte Öster¬
reichs über das Jahr 1915.
Die Vollversammlung fand am 31. Oktober 1915 im Institut lür
österreichische Geschichtsforschung unter dem Vorsitze Sr. Durchlaucht des
Fürsten Franz von und zu Liechtenstein statt.
Abteilung Staatsverträge: Prof. Ludwig Bittner dürfte das Ma¬
nuskript des umfangreichen Sachregisters zum »Chronologischen Verzeichnis
der Staatsverträge*, das auch Nachträge enthalten wird, die sich aus der
inzwischen erschienenen Literatur ergaben, trotz erhöhten Amtsgeschäften
im November d. J. druckfertig abschließen. Dr. Ernst Molden hat die
allgemeine Einleitung zu den Staatsverträgen mit Frankreich bis in die
Zeit Maximilians I. geführt. Da Dr. Roderich Gooss und Dr. Paul Heigl
noch immer im Felde stehen, haben auch heuer die Arbeiten für die Heraus¬
gabe der österreichischen Staatsverträge mit der Türkei und Holland (2. Bd.)
geruht.
Abteilung Korrespondenzen: Dr. Wilhelm Bauer hat ungefähr
die Hälfte des für den 2. Band der Familienkorrespondenz Ferdinands I.
bestimmten Materials druckfertig gemacht. Zur Fertigstellung des Bandes
bedarf es der schon im Voijahr in Aussicht genommenen und nur durch
den Krieg zurückgesteUten Reise nach Dresden, Weimar, Marburg i. H. und
München. Gegebenenfalls käme hiezu noch ein Besuch des Archivs des
St. Katherinenspitals zu Regensburg. Prof. Viktor Bibi dürfte mit dem
1. Bande der Familienkorrespondenz Maximilians H. bis zum Ende dieses
Jahres herauskommen. Das Manuskript des 2. Bandes, zu dessen Fertig¬
stellung noch ein Besuch von Archiven in München, Innsbruck und Kron-
berg nötig ist, hofft Bibi binnen Jahresfrist vorlegen zu können. Auf
seine Anregung hin wurde beschlossen, das wichtige eigenhändige Tagebuch
Maximilians II. über den Türkenfeldzug (August 1566—März 1567) zur
Entlastung der Familienkorrespondenz abzudrucken.
Von der 2. Abteilung der Geschichte der österreichischen
Zentralverwaltung hofft Pro£ Heinrich Kretschmayr, daß der
eiste Band, das ist der 4. des Gesamtwerkes, im Frühjahr 1916 druckreif
vorliegen werde. Dieser wird zehn Aktengruppen umfassen und die Vor¬
geschichte und Geschichte der Reformen von 1749 bis 1762 zum Inhalt
haben. Die Hälfte des ganzen Bandes wird der Entstehung des Direktoriums
gewidmet sein.
Abteilung: Archivalien zur neueren Geschichte Österreichs.
Prof. Dopsch teilte mit, daß infolge des Krieges die beabsichtigten Arbeiten
in Privatarchiven Nieder- und Oberösterreichs ruhen mußten.
Berichte.
573
Bei der Redaktion sind eingelaufen:
Archiv Cesky cili Stnrö Pisemne Pamatky Ceske i Moravske, Sebrane z
Archivü Domaclch i Cizich. Dil. 32. Registra Soudu Komorniho z Let
1519—1524. Vydal Jaromir Öelakovsky. Prag. In Kommission
lei Bursik & Kohout.
Beschreibung des Oberamts Tettnang, bernusg. vom Statistischen
Landesamt. 2. Bearbeitung. Stuttgart. W. Kohlhammer. M. 5*—.
Didier, Nikolaus, Dr.: Nikolaus Mameranus. Ein Luxemburger Humanist
des 1G. Jahrh. am Hofe der Habsburger. Sein Leben und seine Werke.
Freiburg i. Br. Herder’sche Verlagshandlung. M. 6*—.
Die Stadtpfarrkirche zum Heiligen Blut in Graz. Von ihrem
Entstehen bis zur Gegenwart. Graz. Ulr. Moser (I. Meyerhoff). K. 4'—•.
Ebbinghaus, Therese: Napoleon, England und die Presse 1800—1803
(Histor. Bibliothek Bd. 35) München, Berlin. B. Oldenburg. M. 5*—.
Fischei, Alfred, v.: Erbrecht und Heimfall auf den Grundherrschatten
Böhmens und Mährens vom 13. bis zum 15. Jahrh. (SA. aus dem
Archiv lür österr. Gesch. 106. Bd. 1. Hälfte) Wien in Komm, bei
A. Hölder.
Fontes rerum Transy 1 vanarum: Index Locorum et nominum. Ko-
loszvar. Tanar.
Gott lieb, Theodor, Dr.: Mittelalterliche Bibliothek skataloge Österreichs.
Herausg. von der KaiserL Akademie d. Wiss. 1. Bd. (Österreih) Nieder-
österrcich. Wien. Ad. Holzhausen.
Hampe, Karl: Belgiens Vergangenheit und Gegenwart. Leipzig-Berlin.
B. G. Teubner. M. 1*50.
Hartmann, Ludo Moriz: Geschichte Italiens im Mittelalter. 4. Bd., 1. Hälfte.
Geschichte der Europäisch. Staaten, herausg. von Heeren, Uckert,
Giesebrecht und Lamprecht. 32. Werk. (Allg. Staatengesch. 1. Abt.;.
Gotha. F. A. Perthes. M. 6’—.
Hirn, Josef: Erzherzog Maximilian, der Deutschmeister, Regent von Tirol.
Bd. 1. Innsbruck. Verlag der Vereinsbuchhandlung und Buchdruckerei.
Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg. Bd. 6. Wien und Leipzig.
W. Braunmüller. 1914.
Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich. Neue Folge.
13. u. 14. Jahrg.; Festschrift zur Fünfzig;ahrfeier des Vereines, red.
von M. Vancsn. Wien. Verlag des Vereines.
Junghanns, Hermann: Zur Geschichte der englischen Kirchenpolitik von
1399—1413. Inaugural-Diss. Freiburg i. Br..
Kern, Fritz: Quellen zur mittelalterlichen Getchichtaachreibung Bd. 1.
(Qneilensammlnng zur deutschen Gesch., herausg. von E. Brandenburg
und G. Seeliger;. Leipzig-Berlin. B. G. Teubner. M. ]*8o.
Krüpfel, Ludw.: Verwaltung.-sgeschichte des Königreichs Aragon zu Ende
des 13. Jahrh. Aus d -m Nachlaß herausg. von Dr. H^
Stuttgart. W. Kohlhara mer.
Klalik, Richard, v.: Geschichte des Weltkrieges, i österreicbf *
1. Halbband. Dü Jahr 1914. Wien. Adolf HolzhanM
Meister Johann Dietz. des Größen Kurfürsten Feldscher «
barbier (,M. J. D. erzählt sein Leben*;. Nach der alt«
574
Berichte.
.... in Druck gegeben von E. Consentius. (Lebensdokumente verg.
Jahrhunderte). Ebenhausen. W. Langwiesche-Brandt. M. 1*80.
Stimm ing, Manfred: Die Entstehung des weltl. Territoriums des Erzbis¬
tums Mainz. (Quellen und Forsch, zur Hess. GescL, Bd. 3). Darm¬
stadt. Großhzgl. Hess. Staatsverlag. M. 5'50.
Thalldczy, Ludw. v.: Johann Christian von Engl und seine Korrespondenz
(1770—1814). Zur lOüsten Wiederkehr seines Todestages. München
und Leipzig. Duncker & Humblot. M. 3*50.
Veress, Andreas: Mrtricula et Acta Hungarorum in universitatibus stu-
dentium. Vol. 1 Padova 1264—1864. (Fontes rerum Hungaricarum,
Tomus 1.) Budapest. Typis Societatis Stephaneum Topographicae.
K. 10-—.
IVahrmund, Ludw.: Quellen zur Geschichte des Römisch-Kanonischen
Prozesses im Mittelalter. Bd. 2, Heft 3 (Schluß mit Index): Die
Summa de ordine judiciario. Innsbruck. Wagnerische Univ.-BuchhandL
K. 7*—.
Wenck, Karl: Kg. Ludwig I. von Ungarn, Kaiser Karl IV. und die Mark
Brandenburg im J. 1371. (SA. aus den Schriften für die Geschichte
Berlins, Heft 50).
Ziekursch, Johannes: Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom
Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung. (Dar¬
stellungen und Quellen zur schles. Gesch. Bd. 20). Breslau. Ferd. Hirt.
Zivi er, E.: Neuere Geschichte Polens. Bd. 1. (Gesch. der europ. Staaten
39. Werk). Gotha. F. A. Perthes. M. 20*—.
Dezember 1915.
Beiträge zur Interpretation der Kapitularien zur
Lex Salica.
Von
Emil Goldmann.
1. Tefl.
L Cap. H 4, § 2: «cromaverint*.
Im Titel «De viris qui alias ducunt uxores* [Cap. H, 4, § 2 l ) =
Hessels Tit TiXXlIF, 2] findet sich in dem dem Sinne nach vollständig
durchsichtigen Satze: «Quod si istud non fecerint (so Hessels 1,
«fecerit 4 Em Q.), tertia sola de dote recoligant; tarnen si per adfiatimus
anfcea non cromaverint 4 die bisher unaufgeklärte Yerbalfbrm «croma¬
verint 4 . Es handelt sich darum, daß die Parteien den im Cap. II, 4,
§ 2 normierten gesetzlichen Teilungsmodus *) durch Affatomie abandem
können. Um diese Tätigkeit des Abändems des gesetzlichen Teilungs¬
modus zu bezeichnen, verwendet das Gesetz die Verbalform «croma¬
verint 4 . Schon der Schreiber des Cod. Yossianus Q 119 (Hessels,
Em. Q [11]) scheint das Wort nicht mehr verstanden und darum weg-
gelassen zu bftbfin. Auch die Modernen wissen mit dem Worte nichts
anzufangen und greifen darum zum Notbehelf der Emendation. Par-
dessus 3 ) und Bohrend 4 ) emendieren «cromaverint 4 in «convenerint 4 .
i) Die ZKhlnng der Kapitularien zur lex Salica wird in den nachfolgenden
Ausführungen in Anschluß an Geffcken« Ausgabe der Lex Salica (vgl. Vorrede,
p- X) gegeben.
*) Vgl. Geffcken, Lex Salica, S. 243.
*) Vgl. Pardessus, Loi Salique, p. 406, n. 717.
*) VgL J. Fr. Behrend, Lex Salica, 2. Aufl., her. v. Rieh. Behrend, S. 1
s. v. «adfatimuB«.
Mitteilungen XXXVI.
38
576
Emil Goldmann.
Zöpfl wiederum vermutet 1 ), daß in «cromare« ein verderbtes „achra-
mire* *•) = «gpondere* vorliege. Von der Gleichung: «cromare* —
«achramire« geht auch H. 0. Lehmann 2 ) aus, setzt aber für «agra-
mire* im Sinne der von Scherrer ®) und Thevenin 4 ) vorgeschlagenen,
langst als irrig erwiesenen 6 ) Deutung des Wortes die Bedeutung «fort¬
nehmen, bekommen* an 6 ).
Es ist nun m. E. durchaus nicht notwendig, einen dieser Auswege
zu wählen, da sich das Verbum «cromare* restlos als eine spätla¬
teinische Form mit der Bedeutung «metiri* — «messen, zumessen,
zuteilen* erklären läßt «groma* war bekanntlich bei den Bomem, die
das Wort von den Griechen entlehnten, eine Maßbezeichnung 7 ). Dieses
Wort «groma* begegnet uns nun auch in der Schreibung «croma* 8 ). Vom
Substantivum «groma* bildete die lateinische Sprache eine Verbalform «gro-
mare* = «dimetior* °). Da uns nun die Substantivform «croma* über¬
liefert ist, sind wir berechtigt anzunehmen, daß auch eine davon ab¬
geleitete Verbalform «cromare* (— «gromare“) gebräuchlich gewesen
sei 10 ), «cromare* bedeutet somit im Cap. II, 4, § 2, wie schon der
Sinn der Stelle ergibt: «teilen*.
2. Cap. IV, 4: «preter evisionem dominicam*.
In der in Bede stehenden Stelle wird bestimmt, daß, wenn jemand
einen andern zum Kesselfang herausfordert «preter evisionem domini-
cam*, er zu einer Buße von 15 soL verurteilt werden solle. Die Be¬
deutung der Wendung «preter evisionem dominicam* ist streitig. Die
*) Vgl. H. Zöpfl, Deutsche Rechtsgeschichte, 4. AufL, 8. Bd., 8.18, Anm. 22;
S. 62, Anm. 2.
*) Vgl. H. 0. Lehmann, Quellen zur deutsch. Reichs- u. Rechtageschkhte,
1891, S. 29, Anm. 28.
•) Vgl Scherrer, Zschr. f. RG., 13. Bd. (1878), 8. 268f.
4 ) Vgl. Thevenin,Contribution8 k l’histoire du droit germaa., 1880, p. 16 sqo.
*) VgL 8ohm, Prozeß der Lex Salica, 8. 791g.
•) Hessels, Lex Salica, Glossarial index, a. v. »cromare« begnügt sich, dem
Worte ein Fragezeichen beizusetzen.
*) VgL Forcellini, Totras latinitatu lexicon, s. v. »groma«; Du Cange,
Glossarium, s. h. v.
•) Vgl. Thesaurus linguae lat., s. v. croma; Forcellini, 8. h. v.
•) VgL Forcellini, s. v. »gromo«; Corpus glossariorum latinorum,
VL Bd. (Thes. giess.), 8. 606, s. v. »grumat«.
*•) Zum Wechsel von er und gr vgl. E. 81ijper, De formularum Andecar.
latmitate disp., Amsterd. 1906, 8. 60; zum Wechsel von c und g u. 'a. M. Bonnet,
Le laiin de Gr^goire de Tours, p. 161.
577
.
Beiträge £u r Interpretation der Kapitularien zur Lex Saiica.
eine Äöauibtt Tertreteii durch Whiit 1 ), Da hu 2 ), Beth man n-Holl-
wag 5) und Boretius 4 } behauptet „mit größerer oder gmafpafä. Be*
stimm feheiti* % daß in unserer Stelle «teti juraionem* zjtu&tonmx* zu
lesen sei and deutet die Bestimmung dahin, daß die Berauafordening
mm Kesselfang, somit das Binbnngen der Klage m ordalbedttritäger
Ftarm, von königliche^ SManimm abhängig gewesen sei Es sei
iß jedan Einzelfalle besondere königliehe Genehmigung notwendig
gewesen 7 'y Gegen diese Ännatm« spricht am tob aadereu Aiga-
menten *) zu schweigen, io ersttt^ dsß leitete Zu*
äuehi zu einer EnMndation zu nehmen gezwungen ist Ein sedeheft
Auakujoftemittel wäre aber nur dann gestattet wenn der Stelle auf eine
ändere Weise nicht beiÄaköiiunen wäre* Daß die« aber möglich ist
«ollen die folgenden Ausführungen lehren. Einen anderen Weg cur
Deutung der Iragljchen Stelle schlug 26 p ft ff ein. Zöpfl deutet Ä eyisio»
al» »e-wisio* « ^Ebeweistam, Bechis Weistum, lex, Verordnung* und
atelit die „eviste domioiea* in PsfalleJe mit den «iegee döininicae* in
I SaL t 1 lö )„ Jgöpfinimmt sonach ^einmalige iegislatorische
Feststellung >ter mxWfeetf^ Klagen durch den König an“ 11 ), weicher
Anschauung fjefifefceri:. gegenüber der von Walte, Dahn etc. vertretenen
Lehre von d&r in jedem Einzelfall erforderlichen königlichen Ge¬
nehmigung der Einbringung der Klage den Vorzug gibt 1 *). Dieser von
2opfl vertretenen Ansicht stehen sprachliche Bedenken entgegen, da
das fränkische Äquivalent de» ahd, nieht ,e* t sondern „ewa“
gelautet haben dfu^te, wie aus der Bezeichnung »euua Ohanmvonim*
hervorgehl
Weitaus plausibler als der tob Zopü vorgetehlagene Lodtuagsvet-
snch ist die von Brnnner versuchte' Deutung unserer Stelle. Brunner l9 )
*) VgL W Äitr, Da» alte Hecht der saliacheß Franken, 184& 8. löo, Anm, %
kJ Vgl Ltehß, Die Könige der Geraume», VII, 3, S. 68 v Atun. 7 t S. 68 ,
A um. 6.
*) Vgl Beih i»a&n-Bol) weg, Der ZiviJproxeß it gern.Hecht«, fV\ & 612.
4 ) Vgl Boretjus bei Behrend, Lex Bali ca, 8. AufL» & 111* Amn.. 8,
*} VgL GefCckfcn, x x 0.
■ty An richte e liebe Erlanbaia denkt
1. B«L, p- 183, Anm. 11.
OVgi.Geffcken.am
•) Vgl Brunner, HG. 1L 8* 407* Amn. &i
*) Vgl ZöpH, HG. L Bd.» ft 13, Anm* lb*v ■:>•• r.; -■ ■:■ •*-
hohn Clement, Fc»m*huogea Star d. Hecht
*•) Ähnlich So hm, Der Prozeß der Lex
**) Vgl. Gerieten, a. &. 0. *
**) Vgl Brunner, HG. D.„ Bd M ß. 407, 4 w;j-
rCuaa
578
Emil Goldmann.
meint, »evisionem* stehe für »ivisionem*, eine «in der Deklination
latinisierte Form für das romanische „iuisio* (spanisch «iuizio*), alt¬
französisch «iuis* (Coui de Bourgogne ch. 6, ed.Mamier), juis, juise, juisium
= «Gottesurteil*. Ausgehend von dieser Gleichung vermutet er sodann*
daß «iuisium dominicum* das königlich sanktionierte Gottes¬
urteil im Gegensätze zu verbotenen Formen des Gottesurteiles* be¬
deutet haben dürfte. «Neben der bereits früh eingefuhrten christlichen
Form des Kesselfangs mögen die Salier noch eine Zeit lang auch eine
an das Heidentum erinnernde Form mißbräuchlich angewendet haben*.
Unsere Stelle habe solche heidnische, dem Königsgebot zuwider¬
laufende Formen des Kesselfanges im Auge. Diese Hypothese wurde
von Brunner später 1 ) wieder zurückgenommen, allem Anscheine nach
deshalb, weil sie einer zureichenden Begründung entbehrt, und durch
eine neue Hypothese ersetzt Er meint nunmehr, unsere Stelle könne
dahin verstanden werden, daß die Buße von 15 solidi nur verwirkt
war, wenn dem Beklagten der Kesselfang gelang, zu dem der Kläger
ihn provoziert hatte, während die Buße nicht in Frage stand, falls die
Klage im Namen des Königs erhoben worden war. Der Heraus¬
forderung zum Kesselfang liegt eine antizipierte Eidesschelte zu
Grunde *).
Auch diese von Brunner vorgeschlagene bestechende Deutung ver¬
mag einer eindringenden Kritik nicht standzuhalten. Die Deutung ist
vom sachlichen und vom linguistischen Standpunkte aus an¬
fechtbar. Es heißt nämlich dem Ausdruck «evisio dominica* doch wohl
zuviel Gewalt antun, wenn man «evisio dominica* als eine im Namen
des Königs erhobene Klage mit Herausforderung zur «evisio* (Ordal)
des Kesselfanges deutet 8 ). Dazu tritt nun noch der gewichtige Um¬
stand, daß von unserer Form «evisionem* zu altfranz. «juise* 4 ) eine
haltbare Brücke zu schlagen nicht möglich ist «juise* kann lautge¬
setzlich nicht zu «evisionem* werden. Auch wäre beim Festhalten an
.Brunners Hypothese merkwürdig, daß unsere Stelle dann das Verbum
«judicare* («culpabilis judicetur*) noch in der lateinischen Form,
das Substantiv «judidum* hingegen schon in einer romanischen
Form («juise*) aufwiese. Wir werden somit zur Schlußfolgerung ge-
i) Vgl. Brunner, RG. 11, S. 676, Anm. 28.
*) Vgl. Brunner, a. a. 0.
») Vgl. Geffcken, S. 249.
4 ) So, und nicht »iuis«, wie Brunner meint, lautet die aÜfrauiflsiache
Umbildung des lat. »judidum«; vgL Godefroy, Dictionnaire de 1’ andenne langoft
fran 9 &iae, s. v. juise (Nebenformen: juyse, juisse, juwise, juis, joise, joice, jouiase).
Beiträge zur Interpretation der Kapitularien zur Lex Salica.
579
drangt, daß auch die von Brunner vorgeschlagene Lösung unseres
Problems wohl kaum zutreffend sein dürfte 1 ).
Zu einer befriedigenden Deutung des Ausdruckes »evisio dominica*
wird man m~ E. nur gelangen, wenn man, wofür ja von vornherein
die größte Wahrscheinlichkeit spricht, in »evisio* eine lateinische
Wortbildung sieht und das Wort in die Bestandteile »e -f- visio«
(— Sehen, Ansehen, Anblick, Erscheinung etc.) zerlegt. Dem Bestand¬
teil »e* in »evisio* dürfen wir im Hinblick auf lat »evidens*, »evi-
dentia* wohl die Funktion einer Verstärkung des Grundwortes »visio*
zumessen. Was könnte nun, wenn man von der eben gewählten Basis
ausgeht und zugleich bedenkt, daß die Wendung »evisio dominica*
in einem von einem Gottesurteil handelnden Satze gebraucht wird,
„evisio dominica* bedeuten? Die Antwort kann, meine ich, da ,do-
minicus* = »göttlich*, »zu Gott gehörig*, »von Gott stammend, ge¬
sendet*, nicht schwer fallen: »evisio dominica* ist die »göttliche,
<L L von Gott inspirierte Wundererscheinung* *), das Zeichen,
in dem die »virtus (dei) apparet*, die Wunderkraft Gottes beim Gottes¬
urteil in Erscheinung tritt 8 ). Die »evisio dominica* ist das Zeichen,
daß dem Beweisführer das Ordal geglückt ist Übersetzen wir nun
»praeter evisionem dominicam* mit: »entgegen der von Gott inspi¬
rierten Wundererscheinung* 4 ), d. h. also: »ungerechtfertigterweise*, dann
ergibt die ganze Stelle folgenden Sinn: »Wenn dem Beklagten der
*) Neben den oben angeführten Deutungen wären noch zu erwähnen die
Ansicht H. 0. Lehmanns (vgl. Lehmann, Quellen z. deutschen Reichs- und
Hechtsgeschichte, 8. 37), der »evisio« — »Genehmigung« setzt, und die von
Behrend, Register, s. v. »evisio« ausgesprochene Vermutung, daß »evisio« «■»
»evidentia« und im Sinne von »praesentia« zu nehmen sei. Beide Vermutungen
sind ohne jede nähere Begründung aufgestellt worden.
# ) Über »visio« — »gottgesandte Erscheinung« vgl. Forcellini, s. v. visio.
•) Zum Ausdruck »virtus (dei) apparet« in der Terminologie des Ordalinstituts
vgl. Mon. Germ. leg. secfc. V, p. 608, 609; s. ferner p. 688, Z. 40: »fiat veritas
tua declarata in corpore sua«.
4 ) Neben der eben gegebenen Deutung der Wendung »evisio dominica« wäre
auch noch m. E. diskutabel die Gleichung: »evisio dominica« — »evisio dei« —
»Erscheinung Gottes«, da im Vulgärlatein »in außerordentlich vielen Fällen statt
des Genitivs ein aus demselben h ^geleitetes Adjektiv verwendet wird« und gerade
das Adjektiv »dominicus« überar j häufig in einer für unser Sprachgefühl auffälligen
Weise statt des Genitivs domini gebraucht wird« (Vgl. Binar Löfstedt, Philo¬
logischer Kommentar zur peregrinatio Aetheriae (==* Arbeden utgifna med understöd
af Vilhelm Ekmans Universitetsfond, Uppsala, 9. Bd.) f S. 76%.). Auch von dieser
Basis aus ließe sich für »praeter evisionem dominicam«^die Deutung »ungerecht¬
fertigterweise«, d. h. entgegen der im befragten Elemente sich manifestierenden
Erscheinung Gottes — gewinnen.
580
Emil Gold mann.
Kesselfang gelang, zu dem der Klager ihn provoziert hatte, hatte der
Klager eine Buhe von 15 sol zu entrichten*.
Der Unterschied zwischen der von mir vertretenen Deutung unserer
Stelle und der von Brunner gegebenen Erklärung besteht somit in folgen¬
dem: Nach meiner Ansicht ist in jedem Falle, wenn das Gottesurteil zu
ungunsten des Klagers ausgeht, der Klager bußfällig. Der Herausfor¬
derung zum Kesselfang lag eben, wie Brunner treffend sagt, eine «an¬
tizipierte Eidesschelte* zugrunde* *); für die unberechtigte Eidesschelte
hatte darum der Kläger Buhe zu entrichten. Nach Brunners An¬
sicht ist nur in bestimmten Fällen, nämlich dann, wenn die Ordal-
klage nicht im Namen des Königs erhoben wurde, der Kläger,
wenn das Gottesurteil zugunsten des Beklagten ausgeht, bußfallig. Hat
der Kläger — so meint Brunner — die Ordalklage im Namen des
Königs eingebracht, dann geht er frei aus, auch wenn das Gottesurteil
zugunsten des Beklagten spricht
3. Edictum Chilperici, c. 2: «ut rebus concederemus*.
Die Wendung des Edict Chilp., c. 2: «... convenit, ut rebus con¬
cederemus Omnibus leodibus nostris* hat die verschiedenartigsten Er¬
klärungen gefunden. Dahn 8 ) glaubt, dah hier von Geschenken die
Bede sei, die der König seinen leudes verspreche. Gegen diese Deutung
wendet Geffcken 8 ) mit Becht ein, daß «res* «dafür doch ein sehr
verschwommener Ausdruck wäre*. Außerdem sei es aber wohl selbst
für einen König keine «modica res* mehr, jedem seiner männlichen
Untertanen 4 ) Geschenke zu machen. Die übrigen Erklärer unserer
Stelle stimmen darin überein, daß sie das «rebus* in «reibus,
oder «reipus* emendieren. Gemäß dieser Ansicht ß ) ist somit in unserer
Bestimmung von der Abgabe, die bei Wiederverheiratung einer Witwe von
deren Bräutigam zu entrichten ist die Bede. Im einzelnen weichen diese Er¬
klärungsversuche von einander ab. EineBeihe von Autoren vertritt die An¬
sicht daß Chilperich hier den reipus ganz abgeschafft habe, so Schröder 4 ),
*) VgL Brunner, RG. II. Bd., S. 676, Anm. 28.
*) Vgl. Dahn, Könige der Germanen, VII, 1, 8. 191, Anm. 1.
») Vgl. Geffcken, 8. 269.
4 ) Ober »leodes« = »Untertanen« vgl. Dahn, Könige der Germanen, VH. 1^
S. 190%. ; 3, 8 624, Anm. 7, 8.
*) Sie wurde, wie es scheint zum erstenmale von Pardessus, Diplomat*,
chartae etc., 1. Bd., 8. 143 ausgesprochen.
•) Vgl. B. Schröder, De dote secundum leges gentium Germanicarum an-
tiquissimas, Dies. Berlin 1861, 8. 62, Anm. 31; derselbe, Eheliches Güterrecht,
Beiträge tot Interpretation der Kapitularien cur Lex Salica.
581
v. Amira 1 ), Sohm 6 ), Bive 6 ), Jungbohn Clement 4 ). Mit
Brunner 6 ), dem Geffcken 6 ) sich anschließt, darf man dieser An¬
sicht entgegenhalten, daß nach dem Wortlaute der Stelle (conoede-
remns!) an eine völlige Abschaffung *) des reipus nicht gedacht werden
könne.
Im Gegensatz zu den eben genannten Autoren vertritt Op et 6 ) die
Meinung, daß Chilperich durch die fragliche Bestimmung bloß Streitig¬
keiten über den reipus den Boden entzogen habe. Diese Ansicht dar£
da Opet sie ohne nähere Begründung gelassen, außer Betracht bleiben.
Brunner a. a. 0. glaubt, daß, wenn in unserer Stelle überhaupt vom
Institut des reipus die Bede sei, es sich lediglich um den Verzicht des
Königs auf die fiskalischen Bechte am reipus handeln 9 ) könne. Auch
diese Ansicht kann wohl kaum auf Gefolgschaft rechnen. Zu ihrer
Widerlegung genügt wohl der Hinweis auf die Tatsache, daß sich der
Fall, daß der König die ihm am reipus zustehenden fiskalischen Bechte
geltend machen konnte, nur sehr selten ereignet haben dürfte und es
darum kaum wahrscheinlich ist, daß ein Verzicht auf diese fiskalischen
Bechte als eine allen Untertanen gewahrte Konzession („concederemus
omnibus leodibus nostris*) hingestellt worden wäre. Geffcken 10 )
ist ebenfalls der Ansicht, daß unsere Stelle vom reipus handle, meint
aber, daß es bei der Unbestimmtheit der Ausdrucksweise der fraglichen
Bestimmung unentschieden bleiben müsse, welcher Art denn die Neuerung
des c. 2 gewesen sei
Die Tatsache, daß es bisher nicht gelungen ist, beim Ausgeben
von der Basis rebus = reipus zu einer befriedigenden Deutung unserer
3. 63, Anm. 29; derselbe, Westdeutsche Monatsschrift, 6. B<L, 8. 488; der¬
selbe, B6.*, 8. 296, Anm. 18. — 8chroeder schloß sich später (vgL BG.*,
8. 314) der von Brunner gegebenen Deutung der Wendung »rebus concede-
remus« an.
*) VgL v. Amira, Erbenfolge, 8. 34.
*) VgL Sohm, ZBG„ 5. BcL, 8. 406.
*) VgL Rive, Geschichte der deutschen Vormundschaft, 8. 284, Anm T 14.
«) VgL Jungbohn Clement, Forschungen, 8. 269.
°) VgL Brunner, Berliner Sih-Ber^ Jg. 1894, 8. 1290.
°) VgL Geffcken, a. a. O.
*) Den Gegenpol zu der oben erör te r t en Ansicht b ez eichn et die von Par-
dessus, DipL, L BdL, 8. 143 a n agesprochene Ver mutun g, daß es sich um eine
Neuemfühnmg des rnposInstituts Ar die vorn Chilperich neugewonnenen Un¬
tertanen handle. Irgend einen Beweis Ar diese Behauptung hat Pfcrdessns nicht
angeführt.
•) VgL Opet, Kitt. d. hat t Oat Gesch-, Erg.-BL 3, 8L 13,
•) VgL L 8aL 44, 10: Jam post sexto g c n ucolnm m non foarir*
reipns ipse vel eaasa quse exinde orta fberit colhgator.
M ) VgL Geffcken, a. a. 0.
582
Emil Goldmann.
Stelle zu gelangen, legt die Vermutung nahe, daß diese Basis selbst
nicht tragfahig ist. Somit gelangen wir zur Schlußfolgerung, daß dem
„rebus" unserer Stelle ein anderer Sinn zukommen müsse als der tob
„reipus" *).
Wollen wir beim Versuche, den Sinn des Ausdruckes „rebus" zu
enträtseln, methodisch Vorgehen, dann dürfen wir uns von der von
vornherein wahrscheinlichsten Annahme, daß nämlich in „rebus" der
Dativ oder Ablativ Pluralis des lateinischen Wortes „res" vorliege, nicht
abdrangen lassen. Dieser Vorsatz muß noch bestärkt werden, wenn
wir bedenken, daß das Wort „res" wenige Worte nach unserem
„rebus" in der Wendung „per modicam rem" begegnet Die Er¬
kenntnis, daß wir es bei der Form „rebus" mit dem lateinischen Worte
„res" zu tun haben dürften, führt uns zur Frage, welche von den
mannigfachen Bedeutungen des Wortes „res" wir auszuwählen haben,
um zu einer befriedigenden Deutung unserer Stelle zu gelangen. Da
uns das Wort „rebus" in einem von zivil- und strafrechtlichen Ma¬
terien handelnden Gesetze begegnet wird es methodisch das Rich¬
tigste sein, die Annahme zu wagen, daß „res" hier in der spezifisch
juristischen Bedeutung von „Rechtssache", „Rechtsstreit", „Prozeß",
gebraucht sei*). Setzen wir nun für „res* die Bedeutung „causa ju-
dicialis" ein, dann gewinnen wir freilich, sofern wir uns der bisher
üblichen Lesung des Schlußsatzes unserer Bestimmung: „ut per modicam
rem scandalum non generetur in regione nostra" 8 ) anschließen, keinen
befriedigenden Sinn. Ganz anders jedoch gestaltet sich die Sachlage,
wenn wir uns strenge an den Wortlaut der Stelle halten, wie ihn die
Handschrift Em. Q. — das Edictum Chilperid ist bekanntlich nur in
dieser Handschrift überliefert — bringt Hier lautet der Schlußsatz:
„ut per modicam rem scandalos non negetur in regione nostra" 4 ).
Mit diesem Wortlaute haben unsere modernen Editoren nichts anzu¬
fangen gewußt und darum im Anschluß an eine den Codex Vosaianus
Q 119 bessernde Hand zu einer Emendation des „negetur* in „gene¬
retur« ihre Zuflucht genommen 8 ). Dieser für den ersten Augenblick
*) Zweifel an der Richtigkeit der Gleichung: rebus — reipus waren schon
Brunner, a. &. 0., aufgestiegen.
*) »res« in der Bedeutung »causa judicialis« ist auch dem Vulgärlatein wohl
bekannt; vgL z. B. MG. Legum sectio V. Formulae Merow. e. Kar. aevi ed.
K. Zeumer, p. 298, Z. 10.
•) VgL Hessels, Lex Salica, p. 409; Geffcken, S. 84.
4 ) VgL A Holder, Lex Salica emendata nach dem Cod. Vosrianus Q 119,
1879, S. 45.
•) VgL Hessels, a. a. 0., Geffcken, a. a. 0., Behrend, Lex Salica*,
•8 162.
Beiträge zur Interpretation der Kapitularien zur Lex Salica,
583
so unverständlich scheinende Satz laßt sich non aber in vollkommen
befriedigender Weise deuten, wenn man sich von dem bisher freilich ohne
Ausnahme von den Erklärem unserer Stelle begangenen Fehler ferahalt,
•das Wort »scandalos" im Sinne von »Skandal", »Ärgernis" etc. zu
nehmen.
Wir finden in einer Seihe von romanischen Sprachen aus der
Wurzel *scandal- (von »scandere") aufgebaute Bezeichnungen mit der
Bedeutung »Senkblei": so das italienische »scandaglio* = »Senkblei",
-»scandagliare" = »mit dem Senkblei messen" *), das spanische
»escandallo" = »Senkblei", »Lot", »Bleilot" *), das in letzter Linie auf
•die gleiche Bedeutung zurfickffihrende provenzalische »escandal" —
„Hohlmaß", »escandoli" = »kleines Maß für Flüssigkeiten", »escandau*
— »peson*, »balance ä un seul plateau", »escandaia" — »mesurer",
„jauger*, »sonder" 8 ), ferner die französischen Bezeichnungen
„echantillon", »echantillonage", »echantülonner* mit ähnlicher Be¬
deutung 4 ). Wir sind auf Grund dieser verschiedenen Wortformen be¬
rechtigt, eine romanische Grundform *scandalium — »Senkblei" an¬
zusetzen 6 ). Bedenken wir nun, daß im Italienischen dem Worte
»scandaglio" außer dieser Bedeutung auch noch die Bedeutung »Unter¬
suchung", »Erforschung" zukommt 6 ), desgleichen im Spanischen 7 ),
so werden wir, umsomehr, da eine gleiche Bedeutungsentwicklung bei
frz. »sonder", bei unserem »erwägen", um von anderen Parallelen zu
schweigen, vorliegt, keinen Fehlschluß begehen, wenn wir annehmen,
daß auch schon im Vulgärlatein dem Worte »scandalium* die Be¬
deutung »Untersuchung" zugekommen sein dürfte.
Darf nun aber dem Worte »scandalum" oder »scandalus" 8 ) die
Bedeutung »Untersuchung" zugeschrieben werden, dann erschließt sich
uns das in unserer Stelle vorliegende Bätsel restlos. Die Bestimmung läßt
*) VgL Rigutini, Voc. d. ling. ItaL 8. h. v.
*) VgL Tolhausen, Spanisch-deutsch. Wbuch s. h. v.
*) VgL Levy, ProvenzaL Supplementwörfcerb., s. v. escandal, Mistral, Lou
trdsor d. Felibrige, s. h. v.
4 ) VgL Sachs-Villatte, s. h. v.; Du Cange, s. t. eecandilare, scanda-
glare, scandaillare, scandale, scandalium, scandilhare etc.
Ä ) VgL Körting, Etymolog. Wörterbuch der romanischen Sprachen, 8. v.
seandalium.
") VgL Rigutini, s. v. scandaglio, scandagliare.
*) VgL Diccionario de la lengua Castellana p. L acad. espaäola, 8. ed., 1837,
8. v. »escandallo*: escandallo =— prueba 6 ens&yo que se hace de alguna
co88» Examen, exploratio«.
•) Das »scandalos« der Handschrift Em. Q. ist nichts anderes ab das vulgär-
lateinische Aequivalent für »scandalus«; vgl. Fr. Schramm, Sprachliches zur
Lex Salica, 1911, S. 25; M. Bonnet, Le Latin de Vre-jiro de Tours, .S. l.A
584
Emil Goldmann.
sich nämlich dann folgendermaßen deuten: »Wir räumen allen unseren
Untertanen im Hinblick auf die vor Gericht zu erledigenden Hechts-
Streitigkeiten die Vergünstigung ein, daß wegen einer noch so
geringen Hechtsstreitigkeit in unserem Heiche die Unter¬
suchung des Falles nicht verweigert werden wird*. Mit
anderen Worten: es handelt sich um eine Anordnung, die das Ver¬
brechen der JustizyerWeigerung im Auge hat. Der König ver¬
spricht, dafür Sorge tragen zu wollen, daß, falls eine noch so geringfügige
Hechtssache vor das Gericht gebracht werden würde, eine Justizver-
weigerung nicht stattfinden werde 1 ).
4. Ed. Chilp. c. 8: »marias, qui nuntiabantur ecclesias".
Trotz vielfachen Bemühungen hat bisher der 8. Abschnitt des
Edictum Chilperid eine befriedigende Deutung nicht gefunden. Der Text
unserer Stelle lautet: »Ilias et marias, qui nuntiabantur ecclesias, nuntientur
consistentes ubi admallat*. Es kommt bei der Erklärung dieses Satzes
vor allem darauf an, den Sinn des Ausdruckes »marias* festzustellen.
Unter den verschiedenen Versuchen zur Lösung dieser Aufgabe wäre
zunächst zu nennen die von Sohm versuchte Deutung unserer
Stelle. Sohm 8 ) emendiert das handschriftlich überlieferte »marias* in
»marcas* •) und übersetzt den fraglichen Satz folgendermaßen: »Die
Markversammlungen, welche bisher bei den Kirchen zusammenbe¬
rufen wurden, sollen dort berufen werden, wohin die Umgesessenen zu
Gericht geladen werden*. Die Markversammlungsstätte soll, so meint
Sohm, gemäß der Anordnung des Ed. Chilp. an die Zent-(Gerichts-)
Versammlungsstätte verlegt werden. Chilperichs Gesetz gibt, so spinnt
Sohm diesen Gedankengang weiter, der Mark und der Zent einen
örtlichen Mittelpunkt Es setzt nach der Meinung Sohms voraus, daß
*) Die Übersetzung, die oben im Texte gegeben wurde, basiert auf einer von
mir vorgenommenen Zusammenziehung des »per« und »modicam« zu »permodiam«,
welches Adjektiv dem Vulgärlatein sehr geläufig ist (vgL Löfstedt Philologischer
Kommentar z. peregr. Aetheriae, S. 71), und auf der bekannten Tatsache, daß »in
der gesamten Vulgärlatinität eine ausgesprochene Neigung zum Gebrauche des
Akkusativs als allgemeiner Objektskasus bestand« (s. Löfstedt, a. a. 0., S. 217%.).
Es heißt statt »permodicae rei«: »permodicam rem«. Übrigens läßt sich, auch
wenn man an der Verbindung von »per« und »modicam« zu »permodicam« An¬
stoß nimmt wozu m. E. kein Anlaß vorläge, zu einer ähnlichen Deutung ge¬
langen, wenn man »per« = »propter« (vgl. über »per« « »propter« im Vulgär¬
latein Bon net, 8. 591; Glotta, Jg. 1912, S. 278%.) setzt
*) Vgl. Sohm, Fränkische Reichs- u. Gerichtsverf., S. 210.
*) Vgl. auch Sohm, Prozeß d. 1. Satlica, S. 63, Anm. 16.
Beiträge zur Interpretation der Kapitularien zur Lex Salica.
585
die Zentgeno88en und die Markgenossen, daß die Grenzen von
Mark nnd Zent in der Regel die nämlichen sind. Die Deu¬
tung Sohms fand Zustimmung bei Lamprecht *), wahrend Dahn*}
sich ihr gegenüber zweifelnd verhielt. Mit voller Entschiedenheit wendet
sich gegen die von Sohm vorgeschlagene Interpretation unseres Satzes
Fustel des Goulanges*). Man brauche, meint dieser Autor, nur
den Text unserer Stelle mit der von Sohm gegebenen Übersetzung zu
vergleichen, um zu sehen, daß nicht ein Wort der Deutung — mit
A usnahm e des Wortes ecdesia — mit dem Text übereinstimmt Die
Deutung Sohms ist nun in der Tat kaum haltbar. Fürs erste ist
wirklich, selbst wenn man „marias" — „marcas“ gleichsetzen dürfte,
die Sohm’sche Übersetzung unseres Satzes schwer zu verteidigen. Fürs
zweite wäre die Emendation von „marias“ in „marcas“ nur dann ge¬
stattet, wenn sich beim Festhalten an der Textüberlieferung („marias 11 )
eine befriedigende Lösung unseres Problems nicht ergäbe. Die folgenden
Ausführungen werden nun aber dartun, daß sich auch beim Festhalten
an der überlieferten Form „marias“ die Stelle in zureichender Weise
erklären laßt Ebenfalls durch eine Emendation des überlieferten Textes
sucht H. 0. Lehmann 4 ) die Stelle ins Geleise zu bringen. Er meint
daß der Satz besage, daß eine Benachrichtigung, die früher in der
Kirche erfolgte, jetzt bei der Ladung und zwar seitens des Ladenden
erfolgen solle. Dies könne dann aber nur eine Benachrichtigung
für den Gerichtstermin sein. Lehmann nimmt daher an, daß statt
„marias“ „mallas“ (für „maOa“) oder „malli dies“ zu lesen sei «Also
diejenigen Gerichtstennine, welche früher in den Kirchen bekannt ge¬
macht wurden, soll der Klager jetzt bei der Ladung (nachdem er sieb
darüber informiert) dem Geladenen mitteilen“. Diese Deutung ist
schon deshalb unzulässig, weil sie zu einer gewaltsamen Emendation
des Wortes „marias* — weit gewaltsamer als bei der Hypothese Sohm*
der Fall ist — zu greifen gezwungen ist Viel annehmbarer als die
bisher mitgeteilten Lösungsrersuche ist die von Brunner 4 ) vorge-
schlagene Interpretation. Brunner stellt „marias“ zu ahd, „rnäri“
„adnuntiatio“ (von „marjan“ = „nuntiare“) und deutet, indem er ler
*) Vgl. K. Lampreeht, Hiztonscbes Tauchenbuch, 0. Folge, 2. IVJ., H. fM f
Anm. 1.
*) VgL F. Dahn, Die Könige der Gerznanen, 7, M., %. AU, H &J25, Kum. 8,
& 614, Anm. 2.
*) VgL Fustel des Coulanges, \tt*AAktu*m
d’histoire, 1886, 324.
4 ) Vgl. H. 0. Lehmann, znr devUcbe» fUrt/h* u, fU*h Ug<*cfck r
8. 37, Anm. 62.
*) VgL Brunner, BG., Ii, 8. &A, kau*. V/,.
586
Emil Goldmann.
Sal 47, Cod. 10 und 1. S&L 84 als Beleg für die Gleichang «nuntiare"
= «vorladen“ anftlhrt, unsere Stelle folgendermaßen: «Jene Ladungen,
die bisher in der Kirche verkündet wurden, sollen dort erfolgen, wo
man die ansässigen Leute (vgL c. 10 Ed. Chilp.: et non habeat unde
eonsistat) belangt*. Brunner beruft sich bei dieser Deutung darauf^
daß flandrische Quellen eine Ladung in der Kirche und im Ding
kennen *), und die Delfter Dingtalen *) von einer Ladung im Ding
vermelden *). Dieser Lösungsvorschlag halt sich von dem Fehler
Sohms und Lehmanns frei, der überlieferten Wortform «marias* Ge¬
walt anzutun. Nichtsdestoweniger halte ich auch diese Lösung für
kaum zureichend, da die von Brunner herangezogenen flandrischen
Quellen aus einer viel zu späten Zeit stammen, um zur Deutung unserer
Stelle verwertet werden zu können. Die Quellen unserer Epoche
wissen, wenn wir von dem einen Ausnahmsfalle Lex Alam. 36, 2 4 )
mbsehen, von einer Ladung im Ding nichts zu vermelden 6 ). Im An¬
schluß an die eben vorgeführten Versuche zur Deutung unserer Stelle
sei schließlich noch erwähnt, daß einige Autoren, so beispielsweise
Fustel des Coulanges 8 ), unser Problem für unlösbar halten.
M. E. liegt in dem «marias* des c. 8. Ed. Ghilp. das nämlich»
Wort vor wie in dem ersten Bestandteil des Wortes „marisc&lcus* in
all. SaL: «mari* — „Roß*, «Mähre*, ahd. marah, mhd. marc, ags.
mearh, nordg. marr. 7 ). Der ganze Satz ist folgendermaßen zu über¬
setzen: «Die Mähren (illas dürfte hier bereits in der Funktion des Ar¬
tikels 8 ) stehen), die (erg. bisher) in den Kirchen aufgeboten wurden,
sollen (erg. nunmehr) dort aufgeboten werden, wo man die «consi-
stentes* belangt, d. h. im Gericht*. Die Bestimmung bezieht
sich auf verlaufene Pferde. Wer ein verlaufenes Pferd einfängt
») Vgl. Warnkönig, Flandrische Rechtsgeschichte, 3. Bd., 8. 279.
») Vgl. Delfter Dingtalen, S. 34 (Sonderabdruck aus den Nieuwe B^jdr. toot
Rechtsgeleerdheit en Wetgeving, NiLDl. 4, 1878.
») Als einen Vorgänger Brunnen darf man Pardessus, Loi Salique, p.599»
•600 bezeichnen, der dortselbet »marias« durch »märi« = »Mär, Erzählung« er¬
klärt und die in Frage stehende Stelle auf eine Ladung durch öffentlichen
bezieht.
4 ) Vgl. hiezu Brunner, RG„ II. Bd., S. 341.
*) Der Deutung Brunnen stimmt Geffeken, S. 278 bei. Sie scheint ihm
»endgültig das Richtige zu treffen«.
*) Vgl. Fustel des Coulanges, Recherche«, a. a. 0.
T ) Das Wort kommt auch in den malbergischen Glossen zu L Sal. 38 vor;
vgL Kern bei Hessels, Lex Salica, § 191, $ 196 (Sp. 519, 520).
•) VgL Löfstedt, Philol. Kommentar, S. 64fg.; Wölfflin, Archiv £. lat.
Xexikogr. u. Grammatik, IV. Bd., S. 273.
Beiträge zur Interpretation der Kapitularien zur Lex Salica. 587
oder wem ein solches Pferd zuläuft mußte bekanntermaßen, wollte er
den Diebetahlsyerdacht von sich abwenden, die Sache ein- oder mehr¬
fach aufbieten. Die Aufbietung des Fundgutes hatte zu erfolgen, sei
es nun im Ding, sei es vor der Obrigkeit, oftmals aber auch in
der Kirche 1 ). Es darf hier auf folgende Stellen *) verwiesen werden:.
Xex Visig. VIII, V, 6 (Fuero juzgo, p. 116): Caballos vel animalia
errantia liceat occupare, ita ut qui invenerit denuntiet aut epis-
copo, aut comiti, aut iudici, aut senioribus loci, aut etiam in conventu
publico vicinorum. Quod m non denuntiaverit furis damnum habebit*.
Jydske Loy II (Thorsen, J. L. p. 204 s.) 126: Of nokeer man hittaer
nokaer koste, oc sighaer sei til oc lins sei i kirki, oc sei a thingi,
st han havaer swa wrthen koste hit, tha ma han thser for warthsB
thivf, swa sum han hafthae thet stolaet
Der Stadt Braunschweig Ordnung (Hänselmann, Urkundenbuch
der Stadt Braunschweig, I, 1873, S. 419, § 139; S. 466, § 137): Wer
gut findet, der sol es dem, so es gehört, wiedergeben. Weis er aber
nicht, wem es zukompt, sol er es von der cantzel allhie vor¬
kündigen lassen; thut er das nicht, soll er vor einen dieb gehalten
.... werden*.
Dey aude Schrae der Stat von Soist 37 (J. S. Seibertz, Urkun¬
denbuch z. Landes- und Bechtsgeschichte d. Herzogt Westfalen II,
1843): Vorstreken ghuyt, dat deme richtere weyrt gheantwortet, dat
mal hey vorkundighen laten drey sunnendaghe vppe deme alden
kerchoue .
Lüb. B. (J. F. Hach, Das alte Lübische Hecht 1839, II, 159,
S. 327): gheit auer en ve bister, dat iemant vorloren heuet
we so dat op holdet de schalet kundeghen laten des hileghen
daghes to der kerken."•
Dortmunder Schiedsspruch a. 1240 (Vgl Dortmunder Statuten und
Urteile, hgeg. v, F. Frensdorft Hansische Geschichtsquellen, Bd. m,
1882, Beilage I, I, S. 190): Insuper arbitrati sunt quod equus vel
aliud animal vel pecus qualecunque sit si forte errando ierit-
quod illo libere vagari debet per sex ebdomadas, et de illo medio
tempore debet in ecclesiia pronunciari, et quod si infra prefatas
ebdomadas verus dominus animalis illius non venerit quod ex tune
comes illud sibi libere potert usurpare.
*) Vgl. H. Meyer, Entwerung u. Eigentum im deutsehen Fahmisrecht, 1902,
a 166 fg.
•) Die nachfolgende Zusammenstellung zumeist im Anschluß an H. Meyer,
Entwerung. a. a. 0.
588
Emil Goldmann.
Ssp. II, 37, § 1: ... Svat so en man yint, oder dieven oder
roveren afjaget, dat sal he up bieden vor einen buren unde to
der kerken.
Leges Edwardi Confessoris, c. 24 l ): Si aliqnis adduxerit aliqnid in
villam, vel apportayerit animal yel pecuniam aliquam et dixerit
ee invenisse, anteqnam introdncat illud in domum soam yel alterius,
ante ecclesiam ducat, et faciat venire sacerdotem de ee-
clesia, et praefectom de villa, et de melioribus hominibus de villa
qnotqnot habere poterit .... Ipsis congregatis, ostendat eis totnm in-
ventum, qnicquid sit 2 ). Die eben angeführten Stellen, deren Zahl sich
leicht vermehren ließe, zeigen wohl zur Genüge deutlich, daß es im
germanischen Bechtsgebiete seit früher Zeit — man vgL den Beleg
aus der lex Yisigothorum VIII, V, 6 — gebräuchlich war, zugelaufene
Pferde in der Kirche aufbieten zu lassen. Um ein solches Aufgebot
verlaufener Pferde in der Kirche handelt es sich wohl auch in unserer
Stelle. Es wird bestimmt, daß an die Stelle des »nuntiare* in der
Kirche (vielleicht aber nur neben dieses) das »nuntiare* in der Ge¬
richtsversammlung treten solle. Diese Deutung verdient m. E.
den Vorzug vor der oben besprochenen Interpretation Brunners, ganz
abgesehen von dem oben gegen Brunner erhobenen Einwande, schon
deshalb, weil sie einfacher, ungezwungener ist Brunner ist nämlich
genötigt anzunehmen, daß es sich in unserer Stelle um eine Ladung
nichtansässiger Personen handle. Davon vermeldet aber unsere
Stelle nichts. Aus der Wendung »consistentes ubi admallat* folgt
keineswegs mit Notwendigkeit, daß es sich um die Ladung eines homo
non consistens handle, »consistentes ubi admallat* ist nur eine
Umschreibung für »Gerichtsversammlung". Somit ist klar, daß Brunner
zur Unterstützung der einen Hypothese, daß »marias* — »nuntiatio*
sei, eine zweite Hilfshypothese benötigt, daß in unserer Stelle von der
Ladung von »homines non consistentes" die Bede sei. Einer solchen
stützenden Hilfshypothese bedarf die hier verteidigte Gleichung »marias*
= »Pferde" nicht
5. Ed. Chilp.. c., 9: »quomodo sic ante pavido interficiat*.
Unsere Stelle handelt vom »malus homo". Wenn die Bemühungen
des Grafen und diejenigen der Verwandten des malus homo, gerichtet
auf Stellung des Missetäters vor Gericht, vergeblich sind, tritt das K&»
*) VgL Liebermann, Gesetze der Angelsachsen I, p. 649.
*) Vgl. hiezu Liebermann 2, 418 s. v. Fund; s. ferner Lieberxnaxm, s. v.
Eirehtür 2), Dorf 7 t — Zum Rechte der Bretagne vgL M. Planiol, Les appiro-
Beiträge zur Interpretration der Kapitalarien zur Lex Salica.
589
nigsgericht in Aktion: Graf und klagerische Partei bringen die Ange¬
legenheit an den Hof, und der König spricht als ultima ratio die Acht
aus. Dann darf ihn jeder, der ihn findet, töten l ). Diese Tötungsbe¬
fugnis umschreibt das Gesetz mit den Worten: „ut quicumque eum
inyenerit quomodo sic ante pavido interfidat*. Der Sinn des diese
Tötungsbefugnis einräumenden Satzes ist klar, unklar ist nur die Be¬
deutung des in dieser Stelle verwendeten Wortes „pavido*. Diese Un¬
klarheit 2 ) hat eine Beihe von verschiedenen Deutungsversuchen ver¬
anlaßt
Kern bei Hessels, p. 410 glaubt, daß an Stelle von „pauido“
„impauido* (= impavide) zu lesen sei, so daß sich als Sinn der frag¬
lichen Wendung ergäbe, daß man den v malus homo* ohne Furcht
töten solle, wie es seit je Herkommen gewesen sei Eine ähnliche An¬
sicht hatte schon vorher So hm 8 ) geäußert Gegen diese eben vorge-
f&hrte Deutung ist einzuwenden, daß sie genötigt ist, das zu erklärende
Wort in sein Gegenteil zu verkehren, sich also eines gewalttätigen
Eingriffs in den uns überlieferten Text schuldig macht Boretius 4 )
glaubt, daß die Stelle lückenhaft und das „pavido* möglicherweise ein
auf das „paverit* des c. 56 L Sal. 6 ) weisender Best sei. Auch diese
Ansicht entbehrt der zureichenden Begründung. Einen anderen Weg
zur Lösung unseres Problems schlägt Brunner ein 6 ). Brunner geht
von der Bedeutung „pavidus* = „feig“ aus. „Feig* hieß, so bemerkt
Brunner, der moribundus, der zum Tode Verurteilte, der dem Tode
Verfallene. Auch dieser Ansicht wird man schwerlich beipflichten
können. Aus der Gleichung: „pavidus* — „feig* im nhd. Sinne des
Wortes und agerm. „feig* = moribundus* folgt durchaus nicht mit
zwingender Notwendigkeit, daß nun das „pavidus* unserer Stelle =
„moribundus* sein müsse. Bei dieser Gleichung: „pavidus* = „mo¬
ribundus* wäre nämlich vorausgesetzt, daß, wofür kein Anhaltspunkt
gegeben ist, bereits in altfränkischer Zeit dem Worte „feig* neben der
priancez par bannies dans T ancienne province de Bretagne, Nouv. rev. hist HI
Ber„ 14. Bd., S. 446.
*) Die oben stehende Inhaltsangabe wurde mit den Worten Geffckens,
fi. 279, wiedergegeben.
*) Pardessus, Diplomata, 1. Bd., S. 146, Anm. 10 bezeichnet darum unsere
Stelle als »verba subobscura«.
*) VgL 8ohm, Prozeß der 1. Sal., 8. 188.
4 ) VgL Boretius, Die Kapitularien z. 1. Salica in Behrends Ausgabe der
L SaL, 1. Aufl., 1874, 8. 109, Anm. 38. — ““
*) »Et quicumque eum (den Friedlosen) aut paverit aut
-dederit, etiam ai uxor sua proxima etc.«.
•) VgL Brunner, RG.* IL, 8. 463, Anm. 9.
590
Emil Goldmann.
Bedeutung „moribundus" auch die Bedeutung «feig* im nhd. Sinne
des Wortes zugekommen sei, wäre ferner vorausgesetzt, daß der Gesetz¬
geber, der vor der Aufgabe stand, das Wort «feig* im Sinne von „mo¬
ribundus" ins Lateinische zu übersetzen, dafür irrtümlicherweise jenes
lateinische Wort wählte, das das Aequivalent des Wortes „feig" im
heutigen Sinne des Wortes darstellt. Wir wären somit, wollten wir
die Deutung Brunners akzeptieren, genötigt, zwei ziemlich unwahr¬
scheinliche Annahmen in den Kauf zu nehmen.
Dem Bätsel, das unsere Stelle darbietet, können wir m. EL nur
beikommen, wenn wir die Bedeutungsentwicklung des Wortes „pavidus*
auf dem Boden des Mittellateins und der französischen Sprache
des Mittelalters verfolgen. Da zeigt sich nun, daß das Wort „pa-
vidus" die Bedeutung „vagans", „errabundus" gewonnen hat Man
vergleiche die folgenden Belege: Du Gange, s. v. spavus = erra¬
bundus, vagans, cuius dominus ignoratur; spaviae = y*.
gantia et errantia, quae expavefacta et metu seu pavore e domi-
norum suorum domibus erumpunt; espava, espavia dicitur de ani-
malibus aberrantibus; epava apium dicitur de apibus perditis; gene-
ratim epave a practdcis nostris dicitur de animalibus errantibus, quorum
veni8 ignoratur dominus. VgL ferner Mistral, Trds. d. Felibr., Bd.1,
8. v. espavo — dpave — bete dpouvantee et perdue; Bageau,
Glossaire du droit fran^is, s. v. espauite, espaves, S. 207: aberrantia
animalia, bestes effrayees, egarees et errantes; Diez, Etymolog. WÖrterb.
d. rom. Sprachen, 5. AufL, S. 572 s. v. epave = „verlaufen", „herren¬
los", abzuleiten vom lat „expavidus"; Scheler, Dict de TetymoL
franf. s. v. dpave.
Wenn wir diese Belege überblicken, wird es ohne weiteres deutlich,
wieso das Edictum Chilperici dazu kommen konnte, den im c. 9 ge¬
nannten „malu8 homo" als einen „pavidus" zu bezeichnen. „Der malus
homo erweist sich nämlich im weiteren Verlaufe des gegen ihn durch
öffentliche Ladung eingeleiteten Prozesses immer mehr als heimat¬
loser Vagabund, dessen Aufenthalt die Wildnis ist" *). Da nun das
Wort „pavidus" zur Bezeichnung von „vagierenden" Tieren verwendet
wurde, lag nichts näher, als den nämlichen Ausdruck zur Bezeichnung
vagierender Menschen heranzuziehen.
Es ist somit das Bätsel, das unsere Stelle darbietet, als gelöst za
bezeichnen und damit auch dargetan, daß Geffcken in einem Irrtum
*) VgL Geffcken, 8. 279. — Das Gesetz bezeichnet ihn* an der n&mlichea
Stelle als einen Mann, >qui per silvas vadit«.
Beiträge zur Interpretation der Kapitularien zur Lex Solica.
591
befangen war, als er die Wendung »quomodo sic ante pavido in-
terfitiat* als »sicher verderbte Worte* bezeichnet» 1 ).
6. Decr. Chloth. c. 11: »ad sorte aut ad plibium promo-
veatur«.
Im c. 11 des Decretus Cblothario findet sich das rätselhafte Wort
»plibium*, das in befriedigender Weise zu deuten bisher nicht geglückt
ist. Die Stelle, die das Wort »plibium* enthält, lautet: De servis ec-
desiae aut fiscalinis vel cuiuslibet, si a quocumque inculpatur, ad sorte
aut ad plibium promoveatur, ut ipse precius dominis reformetur; nam
probatus periculum subiacebit*. Als Sinn der ganzen Stelle scheint
festzustehen 2 ): Der Herr, der seinen eines Verbrechens bezichtigten
Sklaven dem Kläger stellt, bekommt vor Beginn des Beweisverfahrens
den Preis sein es Knechtes als Sicherheit ausbezahlt Wird der Sklave
überführt so gelangt er in die Gewalt des Klägers, beweist er seine
Unschuld, so verbleibt er dem bisherigen Herrn, der aber wohl auch
das Pfand behält weil der Kläger einen Unschuldigen den Gefahren
des Strafprozesses ausgesetzt hat*).
Unklarheit besteht wie bereits oben bemerkt wurde, über den
Sinn des Wortes »plibium«. Eccard«) emendierte »plibium« in „ple-
feejum*. we lche Lesart die Handschrift Hessels 3 bringt and setzt dieses
»plebejum* = »laicum*. Auch Du Gange V 300 geht von dieser
Lesart aus und sieht in diesem »plebeium* soviel wie »locus publicus*,
»platea*, ,Gerichtsversammlung. Bignonius 5 ) wollte »plibium 0 in
»aeneum«, »ineum* emendieren. Leseur 8 ) deutet wiederum im An»
Schluß an Bignon »plibium* als Synonymon von »ineum*. Einen
gänzlich anderen Weg zur Deutung des rätselhaften Wortes schlägt
Brunner 7 ) ein. Brunner bringt den Ausdruck in Verbindung mit
dem altfranzösiachen Verbum »plevir* — »verbürgen« •). Brunner ist
<) VgL Geffcken, a. a. 0.; sn .ante« — »antea« vgL in der nämlichen
Stelle den Wechsel von »antea maltare« and »ante mallare*; s. ferner E. Löfstedt,
Philolog. Kommentar sur peregriiatio Aetheriae, 8. 74.
*) YgL Geffcken. 8. 264
•) Wörtlich nach Geffcke/i, a. a. 0.
*) YgL Leget Fnnoorom Suhcae et Ripoarionun etc., opera et stodio J. G.
Eecardi, 1720, p. 170.
•) YgL Da Cange, a. a. 0.
•) VgL Lesenr, Nourelle revae bistoriqae, Jg. 1888, 8. 688, Anro. 6.
*) YgL Branner, BG. n, 8. 413, Anm. 78.
■) Zo .plerir* — »v e r btti gen« vgL Dies, EtymoL Wbach der roinanischST
Sprachen, k AntL, 8. 688.
592
Emil Goldmann.
der Ansicht, daß mit dem Worte „plibium* das in SaL 40, 4 normierte
Tortnryerfahren gemeint sei, das nur gegen Sicherstellung des
Klägers, daß er eventuell den gefolterten Sklaven ersetzen werde, von
dessen Herrn zugelassen zu werden brauchte. Diese Ansicht hat die
Zustimmung Meyer-Hombergs 1 ) gefunden, während Geffcken*)
unentschieden läßt, ob die Wortinterpretation von Brunner oder Leseur
vorzuziehen sei
Von den eben vorgeführten Versuchen zur Aufhellung des Wortes
„plibium* ist wohl nur der Vorschlag Brunners eingehenderer Be¬
trachtung wert Le8eur8 Ansicht muß deshalb außer Erörterung bleiben,
weil dieser Autor einen Beweis für seine Behauptung anzutreten nicht
versucht hat Aber auch die Anschauung Brunners läßt sich schwerlich
aufrechterhalten. Es ist wohl kaum anzunehmen, daß das gegen den
Sklaven zu exekutierende Folterungsverfahren mit einem Ausdrucke
bezeichnet wurde, der eigentlich nur auf die Sicherstellung des
Klägers zielt daß er eventuell den gefolterten Sklaven ersetzen werde.
Dies hieße einen Bedeutungswandel voraussetzen, wie er wohl nur selten
Vorkommen dürfte.
Mag nun auch, wie eben gezeigt wurde, die Deutung Brunners
nicht die Lösung des eben zur Erörterung stehenden Bätsels bedeuten,
so glaube ich doch, daß der Brunnerschen Ansicht ein richtiger Kern
zugrundeliegt und daß es nur darauf ankommt diesen zuverlässigen
Baustein richtig zu verwerten. Die größte Wahrscheinlichkeit spricht
dafür, daß dem Worte „plibium* jene Bedeutung zukommt die ihm
Brunner, gestützt auf afrz, „plevir*, mlai „plegium* etc., zugewiesen hat
Viel weniger Klarheit herrscht bezüglich der Entscheidung der Frage,
wie das Verhältnis des „plibium* zum Verfahren des Loosordals zu
denken sei. Geffcken und Brunner glauben übereinstimmend, daß
dem Kläger das eine Verfahren oder das andere zur Wahl stand, daß
der Kläger entweder auf das Gottesurteil des Looses antragen konnte
oder auf das Verfahren mit „plibium*. Diese, wie wir gleich erkennen
werden, wohl kaum zutreffende Ansicht hat dann Brunner zu der eben¬
falls nicht hinreichend fundierten Annahme bestimmt daß hier von
einer Sicherheitsleistung im Folterungsverfahren die Bede sei; denn
anders konnte er, da er das „aut* unserer Stelle — „oder* gesetzt
hatte, das Wort „plibium* dann schwerlich erklären. Gehen wir nun
aber davon aus, daß das „aut* unserer Stelle wie so of* in den Hand-
*) Vgl. Meyer-Homberg, Untersuchungen zu den fränkischen Volks¬
rechten, 1. Bd., 8. 82.
*) Vgl. Geffcken, a. a. 0.
Beiträge rar Interpretation der Kapitalarien rar Lex Salica. 593
Schriften der lex Salica 1 ) und in anderen vulgarlateinischen Texten
auch hier = .und* sein konnte, dann lassen sich alle der Interpretation
unseres Satzes im Wege stehenden Schwierigkeiten mühelos aus dem
Wege raumen. Die in Frage stehende Stelle darf nämlich dann
folgendermaßen übersetzt werden: Es soll das Loosordalverfahren
■eingeleitet und zugleich vom Klager Sicherheit dafür geleistet werden,
daß der Preis des Sklaven dem Herrn vom Klager werde ersetzt werden,
falls der Sklave seine Unschuld zu beweisen imstande sei, weil eben
in diesem Falle der Klager einen Unschuldigen den Gefahren des
Strafprozesses ausgesetzt hatte. Es hat sonach unsere Stelle weder das
Ordal des Kesselfangs, noch das Torturverfahren neben dem
Looeordalver&hren im Auge, sondern einzig und allein das Loosordal
und eine mit diesem Loosordalverfahren in unmittelbarem Zusammen¬
hänge stehende Sicherheitsleistung. Mit anderen Worten: die richtige
Deutung unserer Stelle ergibt sich aus einer Kombination der Ansichten
Geffckens und Brunners, unter gleichzeitiger Ausschaltung des von
beiden Autoren begangenen Fehlers, «aut* — .oder* zu setzen.
7. .ebrius* in Cap. V, 9.
In der Bestimmung Cap. V, 9 hat seit jeher das Wort .ebrius*
die Aufmerksamkeit der Forscher erregt Eine befriedigende Deutung
ist indeß noch nicht geglückt Die Stelle lautet: .Si quiscumque do-
mrun violenter distruerit, domum si pro firmamentum ebrius habuisse
probatur, qui hoc facere praesumpserit et ei fuerit adprobatum, XLV
aolidos culpabilis iudicetur*. Grimm*) setzt unser .ebrius* 8 )«»
„curtis ruptura*. Behrend 4 ) erklärt das Wort als .Regendach*.
Kern 6 ) denkt an ein Lehnwort aus salfr. eher (ahd. epur, eher) und
legt demselben unter Berufrung auf nL .beer* = .Eberschwein* und
9 Stützbalken* die letztere Bedeutung bei 8 )« Gegen die Deutung
i) Vgl die Zusammenstellung bei Geffoken, 8. 161, rar Wendung ,aut
barbarmn, qui legem Salega vivit«.
*) Ygl. Grimm in Merkels Ausgabe der lex Salica, Vorrede XLVI.
•) Handschrift 10 bringt die Lesart »lberus«.
*) VgL Behrend, Lex Salica, 1. Auag., 8. 148.
*) VgL Kern bei Hessels $ 293.
•) Kerns Deutung wird akzeptiert Ton Lamprecht, Deutsches ——
leben im Mittelalter, 1. BcL, 8. 8, Anm, 6 und A. Meitzen, Siedahn^^
wesen der Westgermanen etc., 1. Bd^ 8. 582. Geffcken, 8. 259 Hl
^ern vorgeschlagene Deutung die plausibelste, fügt jedoch hinzu.
Dicht gelungen sei, die Gleichung .Eber« = »Stütze« anderweit nad
594
Emil Goldmann.
Kerns hat Van Helten 1 ) linguistische Bedenken erhoben. Gegen
diese Etymologie spreche fürs erste der Endungsvokal von »epur*, fürs
zweite das i der Endung der galloromanischen Form. Yan Helten
möchte darum das Wort .ebrius*, dem er ebenfalls die Bedeutung
.Stützbalken* zuzuschreiben scheint, auf salfr. *aBri, Derivativum zu
älterem *aBr — got abrs = lo^opö^, zurückführen. Daraus sei durch
Entlehnung *abrius (b als Substitut für die labiale Spirans) entstanden,
A*nn durch Anlehnung an ein durch jüngere Entwicklung entstandenes
*ebri-, ebrius. Von den eben angeführten Deutungen können als dis¬
kutabel nur die Ansichten Kerns und Yan Heltens in Betracht k ommen
Yon diesen beiden hat infolge der in. E. schwerwiegenden Einwände
Yan Heltens die Kera’sche Deutung auszuscheiden. Die yon Yan Helten
vertretene Interpretation scheint nun in der Tat des Rätsels Lösung
zu bringen. Sie hält sich viel strenger an die Lautgesetze als die
Kem’sche Deutung, mit der sie im Sachlichen übereinstimmt Sie kann
überdies auch durch ein m. K beachtenswertes sachliches Argument
gestützt werden, das sich Yan Helten hat entgehen lassen. Notker
(ed. Piper I, 150, 6) nennt die den First des Hauses tragende Säule*)
„mägensül*: „älso wir in demo hüs hdizön mägensül, dia möistün
sül, ih meino, diu den first tröget* *). »magansül« bedeutet unzweifel¬
haft: .kräftige Säule*. Die gleiche Bedeutung .Kraftsäule* wird
nun aber durch Van Helten dem salfr. »ebrius* zugewiesen, wodurch
sich ein gewichtiges Indiz für die Richtigkeit der Ansicht Yan Heltens
ergibt
f ) Ygl. Yan Helten, Paul und Braunes Beiträge, Jg. 1900, 8. 606.
*) In der L. Baj. X, 6, 7 »firststl« genannt: >Si eam columnam a qua culmea
sustentatur, quam firstsül vocant, cum 12 solidis componat«.
•) VgL Henning, 8. 171; Hjalmar Falk im Reallexikon d. germ. Alter»
tumskunde, hgeg. von Hoops, b. t. Dach.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen
Hochadel im Zeitalter der Jagellonen.
Von
Oskar Ritter v. Haleoki.
Zur Einführung.
Die österreichisch-polnischen Beziehungen haben leider noch keine
Gesamtdarstellung gefunden, wie wir sie für die österreichisch-russischen
— vorläufig bis 1605 — im grundlegenden Werke H.*Uebersbergers: Öster¬
reich und Bußland seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, I (Wien und
Leipzig 1906), besitzen. Und doch waren die letzteren, wenigstens in
jener Zeit, stets nur eine Folge der ersteren, die daher auch für die
damalige Geschichte Österreichs und seines Herrscherhauses eine un¬
mittelbarere Bedeutung haben, was besonders bei Gelegenheit der ersten
polnischen Interregna nach dem Aussterben der Jagellonen deutlich zu
Tage trat Eröffnete sich doch hiebei jedesmal den österreichischen
Habsburgem eine so viel versprechende Möglichkeit der Machterweiterung,
daß sie sich im Falle eines erfolgreichen Ausganges ihrer Bestrebungen
um den polnisch-litauischen Thron der Jagellonen nur mit der Er¬
werbung des böhmisch-ungarischen Erbes derselben Dynastie hatte ver¬
gleichen lassen. Dementsprechend hat auch in der reichen, vielsprachigen
Literatur der drei ersten polnischen Königswahlen nach dem Tode
Sigismund Augusts die habsburgische Kandidatur stets eine eingehende
Berücksichtigung gefunden; um aber hiebei ihre Aussichten, ebenso wie
die Ursachen ihres endgültigen Mißerfolges zu verstehen, ist es unum¬
gänglich nötig, ihre Vorgeschichte im weitesten Sinne des Wortes zu
59 6
Oskar Ritter v. Halecki.
erforschen, und zwar nicht so sehr das im allgemeinen schon ziemlich
bekannte Verhältnis des Hauses Habsburg zur polnischen Dynastie, die
ja nach ihrem Erlöschen nur mehr durch ihre Traditionen wirken
konnte, als vielmehr seine Beziehungen zum Adel des verwaisten König¬
reiches, dem ja doch bei jedem Interregnum die entscheidende Bolle
zufiel, zu seinen verschiedenen Parteien und Gruppen, wie auch zu den
einzelnen führenden Geschlechtern. Und gerade zur Aufhellung dieser
letzteren Beziehungen, die 1572 eine schon ungefähr hundertjährige
Geschichte hatten, ist bisher noch sehr wenig geschehen.
Eines dieser Probleme zu lösen, ist die Aufgabe der folgenden Ab¬
handlung. Es fällt nämlich besonders bei der Betrachtung der zwei
ersten Interregna in oft überraschender Weise auf, wie einerseits ge¬
rade in der fernen litauischen Reichshälfte, unter den einflußreichstell
Vertretern der mächtigen litauischen Adelsfamilien, die österreichische
Partei am stärksten und zuverlässigsten schien, andererseits aber die
Unterstützung von litauischer Seite, die für die Kandidatur des kaiser¬
lichen Hauses eine sichere Grundlage zu bilden versprach, zu keinem
Erfolge verhelfen konnte. Dies zu erklären, ist umso interessanter und
notwendiger, als es mit der drei Jahre vor dem Aussterben der Jagd-
Ionen zu Lublin abgeschlossenen endgültigen polnisch-litauischen Union
in einem unzweifelhaften, aber noch nicht erschöpfend untersuchten
Zusammenhänge steht. Die hiebei auftauchenden, bisher ungelösten
Fragen zu beantworten, ist nur möglich, wenn man die Entstehung
und Zusammensetzung jener habsburgischen Partei in Litauen im Lichte
der schon viele Jahrzehnte zurückreichenden Beziehungen der betreffen¬
den Magnatengeschlechter zum kaiserlichen Hause zu verstehen sucht
Mühsame Detailforschung auf bisher wenig bekanntem Gebiete, auf
Grund teils ungedruckter, teils in den verschiedensten Publikationen
verstreuter Quellen, muß ein genaues Bild dieser Beziehungen während
der Jagellonenzeit liefern, bevor Litauens Rolle bei den darauffolgenden
Königswahlen und diese Seite der österreichischen Politik richtig ge¬
würdigt und beurteilt werden kann.
Neben dieser politischen hat aber das behandelte Thema auch eine
gewisse kulturgeschichtliche Bedeutung. Es ist nämlich nicht unin¬
teressant zu sehen, wie jenes in der Übergangszone zwischen der west¬
europäischen und der osteuropäischen Welt gelegene Litauen, das am
Ende des XIV. Jahrhunderts noch in letzter Stunde durch Polen für
die entere gewonnen wurde, kaum seiner heidnischen Frühzeit ent¬
wachsen, in den Personen seiner vornehmsten Vertreter mit dem tradi¬
tionellen Zentrum der westeuropäischen Staatengruppe, dem kaiserlichen
Die Bestehungen der Habeburger zum litauischen Hochadel etc. 597
i_ Hofe, in unmittelbare Verbindung tritt Das anziehende kulturelle
Problem in der Geschichte der polnisch-litauischen Union erfahrt hie¬
rdurch, wenn auch nur in einer Einzelfrage, eine genauere Würdigung.
I. Die Vorbereitungszeit; bis zur Mitte des XVI. Jahr¬
hunderts.
Als der berühmte Freiherr von Herberstein auf seinen beiden Ge¬
sandtschaftsreisen nach Moskau nicht nur Polen, sondern auch ganz
, Litauen durchquerte *), schien ihm, im Gegensätze zum wohlbekannten
Polen, das Stammland der Jagellonen, in nicht minderem Maße als
das mo8kowitteche Reich, eine «terra incognita“ zu sein, die dem ge-
. bildeten Westeuropäer erst näher geschildert werden mußte, so daß er
.. in seinem epochemachenden Reisewerke über Moskau der benachbarten
„Ldthuania* ein besonderes Kapitel widmete *)• Waren doch in früherer
Zeit die dieses Land betreffenden Kenntnisse des Westens so unzu¬
länglich, daß selbst ein Aeneas Sylvias 8 ) kaum mehr darüber wußte,
als daß sich dort, in bitter kaltem Klima, weite, nur spärlich besiedelte
Wälder und Sümpfe ausdehnten, und mit Ausnahme der Nachrichten,
die ihm Meister Hieronymus von Prag über seine apostolische Tätigkeit
unter den dortigen Heiden mitgeteilt hatte, mehr Dichtung als Wahr¬
heit über Litauen verbreitete.
Und doch war es gerade der habsbargische Hof, der sich früher
als irgend ein anderer im mittleren Europa mit jenem fernen litauischen
Seiche unmittelbar beschäftigen mußte. Noch kurz vorher hatten Mit¬
glieder des österreichischen Hauses, dem Beispiele aller vornehmen Ge¬
schlechter des christlichen Europa folgend, an den ständigen Kriegs¬
zügen des Deutschen Ordens gegen das heidnische Litauen teilgenommen,
als eines von ihnen, Herzog Wilhelm der Schöne, auf geradezu demü¬
tigende Art die sichere Aussicht auf den polnischen Thron einbüßte (1385) 4 ),
*) Außer auf seinen beiden Reisen nach Moskau 1617 und 1586 war Herber-
stein auch noch 1629 und 1640 als Österreichischer Gesandter bei König Sigis¬
mund L in Litauen; vgl. seine Selbetbiographie in Fontes rer. austr. 8s. I. 286/7,
325/6.
*) Barum Mosooviticarum commentarii, Basileae 1661, pag. 109—117: »De
XAthuania«.
*) Vgl. in seiner »Historia« das 26. Kapitel der Beschreibung Europas: »De
Kdtoania«, heraosg. z. B. 8s. rer. Pruss. IV 237/9; hierüber in der neuesten pol¬
itischen Literatur J. Fgaiek: Uchraescijanienie Litwy pries Polak?, Krakdw 1914,
S. 11—16.
4 ) Eine kritische Analyse der Quellen bei 8. Smolka: Rok 1386, 2. Aufl.
S. 124/7.
598
Oskar Ritter v. Haleoki.
um den litauischen Großfürsten Jagieüo beide Nachbarreiche in seiner
Hand vereinigen za sehen. Allerdings ist dieses für die weitere Ge¬
schichte Osteuropas entscheidende Ereignis in der Folgezeit für die ge¬
genseitigen Beziehungen beider Herrscherhäuser ohne Bedeutung ge¬
blieben; die begreifliche anfängliche Verstimmung wurde ja schon wenige
Jahre nach Wilhelms Tode durch die verwandtschaftliche und diplo¬
matische Annäherung seiner Brüder, der jüngeren Leopoldiner, an den
neuen Herrscher Polens und Litauens beseitigt 1 ). Und zur Zeit seines
Sohnes und Nachfolgers, König Wladislaw’s HL, schien gerade die da¬
malige Sonderstellung Litauens im jagellonischen Doppelstaate dem
Haupte des Hauses Habsburg, König Albrecht IL, eine günstige Ge¬
legenheit zu bieten, um Polen bei der Rivalität um die böhmische
Krone in Schach zu halten. Bekanntlich *) sollte dies durch ein Bündnis
Albrechts mit dem dem polnischen Könige lehenspflichtigen litauischen
Großfürsten Sigismund, einem Sohne des berühmten Kiejstut, geschehen.
Von den verschiedenen Umstanden, die das Zustandekommen des Ver¬
trages verhinderten, ist für uns eine von besonderem Interesse, daß
sich nämlich unter dem Adel des Großfürstentums zwei Parteien bildeten,
von denen nur eine die separatistische Politik Sigismunds begünstigte,
während die andere zu Polen hielt 8 ). Es zeigte sioh eben schon da¬
mals, daß die litauischen Bojaren, die vor der Union mit Polen sich
unbedingt der großfürstlichen Gewalt beugen mußten, allmählich auch
in der äußeren Politik ihren Einfluß geltend machen konnten, wozu
die kurz vorher das Land zerrüttenden inneren Wirren nicht wenig
beigetragen hatten. Da ferner im weiteren Verlaufe der Jagellonenzeit
Litauen nur mehr vorübergehend, immer nur durch wenige Jahre (1440
—1447, 1492—1501, 1644—1548), einen eigenen Herrscher hatte, der
übrigens, so verschieden auch jedesmal seine staatsrechtliche Stellung
war, immer der gemeinsamen Dynastie entstammte uud bald auch den
polnischen Thron bestieg, so ist es einleuchtend, daß wenn von den
Beziehungen Österreichs zur litauischen Reichshälfte gesondert die Rede
sein soll, nur die zu ihren politisch bedeutenden Adelsgeschlechtem in
Frage kommen können.
*) Über diese Annäherung 1411/2 und ihre Bedeutung vgl. s. B. A. Prochaaka:
Krdl Wtadystaw Jagietto, Kraköw 1908, I 833, sowie L. B^kowski im Warschauer
Pmeglqd histor. 1913, XVI S. 10.
*) Hierüber A Lewicki: Przymierze Zygmunta w. ks. lit. s krölem rxymskim
Albrechtem, im 37. Bande der histor. Abhandlungen der Krakauer Akademie der
Wissensch.
’) Vgl. daselbst Beilage VTH, Bericht an den Hochmeister vom 22. November
1439.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 599
Die Adelsklasse des hochbegabten litauischen Volkes hatte sich
durch die Vereinigung mit Polen sowohl rechtlich wie auch kulturell
durch eine fortschreitende Bezeption polnischer Einrichtungen und Ein¬
flüsse ungemein rasch entwickelt l ). Soziale, wirtschaftliche und po¬
litische Hechte, um die der Adel in anderen Landern durch lange histo¬
rische Perioden hindurch mit der Herrschergewalt rang, fielen ihm hier
auf einer viel früheren Entwicklungsstufe fast mühelos in den Schoß,
in einer langen Beihe von Privilegien zusammengefaßt (1387, 1413,
1434, 1447, 1492 u. s. w.), die Schritt für Schritt die Grundsätze der
freiheitlichen polnischen Verfassung auch auf die andere Beichshalfte
übertrugen. Zugleich nahmen die höheren Stande Litauens, nachdem
sie sich vorher immer mehr dem Einflüsse der reußisch-byzantinischen
Kultur hingegeben hatten, unter dem Einflüsse Polens nicht minder
rasch die lateinische Kultur des katholischen Abendlandes an. Ja über¬
raschend bald empfanden sie das Bedürfnis, zu dieser neuen Kulturwelt,
deren Wirkungssphäre mit dem Lichte des katholischen Glaubens in
Litauens Wälder gedrungen war, in unmittelbare Beziehung zu treten.
Die Unternehmendsten unter den litauischen Herren begnügten sich
nicht damit, zusammen mit den polnischen bei diplomatischen Unter¬
handlungen oder z. B. auf dem Konzil zu Konstanz den Vertretern der
verschiedensten europäischen Staaten zu begegnen, sondern begannen auf
weiten Beisen jene Länder, ihre Pürstenhöfe, ja sogar ihre Univer¬
sitäten 8 ), selbst aufzusuchen.
Es handelte sich hiebei nicht bloß um Einzelfalle, wie etwa jenen
Georg Butrym, der sich schon am Anfänge des XV. Jahrhunderts durch
langjährigen Aufenthalt in verschiedenen «katholischen Beichen“ seine
geistvolle Bildung erwarb 8 ) und vielleicht an der Entstehung der cha¬
rakteristischen Sagen vom vornehmen römischen Ursprünge der Litauer
und ihrer Adelsgeschlechter beteiligt war 4 ). Es mußte dies vielmehr
eine häufige Erscheinung sein, wenn sogar das Beichsprivileg von 1447
die Bestimmung enthielt, daß alle litauischen Fürsten und Edelleute
das Becht haben, sich in fremde Länder zu begeben, um dort ihr Glück
zu machen oder sich in der Kriegskunst auszubilden, wenn es nur
*) Näher besprochen im Zusammenhänge mit Litauens verfessungsgesch. Ent¬
wicklung bei 8. Kutrzeba: Histoiya ustroju Polski H Litwa, Lwöw 1914, S. 83 u. a.
*) Schon 1409 studiert z. B. ein „Gregorius de Litwania“ an der Universität
Leipzig (Metrica ... nationis Polon. univers. Lipriensis, im Archiwum do dziejdw
lit. i oäwiaty w Polsce II). '
•) Joh. Dlugosrii Hist. Pol. IV 482 (1432).
4 ) A. Brückner: Staroiytna Litwa, Warszawa 1904, S. 64/5.
600
Oskar Bitter v. HaleckL
keine ihrem Vaterlande feindliche Staaten waren 1 ). Das bekannteste
Beispiel eines solchen litauischen Magnaten, der, wie es ausdrücklich
in den Quellen heißt, um das Ausland mit seinen fremden Brauchen
und Einrichtungen kennen zu lernen, die Welt durchwanderte, ist der
Hofedelmann König Kasimirs des Jagellonen Alexander Soltan, der in
den Jahren 1467 bis 1469 ganz Westeuropa und das Heilige Land
bereiste und bei Kaiser und Papst, sowie an den Höfen von Sizilien.
Mailand, Kastilien, Portugal, Burgund und England gleich ehrenyoll
empfangen, als Bitter des Goldenen Vließes und Kämmer«: Karls des
Kühnen heimkehrte 8 ). Es ist hiebei besonders bemerkenswert, daß
dieser später recht bedeutende Würdenträger und Diplomat des Gro߬
fürstentums keineswegs einer ethnographisch litauischen, unmittelbar
vom Heidentum zum römischen Katholizismus bekehrten Familie ent¬
stammte, sondern ruthenischer Herkunft war und, wenn auch Anhänger
der religiösen Union mit Born, der griechischen Kirche angehörte, was
deutlich beweist, wie die abendländische Kultur auch auf die Ober¬
schicht der ruthenischen Bevölkerung des GroßfÜrstentumes überm-
greifen begann, was wir im Folgenden noch oft bestätigt finden
werden.
Es war kein Zufall und nicht allein durch die geographische Lage
bedingt, daß dieser »splendidus dominus e Lithuania 11 , wie ihn Galeazzo
Maria Sforza nennt, seine Europareise am habsburgischen Hofe, bei
Kaiser Friedrich HI. begann, der ihn dann auch an die übrigen Herrscher
weiterempfahl. Neben dem traditionellen Nimbus, der gerade in fernen
Landen das weltliche Oberhaupt der Christenheit umgab, war gewiß
auch der Umstand dafür entscheidend, daß Friedrich IH. nicht nur mit
Kasimir dem Jagellonen noch vor dessen Erhebung auf den polnischen
Thron, als Großfürsten von Litauen, in diplomatischem Verkehr ge¬
standen war 8 ), sondern ihm auch Elisabeth, König Albrechts IL Tochter,
zur Frau gegeben hatte. Schon auf der Zusammenkunft zu Breslau im
August 1463, wo diese Ehe endgültig festgesetzt wurde, waren außer
den polnischen Vertretern König Kasimirs auch zwei litauische Herren,
der einflußreiche Starost von Polock Andreas Sakowicz und Johann
Niemirowicz, anwesend gewesen 4 ), und als erste Habsburgerin, die
sich mit einem Jagellonen verband, war Königin Elisabeth auch
*) Codex epistol. eaeculi XV, Band DI nr. 7 | 6; vgl. auch hiezu bei J. J&- *
kubowski: ßtudya nad stoftunk&mi narodow. na Litwie, Waraz. 1912, S. 32.
*) Vgl. seine interessante, auf ungedruckte Urkunden gestützte Biographie
von Ad. 8oltan in der Zeitschrift Litwa i Bus 1913, Heft 10/2.
*) Codex epistol. saeculi XV, Band 1/2 nr. 9.
4 ) Dtug 08 z, V 147; Dogiel: Codex dipl. Regni Poloniae, I S. 165, 157.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 601
die erste ihres Hauses, die sich in Begleitung ihres Gemahls öfter
in Litauen aufhielt Nichts Näheres wissen wir leider von ihrem Ver¬
hältnisse zu ihren dortigen Untertanen und es wäre höchstens zu er¬
wähnen, daß, als 1475 eine von ihren nach Deutschland heiratenden
Töchtern, Prinzessin Hedwig, nach Landshut reiste, um Herzog Georg,
yon Bayern zu ehelichen, auch einer der vornehmsten litauischen Ma¬
gnaten, Adalbert Moniwidowicz, sie begleitete 1 ). Im allgemeinen hatte
natürlich Kasimir nur als König von Polen unmittelbare Beziehungen zum
kaiserlichen Oheim seiner Gattin, einmal aber wenigstens wandte sich
dieser auch als litauischen Herrscher an ihn, als er ihn nämlich im April
1481 aufforderte*), dem mit Litauen benachbarten Ordensmeister in
Livland gegen die »Reußen* und anderen Ungläubigen, als gemeinsame
Feinde der Christenheit, Hilfe zu leisten; da aber schon damals, be¬
sonders wegen der durch die Personalunion mit Polen bedingten öfteren
Abwesenheit des Landesherren,, in Litauen der großfürstliche Rat einen
immer größeren Einfluß gewann, ja manchmal so gut wie selbständig
diplomatische Verhandlungen führte, richtete Friedrich HL gleichzeitig
auch ein gleichlautendes Schreiben »an prelaten, ritterschafft und reten
des Großfurstentumbs zu Litthaw*, das gleichsam das älteste Denkmal
politischer Beziehungen der Habsburger zum dortigen Adel bildet
Von größerer Bedeutung konnten diese aber erst dann werden, ak
litauische Magnaten nicht nur vorübergehend, z. B. auf einer Reise,
sondern für längere Zeit den Hof des österreichischen Herrscherhauses
aufeusuchen begannen, indem sie zeitweise in seine Dienste traten, wie
dies schon zur Zeit Maximilians 1. mehr als einmal geschah. Einer der
ersten und zugleich bedeutendsten unter ihnen war der berühmte Fürst
Michael Glinski, »Pan Michael*, wie ihn die Deutschen nannten, die
sich in böhmischer Sprache mit ihm verständigten 8 ). Obwohl er seiner
Abstammung nach, als Sproß eines ursprünglich tatarischen Geschlechtes
der westlichen Kultur besonders fern zu stehen schien, war er doch
durch langjährigen Aufenthalt in Italien, wo er studierte und den
katholischen Glauben annahm, und in Deutschland von ihrem Einflüsse
stark durchdrungen worden; er hielt sich, eifrig Kriegsdienste leistend,,
während seiner Wandeijahre bei verschiedenen Fürsten auf, —• so nahm
er 1498 unter Herzog Albrecht von Sachsen an dessen Kümpfen in
Friesland teil —, und war euch im Hofdienste Kaiser Maximilians g«-
*) Ibidem, V 634; über das Aufsehen, das er durch ncino Tmcht /«I.
F. Pap^e: Stodya i szkice, 8. 291, 295.
*) Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien, Rujwica, fu*c. 1 u.
*) Herbentein: Herum Moecov. commentarii, 8. 112/4 da Itoianrcr Alwlinitt
über GlilSski.
602
Oskar Ritter v. Halecki.
standen: unterschreibt er sich doch noch 1609 in dem interessanten
Briefe, den er aus Moskau an den Kaiser sandte *), als dessen „humilis
familiaris“. Bekanntlich war nämlich Fürst Glinski, nachdem er nach
längeren Fehden mit einer ihm feindlichen Partei in Litauen daselbst
einen Aufstand entfesselt hatte, zum gefährlichsten Feinde dieses Landet,
dem Großfürsten von Moskau übergegangen, dem er in den darauf¬
folgenden Kämpfen seinen Einfluß und seine Kriegskunst zur Verfügung
stellte. Wenn er sich auch im moskowitischen Reiche, das zu dem
Westen, wo er aufgewachsen war, in so vollkommenem Gegensätze
stand, nicht heimisch fühlen konnte und daher eben in dem erwähnten
Schreiben den Kaiser bat, ihm bei König Sigismund L von Polen eine
vollkommene Amnestie zu erwirken, waren doch gerade seine Be¬
ziehungen zu Maximilian für seinen neuen Herren von besonderer Be¬
deutung, indem sie bei der österreichisch-moskauischen Annäherung in
den Jahren 1608 bis 1514, als der Kaiser durch Erneuerung des schon
von seinem Vorgänger abgeschlossenen Bündnisses mit Moskau die
Jagellonen in Schach zu halten suchte, eine nicht unwichtige Bolle
spielten *). So wurde Litauen, das an dem habsburgisch-jagellonischeu
Gegensätze im Westen naturgemäß unbeteiligt war, in den Folgen
dennoch gefährlich davon betroffen und ist es daher begreiflich, daß,
wie wir gleich sehen werden, auch seine Vertreter an jenen Verhand¬
lungen beteiligt waren, die 1516 einen vollständigen politischen Um¬
schwung brachten.
So kommt es, daß der Wiener Kongreß dieses bedeutungsvollen
Jahres auch für die Verbindungen der Habsburger mit Litauens her¬
vorragenden Magnaten von besonderer Wichtigkeit wurde, und zwar
Tor allem auch deshalb, weil sie damals zum ersten Male mit jenem
litauischen Geschlechts in Verbindung traten, das ihnen von nun an
immer am nächsten stand und später so oft an der Spitze der öster¬
reichischen Partei seines Heimatlandes erschien, nämlich mit den
Radziwitt.
Wenn auch einer der Rivalen dieser Familie, den wir noch naher
kennen lernen werden, in starker Übertreibung auf die bescheidenen
Anfänge der Radziwitt vor hundert Jahren hinwies und nicht ohne
*) Veröffentl. bei L. Finkel: Elekeya Zygmnnta I, Kraköw 1910, Beilage VIL
Vgl. daselbst über Glinski S. 90 ff.
*) Ibidem, S. 229, 230, 232; v gl. auch Ueberaberger: Österreich und Rußland,
I 71 ff., 128/9. Als Glinski 1514 entgültig von Moskau abfallen wollte, wurde er
bekanntlich ins Gef&ngnis geworfen, aus dem ihn Maximilian L vergeblich durch
Herberstein zu befreien suchte, indem er ihn eventuell zu seinem Enkel Karl zu
senden versprach.
Die Beziehungen der Habeburger zum litauischen Hochadel etc. 603
Unrecht behaupten konnte, daß erst ihre Verschwägerung mit den
Herzogen von Masowien (1496/97) und die ungemein freigebigen Güter¬
verleihungen (angeblich im Werte von 100.000 Dukaten), die sie von
König Sigismund I. erhielten, die Grundlage zu ihrer Macht und ihrem
Ansehen gelegt hatten 1 ), so ist es doch unzweifelhaft, daß sie schon
seit mehreren Generationen zu den ersten Geschlechtern Litauens ge¬
hörten. Schon der Großvater der zu Sigismunds Zeit auftretenden Ge¬
schwister wurde einst von wohl unterrichteter Seite als Kandidat für
die großfürstliche Würde genannt 8 ) und das nunmehrige Oberhaupt
der Familie, Nikolaus Radziwilt, war schon seit 1510, ebenso wie einst,
sein Vater, Palatin von Wilna und Großkanzler, somit der höchste
weltliche Würdenträger des Reiches. Daher ist es begreiflich, daß ge¬
rade er an der Spitze jener zahlreichen Litauer erschien, die neben den
Polen und den Vertretern des polnischen Preußens König Sigismund
im März 1515 nach Preßburg und hierauf nach Wien begleiteten 8 ).
Wie schon mit Hecht hervorgehoben wurde 4 ), sind die Einzelheiten
der dortigen Verhandlungen nur wenig bekannt, da die meisten gleich¬
zeitigen Schilderungen hauptsächlich nur von den imposanten Äußer¬
lichkeiten des Kongresses, die offiziellen Urkunden nur von den End¬
ergebnissen berichten. Von Radziwill, der als Vertreter Litauens jeden¬
falls die Aufgabe hatte, den Anschluß Österreichs an Moskau rückgängig
zu machen und Maximilians Beziehungen zum moskauischen Gro߬
fürsten in einem für die Jagellonen und vor allem für Litauen gün¬
stigen Sinne zu beeinflussen, wissen wir leider nur so viel, daß er schon
anfangs, am 2. April, beim Beginne der engeren Verhandlungen der
Könige von Polen und Ungarn mit dem Kardinal von Gurk, dem Ver¬
treter Österreichs, den acht Beiräten Sigismunds zugezählt wurde und
*) Acta Tomidana, VH/2 nr. 36, 8. 259. Trotz der großen histor. Bedeutung
der Radziwüt gibt es über sie noch keine größere Familiengeschichte auf Wissen¬
schaft!. Basis; E. Kotlubaj’s Galeija Nieswiezska portretdw Radziw., Wilno 1857,
bringt manche Nachricht aus dem Familienarchiv, ist aber nur mit größter Vor¬
sicht zu benützen und für die ältere Zeit sehr mangelhaft. Zur Genealogie vgl.
die Artikel in Zychlinski’s Zlota ksi^ga XI, und Boniecki’s Poczet rodöw W.
Ks. lit.
*) Liv-, Eet- und Kurländ. Urkundenbuch XI nr. 296 (1463).
*) Seine Anwesenheit ist au Ter in den unten zitierten Quellen auch bei Bar-
tholinus (Hodoeporicon Mathiae Gurcensis Episcopi, Freher: Rerum Germ. Ss. II.
666), GOrski (Acta Tomiciana, I I nr. 433 S. 310, vgl. auch nr. 512) und Decius
(De 8igismundi Regis temporibus, Bibi, pisarzöw polskich Nr. 39, S. 98) erwähnt.
4 ) Vgl. X. Liske: Der Kongreß zu Wien i. J. 1615 (Forschungen zur deutschen
Gesch. VII; polnische Neuauflage in Studya z dziejöw wiekuXVI). Zur Ergänzung
kOnnen die von ihm 1878 in Ss. rerum Polon. IV publizierten zwei neuen Diarien,
des Kongresses dienen.
604
Oskar Ritter v. Halecki.
mit den polnischen Kanzlern Szydlowiecki und Tomicki die wichtigste
Solle unter ihnen spielte 1 ). Hiebei scheint er nicht nur, wie ja die
Ergebnisse des Kongresses beweisen, seine Aufgabe erfüllt, sondern
auch überhaupt zum Erfolge der Unterhandlungen beigetragen zu haben,
•da er sich, wie wir sehen werden, in hervorragendem Maße die Gunst
des Kaisers erwarb. Auf die Augenzeugen, auf Maximilians deutsches
und italienisches Gefolge und die Wiener Bevölkerung, denen die Litauer
größtenteils als ein unbekanntes Barbarenvolk galten, machte aber vor
allem Badziwitt’s prunkvolles Auftreten, die Gefangenen aus den letzten
Kämpfen mit den Tataren und Moskau, die er dem Kaiser übergab,
einen mächtigen Eindruck und ganz besonders erstaunt war man über
die 100 kunstfertigen Musikanten, die er und ein zweiter litauischer
Magnat, Stanislaus Gasztold, mitgebracht hatten und die beim Gottes¬
dienste selbst dem Kaiser vorspielten 8 ).
Es ist selbstverständlich, daß Maximilian beim Abschiede die vor¬
nehmsten Bäte seiner königlichen Gäste zum Danke für ihre erfolg,
reichen Bemühungen reich beschenkte, was uns auch übereinstimmend
alle Beschreibungen des Kongresses berichten. Aber Geschenke allein,
die überdies die stets geldbedürftige kaiserliche Kasse stark in Anspruch
nahmen, konnten kaum den Zweck erfüllen, jene ohnehin reichen und
vor allem ehrgeizigen Herren dauernd für das Haus Habsburg zu ge¬
winnen. Dies zu erreichen, faßte Maximilian einen andern Plan, der
auch mit seiner hohen Auffassung der kaiserlichen Würde wohl über¬
einstimmte: er beschloß die hervorragendsten der mit Sigismund er¬
schienenen Magnaten kraft seiner kaiserlichen Machtvollkommenheit zu
BeichsfÜrsten, beziehungsweise Beichsgrafen zu machen, wobei für den
Fürstentitel neben dem polnischen Großkanzler Szydlowiecki auch sein
litauischer Amtskollege Badziwitt ausersehen war; hatte er doch, wie
es drei Jahre später im Fürstendiplome ausdrücklich hervorgehoben
wurde, auf dem Kongresse seine edle Gesinnung und Klugheit deutlich
bewiesen, sich große Verdienste um die gesamte »res publica Christians»
erworben und den Kaiser außerordentlich für sich eingenommen *).
4 ) Sb. rer. Polon. IV 116; im „Diarium de congressu Maximilian^ etc. Cos-
pinian's (Freher: Herum Germ. Sb. II 598) sind nur Tomicki, Szydlowiecki und
Radziwitt hiebei genannt, in dessen Tagebuche (ed. H. Ankwicz in den Mitteilungen
des In8tit. XXX 313) findet sich 2./IV nur die Eintragung: „factum prindpium
tractatus cum duobus regibus“ ohne Angabe weiterer Namen.
*) M. Stryjkowski: Eronika litewska, Buch 24, 3. Kapitel; vgl. auch A. W.
Kojalowicz: Compendium (Herold polski 1897, S. 196/7).
•) Das Diplom von 1518 (wie alle folgenden) nach dem Original im Radxhr.
Archiv zu Nieswiei publiziert bei K. Eichhorn: Das Verhältnis des hochfürstL
Radziwiirschen Hauses zu den Fürstenhäusern Deutschlands, o. J. (verbesserte poln.
Übersetzung, Warn. 1843), Beilage I.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 605
Diese anscheinend so verlockenden Standeserhöhnngen begegneten
aber unvermuteten Schwierigkeiten. Als des Kaisers Absicht bekannt wurde,
versammelten sich die polnisch-litauischen Herren und beschlossen, die
ihnen zugedachte Auszeichnung dankend abzulehnen, um — wie sie
nagten — keine Neuerungen einzuführen, die mit dem bestehenden
Bechte und dar Gleichheit innerhalb des Adelsstandes in Widerspruch
stünden 1 ). Diese Antwort ist leicht zu verstehen, wenn man bedenkt,
daß es in Polen bekanntlich keine einheimischen Fürsten- und Grafen¬
titel gab, sondern der gesamte Adel, dessen rechtliche Gleichheit schon
damal« als Dogma galt, in große Wappenstamme zerfiel, deren jeder
sowohl reiche Magnatengeschlechter, wie auch ganz unbedeutende, un-
vermögende Familien zu seinen agnatischen Mitgliedern zahlte; und
wenn auch in der litauischen Beichshalfte zahlreiche einheimische
Fürstengeschlechter blühten, so waren dies eben wirkliche Dynasten¬
sprossen, größtenteils Nachkommen Gedymins und Buryk’s, in deren
Kreis keine Standeserhöhung Einlaß gewähren konnte. Umso bedenk¬
licher, nicht nur in sozialer sondern auch in politischer Beziehung,
mußten erst solche Verleihungen von seiten eines fremden Staates, wie
des KL römischen Beiches erscheinen, da sie einen solchen BeichsfÜrsten
in eine gewisse Abhängigkeit vom Kaiser bringen mußten, so sehr
dieser auch in solchen Diplomen betonte, daß sie den Hoheitsrechten
des polnischen Königs in keinerlei Weise präjudizieren sollten. An¬
dererseits aber schienen diese ausländischen Titel und Würden, deren
Annahme später sogar gesetzlich verboten werden mußte, einzelnen
ehrgeizigen Magnaten außerordentlich begehrenswert und daher meinten
es auch 1515 nicht alle ganz ernst und ehrlich mit ihrer solidarischen
Ablehnung, wenn sie auch momentan dem Drucke der öffentlichen
Meinung nachgaben.
Zu diesen letzteren, die trotz des offiziellen Beschlusses dennoch
durch private Bemühungen den ihnen in Aussicht gestellten Titel
zu »halten suchten 2 ), gehörte auch Nikolaus Badziwilt, was insofern
*) Ygl. die Schilderung im Briefe Ober die fremden Adelstitel in Polen, den
der Urenkel eines der 1515 die Standeserhöhung zurückweisenden Magnaten (Nie.
Firiej) an seinen Sohn schrieb, bei J. Niemcewicz: Zbidr p&mi^tnikdw, IV 115 ff.
(auch von Dzialynski in den «adnotatäones* znm «Liber geneseos ilL famiKae
Schidloviciae*’ heranagegeben).
*) Z. B. der Kronkanzler S'.ydlowiecki; öffentlich lehnte er zwar den Fürsten¬
titel ab und nahm nur eine Wappenvermehrung an, die ihm ohnehin genug
spöttische Kritik eintrug (vgl. die Spottverse Krzyckfs bei X. Luke: Studya z
dziejöw w. XVI, S. 160/1 Anm. 16): beim Abschiede, am 2. August zu Wiener-
Neustadt, erhielt er aber dennoch vom Kaiser ein Diplom, in dem ihm für seine
großen Verdienste wahrend der Verhandlungen des Kongresses neben dieser Wappen-
606
Oskar Ritter v. Halecki.
begreiflich war, als damals schon längst die litauischen Herrenge¬
schlechter, darunter auch seine Familie, tatsächlich weit mächtiger
waren als die alten Fürstenhäuser 1 ) und ihnen nun auch äußerlich
nicht nachstehen wollten. Nachweisbar 8 ) begann der Palatin von
Wilna seine Schritte gleich nach dem Wiener Kongresse, welcher
Mittel er sich aber hiezu bediente und wie er schließlich das scheinbar ver¬
schmähte Fürstendiplom vom Kaiser erhielt, kann man dann erst recht
verstehen, wenn man sich vorher darüber klar wird, wie gerade die
Litauen betreffenden Ergebnisse des Kongresses weitere Beziehungen
seiner einflußreichen Magnaten zu Maximilian L hervorrufen mußten.
Die Verpflichtung des Kaisers, den Großfürsten von Moskau nie¬
mals mehr im Kampfe gegen Sigismund L zu unterstützen, ließ sich
nämlich, wie schon treffend betont wurde 8 ), nur dann mit dem im
Vorjahre mit Moskau geschlossenen Bündnisse vereinbaren, wenn es
ihm gelang, zwischen den beiden Gegnern einen Frieden zu vermittele
der auch seinen Lieblingsplan, den gemeinsamen Kampf der Christenheit
gegen die Türken, einer Verwirklichung näher zu bringen schien. Da
nun der moskauische Krieg, wenn auch fast immer polnische Hilfs¬
truppen daran teilnahmen, damals vor allem eine Litauen betreffende
Angelegenheit war, so war es selbstverständlich, daß die diplomatische
Intervention des Kaisers nicht ohne Verständigung mit den unmittelbar
daran interessierten, sachkundigen litauischen Magnaten möglich war.
Zu diesem Behufe wurde daher noch im Sommer 1515 den am kaiser¬
lichen Hofe zurückbleibenden Vertretern Sigismunds ein im diploma¬
tischen Verkehre mit Moskau oft verwendeter litauischer Würdenträger,
der einem alten wolhynischen Adelsgeschlechte entstammende gro߬
fürstliche Marschall und Reichssekretär Michael Bohusz Bohowitynowicx
beigegeben 4 ). Er kehrte zwar noch im selben Jahre zu seinem Könige
zurück, da Maximilian und der von ihm nach Moskau entsendete Pan¬
taleon von Thum sich durch ihn mit Sigismund über die bevorstehend
besserung und der Rotwachsfreiheit auch wenigstens der Reichsfrei- und Banner-
herrnstand verliehen wurde (das von St. Krzytanowski im Breslauer Staatsarchiv
entdeckte Dokument veröffentlichte J. Kieszkowski: Kanclerz Krzysztof Szydlo-
wiecki, Poznan 1912, Beilage II; siehe dort auch S. 200/1, 206). Im „Liber ge*
neseos ill. ftuniliae Schidloviciae“ v. J. 1631 (ed Dzialynski 1848) heißt es irr¬
tümlich, daß er vom Kaiser den Grafenstand erhalten habe.
*) Vgl. die statistische Zusammenstellung bei L. Kolankowski: Zygmunt
August, w. ks. Litwy, do r. 1648, Lwdw 1913, 8. 206—211.
*) Acta Tomiciana XI nr. 260.
*) H. Uebersberger, o. c., 8. 97/8.
4 ) Acta Tomiciana EG nr. 669.
Die Beziehungen der Habssurser nun Iranischen Hochziel etc.
607
den Verhandlungen verständigen wollten i y. scheint aber doch selbst in
dieser kurzen Zeit mit dem kaiserlichen Hofe auch persönlich in nahm
Beziehung getreten zu sein: wir hören nämlich, daß sein jüngerer
Bruder Johann in den Dienst Maximilians trat, der ihn dann, ebenso
wie spater Ferdinand L seinem heimatlichen Herrscher so warm
empfahl, daß er mit Sucksicht darauf nach seiner Rückkehr nach Litauen
feierlich zum Hitler geschlagen wurde Bohusz selbst aber sollte bald
wieder mit der östereichischen Politik in Berührung kommen.
Es geschah dies zunächst anläßlich der osten Gesandtschaftsreise
Herbersteins nach Moskau im Jahre 1517, die ja ebenfalls, allerdings
ganz ergebnislos, einen Frieden mit Litauen vermitteln sollte. Für uns
ist hiebei nicht nur der Umstand interessant, daß damals zum ersten
Male Österreichs und Litauens Vertreter gemeinsam in Moskau vor¬
handelten, da sich Sigismund L nach einigen Monaten entschloß, eben
jenen Bohusz Bohowitynowicz, sowie einen zweiten Litauer Johann
Szczyt dahin zu senden 4 ), sondern auch der Aufenthalt Herbersteins
in Litauen selbst, auf der Hin- und Rückreise, der ihm Gelegenheit gab,
den dortigen Herren unmittelbar näher zu treten. Schon als er im
Marz 1517 zum ersten Male nach Wilna kam, nahmen ihn diese durch
einen liebenswürdigen, ehrenvollen Empfang außerordentlich für sich
ein 8 ), was ihn allerdings nicht hinderte, den selbstsüchtigen Eigen¬
willen jenes Hochadels, der ihm seine übermäßige Freiheit nur zu mi߬
brauchen schien, und seine schädlichen Folgen für das Staatsleben
wohl zu erkennen 6 ). Umso mehr mußte er es allerdings für nötig
halten, diese so einflußreichen Herren zu gewinnen, und begreiflichem
weise waren es die R&dziwiii, deren Beziehungen zum Kaiser er auf¬
zufrischen suchte und die ihrerseits, gewiß im Zusammenhänge mit
ihren Bestrebungen um das erwähnte Fürstendiplom, dem kaiserlichen
Gesandten aufs herzlichste entgegenkamen. Für den Maximilian schon
vom Wiener Kongresse her bekannten Palatin von Wilna Nikolaus
hatte Herberstein ein kaiserliches Schreiben mitgebracht, das er ihm schon
auf der Hinreise übergab, besuchte ihn aber auf dom Heimwege noch¬
mals auf seinem Statthaltersitze in Bielsk und erhielt von ihm heim
*) Acta Tomidana, III nr. 591, 692, 601; vgl. bei llehernbergor, 8, M>, 101.
*) Acta Tomiciana XI n. 231 (1629).
*) VgL die Urkunde Sigismund Augusts vom 30. Augunt 1M1 in «1er kto»,
Bibliothek zu Petersburg (Coli. .ut. 206), freundliohit mittet eilt von IV« t Dr W.
Semkowicz.
4 ) Acta Tomiciana IV nr. 244/8, vgl. 8. 101, 187.
*) Berum Moscov. Commentarii, png, 144; vgl. in «ler Hellmtliiogr. Konten
rer. Austr. 1/1., S. 113.
•) Commentarii, p. 111.
608
Oskar Ritter ▼. Halecki.
Abschiede einige ungarische Gulden, um sich daraus, wie Radziwitt
bat, eine Kette machen zu lassen, die ihn täglich, besonders beim
Kaiser, an den Spender erinnern sollte. Nicht weniger freundlich er¬
wies sich ein mit Nikolaus stammverwandter Magnat, Gregor Oscikowicz,
der als Palatin von Troki die zweithöchste Reichs würde innehatte und
daselbst Herberstein auf seiner Rückreise, ^obwohl er unvermutet ein¬
getroffen war, sofort zu einem Gastmahle einlud und ebenfalls reich
beschenkte 1 ).
Bekanntlich hatte Herberstein auch die Aufgabe gehabt, in Wilna
König Sigismund L zur Heirat mit der vom Kaiser vorgeschlagenen
Braut, Bona Sforza, zu bewegen, und dies war ihm auch besser ge¬
lungen, als seine Moskauer Mission: sandte doch der König alsbald
seine Gesandten Ostrorög und Konarski nach Italien, um Bona zur
Vermählung nach Krakau zu geleiten. Es ist nun bemerkenswert, daß
anfangs auch Nikolaus Radziwitt’s Schwester, die verwitwete Herzogin
von Masovien, beziehungsweise ihre Tochter, als Braut für Sigismund L
in Betracht kam, sich sogar deswegen um Fürsprache an den Kaiser
wandte, dem es jedoch gelang, durch ein diplomatisches Schreiben an
ihren Bruder und gewiß auch durch Herbersteins Einfluß einen ernst¬
lichen Widerstand des einflußreichen Magnaten gegen die Ehe mit
Bona zu verhindern *). Gewiß hangt damit zusammen, daß Radziwitt
eben bei dieser Gelegenheit den so erwünschten Reichsfürstenstand er¬
hielt, und zwar durch Vermittlung eines polnischen Prälaten, der nicht
nur überhaupt damals eine interessante, noch nicht ganz aufgethellte
politische Rolle spielte 8 ), sondern auch gerade zn den litauischen Herren
in nahen Beziehungen stand. Es war dies der damalige Propst zu
Wilna und spätere Bischof von Kamieniec Podolski Laurentius Migdzy-
leaki
Wie wir zufällig ans einem späteren Schreiben erfahren 4 ), hatte
ihn Nikolaus Radziwitt gleich nach dem Wiener Kongresse gebeten,
ihm beim Kaiser das Fürstendiplom, das er, als es ihm angeboten
wurde, nicht hatte annehmen können, nachträglich zu verschaffen; es
scheint aber, daß Maximilian, wohl durch die ursprüngliche Ablehnung
unangenehm berührt, nun Schwierigkeiten machte, so daß Mi$dzyleski
i) Commentarii, p. 149; Fontes rer. Anstr. 1/1., 8. 131. Bezeichnenderweise
nennt ihn Herbergtein Gregor Radziwitt, was darauf hinweist, cUJ beide Familien,
die wirklich einen gemeinsamen Ahnherrn in der ersten H&lfte des XV. Jahriu
haben, damals noch allgemein als ein Geschlecht galten.
*) Vgl. A. Darowski: Bona Sforza, Rom 1904, S. 69/70.
*) Vgl. über ihn bei L. Kolankowski, o. c., S. 11 Anm. 9.
4 ) Acta Tomiciana XI nr. 250 (Tomicki an J. Chojedski 20. Juni 1529).
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 609
sich erat die Befürwortung des kaiserlichen Sekretärs Jakob Spiegel
verschaffen mußte, dem er für seine Bemühungen eine Entschädigung
von 100 Gulden versprach. Es ist dies wohl ein deutlicher Beweis,
daß Badziwitt seinen Fürstenstand keineswegs, wie er später vor König
Sigismund behauptete *), ohne irgendwelche eigene Bemühungen oder
jemandes Fürsprache, bloß «motu proprio« Maximilians erhalten hatte,
daß vielmehr seine Gegner ganz mit Becht betonten, er habe sich selbst
vom Kaiser zum Fürsten machen lassen 1 ). Trotz dieser Bestrebungen
verzögerte sich aber die Erledigung fast drei Jahre lang, bis endlich
bei Gelegenheit der Beise Bona’s nach Polen die günstige Lösung zu¬
stande kam.
Zur selben Zeit nämlich, wo die polnischen Gesandten in Neapel
die Braut ihres Königs abholten, weilte in Born bei Papst Leo X. der
damals eben von Sigismund L zur Kurie entsendete Mi^dzyleski, der
dort gemeinsam mit den Gesandten des Kaisers, der Könige von Spanien,
Frankreich, England, Portugal und anderer Fürsten an den Beratungen
über einen allgemeinen Türkenkreuzzug teilgenommen hatte und nun,
zur weiteren Verhandlung hierüber und als Nuntius bei Bonas Hochzeit
vom Papste wieder nach Polen geschickt, zugleich mit dieser und ihren
Begleitern, wenn auch auf anderem Wege, nach Norden reiste 8 ). Im
Februar 1518 kam er nach Augsburg und es konnte für ihn keinen
günstigeren Augenblick geben, um Badziwitts Wunsch zu erfüllen: erstens
war nämlich Maximilian hochbefriedigt über das Zustandekommen der
Heirat Bona’s und wollte, wie wir vorhin angedeutet haben, Badziwiit
für die hiedurch vereitelten Hoffnungen seiner Verwandten entschädigen,
zweitens aber hatte eben der Fürsprecher selbst den Kaiser dadurch
gewonnen, daß er in Born seinen Lieblingsplan forderte, indem er er¬
klärte, daß sein König trotz der schweren Kämpfe mit Moskau und
•den Tataren und des ihm vom Sultan angebotenen langjährigen
Waffenstillstandes an einem etwaigen gemeinsamen Türkenkriege tail-
zunehmen gewillt war 4 ). So kam es, daß am 25. Februar die kaiser-
*) Vgl den Farns in dessen unten besprochener Bestätigungsurkonde, Eich¬
horn, o. c M Beilage H.
*) Acta Tomiciana VII/2 nr. 36, S. 260.
•) Acta Tomiciana IV nr. 317, 344. Über die Verhandlungen, welche damals
Leo X. mit den christlichen Staaten Europas über die geplante Türkenliga führte,
siehe bei L. Pastor; Geschichte der Päpste, IV/1. (Freibarg i. B. 1906), S. 152ff.;
über Mi^dzyleski’s „Descriptio potentiae Turcicae“ vgl. L. Boratynski; Stefan Batory
i plan ligi przemw Turkom, Abhand 1. der Krakauer Akademie, Band 44, S. 207
Anm. 1, sowie die Besprechung F. Bujak’s in denselben Abhandl. B. 40, S. 287/8.
4 ) Ibid. nr. 317. Daher betont auch der Kaiser im Diplom für Mi^dzyleski
seine verdienstvollen Bemühungen um das Zustandekommen der Türkenexpedition.
Mt*
610
Oskar Ritter v. QaleckL
liehe Kanzlei zwei adelsgeschichtlich hochinteressante Urkunden ans¬
stellte: das Fürstendiplom für Badziwiü *) und ein höchst merkwürdiges
Privileg für Mi^dzyleski’s Geschlecht 2 ). Bevor wir uns dem uns un-
unmittelbar interessierenden ersteren zuwenden, müssen wir auch das
zweite kurz berücksichtigen, da es sich u. a. auch auf litauische Far
Tnüi en bezieht.
Der Propst von Wilna war ein masowischer Edelmann aus dem
hunderte von Familien zählenden Wappenstamme der Jastrzqbiec, der
in Masowien, wo damals noch die alte Piastendynastie herrschte, sowie
im übrigen Polen weit verbreitet war und bei der Union mit Litauen
1413 auch ein dortiges Geschlecht adoptiert hatte. Nun verfügte der
Kaiser, außer einer Wappenbesserung, daß ständig drei Mitglieder des
Gesamthauses die Würde eines Bitters (miles et eques auratos) des
hL römischen Beiches bekleiden sollten; einer sollte stets ein Pole aus
den Familien Myszkowski und Bielawski, einer ein Masowier aus den
Familien Miqdzyleski und Dziertgowski und einer schließlich ein Litauer
aus den Familien Niemirowicz und Szczyt sein, jeder aber, der dieser
Auszeichnung teilhaftig wurde, den Ältesten des Geschlechtes „nostzo
ac ßacri imperii nomine“ den Eid der Treue für den Kaiser und seine
Nachfolger und auf Erfüllung, aller Bitterpflichten leisten. Dieser Ge¬
danke entsprach wohl der romantischen Begeisterung Maximilians für
die Traditionen des Rittertums, konnte auch den Ehrgeiz einzelner
Edelleute befriedigen und sie für das Kaiserhaus gewinnen, war aber
eben deshalb schwer durchführbar, da ja der polnische König kaum
gestatten konnte, daß stets drei Vertreter des zahlreichsten Adelsge¬
schlechtes seines Beiches, in seinen drei Hauptbestandteilen, einem
fremden Herrscher eidlich verpflichtet sein sollten. Höchst bemerkenswert
ist aber dabei, daß der Kaiser in treffendem Verständnis für den immer
engeren Zusammenhang des polnischen Adels mit dem litauischen
auch zwei Familien des letzteren in seinen Plan einbezog und daß
sich bei den Szczyt, deren einer, wie wir sahen, mit Herberstein in
Moskau war, die ungenaue Überlieferung erhielt, daß ihr Ahnherr von
M aximilian L ein Grafendiplom und das Becht, Bitter zu schlagen, ver¬
liehen bekommen habe 8 ).
Von größerer Bedeutung für die Zukunft war das Diplom für
Badziwiü, als erstes Band, das dieses mächtige Haus dauernd für die
Habsburger gewinnen sollte. Als Begründung für die Verleihung des
Fürstenstandes dienten erstens die Verdienste Nikolaus’, die er sich,
*) Eichhorn, o. c. f Beil. L
*) Ed. bei B. Paprocki: Herby ryceratwa polskiego (NeuaufL v. 1858), S. 168.
«) T. Zychlinski: Sota kai^ga szlachty polskiej, IV 360.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 611
'wie erwähnt, auf dem Wiener Kongresse und in den Kämpfen gegen
die Feinde der Christenheit, denen — wie der Kaiser betonte — Litauen
unmittelbar ausgesetzt war, erworben hatte, und zweitens seine vornehme
Abkunft und hohe soziale Stellung: war er doch der Onkel der mit
den Habsburgem verwandten masowischen Herzoge und waren ihm
doch nicht wenige litauisch-ruthenische Fürsten untertan oder standen
in seinem Dienste! 1 ) Da aber bekanntlich damals der Fürstenstand
noch kein bloßer Adelstitel war, sondern die tatsächliche Begierung in
einem fürstlichen Territorium bedingte, mußte der Umstand hervorge-
hoben werden, daß Nikolaus Radziwitt als Herr der Lande Goniadz und
Medele (in Podlachien), die einst ein eigenes Fürstentum bildeten, viele
Adelige zu seinen Untertanen, Gerichts- und andere Beamte in seinem
Dienste und eine besondere Heeresgewalt hatte 8 ). Mit Rücksicht auf
diese tatsächliche fürstliche Stellung wurde also der Palatin von Wilna
„nicht nur zum Freiherm und Grafen, sondern auch zum illustris Dux 4
erhoben, und zwar mit allen Rechten der übrigen Reichsfürsten und
einer Wappenbesserung.
Diese Urkunde, durch die zum ersten Male in Litauen ein Herr
iiichtfürstlicher Herkunft den bisher nur Dynasten zustehenden Titel
erhielt und vor allen mit ihm rivalisierenden Magnatenfamilien einen
wenigstens theoretischen Vorrang gewann, brachte Mi^dzyleski dem so
Ausgezeichneten nach Litauen. Bei der Hochzeit Bona’s in Krakau, wo
der Propst als päpstlicher Abgesandte eine Ablaßmesse zu lesen hatte*),
und wo die österreichischen Gäste nur mit zwei Vertretern Litauens,
dem Fürsten Konstantin Ostrogski und dem Starosten von Brze&5 Georg
Ilinicz zusammentrafen 4 ), war nämlich Radziwitt nicht anwesend ge-
J ) Es ist tatsächlich richtig, daß in Litauen durch die Verleihung ganzer
Territorien an mächtige Magnaten auch Fürsten, die daselbst Besitzungen hatten,
in eine Art von feudaler Abhängigkeit von ihnen kamen; auch geschah es wirklich,
daß solche Herren, wie z. B. etwas später der Palatin von Wilna J. Hlebowicz,
verarmte Fürsten zu ihren privaten „Hofmarschällen“ oder „Kämmerern“ machten
(vgl. A. Boniecki: Herbarz polski, VII 288). Unrichtig ist nur die Behauptung
des Diploms, daß diese Fürsten ihren Titel bloß usurpiert hatten.
*) Wenn man auch Goni%dz und Medele kaum als einstige „ducatus singuläres“
bezeichnen kann, so ist doch richtig, daß es vorher fürstliche Besitzungen ge¬
wesen waren (vgL bei Eichhorn, Beil. VII) und daß der dortige Kleinadel zu den
Badziwill in einem ausgesprochenen Untertanenverhältnis stand (J. Baranowski:
Z dziejdw feudalizmu na Podlasiu, Przegl%d histor. IV), auch erst 1529 von ihrer
Gerichtsbarkeit befreit wurde (die Urkunde im Rocznik Tow. herald. we Lwowie,
HI nr. 324).
# ) Acta Tomiciana, IV nr. 344, vgl. 8. 322.
4 ) Vgl. des J. Decius’ Beschreibung der Hochzeitsfeier in den Acta Tomiciana
IV, S. 310, 319.
612
Oskar Ritter v. H&lecki.
weeen. Als er nun schließlich bei sich zu Hause sein Diplom in Em¬
pfang genommen hatte, wollte er, trotz der Klausel, daß es den Hoheits¬
rechten Sigismunds keinen Eintrag tue, seinen neuen Titel von diesem
förmlich bestätigt haben« Er benützte daher dessen Anwesenheit auf
dem litauischen Reichstage, der Ende 1518 zu Brzesd versammelt war,
und erhielt daselbst am 8. Dezember vom Könige eine die kaiserliche
Standeserhöhung bestätigende Urkunde 1 ), die ihm die Führung des
Fürstentitels und des vermehrten Wappens gestattete. Bezeichnender¬
weise wurde sie aber in die Beichsmatrikel nicht eingetragen*) und
dauerte es auch noch lange, bis die Badziwiü in öffentlichen Akten
ihres Vaterlandes als Fürsten bezeichnet wurden.
Für uns ist aber noch bemerkenswerter, daß es auch fast 30 Jahre
dauerte, bis das Diplom von 1518 für die Beziehungen dieses Ge¬
schlechts zu den Habsburgem eine politische Bedeutung gewann. Die
Ursachen lassen sich leicht feststellen. Vor allem verflossen zunächst
einige Jahre, in denen die österreichische Politik mit Litauen in keine
unmittelbare Berührung kam. 1518 hatte allerdings noch der uns
wohlbekannte litauische Marschall Bohusz Bohowitynowicz der polnischen
Gesandtschaft angehört, durch die Sigismund L auf dem Augsburger
Reichstage in Vertretung seines unmündigen Neffen Ludwig für die
Wahl Karls von Spanien zum römischen Könige die böhmische Kur-
stimme sichern ließ 8 ). In den folgenden Jahren sollte aber erst die
zweite Reise Herbersteins nach Moskau die kaiserliche Diplomatie wieder
mit den litauischen Magnaten in Berührung bringen. Bekanntlich hatte
dieser Versuch, einen Frieden zwischen Litauen und Moskau zu vermitteln
einen etwas besseren Erfolg, als Maximilians Bestrebungen, indem es
Ende 1626 wenigstens zu einem fünfjährigen Waffenstillstand kam 4 );
wieder aber hatte Herberstein hiebei nicht nur gemeinsam mit den
litauischen Gesandten (neben dem damals schon die Würde eines Reichs¬
schatzmeisters bekleidenden Bohusz war der Palatin von Polock Peter
Kiszka hiezu abgesendet worden) verhandelt 8 ), sondern auch, im Ge¬
gensätze zu den anderen österreichischen Diplomaten, die durch Litauen
nach Moskau reisten, nochmals die Gelegenheit benützt, um mit den
einflußreichsten Persönlichkeiten Litauens, so z. B. mit dem Bischöfe
*) Eichhorn, Beil. II.
*) Die auf dem Reichstage ausgestellten Urkunden der Reichsmatrikel (da¬
runter swei Güterverleihungen für Johann Radziwitt, Nikolaus* Bruder) zusammen-
gestellt bei N. Maksimiejko: Sejmy litowsko-russkawo gasudarstwa, Charkow 1902,
Beil. 8. 46/7.
*) Acta Tomiciana IV nr. 362, 364/5; Theiner: Monum. PoL II 8. 384, 394.
4 ) Vgl. bei Uebersberger, I 211.
4 ) Commentarii, pag. 140/2; Fontes rer. austr. 1/1. 8. 274.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 613
von Wilna Johann, einem natürlichen Sohne König Sigismunds 1 ),
freundliche Beziehungen anknüpfen. Dies sollte ihm schon bald darauf wohl
zu statten kommen, als er 1529 von König Ferdinand zu Sigismund
selbst nach Wilna entsendet wurde, um Unterstützung gegen die Türken
zu erbitten and wohl auch geheime Aufträge in der ungarischen An¬
gelegenheit zu entrichten 8 ). Bei dieser Gelegenheit wurde er nämlich
vom nunmehrigen Palatin von Wilna und Großkanzler Albrecht Gasztold
aufs ehrenvollste aufgenommen und sowohl beim Könige wie auch den
anderen litauischen Herren freundlichst befürwortet s ), erhielt auch von
ihm manche interessante Aufklärung über die litauischen Verhältnisse,
die er in seinem Beisewerke verwertete 4 ).
Es kann nun keinem Zweifel unterliegen, daß Herberstein den
neuen Palatin schon auf der zweimaligen Durchreise durch Litauen
1526/7 gewonnen hatte. Bereits damals hatte er wohl bemerken
müssen, daß jetzt nicht mehr, wie im vorigen Jahrzehnte, die BadziwiR,
sondern eben dieser Gasztold, der 1522 nach des Beichsfttrsten Nikolaus
Tode ihm in seinen beiden hohen Würden nachgefolgt war, in Litauen
die leitende Bolle spielte, ja eine Art «Vizekönig« 6 ) war. Einem vor¬
nehmen Herrengeschlechte entstammend, das weit ältere Machttraditionen
besaß, als die BadziwiH, und bis zu seinem Aussterben mit diesen trotz
naher Verschwägerung aufs hartnäckigste rivalisierte, betrachtete Gasztold
seinen gefürsteten Vorgänger und dessen überlebende Brüder und Söhne
geradezu als Emporkömmlinge und gerade, weil damals die gegenseitige
Feindschaft beider Familien ihren Höhepunkt erreicht hatte 6 ), wollte
i) Commentarii, pag. 155; 13. August 1528 schreibt der Bischof einen höf¬
lichen Brief an Ferdinand I., in dem er ihn von seiner Ergebenheit versichert
(Acta Tomiciana X nr. 368, vgl. nr. 412).
*) Uebereberger, I 239; vgl. bes. Acta Tomic. XI nr. 81. Über das Ergebnis
seiner Mission von 1529, die ihn im Sommer dieses Jahres ein zweites Mal nach
Polen führte, bei J. Kieszkowski: Kanclerz Krzysztof Szydlowiecki, Poznan 1912,
8. 250/2.
») Acta Tomic. XI nr. 259, s. tu!
4 ) Vgl in den Commentarii, pag. 110, die (allerdings teilweise anekdoten¬
artigen) Mitteilungen, die ihm Gasztold über Kiew gemacht hatte, wo sein Vater
Martin Gasztold zur Zeit Kasimirs d. Jagellonen Palatin gewesen war.
*) „Regie in Lithuania vicegerens“ nennt ihn L c. Herberetein. VgL auch
Acta Tomiciana X nr. 292, 471. Auf demselben Reichstage von 1522, auf dem er
die Würden des verstorbenen Radziwill erhielt, wurde ihm auch das Recht ver¬
liehen, mit rotem Wachs zu siegeln; die Urkunde (bei Maksimiejko, o. c., Beil.
8. 62) wurde durch den vorerwähnten Mi^dzyleski auagefertigt, der, wie früher
seinem Vorgänger, non Gasztold zur Seite stand.
«) Vgl. Gasztolds Denkschrift an Bona v. J. 1525, die ein Pamphlet gegen
die Radziwill und Ostrogski bildet (Acta Tomiciana VU/2 nr. 36; einen charak-
614
Oskar Ritter v. Halecki.
er gewiß auch in den Beziehungen zum Kaiserhause nicht hinter jenen
zurückstehen 1 ). Schon das höfliche Dankesschreiben, das Ferdinand L
nach Herbersteins Rückkehr wohl auf dessen Bat an ihn richtete, in¬
dem er ihn zugleich dringend aufforderte, die habsburgischen Interessen
in Litauen wie bisher eitrigst zu fördern *), mag dem stolzen Oligarchen
eine gewisse Genugtuung gewährt haben; noch mehr mußte ihn aber
Ferdinands Versprechen, sich hiefür dankbarst erkenntlich zu zeigen,
in seinem Ehrgeize befriedigen, eröflhete es ihm doch die Aussicht, für
seine österreich-freundliche Gesinnung ähnlich wie vorher Badziwili
belohnt zu werden. Zwar erhielt er schon 1529 von Papst Klemens VH
den Titel eines Grafen auf Murowane Gieranony 8 ), dem alten Stamm¬
sitze seines Hauses, doch schien ihm dies eine kaiserliche Standeser¬
höhung nicht zu ersetzen, so daß er alsbald die eifrigsten Bemühungen
begann, von Karl V., wohl mit Berufung' auf Ferdinands Gunst, wenn
nicht ein Fürsten-, so doch ein Grafendiplom zu erhalten. Wie einst
Badziwili durch Miqdzyleski, so suchte auch er durch einen geistlichen
Diplomaten in polnischem Dienste, den bekannten Johann Dantiscus,
damals erwählten Bischof von Kulm und polnischen Gesandten am
kaiserlichen Hofe, sein Ziel zu erreichen. Schon war die Sache günstig
erledigt und das Diplom, im August 1530, ausgestellt, als durch einen
Irrtum statt der Urkunde, die dem Palatin von Wilna den Reichsgrafen¬
stand verlieh, des Danticus eigenes Ritterstandsdiplom nach Polen ge¬
schickt wurde. Der Hofedelmann Nikolaus Nipschütz, der hiebei ver¬
mittelte und die freudige Nachricht schon vorher Gasztotf angekündigt
hatte, war über die Verwechslung höchst bestürzt, der Palatin selbst
aber erkundigte sich ungeduldig beim Bischöfe, ob das Ziel denn noch
immer nicht erreicht sei. Als endlich im nächsten Jahre alles erfolg¬
reich beendet war und Gasztotd erfuhr, daß sein Diplom — wie seiner¬
zeit das Radziwills — 100 Gulden gekostet hatte, beeilte er sich, diese
Summe und außerdem einen kostbaren Pelz als Belohnung an Dantiscus
zu schicken 4 ).
Es scheint aber, daß der kluge Herberstein wohl erkannt hatte,
wie stark auch die Partei der Gegner Gasztolds, zu der außer den
teristischen Komentar hiezu bilden die bei Makgimiejko, o. c., S. 50, 60, und
Malinowskij: Sboroik matierialow, Tomsk 1901, 8. 886—426 edierten Akten).
*) Ebenso bemühte er sich nach, am seine politische Stellung za festigen*
am die Freundschaft Albrechts von Preußen, vgl. Acta Tomiciana XI nr. 848
S. 264.
*) Acta Tomic. XI nr. 259 (27. Juni 1629).
*) Th einer A.: Vetera monumenta Pol. II S, 466
4 ) Die diesbezügliche Korrespondenz: Acta Tomiciana XII nr. 260, 270, Xm
nr. 222; Jagiellonki Polskie (ed. Przezdziecki-Szryski), V 8. 10.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 615
Badziwitt auch die mächtigen Fürsten Ostrogski und Stacki, sowie das
immer angesehenere Adelsgeschlecht der Sapieha gehörten *), in Litauen
war. Dementsprechend sehen wir nämlich, daß die Habsburger $uch
diese Gruppe des litauischen Hochadels bei ihren Bemühungen, sich
dort eine starke Partei zu bilden, nicht vernachlässigten. Besonders
der allerdings schon 1530 verstorbene Fürst Konstantin Ostrogski, der
litauische Großfeldherr und Palatin von Troki, hatte als gefeierter
Kriegsheld auf Herberstein einen großen Eindruck gemacht 8 ), und ge¬
wiß hängt damit zusammen, daß die beiden habsburgischen Brüder
seinem Sohne, dem jugendlichen Fürsten Elias, freundlichst entgegen¬
kamen: Earl V., dem dieser außerdem durch Dantiscus empfohlen
worden war, sandte ihm nach seines Vaters Tode ein huldvolles
Beileidsschreiben, das in sehr erfreute 8 ), und als er 1538 durch den
oben erwähnten Nipschütz König Ferdinand um einen Paß für eine Pilger¬
fahrt nach Palästina bat, sandte ihm dieser einen liebenswürdigen Brief,
worin er mit Bücksicht auf die großen Gefahren von dieser Beise ab¬
riet, aber zugleich dem religiösen Eifer des Fürsten und den Verdiensten
«eines Vaters hohes Lob zollte 4 ). Und als 1541 der Palatin von Pod-
laehien Johann Sapieha, wahrscheinlich durch Intriguen seiner Gegner,
«eine Würden und Güter verlor, ja sogar längere Zeit gefangen ge¬
halten wurde, war es niemand geringerer als Ferdinand L, der noch
vier Jahre später für ihn, auf Bitten seines Sohnes Lukas, bei Sigis¬
mund L Fürsprache einlegte 8 ). So hatten sich die Habsburger schon
vor der Mitte des XVL Jahrhunderts unter den verschiedensten Gruppen
des litauischen Hochadels ergebene Anhänger zu gewinnen gewußt
Die Badziwitt hatten übrigens um 1537 den hartnäckigen Kampf
gegen die allmächtige Stellung Gasztotds aufgegeben 6 ) und war hie¬
durch in den kleinlichen Parteikämpfen, denen der stolze Kanzler ganz
mit Unrecht ideelle Gegensätze als Ursache zuzuschreiben liebte 7 ), durch
*) Acta Tomiciana, VII/2 nr. 36 und X nr. 270-
*) Commentarii, pag. 112.
*) Jagiellonki Polskie, V 8. 11.
4) lbi<L S. VH Anm. 1. Um einen Ähnlichen Paß zur Reise nach Jerusalem
bemüh te sich bei Ferdinand .im Jahre 1536 der von Moskau nach Litauen ent¬
hobene Fürst Semen Bielski (ibid. 8. VI Anm. 3); vgL über dessen wirkliche Ab¬
sichten bei L. Kolankowski: Zygmunt August, S. 178.
*) Jagiellonki V 8. XTX Anm. 2; vgl. über Sapieha’s Sturz: Hoeii Epistolae
<ed. Hippler-ZakrzewBki) I nr. 90, 98, 102, 104, 107, 110, Niemcewicz: Zbidr pa-
mi^tn. IV 40, Kolankowski S. 259 Anm. 3.
•) Kolankowski, 8. 222.
*) In seiner vorhin zitierten Denkschrift stellt er seinen Hader als einen
Kampf der rein litauischen Geschlechter gegen die ruthenischen hin; die Unhalt-
616
Oskar Ritter v. Halecki.
Annäherung der Hauptgegner eine gewisse Abschwächung eingetreten,
allerdings nicht zum Vorteile des Landes selbst, auf dem hiedurch der
rücksichtslose Druck der Magnatenherrschaft nur umso schwerer lastete»
Die Nachgiebigkeit der Radziwitt erwies sich alsbald als sehr zweck¬
mäßig; Albrecht Gasztold starb nämlich schon 1539 und drei Jahre
später erlosch mit seinem einzigen Sohne, jenem Stanislaus, der in
seiner Jugend auf dem Wiener Kongresse gewesen war, sein ganzes
Geschlecht 1 ) und räumte so den Radziwitt, die es teilweise sogar be¬
erbten, den nunmehr unbestrittenen ersten Platz in Litauen ein. Aller¬
dings starb auch von ihnen jene Linie, die Fürst Nikolaus begründet
hatte, fast um dieselbe Zeit aus; aber schon waren seine Neffen heran¬
gewachsen, deren einer eben 1542 aus Italien zurückkehrte und sich
auch eine Zeit lang in dem zur Eroberung Budapests bestimmten Heere
König Ferdinands aufgehalten hatte *), und sollten bald ihre glanzende
politische Laufbahn beginnen.
Diese fallt schon beinahe ganz in die Begierungszeit König Sigis¬
mund Augusts (1548—1572), der übrigens bereits 1544, zu Lebzeiten
seines Vaters, das Großfürstentum Litauen zu selbständiger Verwaltung
erhalten hatte. Während dieser Zeit nun sollte es sich zeigen, wie
günstig es für die Habsburger war, daß sie gerade dieses Geschlecht
von allem Anfänge an für sich gewonnen hatten, und wie allmählich
ihre Beziehungen zu den mächtigsten Magnaten Litauens hohen poli¬
tischen Wert gewannen, nachdem sie in den Yorhergehenden Jahr¬
zehnten schon systematisch vorbereitet worden waren.
IL Das Haus Habsburg und Fürst Nikolaus Radziwill
der Schwarze.
Als 1543 zu Krakau bei der Vermahlung Sigismund August» mit
Ferdinands Tochter Elisabeth unter den litauischen Gästen gerade die
Radziwitt — aber allerdings auch ihre späteren Rivalen, die Chodkiewicz
— durch besonders prunkvollen Aufwand die allgemeine Aufmerksam¬
keit auf sich lenkten 8 ), da ahnte wohl keiner der österreichischen Be-
barkeit dieser Auflassung beweist am besten der Umstand, daß die Radziwitt eben¬
falls zur Gegenpartei gehörten und er, wie er zugeben muß, den „Ruthenus*
Ostrogski anfangs selbst unte rstü t zt hatte.
*) Die Genealogie bei A. Boniecki: Herbarz polski, V 383/4.
*) Hosii Epistolae, I nr. 118.
*) L. Kolankowaki, 8. 91/2, wo auch die Quellen zitiert sind; vgL Jagiellonki
polskie I 107. Der Bischof von Wilna, Fürst Paul Holszanski, hatte ein kostbares
Hochzeitsgeschenk nach Krakau geschickt (Fontes rer. austr. 1/1. S. 360).
Die Beziehungen der Habsburger zum Htauischen Hochadel etc.
617
gleiter der jungen Königin, daß gerade ihr baldiger Tod ru einer neuen
Anknüpfung der Beziehungen dieses Geschlechtes zu den Habsburgem
einen wenigstens mittelbaren Anlaß geben würde. Es vergingen aber
kaum vier Jahre, als der Marschall Nikolaus Badziwili. genannt ,der
Schwarze*, als Vertreter Litauens mit der Gesandtschaft nach Oster»
reich kam, die Sigismund Angnst abgesendet batte, um mit Ferdinand
über eine Entschädigung für die Ausstattung seiner schon 1545 ver¬
storbenen ersten Gattin zu verhandeln 1 ). Daß gerade Badziwili hiezu
ausersehen wurde, hatte seinen besonderen Grund, der für das richtige
Verständnis seiner Absichten wichtig ist
Unmittelbar vorher hatte sich nämlich Sigismund August im ge¬
heimen wiedervermählt, und zwar mit Barbara Badziwili, der Witwe
nach dem letzten der Gasztold und Base Nikolaus des Schwanen. Er
mußte nun mit Becht befurchten, daß dieser Schritt nicht nur in Polen,
sondern besonders auch bei seinem Schwiegervater, sobald sich die
Nachricht hievon verbreiten würde, Befremden und Entrüstung hervor-
rufen werde, umsomehr als böse Zungen — zwar wohl mit Unrecht —
behaupteten, daß Barbara schon vorher die Vernachlässigung der Königin
Elisabeth durch ihren Gatten verursacht habe *). Mag dies letztere auch
auf böswilliger Erfindung beruht haben, so war es doch, wie schon die
nächste Zukunft zeigte, für Sigismund August von großer Wichtigkeit,
daß Ferdinand nicht allzu ungünstig über seine neue Ehe dachte, und
konnte dies am leichtesten dadurch geschehen, daß sich das Haupt dea
Hauses Badziwili, noch bevor seine Verschwägerung mit seinem Könige
bekannt wurde, die Gunst der Habsburger gewann; außerdem handelte
es sich sowohl f&r ihn, wie auch für Sigismund Angnst darum, daß
der mit der Goni^dz’er Linie 1546 erloschene Fürstentitel auf die jetzt
lebenden Familienmitglieder übertragen würde, um so wenigstens in
einem gewissen Grade der Ehe mit Barbara den Charakter einer Mi߬
heirat zu nehmen. So erklärt es sich, daß erstens die polnische Ge¬
sandtschaft Ferdinand das größte Entgegenkommen zeigte und sich, von
seinen finanziellen Nöten wissend, bereit erklärte, für Elisabeths Aus¬
stattung eine Entschädigung von 30.000 ung. Gulden zu gewähren •)*
und zweitens Badziwili schon bei seiner Abreise vorhatte, auch bei
entsprechender Gelegenheit Kaiser Karl V. aufzusuchen 4 ), an den man
*) Jagiellonki polskie V P. LDL
*) Kolankowski, 8. 322.
*) Dogiel: Codex dipL Poloniae, 1, s. 211/3, nr. 48 (das Abkommen vom
26. Nov. 1647), vgl. nr. 49.
4 ) VgL sein Schreiben an Sigmund Angina 22. Sept. 1547 bei M. B&linski:
Pisma histor., I Beil. 3.
618
Oskar Ritter v. Haleoki.
sich ja wegen des Fürstenstandes wenden mußte. Er benützte denn
auch wirklich den Umstand, daß beide habsburgischen Brüder des Reichs¬
tags wegen zusammen in Augsburg weilten, um neben den Verhand¬
lungen mit Ferdinand dem Kaiser, bei dem er überdies mit dem
Gesandten Sigismunds I. zusammentraf 1 ), auch des jüngeren JageUonen
aller ding s etwas verspätete Glückwünsche zum Siege bei Mühlberg aus¬
zusprechen. Und wirklich erlangte er so ohne jede Schwierigkeit ein
kaiserliches, vom 10. Dezember 1547 datiertes und vier Tage spater von
Ferdinand transsumiertes Diplom *), in dem Nikolaus der Schwarze, nein
Bruder Joh ann und sein Vetter Nikolaus, genannt der Bote, Barbaras
Bruder, also alle damals lebenden männlichen Familienmitglied», za
BeichsfÜrsten auf Olyka, Nieswiei, Dubinki und Birie erhoben worden.
Als Verdienste der so Ausgezeichneten wurden die hervorragenden
Eigenschaften, die der altere Nikolaus eben bei seiner diplomatischen
Mission an den Tag gelegt hatte, und bezeichnenderweise ihr „Studium
et obsequium“ gegen die verstorbene Königin Elisabeth angeführt; be¬
sonders das letztere war für die Badziwili wertvoll, da es später, als
Sigismund Augusts zweite Ehe bekannt wurde, die Bolle der Familie
in der ganzen heiklen Frage in ein besseres Licht stellte. Es ist selbst¬
verständlich, daß auch wieder von der vornehmen, fürstlichen Stellung
der Radziwiö, der Verteidigung des Christentums durch die Kämpfe
ihrer Ahnen mit Moskowitern und Tataren und schließlich vom Fürsten¬
stande ihres Oheims die Bede ist, neu ist aber die Behauptung, daß
ihr Geschlecht nicht nur von altadeligem Geblüte sei, sondern von ein¬
heimischen Fürsten (indigenae duces) Litauens abstamme 8 ), wovon noch
*) Hoeii Epistolae, I nr. 276; Sigismund I. hatte schon unmittelbar nach dem
Siege von Mühlberg dem Kaiser seine Glückwünsche aussprechen lassen, vgL die
nngedruckten »Tomiciana« im Archiv der Fürsten CzartorysM in Krakau Ms. 286,
iol. 217*, 220.
*) Eichhorn, Beil. EL Bekanntlich wurde Nikolaus der Schwane Ahnherr
der Füsten auf Olyka und Nieswiet, Nikolaus der Rote Ahnherr der Fürsten auf
Dubinki und Birie. Zugleich erhielten sie eine weitere Wappen Vermehrung. Fast
gleichzeitig, am 24. Dezember, erhielt auch eines der ersten Magnatengeschlechter
Polens, die Tamowski, vom Kaiser ein Reichsgrafendiplom (Archiwum Sangusskdw
V nr. 360).
•) Schon damals entstanden wirklich genealogische Legenden, welche die
Radziwift von einer vor den Jagellonen in Litauen herrschenden Dynastie ableiten
wollten; selbstverständlich sind sie vollkommen unhaltbar, doch scheint es
nach den neuesten, noch unveröffentl. Forschungen (W. Semxowicz) nicht un¬
wahrscheinlich, dafi sie von einem Geschlechte alter Teilfürsten oder Stammes¬
häuptlinge nb8tammen, wie es deren ursprünglich in Litauen viele gab, die natürlich
durch die Entstehung eines einheitlichen Großfürstentums im XIQ. Jahrh. One
Herrschaft einbüßten.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 619
Maximilians Diplom nichts wußte, was aber jetzt ebenfalls dazu dienen
konnte, der Ehe Barbaras einen Schein von Ebenbürtigkeit zu ver¬
leihen.
Es ist begreiflich, daß Marschall Nikolaus von Augsburg hochbe¬
friedigt heimkehrte *), umso mehr als es ihm gelungen war, außer mit
Karl und Ferdinand selbst auch mit den Söhnen des letzteren: Maxi¬
milian, dem späteren Kaiser, und Ferdinand, nähere Beziehungen an¬
zuknüpfen*). Erfreut über seinen Erfolg war aber auch Sigismund
August, der, nachdem er 1548 infolge seines Vaters Tod auch in Polen
die Begierung angetreten hatte, bekanntlich gleich auf dem ersten
Reichstage zu Piotrkdw einen wahren Sturm der Empörung über seine
Heirat aushalten mußte: mit sichtlicher Befriedigung bestätigt er am
Ende dieses Reichstages das kaiserliche Beichsfürstendiplom für die Ange¬
hörigen seiner Gemahlin 8 ), indem er«nicht nur, wie 1518 sein Vater,
in kurzen Worten die Führung des Fürstentitels gestattet, sondern
auch nachdrücklich betont, daß niemand das Alter ihres Geschlechtes
besser kenne als er selbst und daß er sie umso herzlicher beglück¬
wünsche, als er ja ihre Schwester zur Frau habe. Es handelte sich
aber nicht nur darum, die Legitimität und Unlösbarkeit seiner zweiten
Ehe zu verteidigen, die ja schließlich nicht ernst angefochten werden
konnte, sondern Barbara sollte auch als Königin anerkannt und ge-
- krönt werden, um eventuell zur Stammutter einer neuen Linie- der
Jagellonen werden zu können; ebenbürtig sollten ja die Nachkommen sein,,
die der König von ihr erhoffte und denen das unzweifelhafte Erbrecht auf
das Großfürstentum Litauen zugleich auch die polnische Königswürde ge¬
sichert hätte, da man sie unter solchen Umständen, wie mehrere Prä¬
zedenzfalle bewiesen, stets auch auf den polnischen Thron gewählt hätte,,
um die polnisch-litauische Union aufrecht zu erhalten. Dies durch
Barbaras Krönung zu ermöglichen, war aber umso schwieriger, als
nicht nur der Widerstand in Polen, sondern auch eine starke Gegen¬
partei in Litauen zu bekämpfen war, der außer mehreren den Badziwitt
feindlichen Familien, wie den Hlebowicz, Chodkiewicz, Oscikowicz 4 ),
i) Hosii Epistolae, 1 nr. 277 (»rebus praeter spem ßuam ex sententia con-
fectdfl«),
*) Katalog der RaczyngüVh^n Bibliothek in Posen (ed. Sosnowski-Kurtzmann),
Posen 1885, Band L MS. nr. 86 (enthält Originalbriefe verschiedener Monarchen
und Mitglieder regierender Häuser an die Radziwill, die sich früher in deren Fa-
milienarchiv zu Nieswiei befanden).
*) Eichhorn, Beil. IV (24. Jänner 1549).
*) VgL z. B. die Briefe aus den Jahren 1548—1550 bei M. Balinski: Pisma
histor. I S. 162, H S. 133, 146 etc.
€20
Oskar Ritter v. Halecki.
sogar Nikolaus des Schwarzen eigener Bruder Johann Radziwiii ange¬
hörte 1 ). Da war es nun wirklich von großer Bedeutung, daß auf dem
•entscheidenden Reichstage zu Piotrköw im Jahre 1550 die Bemühungen
des Königs durch die vermittelnde Anwesenheit der Gesandten Ferdi¬
nands eine wirksame Unterstützung erfuhren*); daß dieser, wenn er
auch anfangs durch die Wiedervermahlung seines Schwiegersohnes un¬
angenehm berührt sein mußte, bei dieser Gelegenheit eine so zuvor¬
kommende Stellung einnahm, dazu hatten außer dem im Vorjahre mit
Sigismund August abgeschlossenen Freundschaftsvertrage unzweifelhaft
die 1547 so geschickt erneuten Beziehungen der Radziwiii zum Han»
Habsburg beigetragen: nicht umsonst hat wohl Fürst Nikolaus, der
während der Verhandlungen des polnischen Reichstages in Piotrköw
anwesend war 8 ), die österreichischen Gesandten, den seiner Familie langst
bekannten Herberstein und Dr. Lang, in Begleitung zweier anderer
litauischer Fürsten, darunter des ihm nahestehenden Holszauski, im
Kloster zu Witöw besucht 4 ).
Mit Recht konnte nun König Ferdinand erwarten, auch seinerseits
bei seinen politischen Beziehungen zu Sigismund August von den Bad-
ziwiil unterstützt zu werden, umso mehr als diese, besonders Nikolaus
der Schwarze und teilweise auch der Rote, zu immer höheren Würden
emporsteigend, trotz Barbaras baldigem Tode einen großen Einfluß auf
ihren königlichen Schwager gewonnen hatten. Da aber bekanntlich
gerade in den nächsten Jahren durch die ungarische Frage zwischen
Ferdinand und Sigismund eine merkliche Verstimmung eintrat, mußte
cs für die Radziwiii oft schwierig werden, ihre Pflichten als Würden¬
träger des Jagellonenreiches, als Räte ihres Königs, mit ihren izaditio-
jiellen Beziehungen zum Hause Österreich zu vereinbaren. So kam
es, daß 1552, als Herberstein wieder nach Polen entsendet wurde
•und eine überraschend kühle, ablehnende Aufnahme fand, Nikolaus Rad¬
ziwiii, trotzdem ihm Ferdinand vorher in einem eigenen Schreiben seinen
<jesandten empfohlen hatte 6 ), diesem auffallend auswich, ihn nicht
•einmal besuchte, indem er sich wegen Zeitmangels entschuldigen ließ *).
*) Niemcewicz: Zbiör pami^tnikdw I 8. 421/2, 428, 438.
*) J. Szujski: Stoeunki dyplom. Zygmunta Aug. z domem austryackim (Opo-
wiadania i roztrzqsania, Band I, Kraköw 1885), 8. 386; Uebersberger, 1 259. Soeben
erschien hierüber eine Studie von L. Bogatynski im 59. B. d. Abhdl. d. Krak. Akademie*
*) Bericht der öeterr. Gesandten vom 18. Juni 1560 im Wiener HHSt-Archir
Polonica; vgl. auch Balinski: Pinna, II 158, 164.
*) Fontes rerum austr. 1/1. 8. 376.
•) 12. Jänner 1562; Katalog der Raczydski’schen Bibliothek, 1. c.
•) Fontes rer. austr. 1/1. 8. 392.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 621
Trotzdem ist aber die bisherige Annahme 1 ) 1 als habe gerade Rad-
ziwiö seinen König dem Hause Habsburg abwendig gemacht, voll¬
kommen unhaltbar. Richtig ist allerdings, daß Sigismund August in
«einer überaus häufigen vertraulichen Korrespondenz mit dem Fürsten
«einerseits kein Hehl daraus machte, daß ihn die weltbeherrschende
Macht dieses Hauses beunruhige 8 ); aber gerade in diesen interessanten
Briefen finden wir den deutlichsten Beweis, daß Radziwitt, nachdem er
•eine Zeit lang in dieser Beziehung eine vorsichtig zurückhaltende Stellung
eingenommen hatte, alsbald seinen entscheidenden Einfluß dazu be¬
nützte, um gerade im Augenblicke, wo der König vom tiefsten Un¬
willen und Mißtrauen gegen die Habsburger erfüllt war, eine neuerliche
Annäherung zwischen beiden Dynastien zustandezubringen. Es geschah
dies schon 1553, als die in der historischen Literatur bereits mehrmals
Besprochene 8 ) Nachricht auftauchte, daß Karl V. beim Papste die Be¬
strebungen des Zaren, Iwans des Grausamen, durch eine Union mit
Born die Königskrone zu erhalten, aufs eifrigste unterstütze.
Es ist nachgewiesen worden, daß von Seiten des Zaren selbst
keinerlei diesbezügliche Schritte unternommen wurden, sein angebliches
-Schreiben an den Kaiser eine Fälschung war und dem ganzen Plane
die Mystifikation der Beteiligten durch einen kühnen Abenteurer zu¬
grundelag. Trotzdem läßt sich aber nicht leugnen, daß die unzweifel¬
haften Bemühungen Karls V., die Kurie für das moskowitische Reich
einzunehmen und für solche Annäherungspläne günstig zu stimmen 4 ),
Sigismund August in berechtigte Unruhe versetzen mußten. Bewiesen
aie doch, daß auch eine politische Verbindung der Habsburger mit
Moskau nicht außerhalb des Bereiches der Möglichkeit lag, und da der
Ausbruch eines neuen Krieges mit Iwan nur eine Frage der Zeit war,
konnte, wie der König ausdrücklich in seinem Briefe an Radziwiü be¬
tonte, wieder eine ähnliche Lage eintreten, wie zur Zeit Kaiser Maxi-
*) VgL z. B. bei Szqjski, o. c., S. 366.
*) Die Korrespondenz des Königs mit Nik. Radziwifi dem Schwarzen 1549—
1566 bei Lachowicz: Pami§tniki do dziejdw Polski. Listy oryg. Zygmunta Augusta,
"Wilno 1842; die angeführte Stelle S. 41.
•) In der deutschen Geschichtsschreibung bei J. Fiedler: Ein Versuch der
Vereinigung der russischen Kirch i mit der römischen. SitzungBber. der Wiener
Akad. phih-hist. Band 40; Ueber.berger: I 282 ff.
4 ) Ausdrücklich erwiderte der Papst im Mörz 1553 dem polnischen Gesandten,
daß in der moskauischen Angelegenheit »multi ac illi quidem gravissimi ac per-
magni principes apud Stern suam vehementer instant atque urgent« (Uchansdana,
ed. T. Wierzbowski, II nr. 21). In seinem Schreiben an Ferdinand vom 11. April
gibt dies auch Karl V., wie wir sehen werden, selbst zu (Fiedler, Beil. 8).
622
Oskar Ritter v. Halecki.
milians 1 ), im Jahre 1514, wo dessen Bündnis mit Iwans Vorgänger
für Litauen so verderblich geworden war!
Das erste, was Sigismund August tat, als er jene überraschende
Nachricht aus Born erhielt, daß dort über eine Verleihung der Königs-
würde an den Zaren verhandelt werde, war nichts anderes, als sich in
mehreren Briefen an Radziwill den Schwarzen um Bat zu wenden, wie
eine Annäherung Moskaus an Kaiser und Papst zu verhindern sei*).
Was Julius UL betrag genügte es natürlich, ihn durch einen Gesandten
darauf aufmerksam zu machen, welche Gefahr dem katholischen polnisch¬
litauischen Staate von Seiten des schismatischen, es mit einer Union
niemals ernst meinenden Moskau drohe 8 ); wie sollte man sich aber
den Habsburgem gegenüber in politischer Hinsicht sicherstellen? Hiezu
gab es nur zwei Mittel: entweder die bisher schwankende Haltung
zwischen ihnen und Frankreich in einen rückhaltslosen Anschluß an
dieses zu verwandeln, um sie auf diese Weise von zwei Seiten zu be¬
drohen, wie man es von ihnen durch etwaige Beziehungen mit Moskau
für Polen befürchtete, oder das in der letzten Zeit getrübte habsburgisch-
jagellonische Einvernehmen wieder vollkommen herzustellen. Und ge¬
rade an diesem bedeutungsvollen Wendepunkte der polnischen Politik
brachte Radziwitts Einfluß die Entscheidung zu Gunsten Österreichs.
Da Sigismund August aus politischen Rücksichten, um seinen
Beichen einen Nachfolger zu hinterlassen, damals eben eine dritte Ehe
einzugehen dachte, war die Wahl seiner neuen Gemahlin gleichsam ein
äußeres Zeichen, bei welchem Herrscherhause Europas er in seiner Po¬
litik einen Anschluß suchen würde, wobei natürlich nur entweder eine
der österreichischen oder eine der französischen Dynastie nahestehende
Prinzessin in Frage kommen konnte 4 ). Dementsprechend lautete auch
*) Lachowicz, S. 38.
») Lachowicz, S. 36 (14. Jänner 1663), 37 (16. Jänner), 37-42 (24. Jänner).
Bei P. Pierling (La Russie et le Saint-Sifege, 1 343, Paris 1896) wird auf den Rat,
den sich der König bei Albrecht von Preußen holte, der Hauptnachdruck gelegt;
ein Vergleich der Daten (siehe Ss. rer. pol. I 67/9) beweist aber, daß der König
erst 11 Tage später an ihn schrieb und die Antwort (vom 14. Februar) ent ein¬
traf, als die Sache schon durch Radziwiüs Einfluß entschieden war.
*) Die ursprüngliche Instruktion dieses Gesandten (Albert Kryaki) erwähnt
diese Frage noch gar nicht, da sie vom Herbste 1662 stammt (Uchansciana, IQ
nr. 11, 12); seine spätere Instruktion über Moskau bei Fiedler, Beil. IV, sowie (der
IL Teil) in Se. rer. pol. I 69—71, sein von Ferdinand 1. am 2. Februar 1553 aas-
gestellter Paß im Wiener Archiv, Polonica, die Antwort des Papstes Uchansdaoa
H nr. 21, s. o.I Vgl auch Ss. rer. pol. I 8. 71—75.
4 ) Uebersberger, 8. 286 ; vgl. über die in Betracht kommenden Heiraispläne
Dr. Längs Bericht an Erzherzog Ferdinand vom 10. März 1663 in den Wieoer
Polonica, sowie z. B. Hosii Epistolae H nr. 1000.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc.
Radziwitts Rat, den wir leider nur aus des Königs Antwort kennen *).
Von einem Anschlüsse an Frankreich riet er ab: die Lage des fran¬
zösischen Königs selbst sei zu ungünstig, um durch die Drohung, sich
ihm anzuschließen, auf die Habsburger einen Druck auszuüben; hingegen
schien ihm die drohende Gefahr am besten dadurch abgewendet werden
zu können, daß der König sich in Ferdinands Familie eine neue Gattin
suche, und zwar in der Person der Schwester seiner ersten Gemahlin.
Es war dies bekanntlich die verwitwete Herzogin von Mantua Katharina.
Sigismund Augusts Antwortschreiben ist vom 24. Jänner 1553 datiert,
und wenn er auch gegen die Ehe mit der eigenen Schwägerin religiöse
Bedenken erhob 2 ) und meinte, er müsse die Sache, von der bisher nur
die beiden Radziwill wußten, noch mit anderen Räten besprechen, so
ist es doch schon daraus vollkommen klar, daß der unmittelbare Anstoß
zu Sigismunds folgenschwerer dritter Verehelichung von Nikolaus dem
Schwarzen ausging und dieser Plan keineswegs, wie immer wieder in
der wissenschaftlichen Literatur zu lesen ist 8 ), erst während der Ver¬
handlungen an Ferdinands Hofe auftauchte.
Allerdings konnte diese unrichtige Auffassung leicht dadurch ent¬
stehen, daß des Polenkönigs schriftliche und zuletzt auch mündliche
Beratungen mit Radziwill, besonders was die Heiratsangelegenheit be¬
traf, geheim gehalten wurden 4 ). Schon war dieser längst nach Öster¬
reich abgereist und noch wußte niemand, weder die übrigen polnischen
Herren, noch die Königin-Witwe Bona, noch der österreichische Ge¬
sandte in Polen Dr. Lang 8 ), irgend etwas bestimmtes, ob und wo er
für den König eine Braut suchen werde. Ja sogar später, als die
Heiratsverhandlungen schon im Gange waren, herrschte in Polen die
von Sigismund August geflissentlich verbreitete Meinung, daß erst in
Wien Ferdinand ganz unerwartet den Vorschlag einer neuerlichen Ver¬
schwägerung beider Dynastien durch seine Tochter gemacht habe 6 ).
Es lag nämlich in des Königs und des Fürsten Nikolaus offenbarem
Interesse, die Sache so darzustellen, und zwar aus einem doppelten
*) Lachowicz, 8. 41/2.
*) Seine längeren AusfÜhnugen über diesen Punkt beweisen, daß man keines¬
wegs den Vorwurf erbeben darf (vgl. bei Uebersberger, S. 378), es seien ihm erst
nach zehnjähriger Ehe, als & gi<h um einen Scheidungsvorwand handelte, derlei
Bedenken aufgestiegen.
*) In der neuesten polnichen Literatur richtig dargestellt bei Wh Boga-
tynski: Hetman Tarnowski, Krakdw 1914, 8. 116.
4) Vgl. z. B. die Stelle bei Lachowicz, S. 49/50.
•) Hosii Epistolae H nr. 1000; Lachowicz, 1. c.; Längs zitierter Bericht vom
10. März.
4) Jagiellonki polakie, I S. 388/89; Hosii Epistolae, H nr. 1011.
624
Oskar Bitter y. H&leckL
Grande: erstens gab es in Polen nicht wenige Gegner einer neuen
Verbindung mit den Habsburgern, vor denen man den Heiratsplan als
Vorschlag von österreichischer Seite darstellen wollte, und zweitens gab
es noch zahlr eichere Gegner des übermächtigen Badziwiii, die ohnehin
unzufrieden waren, daß er die Verhandlungen führte *), und denen man
▼»heimlichen mußte, daß sogar die unmittelbare Initiative von ihm
stammte.
Erst die Kenntnis aller Quellen enthüllt den tatsächlichen Sach¬
verhalt Wie wir gesehen haben, war Sigismund August schon im
Januar mit dem Heiratsplan vertraut gemacht, konnte sich ab» noch
nicht entschließen und hatte bloß vor, an Karl V. und Ferdinand L
über die moskauische Frage zu schreiben *). Bald aber schien er sich
überzeugen zu lassen, daß diese Frage zugleich auch einen Vorwand
bilden könnte, um einen Gesandten an Ferdinand zu senden und hiebei
auch die Heiratsfrage zu berühren 9 ); schon am 4. Februar teilt er
Badziwiii diesen Entschluß, außer zum Papst auch zu beiden Habe-
bürgern einen Gesandten zu schicken, in bestimmter Form mit 4 ), und
schon Ende des Monats war Fürst Nikolaus in Krakau, besprach alles
mündlich mit dem Könige 6 ), bewog diesen, nachdem er ihn offenbar
für seine Plane gewonnen hatte, ihm selbst diese Gesandtschaft anzu¬
vertrauen und erhielt wirklich am 24. Februar ein Beglaubigungs¬
schreiben 6 ) und Instruktionen, in denen allerdings nur vom .negotium
Moöchicum“ die Bede war 7 ).
Dementsprechend kann es nicht mehr, wie in den bisherigen Dar¬
stellungen, überraschend erscheinen, daß Sigismund August, als ihm
Badziwiii aus Österreich von der Geneigtheit Ferdinands, ihm KaUmm*
zur Frau zu geben, schrieb, sofort dazu entschlossen war 8 ); er war
eben schon vorher von seinem Gesandten hiefür gewonnen wenden. Es
bleibt jedoch noch eine viel schwierigere Frage zu lösen, ob nämlich
Badziwiii selbst, aus eigenem Antriebe, mit dem Vorschläge dieser Ehe
aufgetreten war oder ob ihn nicht vielleicht vorher König Ferdinand
gebeten hatte, seinen Einfluß auf den König in diesem Sinne geltend
*) Hosii Epistolae, 11 nr. 1012.
») Lachowicz, 8. 41.
») Ibid., 8. 81 (gehört zu einem der Briefe Anfang 1553, nicht 1654).
«) Ibid., S. 43.
•) Ibid., & 46.
•) Wiener Archiv, Polonica; außerdem erhielt er ein vom 25. Februar datiert»
Empfehlungsschreiben an Erzherzog Maximilian, ibid.
*) Fiedler, Beil. III (an Ferdinand, vgl. auch Sa. rer. pol I 76/7), V (an Karl)
•) Korespondencyja Zebrzydowskiego, nr. 807; Jagiellonki polskie, I 8. 388/9:
vgl. Uebersberger, 8. 286.
Die Beziehungen der Habeburger zum litauischen Hochadel etc. 625
zu machen. Wir wissen allerdings nichtB von einem derartigen, be¬
greiflicherweise geheimgehaltenen Schreiben Ferdinands, doch erzählt
der damals so rührige und einflußreiche polnische Politiker und Schrift¬
steller Stanislaus Oxzechowski in einer gleichzeitigen, Sigismunds dritte
Hochzeit beschreibenden Druckschrift 1 ), daß sich Ferdinand eifrig be¬
mühte, die Verheiratung seiner verwitweten Tochter Katharina mit dem
polnischen Könige durch Nikolaus Badziwill’s Vermittlung zustandezu-
"bringen. Man muß nun zugeben, daß der Verlauf der Ereignisse eine
solche Annahme insofern bestätigt, als es sonst Erstaunen erregen
müßte, wie rasch Ferdinand nicht nur auf Badziwills Werbung einging,
sondern auch die Hochzeit möglichst zu beschleunigen suchte 8 ). Wie
dies eich aber auch immer verhalten haben mag, unzweifelhaft bleibt,
daß Badziwill damals den Habsburgem einen wichtigen Dienst leistete
und, wie uns dies auch die Einzelheiten seiner Mission beweisen werden,
seine nahen Beziehungen zu ihnen, trotz manchem, was in der Folge¬
zeit dagegen zu sprechen scheint und bisher ein richtiges Verständnis
seiner Bolle verhinderte, wieder neu gefestigt wurden.
Mitte März kam Nikolaus der Schwarze, den, wie wir sehen werden,
noch einige andere seinem Hause nahestehende litauische Magna te n
begleiteten, zu König Ferdinand, der ihm zu Graz am 24. dieses Monats
-eine mehrmals konzipierte Antwort auf Sigismunds Moskau betreffende
Vorstellungen erteilte 8 ). Er erklärte darin, daß er gar nichts davon
wisse, ob sein Bruder beim Papste für den Zaren eingetreten sei, hielt
es auch nicht für nötig, daß Badziwili gleich selbst zu Karl V. Weiter¬
reise, sondern schrieb noch am selben Tage in dieser Angelegenheit an
den Kaiser 4 ) und riet dem Gesandten, die Antwort in Österreich ab-
jsuwarten. Dies war aber nur die offizielle Seite der Verhandlungen,
bei denen zugleich auch die Heiratsangelegenheit zur Sprache gekommen
war. Leider sind uns hievon nur die Ergebnisse bekannt, und zwar
*) Fanagiricns nuptdarum Sigiamundi Augusti Poloniae Begis, Cracoviae 1553.
Die allerdings nicht ganz deutliche Stelle lautet: »Ferdinandus rex ... nihil prins
habebat, quam nt e&m filiam ... Sigismunde Angnsto regi, Nicolao Radivilo in-
ternuncio, collocaret«. Daß diese Bestrebungen Ferdinands bis ins Jahr 1552 zu¬
rückreichen, beweisen die Schreiben in Koreepondencyja ZebrzydowaJdego nr. 806,
806. Zur Vorgeschichte der Ehe vgl. auch Gdmicki: Dzieje w Koronie polskiej
(Jahr 1653).
*) Jagiellonki, L c.
•) Fiedler, BeiL 71; vgl in den Polonica die verschiedenen Konzepte und
'Kopien dieser Antwort
4 ) Fiedler, BeiL VH. Er erinnert hiebei den Kaiser, daß der polnische Ge¬
sandte jener selbe Badziwiii sei, ,que V« a naguaires 4rig6 en duc de Olicha
•et Nieswics«.
41*
626
Oskar Ritter v. Halecki.
einerseits ans dem Antwortschreiben Karls an Ferdinand, in dem er
Radziwitts Antrag, die verwitwete Katharina mit Sigismund August zu
vermählen, sehr entsprechend findet und diese Ehe aufs wärmste gut¬
heißt *), und andererseits aus einigen polnischen Quellen. Badziwitt hatte
nämlich schon am 28. März einen Boten nach Krakau gesandt *), der
offenbar dem Könige die Nachricht vom günstigen Stande der Heirats¬
angelegenheit brachte; daraufhin versammelte dieser am 8. April die
in der Hauptstadt anwesenden Senatoren, teilte ihnen mit, daß Ferdinand
ihm seine Tochter zur Frau angeboten habe, und beschloß offiziell, trotzdem
die Befriedigung hierüber keineswegs allgemein war, den Vorschlag an¬
zunehmen 8 ). Es wurde zugleich bestimmt, daß zur Finalisierung des
Ehevertrages auch noch ein Würdenträger der polnischen Beichahälfte^
der Vizekanzler Przerqbski, zu Ferdinand abgesendet werden sollte, der
auch wirklich Ende des Monats nach Wien fuhr 4 ), und daß die Hoch¬
zeit am 2. Juli stattfinden würde. Wie schon erwähnt, wollte anfangs
Ferdinand diesen Termin womöglich noch beschleunigen, da er sich
vom Zustandekommen der Ehe außerordentlich viel versprach: nicht
nur schloß sie endgültig die Möglichkeit aus, daß Sigismund August auf
französischer Seite seine neue Gemahlin und zugleich politische Ver¬
bindungen suche, sondern Radziwitt hatte bei seinen vertraulichen Vor¬
verhandlungen noch ein wichtiges Versprechen abgegeben, von dem
wir zufällig aus späteren Briefen Ferdinands erfahren 8 ); er erklärte
nämlich, daß nach Katharinas Hochzeit jede gegen Österreich gerichtete
Unterstützung des ungarischen Thronprätendenten und Neffen des pol¬
nischen Königs, Johann Sigismund Zapolya, und seiner Mutter IaaMU
von Seiten Sigismund Augusts aufhören werde. Wenn auch Fürst
Nikolaus wahrscheinlich zu einer solchen Erklärung keine ausdrückliche
Vollmacht hatte, so war sie doch angesichts seines bekannten Ein¬
flusses nicht weniger wertvoll und konnte Ferdinand, ftr den in seinen
*) Fiedler, Beil. VIII.
*) Sein von diesem Tage datierter Paß in den Wiener Polonica; dieser Bote Alex.
Princza oder Brinza wurde von Radziwiil schon vorher zu vertraulichen Mi—inn*i>
verwendet, vgl. Lachowicz, 8. 35.
•) Ho8ii Epistolae, II nr. 1011, 1012; Jagiellonki polakie, L c.
«) Hosii Epistolae, II nr. 1029; das neue Sendschreiben für Radziwitt und
Przer^bski vom 29. April in den Polonica.
*) 21. Jänner 1554 an seine Gesandten in Polen, 3. Februar 1554 an Radziwitt
(Polonica). Bisher waren diesbezüglich nur die Verhandlungen bekannt, die 1553
Erzherzog Ferdinand in Polen führte, als er seine Schwester dahin geleitete (vgL
Jagiellonki V 73—76). Erst E. Zivier hat in seiner Neueren Geschichte Polens I
(8. 530 Anm. 1), die während des Druckes dieser Arbeit erschien und daher bei
ihrer Abfassung nicht benützt werden konnte, u. a. auch auf diese beiden Schreiben
in den Polonica hingewiesen.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 627
Beziehungen zu Polen jene ungarische Frage bekanntlich die Hauptsache
war, mit den erreichten Ergebnissen wohl zufrieden sein.
Noch ehe Badziwiiis neue Mission, die mit Przer^bski durchzu-
führende offizielle Werbung um Katharina, mit des letzteren Ankunft
begonnen hatte, war jenes «negotium Moschicum«, dem Ferdinand —
neben der Vermittlung Badziwiüs — seinen Erfolg verdankte, aus der
Welt geschafft worden. Schon am 24. April konnte nämlich der König
einen Auszug aus des Kaisers Antwort dem sie in Wiener Neustadt
erwartenden polnischen Gesandten übersenden 1 ). Sie erhielt Karls feier¬
liche Versicherung, daß er bei seiner Verwendung für den Zaren in
Born keine Ahnung gehabt habe, daß dies dem Könige von Polen
schaden könne, und daß er nunmehr selbst dem Papste raten werde,
Moskau gegenüber Zurückhaltung zu üben und SigismundB Wünsche zu
berücksichtigen. Es müssen die Habsburger auch wirklich sogleich
dieses Versprechen erfüllt haben, da Julius HL in demselben Breve an
Ferdinand 2 ), in dem er die zu Katharinas Ehe nötige Dispens erteilt,
auch auf die Moskau betreffende Bitte antwortet, daß er ohnehin schon
•mit Bücksicht auf Polen die Vorschläge des Zaren (bekanntlich handelte
«s sich, wie schon erwähnt, um eine Fälschung, von der dieser gar
nichts wußte) abzulehnen beschlossen habe. So konnte am 23. Juni
der endgültige Ehevertrag abgeschlossen werden a ); die ersten Hochzeits¬
zeremonien fanden sogleich in Wien statt, wobei Badziwili die Person
.seines Königs vertrat, die eigentliche Feier in Krakau aber mußte
wegen Zeitmangels und Unwohlseins Sigismunds vom Anfänge auf die
Mitte und schließlich auf das Ende des Monates Juli verschoben
werden 4 ).
Als sich während der Verhandlungen Ferdinand L anfangs Juni
in einer uns leider nicht näher bekannten Frage — vielleicht bloß des
endgültigen Termins der Hochzeit — mit seinem Schwiegersöhne ver¬
ständigen wollte, sandte er den «pocillator* von Litauen, Starosten von
*) Polonica; das Schreiben selbst und Ferdinands Antwort bei Fiedler, Beil.
vm, EL
*) Fiedler, Beil. X. Bekanntlich kam es 1561 wieder zu einem, diesmal von
Bom ausgehenden Versuche, zwischen dem Papste und Moskau mit Wissen des
Kaisers Beziehungen anzuknüpfen, die auch wieder ähnliche Besorgnisse Sigismund
Augusts weckten; vgL über den mißglückten Versuch des Legaten Canobio, über
Polen und Litauen nach Moskau zu gelangen, und die damalige Rolle Radziwiüs
bei Pierling: La Ruasie et le St.-Si£ge, 1 369, sowie Sauermanns Bericht vom
7. September 1561 in den Polonica.
*) Dogiel: Codex dipl I S. 220/8, nr. 52, 53.
«) Lachowicz, S. 51/2, 53, 56; vgL Oreechowski, o. c.
628
Oskar Ritter y. Halecki.
Tykocin und Mohilew, Stanislaus Kieigajlo nach Krakau 1 ). Dieser, der
letzte Sproß eines der vornehmsten und reichsten litauischen Adelsge¬
schlechter und Neffe Nikolaus Radziwiüs 2 ), einst eine wichtige Ver¬
trauensperson bei des Königs geheimer Vermahlung mit Barbara, war
wahrscheinlich mit seinem Oheim nach Österreich gereist und es ist
nicht unwahrscheinlich, daß der Titel eines Grafen auf Kro&e, den ihm
Ferdinand in seinem Paßschreiben gibt, ihm eben damals von diesem
verliehen worden war. Wieder hatte nämlich das Haus Habsburg die
Gelegenheit benützt, um seine litauischen Anhänger durch die stets so
beliebten Titelverleihungen für die geleisteten Dienste zu belohnen und
sicherer an sich zu fesseln: so erhielt Badziwill selbst, der mit der
letzten Szydiowiecka vermählt war, den Titel eines Beichsgrafen auf
Szydlowiec 8 ) und am selben Tage (10 Juli) wurde ein zweiter ihn begleitender
Neffe, Georg Ilinicz, ebenfalls der letzte seiner Familie, zum Beichs¬
grafen auf Mir erhoben 4 ).
Auch bei den Hochzeitsfeierlichkeitan in Krakau, am 31. Juli, sollte
Badziwills Ehrgeiz nochmals befriedigt werden. Wenn auch zahlreiche
Vertreter des litauischen Hochadels, darunter auch Gegner seiner Fa¬
milie, anwesend waren 6 ), so nahm doch er, der die Heirat zustandege¬
bracht, eine besondere Ehrenstellung ein und ritt beim festlichen Ein¬
züge der neuen Königin zur linken ihres Wagens, während den Fiats
zur rechten ihr Bruder, Erzherzog Ferdinand, einnahm 6 ). Aber Fürst
Nikolaus knüpfte an sein gelungenes Werk noch viel wichtigere Hoff¬
nungen, die mit seiner unvergleichlichen Machtstellung überhaupt und
>) Polonica, 4. Juni 1553.
*) Boniecki: Pocset roddw S. 123 und Herban polski X 68. Über seine Be¬
ziehungen zu den Radziwiii vgl. z. B. Jagiellonki polakie, 1 329, 337; Lachowia,
8. 2, 8, 17; Baünski: Pisma histor., passim. Allerdings tituliert sich K. schon
1549 Graf auf Kroie (Kolankowski, S. 42 Anm. 1). Kulturgeschichtlich ist interessant
daß er sich 1552 einen Wagen aus Deutschland kommen ließ, der der Königin
Bona so gefiel, daß sie sich einen ähnlichen bestellte (Lachowicz, S. 27).
*) Vgl. in den verschiedenen Genealogien der Radziwiii, sowie bei J. K ies »»
kowßki: Kanclerz Krzysztoi Szydlowiecki, 3. 662; KoÜubaJ: Galeija Nieswieiska,
8. 246 (nach einer ungedruckten Familiengeschichte) gibt irrtümlich an, er habe
diesen Titel erhalten, als er in Prag auf dem Wege nach Wien einen Sohn des
böhmischen Königs Maximilian (Erzherzog Emst) aus der Taufe hob. Dies letztere
ist allerdings richtig (vgl. in den Polonica Cyras’ Bericht vom 19. Juni 1571, sowie
das schon oben erwähnte Empfehlungsschreiben an Maximilian vom 25. Februar
1553) nur die Verknüpfung beider Tatsachen unrichtig.
4 ) Das Originaldiplom im Archiv der Fürsten Radziwiii zu Nieswieg, Perga¬
menturkunden nr. 126.
») Vgl bei Orzechowski, o. c., und in StryjkowBki’s Chronik, Buch 24 Kap. 7.
•) Orzechowski, o. c. (»tanti inceptor et confector connubii«).
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 629
MTiffl kühnen Zukunftsplänen CTimmmflnhing eri und die auch gleich
nach der Hochzeit durch einen hochinteressanten Bericht des öster¬
reichischen Gesandten in Polen, Dr. Johann Lang 1 ), zur Kenntnis
Ferdinands kamen.
Jn Litauen hatten die Badziwili es endlich erreicht, die tatsächliche
Herrschaft über das Großfürstentum in ihre Hände zu bekommen. Die
Gunst des Königs hatte ihnen nicht nur einen ungewöhnlichen per¬
sönlichen Einfluß auf ihn, sondern auch alle leitenden Würden des
Landes verschafft, die sich in rascher Folge auf Nikolaus den Schwarzen
und den Boten gehäuft hatten: war doch der erstere schon seit mehreren
Jahren nicht bloß Palatin von Wilna und Großkanzler, wie einst sein
Oheim und sein Großvater, sondern zugleich Beichsmarschall, der latztere
Palatin von Troki und Großfeldherr, so daß diese beiden Fürsten »von
Gottes Gnaden*, wie sie sich zu titulieren liebten, die ersten weltlichen
Sitze im Bäte, die Leitung der äußeren und inneren Politik, die höchste
Heeresgewalt, sowie die Verwaltung und Justiz in den das Zentrum
des Beiches bildenden Provinzen vereinten. Dazu kam noch, daß. eben
in diesen Jahren fast alle übrigen mächtigen Magnatenhäuser Litauens
erloschen oder doch schon dem Ausstoben nahe waren: wir wissen
schon vom Ende der Gasztold im Jahre 1542, 1554 starb der letzte
Kieigajlo, 1556 der letzte Fürst Holszanski, um dieselbe Zeit der letzte
Hinicz u. s. w n und da alle diese Geschlechter in ihren letzten Ver¬
tretern mit den Badziwili verwandt waren, befand sich deren gewaltige
Hausmacht durch häufige Erbschaften in ununterbrochenem Zunehmen *).
Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn, wie Dr. Lang in seinem
Berichte betonte und andere gleichzeitige Quellen bestätigen 8 ), die
Meinung verbreitet war, daß Nikolaus der Schwarze für den Fall eines
kinderlosen Todes Sigismund Augusts Großfürst von Litauen zu werden
hoffte und darauf hinarbeite; es ist möglich, daß er sich garade deshalb
so lebhaft dafür interessierte, ob Königin Katharina eine Nachkommen¬
schaft zu erwarten habe 4 ).
*) Polonica, 10. August 1563.
*) Vgl. hiezu die Artikel über die genannten Familien und die Badziwili
■albst in BoniecJri’s: Poczet rodöw (und teilweise auch Herban polaki). Nach dem
Aumterben der Hinicz ging auch der ihnen 1653 verliehene Titel eines Reichsgrafen
auf Mir auf die Badziwili über (z. B. schon 1571 bei Lachowicz, S. 313).
*) Z. B. eine ungedruckte, gleichzeitige Schilderung eines polnischen Adeligen
im Archiv der Fürsten Czartoryaki zu Krakau MS. 1604, 8. 64. St. Hosius sdttijto
1657 über ihn: »gerit se pro duce Lituaniae« (Hoch Epistolae, 11 nr. 1718). /
4 ) Niemcewkz: Zbidr panriftnikdw, H 432/4.
630
Oskar Ritter v. HaleckL
Wenn aber der ent allmählich politischen Einfluß gewinnende
niedere Adel Litauens, ja selbst die den ßadziwiö mißgünstigen, aber
im Vergleich mit ihnen noch zu schwachen übrigen litauischen Herren-
geschlechter, ihrer Übermacht keinen ernstlichen Widerstand entgegen¬
setzen konnten, so lagen die Dinge in der polnischen Keichshälfte ganz
anders. Der polnische Adel, der unter sich keine aristokratische Oli¬
garchie aufkommen ließ, sah nur mit größter Unzufriedenheit, daß
Nikolaus der Schwarze, der überdies, wie wir sehen werden, bis zu
seinem Tode der endgültigen Vereinigung Litauens mit Polen entgegen¬
arbeitete, den König in seiner Gewalt hatte 1 ), daß gerade er es nun
wieder war, der die neue Königin nach Polen brachte, und duldete, so
lange sich der Hof in Polen auf hielt, keine eigenmächtige Einmischung
des ersten litauischen Würdenträgers in die Politik des Königreiches.
Daher beschloß Kadziwitt, der selbst Polen möglichst bald zu verlassen
dachte 8 ), trotz der Unzufriedenheit des dortigen Adels, das königliche
Paar zu bewegen, ebenfalls nach Litauen zu reisen, wo er beide unge¬
stört beeinflussen konnte; erwartete er doch, daß Katharina, die ge¬
radezu durch seine Vermittlung Königin geworden war, durch ihre
Gunst seine Stellung zu einer noch mächtigeren machen werde, als
bisher. Und wirklich hatte diese sofort bemerkt, welchen Einfluß er
auf ihren Gatten ausübte, und wollte sich daher seiner Absicht nicht
widersetzen, wenn sie auch gar keine Lust hatte, die unbequeme Heise
nach dem kalten, unwirtlichen, schütter bewohnten Großfürstentum
anzutreten 8 ); ja sogar Ferdinand selbst, den sein Gesandter aufgefordert
hatte, im Interesse seiner Tochter durch irgend einen Vorwand die
Verwirklichung dieses Planes zu verhindern, tat, so viel wir wissen,
gar nichts in dieser Hinsicht, nur um sich den leicht verletzbaren
Magnaten, der ihm doch so gute Dienste leisten konnte, nicht zu ent¬
fremden.
Badziwiil zeichnete sich nämlich durch ein ungewöhnliches Mi߬
trauen aus, wo immer es sich um seine allmählich errungene Macht¬
stellung handelte, quälte damit sogar seinen eigenen, ihm so gewogenen
König, der ihn immer wieder, so z. B. am Ende jenes wichtigen Jahres
1553 4 ), in seinen Briefen versichern mußte, daß er nach wie vor die
*) „In potestate sua habet«, wie Dr. Lang ausdrücklich zweimal schreibt; die
weiter zitierte Stelle Über die Polen lautet: „nec quidquam rerum publicaruxs
regni in aula eum [seil. Radziwiü] gerere patiuntur“.
*) Über seine Abreise Hosii Epistolae, II nr. 1079.
*) Vgl. die Schilderung Litauens in Längs Bericht vom 24. August, ferner
über die Königin auch den Bericht vom 16. August in den Polonica, sowie Hosii
Epistolae, II nr. 1079, 1083.
4 ) Lachowicz, S. 67 und an vielen andern Stellen.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 631
«erste Stelle in seiner Gunst einnehme. Obwohl ihm daher Katharina
keinen Widerstand entgegensetzte, bemerkte er doch einerseits, wie
ungern sie sich zur Heise nach Litauen entschloß, und andererseits, daß
auch sie an der Seite ihres Gatten eine politische Holle spielen wollte,
und war sofort ton Argwohn erfüllt, daß sie ihm die anfangs bewiesene
Gunst entziehe und seinen Einfluß, statt zu starken, beeinträchtigen
werde. In seinen Erwartungen getauscht, zögerte er nicht, in der von
ihm selbst vermittelten Ehe Mißstimmungen hervorzurufen, um nur zu
verhindern, daß Sigismund August auf irgend jemanden, und wenn es
auch seine Gattin wäre, mehr höre, als auf ihn, und da einerseits der
König, wie Dr. Lang meinte, gleichsam durch teuflische Zauberkünste
an ihn gefesselt war, und andererseits die Königin nicht gewillt war
eine rein passive Holle zu spielen, dürfte Hadziwill nicht wenig dazu
beigetragen haben, daß das gegenseitige Verhältnis der beiden Gatten
von Anfang an ein getrübtes war 1 ).
Trotzdem wäre es ganz unrichtig, hieraus, wie es gewöhnlich ge¬
schieht, die Folgerung zu ziehen, Fürst Nikolaus sei überhaupt ein
Gegner des Hauses Habsburg geworden. Allerdings wäre es gewiß für
die österreichischen Interessen in Polen vorteilhafter gewesen, wenn er
gemeinsam mit Katharina für sie gewirkt hätte. Wenn sich dies auch
als unmöglich erwies, so beweist doch seine Korrespondenz mit Fer¬
dinand L nach seiner Rückkehr aus Wien in den Jahren 1553 und
1554 *) ganz unzweifelhaft, daß er den traditionellen Beziehungen seiner
Familie zu den Habsburgem, die seine Gesandtschaft neu gefestigt batte,
rückhaltslos treu blieb, ja sogar manchmal seit dieser Zeit dem kaiser¬
lichen Hause mehr dienstbar war, als dies den Interessen seines Vater¬
landes und seines Königs entsprach.
Am deutlichsten läßt sich dies in der ungarischen Frage, den Be¬
ziehungen Sigismund Augusts zu seiner Schwester IsabeDa Zapolya und
ihrem Sohne feststellen. Da der König Badziwill auch fernerhin ein
unumschränktes Vertrauen schenkte und ihm in seine Politik mehr
Ein blick gewahrte, als irgend einem andern seiner Bäte*), wußte er
wohl, daß trotz der Annäherung an die Habsburger, die Anfang 1553
i) Längs Bericht vom 24» August 1563, Polonica; vgL Sanjski, o. c„ 8. 370
Am. l, sowie Jagielkmki pohkie V, S. LXXXlll.
*) In den Polonica; besonders zu beachten sein Brief an Ferdinand vom
15. Oktober 1553 and die folgenden, auch Ferdinands Schreiben an ihn vom
3. Februar 1554. VgL auch Katalog der Baczyn*kf sehen Bibliothek, L c. über
Radriwills Beeinflussung durch Ferdinand in der Inländischen Frage (1557) vgL
be i K Znrier, o. o, 8. 610.
*) VgL Lachowkx, 8. 87.
632
Oskar Ritter v. Halecki.
so nötig schien, Sigismund Isabellas Bemühungen, ihrem Sohne zunächst
Siebenbürgen zu sichern und hierauf seine Ansprüche auf ganz Ungarn
aufrechtzuerhalten, nicht zu hindern, sondern eher zu unterstützen
dachte oder wenigstens in einer für sie günstigen Weise zwischen ihnen
und Österreich vermitteln wollte 1 ). Und da mißbrauchte nun Nikolaus
der Schwarze dieses Vertrauen seines Herrn derart, daß er, nicht zu¬
frieden damit, durch seinen Einfluß den österreichischen Interessen zu
dienen, durch die Gesandten Ferdinands in Polen diesem die ganze
ungarische Politik seines Königs enthüllte 1 ). Dies erklärt uns auch*
warum z. B. Anfang 1654 die österreichischen Gesandten danach trachteten,
daß Sigismund August bei ihren Verhandlungen mit der damals noch
in Polen weilenden Isabella und ihrer sie unterstützenden Mutter Bons
gerade Nikolaus BadziwiR zu seinem Vertreter bestimme, was sie aller¬
dings «wichtiger Hindernisse* wegen — vielleicht war doch des Königs
Argwohn rege geworden — nicht erreichten 8 ). Allerdings fehlte es
auch nicht an Versuchen der Gegenpartei, den mächtigen Palatin von
Wilna in dieser schwierigen Frage für sich zu gewinnen; ja als Isabella
1559 starb, schrieb ihr Sohn selbst, «Joannes electus rex orphanus*
wie er sich Unterzeichnete, sofort an ihn, damit er ihn der Gunst
Sigismund Augusts empfehle und Bat und Hilfe für* ihn beim Könige
erwirke 4 ). Und wir hören auch im selben Jahre, sogar schon etwas
früher, von einem merkwürdigen Plane Badziwitts. der beweist, daß er
trotz aller österreichfreundlichen Gesinnung auch für den jungen Johann
Sigismund eine getvisse Sympathie besaß: er meinte nämlich die beider¬
seitigen Interessen am besten dadurch befriedigen zu können, daß er
den Vorschlag machte, Ferdinand solle Zapolya eine seiner Töchter zur
Frau geben und ihn so an sich fesseln 5 ), wozu man allerdings am öster¬
reichischen Hofe keineswegs geneigt war.
Badziwitts Sympathie für Johann Sigismund Zapolya ist deshalb
von Bedeutung und Interesse, weil sie mit zwei Fragen zusammen¬
hängt, die für die damalige innere Entwicklung Polens, aber auch für
seine Beziehungen zu den Habsburgem von größter Wichtigkeit waren: es
*) Siehe z. B. bei Szujski, o. c., 369—374.
*) Von den Beweisdokumenten in den Polonica ist am deutlichsten des Erasmus
Haydenreich Bericht an Ferdinand vom 12. Jänner 1565; es erhellt daß
in dieser Beziehung dieselbe Rolle, wie Radziwill in Litauen, in Polen sein Be¬
gleiter bei den Heiratsverhandlungen von 1553, Vizekanzler Prser$bski spielte.
•) Uchanadana, V 138, bes. die Zitate in Anm. 3.
4 ) Niemcewicz: Zbidr pami$tniköw, I 468/9; vgl. Katalog der Raczyäakfecben
Bibliothek, 1. c.
•) Längs Bericht an Ferdinand I. vom 10. März 1569; vgL bei Ssqjcki,
S. 373 Anm. 4.
Die Beziehungen der Habeburger zum litauischen Hochadel etc. 633
sind dies die Reformation, deren Verbreitung im Jagellonenreiche eben
damals ihren Höhepunkt erreichte, und die Sukzession, das Problem, wer
nach dem Tode Sigismund Augusts, der nun auch in dritter Ehe kinderlos
blieb, seinen verwaisten Thron besteigen würde.
Was die religiöse Frage betrifft, so neigte sich bekanntlich Johann
Sigismund, unter dem Siebenbürgen eine Heimstätte weitgehendster To¬
leranz bildete, den kühnsten Neuerem auf diesem Gebiete, den ver¬
schiedenen Sekten der Antitrinitarier zu, was außer anderen Edel¬
leuten Polens und Litauens eben auch Nikolaus Badziwii! für ihn ge¬
winnen mußte. War doch dieser seit ungefähr zehn Jahren die Haupt¬
stütze, der weltliche Führer der Beformationsbewegnng in Litauen und
führte ihn sein religiöser Werdegang allmählich zu immer radikaleren
Glaubenslehren: vom augsburgischen Bekenntnisse zum Kalvinismus, von
diesem schließlich, in langsamem aber stetigem Übergange, zum Anti-
trinitarismus, in dem er auch starb 1 ). Dieser Umstand war nun auch
für seine Stellung in der Sukzessionsfrage maßgebend Trotz jener oben
erwähnten, vielleicht übertriebenen Gerüchte, daß er selbst wenigstens
nach dem litauischen Thron strebe, mußte er sich dessen doch wohl bewußt
sein, daß seine Kandidatur in beiden Reichshälften zugleich vollkommen
aussichtslos und eine Loslösung der litauischen von der polnischen kaum
möglich sein würde *), und sich für eine von jenen Parteien entscheiden,,
die sich unter dem polnisch-litauischen Adel bildeten, seitdem diese
Frage der Thronfolge offen auf der Tagesordnung war. Eine von ihnen,
die vielleicht auch der König selbst nicht am wenigsten unterstützte,
war eben die seines Neffen Zapolya, und deshalb war Badziwiii auf
jenen Gedanken gekommen, ihn mit einer Habsburgerin zu verheiratet.
Seit der Ehe mit Katharina, sprach man nämlich in Polen auch von
der Möglichkeit *), daß das Haus Österreich sich um Sigismund Augusts
Erbe bewerben würde, und wenn auch Ferdinand selbst keine direkten
diesbezüglichen Schritte unternahm, so konnte es dem Fürsten Nikolaus
doch zweckmäßig erscheinen, auf diese Weise beide Parteien und zu¬
gleich seine beiderseitigen Sympathien zu verbinden. Er mußte aber
i) Vgl. s. B. bei Th. Wotscbke: Der Briefwechsel der Schweizer mit den Polen
(Archiv L Reformationsgesch., Erftänzungsbond HI), nr. 318, 328/9, 332, 339 u.s.w.;
ar die genaue Schilderung seiner religiösen Entwickelung im Vorworte zu Mo*
mnnenta reformationis Polon. e. Lithuan., Serie X, Heft 1 (Wilno 1913).
*) Wer immer König von Polen werden wird, schreibt Lang im zit. Bericht
vom 10. März 1559, »non Polonis tan tum, verum etiam Lituanis ... imperitabit, eo
quod ita inter ae duo isti populi sunt confoederati, nt unus idemque utrorumque
sü princeps. Ipd confrateraitatem vocani«
•) Vgl. z. B. Lachowicz, 8. 119.
634
Oskar Ritter v. Halecki.
allerdings, als er mit dem österreichischen Gesandten seinen Plan be¬
sprach, zugeben, daß Zäpolya in Polen nicht mehr allzuviele Anhänger
habe, da sie seine geringe Regierungskunst und seine „Turcica plane
indoles* abschrecke 1 ); selbstverständlich konnte auch die Aussicht, ihn
auf dem polnischen Throne zu sehen, die Habsburger nicht geneigt
machen, sich mit ihm zu verschwägern. Übrigens scheint auch Radziwili,
trotz der religiösen Berührungspunkte, Zapolya’s Kandidatur nicht mehr
ernstlich unterstützt zu haben, was vielleicht auch mit einer bisher
wenig beachteten, aber höchst charakteristischen Veränderung in seinen
Beziehungen zu den Habsburgem zusammenhängt
Es verdient nämlich gewiß naher erklärt zu werden, warum Ni¬
kolaus der Schwarze bei diesen Beziehungen allmählich einem anderen
Vertreter des österreichischen Herrscherhauses nähertritt als in den vor¬
hergehenden Jahren, wo er, wie wir gesehen haben, vor allem mit
Ferdinand L korrespondierte und verhandelte. Ungefähr von 1558 an
tritt nun statt dessen die Person seines Sohnes, Erzherzog Maximilians,
damals schon Königs von Böhmen, in den Vordergrund. Interessant ist
in dieser Hinsicht Radziwilis Schreiben vom 3. Mai 1558 *), in dem er
Maximilian seine Gratulation zur Erlangung der kaiserlichen Würde
durch seinen Vater ausspricht Den Hauptinhalt dieses Briefes bilden
längere Ausführungen religiösen Inhalts, in denen der Führer der
litauischen Reformierten die Hoffnung ausspricht daß «das Evangelium
und die Kirche Gottes von der bisherigen Knechtschaft und unerträg¬
lichen pharisäischen Unterdrückung befreit sowie die Zügellosigkeit
und Straflosigkeit der Sünde, die der römische Antichrist der Welt ver¬
sprochen und bei sich käuflich gemacht habe, abgeschafft werde*, was
auch zum Heile des Reiches gereichen würde. Es ist einleuchtend, daß
sich Radziwitt in einem solchen Tone nicht an den streng katholischen
Ferdinand selbst sondern nur an den mit dem Protestantismus innerlich
sympathisierenden, eben in jenen Jahren so stark von Melanchthon be¬
einflußten 8 ) Maximilian wenden konnte. Und wirklich fand Radziwill
bei diesem ein volles Verständnis für seine konfessionellen Überzeugungen:
schon am 21. September desselben Jahres schickt ihm der König von
Böhmen ein warmes Empfehlungsschreiben für den späteren Führer der
Unitarier Lelio Sozino 4 ), bald darauf dankt hiefür der Palatin von
l ) Die Stelle über Zäpolya in Lang's zitiertem Berichte ist mit dem Schreiben
Sauermanns vom 10. Mai 1661 (Polonica) zu vergleichen.
*) Polonica.
•) Die Ergebnisse der neuesten Untersuchungen hierüber bei G. Loesche:
Luther, Melanthon und Calvin in Österreich-Ungarn, Tübingen 1909, S. 146 fL
<) Th. Wotschke: Der Briefwechsel der Schweizer mit den Polen, S. 81 Anm. 8;
vgl. dessen Gesch. der Reformation in Polen, S. 196.
Die Beziehungen der Habeburger zum litauischen Hochadel etc. 635
Wilna, hochbefriedigt vom Umgänge mit dem geistvollen Szeptiker *),.
und nimmt überhaupt in der weiteren Korrespondenz zwischen ihnen
die religiöse Frage beinahe den ersten Platz ein. Wenn vielleicht auch
Maximilian Radziwitts maßlose, gehässige Angriffe gegen den Katho¬
lizismus *) nicht immer billigen konnte, so duldete er sie doch in dessen
Briefen und begegneten sich beide im allerdings nicht mehr erfüllbarem
Wunsche, daß die erbitterten Glaubenskampfe und Zweifel einer voll¬
ständigen religiösen Einheit Platz machen mögen 8 ). Besonders in¬
teressant ist Fürst Nikolaus 9 Schreiben vom 16. August 1564, mit dem
er Maximilian die in seiner Druckerei zu Brzesc litewski erschienene
polnische Bibelübersetzung übersandte, weil er bei dieser Gelegenheit
betont, daß dieser über „Völker derselben Zunge“ herrsche, wie sein,
eigener König 4 ).
Diese Bemerkung kann uns als Hinweis dienen, daß dieser regem
Korrespondenz 5 ) auch noch ein anderes Motiv zugrundelag, als das re¬
ligiöse. Wenn man nämlich berücksichtigt, daß sich Maximilian schon
wenige Monate später 6 ) desselben Argumentes der böhmisch-polnischen
Stammesgemeinschaft bediente, um seine eventuelle Kandidatur für den
polnischen Thron zu unterstützen, so Hegt die Vermutung nahe, daß
für seine Beziehungen zu Badziwiü auch die zweite der von uns vorher
hervorgehobenen Fragen maßgebend war, nämlich die der polnischen
Sukzession. Während nämlich, wie schon erwähnt, Ferdinand L, der
ja ohnehin nicht damit rechnen konnte, den bedeutend jüngeren Sigis¬
mund August zu überleben, zwar für alle Falle in Polen und Litauen
eine starke österreich-freundliche Partei zu bilden bestrebt war, aber
der Sukzessionsfrage gegenüber eine mehr abwartende, beobachtende
Stellung einnahm, brachte ihr Maximilian, der schon 1559 in Polen
selbst bei den Beratungen ernstlich als Kandidat genannt wurde *), ein
*) 4. Jänner 1569, Jagiellonki polskie, V 145.
*) Interessant ist n. a. sein Schreiben vom 17. April 1661 in den Polonica*
wo er behauptet, von Leuten, »quibus nomen meum non alia res ulla exosum red-
didit quam sacrosanctum Evangelium Jesu Christi«, bei Maximilian verleumdet
worden zu sein.
L # ) Vgl. Maximilians Brief vom 18. Oktober 1664, Jagiellonki polskie, V 160/1.
4 ) Jagiellonki polskie, V 14*7&0.
•) Vgl. auch 3. Jänner 1559, Polonica, sowie Katalog der Baczynski’schen
Bibliothek, L c. Im Briefe Ma.* miHa.nw vom 18. Oktober 1664 ist auch ein Kon«
dolenzschreiben Badziwills anläßlich des Todes Kaiser Ferdinands I. erwähnt.
•) In der Instruktion vom 5. Februar 1666, Polonica.
i) In Sauermanns Bericht vom 10. Mai 1561, Polonica, finden sich diese und
andere interessante Einzelheiten über die Beratungen in der Sukzessionsfrage
während des Reichstages von 1668/9. Über Ferdinands Politik in der poln. Suk-
636
Oskar Ritter v, Halecki.
viel aktiveres Interesse entgegen, und sobald er nach seines Voten
Tode selbst als Kaiser die polnische Politik der Habsburger in seine
Hände bekam, begnügte er sich nicht mehr damit, sich wie dieser von
seinen Gesandten in Polen über die Aussichten der einzelnen Kandi¬
daten benachrichtigen zu lassen, sondern empfahl ihnen von allem
Anfang an in seinen Instruktionen, für die habsburgische Stimmung
zu machen 1 ).
Es ist daher unzweifelhaft, daß er bei seinen Beziehungen zu ein¬
zelnen polnischen Magnaten schon zu Ferdinands Lebzeiten jene Zu¬
kunftspläne nicht aus dem Auge ließ und waren hiebei gerade die zu
Eadziwiil von größter Wichtigkeit Nicht nur war es ja durch ihn am
ehesten möglich, auf Sigismund August selbst, aus dessen Äußerungen
über die Thronfolge die Habsburger niemals recht klug werden konnten,
•einen Einfluß auszuüben, sondern schien ja auch seine Stellung in
dieser Frage für ganz Litauen entscheidend zu sein. Je häufiger ferner
die österreichischen Gesandten über den Gegensatz zwischen Polen und
Litauen berichteten 8 ), bei dem eben Badziwill eine Hauptrolle spielte,
umso notwendiger mußte es erscheinen, neben den Anhängern in Polen
auch ihn und seine litauische Partei für die Nachfolge eines Habs¬
burgers nach Sigismund Augusts Tode zu gewinnen. Hiezu war nun
gewiß jener intime briefliche Verkehr mit dem Hauptkandidaten Maxi¬
milian ein vortreffliches Mittel. Da hiebei die Sukzessionsfrage nicht
unmittelbar berührt wurde, ist es nicht leicht zu ergründen, wie sich
Fürst Nikolaus selbst hiezu verhielt; wenn man aber berücksichtigt, wie
eifrig später sein gleichnamiger Vetter, der in allem und jedem seine
Politik weiterführte, und sein Sohn Nikolaus Christoph die Wahl eines
Habsburgers unterstützten, daß er 1559 die siebenbürgische* mit der
•österreichischen Kandidatur zu vereinbaren suchte, daß er sich schon
im vorhergehenden Jahre an den späteren Lieblingskandidaten der
Litauer, Maximilians Sohn Erzherzog Ernst, mit einem Schreiben wandte 8 ),
kann es wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß er sich mehr und
mehr mit dem Gedanken befreundete, nach Sigismund Augusts Tode
einen Habsburger auf dem Throne zu sehen. Ebenso wie bei vielen
anderen Protestanten verscheuchte wohl auch bei ihm Maximilians
-sessionsfrage vgl. in der neuesten Literatur B. Kudelka: Jakdb Heraklides Despot*,
Ewartalnik histor. XXVI 26 Anm. 1, 29 Anm. 1.
*) Vgl. ausführlich bei Szujski, L c., 378/9, Wierzbowski im Ateneum 1879
m 408, Uebersberger 8. 378.
*) VgL die Berichte Sauermanns aus Wilna 26. Februar, 17. April, 10. Mai
in den folonica.
*) 3. Mai 1558, Polonica.
Die Beziehungen der Habeburger zum litauischen Hochadel etc. 637
, Kompromißkatholizismus “ die konfessionellen Beftbrchtungen, die das
«onst so glaubenstrene Kaiserhaus geweckt hätte, und seiner aristokra¬
tischen Gesinnung, der die auch in Litauen um sich greifende polnische
Adelsdemokratie so verhaßt war, konnte gerade diese Dynastie, für die
die aristokratische Begierungsform typisch war r ) und der seine Familie
ihren BeichsfÜrstenstand verdankte, am ehesten entsprechen.
In diesem Zusammenhänge gewinnt es besondere Bedeutung, daß
der häufige Briefwechsel mit Maximilian nicht den einzigen Beweis
Bildet, wie die traditionellen Beziehungen der Badziwitt zum öster¬
reichischen Herrscherhause immer enger und häufiger wurden. So schickt
der Palatin von Wilna 1560 zwei seiner litauischen Verwandten nach
Österreich, und zwar jenen 1553 zum Beichsgrafen erhobenen llinicz an
den Hof des Erzherzogs Karl von Steiermark und Johann Hlebowicz,
..Freiherm auf D^browno*, an den Maximilians 2 ). Um sie den Habs-
burgem anzuempfehlen, schrieben nicht nur der polnische König und
Nikolaus der Schwarze selbst an diese, sondern auch des letzteren Gattin
Elisabeth, eine geborene Szydtowiecka, an Maximilians Gemahlin, die
nun auch mit ihr in brieflicher Verbindung bleibt uud z. B. 1564 ihrer
„amica carissima* Elisabeth Badziwitt für mit einem herzlichen Schreiben
übersendete Handarbeiten dankt®). Besonders wichtig war es aber, daß
achon 1561 Fürst Nikolaus der Bote, der wenige Jahre später an seines
Yetters leitende Stelle in Litauen treten sollte, unmittelbaren Anschluß
an die Habsburger suchte, indem er durch Ferdinands Gesandten Sauer-
mann um Aufnahme seines Sohnes an den kaiserlichen Hof bat; selbst-
werständlich beeilte sich der Gesandte, dem Kaiser die Erfüllung dieser
Bitte dringendst anzuempfehlen, indem er darauf hinwies, wie außer¬
ordentlich einflußreich der Palatin von Troki beim Könige und den
litauischen Ständen war und wie vorteilhaft es für den Kaiser sei, sich
«olcbe Persönlichkeiten zu verpflichten und zu treuen Anhängern zu
machen. Alsbald erfolgte denn auch des Kaisers freundlich zustimmende
Antwort 4 ), so daß, als 1565 Nikolaus der Schwarze starb und der Bote
seine hohen Würden erhielt, die österreichische Partei unter dem litauischen
Bochadel keinerlei Einbuße erlitt.
Im Anschlüsse daran wäre zu erwähnen, daß damals zu dieser
Partei neben den allerdings weitaus bedeutendsten Badziwitt auch jenes
zweite litauische Magnatengeschlecht gehörte, das allmählich mächtig
*) VgL bei Uebersberger, S. 391.
*) Mehrere Schreiben hierüber in den Polonica: 25. September, 26. September,
12. Dezember 1560, 29. April 1561.
•) Jagiellonki polskie, V 147.
4 ) Polonica, 9. Juni und 10. Juli 1561.
638
Oskar Ritter y. Halecki.
genug geworden war, um die Stelle ihrer früheren Biyalen einzunehmen^
nämlich die Chodkiewicz. Einem übrigens schon im XV. Jahrhundert
sehr angesehenen Kiew’er Bojarenhause entstammend, waren sie zur Zeit
Sigismund Augusts, obwohl er ihnen anfangs wenig Sympathien ent¬
gegenbrachte *), in drei Vertretern zu hohen Würden emporgestiegen *).
Die zwei bedeutendsten unter ihnen, die Brüder Hieronymus und Gregor,
nacheinander Kastellane von Wilna, waren zu jener Zeit die Haupt¬
gegner der Badziwili in Litauen^ 8 ), nichtsdestoweniger aber, ebenso wie
diese, Anhänger der Habsburger. Der erstere hatte yon Kaiser Ferdi¬
nand ein Beichsgrafendiplom erhalten 4 ) und sein später so einflußreicher
Sohn Johann Hieronymus hatte noch an Karls V. Hofe seine Jugend
yerbracht und sich in dessen Kriegen mit Frankreich ausgezeichnet 8 ),,
während Gregors Sohn 1566 am Hofe Maximilians II freundliche
Aufnahme fand, wofür sein Vater dem Kaiser in einem ergebenen
Schreiben dankt 6 ).
So sehen wir wieder, daß die Habsburger, wie einst yor 40 Jahren,
mit verschiedenen Parteien des litauischen Hochadels in Verbindung
standen, was ihnen auch wirklich schon zur Zeit des ersten Interegnums
zugutekommen sollte; schon die vorhergehenden Jahre sollten aber
beweisen, warum dies trotzdem nicht genügte, um auf die gesamte
litauische Beichshalfte einen entscheidenden Einfluß auszuüben.
HL Die österreichische Politik und die Union von Lublin.
Wenn sich auch Badziwili der Schwarze im allgemeinen bis zu
seinem Tode der königlichen Gunst erfreute und noch unmittelbar vor¬
her anläßlich der kaiserlichen Gesandtschaft zu Bäte gezogen wurde 7 ),
erlebte er doch noch die bittere Enttäuschung, daß in der wichtigsten
*) Jagiellonki polskie, I 325, 334, 338.
*) Vgl. die Geschichte dieser Familie bei St. KossakowBki: Monografie histor
geneal. I, Warszawa 1876*.
*) Hosii Epistolae II nr. 1935 (1558); Ss. rer. Pol. XV 186 (P. Giovannmi's
Bericht über Polen 1565). Durch Hieronymus Chodkiewicz suchten seinerzeit Sigis¬
mund I. und Bona die Ehe ihres Sohnes mit Barbara Badziwili zu verhindern: vgl.
Jagiellonki I 348, 351.
4 ) Koesakowski, S. 46.
•) Karls V. Brief an Sigismund August 18. September 1555 in den Polonica;
vgL auch seine ausführliche Lebensbeschreibung im Privileg Sigismund Augusts
19. Dezember 1568 (Opisanije rukop. otdielenija Wilenskoj Pub*. Bibliotieki, IQ
8. 76/9).
•) 13. Juni 1566, Polonica.
*) Lachowicz, S. 280 (des Königs Brief vom 3. Mai 1565; der Fürst starb am
28. Mai).
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 639
innerpolitischen Frage Sigismund August nicht mehr auf ihn hörte,
sich in seinen Absichten nicht irre machen ließ 1 ). Es handelte sich
um den endgültigen Abschluß der Union Litauens mit Polen. Die
beiden schon seit 1386 mehr oder weniger eng verbundenen Seiche
sollten noch vor des letzten Jagellonen Tode durch einen klaren, ihrer
nunmehrigen inneren Entwicklungsstufe und äußeren politischen Lage
entsprechenden Vertrag für immer vereint werden 1 ).
Sigismund August hatte nicht immer mit dem gleichen Eifer nach
diesem Ziele gestrebt So lange die in Litauen erbliche Dynastie der
Jagellonen blühte, war mindestens die Personalunion beider Reiche ge¬
sichert, da man ja auch in Polen, wie schon erwähnt, nicht daran ge¬
dacht hatte, jemand anderen zu wählen. Für den Fall ihres Erlöschens
aber konnte es leicht zu einer Spaltung kommen, da die eine gemein¬
schaftliche Herrscherwahl bestimmende Union von 1501 von Litauen
nicht endgültig angenommen war und die letzte vorhergehende, von
1499, eigentlich nur ein loses Bündnis schuf. Außerdem kamen seit
dem Anfang der Sechzigeijahre, als des Königs Hoffnung auf Nach¬
kommenschaft immer aussichtsloser wurde, noch zwei Umstande hinzu,
die die Erneuerung und Festigung der Union unbedingt nötig machten.
Während dies erstens bisher gewöhnlich bloß ein einseitiges Streben
Polens war, dem sich die führenden Oligarchen Litauens widersetzten,
beginnt nun im Gegensätze zu diesen der gesamte litauische Adel eben¬
falls energisch nach einer engeren Vereinigung mit dem Bruderstaate,
Yor allem nach einem gemeinsamen Reichstage zu verlangen, schließt
sich sogar zu diesem Zwecke 1562 zu einer Konföderation zusammen s );
je mehr sich nämlich in Litauen die polnischen Kultur- und Verfassungs-
einflüsse verbreiteten, je mehr durch die allmählichen Konzessionen der
Reichsprivilegien und die, wenn auch langsame, Entwicklung des Par¬
lamentarismus die soziale Stellung des niedem Adels gehoben und sein
politisches Verständnis geschult wurde, umso imerträglicher mußte die
rücksichtslose, egoistische Magnatenherrschaft, die, wie wir sahen, schon
Herberstein entsprechend verurteilt hatte, allgemeine Unzufriedenheit
*) Lachowicz, S. 193.
*) Über die Gesamtgeschichb • der polnisch-litauischen Union vgl. die populäre,
aber gründliche und quellenmßOige Darstellung bei J. Zerbilio-Labunski: Unia
Litwy z Polskq, Warsz. 1913, sowie vor allem die neue, vorzügliche Arbeit St. Kofcrzeba’g
Unia Polski z Litwq, Krakdw 1915 (aus dem Sammelwerke: Polska i Litwa w dziejowym
stosunäu).
•) Archiv der Fürsten Czartoiyski in Krakau MS. 1604 pag. 68—74; vgL
meine Bearbeitung dieser für das Verhältnis des litauischen Adels zur Union ent¬
scheidenden Quelle im Przegl%d histor. XVO Heft 8.
640
Oskar Ritter v. H&iecki.
und Sehnsucht nach der in Polen herrschenden Freiheit erwecken.
Zweitens war Litauen als selbständiger Staat dem rastlosen Vorwärts-
drangen Moskaus nicht mehr gewachsen; zu allen übrigen Gebietsver-
lußten in diesen Kämpfen kam 1563 der Fall von Polock und die
ständige Bedrohung des kaum gewonnenen Livland. Hier konnte nur,
wie dies nicht viel später Stefan Bäthory’s Erfolge bewiesen, ein ge¬
meinsames Vorgehen Polens und Litauens Hilfe bringen.
Daher wurden einerseits des Königs Bemühungen, eine entsprechende
Union zustandezubringen, immer energischer und führten zunächst in
den Jahren 1564/6 zu durchgreifenden, ihren Abschluß vorbereitenden
Reformen in Litauen, welche die Übermacht des Hochadels einschränkten,
andererseits begannen auch nach und nach zahlreiche Magnaten die
Notwendigkeit der Union einzusehen, so daß ihre Gegner immer mehr
isoliert wurden. Es waren dies schon 1562 fast ausschließlich nur mehr
die Badziwiii und ihr unmittelbarer Anhang, die mächtigsten Oligarchen,
die eben am meisten zu verlieren hatten 1 ). Voll Erbitterung über die
Unionspläne, von denen er den König nicht mehr abbringen konnte,
über den wachsenden Einfluß der großen Massen des niederen Adels,
starb Nikolaus Badziwiii der Schwarze 2 ), die Leitung der Oppositions¬
partei seinem Vetter überlassend.
Es läßt sich nun nicht leugnen, daß die kaiserlichen Gesandten in
Polen, sogar der kluge Andreas Dudic, der seit 1565 unter ihnen die
Hauptrolle spielte, diese Verhältnisse nicht immer richtig zu beurteilen
wußten. Erstens überschätzten sie den polnisch-litauischen Gegensatz,
indem sie den Widerstand der allerdings noch immer übermächtigen
Badziwiii und ihrer Partei der Gesamtheit Litauens zuschrieben, zweitens
aber auch die Stärke der Moskau zuneigenden Partei unter den Litauern 1 ),
was zur Folge hatte, daß der Kaiser allzusehr mit der Gefahr einer
Kandidatur des Zaren auf den polnischen und litauischen Thron rechnete.
Diese letztere Partei ließ sich weniger von national-religiösen Motiven 4 ),
i) Die oben zitierte Adelskonföderation richtet sich vor allem gegen die
Badziwiii und betont eine sie erläuternde gleichzeitige Notiz im selben Manu sk ri pt
daß ganz Litauen nach der Union verlangte und nur einige Herren, Nikolaus der
Schwarze und der Rote und «1er ihnen stets zur Seite stehende Eustachius Wolowkx,
dagegen waren.
*) Sein politisches Credo, auch in Bezug auf die Union mit Polen, enthalten
seine Briefe an Nikolaus den Roten vom 22. Februar und 1. März 1565 im Bad»
riwiiTschen Archiv zu Nieswiei, Abteilung IV (Familienbriefe).
# ) Vgl. neben den vorhin zitierten Berichten Sauermanns von 1561, die da
DudiÖ von 1566 (z. B. 19. August, die interessante Stelle fol. 149 T ) und 1568
(6. Juni).
4 ) Die von der russischen Literatur geflissentlich verbreitete Behauptung von
der „russischen Irreden ta« im litauischen Staate ist dahin zu rektifizieren, daß es
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 641
wie Düdic meinte, als von der Hoffnung leiten, daß durch die mos-
kauißche Herrschaft die endlosen, aussichtslosen Kriege an der Ostgrenze
aufhören und die Macht des Hochadels gebrochen würde. Das Zu¬
standekommen der Union mit Polen, das ja in diesen beiden Bichtungen
Abhilfe brachte, mußte auch diese Strömung alsbald abschwächen.
Erst auf dem berühmten Beichstage zu Lublin im Jahre 1569
Batten die österreichischen Gesandten Gelegenheit, einen genaueren
'Einblick in diese Fragen zu gewinnen. Sie konnten sich nicht nur
überzeugen, wie schwach in Litauen die moskauische Partei war 1 ),
sondern es wurde ihnen auch allmählich klar, daß der Widerstand gegen
den Unionsabschluß, dessen Zeugen sie waren, nur von einigen Ma¬
gnaten genährt und geleitet wurde, während alle übrigen Litauer hiezu
geneigt waren 8 ). Daher kann man ihnen, wenn sie auch durch ihren
unbegründeten Optimismus die Aussichten der habsburgischen Sukzession
im Jagellonenreiche nicht entsprechend zu fordern wußten, auch vom
Standpunkt der österreichischen Interessen keineswegs den Vorwurf
machen, daß sie hiezu den polnisch-litauischen Konflikt nicht auszu¬
nützen verstanden hatten 8 ). Allerdings standen die hervorragendsten
Anhänger der Habsburger in Litauen, die Badziwilt und — wenn auch
nicht so hartnäckig — die Chodkiewicz an der Spitze der Oppositions¬
partei, welche im wohlverstandenen Klasseninteresse die Union mit
Polen so lose als möglich zu gestalten suchte; sie wußten aber selbst,
daß sie bei der Allgemeinheit des litauischen Adels auf keine Unter¬
stützung rechnen konnten 4 ), dieser drohte vielmehr im Gegenteil gegen
in Litauen keine russische (im heutigen Sinne des Wortes d. h. großrussische) Be¬
völkerung gab, sondern Weiß- und Kieinruthenen, die sich überdies kulturell von
•den großrussischen »Moskovitera« immer mehr entfernten. Die religiöse Gemein¬
tschaft (durch den griechisch-orientalischen Glauben) spielte wohl oft eine Bolle,
doch muß betont werden, daß manche der bedeutendsten Heerführer Litauens
gegen Moskau orthodoxen Glaubens waren und daß eben damals (1563) der letzte
liest einer politischen Beeinträchtigung des nichtkatholischen Adels in Litauen
.aufgehoben wurde.
*) Vgl. ihren Bericht vom 9. März 1569, Jagiellonki polskie V 251/2.
*) Ibidem, V 316.
•) Uebersberger, S. 384. Diese Auflassung ist dadurch zu erklären, daß der
'Verfasser im Abschnitte über die Union von Lublin den Ausführungen des russischen
Historikers L L Lappo: Wielikoje kniaiestwo litowskoje I, folgt, der in seiner
durchaus einseitigen Darstellung die Union als eine vollständig erzwungene, die
Opposition der Litauer als eine allgemeine und grundsätzliche zu schildern trachtet.
Über einige besonders strittige Punkte vgl. meine Arbeit: Przyi%czenie Podlasia,
Wofynia i Kijowszczyzny do Korony w r. 1569, Kraköw 1915, sowie den Aufsatz:
Unia lubelska, Kraköw 1916.
*) YgL s. B. das deutliche Eingeständnis im Briefe Ghodkiewicz's an Radzrwifl
6 . Juni 1569, Archeograficzesky sboraik k’istorii siewierozapadnoj Rusi, Wilna
1870, VH nr. 25. 40 *
642
Oskar Ritter y. HaleckL
jene Magnatenpartei aufs entschiedenste aufzutreten, falls sie den Ab¬
schluß der Union nochmals verzögern sollte 1 ). Bekanntlich kam es
auch schließlich zu einer Verständigung, die in den beiderseitigen denk¬
würdigen Unionsakten vom 1. Juli 1669 ihren Ausdruck fand; es hatten
aber diese Verhandlungen so lange gedauert, daß dem Reichstage keine
Zeit blieb, sich mit manchen anderen wichtigen Fragen, so auch der
Sukzession, zu beschäftigen. So hatten also die österreichischen Ge¬
sandten, von privaten Unterredungen mit dem Könige abgesehen, gar
keine Gelegenheit, in dieser Beziehung die Aussichten der Habsburger
zu fördern, und hätte ein Anschluß an die an Zahl so geringe und
schließlich auch überwundene litauische Opposition in diesem Augen¬
blicke, wo eine so gewaltige Mehrheit mit Sigismund August an der
Spitze nach der für beide Staaten so notwendigen Union strebte, ihrer
Sache nur Schaden gebracht
Übrigens dürften jene Führer des litauischen Hochadels in der für
sie so kritischen Zeit selbst wenig Lust gehabt haben, sich durch Ver¬
handlungen über die habsburgische Thronkandidatur von der sie mo¬
mentan in erster Linie beschäftigenden Unionsfrage ablenken zu lassen,
und beschränkt sich das, was wir in den stürmischen Monaten vor dem
Unionsabschlusse von ihren Beziehungen zum Kaiserhause wissen, auf
einen Brief Maximilians vom 5. Februar 1569 *), worin er dem Sohne
Nikolaus' des Schwarzen, Nikolaus Christoph Badziwil) mitteilt, daß er
zwei Pferde an ihn gesendet habe. Diese Artigkeit ist zugleich die
erste Spur einer Annäherung an den jungen Fürsten, der damals eine
noch wenig bedeutende Bolle spielte, aber bald darauf zu größtem An¬
sehen in Litauen gelangte und zum eifrigsten Anhänger der Habsburger
wurde.
Überhaupt wäre es ein Irrtum zu meinen, die litauischen Magnaten
hätten dadurch, daß sie bei der Union mit mancher für sie wichtigen
Forderung nicht durchdrangen, ihre bisherige Stellung im Großfürsten-
tume eingebüßt Es hatte sich wohl gezeigt daß sie die unumschränkte
Leitung der litauischen Politik verloren hatten, aber gerade um sie für
das Unionswerk zu gewinnen, hatte sie der König wieder einmal mit
hohen Würden und Güterverleihungen reich bedacht; so wurde z. B.
Füst Nikolaus Christoph eben auf dem Reichstage von Lublin litauischer
Hofmarschall 8 ). Für uns ist hiebei besonders interessant daß Sigismund
August der gesehen hatte, wie die Habsburger durch schön klingende
*) Archiv der Fürsten Cxartoryski in Krakau Ms. 1609 p. 1623.
*) Katalog der Raczynski’schen Bibliothek, 1. c.
*) Vgl. auch die kolossalen Güterverleihungen an J. H. Chodkiewicz im oben
zitierten Privileg vom 19. Dezember 1568.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 643
Adelstitel auf den Ehrgeiz dieser Herren zu wirken verstanden, in jenen
wichtigen Augenblicken ausnahmsweise dasselbe Mittel für seine Zwecke
anzuwenden begann, wenn es auch nicht nur in Polen, sondern auch
in Litauen ein ganz ungewöhnliches war. So erhob er vor dem Unions¬
reichstage den Johann Hieronymus Chodkiewicz, dessen Vater allerdings
schon ein Beichsgrafendiplom besaß, nun auch seinerseits, ohne diese kaiser¬
liche Standeserhöhung zu erwähnen, am 10. Juni 1568 zum Gräfin auf
Szklöw, Mysz, Bychöw und Hlusk 1 ), und nach dem Beichstage, am
5. November 1569, den Palatin Wasil Tyszkiewicz, der ebenfalls zur
Opposition gehört hatte, zum Grafen auf Lohojsk und Berdyczew*),
indem er betont, daß seine Grafenstandsverleihung mit einer kaiserlichen
gleichwertig sei
Nach dem Abschlüsse der Union von Lublin war aber wirklich
die Frage, wer des letzten Jagellonen Nachfolger werden sollte, für
alle, die die Stürme und Gefahren eines unvorbereiteten Interregnums
voraussahen, zum wichtigsten Probleme des Staatslebens geworden, das
aber leider auch auf den beiden letzten Beichstagen zur Zeit Sigismund
Augusts (1570 und 1572) infolge der von der protestantischen Partei
aufgeworfenen konfessionellen Fragen nicht gelöst werden konnte. Umso
ausgiebiger entwickelte sich daher in den letzten zweieinhalb Jahren
vor dem Aussterben der Dynastie die private Agitation der einzelnen
Parteien, bei der bekanntlich der rührige und scharf beobachtende, aber
mehr für Intriguen kleineren Maßstabes als für eine großzügige, takt¬
volle diplomatische Tätigkeit geeignete kaiserliche Besident, Abt Jo hann
Oyrus, eine in seinen zahlreichen Berichten an Maximilian deutlich zum
Ausdruck kommende Hauptrolle spielte 8 ).
Begreiflicherweise nahmen an dieser inoffiziellen Vorbereitung zur
kommenden Königswahl auch die führenden Magnaten Litauens her¬
vorragenden Anteil; konnte doch nichts ihre durch die Union gefährdete
Machtstellung so sehr stützen, als ein Herrscher, der ihren Interessen
entsprechen würde und dem gerade sie zum Thron verholfen hätten.
Und wirklich beweist ein Brief des Johann Chodkiewicz an Nikolaus
Badziwiil den Boten vom 15. Oktober 1569 4 ), daß schon damals, kaum
zwei Monate nach dem Ende des Lubliner Reichstages, die vor den
Polen streng geheimgehaltenen Intriguen der litauischen Herren in der
*) EoesakowBki: Monografie hist, geneal. 1 46 Anm. Das Diplom publiziert
bei J. Malinowskg: Sboraik matierialow k* istorii panow rady, S. 78.
*) AusfÜhrl. Auszug aus dem Diplom bei J. Lappo, o. c., S. 717 Anm. 1.
•) Die Charakteristik Cyrus’ bei Szujski: Stosunki dyplom., 8. 393; W. Zakr-
zewski: Po ucieczce Henryks, Krakdw 1878, S. 96; Uebersberger, S. 386/6.
4 ) Archeograficzeskü Sbornik, VH nr. 28.
644
Oskar Ritttr ▼. HaleckL
Frage der Königswahl in vollem Gange waren. Er beweist aber dabei
auch, daß ein Umstand all ihre Bemühungen un gemein erschweren
mußte, nämlich der Mangel an Solidarität und vor allem an gegen¬
seitigem Vertrauen zwischen den einzelnen Familien, So lange es sich
um die Union mit Polen handelte, war ein vorübergehendes Einver¬
ständnis zwischen den Radziwiü und Ghodkiewicz noch eher möglich
gewesen 1 ), obwohl hiebei letztere in ihrer Opposition keineswegs so
weit gingen wie jene; jetzt aber, wo es sich in geheimem, ränkevollen
politischen Spiele um den zukünftigen Einfluß unter einem neuen
Herrscher handeln mußte, waren alle kleinlichen Rivalitäten wieder an
der Tagesordnung. So z. B. besteht der Hauptinhalt des erwähnten
Schreibens in überschwänglichen Versicherungen Chodkiewicz’s, daß der
Argwohn des Fürsten Nikolaus, er verrate ihre Geheimnisse in der
Sukzessionsfrage den Polen, vollkommen unbegründet sei!
Aber der stille Kampf zwischen diesen beiden scheinbar verbündeten
Familien, den uns erst Cyrus’ Berichte ganz entschleiern werden, sowie
ihr gemeinsamer Gegensatz zur polenfreundlichen Partei war nicht der
einzige innere Zwist, der die Bedeutung des litauischen Hochadels im
entscheidenden Augenblicke schwächen mußte. Vor allem waren es
die alten dynastischen Fürstengeschlechter, die eine ausgesprochene
Sonderstellung einnahmen. Schon während des Reichstages zu Lublin
waren die Mißhelligkeiten zwischen den litauischen Herrengeschlechtem
und den stolzen Fürstenhäusern der Slucki und Ostrogski zu Tage ge¬
treten 8 ) und sollten sich während des Interregnums erst recht fühlbar
machen. Zwar war mehr oder weniger für alle ein Habsburger der
erwünschteste Kandidat, aber unmöglich war es, aus den verschiedenen
sich bekämpfenden Familiengruppen eine einheitlich wirkende Partei
zu bilden
Von den litauisch-ruthenischen Fürsten war der mächtigste und
reichste Konstantin Ostrogski, der allerdings durch die Einverleibung
der Palatinate Wolhynien und Kiew, wo er seine Würden und Güter
innehatte, in die polnische Reichshälfte, zu einem Senator der Krone
Polen geworden war. Er wäre vielleicht am leichtesten für die kaiser¬
lichen Pläne zu gewinnen gewesen, da er gerade in jenen Jahren ohnehin
mit Maximilian IL verhandelte, um die in Böhmen gelegenen Raudnits’er
Güter, die er von den Tamowski geerbt hatte, übernehmen zu können 8 );
t) Ibid., nr. 21, 22, 23, 25.
*) Dniewnik Lubünskawo sejma 1569 goda (ed. Kojaiowic* 1869), S. 8»
119/20.
») Vgl. die Briefe Sigismund Augusts, 1567/8, in der Biblioteka ordyn. Km*
ginskich 1872, S. 208, 210; sowie die Briefe des Kaisen und Ostrogakis vom
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 645
wir finden aber in den Berichten des Cyrus keine Nachricht, daß er
versucht hätte, sich diesem Fürsten zu nahem, um die alten Be¬
ziehungen seiner Familie zum Hause Österreich, deren wir schon einmal
gedachten 1 ), bei dieser Gelegenheit aufzufrischen. Auch von Ostrogakis
Verwandten, dem tüchtigen, durch seine Siege über Moskau berühmten
litauischen Feldherra Fürsten Boman Sanguszko, der allerdings schon
1571 starb, weiß er nur zu berichten, wie gerne er auch gegen die
Türken zum Schwerte greifen würde 9 ), was gewiß geeignet war, ihn
für die habsburgische Kandidatur, die ja stets den Bruch mit den
Osmanen zur Folge zu haben schien, günstig zu stimmen. Ebenso ge¬
wann es keine konkrete Bedeutung, daß Fürst Andreas Kurbskij, der
seinerzeit von Moskau nach Litauen geflohen war, an den kaiserlichen
Gesandten mit dem Plane herantrat, Maximilian IL solle zwischen Polen
und Moskau vermitteln, um eine allgemeine Türkenliga zustandezu¬
bringen; wurde doch Kurbskij's Absicht, behufs näherer Verständigung
zum Kaiser zu fahren, nicht verwirklicht s ). So beschränkten sich denn
schließlich des Abtes Cyrus Bemühungen und Informationen, soweit sie
die Magnaten der litauischen Reichshälfte betrafen, fast ausschließlich
auf jene zwei politisch am meisten tätigen Familien der Radziwili und
Chodkiewicz.
Aber selbst was diese betraf, war er sich anfangs nicht ganz im
klaren, obwohl er sich Anfang 1570 längere Zeit in Wilna aufhielt,
um die Absichten der eben dort versammelten litauischen Herren zu
erforschen 4 ). Auch er überschätzte wenigstens in den ersten Monaten
seiner diplomatischen Tätigkeit die Stärke der moskauischen Partei in
Litauen; teilweise schien ihm ferner der dortige Adel für die Kandidatur
Johann Sigismund Zäpolya’s eingenommen zu sein, während er die An¬
hänger der Habsburger eher in Großpolen suchte 5 ). Erst Mitte 1571
beginnt in seinen Berichten die Überzeugung aufeutauchen, daß man
2. Juni 1570 und 2. Februar 1571 in den Polonica. Ferner Jagiellonki polakie V
8 . CXLHL
*) Vgl. auch die Fürsprache, welche 1553 Ferdinand L bei Sigismund August
für Ostrogski einlegte, Jagiellonki Y S. CXXXVIL
*) Bericht vom 21. März 1571, Polonica (»vir heroicus et spirans odium
quoddam erga hostes crucis Christi«).
*) Außer den von Szujski in den Ss. rer. pol. I 134/5, 141 angegebenen
Stellen sind auch die von Uebersberger, 8 . 398 Anm T 1 , zitierten interessanten Be¬
richte vom 26. November 1569, 8. Jänner und 31. Jänner 1570 in den Polonica
zu berücksichtigen.
4 ) Bericht vom 8 . Jänner 1570, Polonica.
•) Ss. rer. PoL I 134, 137; des Kaisers Brief nn Cyrus vom 13. Jänner 1570
in den Polonica.
646
Oskar Ritter v. Halecki.
gerade von den Litauern die Wahl eines der Sohne des Kaisers am
sichersten erwarten könne; wie er zu dieser Anschauung gelangte und
warum er hiemit manche irrtümliche Vorstellung verknüpfte, erkürt
uns sein hochinteressantes, bisher ganz unberücksichtigtes Schreiben an
Maximilian vom 19. Juni 1571 1 ).
Er berichtet darin von einer bedeutungsvollen Unterredung mit
dem litauischen Sekretär Mathias Sawicki, einer wenig bekannten, aber
damals außerordentlich einflußreichen Persönlichkeit Einer ganz unbe¬
deutenden, polnischen Adelsfamilie Podlachiens entstammend, war er
am Hofe Nikolaus Badziwiii des Schwarzen aufgewachsen, in dessen
Kanzlei er Verwendung fand und dessen Gunst und Vertrauen er rasch
zu gewinnen wußte; als „homo ingeniosus“, wie ihn Cyrus mit Becht
nennt, benützte er dies, um in seiner heimatlichen Provinz verschiedene
Landesämter, sowie die Würde eines litauischen Beichssekretärs zu er¬
langen, sein Vermögen schnell zu vermehren und in beiden Beichs-
halften Güter anzukaufen; als Podlachien bei der Union von 1569 an
Pblen kam, hatte er es äußerst geschickt verstanden, sich beiden Parteien
anzupassen und sowohl des Königs, als auch der Badziwiii Gunst zu
bewahren, und sollte der kluge Emporkömmling schon binnen wenigen
Jahren als Kastellan von Podlachien sogar Senator werden*). Wenn
auch sein usprünglicher Protektor nicht mehr lebte, war er doch durch
seine vertrauten Beziehungen zu dessen Sohne Nikolaus Christoph und
überhaupt zu allen Badziwiii noch immer in die geheimsten Plane
dieses Hauses eingeweiht und wurde jetzt dazu ausersehen, in der
Sukzessionsfrage zwischen ihnen und dem Vertreter des Kaisers zu ver¬
mitteln.
Die Eröffnungen, die er bei seiner Besprechung mit Cyrus machte,
sind ein klarer Beweis, daß jene geheime, die Thronfolge betreffende
Aktion der Badziwiii, die, wie wir sahen, nach 1569 begonnen hatte,
wirklich die Wahl eines Habsburgers zum Ziele hatte. Er erklärte
nämlich gleich am Anfänge, daß die Litauer, worunter natürlich die
Partei der Badziwiii zu verstehen ist, niemand anderen zum Nachfolger
Sigismund Augusts haben wollen, als einen Sohn des Kaisers, am
liebsten Erzherzog Emst, den einst Nikolaus der Schwarze aus der
Taufe gehoben hatte; seine Wahl würden sie gegebenen Falls gegen
Moskau und gegen die anderen Parteien in Polen durchzusetzen wissen.
J ) Polonica.
*) In dieser Würde Unterzeichnete er am 31. Dezember 1576 das Wahldekret
M a ximilians (Uchansciana, II nr. 154). Nähere Angaben über Sawickis Herkunft
und seine Rolle auf dem Reichstage zu Lublin in meinem Buche: Pr*yi%c*enie
Podlasia, Wolynia i Kijowszczyzny, S. 74/6.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 647
Sofort deutete er aber auch au, was der Preis für eine so energische
Unterstützung der habsburgischen Kandidatur sein sollte; getreu der
zweideutigen Bolle, die er als Vertrauensmann der Radziwiii schon auf
dem Lubliner Reichstage gespielt hatte, erhob nämlich Sawicki, trotz
«einer polnischen Herkunft und trotz des vom König reichlich belohnten
JEides der Treue, den er damals der Krone Polen geleistet hatte, die
ungeheuerlichsten Anschuldigungen gegen die Polen, die heftigsten
Torwürfe gegen die kaum abgeschlossene Union, die eine demütigende
Knechtung Litauens bedeuten solle. Wir hören zwar noch nichts von
Jenen genauen, das Verhältnis zu Polen betreffenden Bedingungen, die
1572 von der Partei der Radziwiii dem Kaiser gestellt wurden, aber
«8 kam schon zum Ausdrucke, daß sie für den Fall der Wahl eines
Habsburgers auf eine Abänderung des Unionsvertrages rechnete. Sawicki
wurde nicht müde, dem Kaiser, dem er auch die problematische Aus¬
sicht, von Litauen aus ganz Moskau zu erobern, in Aussicht stellte,
durch Cyrus die Angelegenheit der Wahl seines Sohnes auf den polnisch-
litauischen Thron angelegentlich ans Herz legen zu lassen, betonte
•sogar, daß der Erzherzog recht gut tschechisch lernen sollte, um sich
mit seinen künftigen Untertanen halbwegs verständigen zu können. In
wessen Aufträge er aber dies alles vorbrachte, bewiesen, wenn es noch
nötig gewesen wäre, seine Schlußbemerkungen. Erstens gab er deutlich
zu verstehen, daß das beste Mittel, sich jene Wahl zu sichern, darin
bestehe, das Haus der Radziwiii — „quae praecipua authoritate in ea
natione polleat" — durch „Wohltaten" zu gewinnen, hiezu z. B. den
Aufenthalt der drei jüngeren Brüder des Fürsten Nikolaus Christoph
an der Universität Leipzig 1 ) zu benützen. Inzwischen aber warnte er
Cyrus vor jenem anderen mächtigen litauischen Magnaten, mit dem die
Sadziwitt noch vor kurzem scheinbar zusammenwirkten, dessen mit der
ihrigen rivalisierende Stellung sie aber im Vorhinein untergraben
wollten; vollkommen grundlos, in rücksichtsloser Entstellung der Tat¬
sachen beschuldigte Sawicki den uns wohl bekannten Johann Chod-
üewicz, daß er, obwohl ein „homo novus", nach Sigismund Augusts
Tode, der nach Voraussagen der Astrologen binnen Jahresfrist eintreten
werde, die Herrschaft über das Großfürstentum Litauen anzustreben be¬
absichtige, daß er aber allgemein verhaßt sei, man seine Tyrannei be¬
fürchte, weil er am Blutvergießen Vergnügen finde, daß er die Ver¬
waltung Livlands aufs nachlässigste führe, in Schulden stecke u. s. w.
*) 1570/2 sind dort Georg, Albert und Stanislaus Radziwiii, Fügten auf Olyka
und Nieswici, Grafen auf Szydiowiec, immatrikuliert (Metrica nec non über na-
tionis PoL nniv. Lipsiensis, Archiwum do dziejöw liter. i oswiaty w Polsce H).
648
Oskar Ritter v. HaleckL
Cyrus brauchte nicht viel diplomatische Fähigkeiten, um angesichts
dieser Ausführungen den rücksichtslosen Eigennutz, die gegenseitige
Eifersucht der litauischen Magnaten, den Ehrgeiz Sawicki’s selbst zu
durchblicken, was er auch hierauf in seinem Berichte an Maximilian
offen aussprach; ebenso bemerkte er wohl die gehässigen Übertreibungen
in den erwähnten Behauptungen über die Union von Lublin und er¬
widerte daher in richtigem Verständnis ihrer weltgeschichtlichen Be¬
deutung, daß sein kaiserlicher Herr die Aufrechtarhaltung der Eintracht
zwischen Polen und Litauen wünsche, die nur so vereint , vallum um-
nitissimum contra paganos" bilden können» Wenn er sich aber auch
überhaupt Sawicki gegenüber wenigstens anfangs einer vorsichtigen
Zurückhaltung befleißigte, so riet er doch dem Kaiser, dem er diese
geheime Unterredung ausführlich mitteilte, die vom Vertrauensmann?
der Badziwiit gemachten Eröffnungen wohl zu berücksichtigen uni
auazunützen. Ja man kann sogar mit Hilfe von Cyrus' spateren Be¬
richten unzweifelhaft feststellen, daß er selbst sich immer stärker in
dieser Richtung beeinflussen ließ: schon am 11. Juli *) wiederholt er
in seinem Schreiben an den Kaiser die merkwürdigerweise eingetzoffeoe.
ihm — wie wir sahen — von Sawicki mitgeteilte Prophezeiung, da:-
der König bloß ein Jahr mehr zn leben habe, und stellt es schon £5
ganz unzweifelhaft hin, daß die Litauer, stets bereit, bei entsprechender
Gelegenheit die Union zu lösen, im Falle daß die Polen einen anderen
König wählen würden als einen der österreichischen Erzherzoge, «Li
von ihnen trennen und einen eigenen Herrscher, selbstverständlich einen
Habsburger, auf den litauischen Thron erheben würden, wobei sie
den Anschluß Preußens und Livlands hoffen. Welche Bedeutung aber
Maximilian selbst diesen Aussichten und Nachrichten zuschrieb, erhell:
aus seinem Antwortschreiben an Cyrus vom 21. Juli 2 ); er fordert
nämlich seinen Gesandten auf, auch fernerhin jenen Mathias Sa wies:
in seinen Sympathien und seiner Dienstbereitschaft für das Haus Ham¬
burg zu bestärken und ihm in entsprechenden Worten die hohe Gus^
deren sich beim Kaiser die Familie Badziwiii erfreue, zu Schilden.
Und auch spater noch, in den letzten Monaten Sigismund Anguss,
betont Cyrus immer wieder ’), daß die Litauer erstens zu den eifrigster
Anhängern der habsburgischen Kandidatur gehören und zweitens
Union von Lublin rückgängig machen wollen.
*) Polonkau
*) Polonica.
■) Z. B. in seinen Berichten über den Reichstag von 1572, 11. April. 14. lü-
Polonica.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 649
Während sich aber der kaiserliche Gesandte selbst eigentlich nur
auf Erkundigungen, Unterredungen wie die mit Sawicki und Berichte
an Maximilian beschränkte, entwickelte jemand anderer eine viel kon¬
kretere Tätigkeit, um den Habsburgem die Nachfolge nach Sigismund
August zu sichern. Es war dies der päpstliche Nuntius Commendone,
der eben damals zum zweiten Male im Jagellonenreiche weilte und
schon während seiner ersten dortigen Legation, in den Jahren 1563/5,
für die Zukunftsaussichten des Hauses Österreich vorgearbeitet hatte.
Jetzt, da der entscheidende Zeitpunkt nahte, trachtete er aufs eifrigste,
sowohl in der polnischen, wie auch in der litauischen Reichshälfte für
das herannahende Interregnum eine starke österreichische Partei zu
bilden, und meinte wohl ebenso wie Cyrus, daß in Litauen nur die
seit Jahrzehnten dem Hause Habsburg nahestehenden Radziwitt ihren
sicheren Grundstock bilden konnten; besser aber als dieser erkannte
er, daß es auch unumgänglich nötig war, dem inneren Hader zwischen
den litauischen Herrengeschlechtem ein Ende zu machen, vor allem
zwischen den Radziwilt und den ja ebenfalls zu Österreich gravitierenden
Ghodkiewicz ein aufrichtiges Einvernehmen herzustellen und der gegen¬
seitigen Mißgunst, die wir so deutlich in Sawicki’s Anschuldigungen zu
Tage treten sahen, endlich abzuhelfen.
In diesem Wunsche begegnete er den gleichfalls dahin ge¬
richteten Bestrebungen des jungen Fürsten Nikolaus Christoph Rad-
ziwitt, der ebenfalls, wie seine Privatkorrespondenz deutlich beweist l ) r
ein gegenseitiges Einverständnis zwischen den litauischen Magnaten
für entscheidend wichtig hielt und in diesem Sinne auf seinen
Oheim Nikolaus den Roten zu wirken suchte. Da es ebendieselben
Briefe auch ganz unzweifelhaft machen, daß er wirklich die Wahl
eines Herrschers aus der „domus Austriaca* für die einzig wünschens¬
werte hielt *), hatte Commendone vollkommen recht, daß er bei
ihm mit seinen Bemühungen den Anfang machte. Und wirklich er¬
klärte sich der Sohn Nikolaus des Schwarzen nicht nur für seine
Person zur Unterstützung der östereichischen Kandidatur bereit, sondern
meinte auch, daß das Haupt der Familie Chodkiewicz, Graf Johann
Hieronymus, ebenfalls leicht zu gewinnen wäre, da er nichts heftiger
befürchte, als einen Sieg der Anhänger Moskaus 8 ). Bekanntlich 4 ) kam
*) A. Traczewskij: Polskoje biezkorolewie, Moskwa 1863, Beilage 4, 6, 7.
*) Ibidem, Beilage 4 (Brief an Nikolaus den Roten vom 15. Juli 1672).
*) Vgl. ebendort Beilage 9 (Brief Chodkiewicz’s vom 31. August 1572). Schon
1570 hatten sich beide Herren einander genähert, vgl. Archeograf. Sboraik VH
nr. 29, 30.
*) A. M. Gratiani: De vita J. F. Commendoni cardinalis, Patavii 1685, S. 364
—370 (Buch 4, Kap. 3).
•650
Oskar Ritter v. Halecki.
es alsbald, noch zu Lebzeiten Sigismund Augusts, auf einer geheimnis¬
vollen Zusammenkunft im Wäldchen, wo sich der päpstliche Legat zu
ergehen pflegte, nicht nur zu einer Verständigung zwischen Badziwill
und Chodkiewicz, sondern auch zu einer gemeinsamen Vereinbarung
mit Commendone, betreffend die Wahl eines Sohnes Maximilians: ohne
auf die Entscheidung der Polen zu warten, sollte er sofort nach des
Königs Tode zum Großfürsten von Litauen gewählt werden, was dann,
unterstützt durch die Bereitschaft eines größeren Heeres, gewiß zur
Folge hätte, daß er nachträglich auch in Polen zum Könige gewählt
würde. Es sollte also dasselbe Mittel angewendet werden, dessen sich
seinerzeit Sigismund L zweimal mit vollkommenem Erfolge bedient
hatte, zunächst im Jahre 1506, als er sich nach seines Bruders Ale¬
xander Tode zuerst in Wilna von den Litauern zum Großfürsten
wählen ließ, um seine Wahl zum König von Polen unzweifelhaft zu
machen x ), und hierauf 1529, als er es durch die Erhebung seines neun¬
jährigen Sohnes auf den litauischen Großfürstenstuhl durchzusetzen
wußte, daß dieser auch in Polen schon damals, zu Lebzeiten seines
Vaters gewählt und gekrönt wurde *).
Trotz dieser Analogien in der Geschichte der Jagellonen, auf die
man damals hinwies, muß nachdrücklich betont werden, daß diesmal
der scheinbar so ähnliche Plan einen weit bedenklicheren Staatsstreich 9 )
ankündigte. Handelte es sich doch zu Sigismund L Zeiten um das
angestammte Herrscherhaus, das ohnehin nicht ernstlich zu fürchten
brauchte, bei der Königswahl zu unterliegen, sondern nur formell seine
dynastische Stellung dem polnischen Wahlrechte gegenüber starken
wollte und in Litauen ohnehin ein erbliches Recht auf den Thron
besaß; außerdem aber hatten doch die Litauer, die sich bei jenen Prä-
zedenzfallen darauf berufen konnten, daß sie die Union von 1501 nicht
angenommen hatten, nunmehr zu Lublin feierlich beschworen, daß sie
von nun an stets gemeinsam mit den Polen den gemeinsamen Herrscher
wählen würden; es hätte also die Erfüllung des mit Commendone be-
i) L. Finkei: Elekcya Zygmunta I, Kraköw 1910.
*) L. Kolankowski: Zygmunt August w. ks. Litwy do r. 1648, I Sukcesor
Zygmunta I.
*) ln Polen war man sich auch dessen wohl bewußt; so heißt es in der In¬
struktion der Wojewodschaft Reußen für den Konvokationsreichstag (14. Dezember
1572, bei Noailles: Henri de Yalois et la Pologne en 1572, II T Documenta, Paris
1867, S. 235) ausdrücklich, daß in den früheren Fällen, »da es sich um Söhne oder
Brüder der königlichen Dynastie handelte, dies leicht geduldet wurde, jetzt aber
eine olia fades rerum sei, weil wir uns von anderswo einen Herrscher suchen müssen,
den sie mit uns gemeinsam haben sollen«. Daher meinte man sogar, sich zu einer
Konföderation zusammenschließen zu sollen, um jenen Plan zu verhindern.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc, 051
sprochenen Planes einen unzweifelhaften Bruch des Unions Vertrages
von 1569 bedeutet und das mühevolle Lebenswerk des letzten Jagellonen,
dessen Heilighaltung er in seinem Testamente seinen Völkern in so
ergreifenden Worten ans Herz legte, wäre in kürzester Zeit zerstört
worden. Um aber die Qesamtlage richtig zu verstehen, die Politik der
litauischen Magnaten, ihre Ziele und Aussichten beurteilen zu können,
sowie zu unterscheiden, ob auf diesem Wege, der dem Kaiser von allem
A n fän ge an bedenklich schien, die Habsburger wirklich den polnisch¬
litauischen Thron gewinnen konnten, müssen folgende zwei Fragen
beantwortet werden: wie weit die Radziwitt und Chodkiewicz in ihrer
Aktion gegen den Lubliner Unionsvertrag gehen, ob sie ihn vollständig
lösen oder nur in gewissen Punkten abändern wollten, und inwieweit
sich die übrigen Litauer mit ihnen solidarisierten, ob das ganze Land
ihren Standpunkt teilte.
Commendone’s Biograph, sein Sekretär Graziani, dem wir die Schil¬
derung jener geheimen Zusammenkunft verdanken, behauptet, daß die
beiden litauischen Magnaten hiebei anfangs den Wunsch äußerten,
überhaupt einen selbständigen Herrscher in Litauen zu haben, da ihr
Land durch die Verbindung mit Polen nur Schaden gelitten habe; erst
Commendone, der eine Schwächung beider Länder oder gar einen Krieg
zwischen ihnen befürchtete, hätte sie dazugebracht, daß sie dies dem
Kaiser selbst anheimzustellen beschlossen. Man müßte also meinen, daß
ihre eigentliche Absicht dahin gegangen sei, den gewählten Erzherzog
ausschließlich in Litauen zu behalten und nicht einmal eine Personal¬
union mit Polen zu dulden. Leicht läßt sich aber erweisen, daß Graziani
in diesem Punkte, wohl um ein neues Verdienst seines Herrn hervor¬
heben zu können, unbedingt übertrieben hat In einem der Briefe, die
Fürst Nikolaus Christoph gleich nach Sigismund Augusts Tode streng
vertraulich an seinen Oheim schrieb, finden wir z. B. die Ansicht aus¬
gesprochen, daß auch ein Vertreter Litauens an den ersten Beratungen
der Polen während des Interregnums teilnehmen solle, um diese zu
überzeugen, daß man von litauischer Seite die Union keineswegs zer¬
reißen wolle *); allerdings betont er fast gleichzeitig, daß man die Ge¬
legenheit benützen müsse, um eine für Litauen günstige Abänderung
dieser Union durchzusetzen *), und meint, daß es ganz gut wäre, wenn
die Wahl des neuen Herrscheis in beiden Beichshälften getrennt statt-
fande, weil ja dann eben je: er Plan, durch die Wahl eines Habsburgers
von Seiten der Litauer auf die Polen einen Druck auszuüben, am besten
i) Tracaewak\j, Beilage 6 (18. Juli 1572).
») Ibid., Beilage 4 (15. Juli 1572).
652
Oskar Bitter v. Halecki.
gelingen konnte. Der radikalste Schritt, an den er denkt, wäre nach
seinen eigenen Ausführungen der, die Polen nötigen Falles durch Waffen¬
gewalt zur Annahme des von den Litauern gewählten österreichischen
Kandidaten zu zwingen x ); so sehr aber dieser Gedanke dem Geiste der
Union widerspricht, ebenso deutlich beweist er, daß auch Badziwili an
keine vollkommene Trennung beider Beiche dachte.
Übrigens stünde dies mit dem vorhin skizzierten Plane, der eben
den Gegenstand der Verhandlungen mit Commendone bildete, in un¬
vereinbarem Widerspruche, während die konkreten Forderungen der
litauischen Magnaten, die Graziani im weiteren* Verlaufe seiner Schil¬
derung angibt, in Übereinstimmung mit jenem Plane deutlich erkennen
lassen, um was es sich ihnen in Wirklichkeit handelte. Diese von ihm
nur kurz dargestellten Wünsche erscheinen aber auch vor allem deshalb
als einzig glaubwürdig, weil sie, in allerdings viel eingehenderer Form,
in einem Dokumente vollständige Bestätigung finden, das während der
beiden ersten Interregna für die Beziehungen des litauischen Hochadeb
zur habsburgischen Kandidatur von hervorragender Bedeutung war. Es
sind dies die * Articuli, quos proceres Lythuanici sibi ante eleetionem
iureiurando confirmari postulant“, die sie schon 1572, jedenfalls gleich
nach des Königs Tode (7. Juli), nach Wien sandten *) und deren Ent¬
stehung, wie wir sehen, auf jene ersten Verhandlungen mit Commen¬
done, zu Lebzeiten Sigismund Augusts, zurückgehen muß. Daher ver¬
dienen ihre einzelnen Punkte kurz besprochen zu werden.
Die ersten zwei, Aufrechterhaltung der „eleetio libera* und aller
von den vorhergehenden Großfürsten von Litauen, und Königen von
Polen verliehenen Freiheiten und Privilegien, sind bloß jene selbstver¬
ständlichen Garantien, welche sowohl die Polen wie die Litauer vor
der Wahl jedes neuen Herechers verlangten. Aber schon der dritte
fordert in entschiedenen Worten eine „reformatio* der polnisch-litauischen
i) Ibid., Beilage 6 (29. Juli 1572).
*) Polonica, 1572 ohne Datum (fiasc. 10, conv. h., fol. 101); vielleicht ist dies
eben jenes Dokument, das — wie Nikolaus Christoph Raddwill 29. Juli sehnet
— Nikolaus der Bote an den kaiserlichen Gesandten schickte. Es ist höchst be¬
zeichnend, daß, als später die litauischen Magnaten zur Partei Heinrichs von Vs km
übergingen, sie sich von dem französischen Gesandten eine Deklaration Kussteüen
ließen (26. April 1573), in der ihnen die Erfüllung genau derselben Wünsche und
Bedingungen zugesichert wird (Noailles: Henri de Valois et la Pologne, III 399—
402); dort finden wir auch einen weiteren Beweis, daß, wie unten im Texte nach
gewiesen werden wird, alle diese Forderungen bloß von der Partei der Badziwili nmi
Chodkiewicz ausgingen: Monluc und Lansac erklären ja ausdrücklich, daß sie diese
Deklaration ausstellen, um die einflußreichsten Würdenträger Litauens, Nikolaus
Badziwili und Johann Chodkiewicz, für die französische Kandidatur zu gewinnest
Die Be p^ ^gat *» rra EvXfcikÄ fcc. (v\i
Union, nicht ihre Auflösung. wohl aber eine Abänderung der »Unictas-
üannel* von 1569, die. wie hier behauptet wurde, eine »inhoncma
subiecto* Litauens bedeute. Wie übertrieben diese Behauptung war. erhellt
am besten darant daß ja im Labliner Vertrage keineswegs litancn dem
polnischen Reiche ein verleibt wurde, wie dies eine radikale Partei in
Polen öfter verlangt hatte, sondern ein ausgesprochen dualistischer
Staat gebildet wurde, dessen eine Hälfte eben auch fernerhin das »Givxß-
fÜrstentum Litauen* mit eigener Regierung, eigenem Heere und Finanzen,
•eigenem Rechte und eigener Staatssprache bildete. Womit aber die
litauischen Magnaten so unzufrieden waren, führten sie im folgenden
•eingehend ans. Unleidlich schien es ihnen, daß nur mehr ein gemein¬
samer polnisch-litauischer Reichstag bestehen sollte, wonach allerdings
der litauische Adel — gegen ihren Willen — schon seit Jahren ver¬
langt hatte, und wollten sie die ehemaligen, gesonderten litauischen
Reichstage wieder emgeführt haben: auf diesen hatten natürlich der
Hochadel, die Ratsherren und erblichen, aristokratischen Mitglieder, die
führende Rolle gespielt, wahrend im gemeinsamen, nach polnischem
.Muster, die Landbotenkammer, die Vertreter der Allgemeinheit des Adels
einen entscheidenden Einfluß hatten. Ferner sollten die vier 1569 Polen
•einverleibten Palatinale Podlachien. Wolhynien, Bractaw und Kiew
wieder der litauischen Reichshälfte zufallen, sowie auch das gemeinsame
-Reichsland Livland ausschließlicher Besitz Litauens werden. Schließlich
verlangte man, daß alle Würden und Ämter im Großfürstentum nur
mit .Einheimischen besetzt werden sollten; zwar war es ja auch ein
Hauptgrundsatz der polnischen Verfassung, daß in jedem Gebiete, jeder
Provinz des Reiches nur ein dort Ansässiger ein Amt erhalten konnte,
aber den exklusiven litauischen Magnaten genügte dies nicht: nicht
jeder, der in Litauen ein Gut besaß, sollte dort ein amtsf&higer „In-
digenar« sein, sondern nur ein solcher Edelmann, dessen Geschlecht seit
vier Generationen daselbst lebte! Die übrigen Wahlbedingungen, wie
•Gleichberechtigung der Griechisch-Orthodoxen, Aufrechterhaltung des
alten Fürstenstandes, waren nicht mehr gegen Polen gerichtet
Der Standpunkt der Partei der Radziwitt und Chodkiewicz läßt
«ich also dahin znsammenfaisen, daß der Zusammenhang mit Polen
xwar aufrechterhalten, aber alles rückgängig gemacht werden sollte,
wodurch zu Lublin die bisherige Magnatenherrschaft in Litauen geschwächt
worden war, und die strittigen Territorien, die 1569 Polen zufielen,
wieder an Litauen fallen sollten. Die Annahme dieser Bedingungen,
die, wie es am Ende hieß, der kaiserliche Gesandte garantieren und der
Thronkandidat vor dem Regierungsantritte beschwören mußte, war also
der Preis, um den der Kaiser jene mächtigen Geschlechter des Groß-
654
Oskar Bitter ▼. Halecki.
fürstentums, mit denen die Habsburger schon seit so langer Zeit
nahe Beziehungen angeknüpft hatten, für die rückhaltslose Unter¬
stützung der österreichischen Kandidatur auf den Thron der Jagellonen
gewinnen konnte. Konnte aber diese Unterstützung wirklich den er¬
wünschten Erfolg gewährleisten? Um dies zu entscheiden, muß jene
zweite vorhin gestellte Frage beantwortet werden, ob nämlich der Stand¬
punkt der Herren, mit denen Commendone verhandelt hatte, auch der
ganz Litauens war. Nur in diesem Falle war ja mit ihrer Hilfe die
Wahl eines Habsburgers im GroßfÜrstentume und ein entsprechender
Druck auf die polnische Keichshälfte durchführbar.
Wieder kann uns zunächst die Korrespondenz des Fürsten Niko¬
laus Christoph Aufschluß geben. Vor allem ist daraus zu entnehmen*
daß nicht 4 einmal die Verständigung der Familien Badziwiii und Chod-
kiewicz eine vollständige war, da ja der Fürst seinen Oheim, den Pa¬
latin von Wilna, erst dringend bitten muß, sich um des gemeinsamen
Zieles willen mit Johann Chodkiewicz, dessen guten Willen er betont
ins Eivemehmen zu setzen 1 ). Ebenso hält er es aber auch für dringend
nötig, sich auch mit den anderen, den Badziwili bisher feindlichen
Magnatengeschlechtem, vor allem mit dem Fürsten Siucki, auszu¬
söhnen *); wenn er dies aber auch anfangs für leicht möglich hielt, so
mußte er einige Monate später selbst seinen Oheim warnen, daß ihren
Gegnern, den Hlebowicz, sowie den Fürsten Stucki und Ostrogski nicht
zu trauen sei, daß diese sogar im Stande wären, Nikolaus Badziwili
und Johann Chodkiewicz, als die höchsten und einflußreichsten Würden¬
träger, gewaltsam aus dem Wege zu räumen 8 )! Ebenso gut wußte er
aber auch, daß natürlich nicht nur unter den einzelnen Magnatenge¬
schlechtem, sondern vor allem auch zwischen diesen und dem übrigen
Adel ein gefährlicher und, wie er behauptete, von den Polen genährter
Unfriede herrschte 4 ). All dies erfahren wir von Badziwili selbst, der
aber gewiß bemüht war, es vor den Vertretern des Kaisers und seiner
Interessen verborgen zu halten und die Ziele und Forderungen seiner
Partei als die ganz Litauens hinzustellen trachtete. Bald jedoch sollte
auch Cyrus, ab er Ende 1572 nach Litauen gesandt wurde, in die
dortigen Verhältnisse einen — allerdings verspäteten — besseren Ein¬
blick gewinnen, ab bisher; sein bis jetzt vollkommen übersehener Be-
*) TraczewBkü, Bei 4.
*) Ibid M Beil. 6.
•) Ibid„ Beil. 7 (31. Jänner 1673).
«) IbkL, Beil. 6.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 655
rieht vom 1. Dezember dieses Jahres 1 ), den er aus Wilna an Maxi¬
milian IL sandte, ist schon deshalb von größtem Interesse, weil er in
unparteiischer Darstellung der Tatsachen endlich auch über die Gegen¬
partei in Litauen gründlichen Aufschluß gewährt
Klar und deutlich ist es hier ausgesprochen, daß bloß die Badziwill
und Johann Chodkiewicz, um sich an den Polen dafür zu rächen, daß
die Union von Lublin nicht nach ihrem Sinne durchgeführt wurde,
diese gewaltsam, sogar um den Preis gefährlicher innerer Wirren, zur
Wahl Erzherzog Emst’s zwingen und hiebei den Unionsvertrag brechen
wollten. Die vernünftigere Mehrheit aber unter den Litauern („plerique
tum prudentiores maxime“), mit dem würdigen und klugen Bischof von
Wilna Valerian Protasewicz an der Spitze, war hiemit keineswegs ein¬
verstanden und fürchtete, daß die genannten Herren „durch ihr ver¬
wegenes und unerwünschtes Streben, die Union zu lösen, und durch
die Unzuverlässigkeit ihrer Versprechungen“ sich alle zum Feinde
machen und Litauen ins Verderben stürzen würden. Als Cyrus selbst
dem Fürsten Nikolaus Christoph riet, den Polen gegenüber den Weg
friedlicher Überredung einzuschlagen, stimmten ihm alle übrigen Litauer
bei und Bischof Protasewicz, ein eifriger litauischer Patriot, der stets
bei den Unionsverhandlungen die Interessen seines engeren Vaterlandes
energisch vertreten hatte, erklärte offen, daß, wenn sogar sein Leben
in Gefahr kommen sollte, er niemals von der Lubliner Union, die er
zu wahren beschworen hatte, abstehen werde *). Auch die Absicht Bad-
ziwitts, der behauptete, Litauen habe durch die Angliederung der er¬
wähnten vier Palatinate an Polen für den Kriegsfall 10.000 Beiter ein¬
gebüßt, diese Gebiete während des Interregnums zurückzugewinnen,
wurde von der Gegenpartei in Litauen selbst keineswegs gebilligt.
Wußte man doch, daß, wie es sich teilweise schon 1&69 gezeigt hatte 8 ),
die strittigen Länder sich mehr der polnischen Beichshälfte zuneigten
und nicht zu erwarten war, daß sie sich Litauen anschließen würden 4 ).
Daher war der Bischof gar nicht damit einverstanden, daß die Badziwili
kurz vorher, selbstverständlich ohne Erfolg, die Todlachier und Wol-
*) Polonica; die Schilderung der litauischen Verhältnisse in einer dem eigent¬
lichen Berichte hinzugefügten Beilage (fase. 10, conv. i, foL 178—181).
*) ... »aperte dicit se, etfrjnsi capitis snbeundum ait periculum, nunquam
recessurum ab Unione facti LuMini, quam se servaturum iuravit« ...
*) Vgl. in meiner vorhin zitierten Arbeit: Przylqczenie Podlama, Wotynia
, .S. 38, 87, 197/8.
<) ,Vix esse, quod Volinhios et Podlaschios putent suis accessuros p&rtibus,
etiam Polonis non adversantibus, a quibus minus quam ab his (seil. Lithuanis
alienos esse perspectum sit«.
656
Osk&r Ritter y. HaleckL
hynier zum Abfälle von Polen zu bewegen versucht hatten, und sagte
auch dem kaiserlichen Gesandten, daß er unbedingt dagegen sei, die
verlorenen Provinzen jetzt zurückzuverlangen, da sie einmal Polen zu¬
gesprochen worden waren und ein solcher Schritt nur höchste Ver¬
wirrung und den Untergang des Vaterlandes zur Folge haben könnte.
Höchst bemerkenswert ist hiebei, daß auch die zu Polen haltende,
den Badziwitt und ihrem Anhänge feindliche Mehrheit Litauens eben¬
falls mit der habsburgischen Kandidatur sympathisierte, ihr aber auf
legalem Wege zum Erfolge zu verhelfen wünschte. Protasewicz stellte
Cyrus dar, daß er eine gemeinsame, einträchtige — also der Union von
Lublin entsprechende — Wahl des Erzherzogs durch beide Völker
wünsche, die Litauen gegen Moskau besser sicherstellen würde, als die
Intriguen der Magnaten, welche die Polen reizen mußten. Hier schien
sich den Planen des Kaisers eine viel entsprechendere Aussicht zu er¬
schließen und hatten die Bemühungen seiner Gesandten und Agenten einen
sichereren Grund gefunden, ab bei den geheimen Verhandlungen mit
einigen in Litauen selbst angefeindeten Magnaten, die sich eigentlich
nur von ihrem persönlichen Ehrgeiz leiten ließen. Mußte doch Cyrus
im selben Berichte dem Kaiser mitteilen, daß Johann Chodkiewicz ihm
nicht ganz zuverlässig schien, daß es sich ihm hauptsächlich darum
handle, von den Habsburgern, wie einst die Badziwitt, den Fürstentitel
zu erhalten und dann durch Vermählung seines Sohnes mit der Tochter
des Herzogs von Kurland Gothard Kettler dieses Herzogtum für sein
Haus zu gewinnen. Solche Motive waren also für ihn, der einst selbst
für die Union mit Polen gearbeitet hatte 1 ), maßgebend, um sich den
Badziwitt, denen er im Grunde immer abgeneigt blieb, in einem so
kritischen Augenblicke anzuschließen.
Cyrus’ so inhaltsreiches Schreiben beweist wieder einmal, daß er
ein besserer Beobachter ab Diplomat war. Es war aber auch über¬
haupt, wie erwähnt, schon zu spät, seine in Litauen gemachten Er¬
fahrungen zu berücksichtigen. Hatte sich doch der Kaiser sofort nach
Sigismund Augusts Tode, den traditionellen Beziehungen zu den Bad¬
ziwitt entsprechend, gerade an den Fürsten Nikolaus Christoph ge¬
wandt 8 ), um ihm, unter Berufung auf. die oft erwiesene Anhänglichkeit
seiner Familie an das Haus Österreich, die Unterstützung der habs-
*) 1662 war er sogar einer der Gesandten, die die vorhin erwähnte Adels¬
konföderation an den König sandte, am nA/»h der Union mit Polen za verlangen!
*) Niemcewicz: Zbidr pami$tnikdw, II 73/4, ebenso im zweiten Interregnum
ibid. S. 74/5; vgL den Katalog der Raczynski’sdien Bibliothek, L c.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 657
burgischen Kandidatur au zuempfehlen und sich mit ihm durch münd¬
liche Aufträge des Überbringers seines Schreibens in vertrauliche Ver¬
bindung zu setzen. Nun war es ihm nicht mehr möglich, über die
Badziwitt hinweg Anschluß an ihre Gegner zu suchen.
Alle unvorteilhaften Folgen des verhängnisvollen Umstandes, daß,
was Litauen betraf, Mimnnlian seine Hoffnungen auf jene isolierte,
eigennützige und nicht imm er zuverlässige Magnatengruppe stützen
mußte, traten in beiden, bekanntlich so rasch aufeinander folgenden
Interregnen deutlich zu Tage. Ohne näher auf die schon oft geschilderte
Geschichte dieser Königswahlen einzugehen, sei zum Beweise nur auf
die bemerkenswertesten Umstände hingewiesen.
So ist es höchst bezeichnend, daß gleich am Anfänge, als der erste
kaiserliche Agent nach Litauen eilte, Chodkiewicz ihm in der allge¬
meinen Versammlung der litauischen Senatoren nur ausweichend ant¬
worten konnte und erst bei einer vertraulichen, privaten Unterredung
er und Badziwitt die Wahl Emst’s für sicher erklärten, wenn nur der
Kaiser die vorhin von uns besprochenen Bedingungen annehme, seine An¬
hänger zu belohnen und eventuell gegen die Polen zu unterstützen
verspreche 1 * * ). So mußten die Bestrebungen Österreichs sofort den Cha¬
rakter geheimer Intriguen annehmen, der ihnen die Mehrheit des Adels
abwendig machen mußte, andererseits aber gar keinen Nutzen bringen
konnte, da der Kaiser von allem Anfänge an schwankte und zögerte,
auf die ihm von der Badziwitt’schen Partei aufgedrängte Taktik ein¬
zugehen*). Sowohl während des ersten, wie des zweiten Interregnums
betonte er in den Aufträgen seiner Diplomaten, daß er die polnisch¬
litauische Union, das alte Einvernehmen beider Reiche, aufrechterhalten
möchte, aber doch im schlimmsten Falle den Vorschlag einer Sonder¬
wahl in Litauen keineswegs endgültig zurückweisen wolle •). So zögerte
«r denn auch in beiden Fällen längere Zeit, eine definitive Garantie zu
erteilen, daß er jene so offen gegen Polen gerichteten Bedingungen
erfüllen werde 4 ), was natürlich die Badziwiü in Ungeduld versetzte,
und erst am 7. Mai 1675 entschloß er sich, ihnen darauf eine feier-
i) T. WierabowiM: Zabiegi ces. Maksymiliana Q o koronf polsk% f Ateneum
1879 Hl 422.
*) Vgl. z. B. W. Zakrzewski: Po ucieczce Henryks, S. 97*
») T. Wierzbowski, o. c., HI 423/6 (1572) ; Biblioteka ordyn. Krasföskich
1872, & 273/6 und 278/9 (die Auszüge aus den Poionica von 1675 in den An¬
merkungen).
4) T. Wierzbowski* HT428/9, IV 69/70.
43*
668
Oskar Ritter v. HaleckL
liehe Urkunde auszustellen, in der er alle Forderungen, wie wir sie
oben besprochen haben, oft wörtlich ihren Text wiederholend, an¬
nahm 1 ).
Diese Unentschlossenheit, die allerdings auch mit des Kaisers Be¬
ziehungen zu Moskau zusammenhing *), worauf hier nicht naher ein-
gegangen werden kann, hatte natürlich zur Folge, daß es auch die
Radziwili und Chodkiewicz mit ihren Verpflichtungen nicht zu strenge
nahmen und schließlich, wie bekannt, bei beiden Wahlen das Haus
Habsburg im Stiche ließen. Zuerst war es beide Male Chodkiewicz,
der, wie dies Cyrus schon 1572 befürchtet hatte, sich von der öster¬
reichischen Partei lossagte, obwohl ihm wirklich der Fürstentitel, das
goldene Vließ und reiche Belohnungen für ihn und seine Verwandten
in Aussicht gestellt wurden 8 ); zu seinem Abfall, der angesichts seines
großen Einflusses in Litauen von schwerwiegenden Folgen war, hatten,
außer Maximilians II. zögernder Haltung, auch seine Beziehungen zu
seinem polnischen Schwager Zborowski und, wie sich nicht leugnen
laßt, seine nicht genügend befriedigten Geldforderungen 4 ) beigetragen.
Am längsten harrten, besonders im zweiten Interregnum, die Radziwili
beim Kaiser aus 6 ), die ja auch noch bei der dritten Königswahl im
Jahre 1587 dank ihrer steten Verbindungen mit den Habsburgem den
einzigen Stützpunkt der österreichischen Kandidatur in der litauischen
Beichshälfte bilden sollten 6 ).
Schließlich waren auch immer im entscheidenden Momente die
ve rhäng nisvollen Folgen des Mangels .an Solidarität zwischen den
litauischen Magnatenfamilien deutlich hervorgetreten. 1573 war es der
schon erwähnte Fürst Stucki, der die Partei der Chodkiewicz und Bad¬
ziwill in Polen geheimer Wahlintriguen anklagte *); während des zweiten
i) Diese bisher wenig beachtete (vgl. aber W. Zakrzewski, S. 344 Anm. 1
Urkunde ist bei Eichhorn, o. c., Beil. V, ans dem Archiv der Radziwili veröffent¬
licht worden.
*) Biblioteka ordyn. Krasinskich 1872, S. 279 Anm. (Antwort des Kaisen
vom 22. November 1575 auf die Gesandtschaft Georg Radziwüls); vgl. die ein¬
gehende Darstellung der damaligen österreichisch-moskamschen Beziehungen bei
Uebenberger, I 403 ff., 438 ff.
■) Wierzbowski, o. c., HI 438/9.
«) Uchansciana, V 581; vgL Bibi. ord. Krasinskich 1872, S. 274 Anm.
•) Acta histor. res gestas Poloni&e illustr. XI nr. 22.
Vgl. Uebersberger, I 611.
*) Diese schon von Heidenstein erzählte Tatsache muß selbst J. Lappo (IS. 101)
zugeben, der sonst immer die Solidarität der litauischen Herren betonen möchte;
vgL auch TraczewBk^j, S. 344/6 und die Quellen in den Anm. S. 46.
Die Beziehungen der Habsburger zum litauischen Hochadel etc. 659
Interregnums hatte er sich den Badziwiü genähert, aber nun waren
es wieder Chodkiewicz und Hlebowicz, die ihn, um jene nicht zu mächtig
werden zu lassen, ihnen abwendig zu machen suchten 1 ). Sogar als es
am 1. November 1574 in Wilna zu einer Konföderation des litauischen
Adels gekommen war, die sich verpflichtete, nur Erzherzog Emst zu
wählen *), waren es vor allem die Badziwiil und die ihnen nahestehen¬
den Familien Wolowicz, Kiszka, Pac u. s. w., die diesen allerdings nur
26 Unterschriften zahlenden Akt zustandegebracht hatten. Das Wahl¬
dekret Kaiser Maximilians vom 31. Dezember 1575 8 ), der einzige, aber
nicht realisierte Erfolg der habsburgischen Thronbewerbung, bei dem
selbst Johann Chodkiewicz schon fehlte, tragt, selbst wenn man den
vorhin erwähnten Sawicki mitrechnet, bloß 19 litauische Unterschriften.
Trotzdem also, wie wir sahen, die österreichische Kandidatur in
Litauen bei den verschiedensten Parteien beliebt war, wozu nicht wenig
der Umstand beitrug, daß sie einen Frieden mit Moskau zu ermöglichen
versprach 4 ), trotzdem selbst die polnischen Anhänger der Habsburger
in Litauen die Hauptstütze dieser Kandidatur sahen 6 ), ja selbst die
Sonderwahl eines Erzherzogs auf den litauischen Thron in den Bereich
der Möglichkeit gezogen wurde, brachten des Kaisers Bemühungen,
durch die habsburgische Partei in Litauen eine günstige Entscheidung
zu erreichen, keinen Erfolg. Die Hauptursache davon war, daß diese Be¬
mühungen eben nichts anderes waren, als eine Fortsetzung der schon
Jahrzehnte zurückreichenden Beziehungen der Habsburger zu einzelnen
Familien des litauischen Hochadels.
So lange wirklich einzelne Magnaten Litauens Politik entschieden,
konnten, wie wir in den vorhergehenden Abschnitten sahen, diese Be¬
ziehungen für das kaiserliche Haus manchmal von Nutzen sein, obwohl
schon damals die gegenseitigen Rivalitäten und ausschließlich selbst¬
süchtigen, ehrgeizigen Motive jener Herren die Bildung einer einheit¬
lichen österreichischen Partei illusorisch machten. Seitdem aber die
^Verbindung mit Polen nicht nur einer Oberschicht des litauischen Adels
*) Acta historica XI nr. 6.
’) VeröffentL bei Lappo, I 117 Anm. 3, wo aber leider von den 26 Namen
nur die ersten 10, darunter 3 Radriwüi, angegeben sind.
f) Uchansriana, H nr. 154, vgl. auch I nr. 197.
4 ) VgL u. a. die bezeichnenden Stellen in Nik. Chr. Radriwüfs Brief an
Job. Zamoyaki vom 6. ßeptember 1674 (Archiwum Jana Zamoyskiego, I nr. 53
8. 71) und in Bischof Krarinaki’s Wahlrede 1575 (Bibi. ord. Kraaüüakich 1872,
8. 290).
*) W. Zaknewski, 8. 298 Anm. 2 (aus einem Schreiben P. Myszkowskfs an
l>odi£).
660
Otkar Ritter t. H&leckL
westeuropäische Kultureinflüsse vermittelte, sondern ihn in seiner Ge¬
samtheit zu einem freiheitlichen, regen politischen Leben geweckt hatte,
war jene in sich selbst uneinige Gruppe von Oligarchen, welche diesen
historisdien Prozeß rückgängig machen wollte, nicht mehr von der
entscheidenden Bedeutung wie einst Diese Wendung am Ausgange
der Jagellonenzeit hatte zur Folge, daß es den Habeburgem keinen
Nutzen brachte, schon mit den Ahnen der nunmehrigen Oppositions¬
partei Beziehungen angeknüpft zu haben.
Kleine Mitteilungen.
Ein Sehreiben der Ungarn an die Knrie ans der letzten
Zeit des Tatareneinfalles (2. Februar 1242). Es ist ein uner¬
warteter Zufall, daß neue Kunde über die Tatarenstürme in Ungarn zu
Beginn des Jahres 1242 aus Siena kommt; aber die internationale
Bedeutung, die diese Stadt im XIII. Jahrhundert auf dem Qebiete des
Welthandels errungen hatte, erklärt den Fund ebenso wie ähnliche, so
eine Gerichtsurkunde des XL Jahrhunderts aus dem Molise *), die
Mitgiftsurkunde für die Gattin Bohemunds V. von Antiochien 8 ) oder
die nach England bestimmten politischen Briefe Honorius’ HL, die nie
angekommen sind 8 ). Wie diese sind auch der ungarische Briefe den
ich unten abdrucke, und noch drei andere verlorene und uns nur im
Auszug bekannte Schreiben in derselben Sache offenbar in Siena liegen
geblieben, ohne an ihren Bestimmungsort zu gelangen. Die Briefe be¬
fanden sich ehemals im Archiv des Seneser Dominikanerklosters und
sind in dessen altem Urkundeninventar des XV1IL Jahrhunderts ver¬
zeichnet 4 ); als das Archiv ins Staatsarchiv überführt wurde, sind sie,
diesen Bescheid erteilte uns die ArchiVerwaltung, nicht abgegeben
worden, wie auch sonst Verluste des alten Bestands dieses Fonds zu
verzeichnen sein sollen 6 ). Den vollen Text des einen der vier Schreiben
’) Gedruckt in Quellen u. Forsch, aus ital. Bibi. u. Archiven XVI 18.
*) Ebenda S. 45.
•) Reg. 8en. I n. 898, 716, vgl. Einleitung 8. LYI und N. Mengossi, 11 pon-
tefice Onorio HI e le sue reladoni col regno d* Inghilterra, in Bulletino Senese XVIII
283—324, der p. 328 n. 9 das zweite der Stöcke druckt, vgl. p. 284.
4 ) Vgl. Reg. Sen. I Einleitung S. LV zu Lisini, Inventario generale del R.
Arch. di Stato in Siena I (1898) 18 n. 26. Das Inventar ist der Spoglio 47 des Staatsarchivs.
*) Lisini L c. gibt an, daß von 2200 Pergamenen, die das Archiv um die
Mitte des XVIII. Jahrhunderts (wohl nach dem erwähnten Inventar) besaß, nur 621
662
Kleine Mitteilungen.
hat uns eine Kopie aus dem Jahre 1702 in der Stadtbibliothek zu Siena
erhalten x ), und aus dem wenigen, das wir über den Inhalt der andern
wissen, ist sehr wahrscheinlich, daß sie gleichzeitig abgesandt wurden
und im ganzen die gleichen Mitteilungen enthielten; nur die Adressaten
und teilweise die Absender waren verschieden. Der erhaltene Text ist
von den Kapiteln von Stuhlweißenburg 2 ), Gran, Ofen, Yeszprim, Fünf¬
kirchen, von den Cisterciensem, Prämonstratensem, Augustinern, Bene¬
diktinern, Dominikanern, Franziskanern, Hospitalitern, Templern und
Brüdern der übrigen Orden, den Grafen, Bittern, Bürgern und überhaupt
der gesamten vor den Tataren in die genannten und andere feste Plätze *)
geflüchteten Bevölkerung Ungarns an den Papst gerichtet, um den
Chorherm und Propst Magister Salomon aus Stuhlweißenburg als Ge¬
sandten zu beglaubigen und sofortige Hilfe zu erbitten; dieselben Ab¬
sender stellten am gleichen Tage eines der verlorenen Schreiben an den
Klerus und die weltlichen Obrigkeiten, an alle Gemeinwesen und die
ganze Christenheit, insbesondere an die Mönche an der römischen
Kurie aus, das jenem Abgesandten als Geleitbrief dienen sollte 4 ). Die
ins Staatsarchiv kamen; bei der Neuordnung der Archive unter Großherxog Pietro
Leopoldo seien einzelne Urkunden in andere Archive geraten, andere zerstreut
worden. 8oweit man es jetzt nach dem ebenfalls von Lisini verfaßten Inventario del
diplomatico I (1908), das bis 1250 geht, kontrollieren kann, scheinen für diesen
Zeitraum allerdings keine Verluste nachweisbar, außer unseren Briefen, die jedoch,
weil undatiert, leicht den Nachforschungen entgehen konnten und erst zu Tage
kommen würden, falls das wertvolle Urkundeninventar zu Ende geführt würde,
was sehr wünschenswert wäre. Vgl. die Bemerkungen Beg. Sen. I Einleitung
S. LXXin.
*) Siena Bibi. Com. B VT 14 mit Abschriften von Urkk. verschiedener Ar¬
chive, vgl. Arch. der Ges. f. ältere deutsche Geschichtsk. XII 745. Auf p. 182
beginnt „Copia di alcune bolle e contratti che si conservano nelT archivio de molto
ER. PP. del convento di 3. Domenico di Siena nel suo Originale in quest’ a. 1702-
Dieser Teil reicht bis p. 236, auf p. 218 steht der behandelte Brief.
*) Das capitulum Albense ist auf Stuhlweißenburg zu beziehen, wo ein
ansehnliches Kollegiatkapitel bestand. Weißenburg, die Siebenbürger Diözese, von
den Tataren völlig zerstört: Rogerii carmen miserabile c. 40. Pröpste von Stuhl¬
weißenburg werden damals mehrfach erwähnt.
•) Wir werden sehen, daß Ofen sicher, Fünfkirchen wahrscheinlich zur Zeit,
da das Schreiben abging, verloren waren; dagegen hielten sich Stuhlweißenbmg,
Veszprim und Gran.
4 ) Im Spoglio 47 (S. Domenico) unter n. 927: >21 novembre .... Letten
data in Alba, alle quäle manca 1* anno; vien raccomandato in essa a Patriarchi,
Primati, Arcivescovi, vescovi, abbati, conventi, propoati etc., Templai e a frati
d’ altri ordini e a prelati d’ altre chiese, a duchi, marcheai, conti, potestä, cavalieri,
giudici, a tutte le comunitä e a tutti i Cristiani, e in specie a frati, che abitavano
in corte di Roma, Salomone Canonico Albense e Proposto nella chiesa di S. Nie-
colö d’ Alba, scritta dal capitolo Albense, Strigoniense, Budiense, Vesprimiense,
Ein Schreiben der Ungarn an die Kurie etc.
663
andern beiden nur noch auszugsweise erhaltenen Briefe gingen vom
Abt des Benediktinerklosters Martinsberg im Bistum Baab im Namen
sämtlicher ungarischen Äbte dieses Ordens aus, hatten, so weit es sich
aus den erhaltenen Angaben ersehen läßt, den gleichen Inhalt und
gingen das eine an den Papst, das andere an das Kardinalkolleg 1 ),
Samiense, QuinquecchieCmjense, degl* Abbati, Priori e Conventi Cisterciensi, Pre-
mostratensi, di S. Agostdno, di S. Benedetto e d’altri ordini, da i frati Predica-
tori, Minori, Ospitalari, Templari, Conti, Cavalieri, Cittadini e da tutti i Cristiani
di tutte le Cittä, castelli e alfcri luoghi muniti dell’ Ungarin avanzo de* Tartari,
nella quäle scrivendo essi, ehe mandavano il predetto Maestro Salomone per im-
petrar soccorso contro i Tartari appresso la sede apostolica, voglino per cio dare
al medesimo sicuro passaporto«. — Auch der erste, von Mari& Lichtmeß (2. Februar)
datierte Brief, der im gleichen Spoglio unter n. 928 folgt, trägt dort in dem ganz
kurzen Regest das Datum des 21. November; offenbar liegt ein Mißverständnis der
Festdatierung durch den Verfasser des Spoglio vor, das ich nicht aufklären kann.
Wir werden das verlorene Schreiben ebenfalls zum 2. Februar setzen können, zu
dem das erhaltene sicher gehört. Das cap. Samiense ist zweifellos ein Ab¬
schreibefehler für Jaurinense, Raab. Im erhaltenen Schreiben ist das Wort
offenbar durch Versehen des Kopisten ausgefallen. Raab hielt sich gegen die
Tataren und wird unter den von den Ungarn besetzten festen Plätzen genannt.
i) Im genannten Spoglio n. 519: „S(enza) d(ata) .... Lettera di V. Ministro
del Monastero di S. Martino di Pannonia e dell’Universitä degl*abbati Nigri
Ordinis di tutte l'Ungaria col sigillo appeso di cera bianca (figura a sedere);
nella lettera non b scritto n b giorno n b 1* anno, ed b diretta al Papa, ma non vi
si legge al quäle. Ricorrono alla santitä sua come a singulär loro refugio dopo
Dio, supplicandola di pronto soccorso, esprimendo nella lettera, come Arcivescovi,
Vescovi, Abbati, Monaci, Frati Predicatori, Minori e moltitudine infinita di fedeli
era stata uedsa in contumelia del nome Cristiano. Dicono, che i latori della pre¬
sente sarebbero stati un Canonico Albense e il proposto della chiesa di S. Niccolö
Albense loro Nunzi spedali a domandargli soccorso per 1% chiesa d* Ungarin, pre-
gando la Santitä sua a volerli quanto piü presto spedire*. Daß Salomon, Chorherr
v’on Stuhlweißenburg und Propst von St. Nikolaus daselbst, in zwei Personen zer¬
legt wird, ist eine Flüchtigkeit des Registrators, der sonst einige Anhaltspunkte
dafür bietet, daß dieses Schreiben dem unten abgedmekten mindestens teilweise
wörtlich entsprach. — Ebenda n. 1150, undatiert: „Lettera del Ministro del Monastero
di S. Maiano o Martino, che ben non s*intende, di Pannonia, alla quäle non vi
ä giorno n b anno, diretta a tutti i Cardinali della chiese Romana, scritta da lui
per il convento di detto luogo e per 1*univenitä Albense dell’ordine nero, che
era per tutta V Ungharia, per la quäle gli domanda pronto soccorso contro i nemlci
del crocifisso, pregandoli a dar fede a quanto loro esporrä Maestro Salomone, Car
nonico Albense, Proposto della Chiesa di S. Niccolö d* Alba 44 . Was die Universitas
Albensis der ungarischen Benediktiner bedeutet, scheint unverständlich, wenn
™m nicht an die nach Stuhlweißenburg geflüchteten Brüder denkt. Warum flohen
aie nicht nach der festen Abtei Martinsberg, die sich behauptete? Es wird &
Irrtum oder Lesefehler vorliegen. Das monasterium s. Martini de Panir
ist identisch mit dem im abgedruckten Schreiben genannten Mons sacer
nonie: das bekannte Benediktinerstift Martinsberg in der Diözese Raab.
664
Kleine Mitteilungen.
um ebenfalls dem Magister Salomon als Beglaubigung zu dienen. Jene
beiden waren vom 2. Februar datiert, während diese, wenn kein Irrtum
des Registrators vorliegt, überhaupt kein Datum hatten; da sie aber
von demselben Gesandten wie jene zu überreichen waren, können sie
nur wenige Tage früher oder später geschrieben sein.
Nun gab es im Februar 1242 — nur um dieses Jahr kann es
sich, wie die berichteten Tatsachen zeigen, handeln — bekanntlich keinen
Papst, und von dem am 10. November 1241 erfolgten Tode Coelestins IV.
wird man in Ungarn bereits Kunde gehabt haben; aber ein Brief
König Belas IV. an den Papst, dessen Naipe ebenso wie in den
beiden an ihn gerichteten Briefen der Ungarn weggelassen ist, beweist,
daß man 14 Tage vorher am Hofe annahm, die Papstwahl habe in¬
zwischen stattgefunden oder würde bis zum Eintreffen des Schreibens
erfolgen*), und ferner zeigt ja der Brief an die Kardinäle *), daß
man immerhin mit dem Fall einer noch andauernden Vakanz rechnete.
Jener Brief Belas vom 19. Januar (1242), der von Dominikanern über¬
bracht wurde, ist, während von zwei früheren Gesandtschaften des
Königs die erste scheiterte, die zweite auf der Überfahrt von Dalmatien
nach der italienischen Küste ertrank 3 ), an die Kirne gelangt; Inno-
cenz IV. fand ihn einige Jahre später vor und hielt ihn für wichtig
genug, um ihn auf der Flucht nach Frankreich mitzunehmen und in
Lyon trans8umieren zu lassen 4 ). Der König weilte, als er nach Rom
*) Der Brief Bllas ist gedruckt bei Huillard-Bröholles, Friderici II. historia
diplomatica VI 2 p. 902, Reg. BFW. 11377. Für die Geschichte Ungarns verweise
ich auf die allgemeinen Hilfsmittel wie F. Krones, Handbuch der Gesch. Österreich*
H (1877) 49—96; A. Huber, Gesch. Österreichs I (1885) 422—461; Feßler, Gesch.
Ungarns, 2. Aufl. von Klein, 1 (1867) 351—377 (die magyarisch geschriebenen
Werke konnte ich leider wegen Unkenntnis der Sprache nicht heranziehen); für
den Mongolensturm genügt der Hinweis auf die eingehende Monographie von
G. Strakoech-Graßmann, Der Einfall der Mongolen in Mitteleuropa in den Jahren
1241 und 1242 (1893), der S. 161 über das Schreiben Belas handelt. Die Arbeit
von Nikolaus Pfeiffer, Die Ungar. Dominikanerprovinz von ihrer Gründung 1221
bis zur Tatarenverwüstung 1241—42, Zürich 1913, reicht nur bis zum Tatareneinfmlle.
Für den Nachweis einiger Ortsnamen sage ich Oswald Redlich herzlichen Dank.
*) Oben S. 663 Anm. 1.
*) Strakosch S. 105—106, 125, l5l.
4 ) Über die sog. Rouleaux de Cluny (vgl. Bresslau,. Handbuch der Urkunden-
lehre I* 155—156) handelt Kehr im Neuen Archiv XTV 362—373, mit welt¬
lichen Ergänzungen zu Huillard-Bröholles, Examen des chartes de V 6glise Romaine
contenues dans les rouleaux dits rouleaux de Cluni, in Notices et extraits des ms.
de la Bibi. Impör. XXI 2 p. 267—363. B41as Brief, Huillard p.301 n. 84, ist nur
mehr in Kopie von 1413 erhalten: Kehr S. 371. Auch daß, wie noch zu erwähnen
ist, das Kardinalkolleg dem Könige antwortete, beweist, daß die Gesandtschaft der
Dominikaner ihr Ziel erreicht hat.
Ein Schreiben der Ungarn an die Kurie etc.
66&
schrieb, nicht in Ungarn, sondern in Kroatien, im Kloster Öaszna bei
Agram 1 ). Die Briefe vom 2. Februar sind in Stuhlweißenburg ausge¬
stellt und begleiten die Gesandtschaft des Propstes Salomon, die nicht
im Namen des Königs, sondern unabhängig von ihm im Auftrag der
Kapitel und Klöster, Vornehmen und Bürger geschah, also des gesamtem
Volkes der Ungarn, soweit es sich vor den Tataren in die letzten festen
Plätze an der Westgrenze des Königreiches gerettet hatte. Die Ge¬
sandtschaft des Propstes Salomon ist demnach von der jener von Bela
bevollmächtigten Dominikaner zu unterscheiden; diese erreichten ihr
Ziel, Salomon ist nicht so weit gelangt, seine Beglaubigungsschreiben»
blieben im Dominikanerkloster zu Siena liegen.
Der historische Wert des Berichtes der Ungarn an den Papst liegt
nun eben darin, daß er zwei Wochen später ab der des Königs abge¬
faßt ist, der zudem in Kroatien die Ereignisse der letzten Tage in Ungarn
noch nicht kannte 2 ). So erhalten wir sehr erwünschte urkundliche
Aufklärungen über das, was sich etwa seit Mitte Januar auf dem
rechten Donauufer ereignet hat, und eine Bestätigung, teilwebe auch
Ergänzung, der erzählenden Quellen 8 ). Bela, der kaum positive Tat¬
sachen zu melden weiß, erwähnt die Zerstörung dreier Kirchen, der
beiden Erzbistümer des Reiches, Gran und Kalocza, und des Bistums*
Raab; die Hirten aller drei Kirchen waren in der fürchterlichen Nieder¬
lage bei Mohi am Sajö (11. April 1241) 4 ) umgekommen, und auf dies
Ereignis, nicht auf die wirkliche Zerstörung der Städte, bezieht sich
wohl der Ausdruck ecclesiarum destructarum 6 ), wie auch die
Antwort des Kardinalkollegs an Böla zeigt, in der es heißt, der König
habe die Sache der vakanten Kirchen Ungarns der Kurie em-
*) Strakoech 8. 151, 161. B41a befand sich bereits am 18. Mai 1241 in.
Agram und kehrte erst ein Jahr später von Dalmatien, wohin er seine Flacht
fortgesetzt hatte, nach Ungarn zurück: Strakoech S. 176.
*) 641a ergeht sich in allgemeinen Klagen, ohne sich mit den Einzelereig-
nissen za beschäftigen; daß der Feind vor fast vier Wochen über die Donau ge¬
gangen ist (25. Dezember 1241), scheint er noch nicht zu wissen, er bittet um
Hilfsvölker, die mit ihm und den Seinen, deren noch eine nicht unbedeutende
Menge übrig sei, nach Ungarn zu schicken sind, presertim ne fl umine Da-
nubio transvadato, per quod ipsorum transitum prepotens Do¬
minus hactenus impedivit.nostre corone gloria ... . amodo
deleatur, hält also allerdings den Übergang für möglicherweise bevorstehend,.
ygL Strakoech S. 161—162. Übrigens die einzige tatsächliche Angabe in dem
Schreiben neben der Erwähnung, daß Gran, Kalocza und Raab vakant sind, siehe
unten.
•) Thomas von Spalato und Roger von Großwardein.
*) Strakoech S. 77—90, bes. 87.
*) Über Gran und Raab s. Huber S. 468—460.
666
Kleine Mitteilungen.
pfohlen >). Unser Bericht schildert zunächst in schwungvollen allge¬
meinen Ausführungen die von den Tataren angerichteten Verheerungen;
mit der Erzählung des Überganges der Feinde über die gefrorene Donau
— am Weihnachtstage, wie wir aus anderer Quelle *) wissen — setzt
aber eine ziemlich vollständige Darlegung der Kriegslage am 2. Februar
ein, die um so wertvoller ist, als gerade in diesen Tagen der erfolglose
Sturm der Mongolen auf Stuhlweißenburg, wo unser Bericht abgefaßt
ist, stattfand 6 ). Danach hielten sich auf dem linken Donauufer nur
noch einige Orte nördlich der Biegung des Stroms bei Waitzen; östlich
der Linie Waitzen—Budapest—Kalocza scheint dies Ufer gänzlich ver¬
loren gegangen zu sein. Die genannten Orte sind Preßburg, Neutra,
Komom, Fülek und Nögrad 4 ); diesseits auf dem linken Ufer der
Donau hielt man noch Stuhlweißenburg, Gran, Veszprim, Tihany am
Plattensee, Raab, Martinsberg 6 ), Wieselburg, Ödenburg 6 ), Eisenburg,
Novumcastrum (Neuhaus in der Gespanschaft Eisenburg?), Zala,
Lovka 7 ) (nahe der Donau im alten Archidiakonat Maroth zwischen
Donau und Save).
Wir wissen, daß die Stadtburg von Gran, die Stadt Stuhlweißenburg
und das Kloster Martinsberg «auf dem heiligen Berge Pannoniens*
südlich Raab dem Tatarenangriff standhielten, daß Ofen niedergebrannt
wurde, daß in den Gegenden von Veszprim und Raab größere Ver¬
wüstungen stattfanden; im übrigen sind wir über die Kämpfe in
i) Von Wattenbach nach Dümmlers Abschrift aus einem Kodex des Peter*
klosters za Salzbarg in Forsch, z. Deutschen Gesch. XII 643 gedruckt, Reg. BFW.
7382. Das Schreiben ist ungeheuer schwülstig und phrasenhaft, aber an eine Stil¬
übung nicht zu denken, weil in den beiden Schlußsätzen die Anregungen B£kt
durchaus sachgemäß beantwortet werden. Daß in der Vertröstung auf eine baldige
Papstwahl kein Anlaß liegt, das Schreiben näher an 1243 zu rücken, ist BFW.
7382 richtig bemerkt; über Datum und Beziehung vgL Strakosch S. 152, bes.
Änm. 3.
*) Dem bei Matthäus Paris in den Additamenta zu den Chronica maiora er¬
haltenen Schreiben des Abtes von Marienberg vom 4. Januar 1242, edd. Fej6r, Cod.
dipl Hungariae IV 1, 236, MG. SS. XXVIII 209, Luard VI 78 n. 48, Reg. BFW.
13376 mit weiterer Literatur, dazu Strakosch S. 191—193.
») Strakosch S. 171.
*) Ich bin nicht sicher, ob dies das Novumcastrum Albe ist; Ndgrid
heißt lateinisch Novumcastrum. Phitek ist ein Versehen für Philek (Fülek)
im Neograder Komitat. Das platte Land in diesen Gegenden, so um Neutra, Nö-
gräd, Preßburg, war bald nach der Schlacht von Mohi, etwa sei 1 Juni 1241, von
den Tataren verwüstet worden: Strakosch S. 157—158.
*) Mons sacer Pannonie, s. o. S. 663 Anm. 1.
•) (In Castro) de Suppuno, jedenfalls Sopronio zu emendieren.
T ) Der Name Leucha begegnet in den Rationen collectorum pontifidorum
in Hungaria (Mon. Vat. hist, regni Hungariae illustr. series I tomus I) p. 466 (dort
Ein Schreiben der Ungarn an die Kurie etc.
667
Ungarn von der Überschreitung der Donau durch die Tataren bis zu
deren Abzug (Ende März oder Anfang April) schlecht unterrichtet 1 ) 1 so
daß die Nachrichten des vorliegenden Briefes eine willkommene Er¬
gänzung bieten. Daß Ofen fehlt, ist selbstverständlich; sein KapiteL
hatte sich wohl nach einer der Burgen oder Städte, vielleicht nach
Stuhlweißenburg, gerettet Dasselbe mag von Fünfkirchen gelten, das
nicht unter den noch verteidigten Orten genannt wird und von dem
auch sonst wahrscheinlich ist daß es damals Schaden litt *). Die andern
Kapitel gehören Städten an, die sich bis zuletzt hielten. Die Auf¬
zahlung ergibt ferner auch die Ausdehnung, die die tatarische Invasion
auf ihrem Höhepunkt erreichte: auf dem linken Donauufer widerstanden
die festen Plätze der Komitate Preßburg, Komorn und Neutra, auf dem
rechten haben die Mongolen wahrscheinlich das Land zwischen Drau
und Plattensee größtenteils überrannt 8 ) und auch an diesem, ja jenseits
des Bakonyer Waldes gebrandschatzt 4 ); Fuß gefaßt haben sie jedenfalls
hier wenigstens bis Anfang Februar, vermutlich aber auch später nur
auf dem Lande und in unbesehützten Ortschaften: der einzige feste
Platz, der ihnen erlag, war Ofen.
Diese kurzen Bemerkungen, neben denen ein besserer Kenner der
ungarischen Geschichte dem Dokument gewiß noch manche weiteren
Aufschlüsse wird entnehmen können, mögen hier zum ersteh Verständnis
der historischen Bedeutung des Schreibens hinreichen. Der Verfasser
tragt eine gewisse Bescheidenheit nicht ohne Absicht zur Schau; er
will nicht durch wortreiche Klagen die delikaten Ohren des Papstes
verletzen: es klingt wie Ironie, wenn man an die ermüdend hohlen
ein Nicolaus de Leucha, Domherr von Gran) und 269 Lewka » Lovka im
Bistum Fünfkirchen, im alten Archidiakonat Maroth, oder Luka (Löka) im Komitat
Eisenburg.
i) Strakoech S. 170—172; S. 171: „Über die sonstige Tätigkeit der Mon¬
golen auf dem rechten Donauufer wissen wir wenig“.
*) Ebenda S. 172.
>) Das ist anzunehmen, weil in dieser Gegend außer Lovka keiner der ge¬
nannten festen Plätze liegt. Ist die Annahme richtig, so erklärt sich, warum
König B61a in Kroatien so wenig über die Ereignisse in Ungarn wußte: er war
von seinem Lande abgeschnitten, in das er nur mit päpstlicher und venetianischer
Unterstützung zurückzukehren ho len konnte. Dann ist aber auch das selbständige
Handeln der Ungarn, deren Herrxiher nicht erreichbar war, verständlich.
4 ) Strakoech S. 172 zeigt, laß ein Ort westlich von Raab seit dem Tataren-
cinfall bis 1267 unbewohnt blieb. Über die Diözesen sind die der Geogr. eccl.
Hong. ineunte s. XIV" (1891) beigegebenen vorzüglichen Diözesankarten für das
XlV. Jahrhundert hier überall zu vergleichen.
668
Kleine Mitteilungen.
.Phrasen der Antwortschreibens der Kardinale an Bela denkt 1 ). Nun
ist der Stil unseres Schreibens durchaus gefällig, ja fast elegant; wir
erinnern uns, daß in Stuhlweißenburg Italiener lebten, die in jenen
Schreckenstagen mit den Waffen in der Hand für ihre ungarischen
Qastfreunde gefochten haben*); vielleicht haben sie für deren Sache
auch mit der Feder gewirkt Jedenfalls stammt unser Bericht von
einem Geistlichen; die Vulgata ist so stark und so frei benützt, daß
die oft nur in einem Worte bestehenden Anklange zum großen Teile
nicht genau bestimmbar sind; wo wirkliche Zitate vorliegen, wurden
sie kenntlich gemacht
Die Kirche und der Laienstand Ungarns bitten den (zu erwähle*-
den) Papst um Hüfe gegen die Tataren, die unter entsetzlichen Ver¬
wüstungen bis an die Donau torgedrungen sind, diese, als sie gefroren
war, überschritten und die in eine Reihe fester Plätze geflüchtete Be¬
völkerung bedrohen . Sie senden den Magister Salomon, Chorham zu
Stuhlweißenburg und Propst von St. Nikolaus daselbst, und andere Boten
mit der Bitte, diese bald mit Bescheid zurückzuschicken.
Stuhlweißenburg, 2. Februar (1242).
Orig, verloren, ehemals in Siena, S. Domenico. — Siena Biblioteca
Comunale B VI 14 p. 218—221 Cop . von 1702 mit dem Vermerk: „Ä
conserva la detta lettera in detto Archivio di S. Domenico al numero 928“.
Siena Archivio di Stato Spoglio tom. 47 (Contratti .... di S. Domenico)
n. 928 Regest 8. XVIII.
Sanctissimo in Christo patri ac domino . . divina providentia sacro-
sancte Romane Eccleeie summo pontifici capitulum Albense, Strigoniense,
Budense, Vesprimiense a ), Quinqueecclesiense, Cisterciensis, Premonstratenais,
sancti Augustini et sancti Benedicti ordinum abbates, priores et fratres,
fratres Predicatores, Minores, Hospitalarii, Templarii ac aliorum ordinum
fratres, comites, milites, cives, burgenses et alie universitates utriusque sexus
in predictis civitatibus, castris et comitatibus ac aliis locis munitis collecte
de regno Ungarie, residui scilicet Tartarorum, terram ante sacroe pedes
*) Ne etiam prolixitas litterarum aures delicatas offendat
Den Ausdruck aures delicatae lesen wir in klassischer Literatur nur bei Quin»
tilian, Instit orat III 1 , 3, vgl. Paneg. XI 13. Vgl. o. 8 . 666 Anm. 1 .
*) Strakosch S. 171 Anm. 4 weist die Latini, die Thomas von Sp&l&to als
Verteidiger von Stuhlweißenburg nennt, in Urkunden von 1221 und 1226 nach.
Über Handelsbeziehungen der Italiener, insbesondere der Venezianer, mit Ungarn
9 . Schaube, Handelagesch. der roman. Völker des Mittehneergebiets bis zum finde
der Kreuzzüge (in v. Belows und Meineckes Handbuch der mittelalt. und neueren
Gesch.) S. 463—455.
») Ergänze Jaurinense, s. o. S. 662 Anm. 2.
Ein Schreiben der Ungarn an die Kurie etc.
669
oaculari. Cum sacrosancta Romana Ecclesia omninm ecclesiamm mater sit
et magistra, et ad ipsam solam tamquam ad Ä ) matris gremium aliamm
ecclesiarum, maxiine tribulatarmn et, quid agere debeant, ignorantium, solum
remduum sit post Deum oculos elevare l ), et ad hoc divina procurante
clementia de vobis, pater sancte, universali ecclesie sit provisum, ut vos
exemplo misericordis et miserantis Domini *), cuius yices geritis in terris,
misericordiam geratis erga omnes, presertim erga illos, qui in contumeliam
nominis crucifixi miserabiliter sunt afflicti, confidens in id ipsum non im-
merito ecclesia regni Ungarie, multis yariisque attrita periculis et fere quasi
nichilo facta similis, ad yos tamquam ad singulare post Deum refogium
Telut caligantes pre lacrimis oculos de profundo elevat tormentorum 8 ),
sperans sane et hoc firmiter tenens, ut, si apostolica pietas festinato remedio
succurrat eidem, mox adiciet, ut resurgat 4 ). Itaque vestre pateiuitatis
aanctitas nosse velit, quod inimici crucifixi, qui Tartari nuncupantur, nostris,
ut credimus, hoc peccatis exigentibus subito et quasi ex improyiso in Un-
gariam irruentes ipsum regnum usque ad flumen Danubii in parte maximn.
devastarunt; occiderunt etenim episcopos, abbates, monachos, fratres Predi-
-catores, Minores, Templarios b ), Hospitalarios, prepositoß, archidiaconos, cano-
nicos, sacerdotes, clericos, comites, milites, infantes vagientes et ceterorum
utriusque sexus hominum, quos incaute divisos repererunt 6 ), multitudinem
infinitam, sed et iuyenem simul ac virginem, lactentem cum
bomine sene 6 ) ignis vorax exussit 7 ), super quos nec quidem remanserunt
vidue lamentant^, ita ut iam in nobis prophete 8 ) lamentum sit completum
interfectorum multitudinem inconsolabiliter deplorantis. Sed et qui quasi
vestiebantnr c ) in croceis 9 ), indifferenter ad captivitatem cum pauperibus
abierunt 10 ) et — quod hiis omnibus miserabilius est et abhominabile —
incenderunt in sanctuario Dei n ) simul cum laico sacerdotem, reliquias
sanctorum et ipsum corpus dominicum pedibus ad sue dampnationis aug-
mentum conculcantes, ecclesias etiam in stabula et sanctorum sepulchra in
iumentorum presepia transmutarunt d ). In hac igitur nocte tribulationiß 12 )
corde simul et ore clamantes vestre sanctitatis aures prece intentissima
perpulsamus, quatinus introeat in conspectu misericordie vestre ge-
mitus compeditorum, ut fiat ultio sanguinis servorum Dei,
qui effusuß est 18 ), ymmo contumelie nominis crudfixi, ut homicide
l ) Vgl. 2 Paralip. 20, 12: sed cum ignoremus, quid agere debeamus, hoc
solum habemus residui, ut oculos nostros dirigamus ad te.
*) Miserator et misericora Ps. 85, 15. 102, 8. 110, 4. 111, 4. 144, 8.
Iacob. 5, 11.
•) VgL Thren. 2, 11: Defecerunt prae lacrimis oculi mei; 3 Reg. 14, 4:
caligaverant oculi eius prae senectute (dazu Gen. 48, 10).
4 ) Ps. 40, 9: numquid, qui dormit, non adiciet, ut resurgat?
•) Vgl. Prov. 23, 28 und Iudic. 20, 48.
*) Deut. 32, 25.
*) Vgl. Levit. 6, 10: voraus ignis exussit.
•) Nahum 3, 3. 9 ) Vgl. Thren. 4, 5. 10 ) Ibid. 1, 18.
“j Vgl. Ps. 73, 7.
n ) Vgl. Gen. 35, 3 imd öfter: die tribulationis.
lf ) P 8. 78,10—11: Ultio sanguinis servorum tuorum, qui effusus est. Introeat
in conspectu tuo gemitus compeditorum.
*) at. b ) templares. c) vescebantur. d ) trasmutarunt.
670
Kleine Mitteilungen.
simul et aacrilegi ac blasphemi x ) secundum sue malitie multitudinem iudi-
centor 2 ), sentientes eum, in quem transfigere presumpserunt 8 ) *). Sed et not
adversariis nominis Christi ad portas Danubii pro posse resistentes ad auxi-
lium matris ecclesie respeximus, et non erat 4 ). Congelato b ) tandem Dannbio
transeundi ad nos über eis aditns nbiqne patnit et facultas. Deniqne
transeuntes discummt per provinci&s pleni iniqna cogitatione *),
malitie sue complere propositum cupientes 6 ); nos yero quam plures et
competenter armati in castris de Alba, de Strigonio, de Vesprimio, de Tyhoiv
de Iaurino, de Monte sacro Pannonie, de Mussun(o), de Suprun(o) c ), de Fcr-
reocastro, de Novocastro, de Zala, de Leuca et aliis castris et lods circa
Danubium munitis, ultra yero de Posonio, de Nitria, de Cornaron, de
Philek d ), de Noyocastro Albe et aliis castris et lods similiter munitis rece-
pimus nos, post Dei misericordiam sanctitatis yestre et ecclesie Dei auxilium
prestolantes et firmiter sperantes, quodsi miserantes nostri celeri nobis sab»
sidio subvenire velitis, ipsis inimicis posse resistere, licet ab eorum fran-
dolentia, que nbiqne ipsorum potentia maior est, pluries impngnemnr. Und©
patemitatis yestre sanctitatem corde contribulato *) et yoce lamentabili ®)
deprecamur, qnatinns magistrum Salamonem carissimum nobis in Christo
Albensem canonicum et prepositnm ecclesie sancti Nicholai Albensis et socioa
eiusdem, latores presentium, speciales nnncios nostros, quos ad pietatis yestre
pedes pro subsidio ecclesie Ungarice a vobis impetrando destinamua, miss-
ricorditer audire et liberaliter exandire dignemini propter Deum et, qnia
mora nobis est pericnlosa, eos ad nos ad honorem Dei et yestram, qnanto
citins fieri potest, remittatis expeditos. Sed quoniam nostre desolationis
abhominationem 9 ) longum et quasi propter infinitstem sui impossibile
est [per]®) singula enarrare, ne etiam prolixitas litteramm aures delicatas
offendat, ipsis presentium latoribus fidem in Omnibus plenissimam dignemini
adhibere, que sanctitati yestre ex parte nostra dnxerint proponenda. Datum
Albe in die pnrificationis virginis gloriose.
Frankfurt a. M. Fedor Schneider.
*) Vgl. 2 Mac. 9, 28: homidda et blasphemus; Act. 19, 87: neqne am-
legos neque blasphemantes.
*) Vgl. 1 Mac. 7, 42: et iudica illum secundum malitiam illius.
®) Vgl. Zach. 12, 10: aspicient ad me, quem confixerunt; loh. 19,37: Tide¬
bunt, in quem transfixerunt
4 ) Ps. 70, 12: in auxilium meum respice; lob. 30, 13: et non fnit, qui
ferret auxilium.
®) Dan. 13, 28.
®) Vgl. 1 Reg. 20, 7: oompleta est malitia eins, dazu ▼. 9; 26,17; Ia. 40,2.
T ) Vgl. Ps. 33, 19: qui tnbulato sunt corde.
•) Vgl. lerem. 9, 19, und dazu 31, 15: tox lamentationis.
•) Matth. 24,16. Marc. 13,14: abominationem desolationis; ygl. Dan. 9, 27.
*) persumpeerunt. b ) Congellato. e) Suppun; s. o. 8. 666 Anw>. &
d ) Phitek; s. o. S. 666 Anm. 4. «) wohl zu ergänzen.
Nachtrag zn 8. 622 Ana. 4: Die Angabe im Spoglio 47, d'bfl zwei der Briefe
vom 21. November w&ren, beruht auf einer Verwechslung von Purificatio und Pte-
sentatio b. Marie vizg.; diese wurde durch Sixtus IV. in das römische Brevier aof-
genommen und am 21. November gefeiert: H. Kellner, Heortologie* (1906) S. 193.
Die Verwechslung erkl&rt sich aus dem Umstande, daß Festdatierung in Itahea
ungebräuchlich war.
8. Florian und Roedorf.
671
S. Florian nnd Rosdorf. 1. S. Florian. K. Schiffinann hat
sich in seinen «Beitragen zur historischen Topographie Oberösterreichs 11
in diesem Bande der Mitt d. Inst S. 345 ff. auch mit S. Florian nnd
Rosdorf beschäftigt Ich habe in den Abhandlungen über die passio
8. Floriani nnd die mit ihr zusammenhängenden Urkundenfälschungen
in der Archiyalischen Zeitschrift N. F. Bd. VIII u. IX den in den
Traditionen der Frauen Liutswind und Brnnhild erwähnten heil Florian
auf den Ort S. Florian am In bezogen und denselben als die älteste
Stätte der Verehrung dieses Heiligen bezeichnen zu müssen mich ver¬
anlaßt gesehen.
Schiffmann meint es läge doch näher, für die Kultusstatte die
heutige Filialkirche S. Florian, eine Viertelstunde n. ö. von Helpfau,
anzunehmen, weil selbe mitten im Matiggau gelegen sei, in welchem
sich das vergabte Gut befand; das Verhältnis der beiden Kirchen zu
einander könne, wie Beispiele zeigen, das gerade umgekehrte, demnach
S. Florian die ältere und Helpfau die jüngere, daher S. Florian eine
der ältesten drei Florianskirchen gewesen sein.
Diese neu aufgestellte Vermutung fallt in sich selbst zusammen,
weil die genannte Kapelle (nicht Kirche) erst im Jahre 1403 von
dem Bischof Jorg von Passau konsekriert worden ist was S. bei Pill-
wein Inkreis S. 299 oder meiner zweiten Abhandlung S. 249 (Z. 12 v. u.)
nachzuschlagen übersehen hat Der Bestand der Kapelle durch ganze
Jahrhunderte vor der Konsekration ist außerdem weder erwiesen noch
überhaupt nachweisbar.
2. Rosdorf. Schiffmann bestreitet daß in der karolingischen
Zollordnung von 904 Rosdorf als der erste Landungsplatz und als die
erste Zollstätte nach Passierung des Passauer Waldes genannt werde.
«Mit nichten* sagt er mit aller Bestimmtheit «Die Landungsstelle
ist hier nicht genannt sondern der erste Handelsplatz am linken
Donauufer landeinwärts*. In dem Passus der Zollurkunde «Naves
vero, que ab occidentalibus partibus, postquam egresse sint
silvam Pataviam et ad Rosdorf vel ubicunque sedere voluerint et
mercatum habere, donent pro theloneo semidragmam* gehört nach
seiner Meinung Rosdorf dojh sachlich und grammatikalisch zu «vel
nbicunque sedere et mercatum habere voluerint*.
Deshalb hält er meine luffassung, als sei Rosdorf ein Landungs¬
platz, also an der Donau g liegen, für eine irrige und fügt mit gleicher
Bestimmtheit bei: «das Rosdorf der echten Florianer Urkunde 1111.
23. 8 («ad Bercheim [mausus] dimidius, ad Rostorfh dimidius* o.-ö.
U.-B. EL 140) lag aber sicherlich in dem ein paar Jahre zuvor dem
Stifte geschenkten Gebiete Eppos von Windberg*.
672
Kleine Mitteilungen.
Aus der Reihenfolge der in einem S. Florianer Urbar von 1386
aufgezählten Abgaben vom Zehent zu S. Peter, vom Hause daselbst,
vom Burgrechte ebenda, vom nicht bestimmbaren Ach, vom Acker in
Röstor£ vom Zehent in Eidendorf, vom Zehent in Würtzling [Peters¬
berg], von S. Stefan am Riedl schließt er, daß Rosdorf nicht zu weit
von S. Peter entfernt gewesen und eine nähere Umschau in der Um¬
gebung weise mit ziemlicher Sicherheit auf die Ortschaft Dorf bei
S. Peter; es sei nicht ausgeschlossen, daß einst S. Peter selbst Rosdorf
geheißen habe und im 14. Jahrhunderte die ursprüngliche Bezeichnung
nur mehr an einer Pertinenz haften geblieben sei.
Auf welche Weise S. zu dieser Vermutung und in Konsequenz
derselben zu seiner überraschenden neuen Übersetzung der oben ange¬
führten Textstelle gelangt ist, erfahren wir nicht aus dem Aufsatze 2
der Mitteilungen, wohl aber aus dem Feuilletonartikel ,S. Peter
am Windberg 11 , welchen S. unter Berufung auf ersteren am 30. Sep¬
tember 1915 im Linzer Volksblatte, dem Organe des Linzer
Bischofs, veröffentlicht hat »Rosdorf — heißt es darin — besaß im
9. Jahrhundert 6raf Wilhelm der Ostmark, der es um 830 dem Stifte
S. Emmeram in Regensburg schenkte [»Insuper et quicquid ad Rosdorf
habere videbatur, omnia et ex omnibus rebus ex illa parte Danubii,
quicquid sibi pertinebant in mancipiis et aedificiis ac vineis cultis et
incultis totum et integrum 11 lautet die maßgebende Stelle in der Be¬
stätigung Königs Ludwig des Deutschen 853. 18. 1 o.-ö. U.-B. IL 17].
Dieses hat bald darauf hier eine Kirche errichtet, was man aus dem
Patrocinium schließen könne, denn der heilige Petrus war der Patron
der Domkirche in Regensburg und Schenkungen zum Bischofkloster
daselbst geschahen mit der Widmungsformel »ad casam quae constructa
est in honore s. Petri et s. Emmerami 11 . Nun ist es auch verständlich
— fahrt S. fort —, warum die karolingische Zollordnung von 904,
die auf die den ganzen Donauhandel beherrschenden Regensburger
Kaufleute zurückgeht, das ziemlich weit landeinwärts gelegene Rosdorf
—S. Peter eigens erwähnt. Es war eben ein regensburgischer Ort und
zu Beginn des 10. Jahrhunderts offenbar ein schon bekannter Handels¬
platz für eine weitere Umgebung. Um das Jahr 1100 dürfte die Be¬
zeichnung S. Peter schon längere Zeit geläufig gewesen sein und der
ursprüngliche Name Rosdorf blieb, wie die mittelalterlichen Steuerbücher
des Stiftes S. Florian lehren, nur an einer Pertinenz haften. Das Ver¬
schwinden eines alten Ortsnamens zugunsten der Bezeichnung nach
dem Patron der Kirche ist in einer ganzen Reihe von Fällen zu be¬
obachten. »Mit dieser Feststellung, die uns S. Peter am Windberg
8. Florian and Roedorf.
673
als eine der ältesten, ehrwürdigsten Kirchen des Landes zeigt, werden
hoffentlich die Fabeleien von der späten Besiedlung des
Mühlviertels verschwinden 11 .
Die bisher geltende gemeine Übersetzung der fraglichen Stelle der
Zollordnung, welcher auch ich zu folgen keinen Anstand genommen
habe, lautete nach Kiezler, dem Geschichtschreiber Bayerns: «Schiffe,
welche von Westen kommend, den Passauer Wald hinter sich
gelassen haben und bei oder vor Bosdorf (einem jetzt abge¬
gangenen Orte zwischen Passau und Linz) anlegen und Handel treiben
wollen, bezahlen als Zoll eine halbe Drachme. Wollen sie weiter
hinab bis Linz gehen («idem scoti, id est si inferius ire voluerint
ad Linzam“), so gibt jedes Schiff vom Salz 3 Scheffel, von Sklaven und
anderen Waren aber nichts; sie können dann anlegen und Handel
treiben, wo sie wollen, bis zum Böhmerwalde* („sed postea licentiam
sedendi et mercandi habeant usque ad silvam Boemicam, ubicunque
voluerint*). Diese Übersetzung ist ebenso natürlich und klar für Jeder¬
mann, der an den Text voraussetzungslos herantritt: wo der Passauer-
wald vom Strom zurückweicht, liegt Bosdorf als erster Landungs- und
Handelsplatz, weiter stromabwärts Linz als zweiter. Im ganzen Mittel-
alter begleiten die Lastätte für die weiter im Lande drinnen entstan¬
denen Marktplätze das Donauufer und daß hier nur von Landungs¬
plätzen, von welchen aus im Beginne des zehnten Jahr¬
hunderts Handel getrieben wurde, gesprochen wird, kann füglich
nicht in Abrede gestellt werden, um so weniger, als eigene von den
Landungsorten verschiedene Handelsplätze gar nicht erwähnt sind und
die von S. behauptete Feststellung keine solche ist Woher weiß denn
S. überhaupt, daß bald nach der Vergabung Wilhelms (vor 853) S. Em¬
meram zu Bosdorf eine Kirche errichtet? Woher weiß er, daß der
Graf die Ortschaft Bosdorf dem heiligen Emmeram schenkte, da doch
König Ludwig nur von einem Besitze in Bosdorf spricht? Weingärten,
welche in der Pertinenzformel ausdrücklich hervorgehoben werden, hat
es in der Pfarre S. Peter a. W. niemals gegeben, sie deuten daher auf
eine andere Gegend, in welcher Beben gezogen wurden, was in der
Pfarre Feldkirchen, zu welcher also Bosdorf gehört haben muß, bis vor
einem Jahrhundert der Fall war, und da in der Fiorianer Urkunde von
1111 dem halben Mansus in Bosdorf ein halber Mansus in Bergheim
vorausgeht, in dieser letzteren Örtlichkeit aber füglich nur die östlich
an Landshag grenzende große Ortschaft dieses Namens in der Pfarre
Feldkirchen zu erkennen ist, so gelangen wir nur folgerichtig wieder
zur Identifizierung des karolingischen Bosdorf mit der heutigen Hofinark
Landshag gegenüber von Aschach an der Donau. Die von S. ange-
44*
674
Kleine Mitteilungen-
führte Stelle eines Florianer Urbare macht für die Lage von Rosdorf,
wenn man dasselbe in dem ltöstorf sicher erkennen könnte, keinen
Beweis, da die Örtlichkeiten ohne Einhaltung einer geographischen Ord¬
nung untereinandergemengt sind.
In der Erzählung von der Errichtung einer horche in S. Peter
a. W. haben Alois Huber und Max Fastlinger bei S. Schule gemacht* Wie
ereterer ans einer einzigen Urkunde einen ganzen Koman von der ehe¬
maligen Abtei Traunsee herznstellen verstand, so sieht S. bloß aus dem
gleichen Patrozinium der Domkirche von Begensburg und der Kirche
am Windberg ohne alle darauf deutende Umstande die Kirche in den
Ehren des ApostelfÜreten erstehen, die man bisher mit guten Gründen
für eine Stiftung Eppos oder seiner Sippe angesehen hat, erklärt S. Peter,
welches doch aus Eppos Besitz in jenen des Klosters S. Florian über¬
gegangen war und bei letzterem bis zur Aufhebung des Untertansver¬
bandes sogar ausschließend verblieben ist, kurzweg für einen regens¬
burgischen Ort, der zu Beginn des 10. Jahrhunderts offenbar schon
ein bekannter Handelsplatz für eine weitere Umgebung war. Nach
diesem Ausspruche blieb ihm freilich nichts anderes übrig, als die bis¬
herige Anschauung von der späten Besiedlung des Mühlviertels als
Fabelei zu stigmatisieren, sollte nicht sein Handelsplatz mitten im Nord¬
walde stehen.
Einer ernstlichen Widerlegung dieser Phantasie bedarf es nicht
mehr.
Schließlich bemerke ich noch, daß S. irrt, wenn er behauptet, meine
Erklärung des «jetzigen* Namens Landshag (Archiv £ ö. G M Bd. 94
S. 92 Anm.) sei unrichtig; ich habe die Bezeichnung Lantshabe der
Urkunden aus der bischöflichen Kanzlei von Passau im 13. Jahrhundert
nicht erklärt und überhaupt nicht darauf reagiert, weil ich sie für eine
dialektische Mißbildung halte, welche im weiteren Verfolge die Tauto¬
logie Landshafen, Landungshafen daretellen würde, abgesehen davon,
daß das mittelhochdeutsche neutram hap und das femininum habe im
b^juwarischen Sprachgebiete nicht recht gebräuchlich war.
Nach diesen Ausführungen darf ich wohl meine Identifizierung des
alten Eosdorf mit dem nachmaligen Landshag aufrecht halten: Boedorf
war sichtlich die Zoll- und Kaufstatt für die Gegenden der Botalarii^
sowie Muthusir (wie die älteste, wenn auch nicht dokumentierte
Form des Ortsnamens Mauthausen gestaltet gewesen sein wird)
für jene der Beodarii. Ich kann nicht unerwähnt lassen, daß
knapp über den Häusern von Landshag, gegen dieselben steil ab¬
stürzend, sich ein an den übrigen Seiten mit einem Graben um-
S. Florian und Boedorf.
676
gebenes Plateau erhebt, von dessen östlichem Ende, an welchem ein
Turm gestanden sein mag, ein alter Burgweg («Burg* nennt man
dieses Plateau) zum Donauufer führt Ich habe diese Erhebung mit
einigen Aschacher Bekannten im Jahre 1908 bestiegen, Herr kais. Bat
Ludwig Benesch (3./4. 1916 f) hat vor mehreren Jahren mit Boussolle
und Schrittmaß eine Aufnahme gemacht welcher er beifügt daß der
Schloßgarten in Linz dieselbe Struktur und ähnliche Lage aufweist so
daß beide Anlagen denselben Zwecken gedient haben könnten.
Graz. J. Strnadt.
Literatur.
Urkunden und Siegel in Nachbildungen für den akade¬
mischen Gebrauch herausgegeben von G. Seeliger. IL Papsturkunden,
bearbeitet von Albert Brackmann (16 Tafeln, 32 Seiten Text). IU. Pri¬
vaturkunden, bearbeitet von Oswald Redlich und Lothar Groß
(16 Tafeln, 32 Seiten Text). IV. Siegel, bearbeitet von F. Philippi
(11 Tafeln, 34 Seiten Text). Druck und Verlag von B. G. Teubner,
Leipzig und Berlin 1914. Preis eines jeden Teils & Mark.
Als zu Anfang des Jahres 1858 Theodor Sickel seine Vorrede zu den
Monumenta gr&phica schrieb, kündigte er an, daß in diese Sammlung nicht
bloß Proben von Bücherschrift sondern in besonderem Maße auch Beispiele
für die Arten der Urkundenschrift aufgenommen werden sollten. Tatsächlich
enthielten die beiden ersten Lieferungen des Werkes, die damals ansgegeben
wurden, neben wenigen aus Handschriften geschöpften Abbildungen eine
überwiegende Menge urkundlichen Stoffes. Von der dritten Lieferung an
ließ der Herausgeber auch eine Scheidnng der abzubildenden Schrifterzeug-
nisse eintreten, die bis zur neunten Lieferung festgehalten und erst in der
von Rieger besorgten zehnten verlassen wurde: Lieferung 4 und 8 wurden
ausschließlich der Buchschrift, Lieferung 3, 5, 6 und 9 den Urkunden ge¬
widmet, ja einmal ging Sickel in der begonnenen Ordnung noch weiter,
indem er in Lieferung 7 keine einzige kaiserliche oder päpstliche Urkunde
aufhahm und statt dessen hier eine geschlossene Folge von Fürstenurkünden
schuf. Dieses bei dem ältesten auf photographischem Weg hergestellten
hilfewissenschaftlichen Tafelwerk wahrnehmbare Streben nach Schaffung be¬
sonderer diplomatischer Unterrichtsbehelfe ist in seinem Wert nicht überall
erkannt worden und daher nur langsam, nach Überwindung mancher Rück¬
fälle zum Durchbruch gelangt. In das verbreitetste deutsche Lehrmittel der
historischen Hilfswissenschaften, die mit Vorbedacht auf paläographische und
nicht auf diplomatische Ziele gerichteten Schrifttafeln von Wilhelm Arndt,
nahm der erste Herausgeber von Urkundenschrift zunächst nur äußerst spär¬
liche Proben auf und zwar nur solche, die er wegen gelegentlicher Ver-
Literatur.
677
wertnng gewisser Urkiwdenschriften in den Codices auch für die Kflnntni«
der Buchschrift als erforderlich ansah. Zwischen dem ersten Erscheinen der
Schrifttafeln (1874) und ihrer unverändert auf diese Grenzen beschränkten
zweiten Auflage (1887) kamen allerdings in Frankreich und bald auch in
Deutschland Abbildungswerke zustande, welche grundsätzlich und in her¬
vorragender Art dem Studium der Urkundenlehre dienten; zuerst (1878)
das an kostbaren Beispielen des privaten Urk nndenwesens unerschöpfliche
Mnsee des Archives däpartementales, dann das in demselben Jahr von Berlin
ans angeregte Unternehmen der Kaiserurkunden in Abbildungen, dem bald
gleichfalls von deutscher Seite besondere, freilich nicht auf gleicher Höhe
stehende Abbildungswerke für die Papst- und Privaturkunden nachfolgten.
Im akademischen Lehrbetrieb haben aber diese Rammlnngpri schon der hohen
Kosten wegen nicht annähernd dieselbe Bolle spielen können wie die Tafeln
Arndts. So blieb bis um die Wende des Jahrhunderts der Lehrer der
Diplomatik darauf angewiesen, sich seine Lehrmittel selbst zusammenzu¬
suchen, und der Anfänger entbehrte dabei vollends der Erläuterungen, die
vom Standpunkt der Urkundenlehre an die einzelnen Stücke zu knüpfen
waren. Mit der Weiterführung der Amdtschen Schrifttafeln betraut bat
Tangl dem dringendsten Mangel im Jahr 1903 durch ein dem alten Be¬
stand hinzugefugtes drittes Heft fürs erste abgeholfen. Indem er auf
37 Blättern bemerkenswerte Beispiele aus der Entwicklung des mittel¬
alterlichen Urkunden wesens zusammenzubringen vers tan d und diesen mannig¬
faltigen Stoff nach allen Bichtungen sachkundig erläuterte, schuf Tangl
ein diplomatisches Lehrmittel, welches seither einer großen Schar jüngerer
deutscher und österreichischer Historiker nützlich und vertraut geworden
ist. Es wird den Dank, den ihm Lehrende und Lernende dafür zollen, nicht
schmälern, wenn jetzt, da die Urkundenforschung wieder um ein Jahrzehnt
älter geworden ist, auch eine Schwierigkeit, die sich aus der Benützung
jenes dritten Heftes ergab, deutlicher hervorgehoben wird. Gleich dem
Bresslauschen Handbuch, das die auf verschiedenen Sondergebieten der Ur¬
kundenlehre gewonnenen Ergebnisse zusammenzufassen strebt und dabei
doch Schritt für Schritt in die alten Geleise der Spezialdiplomatik zurück¬
kehren muß, bewegt sich auch das dritte Heft der Amdt-Tangrschen Schrift¬
tafeln in zeitlichem Fortschreiten anscheinend auf dem Weg der allgemeinen
Diplomatik, während sein Stoff doch nach spezial-diplomatischen Gesichts¬
punkten ausgesucht werden mußte und nur im Sinne des spezialdiploma¬
tischen Unterrichts mit wahrem Erfolg verwertet werden kann. Dem Lehrer
ist es ja nicht schwer, für sein Kolleg daraus in jedem Fall geeignete
Blätter auszuwählen und sie aus anderen Sammlungen, soweit dies nötig
und möglich ist, zu ergänzen. Dem Anfänger aber, der das Heft zu selbst^
ständigem Studium benützt, wird das Nebeneinanderlaufen verschiedenartiger
Reihen von Urkunden, von denen jede in besonderer Weise betrachtet
werden will, wohl oftmals eine empfindliche Störung gewesen sein. Unsere
Forschung mag ja immerhin mich den Zielen allgemeiner Urkundenlebre
hins treben, in der praktischen Arbeit muß jetzt und auf lange hinaus die
Spezialdiplomatik überwiegen und im Unterricht k a nn nur bei getrennter
Behandlung der Kaiserurkunden, Papst urkunden und Privaturkunden auf
sicheren Nutzen gerechnet werden. Sprechen schon diese Gründe dafür,
au ch in den zum Unterricht dienenden Tafelwerken eine Trennung der
678
Literatur.
drei Hanptgattungen von Urkunden durchzuführen, so fallt in gleichem
Rinn noch ein anderer Umstand ins Gewicht. Die reiche Entwicklung der
▼on den Urkunden handelnden Wissenschaft hat auch auf diesem Sonder¬
gebiet der geschichtlichen Studien eine fortschreitende Arbeitsteilung er¬
zeugt. Die Zahl derjenigen Historiker, welche durch eigene Forschungen
mit allen drei Zweigen der Urkundenlehre vertraut sind, war niemals groß
und sie dürfte bei dem auch von den Diplomatikern lebhaft empfundenen
Bedürfnis, die allgemeingeschichtliche Arbeit neben der hilfswissenschaftlichen
zu verfolgen und selbsttätig zu pflegen, eher im Rückgang als in der Zu¬
nahme begriffen sein. Unter solchen Voraussetzungen führt auch die Wahl
der Kräfte, die für die Herstellung eines hilfswissenschaftlichen Unterrichts¬
mittels zur Verfügung stehen, dazu, die Arbeit welche Tangl allem auf
sich nahm und in höchst anerkennenswerter Weise löste, die dann auch
Steffens in seiner (paläographische und diplomatische Dinge wieder ver¬
mengenden) Sammlung sich zugetraut aber nicht bewältigt hat, nach den
drei Zweigen der Urkundenlehre zu teilen, damit für jedes dieser Sonder¬
gebiete die berufensten Forscher Auswahl und Erklärung der Bilder be¬
sorgen können.
Das ungefähr mögen die Gedanken gewesen sein, die Gerhard Seeliger
vorschwebten, als er sich zur Herausgabe des hier zu besprechenden Werkes
entschloß und die auf dem Titel genannten Fachmänner für die Mitarbeit
gewann. Der von Seeliger selbst übernommene erste Teil, der den Kaiser¬
urkunden gewidmet sein wird, steht noch aus, aber auch die drei vor¬
liegenden berechtigen zu dem Urteil, daß wir e3 mit einem gelungenen
Werk zu tun haben, das dem hilfewissenschaftlichen Unterricht an allen
Universitäten des deutschen Sprachgebietes einen starken Schritt nach vor¬
wärts verheißt. Sowohl die Auswahl der abgebildeten Stücke, als auch die
Ausführung der Bilder verdienen volle Anerkennung. Brackmaun, der
in seinem Vorwort neben anderen Fachleuten, besonders P. M. Baumgarten
und F. Schneider als seine wichtigsten Helfer rühmend hervorhebt, hat auf
16 Tafeln in 53 Bildern zwar nicht alle aber doch die hauptsächlichsten
Formen des päpstlichen Urkundenwesens zur Anschauung gebracht Er ist
dabei, wie es die besonderen Verhältnisse der Kurie durchaus rechtfertigen,
nicht bei dem Ausgang des 15. Jahrhunderts, mit dem man das Mittel-
alter zu beschließen pflegt, stehen geblieben, sondern mit einzelnen Stücken
bis weit in die Neuzeit vorgedrungen und es ist ihm gelungen eine er¬
staunliche Mannigfaltigkeit lehrreicher und inhaltlich merkwürdiger Beispiele
zusammenzubringen, ohne daß dadurch das Streben nach Veranschaulichung
der Hauptformen gelitten hätte. Von den Privilegien und ihren Fortbil¬
dungen sind sechs aus der Zeit von 1020/22 bis 1715, von den Litterae
eben so viele aus den Jahren 1120 bis 1447 dargestellt worden, von
Breven wurden zwei Stücke von 1462 und 1597, von den Registern
je eine Seite aus den Bänden Johanns VHL, Gregors VH. und Innocenz HL
aufgenommen, den Adressen, Kanzlei- und Registraturvermerk en sind, abgesehen
von den auf verschiedenen Tafeln ohnehin ersichtlichen Einträgen, 26 Ein¬
zeldarstellungen gewidmet, die, mit 1120 beginnend, namentlich die Kanzler¬
bräuche des 14. und 15. Jahrhunderts reich beleuchten; daneben findet
man eine als Konzept vorbereitete Abschrift des 11., eine Legatenurkunde
des 12., eine Fälschung des 13., je eine Minute, Kämmererurkunde und
Literatur.
679
'Großpönitentiarurkunde des 14 M je eine Eidesformel und Prunksupplik des
15. Jahrhunderts. Brackmann hat selbst empfunden und zugestanden, daß
-damit noch immer kein vollständiges Bild des päpstlichen Urkundenwesens
gegeben werden konnte, und er hat namentlich die Übergangszustände in
der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts als zu schwach vertreten be¬
zeichnet. Ich denke, diese durch den des niedrigen Preises wegen ab¬
sichtlich eingeschränkten Baum notwendig gewordene Lücke ist zu ver¬
schmerzen ; Pfiugk-Harttungs Specimina können, wenn sie schon für Zwecke
der Schriftvergleichung nicht ausreichen, bei aller Mangelhaftigkeit doch als
Ergänzung herangezogen werden, um ein Bild von dem Werden der neuen Pri¬
vilegienform zu geben. Ähnlich verhält es sich mit den Registern, die nach
meiner Erfahrung im Unterricht eine viel ausführlichere Behandlung er¬
fordern, als sie an der Hand der Tafeln 4 und 5, die nicht einmal ins
13. Jahrhundert hineinreichen, geboten werden könnte; hier ist und bleibt
Denifles Werk der unentbehrliche Begleiter auch für das Kolleg. Daneben
werden die Tafeln von Arndt-Tangl und etwa auch die von Steffens nütz¬
liche Dienste leisten und Br. hat Hecht getan, in der Auswahl der Stücke
auf einen gewissen Zusammenhang mit der von Tangl gebotenen Auslese
Bücksicht zu nehmen; das Hildesheimer Papyrusoriginal Benedikts VLLL
kann nun, wenn man Arndt-Tangl Taf. 80 und Brackmann Taf, 1 zusammen¬
hält, zwar immer noch nicht vollständig, aber doch in seinen wesentlichen
Teilen überblickt werden; Br. 13 zeigt die Eidesformel, die zu der bei
Arndt-Tangl 103 abgebildeten Provisionsbulle vom Jahr 1472 gehört In¬
haltlich beachtenswerte Stücke enthalten die aus dem Register. Gregors VH.
-auagewählte Stelle (4 b , wozu Br. eine wertvolle Bemerkung F. Schneiders
über den Doppeleintrag des Bannurteils gegen Heinrich IV. mitteilt), ebenso
die aus dem Registrum super negotio imperii (5*, der hier berichtigte
Irrtum der Mom-Ausgabe sowie die Stoffverteilung dieses ganzen Codex sind
bei Tuöek in den Quellenstudien 2, 72 ff. am bequemsten ersichtlich), die
von Br. auch an anderen Stellen behandelte Legatenurkunde betreffend die
Kanonisation Annos von Köln (5 e ), die auf Heinrichs V. Romzug von 1111
Bezug nehmende littera clausa von 1120 (6*), die vielfach umgeänderte
Minute des Schreibens, das Innocenz VL im Juli 1353 an den griechischen
Baiser Johann Cantacuzenos richtete (lO b ), die auf die Kardinalsernennung
-vom 1. Juli 1517 bezügliche Bulle Leos X. (14/15*), ein Breve Clemens V1U.
gegen Cesare d’ Este, das im Dezember 1597 erlaasen, an mehreren öffent¬
lichen Stellen (ad valvas) von den Cursores angeschlagen und mit einem
diesen Vorgang beglaubigenden Zusatz versehen wurde (12 d ), endlich die
große in Heftform prachtvoll ausgefertigte Bulle, durch welche Clemens XL
im Jahr 1715 die kirchenpolitischen Privilegien Siziliens aufhob (lfi).
Mit dieser Fülle weitreichender Beziehungen, die uns aus den von
Br. ausgewählten Papsturkunden entgegentritt, vermag der vierte Teil des
Werkes, der den Siegeln gilt, nicht den Vergleich auszuhalten, aber sein
Wert für den hilfswissenschaftlichen Unterricht steht hinter dem zweiten
nicht zurück und man darf sich freuen, daß Seeliger ihn hier einbezogen
Bat. Philippi, von dem mustergültigen westfälischen Siegelwerk her zur
Bearbeitung des sphragistischen Gebietes besonders berufen, hat in der Ein¬
leitung zu dem Text desselben über die Grundsätze, die ihn bei der Aus¬
wahl leiteten, ausführlich Rechenschaft gegeben. Seine elf Tafeln umfassen
680
Literatur.
262 Abbildungen, wovon 174 auf die deutschen Herrscher von Karl d, Gr.
bis zu MftTiTnilmn U. und auf deutsche weltliche Siegelfuhrer, 21 auf die
Päpste von Hadrian I. bis zu Paul UL, 65 auf deutsche Geistliche ent¬
fallen. Dazu kommen ein schönes Erfurter Universitätssiegel des 15. Jahr¬
hunderts, das Siegel des Baseler Konzils und vierzehn Beispiele für die
verschiedenen Arten der Siegelbefestigung. Zur Verdeutlichung dieser Dinge
wird man jetzt neben Ph. mit Nutzen auch die verkleinerten Aufnahmen
und die schematischen Darstellungen heranziehen können, welche Ewald in
seiner Siegelkunde (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte
Abt IV, 1914) am Schluß bietet Dasselbe gilt von den Siegelstempeln,
von denen Ph. nur drei in einem dem Text beigedruckten Bilde widergibt
während Ewald ihnen vier ganze Tafeln Vorbehalten und überdies die Um¬
änderungen und den Nachschnitt von Stempeln durch besondere Bilder an*
schaulich gemacht hat Wenn man aber die eigentlichen Siegelbilder ver¬
gleichen darf, verdient Ph.'s Zusammenstellung schon um der Ausführung
willen den Vorzug. Für diese sind die einzelnen Siegel in Gips abgegossen
und nach solchen Abgüssen sind die photographischen Aufnahmen gemacht
worden, welche, so viel ich sehe, regelmäßig in Naturgröße, in einigen be¬
sonders bezeichnten Fällen auch vergrößert wiedergegeben wurden. Auf
solchem im. Wesentlichen seit langem eingeschlagenen Weg ist nun aber
diesmal eine Gleichmäßigkeit und Vollkommenheit der Bilder erzielt worden,
die nicht bloß von den stark verkleinerten und verschiedenartigen Dar¬
stellungen bei Ewald sondern auch von anderen rühmlich bekannten Siegel¬
werken vorteilhaft absticht Wo sich nun bestimmte Siegel, die Ph. hier
abbildet, mit den entsprechenden Bildern in Posses Kaisersiegeln l ) oder in
dem alten Westfälischen Siegelwerk vergleichen lassen, springt die Über¬
legenheit der jetzt erzielten Ergebnisse in die Augen. Gerade um dieses
Verfahrens willen ist dann freilich eine gewisse landschaftliche Beschränkung
nicht ganz zu vermeiden gewesen. Wenn man die Papst- und Kaisersiegel
beiseite läßt, so zeigt mehr als die Hälfte der Bilder Siegel westfälischen
Ursprungs, die übrigen Landschaften treten viel stärker zurück, als es dem
wissenschaftlichen Zweck des Unternehmens entspricht; das südliche Deutsch¬
land ist, wenn man von den österreichischen Fürsten absieht, fast ganz leer
ausgegangen. Bei der ungeheuren Menge der erhaltenen Siegel war es
eben nicht anders zu machen, als daß der Bearbeiter die am besten bear¬
beiteten und ihm am besten vertrauten Gebiete bevorzugte. Die getroffene
Auswahl wird dennoch in jeder Hinsicht genügen, um beim akademischen
Unterricht die Entwicklung der deutschen Siegel klarzumachen und zur
Beobachtung aller der heraldischen, kunst- und waffengeschichtlichen Einzel¬
heiten anzuleiten, die sich an ihnen verfolgen lassen.
Überwiegt bei Philippi der Nordwesten Deutschlands, so haben Be dl ich
und Gr 088 als Bearbeiter der Privaturkunden naturgemäß auf den Süd¬
osten das Hauptgewicht ihrer Arbeit gelegt. Aber die in ihrem Teil ein¬
gehaltene Auswahl beleuchtet alle Seiten des reichverzweigten priv&t-
*) Über dieses Werk berichtend hat Wibel im N. Archiv 35, 249 f. für Siegel¬
abbildungen die Aufnahme direkt nach den Originalen gefordert, und diese Forderung
mag unter Umständen berechtigt sein; ob sie sich für größere Siegelwerke em¬
pfiehlt, darf nach der jetzt von Philippi mit Abgüssen erzielten Schärfe der Bilder
wohl bezweifelt werden.
Literatur.
681
urkundlichen Wesens und sie unterscheidet sich gerade durch ihre Viel¬
seitigkeit von älteren Unternehmungen ähnlicher Art Die Tafeln in Posses
Lehre von den Privaturkunden hatten sich mit wenig Ausnahmen in den
Grenzen der wettinischen Lande gehalten und, sowie das Buch selber, nur
ein paar Einzelfragen aus dem weiten Gebiet behandelt auf das sein Titel
hinweist; und auch das dritte Heft der Amdtschen Schrifttafeln, in welchem
Tangl die Privaturkunden mit Absicht bevorzugte, hatte für das spätere
Mittelalter fast ausschließlich brandenburgische Beispiele gebracht. Redlich
und Gross sind über beide hinausgekommen und es ist erfreulich, gerade
aus solchem Vergleich zu sehen, welche Fortschritte der dritte, in mancher
Hinsicht schwierigste Teil der Urkundenlehre während der letzten Jahr¬
zehnte gemacht hat und wie gut sich das neue Unterrichtsmittel dem jetzt*
erreichten Stand der Forschung anschließt. An Gattungen, die bei Aradt-
Tangl unvertreten blieben, sind hier zu begrüßen drei Bilder zur Geschichte
des italienischen Notariatsinstrumentes vom 13. Jahrhundert (Tafel 7), ein
Beispiel für die im 14. Jahrhundert gebräuchliche Anwendung des Siegels
in fremder Sache (8 b ), je eine Seite aus dem ältesten Lüneburger Stadt¬
buch (10*) und aus einem Wiener Grundbuch vom Ende des 14. Jahr¬
hunderts (l3 b ), dann Offizialats- und Ratsurkunden (ll*, 10 b ) und eine
Probe aus dem ältesten, 1288 angelegten tirolischen Raitbuch (13*). Die
Herübemahme einer langobardischen Urkunde von 769 mitsamt ihrer auf
der Rückseite erhaltenen Vormerkung aus dem kostbaren Werk von Bonelli
und die Wiedergabe eines Yperner Schuldbriefs von 1288 aus dem Album
Beige de diplomatique (l und ll bc ) sichern bemerkenswerten Gebräuchen
die gebührende Beachtung, wenn es auch natürlich hier so wenig wie bei
anderen Gattungen möglich war, ihre ganze Entwicklung darzustellen. Aber
auch solche Erscheinungen, die Tangl berücksichtigte, sind nun durch be¬
sonders glücklich gewählte Beispiele neu beleuchtet worden, so das St. Gal-
lener Material des 8. und 9. Jahrhunderts (2 a ist nach Schrift und Sprache
beachtenswert, 2 b zeigt einen der von Redlich auch schon in den Mitt. des
Inst. 5 S. 6 berührten Fälle, in welchen die Unterschrift des Gerichts-
schreibers nicht eigenhändig ist), die bairischen Traditionscodices (4 b ein
im Mondseer Codex eingehefteter Einzelakt des 10. Jahrhunderts), die Chi-
rographierung (6* zwei zusammengehörige aber anscheinend nicht genau
zusammenpassende Stücke), die Beteiligung der Empfängerhand (6 b eine
ganz nach dem Muster der päpstlichen Kanzlei von einem Heiligenkreuzer
geschriebene Passauer Bischofsurkunde), die Nachtragung der Anfangsworte
(8*, deutlicher als in den meisten von Posse, Privaturkunden Taf. 29—32
herangezogenen Fällen), endlich die Beschaffenheit der Konzepte (9, ein ge¬
radezu klassisches Beispiel vom Jahre 1299 aus dem Innsbrucker Archiv).
Daneben ist auch hier auf den Inhalt der Stücke geachtet und es sind,
obwohl das Privaturkundenwesen seltener dazu Anlaß gibt, Urkunden über
geschichtlich bemerkenswerte Vorgänge (8* Wahlversprechen des Pfalzgrafen
Ludwig für Herzog Albrecht von Österreich von 1292; 15 Antwort der
bairischen Herzoge an K. Friedrich UI. betreffend die niederländische Erbschaft
1477) mit aufgenommen worden. Die Klarheit und Schärfe der Urkunden¬
bilder ist hier ebenso zu rühmen wie bei dem von Brack mann bearbeiteten
Teil und wenn ihnen gute Erhaltung beschieden ist (stellenweises Durch¬
schlagen und Abdrucken der Schrift auf den Kehrseiten der Blätter mahnen
682
Literatur.
za r Vorsicht), so werden sie wohl auf lange hinaus das beste Unterrichts¬
mittel der Urknndenlehre bleiben. Ungern vermißt man die Zeilen vAhlung
am Bande, auf welche schon die Erklärungen Bezug nehmen und mit
welcher im Unterricht mancher Zeitverlust erspart werden kann. Auch würde
•es die Ordnung der Blätter wesentlich erleichtern, wenn neben der Tafel¬
nummer auch die Zahl des betreffenden Teiles auf jedes einzelne Blatt ge¬
setzt worden wäre. Aber das sind Dinge, die auch der Benützer seihet
oder aber eine neue Auflage leicht nachholen kann.
Die von den Bearbeitern beigefugten Erklärungen sind nicht in
der unhandlichen Form der Tafeln gedruckt worden wie bei den Abbildunge-
werken von Arndt, Tangl und Steffens, sondern sie bilden besondere
Oktavhefte von je zwei Bogen Stärke, so daß dem vierten Teil auch sehr
erwünschte Namen- und Sachverzeichnisse beigefugt werden konnten.
Eigentliche Übertragungen der auf den Tafeln wiedergegebenen Texte sind
nur bei schwierigeren Stücken geboten worden, so von Brackmann zu dem
ersten, in Kuriale geschriebenen Privileg, von Bedlich und Gross ungefähr
zu der Hälfte der Stücke; so oft es geschah, sind nach Art der pal&ogra-
phischen Abschriften die Kürzungen ersichtlich gemacht. Das ist ebenso
zu billigen wie auf der andern Seite der Verzicht auf gekünstelte Nach¬
ahmung der Buchstabenformen und Kürzungszeichen in den Siegelinschriften;
diese werden bei jedem einzelnen Siegel abgedruckt, jedoch in aufgelöster
Form und in einfacher Antiqua. Wo infolge schlechter Erhaltung bestimmte
Stellen in der Photographie nicht zum Ausdruck kommen oder des Baumes
wegen gewisse Teile der Urkunden nicht zur Abbildung gelangen, hat
Brackmann, bei dem solche Fälle öfter Vorkommen, zumeist in der Er¬
klärung darüber berichtet (vgL 5, 6, 14/15 und 16; nähere Angaben fehlen
nur bei 2/3 und 10). Überall haben Brackmann, Bedlich und Gross an die
.abgebildeten Papst- und Privaturkunden wertvolle Erörterungen diploma¬
tischer und sachlicher Art geknüpft, die mit reichlichen Literaturangaben
Teraehen das Weiterverfolgen des Gegenstandes nach Form und Inhalt an¬
bahnen ; bei Philippi treten die Bemerkungen zu dem einzelnen Siegel zu¬
rück, dagegen ist hier durch eine zusammenfassende Einleitung und durch
Vorbemerkungen zu den ganzen Tafeln derselbe Zweck angestrebt worden.
Da diese Beigaben der Tafeln sich in eng bemessenem Rahmen halten, so
wird es nicht zu vermeiden sein, daß diejenigen, die von ihnen im Unter¬
richt Gebrauch machen, da oder dort, je nach der eigenen Anteilnahme an
dem Gegenstand, größere Ausführlichkeit oder weitere Hinweise als wün¬
schenswert erachten dürften. Werden nun im folgenden solche Ergänzungen
und auch einige Berichtigungen, die mir gerade aufüelen, vorgebracht, so
soll das nicht Tadel sondern vielmehr ein kleiner Beitrag zur besseren
Ausnützung des trefflichen Unterrichtsmittels sein, das jeder Lehrer der
historischen Hilfswissenschaften mit aufrichtigem Dank begrüßen muß 1 ). Ich
*) Einen anderen Standpunkt nimmt Schmitz-Kallenberg ein, der im Histo¬
rischen Jahrbuch der Görresgesellschaft 36, 640 ff. über das Werk berichtet. Er
befaßt sich eingehend mit dem auf die Papsturkunden bezüglichen Teil und bietet
zu diesem eine Reihe von Erläuterungen und Berichtigungen, wie er sich auch
eigens zu diesem Zwecke ein Düsseldorfer Original kommen ließ und auf die Ein¬
sichtnahme eines Königsberger Stückes nur wegen des Krieges verzichtete. Ergaben
sich dabei manche nützliche Beobachtungen, so ist doch das absprechende Urteil
Literatur.
683
folge bei der Aufzählung dieser Einzelheiten der Reihenfolge des Werkes»
indem ich die Teile mit römischen Zahlen, die Tafeln mit arabischen Ziffern
bezeichne.
Za IIl hätte wegen der erhaltenen Papyrusoriginale am besten auf
Breeslau, Handbuch der Urkundenlehre 1 2 , 73 Anm. 2 verwiesen werden
können; wegen der Kurialschrift auch auf Brandi im Arch. f. Urkfschg. 1,.
65ff.; an Abbildungen dieser Schrift wären außer den angeführten etwa
auch die von Brunei (vgL N. Archiv 39, 233 n° 78) und die im Archivio
paleografico fase. 25 voL 6 tav. 11, 12 enthaltenen von JL. 4395 zu
nennen. In der Schriftübertragung, die um eine Zeile mehr enthält als.
auf Tafel 1 zu sehen ist, wurde übergangen, daß hinter dem Bene Valete
(nicht etwa ein Kreuz, wie S. 3, drittletzte Zeile irrig gedruckt wurde,
sondern) mehrere Interpunktionszeichen (Komma) und die Überreste von
zwei langen, in der Mitte durchstochenen s (also wohl das abgekürzte
subseripsi) sichtbar sind; der Vergleich mit JL. 4001, 4047 und besonders
4057 bei Pflugk-Harttung, Specimina Taf. 10 und 11 dürfte diesen diplo¬
matisch nicht unwichtigen Befund sicherstellen; vgL auch Bresslau in Mitt.
des Inst. 9, 26 Anm. 2.
Zu Ü2 empfiehlt sich jetzt auch ein Hinweis auf den freilich erst,
nach diesem Werk erschienenen Teil des 2. Bandes von Bresslaus Handbuch
S. 153. Gerne sähe man an dieser Stelle oder allenfalls bei Tafel 10 b
eine Erwähnung der älteren Minuten und am liebsten auch eine Abbildung
von einem der acht Florentiner Stücke, die Kehr in den Quellen und
Forschungen aus itaL Archiven und Bibliotheken 7, 8 ff. behandelt und von
denen er eines teilweise im Bilde wiedergibt; oder etwa eine Wiederholung
des winzig kleinen Bildchens aus Arch. paleogr. voL 2 fase. 2 tav. 19, das
sich wohl auch neben dem jetzt auf Taf. 2 dargestellten hätte unterbringen
lassen.
Zu H6 dürfte der Hinweis auf Mon. graphica IX. 4 empfehlenswert
sein, wo die Art des aufgeschnittenen Verschlusses besonders deutlich zu
erkennen ist. Auch schiene mir, wenn schon der Hinweis auf andere
über Brackmanns Arbeit, welches Schm, auf diese Art vertritt, nicht gerechtfertigt,
und ich sehe auch zu der besonderen Bewertung von Philxppis Teil, der nach
Schm. S. 652 „zweifellos“ bisher „die beste Leistung“ wäre, keinen Anlaß. Ich
ändere daher nichts an dem Wortlaut meiner zu Ostern 1915, lange vor Er¬
scheinen der Schm.’schen Kritik niedergeschriebenen Besprechung über Br. und
begnüge mich Punkte anzumerken, an denen Schm, zu berichtigen ist. Irrig meint
er 8. 642 f., daß der in II1 fehlende Teil des Hildesheimer Privilegs bereits bei
Arodt-Tangl Tai*. 80 abgebildet sei; es fehlen immerhin noch zehn Zeilen. Die in
II6c enthaltene Tagesangabe lautet H. id. maii, nicht wie Schm. S. 645 liest:
IL kal. maii, und daß sie von anderer Hand herrühre, ist mir unwahrscheinlich.
Was Schm. S. 644 über ungleich?mäßigen Gebrauch der Ausdrücke »Länge“ und
»Breite« der Urkunde sogt, dessen sich Br. schuldig gemacht habe, erklärt sich,
wie ich glaube, daraus, daß die beiden Forscher den Sinn des ganzen Ausdrucks
„der Länge nach gefaltet“ verschieden auftaasen; Schm, scheint an die Richtung
zu denken, in der die entstandene Falte läuft, Br. dagegen an die Richtung der
vorangegangenen Bewegung des Haltens. — Brackmann hat im Hist. Jahrbuch 36,
927 eine ausführlichere Antwort lür ruhigere Zeiten in Aussicht gestellt und sich
vorläufig begnügt, auf die anerkennenden Besprechungen von Tangl im N. Archiv
39, 578 und Werminghoff in den Neuen Jahrbüchern f. das klass. Altertum 33.
(17, 1914), 644 ff. zu verweisen.
684
Literatur.
bildlich zugängliche Calixtusunterschriften vermieden wird, doch die Hervor¬
hebung des Chi-Rho-Zeichens wünschenswert
Zu II 8 b werden die Unterschiede zwischen den Litterae cum ülo serioo
und cum filo canapis, wie sie von Honorius HL bis zur Mitte des 13. Jahr¬
hunderts gehandhabt wurden, besprochen; dabei sollte aber wohl erwähnt
werden, daß auch in der als 8 b abgebildeten Urkunde, welche die erstge¬
nannte Art vertritt das diplomatische Abkürzungszeichen nicht in allen
Fällen, wo man es erwarten sollte, angewendet wird (vgL vestris, vestras
Z. 4, nostra Z. 6 u. 8. w.); für die genauere Betrachtung der später ans¬
gebildeten Regeln bleibt jedenfalls das vortreffliche Beispiel bei Aradt-Tangi
Taf. 89, 90, auf das Brackmann mit Recht hin weist der beste Ausgangs¬
punkt. Diese beiden und die nächstfolgende Tafel bei Aradt-Tangi hätten
dann aber auch unter II9 wegen der Kanzleivermerke herangezogen werden
können.
Bei HlO* ist außer der im N. Archiv 32, 459 ff. von Salomon be¬
sprochenen russischen Veröffentlichung Lichatschevs ganz besonders Cernik's
Aufsatz zu vergleichen 1 ), wo neben einer der ältesten bisher bekannten
Prunksuppliken noch andere bemerkenswerte Stücke zur Geschichte des
Supplikenwesens zu finden sind, darunter ein Brief des Kardinals Bessarion
an das Dorothea-Stift in Wien, der gerade über die Behandlung und den
Wert der »sola signatura* gewährten Bitten Aufschluß gibt Auch Cernik’s
Mitteilungen über Transsumierung einer Prunksupplik, über den bei einem
.Kardinallegaten eingereichten Supplikenrotulus und über das in Kloster¬
neuburg von 1458 bis 1472 geführte »Suppliken-Register* verdienten an
dieser Stelle der allgemeinen Beachtung empfohlen zu werden.
Zu H 12 4 mag wegen der littera interclusa, um daran zu erinnern,
daß solcher Vorgang nicht nur bei Breven beliebt war, etwa auf Redlich,
Wiener Briefsammlung S. 45 N. 40 (Brief eines Kardinals von 1274) und
auf Kaiserurk. in Abb. XI, 25 (Schreiben Maximilians von 1488) hinge¬
wiesen werden, wegen des Aufkommens der Humanistenschrift auf ein
Breve Felix V. von 1441 (Musde dee arch. departem. pL 50 Nr. 129), das
noch die alte Minuskel zeigt
Zu II ] 2 d , wo die Motus proprii erwähnt sind, vgL Salomon a. a. 0. 470.
An dieser Stelle wäre auch ein Wort und womöglich eine Abbildung von
den Cedulae consistoriales am Platz; vgL dazu Archivio paleogr. fase. 23
vol. 2 tav. 100 und fase. 25 vol. 6 tav. 13.
Zu II13 könnte wegen des sachlichen Zusammenhanges (vgL oben
S. 679) Aradt-Tangi Taf. 103 angeführt werden.
Bei Hl4/15 b vermißt man eine Erwähnung der in Z. 14 sichtbaren,
durch eine Schnörkellinie verdeckten Lücke.
Zu II16 vgL die prachtvolle Bulle in Heftform, die 1441 von Eugen IV.
für den Herzog von Burgund ausgestellt wurde, Musde des arch. departem.
pL 47 N. 128; über ein Breve apertum in Heftform von 1610 Salomon
a. a. 0. 475 nach Lichatschev S. 57.
<) Berthold Cernik, Das Supplikenwesen an der römischen Kurie und
Suppliken im Archiv des Stiftes Klosterneuburg, im Jahrbuch des Stiltes Kloster¬
neuburg 4 (1912) S. 325 bis 345 mit vier Tafeln.
Literatur.
685
Zu HI 1, Text S. 2 lies 524 statt 542; die Worte »quidquid homo
in loca veneravia contnlerit, centublum acepiet et insuper vitam hederaam
possedevit 4 dürfen ohne Zweifel als Arenga betrachtet werden; S. 3 in
der Mitte wäre wohl auf Schiaparelli im Archivio stör. Italiano 39, 1907
hinzuweißen gewesen.
In der Sehriftübertragung yon HI 2 Ä ist in der Mitte statt mqrcede:
mercqde zu lesen.
IIl4 b ist auch im Salzb. ÜB. 1, 911 Nr. 23 gedruckt, wo zwar der
Sinn der nachgetragenen Namen, aber noch nicht die Zeit der Nachtragung
erkannt wurde.
Zu ID 5 b sei an die über die böhmische Herzogsurkunde gemachten Be¬
obachtungen in den Mitt des Inst. 32, 650 fl erinnert
HI 15 ist schon gedruckt und zwar Mon. Habsburgica I, 1, 463; YgL
auch Biezler, Gesch. Baiems 3, 451.
Zu IV 1 und 3 sind die einzelnen Diplome, yon denen der Abdruck
der wiedergegebenen Kaisersiegel genommen ist Anschluß an den unbe¬
quemen yon Posse geübten Brauch ausschließlich nach Regestennummern
angeführt; also auch dort wo die Monumenta-Ausgabe längst yorliegt nach
den Nummern der Stumpf-Regesten, die, einst so wertvoll, jetzt doch glück¬
licherweise mehr und mehr ein überholtes Werkzeug der Forschung werden.
Es hängt vielleicht damit zusammen, daß auch die auf den Gebrauch der
Siegelstempel bezüglichen Feststellungen der Diplomata nicht überall be¬
rücksichtigt sind. IV 3 a , der vierte Bullenstempel Ottos HL, ist nicht
während der ganzen Kaiserzeit dieses Herrschers, wie PL angibt sondern
nur 1001 und 1002 in Verwendung nachweisbar, vgL DD. 2, 392 b und
die wörtlich von dort herübergenommene Stelle bei Posse 5, 16. Die IV 3, 8
abgebildete »Bleibulle Kaiser Heinrichs H. 4 ist doch auch in Gold ausge¬
prägt worden und so erhalten an dem jetzt in Graz verwahrten DH. IL 428,
vgL DD. 3, S. XXX und S. 549 Note f, dazu DD. 4, 430 und jetzt überdies
noch Ewald a. a. O. 121 Anm. 3 und 146 Anm. 5. Dagegen ist IV 3, 8 ,
der Stempel, den PL S. 11 als »Gold- und Bleibulle Kaiser Konrads IL € und
in der Beischrift der betreffenden Tafel sogar mit »Gold* allein anfuhrt
nur in Blei erhalten und bloß Leo von Ostia bezeugt bei DK. IL 270
nein einstiges Vorkommen in Gold. Die zu dem Siegel der Kaiserin Kon-
-stanze IV 3, 9 gesetzte Zeitangabe »1186—1197 4 trifft wohl für die Zeit¬
dauer ihrer Ehe mit Heinrich VI. aber nicht für das Siegel zu; ebenso
passen die im Text S. 11 angeführten, auf der Tafel allerdings verbesserten
•Jahreszahlen bei IV 3, 7 zwar für die. Regierungszeit Ludwigs des Baiern,
aber nicht für die Anwendung seiner herrlichen Goldbulle, bei welcher
übrigens auch die von Bressliu, Handbuch 1 l , 932 Anm. 1 beobachtete
Randverzierung und die Beschreibung von Haberditzl in den Mitt. d. Inst.
29, 646, die Posse 5, 38 :iur wörtlich wiederholt Erwähnung verdienten.
Zu IV 4, 3 , einem Siegel Leopolds VL, ist beidemal die Regierungszeit
dieses Herzogs gesetzt und '.war mit dem unrichtigen 1236 (statt 1230)
als Todesjahr. Dagegen haben Siegenfeld, Das Landeswappen der Steiermark
S. 148 und Mitis, Studien zum älteren österr. Urkundenwesen S. 420 das
Aufkommen dieses Stempels, der übrigens als Münzsiegel angewendet wird
(Ph. bildet nur die Vorderseite ab), erst seit 1214 feststellen können.
686
Literatur.
Zu IY 5, v dem auffallend gut gezeichneten Siegel der Pfakgr&fin
Adelheid, hätten die Bedenken von Bresslau, Handbuch 1 *, 708 Anm. 0
nicht unberücksichtigt bleiben sollen.
Zu IY 5, 8 vgl. Siegenfeld a. a. 0. 149 und die dort angeführte*
Stelle bei Sava.
Zu IV 7, 9 sollte auf S. 5, anstatt S. 9, verwiesen werden, zu IV 11
A 5 lies in der Beischrift der Tafel Paul HL statt Paul IL; im Text sind
ferner zu verbessern: zu IV 1 18 statt 1160: 1169; S. 3 unten statt
m 17: IV17 u. dgL, dann kleine sprachliche Fehler S. 1 Z. 9 und
S. 8 Z. 6.
So mag es im Einzelnen gerade bei diesem auf die Siegel bezüglichen
Teil noch manches zu bessern geben. Aber hier ist ja das Verdienst und
der Gewinn der neuen Sammlung nicht in den beigegebenen Erklärungen
sondern in den gelungenen Abbildungen zu suchen. Sie werden der Siegel*
künde, die bisher über ein gutes und wohlfeiles Lehrmittel überhaupt nicht
verfügte, erst richtigen Eingang an den Universitäten verschaffen. Von den
diplomatischen Teilen des Werkes darf wohl noch mehr erhofft werden. Wo
der Unterricht in der Urkundenlehre zu Hause ist, werden sie es ermög*
liehen, ihn in engere Fühlung mit den neuesten Forschungsergebnissen zu
setzen und auch auf solche Gebiete auszudehnen, die in den älteren An*
Bchauung8mitteln fehlten; und wo aus Mangel an geeigneten Behelfen dieser
Unterricht bisher vernachlässigt war, kann er gefördert von diesem billigen^
selbst manchem der Hörer erschwinglichen Behelf nunmehr aufblühen und
rasch das Versäumte nachholen. Aufrichtiger Dank gebührt dem Heraus*
geber, den Bearbeitern und nicht zum wenigsten dem rühmlich bekannten
Verlag B. G. Teubner für diese Tat, die dem geschichtlichen Unterricht der
deutschen Hochschulen die Wege ebnet. Mögen alle Berufenen sie benützen t
Innsbruck. W. Erben.
Das Königtum der Thronfolger im deutschen Beich
des Mittelalters. Von Dr. Franz Becker. Quellen und Studien
zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches in Mittelalter und
Neuzeit, herausgegeben von Karl Zeumer. Band V, Heft 3, Weimar
1913. XH und 134 S. 8°.
Die Arbeit ist eine Doktordissertation, hervorgegangen aus dem Bo¬
stocker historischen Seminar. Sie überragt weit das DurchschnittBnivean
derartiger Schriften. Dem Verfassungshistoriker wird durch sorgfältige und
umfassende Quellennachlese zu der behandelten Frage ein reichhaltiges
Material zur Verfügung gestellt — in den Anmerkungen; der Text dar¬
über, der dieses Material verarbeitet, leidet an dogmatischar UnfertigkesL
Ich möchte aber daraus dem Verfasser, der ja nicht geschulter Rechtshisto¬
riker ist, keinen zu schweren Vorwurf machen. Forscher mit größerer
dogmatischer und methodischer Erfahrung sind an der Schwierigkeit ge¬
scheitert, in mittelalterlichen Verfassungsfragen Form und Inhalt, Ausdruck
und Sinn, Gewohnheit und Recht zu unterscheiden.
Literatur.
687
Der Fehler liegt an der Arbeitsmethode. Es ist unmöglich, histori¬
sches Material zu einer juristisch-dogmatischen Darstellung zu verarbeiten,
wenn man mit den juristischen Begriffen so ungeklärte Vorstellungen ver¬
bindet wie Becker. Die an und für sich sehr schätzenswerte Arbeits¬
leistung wäre erfreulicher, wenn sie nichts weiter gebracht hätte, wie die
Quellennachlese.
Ficker hat derartige Fragen so angepackt, daß er Urkundenzeugnisse
sammelte und nebeneinander stellte, im Text, nicht in Anmerkungen; so,
daß Punkt für Punkt die Überzeugung sich aufdrängte: der Masse der Er¬
scheinungen muß eine Ordnung, muß Zwang, muß Gesetz zugrundegelegen
haben. Wie eine reife Frucht fiel dann da3 juristische Ergebnis ab und
prägte sich um so deutlicher dem Leser ein, je vorsichtiger, je zurück¬
haltender es von Ficker zum Schluß als Rechtssatz formuliert wurde. Aller¬
dings ging Ficker dabei stets von einem wohl überlegten Plan aus; so
konnte sich dann das Ergebnis wie von selbst in das Gesamtbild der Ver¬
fassungsentwicklung einfügen und da eine Lücke ausfüllen. Die richtige
Relation zwischen einem besonderen Rechtsbegriff oder einer besonderen
Reehtsinstitution und der Gesamtheit der gleichzeitigen Rechtseinrichtungen
und Rechtsanschauungen muß beachtet werden, und das kann nur ein
Forscher, der die gesamten Verfassungsverhfiltnisae vollkommen überblickt.
Becker operiert ausgiebig mit den Begriffen »rechtlich 4 , »staatsrecht¬
lich* und speziellen Begriffen, wie Wahlrecht (des Königs und des Volkes),
Wahlreich, eidliche Verpflichtung; »Designation 4 und »Königserhebung 4 werden
unterschieden. Aber die Darstellung zeigt, daß er von einem Staatsrecht
des Mittelalters — das ja für den Rechtshistoriker vorläufig eine ziemlich
problematische Größe bildet — nur konfuse Vorstellungen hat. Was be¬
deutet denn »der moralische Anspruch der stirps regia auf die Herrschaft 4
(SL 4); das »wichtige Recht der Urkundenausfertigung 4 (S. 10); was ist ein
»VollkÖiiig 4 (S. 64); was heißt ein »staatsrechtlicher 4 Gehorsam des Sohnes,
im Gegensatz zu einem »natürlichen 4 (S. 68 f.)? Gibt man sich die Mühe
genau zu analysieren, was sich Becker überhaupt als »Recht 4 vorstellt, so
zeigt sich, daß er formelle Gebundenheit ohne weiteres als Recht, als
Äußerung von Gesetzmäßigkeit auffasst. Die formale Betätigung des Königs
gibt ihm ein Bild »in rechtlicher Hinsicht 4 , dem er die »politische Stel¬
lung 4 — nämlich das historische Bild — entgegenstellt (S. 10; vgL auch
SL 31 £). Außerdem verwechselt er den Willen des Kaisers mit dem
Verfassungswillen. Ferner ist es eine petitio principii, wenn von
Anfan g an von einer »staatsrechtlichen Bedeutung 4 der Akte gekrönter
Kaisersöhne gesprochen wird: die ganze Arbeit soll ja erst ergeben, inwie¬
fern der formellen Wahl, Krönung, Betätigung des Sohnes bei Regierungs-
handlungen eine besondere verfassungsrechtliche Stellung des Thronfolgers
entsprach. Scheidet mau aus der Darstellung alle juristischen Bewertungen
aus, so zeigt sich zum Schluß < as eigentümliche Resultat, daß gerade solche
Thronfolger-Könige, die offenba* tatsächlich keine oder nur sehr beschränkte
selbständige Befugnisse genoss in, formell mit fast allen Funktionen könig¬
licher Macht ausgestattet waren, z. B. Otto H. (unter Otto L), während
sehr selbständige Thronfolger-Könige mitunter formell in deutlich ab¬
hängiger Stellung erscheinen z. B. König Heinrich unter Friedrich IL
Mittelläufen XXXVI.
45
688
Literatur.
Daraus ist nur ein Schluß möglich — und der entspricht genau
unserer bisherigen Anschauung: daß der designierte Thronfolger weder
durch seine Erwählung, noch durch seine Krönung, noch durch seine Teil¬
nahme an königlichen Befugnissen (Mitunterzeichnen, auch Alleinunter¬
zeichnen von Königsurkunden, Mitsiegeln, Zählen der Begierungsjahre von
seiner Krönung ab u. s. w.) in eine materielle verfassungsmäßige Sonder¬
stellung einrückte. Die Designation durch den Herrscher (der dabei, den
mittelalterlichen Auffassungen vom Thronfolgerrecht entsprechend, durchaus
nicht an seinen erstgeborenen Sohn gebunden war) bleibt das wesentliche;
und diese Designation war und blieb ein politischer Akt. Ebenso waren
aber auch alle Mittel, die der Vater zur Sicherung seiner Designation er¬
griff^ rein politische Akte. Designation und Anerkennung mit allen mög¬
lichen Kautelen haben im Deutschen Beich nie einen anderen Charakter als
den einer diplomatischen Sicherungsmaßregel bekommen, während sie ander¬
wärts sich zu einer formellen Ausgestaltung des staatlichen Thronfolger¬
rechts, also zu einem materiellen Verfassungsinstitut entwickeln konnten.
Historische Tatsache und juristische Institution müssen hier nach dem
Inhalt, nicht nach der Form auseinandergehalten werden.
Von dieser historischen Erscheinung hatte die dogmatische Unter¬
suchung auszugehen. Dann hätte sich daraus die interessante Frage ent¬
wickelt, wieweit der Herrscher frei über die Prärogativen seiner Stellung zu
Gunsten des designierten Throfolgers verfugen konnte und in wiefern darin
im Lauf der Jahrhunderte ein Wandel eingetreten ist. Das wäre ein rein
verfassungsrechtliches Problem — auf das Becker bei seiner pseudojuristi-
schen Anschauungsweise gar nicht gekommen ist.
Ein weiteres verfassungsrechtliches Problem, das sich durch die histo¬
rische Untersuchung auf drängt: wie allmählich der im Lehnrecht zuerst
entwickelte Gedanke des Primogeniturrechts auf das Thronfolgerecht ein¬
wirkt, könnte mit dem gebotenen Material nicht gelöst werden, sondern
müßte die Nachfolge in die Bechtsstellung der Beichsmagnaten einbeziehen.
Beckers Auslegung maßgebender urkundlicher Ausdrücke ist mitunter
willkürlich. Warum soll »elegerunt 4 bald mit wählen, bald mit huldigen
(S. 60) übersetzt werden? Von der Acclamation, Huldigung, Treueid für
Otto DL beim Tode Ottos Lheißt esS. 12: »StaatsrechtlicheBedeutung kommt
diesen Vorgängen nicht zu, sie sind eine feierliche Anerkennung 4 , aber
eine S. 129 A. 1 zitierte Stelle aus Ivo von Chartres sagt ausdrücklich,
daß der erbrechtlich und durch Wahl bestimmte Thronfolger nur »in regno
• . consecratus 4 sei. Meint Becker etwa, dies bedeute, daß der Thronfolger
beim Tode der Vorgängers ipso iure König geworden sei? Das würde
eine Bechtsauffassung voraussetzen, die erst viel später aufkam.
Auf eine falsch interpretierte Stelle hin wird England zum »Wahl¬
reich 4 gemacht (S. 2, 132). Sollen wir denn die historische Anschauung
von den fortwährenden Erbfolge kriegen in England, von denen sogar
bei uns jeder Shakespeareleser etwas weiß, einfach über Bord werfen?
Dänemark soll erst 1660 »wirklich 4 Erbreich geworden sein — seit dem
15. Jahrh. regiert dort eine Dynastie; sie ist durch Erbfolge auf den
Thron gekommen; und genau so die früheren Dynastien. Allerdings, das
englische, das dänische Thronerbfolgerecht war nicht von Anfang an genau
das moderne — auch heute ist es ja noch in den verschiedenen Monarchien
Literatur.
689
(sogar innerhalb Deutschlands) verschieden genug. Selbst wenn Becker
(8. 2, 128) für Frankreich Ende des 9. Jahrh. bis zum Jahre 987 Wahl¬
königtum im Gegensatz zum Erbkönigtum der Zeit vorher und nachher
annimmt, so läuft das auf eine terminologische Spitzfindigkeit hinaus.
Sowohl die Burgunder wie die Capetinger sahen sich als Erben der
Krone an und konnten das nach den Anschauungen ihrer Zeit. Der letzte
echte Karolinger galt, genau wie später die jüngeren Capetinger, als Herzog
von Lothringen nur noch für einen Magnaten, lehnsabhängig wie alle an¬
deren Magnaten; das kommt in den Quellen klar zum Ausdruck. Sein
Erbrecht bestritt niemand, aber andere Magnaten, die auch Erben waren,
wurden ihm vorgezogen« Nur für ein modernes deutsches Thronfolgerecht
wäre er als letzter Agnat der einzige Erbe gewesen. Aber ein derartiges
Thronfolgerecht gab es noch ebensowenig wie ein Becht freier Wahl
Juristisch stellt sich die Sache folgendermaßen dar: Das Mittelalter
kannte weder einen Wahlrechtsbegriff, noch einen Thronfolgerechtsbegriff,
der infolge gesetzlicher Fixierung oder infolge wissenschaftlicher Konstruk¬
tion fest umschrieben gewesen wäre *). Die Thronfolge richtete sich nach
Traditionen und nach gemeinsamen Überzeugungen, die im Lauf der Zeit
wechseln konnten und tatsächlich sich in den verschiedenen Ländern ver¬
schieden entwickelt haben. Ganz unabhängig hiervon lebten und entstanden
verschiedenartige Erbfolgeregeln: in den Zivilrechten der verschiedenen
Stände und im Lehnrecht.
Ganz allgemein fehlt dem Mittelalter die moderne Rechtflau flfassung
notwendiger Übereinstimmung zwischen wörtlichem und materiellem Inhalt
einer Beurkundung. Wenn man im Mittelalter etwas dokumentieren oder
auch nur juristisch spezifizieren wollte, griff man zu irgend einer nahe¬
liegenden gangbaren Ausdrucksform. So konnte einerlei juristisches Kleid
recht verschiedenen Inhalt decken. Wählen kann Wahl im modernen Sinne
bedeuten (bei den kanonischen Wahlen) oder einfache Ernennung (bei Be¬
amtenwahlen) oder Bestätigung (bei den Thronfolgern). Einsetzung zum
Thronfolger kann politischer Sicherungsakt sein, aber auch Bestellung zu
-einem außerordentlichen Vertreter. Wir werden in Fragen des Verfassungs¬
rechts am weitesten kommen, wenn wir uns ganz an das historische Bild
halten und danach die juristische Terminologie der Quellen bewerten, nicht
umgekehrt. Auch das Verschwinden eines technischen Ausdrucks (wie
Designation) muß durchaus nicht Wandel der Einrichtung bedeuten.
Becker bedauert, daß er keine Monographie über das byzantinische Mit¬
königtum gefunden und dieses deshalb nicht vergleichend habe heranziehen
können (s. 128). In der Tat hätte sich ihm an byzantinischen Beispielen
vielleicht am besten die juristische Natur des »Thronfolgerkönigtums* er¬
schlossen.
Czernowitz. Düngern.
8. 27.
*) VgL meine Abhandlung »War Deutschland ein Wahlrekh«, Leipzig 1913,
600
Literatur.
Die deutschen Königinnen und Kaiserinnen von
Konrad IIL bis zum Ende des Interregnums. Von Dr. Wolf¬
gang Kowalski Weimar. Verlag von Hermann Böhlaus Nachfolger.
1913. IV. u. 146 Seiten 8°
Im Anschluß an Hellmanns »Heiraten der Karolinger*, drei Greife»
walder Dissertationen von Plischke, Gerken und Mardus über die Heirat»»
politik der Könige und Kaiser von Heinrich L bis Friedrich IL und drei
Dissertationen von Kirchner, Krull und Rodeck über die Eheschließungen der
Kaiser und Könige im Mittelalter, versucht Kowalski möglichst alles Material
für die Lebensabrisse der Königinnen und Kaiserinnen während des ange¬
gebenen Zeitraums, für die Einschätzung der politischen Bedeutung ihrer
Ehen, die Form ihrer Eheschließungen, die Form der Krönungen, die
öffentliche und die private Stellung der königlichen Frauen in knappen
Darstellungen zusammenzufassen. Ein sorgfältiges Personenregister ist bei¬
gegeben, außerdem ein Literaturverzeichnis, in dem jedoch auffällt, daß nur
wenige Werke aus der familiengeschichtlichen bez. aus der genealogischen
Literatur über die Familien der fürstlichen Frauen benutzt worden sind»
Die politische Wertung dieser Ehen ist natürlich nur möglich, wenn
man auf die Verwandtschaft der Königinnen eingeht. Dazu dienen z. B.
Ahnentafeln, wie sie für sämtliche französischen Königinnen von Le Laboureur
schon im 17. Jahrhundert und ähnlich neuerdings für alle englischen
Königinnen von Watson im »Genealogist* zusammengestellt worden sind.
Für die Frauen der arpadischen Könige von Ungarn hat Wertner in den
Jahrbüchern des Vereins »Adler* die Verwandtschaft untersucht. Kowalski
geht über die allernächstliegenden Feststellungen nicht hinaus. Vielfach
fehlt selbst die Angabe der Mutter der Königin (S. 5, 27, 35, 55, 60).
Nur vereinzelt geht er etwas weiter auf die Familienbeziehungen ein, die
durch die Ehe angeknüpft wurden. Die dynastischen Beziehungen waren
aber im Mittelalter das allerwichtigste! Hier wäre es doch am Platze ge¬
wesen, endli&i einmal darauf hinzuweisen, daß Kaiser Friedrich IL teils
durch Blutsverwandtschaft, teils durch seine Heiraten mit »ganz Europa* —
wie wir uns heute ausdrücken würden — vervettert oder verschwägert
war. Ohne genealogischen Überblick läßt sich eine derartige Arbeit über
die politische Bedeutung von Ehen im Mittelalter allerdings nicht durch¬
führen, und der fehlt Kowalski. Hauptquelle für die Feststellung von Ver¬
wandschaften ist ihm Bahnson (Stamm- und Regententafeln zur politischen
Geschichte, 1912) — eine dilettantische Kompilation, die kein sorgfältiger
Historiker zur Hand nehmen oder gar zitieren darf 1 ); außerdem Voigtel-
i) Bahnson erklärt in seinem Vorwort selbst, daß er seine Stammtafeln
Gutdünken aus der Literatur — nicht aus den Quellen — zusammengestellt und
versäumt habe, diese literarischen Quellen (die er infolgedessen prinzipiell nicht
angibt) auch nur sich selbst zu merken! Tafel 57, 58 des IIL Bandes führt
er 40 Generationen sagenhafter dänischer Könige vom Jahr 810 rückwärts auf!
Tafel I, 96 ist- (wohl aus Helmolts Weltgeschichte I. AufL?) der neuerdings ent
in der Literatur aufgekommene Fehler in der Abst&mmungsreihe Kaiser Michaels VHL
des ersten Palaiologen (douplos Palaiologos wegen seiner weiblichen Abstam¬
mung von den Palaiologen!) aufgenommen; und Ähnliches mehr; von einer kriti¬
schen Kontrolle der Daten ist bei Bahnson gar keine Rede. Ein solches Buch int
nicht Quelle für einen Historiker.
Literatur.
691
Cohn! Behrs Generalogien scheint er nicht za kennen. Es ist doch in
Arbeiten, die kritisch sein wollen, angehörig, sich aaf ankritische »Quellen*
za berufen, wenn bessere Werke zur Hand sind. Die Hauptaufgabe einer
Arbeit über die Königinnen bleibt also noch za tan 1 ). In der Beurteilung
der politischen Bewertung der Heiraten kommt infolgedessen Kowalski kaum
Aber eine Wiedergabe von Nachrichten hinaus, die sich unmittelbar aus den
zeitgenössischen Quellen und aus allgemein geschichtlichen Urteilen ent¬
nehmen lassen. So ist eine gewiß anerkennenswerte und brauchbare
Notizensammlung entstanden. Aber die kritische Darstellung der mittel¬
alterlichen Geschichte gibt sich heute mit solcher Art »Forschung« nicht
mehr zufrieden.
In der Reihe der Königinnen hätte der Vollständigkeit halber auch
die erste Gemahlin Richards von Comwallis (Isabella, Tochter des William
Mar&hal Earl of Pembroke, t 1219, und der Isabelle de Cläre, heir. 1231,
+ 1240) erwähnt werden können; wohl auch Bianca Lancia, die nach An¬
sicht ihrer Zeit mehr als die Concubine Friedrichs DL, übrigens ihm eben¬
bürtig, ja entfernt mit ihm blutsverwandt war. Über Beatrix, letzte Ge¬
mahlin Richards von Comwallis, bemerkt Kowalski richtig, daß sie von
Falkenburg hieß, nicht Falkenstein, wie eine Quellenstelle (M. G. SS. XXV11,
502, 15) sagt Die letzten Feststellungen ihrer Verwandtschaft finden sich
aber nicht in der zitierten Bonner Dissertation vou Joh. Ferd. Bappert
(1905), sondern bei Hillebrand, Annalen d. V. £ nassauische Ak. 35
(1905/6) und 38 (1908); dort ist auch die entscheidende Untersuchung
hervorgehoben. Beatrix war also aus dem Hause Cleve, ihre Mutter von
Montjoie aus dem Hause der Herzöge von Limburg. Beatrix war verwandt
mit den Häusern Limburg, Luxemburg, Flandern, Holland und Brabant;
also mit dem König Wilhelm, aber auch mit Adolf von Nassau, Heinrich VIL
und dem französischen Königshause. — Irene, Gemahlin Philipps von
Schwaben, wird in den Quellen auch Maria und Cecilie genannt; die
Mutter mußte hier um so mehr angegeben werden, als vielfach, z. B. von
Helmolt, Weltgeschichte, V. (1905), Tabelle 8. 96, fälschlich als Mutter
Margarete von Ungarn erscheint. Die Mutter war eine Byzantinerin, wie
schon Ducange, fam. byz. 8. 167 richtig angegeben. Die Kaiserin Irene
soll nach Kowalski 1183/6 geboren sein: 8. 24 A. 8; Quelle: Bahnson!
Ich weiß nicht, woher Bahnson die Daten hat Nach meinen Notizen sind
alle Daten dieser Anmerkung falsch, doch bin ich hier in Czemowitz nicht
in der Lage meine Vermerke nachzuprüfen. Ich halte Irene für älter wie
ihren Bruder Alexios, den späteren Kaiser, und setzte ihre Geburt minde¬
stens 10 Jahre früher wie Kowalski Damit würden die Konsequenzen,
die er aus dem Alter zieht, um die Frage zu lösen, ob Irene mit Roger,
8ohn Tancreds von Lecce, verheiratet oder nur verlobt gewesen, fortfallen.
Will man so alte — wenn auch vielleicht nebensächliche — Fragen er¬
ledigen, so genügt wirklich nicht eine Berufung auf Bahnson! Wie können
wir den Liebhaber-Genealogen Dilettantismus verwerfen und das Mißtrauen
gegen die »eitele* Genealogie predigen, wenn wir in ernsthaften historischen
*) Vor langen Jahren habe ich Ahnentafeln sämtlicher deutschen Königinnen
und Kaiserinnen zusammengestellt, die als Band HL meiner »Ahnen Deutscher
Fürsten« erscheinen sollten. Der verlegerische Mißerfolg dee ersten Bandes hat
die Publikation verhindert.
692
Literatur.
Arbeiten ans auf solche unkritischen Arbeiten als einzige Quelle für &llge-~
meingeechichtliche Schlüsse berufen! Vielleicht ist Kowalskis Ergebnis richtig,
aber es ist nicht bewiesen. — Irene hatte außer dem Alexios mindestens
noch einen Bruder Manuel (f 1205/8) und eine Schwester Euphrosine,
Nonne, t vor 1208. Vgl, Kernling, Gesch. d. B. v. Speyer, L, 429, wo
auch ihre Mutter (urkundlich) Heraia = Irene genannt ist. — Die wieder¬
holten genealogischen Notizen über Violante, Gattin König Alfons X. von
Kastilien, und ihre Verwandschaft sind falsch: sie war die Urenkelin König
Alfons II. von Aragonien; ihr Großvater, König Peter 1L, war der Bruder
der Konstanze, Gemahlin Kaiser Friedrichs H. (zu S. 62 und S. 38 A 2)
Anerkennung verdient das Heranziehen der päpstlichen Dispense wegen
Blutsverwandtschaft mit genealogischer Auflösung. Ich vermisse aber den
interessanten Dispens für Friedrich U. und Isabella (gt Jolanthe) von Jeru¬
salem vom 5. August 1223, dessen Auflössung sich allerdings aus keinem
der von Kowalski zitierten Werke entnehmen ließe.
Über die rechtsgeschichtlichen Kapitel hat H. Mitteis, Ztschr. d. Savst
£ KG. germ. Abt 1913, 486 einige berichtigende Bemerkungen gemacht
Kowalski verzichtet auf juristisch-dogmatische Durcharbeitung des Material^
die ihm wohl fern gelegen hätte. Immerhin wird man einer Polemik gegen
Fickers Auffassung des Verhältnisses zwischen Verlöbnis und Vermählung
Beachtung zollen dürfen. Um die Frage zu erledigen, war der gewählte
Kähmen zu knapp. — Als Materialsammlung ist auch bez. der Titel die
Arbeit dankenswert
Noch zwei Äußerlichkeiten: Den Familiennamen der Beatrix, Mutter
Konstanzas von Sizilien, schreiben wir Bethel (statt Betest: 8. 21). — Die
wiederholt vorkommende Wendung: »Tochter des Königs N. N. und dessen
Gemahlin N. N. € ist nicht deutsch.
Daß wir von der ersten Gattin des Königs Heinrich Baspe nur den
Vornamen kennen, ist richtig (S. 57 A. 2). Sollte es wirklich unseren
Genealogen unmöglich sein, von dieser Königsgattin aus dem 13. Jahrh. zu
ermitteln, aus welcher Familie sie war? Übrigens ist, nebenbei bemerkt,
auch die Mutter König Günters von Schwarzburg bisher nicht urkundlich
festgestellt. Das sind genealogische Lücken, wie keine andere europäische
Königsgeschichte sie aufzuweisen hat, also wohl Stoffe zu nicht ganz un¬
nützen Untersuchungen für unsere rührigen jüngeren Genealogen.
Czernowitz. Düngern.
Dr. phiL Fritz Schönherr, Die Lehre vom Beichsfürsten-
stande des Mittelalters, Leipzig. Verlag von K. F. Koehler, 1914.
Vill und 156 Seiten 8°.
Der Verfasser revidiert die Lehre, daß sich Ende des 12. Jahrh. der
Fürstenstand der älteren Zeit aufgelöst und ein neuer Fürstenstand ge¬
bildet habe. Urkundliche Nachprüfung und Kritik der Literatur über
diesen Gegenstand sind prinzipiell ausgeschaltet. Da es sich um eine Ent¬
deckung handelt, die, seitdem sie Ficker in seinem Buch vom Beichsfursten-
stande B. I bekannt gegeben, ziemlich von allen, die sich mit der deutschen
Literatur.
693
Verfassungsgeschichte des Mittelalters zu befassen hatten, übernommen
worden ist, ergab sich äußerlich eine Durcharbeitung eines großen Teils
der neueren verfassungsgeschichtlichen Literatur seit Erscheinen des Ficker-
schen Buches. Eine derartige dogmatische »Vorarbeit weiterer urkundlicher
Untersuchungen* ist besonders auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte niemals
überflüssig. Sie als gesonderte Abhandlung erscheinen zu lassen war hier
gerechtfertigt, einmal dadurch daß das behandelte Problem zwar immer
mehr als wichtig, ja als zentral für die noch ausstehende Geschichte der
Verfassungsreform im 12. und 13. Jahrh. erkannt wird, dann aber auch
deshalb, weil, wie Schönherr einleuchtend nachweist, Pickers Resultate viel¬
fach kritiklos, ja unverstanden übernommen worden sind. Allerdings waren
die Nachprüfung und das Verständnis erschwert, da Ficker sein Buch nie
ganz herausgebracht hat. Auch der inzwischen von Puntschart edierte
Band II des Werkes enthält nur Beiträge zur Frage und selbst der noch
nicht herausgegebene Schlußband wird eine abschließende Stellungnahme
Fickers nicht bringen, geschweige denn eine völlige Erledigung des Problems
— soviel wissen wir schon aus Puntscharts Einleitung zum B. JL
Dem versucht Schönherr nachzuhelfen, dadurch daß er aus späteren
Arbeiten Fickers dessen Ansichten und Gedanken über die ständische Auf¬
lösung und Neuordnung im 12. Jahrh. zu rekonstruieren unternimmt —
gründlich, geschickt und klärend. Denn er hat wenigstens nachzuweisen
vermocht, daß die Wandlung, die auf Fickers Autorität hin als eine zeit¬
lich genau bestimmte Verfassungsänderung aufgefaßt wurde, für Ficker
selbst nur ein Entwicklungsmoment einer längst vorbereiteten Reorganisation
darstellte, und daß es Ficker nicht gelungen war, volle Klarheit über die
Voraussetzungen dieser Wandlung: nämlich über die ständischen Verhält¬
nisse vor 1180, noch über die Wirkungen, die ständischen Verhältnisse seit
1180, zu gewinnen. Schönherr zeigt außerdem, daß die Literatur seit
Ficker darin bis heute nur wenig weiter gekommen ist, daß sie den von
Ficker hervorgehobenen Unterschied vor 1180 und der neueren Fürsten¬
gruppe nicht genügend in seiner einschneidenden Bedeutung gewürdigt hat,
und daß offenbar die Forschung erst dann weiter kommen wird, wenn sie
sich allgemein von der Notwendigkeit einer Rekonstruktion der recht¬
lichen Stellung dieser verschiedenen Fürstenkreise überzeugt Zutreffend
hebt der Verfasser dabei hervor, daß hierzu auch die Frage der Abgrenzung
des Magnatenkreises, also das Problem der Fürstengenossen, gehört
Die Arbeit wird zu einem merkwürdigen Stück deutscher Forschungs¬
geschichte dadurch, daß Schönherr in strenger Gegenüberstellung die ganze
Rechtslage — Abgrenzung, Ursprung, Zusammensetzung des Standes, Zeit¬
punkt der Reorganisation, lehnrechtliche Verhältnisse, Standschaft der
jüngeren Reichsfursten, je nach den Ansichten Fickers und nach den An¬
sichten der späteren Schriftsteller durchnimmt Der zwingende Einfluß
Fickers selbst bei den wenigen Forschern, die versucht haben, über seine
Resultate hinauszukommen, erweist sich als erstaunlich groß. In 8 Punkten
wird schließlich zusammen gefaßt (S. 144—154), was nach dem heutigen
Stande der Forschung anerkannt, was behauptet aber unbewiesen ist und
daraus ergeben sich bestimmte Direktiven für künftige Arbeiten.
Es ist selbstverständlich, daß eine so intensive Beschäftigung mit dem
Problem unwillkürlich zum Kritiker macht. Es hätte nicht einer Ent-
694
Literatur
chuldigung bedurft — weil die »quellenmäßige Fundierung* fehle —
wenn Schönherr am Schluß zwei Gesichtspunkte feststellt, die ihm für die
Lösung des Reichsfürstenproblems wesentlich scheinen: Er glaubt daß »mit
den staatsrechtlichen Begriffen, die sich aus der alten Grafschaftsverfassong
ergeben* das »Wesen des den Fürstenstand begründeten Lehens, des Fürsten¬
tums* nicht erfaßt werden könne. Wenn damit — das scheint mir —
in Bezug auf die späteren Fürstentümer vorsichtig ausgedrückt werden
soll, daß die Organisation des Beichs in Landeshoheitsbezirke nicht orga¬
nisch zusammenhängt mit der vorstaufischen Organisation in Grafschaften
oder Grafensprengel, so stimme ich Schönherr durchaus zu. (Die Frage,
ob die hohe Gerichtsbarkeit eine Grundlage der Landeshoheit ansgemacht
habe, ist damit nicht identisch). Also verlangt Schönherr mit Recht eine
vergleichende Darstellung der Entwicklung aller einzelnen Terri¬
torien. Weiter glaubt Schönherr, das Verhältnis zwischen Herzogtum
und Fürstentum werde — wie das übrigens schon von Rosenstock ange¬
bahnt worden — bei der weiteren Forschung über den Reichsfürstenstand
in erster Linie im Auge zu behalten sein. Auch dies ist gewiß ein nütz¬
licher Gesichtspunkt. Allein man wird sich dadurch nicht verleiten lassen
dürfen die anderen Gewalten, die von verschiedenen Kaisern zwischen Graf¬
schaft und Reichsregierung eingeschoben wurden — Pfalzgrafschaft, Rek¬
torat, Landgrafschaft, Landvogtei (im 12. Jahrhundert!) und indirekt
sogar die Großvogtei bei Kirchen und Klöstern zu vernachlässigen; Ge¬
walten, die, scheint mir, tiefer in die Reichsorganisation eingegriffen haben,
wie aus unseren Rechtsgeschichten zu ersehen ist; die allerdings der rechts¬
historischen Erforschung noch schwerer zugänglich sind, wie die Herzogs¬
gewalt. Der Nachweis, daß für Ficker selbst ein Zusammenhang zwischen
Herzogtum und jüngerem Fürstenstand stärker in Betracht kam, wie der
Einfluß des Lehnsrechts auf diesen jüngeren Fürstenstand, gehört zu den
interessantesten Ergebnissen des Buches.
Mir scheint das schlimmste Hindernis für unsere Erkenntnis der mittel¬
alterlichen Reichsverfassung ist, daß wir da immer noch unwillkürlich nach
allgemeinen Rechtssätzen oder Rechtsregeln oder nach bestimmt vom
Kaiser abgegrenzten Rechtsverhältnissen (Privilegien) fragen. Das ist
modern gedacht. Die mittelalterliche öffentliche Rechtsordnung kann nicht
so systematisch, wie die moderne, in Institutionen aufgelöst werden, sondern
beruhte auf einer Summe höchst verschiedenartiger persönlicher Beziehungen
der Menschen, hoher wie geringer, untereinander. Die karolingische Gesetz¬
gebung hat diesen Zustand nur unterbrochen. Seit Ende des 9. Jahrh. ist die
Verfassung wieder wie zur Merowingerzeit völlig von individualistischen,
durch besondere Bedürfnisse diktierten Rechtsverhältnissen, allerdings von
anderen als früher, beherrscht. Die Idee eines Rechtsdualismus sowohl
von »frei — unfrei* wie von »Lehnrecht — Landrecht* ist deshalb irre¬
führend und verfehlt. In dieser Beziehung hat unsere Rechtsgeschichte
noch manches in ihren Lehren umzuändern. Ein guter Weg zur Einsicht
scheint mir nun, abgesehen von denen, die Schönherr anregt, die Erfor¬
schung der tatsächlichen Rechtsphären (Abhängigkeit- und Herrschaft»- bez.
Hoheitsverhältnisse) einzelner Personen, vor allem einzelner
Wenn wir z. B. im Hause Savoyen sehen, wie die Kumulation von Grafen-
rechten und anderen dynastischen Hoheitsiechten in einem leidlich ge-
Literatur.
695
«chlossenen Territorium allmählich dem Primogenitorrecht unterworfen
wird und so dem Geschlecht eine Zwischenstellung zwischen König und
minderen Grafen gibt 1 ), so ist es klar, das hier die Auffassung des Haus¬
gebietes als eines Fürstentums sich nur durch die persönlichen Verhältnisse
•der einzelnen Stammhalter erklären laßt (das zusammengeerbte Territorium
lag teils in Burgund, teils in Italien!). Der Fall braucht nicht als typisch
nufgefaßt zu werden, zeigt aber, daß die Untersuchung sich nicht auf die
Territorien und die Institution von Zwischengewalten zwischen Königtum
und Grafschaft beschranken darf!
Schönherr hat sich das große Verdienst erworben, für alle künftigen
Untersuchungen einen festen dogmatischen Boden vorbereitet zu haben.
Czernowitz. Düngern.
Fehr Hans, Die Rechtsstellung der Frau und der
Kinder in den Weistümern. Jena. Gustav Fischer 1912 XII u.
311 S.
Es war ein glücklicher Griff von Fehr, sich den Weistümern zuzu¬
wenden. Jeder, der sich einmal mit diesen Quellen beschäftigt hat, weiß
den Zauber zu schätzen, der von ihnen ausgeht So etwas, wie herz¬
stärkender Wald- und Wiesenduft. Ungekränkt von jeder Konstruktion,
urwüchsig und derb allerdings, doch nicht selten auch poetisch, voll An¬
schaulichkeit und zumeist durchaus zweckmäßig ist das Becht, das sie ent¬
halten. Leider pflegt die Bechtsforschung sie stiefmütterlich zu behandeln,
denn dieser Stoff, riesig aufgehäuft, wird nur selten von kundiger Hand
•ausgeschöpft. In den letzten Jaliren hat Planitz in seinem großen Werk
Uber die Vermögensvollstreckung auch die Weistümer herangezogen. Nun
stellt Fehr einen Teil des Familien- und Strafrechtes der deutschen Bauern
nach den Weistümern dar.
Fehr hat eine neue Note in die deutsche Bechtsgeschichte gebracht oder viel¬
mehr eine alte neu betont. In seinem geistvollen Buch: Hammurapi und
das salische Becht gelang es ihm, eine Beihe von Parallelerscheinungen in
dem Gesetze des alten babylonischen Königs und in der ältesten Aufzeich¬
nung eines deutschen Bechtes nachzuweisen. Das schien ihm als gewichtiges
Beweismittel gegen die Anschauung der historischen Bechtsschule von der
Abhängigkeit des Bechtes von Basse und Volk, als ein Beweis von dem
Bestehen eines Naturrechtes, das dem gemeinsamen menschlichen Unter¬
gründe entspringe und sich bei verschiedenen Völkern und unter den ver¬
schiedensten Verhältnissen wiederfinde. Nun gibt es sicherlich Bechtssätze,
die, weil aus der Eigenschaft der Menschen als eines sozialen Wesens sich
•ergebend, allgemeine Geltung beanspruchen, mögen sie auch erst auf vor¬
gerückter Kulturstufe zum Bewußtsein kommen, wie der Satz: Du sollst
nicht töten. Andere Sätze wieder entspringen gleicher wirtschaftlicher
Lage. Das Lehenswesen a. B. treffen wir überall da, wo das Geld knapp
*) Vgl C. W. P. Orten, The early histoiy of the house of Savoy, Cambridge
1912.
696
Literatur.
ist, Ackerland aber reichlich zur Verfügung steht und daher zur Entlohnung
von Kriegsdiensten verwendet wird. Bis vor kurzem hat die Forschung
diese Wirkung der wirtschaftlichen Momente, sowie die rein menschlichen
und zufälligen Einflüsse auf die Bechtsbildung allzuwenig beachtet. Forscher
wie Julius Ficker betrachteten die Rechte nicht anders wie Pflanzen, die
streng nach festen Gesetzen sich entwickeln müßten. Jede Ähnlichkeit war
Ficker geneigt als ein Zeichen ursprünglicher Verwandtschaft zu fassen, un¬
bekümmert um wirtschaftliche oder auch persönliche und zufällige Ein¬
flüsse.
In seinem neuesten Buche stellt Fehr einen Teil des Rechtes eines
Standes dar, des Rechtes der Bauern, wie es sich in den Weistum em
spiegelt. So versucht der Verf. ohne Rücksicht auf die Stammeszugehörigkeit
ja auch die soziale Lage der Bauern das Recht eines Berufstandes zu
zeichnen, das natürlich vorwiegend durch wirtschaftliche Gesichtspunkte be¬
stimmt sein muß. Der erste Teil des Buches handelt von der Rechts¬
stellung der Frau, dem Rechtsschutz, den sie als der schwächere Teil der
Gesellschaft, aber auch jener Teil, der neues Leben zu gebären und heran¬
zuziehen berufen ist, genießt. Reizende Züge bieten unsere Quellen vor
allem für die Vorrechte der Schwangeren und Wöchnerin. Doch muß sch
die Frau bekanntlich auch Zurücksetzungen gefallen lassen, die teils Folgen der
Munt sind, teils das Erbrecht betreffen. Zwischenhinein stellt der VerL
strafrechtliche Bestimmungen gegen unwürdige Frauen und gegen Männer,
die ihre Vorrechte mißbrauchen, um diesen Abschnitt mit Stellen zu be¬
schließen, die von einer Gleichstellung von Mann und Frau handeln. Der
zweite Abschnitt betrifft die Rechtsstellung der Kinder. Auch hier machen
sich wirtschaftliche Gesichtspunkte geltend, denn frühzeitig wird das Kind
zur bäuerlichen Arbeit herangezogen. Es werden die Altersstufen, es wird
das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kin dern geschildert, der Inhalt
der elterlichen Gewalt, ihre Äußerungen, ihre Begründung und Aufhebung
und damit im Zusammenhang die Aussteuer. Sehr ergiebig gestalten sich
die Weistümer für die Gemeinderschaftsverhältnisse, die in bäuerlichen
Kreisen lange lebendig blieben. Es reiht sich daran die Darstellung der
Altersvormundschaft, weiters die Stellung des Kindes in der Gemeinde,
endlich die Zusammenstellung straf- und prozeßrechtlicher Sätze, die Kinder
betreffend, üher ihre Deliktfähigkeit, Haftung der Eltern für Delikte der
Kinder, einzelne Delikte, Vermögenseinziehung u. 8. w.
Es kann hier nicht auf die Einzelheiten eingegangen werden. Im
ganzen bietet die Darstellung Fehrs das bekannte Bild der deutschen Rechts¬
entwicklung, wobei jedoch mancher wegen seines Inhalts oder seiner Fassung
interessante Rechtssatz hervorgezogen wird.
Doch mögen einige methodische Bemerkungen angeknüpft werden. Es
scheint dem Referenten nicht empfehlenswert, auf Grund nur einer Quellen¬
gattung nach dem Beispiele des Verf. einzelne Rechtsinstitute darzustellen.
Diese Quellen sind ja keine erschöpfenden. Gerade die Weistümer sind sehr
mannigfaltigen Inhalts und Umfangs. Es kommt dabei auf den Kreis an,
in dem das Weistum entstanden ist. Das Weistum einer Gerichtsgemeinde
wird sich mit ganz anderen Dingen beschäftigen, wie das eines Dorfes oder
einer Nachbarschaft. Dort wo umfangreiche Aufzeichnungen von Land¬
rechten bestehen, wo die landesherrliche Gesetzgebung eine umfassende war.
Literatur.
697
bleibt dem ländlichen Weistum ein geringerer Spielraum. Tirol erhielt im
16. Jahrh. seine umfassenden Landesordnungen; daher sind die Tiroler
Weistümer, die zumeist jünger sind, verhältnismäßig arm an privat- und
strafrechtlichen Bestimmungen. Sie sind darum fast ausnahmslos Gemeinde-
Ordnungen. Wie ganz anders z. B. in Niederösterreich, wo eine solche Ge¬
setzgebung fehlt. Für Tirol bildet nur Thurn an der Gader reichen Ertrag*
Dieses Gericht gehörte dem Bistum Brixen und die Tiroler Landesordnungen
galten hier nicht. Aber der größte Teil der Statuten des Gerichtes Thum
stammt wörtlich aus der Landesordnung von 1532. Wer das bäuerliche
Recht Tirols darstellen will, darf an den Landesordnungen nicht Vorbei¬
gehen, zu denen die Weistümer nur ergänzend hinzutreten. Natürlich ist
auch die Benützung von Urkunden, Gerichtsbüchem und anderen Aufzeich¬
nungen rechtlichen Inhaltes erwünscht, die auch hier den Stoff zur Kon¬
trolle der Rechtsaufzeichnungen bieten müssen. Kein Verständiger wird
indessen dem Verf. einen Vorwurf daraus machen können, diese Herkules¬
arbeit nicht geleistet zu haben. Das muß vielmehr Aufgabe der Lokal¬
forschung bleiben, zumal es sich dabei doch vorwiegend um die späteren
Jahrh. handelt, aus denen ein gewaltiger Stoff in den Archiven aufge¬
speichert liegt.
Die Beschränkung auf die Weistümer allein birgt noch eine andere
Gefahr. Das bäuerliche Recht erscheint bei Fehr als ein allzu einheitliches.
Nicht daß auf Verschiedenheiten nicht hingewiesen wäre. Aber sie sind
nicht plastisch genug herausgearbeitet. Auch das Recht der Weistümer
gebt auf Stammes- und territoriales Recht zurück. Gerade für einen Großteil
der Verhältnisse, die Fehr behandelt, ist das eheliche Güterrecht von Be¬
deutung. Dieses ist in späterer Zeit streckenweise zwar Standesrecht ge¬
worden, zum guten Teil aber Stammes- oder Territorialrecht geblieben.
Wie sich nun die verschiedenen Güterrechtssysteme in den Weistümem
spiegeln, kommt bei Fehr allzuwenig zur Geltung.
Bedenklicher noch ist ein gewisser Mangel an kritischem Erfassen der
Quellen, ein Mangel, der sich nicht bloß in diesem Buche, sondern auch
sonst in der neuesten deutschen rechtshistorischen Literatur nicht selten
geltend macht. Man sammelt die Quellen ohne ältere kritische Arbeiten
zu berücksichtigen oder selber die nötigen Untersuchungen anzustellen*
Selbst ein so vortreffliches Buch wie die Vermögens-Vollstreckung von
Planitz schiebt zwar mit eleganter Handgebärde die in Acta Tirolensia II
veröffentlichten Bozner Notariatsimbreviaturen bei Seite ohne zu beachten,
daß diese Urkunden echt bajwarisches Recht in dürftigem romanischen
Gewände bieten, aber derselbe Verfasser scheut sich nicht, die deutschen
Statuten von Trient zu benützen, die übrigens selbst in der neuesten Auf¬
lage von Amiras Grundriß des germanischen Rechts S. 46 ihr Spuk wesen
treiben, obwohl es sich da um eine jüngere fehlerhafte und häufig mi߬
verständliche Übersetzung eines lateinischen Textes handelt, der sich aufs
engste, ja zum Teile wörtlich mit den Statuten von Verona und Vicenza
berührt, also dem italienisch-lombardischen Rechtskreise angehört Fehr
verwendet ohne Bedenken S. 21 und in der Folge das sogenannte Rhein-
gauer Landrecht obwohl es von Herbert Meyer in der Ztschr. der Savigny-
Stift germ. A. 24, 309 mit aller wünschenswerten Klarheit als eine aus
niederländischen Quellen zusammengestoppelte Fälschung Bodmanns entlarvt
698
Literatur.
worden ist. Fehr teilt seine Quellen in drei Gruppen, die deutschen, die
schweizerischen und die österreichischen. Er stellt wohl auch dem deutschen
Rechte das schweizerische und österreichische entgegen. Es hat seine Be¬
rechtigung, dem schweizerischen Rechte eine Sonderstellung einzuräumen.
Allerdings bildet es auch keine einheitliche Gruppe; besonders scheiden sich
die Rechte des mittleren Rheintales von den rätischen und denen der Ur-
kantonen. Diese letzteren weisen dem schwäbisch-alamannischen Rechte im
Rhein-, Neckar- und obersten Donautale gegenüber derartige Verschieden¬
heiten auf, daß Ficker sie nicht den west- sondern den ostgermanischeu
Rechten zuzählte. Bedenklicher ist die österreichische Gruppe. Nur zu
häufig werden von jüngeren reichsdeutschen Gelehrten die heutigen Ver¬
hältnisse auf die Vergangenheit übertragen. So versichert Poetsch in einem
sonst verdienstvollen Aufsatze über die Reichsjustizreformen von 1495,
Kaiser Friedrich III. habe sich fast immer außerhalb des Reiches in seinen
österreichischen Erblanden aufgehalten. Als ob diese nicht bis zum Jahre
1806 zum Reiche gehört hätten! Man bezeichnete freilich im 17. und
18. Jahrh. in untechnischem Sinne mit Reich die Territorien der kleineren
Reichsstände im Gegensätze zu Österreich und Preußen. Es geht aber doch
nicht an, diesen Ausdruck in einer rechtshistorischen Arbeit für das Ende
des 15. Jahrh. zu gebrauchen. Wenn Fehr die österreichischen Lande für
das Privat- und Strafrecht als ein Rechtsgebiet zusammenfaßt, ist das völlig
irrig. Es hat kein einheitliches österreichisches Privat- und Strafrecht ge¬
geben bis zu den Kodifikationen des 18. und 19. Jahrh. Vielmehr scheiden
sich nicht nur die Sudetenländer, sondern auch die österreichischen Erb¬
lande in scharfer Weise von einander. Tirol hat das altbairische Recht
zäher erhalten, als das Herzogtum Bayern selber. Das Erzherzogtum Öster¬
reich, Steiermark und Kärnten weisen stärkeren fränkischen Einfluß auf und
bilden eine eigene von Tirol wesentlich abweichende Gruppe. Gerade für
Rechtsverhältnisse, die Fehr behandelt, trifft dies zu. Die Vormundschaft
über die Frauen ist in Tirol aufs schärfste festgehalten worden. Ohne Zu¬
stimmung ihres Ehemanns kann sich die verheiratete, ohne die eines »An-
weisers« die ledige Frauensperson noch nach der Landesordnung von
1574 nicht verpflichten. Im Erzherzogtum Österreich ist schon früher die
Munt über die Frauen völlig verschwunden *). Und so gehen diese Rechte
auch in anderem stark auseinander. Aber auch die in den Tiroler Weis-
tümera gesammelten Quellen bieten nicht alle Tiroler Recht. Da sind
einmal die gewiß sehr interessanten Münstertaler Statuten, die eigentlich
in die Tiroler Weistümer gekommen sind wie der Pontius Pilatus ins
Credo. Denn im Münstertal beanspruchte zwar Österreich zeitweise Vogtei¬
rechte, aber seit 1499 gehörte es unzweifelhaft zu Bünden. Seine Statuten
•zählen nicht zu den tirolischen Rechten, sondern zur Gruppe der rätischen,
mit denen sie enge verwandt sind, wie sie denn ursprünglich in
lateinischer Sprache aufgezeichnet worden sind, mögen sie fiir die Unter¬
tanen des Stiftes im tirolischen Vinschgau in Geltung gestanden haben.
In ähnlicher Weise enthält das Weistum von Aschau nicht tirolisch-bayrischee,
l ) Die Ansicht von Bartsch, daß dieses Verschwinden der Munt über die
Unverheirateten im bayrischen Rechtsgebiet allgemein gewesen sei, wird von Fehr
53 n. 3 mit Recht bezweifelt. Sie trifft für Tirol nicht zu.
Literatur.
699
sondern schwäbisches Recht. Das Gericht stand wohl unter tirolischer Vogtei*
gehörte aber bis 1610 dem Stifte Füssen. Hier gilt Gütergemeinschaft
unter den Ehegatten, wie in den schwäbischen Rechten und Ausschluß der
ausgesteuerten Kinder von der Erbschaft. Es geht nicht an, das Recht des
Münstertales oder Aschaus als Beispiel für österreichisches hinzustellen, wie
dies der Verf. mehrmals getan hat, ja es ist nicht einmal zulässig, aus dem
Satze eines Tiroler Weistums auf seine Geltung auch in Österreich zu
schließen. Es soll daraus dem Verf. kein Vorwurf gemacht werden, viel¬
mehr haben die österreichischen Rechtshistoriker es bisher versäumt, auf
diese Lage der Dinge mit Nachdruck hinzuweisen, wenn auch bei einer
eingehenderen Einsichtnahme in die Literatur gewiß manches zu entnehmen
gewesen wäre. Auch entspricht die Ausgabe der österreichischen Weistümer
mit Ausnahme der österreichischen Bände von Winter, die allen Ansprüchen
im vollsten Maße genügen und einiger anderen neueren wie des letzter-
echienenen Steirischen, in keiner Weise den Anforderungen, die man heute
an eine kritische Ausgabe derartiger Quellen stellt Das gilt insbesondere
von den tirolischen, die dem Benützer fast gar keine Handhabe für die
Bewertung dieser Quellen bieten.
Auch im einzelnen sind dem Verf. Mißverständnisse und Flüchtig¬
keiten unterlaufen. Nur einiges sei hier angeführt Schon auf S. 1 u. 2
ist gewiß nur von über den Jahren der Gebärfähigkeit stehenden Frauen
die Rede. Den Münstertalern, ja dem Großteil der Tiroler Bauern sieht,
die ihnen vom Verf. zugeschriebene Sitte gar nicht gleich, mag sie sich
auch anderwärts, wo man weniger streng denkt finden. Noch dazu ist in
der Stelle davon die Rede, daß der Mann jünger ist als die Frau. S. 30
besagen die Weistümer von Heiligenkreuz und Rachsendorf, daß der Dieb
nur mit dem Leben haftet, nicht mit seinem Vermögen, das vielmehr Frau
und Kindern bleiben soll. Die Bestimmung des Brixner Stadtrechts ist
selbstverständlich, da ja in Tirol in der Regel Verwaltungsgemeinschaft
unter den Ehegatten herrscht Daß der Verf. S. 43 Hermagor nach Tirol
versetzt, ist ja gewiß nur ein Schreibfehler. Ein Anspruch der Kinder auf
Lohn ergibt sich aus den S. 89 angeführten Stellen nicht, sondern nur die
Möglichkeit daß ein Lohn Vorkommen konnte. Im Weistum von Sigmons-
wald S. 120 ist gesagt daß die Einaben, wenn sie zwölf Jahre alt sind,
der Äbtissin vereidet werden, wie dies in vielen Grundherrhschaften ge¬
fordert wurde, aber nicht daß sie die volle gerichtliche Selbständigkeit er¬
langen. Dei- S. 121 angeführte Beweis der lebendigen Geburt entspricht
bekanntlich dem gemeinen Sachsenrechte. Das Rheintaler Weistum S. 139
handelt nicht von Aussteuer, sondern von einem Voraus, den die Eltern
einem besondere verdienten Xinde zuwenden können. Die Rügepflicht
S. 207 bezieht sich in der Regel nur auf die Rechte der Grundherrschaft.
Wenn das Weistum von Kcrtsih »knechte, buben oder anderes gesindel €
»bei der gemeinde* nicht dulden will, so bedeutet Bube hier und an an¬
deren Stellen nicht ausschließl ch den Knaben, sondern den Unverheirateten
und Unbehoften, wie dies noch heute in Tirol gebräuchlich ist, in unserer
Stelle wohl den losen Buben, den Spitzbuben. Woher weiß der Verf., daß
in bäuerlichen Kreisen Delikte durch Eiinder nicht häufig verübt wurden?
Wir glauben, daß diese Kreise nicht besser waren, wie die Städter. Das
Weistum von Njel handelt in seinem ersten Absatz gar nicht, wie der
700
Literatur.
Verf. S. 283 meint, von einer Haftung der Eltern für Delikte der Kinder,
sondern davon, daß, wenn den Kindern ein Unglück zustößt oder wenn sie
ertrinken aus mangelnder Aufsicht der Eltern, die Eltern dafür haftbar ge¬
macht werden. Der Fall des Deliktes des Kindes folgt hernach und dafür
haften die Eltern immer, nicht bloß im Falle eigenen Verschuldens, aller¬
dings nur mit dem Vermögen.
Wien. Voltelini.
Österreichische Weistümer, gesammelt von der kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften in Wien. 10. Band. Steirische Tai-
dinge (Nachträge), herausgegeben von Anton Mell und Eugen Freiherr
von Müller. Wien, Wilhelm Braumüller 1913. XI u. 385 S. 8°. —
11. Band. Niederösterreichische Weistümer IV. Teil (Nach¬
träge und Begister) herausgegeben von Gustav Winter. Mit einem
Glossar bearbeitet von Josef Schatz. Wien, Wilhelm Braumüller 1913.
XX u. 739 S. 8o.
Das Jahr 1913 hat zwei neue Bände der von der k. Akademie der
Wissenschaften gesammelten Seihe österreichischer Weistümer gebracht.
Auf die Bedeutung dieser Sammlung für unsere Wissenschaft noch besonders
hinzu weisen, wäre wohl müßig, muß es doch jeden österreichischen Historiker
mit Stolz erfüllen, daß das von Grimm begonnene, in seinem hohen Werte
erkannte Werk einer methodischen Sammlung der Weistümer hier zielbewußt
gefördert wird. Die Sorgfalt der textlichen Redaktion, der Namen- und
Sachregister, sowie der Glossare bilden Vorzüge der beiden jüngsten Bände
dieser Sammlung, wenn auch hie und da besondere Wünsche bezüglich der
Anlage der Register bestehen mögen, und wenn auch die Glossare, zumal
durch die Resultate der Arbeit am deutschen Rechtswörterbuche eine Ver¬
tiefung oder Richtigstellung erfahren werden (vgL die Besprechung Frhr.
v. Künssbergs in Zeitschr. d. Savigny-Stift Germ. Abi XXIV S. 552 ff.).
Beide Bände sollen den Abschluß territorialer Reihen der Sammlung,
der steirischen und der niederösterreichischen Toidinge bilden. So bringen
sie beide wesentlich Nachträge. Der niederösterreichische Band enthält über¬
dies ein znsammenfassendes Register der Taidingstexte aller niederöster¬
reichischen Bände, ein zusammenfassendes Namenregister und ein Glossar zu
allen vier niederösterreichischen Bänden. Der steirische Band ist durch Ab¬
bildungen der Holzmarken bei der Herrschaft Prank bereichert.
Trotz aller Gleichartigkeit ist es doch nicht ohne wissenschaftlichen
Reiz, daß uns gerade eine niederösterreichische und eine steirische Taiding-
sammlnng gleichzeitig vor Augen treten. Es wird so die verschiedene
Rolle, welche das Dorfweistum im engeren Sinne des Wortes dort und hier
spielte, offensichtlich dargelegt.
Der vorliegende letzte Band der niederösterreichischen Weistümer bringt
wieder eine Fülle wahrer Dorfweistümer und wenn sich der Band auch als
letzter gibt, so muß der Herausgeber doch erklären, daß er »von seinem
Werke mit der wenig erfreulichen Gewißheit scheide, daß es ihm nicht be-
Literatur.
701
schieden gewesen ist, damit etwas annähernd Vollständiges geboten zu haben*.
Dieser bedauernde Zusatz mag allzu bescheiden gehalten sein, in der Tat
«ibt er der Überzeugung von der Überfalle des Stoffes, — welche ja selbst
die ursprüngliche Anlage der Zusammenfassung der niederösterreichischen
Weistümer in drei Bänden sprengte, — beredten Ausdruck. Hiezu kommt,
daß sich der Herausgeber im Wesen auf die Edition wahrer Dorfweistümer,
die schon in Form und Ausdrucksweise die Legitimation zur Aufnahme in
die Sammlung an sich tragen, beschränkte, und nur wenige aus sachlichen
-Gründen gerechtfertigte Extravaganten aufnahm (vgL Einb. S. XV).
Ganz anders bei der steirischen Reihe! Hier ergab der Bestand der
erhalten gebliebenen Materialien die Tatsache, daß »das Institut der Taidinge
nicht dem ganzen Lande eigen gewesen ist*, daß als Fundort echter Tai-
dingstexte im Wesen nur das steirische Oberland, das Mittel- und insbes.
das Unterland aber nur wenig in Betracht kommen. Die von Dopsch ge¬
förderte Erkenntnis ergibt, daß der Grund hiefür in der Entwicklung der
steirischen Grundherrschaft gelegen ist. Der Umstand, daß das, Nieder-
üeterreich nächst gelegene, steirische Oberland an wirklichen Taidingstexten
mit Rechtsfrage und Antwort noch ergiebig ist, legt ein Zeugnis dafür ab,
daß sich dort wie in Niederösterreich die germanische Eigenart durch Fest¬
halten an der von altersher eingewurzelten Formen der Rechtsermittelung
erhalten hat. — Mit Rücksicht auf die geringere Zahl der Taidinge kamen
die Herausgeber der steirischen Weistümer folgerichtig zu einem anderen
Standpunkte bezüglich der Aufnahme des zur Verfügung stehenden Stoffes
in die Sammlung. Es mußte die Grenze weiter gezogen werden, wollte
man durch die Sammlung ein Bild des Dorf-Rechtslebens bieten, wie es die
den mederösterreichischen Weistümem gewidmeten Bände tun. Allerdings
leidet hiedurch die Einheitlichkeit der Sammlung und der für sie schon
durch den Gesamttitel gegebene quellengeschichtliche Standpunkt. Vielleicht
hätte man diesem Bedenken — dies gilt auch für die früheren Bände —
dadurch begegnen können, daß diejenigen Texte, welche wohl inhaltlich den
Weistümem nahe stehen, äußerlich jedoch nicht Weistümer sind, im Bande
von den ,wirklichen* Weistümem gesondert worden wären, wobei allerdings
die Schwierigkeiten, welche sich aus der Unsicherheit des Begriffes »Weistum*
.selbst ergeben, nicht verkannt werden sollen.
In beiden hier angezeigten Bänden entstammen die neu aufgenommenen
Aufzeichnungen zumeist der Neuzeit, vor allem dem 16. Jahrhunderte, was
ja auch in den vorangehenden Bänden der Fall ist (vgl. bezüglich der
mederösterreichischen Weistümer die statistische Zusammenstellung S. XII
der Einleitung).
Inhaltlich bringen beide hier angezeigte Bände eine Fülle von Be¬
reicherung der Kenntnis bäuerlichen Rechtslebens, wie wir sie eben nur
diesem sachlich und sprachlich so hervorragenden Quellenkreise danken
können. Hiebei überragen allerdings die »wahren Weistümertexte* die
verwandten Quellen an Ursp* ünglichkeit der Anschauung und des Aus¬
druckes; auch sind sie dort e/giebiger, wo, wie betreffs mancher strafbarer
Handlungen und privatrechtlicher Beziehungen, das Interesse der Herrschaft
an einer von ihr ausgehenden Satzung zurücktrat. So sind es durchwegs
Banntaidinge, welche uns Belege über sinnfällige Scheinbußen und daher
anschauliche Beispiele des Festhaltens an einer ganz volkstümlichen Rechts-
702
Literatur.
entwicklung bieten. (YgL die mederösterreichischen Banntaidinge von Rosten-
feld S. 382, von Soss S. 48, von Nieder-Absdorf S. 176}
Wie die früheren Bände gewähren die vorliegenden einen tiefen Ein¬
blick in die Geschichte des Yerwal tungsrechtes und bieten wiederum eine
reiche Fundstätte interessanter einschlägiger Belege insbes. etwa zur Ge¬
schichte des bäuerlichen Gesinde-, Wasser- und Gewerberechtes.
Möge das Fortschreiten der Sammlung dazu beitragen, immer mehr
von dem Werte der Dorfweistümer zu überzeugen, welcher diesen nicht
allein für den Fachgelehrten, sondern für jeden innewohnt, der Kulturzu¬
stände früherer Jahrhunderte an der Hand unmittelbarer Nachrichten er¬
fassen will und möge uns bald die Sammlung der oberösterreichischen
Weistümer beschieden werden, welche wohl eine den niederösterreichischen
vergleichbare Ergiebigkeit verspricht.
Endlich möchte ich es nicht unterlassen an dieser Stelle noch einen
Wunsch zu äußern, daß — obgleich der Anlageplan der Sammlung sie
nicht mitumfaßt — auch die deutschen Dorfweistümer Böhmens und
Mährens, auf welche zur Zeit nur gelegentliche Mitteilungen (wie von.
Schlesinger und Chlumecky) hindeuten, einer sorgsamen Nachforschung und
Sammlung gewürdigt werden mögen.
Prag. Otto Peterka.
Ulrich Stutz, Höngger Meiergerichtsurteile des 16. und
17. Jahrhunderts. (Zum Selbststudium und für den Gebrauch bei
Übungen erstmals herausgegeben und erläutert). Bonn, L. Bohrscheid
1912. 124 S.
Durch die Herausgabe der Höngger Meiergerichtsurteile der frühen
Neuzeit wird das Interesse des Rechtshistorikers lebhaft geweckt und wenn
Stutz auch den didaktischen Zweck der Publikation in den Vordergrund
rückt, so ist sie doch nicht minder theoretisch beachtenswert. Gerade das
Fortleben deutscher Rechtsgedanken in der anbrechenden Neuzeit verdient
immer eindringlicher wissenschaftlich ergründet zu werden. Hier wird nun
für ein rechtsgeschichtlich so bedeutsames Gebiet, wie es Zürich ist, eine
Reihe originaler Quellen allgemein zugänglich gemacht; es ist in der Tat
.ein prachtvoller Schatz*, der nun der allgemeinen Kenntnis erschlossen
worden ist. Die Eigenart der Urteile liegt in der Klarheit ihrer Fassung
und in der ausführlichen Darlegung des Tatbestandes. Sehr erfrischend
wirken die Volkstümlichkeit der Rechtsanschauungen und die Ursprüng¬
lichkeit der Ausdrucksweise, zwei Eigenschaften, welche unsere Erkenntnisse
den Weistümern nahe bringen. Fast möchte ich die Urteile als eine pro¬
zessuale Illustration der Dorfweistümer bezeichnen. Die Fälle sind mit dem
ländlichen Rechtsleben eng verknüpft. Die meisten Entscheidungen betreffen
Kauf und Leihe sowie ehegüterrechtliche Fragen; die Steilung der Frau
kann an der Hand einer Reihe interessanter Entscheidungen verfolgt werden,
die den Fall durch mitbehandelte Zwischenfragen sehr anregend beleuchten
vgL etwa die Entscheidungen Z. 6, 21 und 37. Sehr beachtenswerte Stücke
sind die unter Z. 2 gebrachte Entscheidung über einen mit der Vieh-
Literatur.
703
pfändung zusammenhängenden Streitfall, eine Notwegentscheidung (Z. 26)
und die mannigfach wiederkehranden Urteile über Eechtsfragen, die mit
dem Auffalle (Konkurse) Zusammenhängen.
Neben dem materiellrechtlichen Inhalte läßt die Deutlichkeit der Angaben
über prozessuale Vorgänge die vorliegenden Entscheidungen besonders lehr¬
reich erscheinen. So treten insbesondere das Fürsprechertum und die
Stellung des deutschen Eichters klar und plastisch hervor.
Der reiche Inhalt der Entscheidungen ergibt schon an sich die Er¬
sprießlichkeit ihrer Heranziehung auch für Lehrzwecke. Die lokale Ab¬
grenzung der Urteile wird allerdings die Sammlung für schweizerische
Studienzwecke in erster Linie geeignet machen, doch leidet bei dem hohen
Werte der schweizerischen rechtsgeschichtlichen Quellen für die Erkenntnis
deutscher, insbes. süddeutscher Eechtsideen die allgemeine Brauchbarkeit
nicht.
Die Entscheidungen bringen oft kompliziertere Eechtsfälle; gerade
hiedurch kommt ihnen eine besondere Stellung in der Eeihe guter Behelfe
für deutschrechtliche Übungen zu. Die mitunterlaufenden, eine Vertrautheit
mit den Grundlehren schon voraussetzenden Fragen regen zur Erörterung
mit einem vorgeschrittenen Hörerkreise an.
Der objektive Wert der Urteilssammlung wird durch die Sorgfalt der
Edition gefestigt. Die beigefügten Notenvermerke sind geschickt verfaßt;
sie klären über das Tatsächliche des Falles, dort wo sich ein Bedenken er¬
gäbe, auf, beleuchten ihn auch in sprachgeschichtlicher Hinsicht und geben
literarische Hinweise auf die Zürichische bezw. schweizerische Eechtsge-
schichte. Im übrigen wurden Hinweise auf die allgemeine deutschrechtliche
Literatur in der Eegel vermieden. Auch dies geschah m. E. zum Nutzen
bei Übungen mit Vorgeschritteneren, denn hiedurch wird die Unterstellung
unter die rechtshistorischen Gesichtspunkte der selbständigen Arbeit über¬
lassen und daher die juristische Denkkraft gestählt.
Zumal an dieser Stelle möchte ich es endlich nicht unterlassen, auf
den wertvollen Einblick hinzuweisen, welchen unsere Erkenntnisse — auch
hierin an die Weistümer erinnernd — in die Lebensbedingungen ihrer
Zeit und in wirtschaftliche Fragen z. B. in Lohn- und Preisverhältnisse
gewähren.
Prag. Otto Peterka.
Voltelini, Hans von, Die Anfänge der Stadt Wien. Mit
einem Plan von Wien. Wien und Leipzig. 1913. C. Fromme. 144 S. 8°.
Diese bedeutende Arbeit schließt sich jenen grundlegenden stadtge¬
schichtlichen und stadtrechtHchen Untersuchungen an, die vornehmlich im
letzten Jahrzehnt des vorigen md in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts
so außerordentlich reiche Erg'onisse zutage förderten. Überblickt man die
Berichte, die hierüber K. Uhlirz u. d. T. »Neuere Literatur über deutsches
Städtewesen* in dieser Zeitschrift in den Jahrgängen 1886 bis 1903 unter
Berücksichtigung von fast einem und einem viertelhundert Büchern und
Schriften erstattet hat, so fällt gewiß auf, wie wenig hiebei das öster¬
reichische Städtewesen berücksichtigt ist, noch mehr daß kein österreichischer
704
Literatur.
Rechtshistoriker oder Historiker in diese oft lebhaft geführten Streitfragen
eingegriffen hat. Ganz zutreffend ist al>er dieser Eindruck nicht* denn gerade
in dieselbe Zeit fällt das Erscheinen der »Quellen zur Geschichte der Stadt
Wien* und die vom Wiener Altertumsverein herausgegebene monumentale
»Geschichte der Stadt Wien* 1 ), deren Beurteilung Uhlirz außerhalb der
oben genannten Berichte vornahm 2 ). Mit umso größerer Genugtuung hätte
er zweifellos die vorliegende Abhandlung unter die neuere Städtewesenliteratur
aufgenommen, die durchaus in ihren Bahmen gehört
Der Titel der Abhandlung sagt weniger, als die Ausführungen dar¬
bieten ; denn es handelt sich nicht nur um die Gründung und die Anfänge
der Stadt, wir erhalten vielmehr eine Darstellung der Entwicklung, aller¬
dings beschränkt auf einige Grundfragen, bis ins 14. Jahrhundert, ja ün
letzten Abschnitt bis zum Ausgang der mittelalterlichen Zeit, bis auf Maxi¬
milian und K. Ferdinand I. In drei Abschnitten wird die topographische
Entwicklung, werden die Grundbesitzverhältnisse und schließlich die Rechts¬
und Verfassungsentwicklung voxgeführt. Dabei möchte ich aber die Ein¬
leitung nicht unerwähnt lassen, in der V. auf wenigen Seiten die Literatur
zur Stadtgeschichte Wiens von den frühesten Zeiten bis jetzt, sowie den
Stand der Quellen so zutreffend und sachlich klarlegt, daß die Notwendigkeit
einer Arbeit, wie es die seinige ist, dem Leser fast wie etwas selbstver¬
ständliches vor Augen tritt. Wie fein und scharf ist z. B. bei aller vei>
dienten Anerkennung, die V. weder hier noch sonst vorenthält, der Grund¬
fehler der Geschichte Wiens des Altertumsvereines angedeutet: eine An¬
einanderfügung einer Anzahl höchst wertvoller Aufsätze zur Geschichte
Wiens, aber keine Geschichte der Stadt, denn es fehlt »die Einheitlichkeit
der Auffassung*. Schon diese Einleitung zeigt, daß V. nicht nur die ein¬
schlägigen Aufsätze dieses großen Werkes, sondern auch die übrige Literatur
bis ins einzelnste beherrscht, so zwar, daß es ihm möglich war, jene wich¬
tigen Fragen herauszufinden, die trotz der letzten eingehenden Untere
Buchungen einer neuerlichen Prüfung und Behandlung bedürfen.
Mindestens in zweien jener Aufsätze (£. Müller, Räumliche Entwicklung,
und W. Böheim, Befestigungs- und Kriegswesen) wird, hier vorsichtiger
dort bestimmter, der Standpunkt eines verhältnismäßig ruhigen Fortbe¬
standes des römischen »Castrum Vindobona* bis zur Ausbildung der mittel¬
alterlichen Stadt vertreten, und diese Ansicht gilt auch sonst ziemlich all¬
gemein. Volt, spricht sich entschiedenst gegen jeden Zusammenhang zwischen
Vindobona und Wien aus. »Vindobona sank in Trümmer . . . selbst der
Name ist verschollen*. Was man für Wiens Bestehen in karolingischer
oder nachkarolingischer Zeit vorgebracht hat, erweist sich als hinfällig. Vom
6. bis zum 11. Jahrhundert ist dort, wo einst Vindobona als Römerkastell
gestanden hat, ein Schutthaufen, eine Ruine ohne Name und Bedeutung,
nicht einmal ein Dorf, nicht die primitivste Siedlung; »höchstens mögen
einzelne Romanen, Germanen, Slawen vorübergehend in den Ruinen gehaust
haben*.
*) Vgl. Korrespondenzblatt d. Gesamtvereins der deutschen Geschichte- und
Altertumsvereine. Jg. 64 (1906), Nr. 10, Sp. 435—479.
*) Vgl. K. Uhlirz, Quellen zur Geschichte der Stadt Wien . . . Innsbruck
1896.
Literatur.
705
Das ist nun allerdings ein ganz neuer, von anderen, wie etwa ge¬
legentlich von K. Uhlirz, nur nebenbei angedeuteter Gesichtspunkt, von dem
aus Wiens Anfänge — nun versteht man auch den vom Verf. gewählten
Titel: a potiori fit denominatio — betrachtet werden müssen, und die
nächstliegende Frage ist naturgemäß: Wann und wie ist diese Stadt ge¬
worden? Volt, gibt darauf eine ganz bestimmte Antwort Er hält sie für plan¬
mäßige Anlage (S. 17), deren Gründer wir allerdings nicht kennen, aus
deren Namen man vielleicht aber auch nicht ohne Bedenken, auf fränkische
Ansiedler schließen darf, und als deren Gründungszeit man nur ungefähr
den Anfang des 11. Jahrhunderts ansetzen kann. Im Jahre 1030 wird
Wien bekanntlich zum ersten Male genannt, »nicht weit vor 1030 wird
diese Siedelung zurückgehen* (S. 13). Als Stadt dürfen wir sie aber nach
V. erst ansprechen, da sie uns nach »hundertjährigem Schweigen* im Jahre
1137 zum zweitenmal in den Quellen gegenübertritt
V. hat mit der Deutung des Satzes in den Altaicher Annalen, in dem
Wiens erste Erwähnung sich vorfindet insofern gewiß ganz recht daß man
daraus nicht auf eine »Festung Wien*, die von den Ungarn erobert wurde,
schließen darf; aber andererseits erscheint mir seine Auslegung gar zu eng,
wenn er betont, man könne nichts anderes daraus herauslesen, »als daß
damals eine Örtlichkeit dieses Namens bestanden hat*. Es ergibt sich doch
auch, daß damals, im Jahre 1030, ein Heer, von Hunger geplagt, sich
hierher zurückzog und, wie wenigstens die Quelle behauptet hier auch ge¬
fangen genommen wurde. Ich lasse es dahingestellt, ob sich mit diesen
Tatsachen die Vorstellung vereinbaren läßt daß das Wien von 1030 eine
in den ersten Anfängen befindliche Siedlung gewesen sei. Gegen den
späten Ansatz der Gründung Wiens wird doch vorgebracht werden können,
daß, wie auch V. anführt, einzelne Örtlichkeiten des Wiener Beckens »schon
in der Karolingerzeit erwähnt werden*, Salzburger und Regensburger geist¬
licher Besitz in unmittelbarster Nähe Wiens schon vor 1030 nachzuweisen
ist. Vielleicht liegt es nur daran, daß man die frühere Ansicht von der
Fortdauer Vindobonos durch die immerwährende Wiederholung so fest in
sich aufgenommen hat wenn man gerade hier eine noch straffere Beweis¬
führung erwartete, um ganz überzeugt zu sein. Umsomehr als die sich
daran anschließenden Ausführungen über den Umfang der ältesten Stadt
der dem des alten Römerkastells entsprach, während die innere Anlage der
Altstadt fast völlig unabhängig von den römischen Lagerbauten erscheint
über den Stand des babenbergischen Hofs (nicht Burg), über die erste Er¬
weiterung der Stadt durch die Gründung des Judenviertels einerseits, der
Pfarrkirche von St Sephan anderseits, von seltener Klarheit und Folgerich¬
tigkeit sind, besonders wenn man die aus dem Quellenmangel entstehenden
Schwierigkeiten der Beweisführung mitberücksichtigt
Mit der Verlegung der Residenz der Babenberger nach Wien, mit dem
Aufblühen des Donauhandels, gefördert noch durch die Kreuzzugsbewegung,
ist Wiens Zukunft gesichert Im 12. Jahrhundert entwickelt sie sich gegen
Osten hin, im 13., infolge der Änderung der Handelswege, nach Süden; die
Kärntnerstraße entsteht mit dem »Neuen Markt*, Klostergründungen sind
ein Beleg für den stattfindenden Ausbau der Stadt die alsbald um einen
ganzen neuen Stadtteil, der bis zur Hochstraße (Herren- und Augustiner¬
straße) reicht erweitert und noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts
46 *
706
Literatur.
mitsamt der alten Anlage durch eine neue Mauer, entsprechend dem Zuge
der späteren Glacis abgeschlossen wird. Aber gegen alle bisherige Annahme,
die sich nur auf ein von v. Mitis als Fälschung erwiesene Urkunde stützte,
gehört der Bau der neuen Burg nicht in diese Zeit, sondern beginnt erst
unter Ottokar II. und erfährt unter K. Albrecht L seine spätere Ausge¬
staltung. An diese sehr anschauliche Schilderung der topographischen Ent¬
wicklung schließt sich noch im selben Abschnitt eine sehr wichtige Dar¬
legung der ältesten kirchlichen und gerichtlichen Organisation der Stadt*
wobei durch die Betonung des Zusammenhangs zwischen Stadtgericht und
Gerichtsverfassung des flachen Landes neue wertvolle Anregungen für weitere
Untersuchungen geboten werden.
Der zweite Abschnitt betrifft die Fragen der Grundbesitzverhältnisse*
die, wie der Verf. einleitend bemerkt, für die ältere Geschichte Wiens noch
nicht Gegenstand genauerer Untersuchung gewesen sind, mit Ausnahme
etwa der Leiheformen, deren verhältnismäßig reichere Literatur S. 79 ff ge¬
würdigt wird. Die Darlegungen setzen sich gleichsam als Ziel* die von
H. Rudolf IV. im Jahre 1360 für Wien verfügte Aufhebung aller grund¬
herrlichen Rechte und die Ablösbarkeit der Rentenrechte aus der Entwicklung
der Grundbesitzverhältmsse in der Stadt zu erklären, zugleich auch eine
merkwürdige Behauptung dieses Fürsten, daß er nämlich alleiniger Eigen¬
tümer des Grundes und Bodens der Stadt sei, auf ihren richtigen Sinn zu¬
rückzuführen. Ursprünglich, zur Gründungszeit, im Beginn des 11. Jahr¬
hunderts war gewiß der babenbergische Markgraf — einen der drei ersten
Babenberger denkt sich doch wohl V. als Stadtgründer — ausschließlicher
und alleiniger Grundherr wie fast im ganzen Wiener Becken so auch auf
Wiener späterem Stadtboden. Aber noch unter den Babenbergern gerät
der landesherrliche Besitz teils als Schenkung teils als Lehen in die Hände
geistlicher und weltlicher Grundherren: Klosterneuburg, Tulln, Gaming,
St. Peter, die Schotten sind die namhaftesten und ältesten geistlichen»
herzogliche Ministerialen und Ritter, dann Wiener Büiger die weltlichen
Grundherren, ebenso in der nächsten Umgebung der Stadt wie auch inner¬
halb der Stadtmauern. Sehr anschaulich wird mit Hilfe der Originalur¬
kunden und der ältesten Urbare aus dem letzten Viertel des 14. Jahr¬
hunderts — u. zw. nach den Handschriften, da die Ausgaben unbrauchbar
sind — der Grundbesitz des Schottenklosters innerhalb der Stadt zusammen¬
gestellt (S. 48 ff.), daraus sich dann auf die Verhältnisse der übrigen geist¬
lichen Institute einigermaßen zurückschließen läßt. Dagegen ist der Besitz
der Gemeinde als solcher, dann der Bürgerschaft und vor allem der des
Landesfürsten infolge des ungünstigen Standes der Quellen kaum klar zu
überblicken. Immerhin scheint sich zu ergeben, daß neben den geistlichen In¬
stituten nur noch die Bürger es sind, die ansehnlichen städtischen Grund
und Boden besitzen.
Der landesfürstliche Besitz ist in der Habsburgerzeit so sehr herabge¬
sunken, daß die Herzoge bei Klostergründungen fremden Grundbesitz er¬
werben müssen, um sie entsprechend ausstatten zu können. Was also ehe¬
mals fast ausschließlich dem Landesherm gehörte, der ganze Boden Wiens,
ist in verhältnismäßig kurzer Zeit in den Besitz der Kirchen und der
Bürgerschaft übergegangen, und zwar im Gegensatz zu ähnlichen Entwick¬
lungen in anderen deutschen Städten als zinsfreies Eigen. Volt, deutet
Literatur.
707
«ohin die Bemerkung Rudolfe IV. ,wan wir rechter herre sein der aigen-
echaft und des grundes der egenannten stafc und der vorsietten 4 dahin, daß
allerdings der städtische Grund in letzter Linie vom Landesherm herrührte,
die Behauptung eines wirklichen Besitzes für diese Zeit aber als »völlig
unrichtig 4 erklärt werden müsse.
Sehr eingehend beschäftigt sich V. noch mit dem bürgerlichen Grund¬
besitz, der nur »in verhältnismäßig wenigen Händen vereinigt war 4 . Wie
er aus dem bescheidenen und spröden Material den Begriff der Erbbürger,
zum Teil auf v. Luschins älteren Ausführungen fußend, herausarbeitet,
ihr Verhältnis zum niederen Ad$l erläutert, ihre wirtschaftliche und stadt-
politische Sonderstellung klarlegt, aus der sich dann notwendig die Aus¬
teilung des städtischen Grundbesitzes zu Lehen nach Burgrecht (ius civile)
und in weiterer Folge das ungesunde und massenhafte Rentengeschäft ent¬
wickelt, bis Rudolfe IV. Reform neue Verhältnisse anbahnt, — ist zweifellos
einer der wertvollsten Abschnitte dieses Buches und von allgemeiner Be¬
deutung für die Rechtsgeschichte.
Im letzten Abschnitt nimmt V. seinen Ausgangspunkt von dem Wiener
Stadtrecht vom Jahre 1221 und macht es in sehr interessanter Untersuchung
wahrscheinlich, daß dieses und das Ennser von 1208 nicht nur, wie wohl
schon früher vermutet wurde, auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen,
sondern auch, daß diese Quelle jenes Stadtrecht vom Jahre 1198 sein
dürfte, das Lazius fragmentarisch und ohne jede Provenienzangabe bekannt¬
gemacht hat. Flandrische Einwirkungen im Wiener Stadtrecht bestreitet
er entschieden, dagegen kommen solche der rheinischen Städte Worms und
Speier, und vor allem Freiburgs i. B. in Betracht. Die nächste Stufe in
der Verfassungsentwicklung Wiens bildet der Freiheitsbrief Kaiser Frie¬
drichs IL von 1237, vernichtet von Herzog Friedrich II. 1244 und nach
dessen Tode vom Kaiser wieder erneuert, dessen Bedeutung von dem Stand¬
punkt aus geprüft wird, weil »das Eingreifen des genialen Staufers in die
Entwicklung des Wiener Stadtrechtes noch nicht genügend gewürdigt
worden ist 4 (S. 118). Er verfolgt vor allem die Spur, »wie das vom Kaiser
verliehene Recht auch nach dem Aufhören der Reichsherrschaft 4 in dem
herzoglichen Stadtrecht von 1244 »wenigstens teilweise weiterlebte 4 . Sehr
beachtenswerte Gründe bringt dann V. vor für die Ausfertigung eines
zweiten heute verlorenen Privilegs Kaiser Friedrichs ü. für Wien, das
eine Bestätigung und Ergänzung jenes von 1244 darstellen würde. Dieses
Nebeneinanderlaufen zweier Reihen von Privilegien, einer vom Kaiser und
einer zweiten vom Landesfürsten ausgehenden, die sich auszuschließen suchen
und doch wieder beeinflussen, vernichtet und doch wieder bestätigt und er¬
neuert werden, ist wohl noch nirgends so klar zur Anschauung gebracht
worden, wie in dieser Schrift. Bezüglich der beiden oft behandelten Pri¬
vilegien K. Rudolfe L für Wien vom 24. und 25. Juni 1278 stellt sich
V. unter Vorbringung neuer Gründe auf den Standpunkt Oswald Redlichs
und betont dabei, welchen Fortschritt die Autonomie der Stadt und die
Stellung des Rates gerade durch sie erzielt hat, Rechte, »wie sie kaum
einer andern Reichsstadt verliehen worden sind 4 .
Die rückläufige Bewegung beginnt mit dem Stadtrechtsprivileg
H. Albrechts II. von 1296, der, wie nicht anders möglich, aus dem reiche-
unmittelbaren Wien eine seiner Landeshoheit unterstehende Stadt machte,
708
Literatur.
und wird weiter verfolgt über die zwei wichtigen Privilegiengruppen von
Rudolf IY. und Albrecht IY. bis auf K. Ferdinands I. Stadtrecht von 1526,
mit dem für Wien eine ganz neue Zeit beginnt.
Wir können die Anzeige dieses Buches nicht abschließen, ohne dem
Wunsche Ausdruck zu geben, das glänzende Muster stadtrechtlicher Unter¬
suchung möge bei uns in Österreich, wo noch so viel Stoff für derartige
Arbeiten erliegt, die auch von dem Verf. an vielen Orten direkt ausge¬
sprochene und gewünschte Anregung zu weiteren Forschungen geben.
Brünn. B. Bretholz.
Eonstanzer Häuserbuch. Festschrift zur Jahrhundertfeier der
Vereinigung der Stadt Konstanz mit dem Hause Baden. Herausgegeben
von der Stadtgemeinde. Zweiter Band: Geschichtliche Ortsbe¬
schreibung. Erste Hälfte: Einleitung. Bischofsburg und Niederburg.
Mit einem Titelbild und einem Stadtplane, bearbeitet von Dr. Konrad
Beyerle, Prof, in Göttingen und Dr. Anton Maurer, am Stadtarchive
zu Konstanz. — Buchschmuck von Joseph Sattler. Heidelberg 1908 l ).
Carl Winter, XVI u. 572 S. Gr. 4°.
Der erste uns nicht zugegangene Band des monumentalen Prachtwerkes
behandelte, wie aus dem Vorwort zu ersehen ist, die baugeschichtliche Ent¬
wicklung der Stadt, wurde bearbeitet vom Gr. Bezirksbauinspektor Dr. Fritz
Hirsch und ist im Jubiläumsjahr 1906 erschienen. Das Erscheinen des
zweiten Bandes, ursprünglich für denselben Zeitpunkt bestimmt, verzögerte
sich »angesichts der zu bewältigenden Stoffmassen € , auch mußte er überdies
in zwei Teile getrennt werden; der zweite scheint noch nicht erschienen
oder uns noch nicht zugekommen zu sein. Er wird die Stadtteile des bür¬
gerlichen Marktes, der Markterweiterungen und die Vorstädte behandeln
und das Namenregister für beide Teile enthalten. Ein Sachregister und
Glossar bietet auch schon dieser Band.
Die Beschreibung der einzelnen Häuser, bezw. bebauten Grundstücke,
die erst mit S. 185 beginnt, kann wohl in ihrer Anlage und Durchführung
als mustergiltig für ähnliche Werke bezeichnet werden. Von jeder Straße
und jedem Platz erhalten wir zunächst eine Schilderung der geschichtlichen
Entwicklung nach jeder Richtung: topographisch, verfassungsgeschichtlich,
wirtschaftegeschichtlich, gelegentlich auch kunstgeschichtlich nebst den not¬
wendigen Literaturnachweisen; daran schließen sich die Beschreibungen der
einzelnen Bauobjekte. Die Überschrift dieser trägt in knappester Form die
neue Hausnummer, daneben die etwaige heutige Bestimmung des Gebäudes
(Museum, Gymnasium u. s. w.), dann bei zahlreichen Häusern den Namen
des alten Hausschildes mit dem Zeitpunkt seines ersten Auftretens, schließlich
nach dem Grundbuch alle notwendigen Angaben über dermal iges Ausmaß,
! ) Die Anzeige hatte s. Z. Herr Prof. Karl Uhlirz übernommen, und wurde
mir nach seinem Tode erst im Jahre 1915 übertragen. Daraus erklärt sich das
verspätete Erscheinen dieses Berichtes.
Literatur.
709
Bauart, Katasteraummer u. ähnL Dann folgt die Hausgeschichte in zwei
Kapiteln, 1. die Eigentumsverhältnisse und 2; die Belastungen. Bei Ob¬
jekten aber, die, wie die geistlichen Häuser im Gegensatz zu den bürger¬
lichen, in keinem eigentlichen Liegenschaftsverkehr standen und keine
richtige Belastung tragen, ist entgegen dieser Zweiteilung eine zusammen¬
hängende chronologisch verlaufende Hausgeschichte geboten, die sich bei
wichtigen Gebäuden kirchlicher oder städtischer Art, zu einer förmlichen
kleinen Studie oder Abhandlung ausgestaltet.
Dem »Häuserbuche* voran geht eine umfangreiche Einleitung (S. 1—
185), von der eigentlich nur das erste Kapitel, das sich »Stoffbegrenzung,
Quellenübersicht, Methode* betitelt, diesen bescheidenen Namen verdient.
Das zweite Kapitel, der weitaus größte Teil der Einleitung, von S. 23 bis
157, beschäftigt sich mit der Frage des »Fertigungswesens und der Grund¬
stücksbelastungen*, zwar naturgemäß beschränkt auf die Konstanzer Ver¬
hältnisse, aber einerseits die ganze Entwicklung vom frühesten Mittelalter
bis auf unsere Tage verfolgend, andererseits mit so vollkommener Be¬
herrschung des Stoffes, daß man es als eine wichtige Bereicherung unserer
stadtrechtlichen und rechtsgeschichtlichen Literatur bezeichnen darf, umso¬
mehr als diese Fragen in solchem Ausmaß kaum anderwärts behandelt sein
dürften. So sehr die Publikation durch diesen Beitrag gewinnt, so sehr
erscheint es bedauerlich, daß die Darlegungen durch die Einfügung in ein
großes teures Werk weniger allgemein bekannt werden. Eben aus diesem
Grunde möchte ich wenigstens den Gang dieser Ausführungen in kurzer
Übersicht andeuten.
»Fertigungsbehörde* — so lautet die Überschrift des 1. § dieses 2. Ka¬
pitels — ist in Konstanz seit ältester Zeit das Ammangericht (Amman
-minister civitatis, der bischöfliche Amtmann); aber mit dem Aufkommen
des Rats um 1215 tritt dieser auch in dieser Funktion langsam in den
Vordergrund, bis er trotz mehrfacher Rückschläge 1541 das ganze Ferti¬
gungswesen in seine Hände nimmt. Der Fortbestand des Ammangerichtes
bis 1752, »wo es offenbar mangels jeder justiziellen Tätigkeit sang- und
klanglos verschwand*, hindert nicht, daß schon seit Mitte des 16. Jahr¬
hunderts das vom Rat mit zwölf Richtern und einem Oberrichter besetzte
Stadtgericht das ordentliche Zivilgericht der Stadt bildet und bis 1786
verbleibt.
Die Ausführungen des § 2 über die »Fertigungsbücher und die Buch¬
führung* berühren zunächst die Frage, seit wann eigentliche Registerführung
in Konstanz anzunehmen sei, da sich die sogenannten Ammangerichtsbücher
nur für die Jahre 1423—1434, 1519—1521 und dann von 1543 an er¬
halten haben. Die Lücken erklären sich lediglich durch Verluste, so daß
wahrscheinlich diese Quelle ursprünglich weit über 1423 bis ins 14. Jahr¬
hundert zurückreichte. Die Beschreibung der einzelnen erhaltenen Bände
zeigt dann den allmähligen Übergang der Gerichtaprotokolle in Grundbücher,
der mit dem Band vom Jahr 1686 durchgeführt ist. An sehr gut ge¬
wählten Beispielen verfolgen wir im nächsten Paragraphen »Fertigungs¬
urkunden und -einträge* die Entwicklung und den Wandel in den Grand¬
eigentumsurkunden nach Form und Inhalt vom Jahr 1246 bis ans Ende
des 19. Jahrhunderts.
710
Literatur.
Diesen Abschnitten, die mehr in das Gebiet der Privaturknnde ge¬
hören, folgen noch zwei, die sich mit den privatrechtlichen und wirtschaft¬
lichen Problemen beschäftigen. Unter dem Schlagwort »Abgeleitete Boden-
nützungsrechte € werden Zinsleihe, Zinseigen, Jahrzeitrenten, Lehen, Miete
zusammengefaßt, unter »Realkreditgeschäfte* Renten und Pfandrecht. Nicht
nur durch sachgemäße Darlegungen, sondern auch durch charakteristische
Urkundenbeispiele werden diese verschiedenen Rechtsformen erläutert, ihre
wesentlichen Merkmale, ihre Unterschiede, der oft leise Übergang der einen
in die andere auseinandergesetzt. Besonders hinweisen möchte ich etwa
auf die interessanten Ausführungen über den Zusammenhang zwischen
älterer Erbleihe und späterer Wohnungs- bezw. Hausmiete, über die Be¬
deutung der Zinsleihe für die Entwicklung des Geld- und Kredit Verkehrs
in Form des Rentenkaufs, über die Wandlungen des Rentengeschäftes seit
Beginn des 15. Jahrhunderts oder über die Entwicklung der Konstanter
Pfandurkunde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, alles durch urkundliche
Texte belegt und erläutert.
Wieder auf ein ganz anderes Feld führt uns dann das dritte und
letzte Kapitel der Einleitung: »Die räumliche Entwicklung der Stadt Kon¬
stanz*. Hiefür scheint allerdings schon mehrfach vorgearbeitet zu sein, so
daß nun umso rüstiger vorwärts geschritten werden konnte. »Konstanz
ist ... ein zum mittelalterlichen Bischofssitz aufgestiegener Kastellort*,
dessen Vorhandensein und Benennung als civitas Constantia zn Beginn des
6. Jahrhunderts durch den Geographen von Ravenna gesichert, ist. Dieses
Römerkastell — Mitte des 6. Jahrhunderts erfolgt die Verlegung des Bis-
tnms von Windisch nach Konstanz — geht dann auf in der weit darüber
hinausgreifenden Bischofsburg (civitas oder urbs C.), umfassend die Domkirche,
die Wohnungen des Bischofs und der Domgeistlichen, sowie Häuser von
Laien, in ihrem ganzen Umfang mit Mauern und Türmen bewehrt. Weitab
gegen Südlvesten liegt der bischöfliche Fronhof, ein grundherrliches Dorf
»Stadelhofen*. Zwischen beiden, unmittelbar an die Südmauer der Bischofs¬
burg sich anlehnend, entsteht die Marktansiedlnng, dos Forum der Merea-
tores, »ein ans dem grundherrlichen Gebiet des Stadtherrn ausgeschiedener
Bezirk, auf dem sich die durch den Bischof kraft königlichen Marktprivilegs
vollzogene Gründung eines neuen, in Gericht und Verwaltung selbständigen
Sitzes für Handel und Handwerk verwirklicht*.
Fragen wir nach dem Zeitpunkt, so finden wir in einer Anmerkung
(S. 168) eine bescheidene Vermutung ausgesprochen, daß »die Errichtung
des Konstanzer Marktes in die Tage Bischof Salomos HL (890—919)* zu
verlegen sein dürfte. Aber zunächst nicht ummauert geht diese Ansiedlung,
sowie Stadelhofen und die nördlich der Bischofsburg bis an den Rhein sich
erstreckende kleine Niederlassung von Händlern, Handwerkern, Fischern und
Schiffsleuten, die sich vielleicht — so glaube ich die unbestimmten Be¬
merkungen verstehen zu sollen — aus der Römerzeit ohne wesentliche
Unterbrechung ins frühe Mittelalter hinüberrettete, beim Ungamsturm im
Jahre 926 in Flammen auf. Nur die befestigte Bischofsburg leistet« ei>
folgreichen Widerstand. Diese schwere Heimsuchung dürfte doch wohl, ohne
daß ein solcher Zusammenhang in der Darstellung betont würde, die Ur¬
sache gewesen sein, daß zuerst, noch im 10. Jahrhundert, der der bischöf¬
lichen Burg nördlich vorgelagerte tiefer gelegene Teil als »Niederbuig*
Literatur.
711
befestigt wurde. Spätestens gegen Ende des 10. Jahrhunderts besteht auch
tthon der südlich von der Bischofsburg (Oberburg) begründete Markt von
neuem, doch wäre seine Ummauerung nicht vor dem Ende des 11. Jahr¬
hunderts, jedenfalls aber »geraume Zeit vor der Mitte des 12. Jahrhunderts*
anzusetzen. Niederburg, Bischofeburg, Markt bilden nun seit der ersten
Hälfte des 12. Jahrhunderts drei unmittelbar an einander grenzende um-
, mauerte Gebiete, so daß die Nordmauer des Marktes die Südmauer der
Bischofburg, die Nordmauer der Bischofburg die Südmauer der Niederbuig
darstellt, alle drei Teile aber eine gemeinsame Außenmauer umfaßt. Nach
außen ein ganzes, langgezogenes unregelmäßiges Rechteck vorstellend, werden
sie im Innern durch die zwei Quermauern von einander geschieden. In die
erste Hälfte des 13. und in das 15. Jahrhundert fallen dann neue weit
über das ursprüngliche Gebiet hinausgreifende Ummauerungen der besonders
gegen Süden, dann auch gegen Osten und Westen hin entstandenen Fort-
' bcaedlungen, durch die auch Stadelhofen und das zwischen diesem und dem
Markt gelegene Gartenland in die Befestigung einbezogen wurde.
Es ist sehr anschaulich, wenn zum Schluß dieser detaillierten Aus¬
führungen, die hier nur angedeutet werden sollten, die Entwicklung in
Zahlen vorgeführt wird. Das Bömerkastell bedeckte etwa 2 Hektar; die
Bischofburg erweiterte sich auf 4, durch die Niederburg kamen weitere 2,
durch den Markt 3,3 hinzu; um die Mitte des 10. Jahrhunderts erreicht
somit Konstanz eine Bodenfläche von 9*3 ha. Von da bis zur Markter¬
weiterung um die Mitte des 13. Jahrhunderts erweitert sich das Gebiet um
18‘5, schließlich seit der zweiten Hälfte des 13. bis zur Ummauerung des
15. Jahrhunderts um 15*6 ha; wodurch »die Kleinheit des frühmittelalter¬
lichen Konstanz deutlich vor Augen gestellt wird*.
Das »Konstanzer Häuserbuch*, das, wie bemerkt, noch nicht abge¬
schlossen ist, bildet eine der interessantesten Publikationen aus dem Gebiete
der neuesten Literatur über deutsches Städtewesen.
Brünn. B. Bretholz.
Die kirchenpolitischen Schriften Wiclifs.
I.
Mit dem Erscheinen der Opera minora ist die Ausgabe der wichtigsten
kirchenpolitischen Werke Wiclifs l ) abgeschlossen. Die wenigen Traktate,
die noch der Veröffentlichung harren, dürften manche wertvolle Ergänzung
bringen, das Bild aber, das wir aus den nun bekannten Schriften dieses
Mannes zu gewinnen vermögen, keinesfalls durch neue Züge verändern.
Das Verdienst, die Werke Wiclifs der Forschung zugänglich gemacht
zu haben, gebührt der Wiclif-Society in London und ihren Mitarbeitern.
Sie war 1882 gegründet worden. Nahezu fünfhundert Jahre waren ver¬
flossen, seit Wiclif sein Leben beendet hatte. Gerade in jenen Tagen, als
England sich rüstete, das Andenken seines großen Sohnes zu feiern, mußte
man lebhafter als zuvor den Mangel einer geordneten Kenntnis seiner Werke
*) Übersicht Über die Wiclif Literatur: J. Losertb, Geschichte des späteren Mittel¬
alters S. 389 1 — Realenzyklopädie f. prot. Theologie 3. A. 21. 225 f.
712
Literatur.
und seiner Lehren empfinden. Wohl hatten Shirleys Arbeiten *) die Grund¬
lage für spätere Forschung geschaffen, hatte Lechlers Lebensbild *) Klarheit
über Wiclifs äußere Schicksale gebracht und 8*ine Stellung zu den großen
Reformationsbewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts ahnen lassen. Von
seinen Schriften waren aber nur die in englischer Sprache durch Arnold 5 )
und Matthew 4 ), sowie der Trialogus 6 ) und der kleine Traktat 6 ) *De officio
pastorali € durch Lechler, femer eine Streitschrift gegen das Papsttum 7 ) durch
Buddensieg veröffentlicht worden. So war es unmöglich, das Werden und
Wirken Wiclifs und die Bildung seiner Glaubenssätze genauer zu verfolgen.
Diesem Mangel durch die Ausgabe der lateinischen Schriften Wiclifs,
seiner philosophischen und kirchenpolitischen Traktate, abzuhelfen, war das
Ziel der Wiclif-Society, die nach mehr als dreißigjährigem Bestehen mit Stolz
auf so große und mühevolle Leistungen zurückblicken darf. Wie es der
historischen Stellung Wiclifs, der durch die Verpflanzung seiner Lehren nach
Böhmen und Deutschland für die Entwicklung des geistigen Lebens in
diesen Ländern von unendlicher Bedeutung geworden ist, entspricht, haben
deutsche Gelehrte vereint mit englischen Forschern an dem großen Werke
gearbeitet. Neben Matthew, dem ersten Wiclifkenner Englands, müssen wir
vor allem Loserth und Buddensieg nennen, die in Deutschland das Erbe
Lechlers angetreten haben. Die langjährige gemeinsame Tätigkeit der Ge¬
lehrten beider Länder hat durch den Ausbruch des Weltkrieges ein vor¬
zeitiges Ende gefunden und es besteht wenig Hoffnung, daß nach Wiederkehr
des Friedens das zerrissene Band neuerdings geknüpft werden könnte.
Zu bedauern ist, daß bei der Ausgabe der Werke Wiclifs nicht strenge
ein vorher bestimmter Plan eingehalten wurde und daß man mit dem Druck
der einzelnen Traktate begonnen hat, ehe die notwendigen Vorarbeiten ab¬
geschlossen waren, ein Fehler, der den Herausgebern gewiß manche Schwie¬
rigkeiten bereiten mußte 8 ). Die kirchenpolitischen Schriften Wiclifs gliedern
sich in zwei große Gruppen. Die eine umfaßt die zwölf Bücher der Summa
Theologiae und die mit diesen im Zusammenhänge stehenden größeren Trak¬
tate, die anderen die kleineren Werke, die Flug- und Streitschriften und
die Predigten. Da die zeitliche Folge der einzelnen Teile der Summa
Theologiae feststand, wäre es günstig gewesen, die Ausgabe mit dem ältesten
Werke beginnen zu lassen und in entsprechender Weise zu Ende zu fuhren.
Die übrigen Traktate und die kleineren Schriften, welche, wie man jetzt
zu erkennen vermag, häufig in einem bestimmten Verhältnisse zu den wich¬
tigsten Büchern der Summa stehen, hätten entweder in Verbindung mit
diesen oder zum Schlüsse erscheinen sollen. So aber enthielt die eiste
f ) W. W. Shirley. A Catalogue of the original Works of John Widif. Oxford
1865. — Ders. Fasciculi Zizanniorum. Rer. Brit. SS. medii aevi. V. London 1868.
*) G. Lechler. Johann von Wiclif und die Vorgeschichte der Reformation.
2 Bde. Leipzig 1873.
*) Th. Arnold. Select English Works of John Wyclif. 3 Bde. Oxford. 1869—71.
4 ) F. D. Matthew. The English Works of Wyclif hitherto rnprinted. London
1880. Early English Text Society. 74.
Ä ) Trialogus cum supplemento Trialogi. ed. G. Lechler. Oxford 1869.
•) Tractatus de officio pastorali. ed G. Lechler, Leipzig 1863.
T ) De Christo et suo adversario Antichristo. Gotha 1880.
•) Vgl. J. Loserth, Wiclifs Sendschreiben. Flugschriften und kleinere Werke.
Sb. d. Ak. Wien. phiL-hist. Kl. 166. 1 f.
Literatur.
71S
Gabe, welche die Wiclif-Society der gelehrten Welt bot, die lateinischen
Streitschriften, die aas den letzten Lebensjahren des Reformators stammen,
und ihnen schloß sich eine Reihe späterer Werke an, deren Beurteilung
ohne Kenntnis des sachlichen Zusammenhanges mit den älteren Schriften
erfolgen mußte. Auch fiir die Herstellung der Register, die teilweise in
etwas knapper Form gehalten sind, hätten sich Vorteile ergeben. Die all¬
mähliche Entwicklung, die regelmäßige Wiederkehr gewisser Gedankengänge
in den Werken Wiclifs hätte die Möglichkeit geboten, alle Verzeichnisse nach
bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen und dadurch ihre Benützung zu er¬
leichtern. Dieser Mangel in der Anlage wird jedoch bei der Beurteilung des
gesamten Werkes nicht allen schwer ins Gewicht fallen. Man muß bedenken,,
welche Unsumme von Arbeit geleistet wurde und welche Schwierigkeiten
dem ausgedehnten Unternehmen, an dem so zahlreiche, verschieden geartete
Kräfte mitwirkten, gegenüberstanden. Zum Teil wurde der Fehler endlich durch
den günstigen Umstand behoben, daß die Bearbeitung der wichtigsten
kirchenpolitischen Traktate Wiclifs einem Herausgeber, Johann Loserth, an¬
vertraut worden war und somit wenigstens für diese eine durchaus gleich¬
mäßige Behandlung gesichert wurde.
Alle Veröffentlichungen der Wiclif-Society enthalten sorgfältig durch¬
gearbeitete Texte, denen Verzeichnisse der angeführten Stellen aus der Bibel
und aus den Schrifstellem sowie Register beigegeben sind. Ihr Wert wird
noch durch Vorreden, die über Inhalt, Überlieferung und Datierung der
einzelnen Traktate Aufschluß geben, erhöht. Hervorzuheben sind neben jenen
Bndden8iegs die inhaltsreichen Abhandlungen Loserths, die nicht nur die
innere Verwandtschaft der Schriften, sondern auch ihre große historische
Bedeutung klar erkennen lassen.
Mit Rücksicht auf den Umfang der Ausgabe mag es nicht ohne Wert
sein, in raschem Überblick den Inhalt der einzelnen Bände vorzuführen
doch sei es gestattet, auch die wenigen schon früher erschienenen Schriften
WicHfe in den Rahmen der Besprechung einzubeziehen.
Wiclifs erstes kirchenpolitisches Werk war der Traktat De dominio
divino 1 ), der als Einleitung der Summa Theologiae vorausgehen sollte
und jedenfalls vor dem Jahre 1377 geschrieben worden ist. Bevor Wiclif
begann, die kirchlichen und staatlichen Einrichtungen einer Prüfung zu
unterziehen, wollte er den Begriff der Herrschaft, und da Gott über allea
Irdische erhaben ist, den der göttlichen Herrschaft gemäß den Worten der
Heiligen Schrift erläutern. In den zwei ersten Abschnitten behandelt er
den Gegenstand noch ganz nach Art seiner philosophischen Traktate. Herr¬
schaft übt nach Wiclifs Ansicht jeder aus, der andere nach seinem Willen
lenkt. Der Begriff des Herrschens erfordert als Gegensatz den des Dienens.
Dienen können aber nur vernunftbegabte Wesen. Folglich gibt es keine
Herrschaft von Ewigkeit her und erst mit der Erschaffung der Menschen
begann die Herrschaft Gottes; sie ist die erste und älteste, sie ist unendlich
und unmittelbar. Alle Menscien sind ihr gleicherweise unterworfen; selbst
wenn sie sündigen, vermögen sie es nicht, sich dem Dienste Gottes zu ent¬
ziehen. Jede ihrer Handlungen, ja sogar jeder ihrer Gedanken hat seinen
Ursprung in Gott. In diesen Ausführungen weist nichts auf die spätere
*) ed. R. L. Poole. London 1890. Beigegeben sind die ersten vier Bücher-
des Traktates De pauperie Salvatoris von Richard Fitzralph
714
Literatur.
Tätigkeit Wiclifs als Reformator hin; erst der dritte Teil des Werkes, der
von den Gaben Gottes handelt, läßt einen Fortschritt erkennen und enthält
manchen für die Entwicklung der Lehren Wiclifs bedeutungsvollen Satz.
Aller Besitz ruht in den Händen Gottes, der seine Gaben den Gläubigen
auf eine eigentümliche Art, durch , Mitteilung*, verleiht. Er schenkt, ohne
seine Rechte und Ansprüche als Herr aufzugeben. Die Menschen sind Verwalter
seiner Güter und dürfen nur nach seinem Willen darüber verfügen. Geraten
sie in Sünde, treiben sie mit den ihnen anvertrauten Gaben Mißbrauch, so
fordert Gott sein Eigentum wieder zurück.
Diese Sätze bilden den Ausgangspunkt des dritten Werkes der Summa
Theologiae, De civili dominio. Die beiden ersten Traktate De mandatis
divinis 1 ) und De statu innocentiae sind noch nicht erschienen. Soweit
sich ihr Inhalt überblicken läßt, tritt Wiclif auch in diesen Schriften
nicht in Gegensatz zu den Lehren der Kirche. Hervorzuheben ist jedoch,
daß er schon hier ausdrücklich den Vorrang der göttlichen Gebote, die
über allen menschlichen Verordnungen stehen, betont und die Ansprüche
der Kirche auf weltliche Herrschaft ablehnt. Diese Ausführungen bilden,
so maßvoll sie auch gehalten sind, doch die Grundlagen, auf denen sich
das Werk Wiclifs, das für seine spätere Entwicklung als Reformator be¬
stimmend geworden ist, De civili dominio 2 ) erhebt. Eb umfaßt die
folgenden drei Bücher der Summa. Der erste Band zerfällt in vier Ab¬
schnitte. Wie schon erwähnt wurde, knüpft Wiclif hier an die Ergebnisse
seiner ältesten Schrift an. Niemand kann mit Recht besitzen, der gegen
den Willen Gottes, dessen Gnade zur erfolgreichen Verwaltung seines Gutes
notwendig ist, handelt (cap. 1—16). Die Gläubigen sollen trachten, in
allen Dingen die Gebote Christi zu befolgen. Für die Leitung von Staat
und Kirche gibt es nichts Besseres als die göttlichen Gesetze, die sich weit
über alle bürgerlichen und kanonischen Verordnungen erheben (Cap. 17—
25). In dem dritten Abschnitte bespricht Wiclif die einzelnen Formen der
Herrschaft und kommt zu dem Schlüsse, daß die Kirche gegen den Willen
Christi weltliche Gewalten ausübe (26—33). Die Macht der Könige wird
jedoch durch die Worte der Heiligen Schrift bestätigt. Wichtige Aufgaben
sind den Fürsten anvertraut; vor allem müssen sie sorgen, daß in ihren
Reichen die Gebote Gottes strenge befolgt werden. So gelangt Wiclif za
seiner bedeutendsten Forderung: Die Könige, Fürsten und weltlichen Herren
sollen der Kirche, wenn sie in Sünde gerät und mit dem ihr anvertrauten
Gute Mißbrauch treibt, den irdischen Besitz entziehen (Cap. 34—44). Auch
dem Volke ist ein Mittel gegeben, um den sündigen Klerus zur Rückkehr
zu den Geboten Gottes zu zwingen; die Laien mögen ungerechten Priestern
die Zahlung des Zehents verweigern. Niemals dürfen sie in der Erfüllung
dieser Pflichten die Androhung und Verhängung der Exkommunikation
fürchten, denn alle kirchlichen Strafen, die wegen weltlicher Angelegen¬
heiten erfolgen, sind wirkungslos. Den Vorschriften der Kirche sollen die
Laien nur dann Glauben schenken, wenn sie den Worten der Bibel ent¬
nehmen können, daß jene gerecht sind. Das Gesetz Gottes ist das richtigste,
das beste; es ist in der Heiligen Schrift enthalten, deren Lehren die höchste
Autorität beanspruchen können. Jeder Gläubige soll sich dem Studium
*) Vgl. J. Loserth. Joh. v. Wiclif und Guilelmus Peraldus. Sb. d. Ak. Wien,
phil.-hist. Kl. 180. 51 ff.
*) I. ed. R. L. Poole, London 1885. II—IV. ed. J. Loserth. 1900—1904
Literatur.
715
der göttlichen Botschaft widmen, er soll nach den Worten Wiclifs ein
»Theolog* sein.
Diese Sätze deuten darauf hin, daß Wiclif unmittelbar an das erste
Buch De civili dominio seine Schrift De veritate sacrae scripturae anzu¬
schließen gedachte. Doch hatten seine Forderungen, die er, in 18 Thesen
zusammengefaßt, in jenem Traktate verkündet hatte und denen er vom
Katheder herab noch größere Verbreitung zu geben suchte, den lebhaften
Widerstand der kirchlichen Kreise, vor allem der besitzenden Orden, ge-
weckt. Um die Angriffe seiner Gegner abzuwehren, schrieb Wiclif nun
das zweite und dritte Buch von der bürgerlichen Herrschaft. Schärfer und
ausführlicher als im ersten Teil behandelt er hier seine Forderung, daß-
die Herren das Kirchengut beseitigen sollen. Ihre Pflicht sei es, das Gebot
der brüderlichen Zurechtweisung zu befolgen und den sündigen Klerus zu
züchtigen. Man möge nicht den Einwand erheben, daß die Herren Unter¬
gebene der Priester seien und die Fehler ihrer geistlichen Oberen nicht
bestrafen dürfen. Auch der Diener ist berechtigt, die Vergehen seines
Herrn zu rügen. Vernachlässigt die Kirche ihr Richteramt, überläßt sie
ihre Angehörigen der Sünde, so müssen die Laien eingreifen. Sie haben
das Hecht, die irrenden Priester zur Verantwortung zu ziehen. Dieses Recht,
gilt nicht nur dem einfachen Geistlichen, alle Glieder des Klerus, selbst die
Bischöfe und der Papst sind ihm unterworfen. Es ist Aufgabe der Laien,,
den Geboten Gottes Geltung zu verschaffen. Welche Vorschriften hat nun.
Christus seiner Kirche gegeben? Sie muß vor allem sein Beispiel nach¬
ahmen. Christus hat ein Leben der Armut geführt und allen irdischen
Besitz zurückgewiesen; so sollte auch der Klerus handeln. Die weltliche
Herrschaft hat nur Sünde und Verderben in die Kirche gebracht. Sylvester*
Konstantin und alle Heiligen, welche die Macht der Kirche begründen
halfen und ihre Güter vermehrten, haben gegen den Willen Gottes ge¬
handelt Dem Urteil der Päpste, die sagen, daß der irdische Besitz der
Kirche notwendig und Gott wohlgefällig sei, darf man nicht trauen; si 9
irren und haben geirrt Für die Kirche wäre es eine Wohltat, wenn die
Last des weltlichen Gutes beseitigt und der Klerus gezwungen würde, ein
Leben nach dem Vorbilde Christi und der Apostel zu führen.
Wie diese kurzen Auszüge erkennen lassen, bilden die Gebote der
Heiligen Schrift die Stütze aller Forderungen Wiclifs. Der Zweck seines
nächsten Werkes De veritate sacräe scripturae 1 ) war es nun, die
Wahrheit (Cap. 1—8), die Autorität (Cap. 9—15) und den göttlichen Ur¬
sprung (Cap. 16—19) der Bibel zu erweisen. Die Heilige Schrift ist in
in allen Teilen wahr, sie enthält keinen Irrtum, keinen Widerspruch. Nur
Unkenntnis und böser Wille können dazu führen, daß man ihre Worte
mißversteht. Sie ist das Buch des Lebens, das allen Gläubigen gegeben
wurde, damit sie in ihm die Richtschnur ihres Tuns und Lassens finden
können. Wo die reinste Wahrheit ist, muß aber auch die höchste Autorität
sein. Die Bibel, Gottes Werk, Gottes Offenbarung, muß über alles mensch¬
liche Denken, über alle menschlichen Gebote und Lehren erhaben sein. Die
Aussprüche und Bullen der Päpste können nur insofern Geltung besitzen*
*)ed. R. Buddensieg. I—III London. 1905—07, Deutsche Ausgabe«
Leipzig 1904.
716
Literatur.
als sie mit den Worten der Bibel übereinstimmen. In den letzten 13 Ka¬
piteln des Traktates behandelt Wiclif einige wichtige Fragen. Zunächst
spricht er über den Wert der Predigt. Man muß der Verbreitung der
göttlichen Lehren, deren Kenntnis für das Seelenheil der Gläubigen not¬
wendig ist, besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Die Predigt soll in einer
dem Volke verständlichen Sprache erfolgen. Nur jene Männer sollen zu
Priestern geweiht werden, die geprüft wurden, ob sie die Bibel genau er¬
forscht haben und ob sie fähig sind zu predigen. Die Verkündigung der
Heiligen Schrift ist die vornehmste Pflicht eines jeden Priesters, sie ist das
wertvollste Sakrament, das an Bedeutung sogar das Abendmahl übertrifft.
Jede Verhinderung der Predigt ist ein schweres Vergehen und kann nur
das Werk des Antichrists sein. Aber nicht nur Priester, auch Laien können
wirksam das göttliche Wort verbreiten. Niemals darf man die Wahrheit
verschweigen und jeder Gläubige, ob Priester oder Laie, muß trachten, ihr
zum Siege zu verhelfen. Auch seiner Forderung, daß der Klerus arm sein
müsse, gedenkt Wiclif in dieser Schrift. Zu groß scheint ihm der Schaden,
den der »verkaiserte € Klerus der Kirche und dem Staate zufugt, als daß
dieser Zustand noch länger dauern dürfe. Ein Drittel aller Einkünfte .der
englischen Krone sind in Händen der Geistlichkeit. Die mildeste Strafe
für die Priester, die ihre Predigeipflichten vernachlässigen und gegen die
Gebote Gottes fehlen, ist die Entziehung des weltlichen Gutes. Stehen die
Geistlichen den Laien an Würde voran, so müssen sie auch strenger als
diese die Lehren Christi befolgen. Die Gläubigen sollen den Wandel der
Priester nach den Worten der Bibel beurteilen. Durch die Heilige Schrift
vermögen sie alle Vergehen des Klerus, alle Haeresien zu erkennen.
Von dem verbreitetsten Laster der Geistlichkeit, der Simonie, sollte das
nächste Buch der Summa Theologiae handeln.
Abermals wird jedoch der ursprüngliche Plan des Werkes unterbrochen.
Das Verhältnis der Gläubigen zur Kirche, die Scheidung des Machtbereiches der
staatlichen und geistlichen Gewalt schien Wiclif noch einer eingehenden Unter¬
suchung zu bedürfen. In dem 7. Buch der Summa, dem Traktate De
ecclesia 1 ), der ein Menschenalter später Johannes Huß als Vorlage seines
gleichnamigen Werkes diente, suchte Wiclif den Begriff der Kirche Christi
zu erforschen. Geziemt es doch, wie er sagt, jedem Christen, seine Mutter
kennen zu lernen. Man muß sich aber hüten zu glauben, daß die Kirche
jene Vereinigung von geistlichen Würdenträgern sei, die in Born ihren Sitz
habe und an deren Spitze der Papst stehe. Die Kirche ist die Gemein¬
schaft aller Gläubigen, die Gott auserwählt hat, ihr Haupt ist Christus
selbst. Keiner, der von Gott verworfen wurde, kann ihr angehören; außer
ihr gibt es kein Heil, keine Vergebung der Sünden. Sie umfaßt als ecclesia
triumphans die Engel und Heiligen des Himmels, als ecclesia militans die
Praedestinierten auf Erden, als ecclesia dormans die Seelen der Verstorbenen
im Fegefeuer. Die wahre Kirche ist nicht die römische; sie kann über¬
haupt nicht an einen bestimmten Ort gebunden sein, denn sie ist eine all¬
gemeine und ist überall, wo sich gerechte Gläubige bennden. Niemand
darf sich das Haupt einer Ortskirche nennen, auch der Papst soll sich nicht
als Führer der Gläubigen gebärden. Weiß er doch nicht einmal, ob er der
*) ed. J. Loaerth. London 1885.
Literatur.
717
wahren Kirche angehört, ob er ein Praedestinierter ist. Seine Stellung ist
vor allem dadurch bedingt, daß er strenge die Gebote Christi befolgt. Im
7. Kapitel unterbricht Wiclif diese Ausführungen und beginnt, über die
Privilegien der Kirche zu sprechen. Den Anlaß bietet ihm ein Zwischen¬
fall, der sich 1378 in der Westminsterabtei zugetragen hatte und als eine
Verletzung des kirchlichen Asylrechtes gedeutet worden war l ). Die Kirche
darf nur solche Privilegien besitzen, die in der Heiligen Schrift ihre Be¬
stätigung finden. Die höchste Gnade, die sie von Gott empfangen hat, ist
jedoch, daß sie berufen wurde, das Beispiel Christi nachzuahmen. Das Gebot
der Armut ist das erste Privilegium der Kirche und niemandem ist es ge¬
stattet, sie dieses Vorzugs zu berauben. Die Herren und Könige dürfen
der Kirche keine Privilegien gewähren, die ihr Schaden bringen können
•oder durch welche die Macht des Staates verringert wird. Vor allem muß
immer und überall, auch vor den Stufen des Altars, der Gerechtigkeit Ge¬
nüge geschehen und unter allen Umständen muß die Gott schuldige Buße
.geleistet werden. In der zweiten Hälfte des Traktates behandelt Wiclif
neben einigen liturgischen Fragen neuerdings seine Forderung, daß der
Kirche das irdische Gut entzogen werden müsse, und kehrt im 17. Kapitel
wieder zu seinem ursprünglichen Thema zurück. Nachdem er die Ein wände
«einer Gegner widerlegt hat, beschäftigt er sich zum Schlüsse mit der Lehre
vom Ablaß. Jeder Ablaß ist verwerflich und niemand, auch nicht der
Papst, darf sich anmaßen, einen Menschen für Geld von seiner Buße zu
befreien. Könnte der Papst von Sünden lösen, so wäre er der Herr des
Himmels und der Hölle und würde Gewalten beanspruchen, die nur Gott
xukommen.
Auf diesem Traktat, der zweifellos zu den bedeutendsten Werken
Wiclifs zählt, folgt das Buch De officio regis 2 ). Die Macht der Könige
hat ihren Ursprung in Gott und wird durch die Worte der Heiligen Schrift
bezeugt. Vielfach herrschen jedoch unrichtige Ansichten über die Aus¬
dehnung der königlichen Gewalt, so daß es Wiclif nötig findet, ihre Grenzen
genauer zu bestimmen und festzustellen, inwiefern der Klerus den Geboten
des Staates unterworfen sei. Der König muß sorgen, daß Friede und Ge¬
rechtigkeit in seinem Lande herrsche, daß sein Volk durch gute Gesetze
geleitet werde und daß alle seine Untertanen frei von Sünde sind. Er ist
der oberste Richter. Deshalb ist es notwendig, daß sich seine Gewalt über
alle Untertanen, weltlichen und geistlichen Standes, erstrecke. Die Ver¬
gehen der Priester unterliegen wie die der Laien seinem Urteilsspruche.
Ist auch der König in geistlichen Angelegenheiten dem Priester untertan,
«o steht er in allen weltlichen Dingen über dem Klerus, ja sogar über
dem Papste. Eine seiner vornehmsten Pflichten ist es aber, zu achten, daß
alle Geistlichen ihre Aufgaben erfüllen. Das Studium der Theologie soll
der König zu seines Reiches Wohlfahrt eifrig fördern; er muß für die
Heranbildung tüchtiger Priestei sorgen und strenge wachen, daß die Pfarr-
«tellen nur mit geeigneten Minnem besetzt werden. Vor allem darf er
es niemals dulden, daß die Geistlichen fern von ihrem Amtsorte in fremden
*) Vgl. Loserth, Wiclifs Buch »Von der Kirche“ und die Nachbildungen
desselben in Böhmen. Mitt. d. Ver. f. Gesch. d. Deutsch, i. Böhm. 24 (1886)
.387 ff.
*) ed. A. Pollard et Ch. Sayle. London 1887.
718
Literatur.
Ländern weilen, dort ihre Einkünfte verzehren und so das Volk berauben.
Auch muß der König verhindern, daß seine Untertanen durch schlechte
Priester bedrückt oder ungerechterweise vor geistliche Gerichte gezogen
werden. Sein Reich muß er gegen alle äußeren und inneren Feinde be¬
schützen. Niemals darf er in der Erfüllung seiner Pflichten den Zorn des
Klerus fürchten; schwerer als alle Bannsprüche des Papstes wiegt die Ver¬
nachlässigung seines von Gott verliehenen Amtes.
Weiter auf der einmal beschrittenen Bahn führt das nächste Buch der
Summa De potestate papae *). Schon in den vorausgegangenen Schriften
vermag man zu erkennen, daß Wiclif in scharfen Gegensatz zu den Macht¬
ansprüchen des Papsttums geraten war. Seine heftigsten Vorwürfe gelten
der prunkvollen Lebensführung der Päpste, ihrem Streben nach weltlicher
Herrschaft und der Lehre von der Unfehlbarkeit ihrer Entscheidungen. In
dem Traktate De potestate papae sucht Wiclif nun die Grundlagen der
Stellung des Papstes zu erforschen. Die Päpste beanspruchen die oberste
Gewalt über die Gläubigen: sie seien die Nachfolger Petri, dem Christus
alle Macht auf Erden übertragen habe. Es sei nun richtig, meint Wiclif,
daß Petrus die erste Stelle unter den Aposteln erhalten habe. Doch weshalb
hat ihn Christus erwählt? Nur aus dem Grunde, weil er mehr als alle
andern befähigt war, die Kirche zu leiten, und weil er alle Jünger Christi
an Glauben, Demut und Liebe übertraf. Wenn wir nun in dem Papste
den Stellvertreter Petri erblicken sollen, so muß er auch der wahre Nach¬
folger des Apostels sein. Allerdings ist es schwer, den geeigneten Mann
für dieses Amt zu finden. Die Sitte, den Papst zu wählen, führt nur all¬
zuleicht zu Irrungen. Die Wähler können niemals wissen, ob der, den sie
bestimmt haben, ein Praedestinierter ist und ob er imstande sein wird,,
alle seine Pflichten zu erfüllen. Auch sind sie menschlichen Fehlem und
Schwächen unterworfen, sie können sich durch Neid und Haß, durch Ver¬
langen nach weltlichem Gute irreleiten lassen. Besser als der jetztige Wahl¬
vorgang wäre es, die edelsten Männer zu bezeichnen und dann das Los
entscheiden zu lassen. Der Papst muß jedoch nicht nur auf rechtmäßige
Weise seine Würde erhalten haben, er muß sich auch in seiner Lebens¬
führung als der wahre Nachfolger Petri erweisen. Sowie dieser gemäß den
Worten Christi das Los der Armut wählte und sieh ganz der Erfüllung
seiner Pflichten widmete, so soll auch jener in Einfachheit seine Tage ver¬
bringen, sich von allem Luxus, allem weltlichen Treiben abwenden und
strenge seinen priesterlichen Aufgaben nachkommen. Niemals darf der Papst
größere Rechte in Anspruch nehmen, als Petrus ausgeübt hat Petras war
wohl der Erste unter den Aposteln, er war aber nicht ihr Herrscher. Sie
waren in allen Handlungen frei und ohne Aufsicht; sie übten selbständig
ihre Pflichten aus, ohne ihn um seine Zustimmung zu fragen. So ist auch
die Gewalt des Papstes innerhalb des Klerus nur eine beschränkte. Ganz
unberechtigt ist es jedoch, wenn der Papst behauptet, daß ihm die oberste
weltliche Macht gebühre. Petrus hat nach dem Beispiele Christi alle irdische
Herrschaft zurückgewiesen und hat sich den Geboten de*. Staates unter¬
worfen. So muß auch der Papst handeln. Vor allen andern Priestern soll
er durch seinen demütigen Lebenswandel hervorleuchten. Seine Pflichten
*) ed. J. Loserth. London 1907.
Literatur.
719
sind groß. Er trögt die Verantwortung für das Seelenheil der Gläubigen,,
er muß für die Wohlfahrt der Kirche sorgen. Seiner Herde soll er ein.
guter Hirte sein. Die Gläubigen müssen aber den wahren Papst von dem
falschen scheiden 1 ). Sie vermögen ihn an seinen Werken zu erkennen.
Lebt der Papst nicht nach den Worten der Heiligen Schrift, befolgt er
nicht das Beispiel Christi, so kann er unmöglich dessen Nachfolger sein.
Christus nannte keine Stätte sein Eigen, der falsche Papst aber fordert die
Herrschaft über die ganze Welt; Christus hat im Volke umherwandernd
gepredigt, der Mund des Papstes ist jedoch verstummt. In allen Dingen
ist er der Gegensatz Christi, er ist der Antichrist, von dem sich die Gläu¬
bigen abwenden müssen.
Erst nach Vollendung dieses wichtigen Werkes, das wie der Traktat
De ecclesia auf Johann Huß die größte Wirkung ausübte, kehrte Wiclif zu
seinem ursprünglichen Plane zurück. Die letzten Bücher der Summa Theo-
logiae, De simonia 8 ), De apostasia 8 ) und De blasphemia 4 ) sind
der Besprechung jener drei Arten der Haeresie gewidmet, die im Priester¬
stande am weitesten verbreitet sind und der Kirche den größten Schaden
zufügen. Die Ursache aller Haeresie erblickt Wiclif in dem weltlichen Besitz
des Klerus. Als Simonie bezeichnet er das unerlaubte Streben, geistliche
Würden und Gaben durch Kauf zu erlangen oder wegen irdischen Gewinnes,
ein kirchliches Amt zu übernehmen. Die meisten Priester sind diesem Laster
verfallen. Sogar der Papst begeht Simonie. Er erläßt unchristliche Gesetze*
um Geld zu gewinnen, und verkauft geistliche Stellen. Ein Zeichen seiner
Sünde sind die übergroßen Forderungen, mit denen er die Gläubigen be¬
drückt. Ebenso fehlen die Bischöfe. Häufig haben sie ihr Amt auf un-
rechte Art erhalten und vernachlässigen über weltlichen Geschäften ihre
geistlichen Pflichten. Ähnlich verhält es sich mit den übrigen Gliedern
des Klerus; auch die begüterten Orden und die Bettelmönche sind dieser
Vergehen schuldig. Schwer ist endlich die Sünde der weltlichen Herren,,
die den Fehlern der Geistlichen beistimmen, obwohl gerade sie die Ver¬
pflichtung hätten, gegen alle simonistischen Handlungen aufzutreten.
Wird dieser Traktat, der in seiner knappen Fassung zu den wirkungs¬
vollsten Schriften Wiclifs zählt, seinem Titel vollständig gerecht, so ist das
folgende Buch De apostasia seinem Wesen nach eine große Streitschrift,
die ihre Angriffe gegen die Bettelorden richtet. Sie zerfällt in zwei Ab¬
schnitte. Zuerst bespricht Wiclif die Mißbräuche, die bei den Bettelbrüdem
herrschen, dann wendet er sich ihrer Lehre vom Altarssakramente zu. Um
zu erkennen, was Apostasie ist, müssen wir zuerst wissen, was man unter
dem Worte »Beligion* zu verstehen hat. Beligion ist die Beobachtung der
Gebote Christi. Jede schwere Sünde müssen wir als Apostasie bezeichnen * r
man weicht sogar schon dann von den Gesetzen Gottes ab, wenn man ver¬
säumt, etwas Gutes zu tun ocer seine Pflichten zu erfüllen. Die nicht¬
begüterten Orden der Bettelbrüder wurden nun in der Absicht gegründet*
die Kirche auf den rechten V eg zu leiten und den Klerus zur Armut zu-
*} Vgl. J. Loserth, Wiclifs Lehre vom wahren and falschen Papsttum.
Hist. Zeitschr. 99. 237—255.
*) ed. Herzberg-Fränkel et DziewickL London 1898.
*j ed. M. H. Dziewicki. London 1888.
«) ed. M. H. Dziewicki. London 1893.
720
Literatur.
rüekzuführen. Sie werden dieser Aufgabe aber nicht gerecht, sie haben
sich von dem Willen des Herrn abgewandt, sie sind selbst weltlich gesinnt
und werden so zu Verrätern Gottes, zu Dienern des Teufels. Ihr Bettel
ist Sünde. Mit Lügen und Schmeicheleien betören sie das Volk und locken
ihm Gaben heraus, um dann den Erlös ihres Raubes in Luxus und Schwelgerei
zu vergeuden. Schwere Sünde laden aber die Bettelbrüder auch dadurch
auf sich, daß sie Irrlehren über das Altarssakrament verbreiten und be¬
haupten, die Hcfstie werde durch die Worte der Wandlung zum Leibe
Christi. Das Wesen des Altarssakramentes vermag man nur dann zu er¬
gründen, wenn man sich gegen alle trügerischen Entscheidungen der Päpste
und der Konzile an die Lehren der Bibel hält Die Heilige Schrift weiß
nichts davon, daß Christus unter der Gestalt des Brotes körperlich an¬
wesend sei. Die Auslegung der Kirche ist ganz unverständlich und ver¬
geblich würde sich ein Priester bemühen, ihren Sinn einem Laien klar zu
machen. Sollten wir denn, sagt Wiclif, wirklich glauben, daß die Geist¬
lichen täglich am Altäre Christus »machen 4 können und daß dies an so
vielen Orten der Erde oft und oft zu gleicher Zeit geschehe? Daß Christi
Leib gebrochen, verbrannt, von mutwilliger Hand oder von unvernünftigen
Tieren zerstört werden könne? Blasphemie wäre es, das alles zu be¬
haupten. Brot und Wein werden allerdings durch die Worte der Wandlung
zum Leibe und Blute Christi, aber nicht im körperlichen Sinne. Christus
ist in geistiger Weise unter jenen Gestalten, die in ihrer Wesenheit be¬
stehen bleiben, verborgen. Überall im Volke muß diese wahre Lehre vom
Abendmahl verbreitet werden. An zwei Stellen unterbricht Wiclif seine
Ausführungen, um die Angriffe auf die weltliche Macht der Kirche und
die Stellung des Papstes zu erneuern (Cap. 7, 88 ff. und cap. 15, 201 ff).*
In dem letzten Buch der Summa De blasphemia sucht Wiclif dar¬
zulegen, auf welche Art die einzelnen Glieder der Hierarchie dieses Lasten
schuldig werden. Ebenso wie jede Sünde Simonie und Apostasie in sich
schließt, ist sie auch mit Blasphemie verbunden. Blasphemie begeht man,
wenn man Gott Eigenschaften zuschreibt, die er nicht besitzt, wenn man
ihm die seinen raubt, oder wenn man selbst göttliche Gewalten beansprucht
Es ist leicht zu erkennen, daß die römische Kurie die Wurzel aller Blas¬
phemie ist. Der Papst läßt sich als heilig verehren und nimmt die erst9
Stelle in der Kirche ein. Nicht nur die obersten Glieder des Klerus, sondern
auch die niedersten, die Bettelbrüder, begehen Blasphemie. Sie verbreiten
falsche Ansichten über das Altarssakrament und sagen, man müsse die Hostie
wie einen Gott verehren. Endlich behaupten sie auch, daß der Papst un¬
fehlbar sei und erheben seine Aussprüche über die Worte der Heiligen
Schrift Doch sind auch olle Kardinäle, Bischöfe, Prälaten, Äbte, Kanoniker,
Mönche und Priester von diesem Laster ergriffen. Die Ursache darf man
nur in dem unerlaubten Streben nach irdischem Gute suchen. Besonders
verderblich ist daß die Priester selbst durch das Sakrament der Buße Geld
zu gewinnen trachten. Zum Schlüsse erhebt Wiclif noch sieben Forderungen,
die er an den König richtet und die mit seinen Lehrsätzen von der Au¬
torität der Bibel, von der Wertlosigkeit der päpstlichen Exkommunikation
und von der Armut der Kirche im Zusammenhänge stehen (cap. 17, 270 f).
Man vermag in den einzelnen Büchern der Summa Theologiae
deutlich die allmähliche Ausbildung der Glaubenssätze Wiclife zu verfolgen.
Literatur.
721
Als er begann, seine ersten Traktate zu schreiben, ahnte er wohl selbst
nicht, zu welchen Ergebnissen ihn seine Untersuchungen fuhren sollten.
Wenn er auch mit festen Absichten und Zielen an die Ausarbeitung seines
großen Werkes herantrat, so haben ihn doch seine eigenen Forschungen
und die Angriffe seiner Gegner weitab yon der vorherbestimmten Bahn
gelenkt und seiner reformatonschen Tätigkeit neue Gebiete erschlossen. In¬
haltlich nehmen die zwei letzten Traktate eine gesonderte Stellung ein.
Während die ersten neun Bücher vornehmlich dem Kampfe gegen die
weltlichen Machtbestrebungen der Kirche und den reichen Besitz des Klerus
gelten, sind jene durch die Abendmahlslehre und durch immer heftiger
werdende Angriffe auf die Bettelorden gekennzeichnet. Der Traktat De
simonia vereint beide Gruppen. Er steht dem Inhalte nach in engster
Beziehung zu den vorangegangenen Werken, läßt aber doch an einzelnen
Stellen erkennen, daß die Abendmahlstheorie zur Zeit seiner Abfassung
schon vollkommen ausgebildet war.
Die Entstehungszeit der Summa Theologiae umfaßt nur eine geringe
Anzahl von Jahren. Nach den Forschungen Loserths 1 ) stammt der
Traktat De civili dominio aus dem Jahre 1377. In rascher Folge schlossen
sich die späteren Werke an. 1378 sind die Traktate De veritate sacrae
scripturae und De ecclesia, 1379 De officio regis und De potestate papae,
1379/80 De simonia, 1380 (?) De apostasia und 1381 De blasphemia ver¬
faßt worden. (Schluß folgt).
Graz. Mathilde Uhlirz.
Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini.Heraus¬
gegeben von Rudolf Wolkan. IL Abteilung: Briefe als Priester
und als Bischof von Triest (1447—1450). [Fontes rerum Austriacarum
II. Abt LXVII. Band] Wien, 1912. In Kommission bei Alfred Holder.
8°. XV u. 293 SS.
Den beiden Bänden der >Briefe aus der Laienzeit* des Eneas (er¬
schienen 1908 als Band LXI und LXH der IL Abt. der Fontes rer. Austr.)
läßt Wolkan nun die private und amtliche Korrespondenz jenes Zeitraumes
folgen, der zwischen dem Eintritt Eneas* in den geistlichen Stand und seiner
Ernennung zum Bischof von Siena liegt Eneas selbst hatte die Briefe dieser
Periode zu einer eigenen Sammlung vereinigt die er dem Krakauer Erz¬
bischof Zbigniew Oiesnicki widmete. Leider ist es nicht möglich ge¬
wesen, die an Oiesnicki übersandte Handschrift wiederaufzufinden, die den
Briefwechsel dieser kurzen aber bedeutsamen Epoche jedenfalls ziemlich
lückenlos darbot während sich mit Hilfe der Drucke und der an mancherlei
Orten verstreuten Abschriften nur mehr ein bescheidener Best des ursprüng¬
lichen Briefmaterials zustandebringen ließ. Immerhin konnte aber Wolkan
den 31 bereits früher publizierten Stücken noch 16 völlig unbekannte
hinzufugen, so daß seine Edition auf insgesamt 47 Briefe anwuchs, von
*) Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert 1. 8b. d. Ak
Wien, phil.-hißt. Kl. 136. 78. — De civili dominio. IV. Einl. XIII ff.
47*
722
Literatur.
denen 44 der privaten, 3 der amtlichen Korrespondenz angehören. Der
Inhalt der Schreiben ist dem ausgebreiteten Bekannten- und Interessenkreise
des Eneas entsprechend ein sehr mannigfaltiger, aber im Allgemeinen über¬
wiegen doch Mitteilungen politischer Natur; zuweilen wird auch eine um¬
fangreiche wissenschaftliche Abhandlung in die Form der »epistula* ge¬
kleidet, der Brief wird dann zum »Brieftraktat* und gerade der vorliegende
Band enthält eine Anzahl Prachtexemplare dieses Genres wie z. B. die
Traktate über die Entstehung und Bedeutung des römischen Imperiums,
über die Erziehung der Kinder oder über des Baseler Konzil, Arbeiten,
deren Wichtigkeit man an dem Umstande ermessen kann, daß sie bereits
Gegenstand eingehender Spezialuntersuchungen geworden sind.
Dem eigentlichen Briefwechsel hat Wolkan als Anhang.noch zwei Ge¬
sandtschaftsberichte Eneas eingereiht, die zwar schon bekannt waren,
aber in so unvollkommenen Drucken Vorlagen, daß es geboten schien, die
beiden Texte in verbesserter Gestalt nochmals herauszugeben. Die anfänglich
gehegte Absicht, auch die gleichzeitigen Beden des Eneas im Anhang zu
publizieren, hat Wolkan vorläufig nicht ausgefuhrt, sondern ihre Edition
für einen späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt. Wir nehmen ihn beim
Wort und hoffen sowohl der HL Abteilung des Briefwechsels als auch den
»Beden* des Eneas baldigst begegnen zu können l ).
Wien. H. v. Ankwicz.
Studien zur Geschichte Bosniens und Serbiens im
Mittelalter von Dr. Ludwig v. Thallöczy, deutsch übersetzt von
Dr. Franz Eck hart, Verlag von Duncker & Humblot, München und
Leipzig 1913, 8°, XII und 478 S.
Dieses Werk, 1909 in ungarischer Sprache erschienen, bietet reichen
Aufschluß über die Verhältnisse besonders des 15. Jahrhunderts. Der Ver¬
fasser war nach seinen Worten bestrebt, »dem üppigen Legendengestrüpp
der Balkangeschichte* aus dem Wege zu gehen und »Bausteine als solides
Material für die Balkangeschichte* zu sammeln. Das Werk bietet viel neues
Urkundenmaterial, meist aus dem »Archivo de la corona de Aragon* in
Barcelona und ans ungarischen und österreichischen Familienarchiven.
Eröffnet wird das Buch durch eine Untersuchung über den Ursprung
des bosnischen Banates, auf Grund von slavischen Urkunden von 1320—
1380 aus dem Archiv des Fürsten Batthyany in Könnend, welche der Ver¬
fasser mit Unterstützung des Professors von Beäetar schon in den »Wissen¬
schaftlichen Mitteilungen aus Bosnien*, Bd. 11 (1909) mit Faksimilier
herausgegeben hat. Diese für die Adelsgeschichte und Topographie des
nordwestlichen Bosniens sehr wichtigen Dokumente betreffen die mächtige,
mit den kroatischen Subici verwandte Familie Hrvatins, ans welcher später
der bekannte bosnische Magnat Hrvoje, Herzog von Spalato (f 1416) her-
*) In der »Vergleichstafel« (Konkordanz) ain Schlüsse des Bandes fehlen die
Briefhummern 25 und 27, ein wohl nur zufälliges Versehen, das der Brauchbarkeit
der im Übrigen mit großer Sorgfalt gearbeiteten Ausgabe weiter keinen Ab¬
bruch tut.
Literatur.
723
vorgegangen ist. Dabei stellt Thallöczy die bisher so dunkle Genealogie
der bosnischen Dynastie der Kotromaniöi seit dem 13 . Jahrhundert fest
Erwähnt wird auch die wahrscheinlich durch die Grafen von Blagay in
Kroatien vermittelte Verwandtschaft der deutschen Geschlechter der Schärfen¬
berge und der Ortenburger in den Ostalpen mit dem bosnischen Herrscher¬
haus.
Es folgen sieben biographische und genealogische Studien. Die erste
betrifft den auch in Slavonien begüterten Prätendenten »König* Badivoj
(1429—1463), einen Bruder des vorletzten bosnischen Königs Stephan
Thomas. Badivoj hatte bei dem Verlust der serbischen Hauptstadt Sme-
derevo (Semendria) an die Türken 1459 eine große Schuld und wurde
deshalb von König Mathias von Ungarn verfolgt, aber schon bald nahmen
ihn die Türken bei der Eroberung Bosniens gefangen und ließen ihn ent¬
haupten. Der zweite Artikel bespricht die bosnische Königin Katharina,
Witwe des Königs Thomas, welche in Born lebte (f 1478) und den bos¬
nischen Thron dem päpstlichen Stuhl vermachte. In der dritten Studie
werden die Brankowiöi besprochen, die letzte serbische Dynastie, deren Nach¬
kommen stets noch mit dem Titel von Despoten in Syrmien die Grenze
von Südungam verteidigten; es folgen ihnen dort bis 1536 die verwandten
Berislavici aus Kroatien. Weiter bringt das Buch einige ausführliche Ab¬
handlungen über die Begründer der Herzegowina, aus der Familie Kosaöa,
den Großwoiwoden Sandalj (f 1435) und seinen Neffen, den Herzog Stephan
(t 1466). Den Herzogstitel hat Stephan (1448) nach der gründlichen
Untersuchung von Thallöczy weder von Friedrich HL, noch von Alfons von
Aragonien oder vom Papst erhalten, sondern sich selbst beigelegt. Eine
wichtige Entdeckung sind die Urkunden Friedrichs HI. und des Königs
Alfons mit der Aufzählung aller Burgen des Stephan. Dunkel und ver¬
worren sind die genealogischen Fragen. Die zweite und dritte Frau Stephans
stammten aus nicht näher angegebenen deutschen Geschlechtern, Barbara
(1455) als »filia illustris ducis de Payro* (Bayern?) und Caecilia (1460).
Treffend ist bei Thallöczy die Charakteristik dieses schlauen, veränderlichen,
leichtsinnigen und egoistischen Dynasten (S. 159, 188); »er hätte das Mo¬
dell eines Macchiavelli des Balkans sein können*. Ausführlich wird die
Geschichte seiner Söhne untersucht, des Vladislav, dessen Nachkommen als
ungarische Bannerherren noch im 16. Jahrhundert Gutsbesitzer in Slavonien
waren, des Vlatko, dessen Geschlecht sich unter dem venetianischen Adel
behauptete, und des Stephan, der als Achmed Mohammedaner wurde und als
Schwager des Sultan Bajazid H. viermal die Würde eines osmanischen
Großveziers bekleidete.
Den Schluß bildet eine wertvolle Studie über die Wappen und Siegel
der Bosnier und Serben im 13.—15. Jahrhundert, mit zahlreichen ge¬
lungenen Abbildungen; dabei werden auch aus den Wappenchroniken von
Konstanz, des Ulrich von Beichenthal (1418) und Konrad von Grünenberg
(1483) sehr wichtige, bisher unbeachtete Nachrichten herangezogen.
Als Beilage H folgen (S. 323—449) ein hundert laleinische Urkunden
(1301—1528), meist aus Barcelona, Venedig, Mantua und den Archiven
von Ungarn. Zur Erläuterung dienen zwei Karten, der »Donji Kraji*
724
Literatur.
(partes inferiores) im Nordwesten Bosniens und des Gebietes der Kosaca,
sowie das Faksimile einer slawisch geschriebenen Urkunde des Königs
Mathias. Die Benützung des Werkes erleichtert ein gutes Begister.
Wien. C. Jireöek.
Walter Sohm, Die Schule Johann Sturms und die
Kirche Strassburgs in ihrem gegenseitigen Verhältnis
1530—1581. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Renaissance (Histo¬
rische Bibliothek, Bd. 27. München und Berlin, K. Oldenbourg, 1912).
XIV + 317 S. Kart M. 8-— *).
Es ist kein Zufall, daß Fragen der Schule und Pädagogik gerade an
zwei Höhepunkten der nationalen Entwicklung Deutschlands in den engeren
Gesichtskreis des Historikers treten: die Reformation wie die Erhebung
Preußens vor 100 Jahren griffen beide so tief in das Leben der Nation
ein, daß sie mit allen lebendigen Kräften in Berührung kommen mußten,
und für diese beiden Bewegungen war es andrerseits ein großer und wie¬
derum nicht zufälliger Vorteil, daß sie die Schule in solchen Augenblicken
trafen, in denen diese fähig und bereit war, selber einen großen Auf¬
schwung zu nehmen und anderen Bestrebungen den kräftigsten Impuls zu
geben. Aber wie verschieden waren doch die Mächte, die im Anfang des
lß. Jahrhunderts an die Schule herantraten, von denen um 1813. Von
Kirche und Religion war hier nicht mehr und noch kaum wieder die
Rede, mit der Ästhetik aber und der Philosophie und auch mit dem er¬
wachenden Staatsgefühle konnte sie sich schnell zu wundervoll tönenden Sym¬
phonien verbinden, die wir etwa in Altensteins Denkschrift von 1807, in Fichte«
Reden an die deutsche Nation und in Goethes pädagogischer Provinz hören.
Im 16. Jahrhundert aber trafen sich Schule und Kirche, Pädagogik
und Religion, und wenn die Schule oder, was hier fast dasselbe ist, der
Humanismus, sich nicht sofort beugen wollte, so mußte es einen scharfen
Kampf geben. Denn das ist das Zeichen der Zeit, daß sie sich die Mög¬
lichkeit einer gleichberechtigten Vereinigung irgend einer Kraft mit der
Religion nicht vorstellen konnte.
Es ist an sich keine neue Kenntnis, daß Johann Sturm, der Straßburger
Rektor, eine solche Harmonie durch die pietas literata herzustellen suchte,
eine Harmonie, in der allerdings letzten Endes doch den Literae und ihren
Vertretern der leoninische Teil zugefallen wäre; aber die Art, wie S. die Vor¬
stellungen und Ideen Sturms aus seinen Schriften heraus nachweist und
unsere Kenntnis verfeinert und vertieft, ist fast ganz neu. In eingehendster
Interpretation der Begriffe Sturms bestimmt er ihre Stellung zu den antiken
Quellen und zu den religiösen und pädagogischen Kräften der eigenen Zeit
Es ergibt sich, daß Sturm sich eng an Ciceros Bild des Orators anschließt
und daß er gegenüber der sachlichen Vertiefung des Unterrichts, die Me-
lanchton anstrebt alles Heil für den Menschen und auch für die Religion
von einer rein formalen Ausbildung erwartet. Diesem ersten mehr syste¬
matischen Teil, in dem S. seine Vorgänger an Tiefe, einfühlendem Begreifen
4 ) Das Ms. dieser Anzeige wurde im Februar 1913 abgesandt_Walter Sohm
ist zu Beginn des Krieges gefallen; sowohl das hier besprochene Buch wie seine spä¬
teren Schriften zeigen, einen wie schweren Verlust die Wissenschaft damit erlitten hat.
Literatur.
725
und an Klarheit teilweise recht erheblich übertrifft, folgt der viel längere
erzählende, der die Stellung der Sturmschen Schule zu Staat und Kirche
in seinen verschiedenen Phasen bis zur schließlichen unvermeidlichen Nieder*
läge Sturms 1581 berichtet. Die Stellung zu Staat und Kirche! Es liegt
durchaus in der Natur der Sache, daß nicht, wie der Titel wohl erwarten
lassen müßte, nur vom Verhältnis der Schule zur Kirche die Bede ist (vgL
auch 8. 195), aber es ist vielleicht zu bedauern, daß nicht die staatlichen
Beziehungen noch etwas ausführlicher als selbständiger Teil behandelt sind
und dann dem entsprechend der Titel erweitert worden wäre.
Der größte Vorzug auch dieser erzählenden Teile liegt durchaus in
der Erfassung der geistigen Kräfte; es wird hier nach so langer Zeit einmal
gezeigt, wie viel wirklich gelebtes Leben, wie tiefe praktische Gegensätze
in den sonst so ungern bearbeiteten Lehrdifferenzen doch verborgen liegen,
aber S. unterliegt Auch gleich wieder ein wenig — nur ein wenig — der
Gefahr, andere Momente der historischen Wirklichkeit über den Lehrstreitig¬
keiten etwas zu vernachlässigen. Nicht, als ob nicht auch die einzelnen
Momente des Kampfes durchaus eingehend behandelt seien, klar und durch¬
sichtig geordnet an Hand der sorgfältig benutzten Literatur und eines an¬
scheinend gut ausgeschöpften umfassenden handschriftlichen Materials — es
handelt sich bei meinen Bedenken lediglich um die Beurteilung der Wich«
tigkeit der mehr äußeren Momente des Kampfes. Übrigens beleuchtet doch
auch S. mindestens die Charaktere der Gegner an manchen Stellen.
Auf den Verlauf der Kämpfe und auf die Persönlichkeiten — außer
Sturm vor allem Zanchi, Marbach und Pappus — kann hier nicht einge¬
gangen werden, genug daß S. übeiall die typische Bedeutung der lokalen
Vorgänge heraushebt, daß er überall die Tragweite der allgemeinen Kräfte,
die in den Gegnern wirken, genau bestimmt, und daß er gerade dadurch,
obgleich er den weiteren äußeren Kähmen nur leise andeutet, sein Thema
durchaus in das Gebiet der allgemeinen Geschichte der Renaissance und des
Humanismus in Deutschland hineinstellt.
Daß in einem Buch, das so sehr auf scharfe Begriffsbestimmung aus¬
geht, die Formulierungen hin und w ieder Anstoß erregen können, ist leicht
begreiflich. Wenn z. B. S. 16 der Gedanke der Praedestination dem einer
weltfrohen Bildung gleichgesetzt zu werden scheint, so ist zu bemerken,
daß zwar logisch die Praedestinationslehre eine solche Folge hätte haben
können, daß sie sie aber historisch doch nicht gehabt hat; mindestens muß
man die weitgehendsten Einschränkungen und Unterschiede dabei machen.
Jena. Albert Elkan.
Zwingmann Heinrich, Der Kaiser in Beich und Christen¬
heit im Jahrhundert nach dem westfälischen Frieden. Ein
Versuch über die Methode in der gegenwärtigen Geschichtschreibung.
Leipzig, K. F. Koehler 1913, 64 S. 8°.
Zwingmann, ein Schüler Max Lehmanns, will die Bedeutung von
Kaiser und Reich, wie sie nach 1648 wirklich war, untersuchen. Er
geht hiezu einen eigenartigen Weg. Er verfolgt zunächst in einem ersten
726
Literatur.
Teil streng aktemnäßig in guter und klarer Übersicht die Mobilmachungen
des immerwährenden Reichstages seit 1663. Er verfolgt diese kläglichen,
immer wieder vom Kaiser angeregten und immer wieder am Partikularismus
der Stände scheiternden Versuche der Organisation einer Reichsdefension
und er macht nun folgenden Schluß (S. 25 f£). Wenn wir sehen, wie vor¬
sichtig und ungern die Stände dem Kaiser und dem Reiche zu Hilfe kamen,
wie unzulänglich die Einzelhilfe und wie unmöglich das beständige Hilfs¬
werk war, so müssen wir daraus schließen, wie stark und unverwittert
noch die Autorität von Kaiser und Reich dastand. Denn wenn die Stände
so eifersüchtig ihre eigene Autorität zu wahren strebten und sie gegen¬
einander und gegen den Kaiser so ängstlich behüten, so muß die Autorität
des Reiches doch noch verhältnismäßig fest und konkret in der Vorstellung
der Zeit vorhanden gewesen sein. Und wenn das Reich kein stehendes
Heer hat und es zu keinem bringt, wenn es immer nur im Einzelfalle,
mit Mühe und Not eine »Macht 4 schafft, so müssen wir schließen, daß die
Autorität im Reiche überhaupt nicht auf Macht in unserm Sinne beruhte,
sondern daß vielmehr die »machtfremde alte Autorität seine wirkliche
Grundlage 4 gewesen ist. Man dürfe nicht moderne Vorstellungen und
Voraussetzungen in jene Zeit hineintragen, wolle man nicht dogmatisch
verfahren (S. VI).
Syllogismen als Form historischer Beweisführung sind jedenfalls etwas
ungewohnt und der Verf. macht sie durch die Verwendung philosophischer
Terminologie (nominalistisch, realistisch) und durch eigenartige Ausdrucks¬
weise (z. B. autoritativ = Autorität anerkennend) nicht klarer. Aber sehen
wir davon ab, so finden wir in den Ausführungen Zwingmanns einen be¬
merkenswerten Kern. Wir würden ihn, schlicht ausgesprochen, etwa so er¬
fassen können. Die Stände des Reiches hatten ja eine seit 1648 auch
reichsgesetzlich anerkannte partikulare Macht und Libertät, über die sie
eifersüchtig wachen, damit sie ihnen nicht geschmälert werde durch die
Autorität von Kaiser und Reich. Diese Autorität war im Laufe der Zeit
eine wesentlich ideelle geworden, aber als solche ist sie noch stark, als
solche ist sie noch eine Macht, auch wenn sie an sich keine reale Macht
in unserem heutigen Sinne besitzt. Aber, so möchten wir hinzufugen, die
kaiserliche Autorität stand doch in engster Beziehung und Verbindung mit
der realen Macht der österreichischen Habsburger und daraus erklärt sich
erst ganz die ewige Furcht der Reichsstände, daß diese doppelte Macht,
wenn sie etwa noch stärker würde, die ständische Libertät vernichten und
eine kaiserliche Tyrannis aufrichten könnte.
In einem zweiten Teile »Zur Kritik der modernen deutschen Geschicht¬
schreibung 4 unternimmt dann Zwingmann zu zeigen, daß neuere Darstel¬
lungen der deutschen Geschichte nach 1648 eben infolge des Hineintragens
moderner Vorstellungen jener Zeit nicht gerecht wurden und ihre Er¬
scheinungen nicht befriedigend zu erklären vermochten, da sie die Voraus¬
setzung alles Partikularismus der Stände, nämlich die Existenz der Reichs¬
und kaiserlichen Autorität, leugneten oder als ganz unwesentlich hinstellten.
So gerieten manche neuere Historiker in einen gewissen Gegensatz zu den
wirklichen Verhältnissen und zu den Anschauungen der damaligen
Zeit selber. An verschiedenen Fällen, wo die Autorität des Reiches ange¬
rufen ward, und wo ihr Eingreifen in Reichsangelegenheiten als selbstver-
Literatur.
727
atändlich betrachtet wurde, zeigt der Verf. die Existenz und das Walten
dieser Autorität. An der Geschichte des Eheinbundes von 1658 sucht er
in origineller Weise darzutun, daß das Antinationale, das uns bei dieser
Verbindung deutscher Fürsten mit Frankreich so unsympathisch erscheint,
nur dadurch erklärlich sei, daß man damals den Gegensatz der fürstlichen
Libertät gegenüber der kaiserlichen Autorität viel stärker empfand und den
Schutz der Libertät viel nötiger erachtete, als das nationale Moment und
so über nationale Bedenken hinübergehoben wurde. Daher muß Kaiser und
Reich noch eine starke Autorität gewesen sein. Es sei daher falsch und
eine Interpretation damaliger Verhältnisse nach modernen Maßstäben,
daher unhistorisch und dogmatisch, wenn das Eeich als fast nicht mehr
existierend hingestellt werde, oder als etwas ganz Undefinierbares und Ver¬
schwommenes. »Die ältere deutsche Geschichtschreibung, sagt Zwingmann
S. 35 und er meint damit besonders Droysen, streicht das Eeich ganz, die
jüngere und gemäßigtere — er meint z. B. Erdmannsdörffer, Zwiedineck —
steht vor ihm, wie vor einem unerklärlichen monstri instar. Auf diesen
beiden Folien führen nun die beiden Eichtungen Brandenburg ein; wie auf
einen leeren, verödeten Plan tritt es bei der älteren, als Better in Not
und Verwirrung nur etwas zaghaft und tastend tritt es bei der gemäßigten
Geschichtschreibung auf und nimmt fortan die deutschen Angelegenheiten
in seine Hand, nach der älteren Meinung mit vollem klaren Bewußtsein,
nach der jungem in dem bekannten dunkeln Drange, der sich des rechten
Weges wohl bewußt ist«.
Zwingmann hat nach unserer Ansicht im wesentlichen Recht. Wer die
Quellen, die Literatur, die Wirklichkeit jener Zeit unbefangen kennen lernt,
der wird allseitig und immer wieder den Eindruck gewinnen, daß der
Reichsgedanke, die Reichsautorität im 17. Jahrhundert noch durchaus
lebendig war, daß das Eeich noch eine Macht war, freilich nicht durch
Soldaten und Finanzen, aber in der Idee, verkörpert durch den Kaiser. Bei
all ihrem Partikularismus sahen auch die deutschen Fürsten doch im Kaiser
das Oberhaupt des Reiches, die Quelle ihrer Rechte und ihres Bestandes,
und im Kaisertum die zusammenhaltende Autorität Wer von der neueren
Geschichtschreibung herkommt, an die originalen Zeugnisse der Zeit selbst
herantritt und sie unbefangen auf sich wirken läßt, der ist ganz erstaunt,
trotz aller Zerklüftung und Jämmerlichkeit der Zustände, trotz allen Ge¬
gensatzes gegen den Kaiser doch den Reichsgedanken so selbstverständlich
und so kräftig zu finden. Man muß sich nur losmachen von der Vor¬
stellung, daß das Reich hätte ein starker oder gar absoluter monarchischer
Staat sein oder werden sollen, wie etwa Frankreich. Das Deutsche Reich
war im Grunde schon seit dem Ende des 13. Jahrhunderts das geworden,
was es eben blieb. Wenn man heute gelernt hat die mittelalterlichen Zu¬
stände zu verstehen, so muß man erst noch oder erst wieder lernen, das
Deutsche Reich der neueren Jahrhunderte zu verstehen. Es war ja nichts
wesentlich anderes, als das Reich des späteren Mittelalters. Man darf also weder
eine starke Monarchie verlangen, noch, wenn man diese nicht findet, sagen,
es habe überhaupt so gut wie kein Reich gegeben, oder das Reich abtun
wollen mit dem bis zum Überdrusse zitierten Ausspruche Pufendorfs von
dem »irreguläre aliquod corpus et monstro simile«. Pufendorf sagte dies,
nebenbei bemerkt, überhaupt nur im Hinblick auf die aristotelischen Ka-
728
Literatur.
tegorien der Staatsformen, in die das alte Deutsche Reich freilich nicht
paßte — das hat kein Geringerer als Reinhold Koser schon betont (Histor.
Zeitschr. 96, 196).
So ist denn, glaube ich, nicht zu bestreiten, daß in der neuem Histo¬
riographie öfters eine Verschiebung des wahren, jener Zeit gemäßen Stand¬
punktes bei Betrachtung der deutschen Geschichte nach 1648 eingetreten
ist. Man hat diese Geschichte geschrieben, als wenn schon seit damals
Brandenburg-Preußen der politische Mittelpunkt Deutschlands gewesen wäre,
während dies doch in Wirklichkeit noch lange der Kaiser und der Kaiserhof
geblieben ist
Wir wissen und verstehen es vollkommen und dürfen es gerade in
diesen großen Tagen unseres deutschen Volkes ruhig und ohne mißver¬
standen zu werden, aussprechen: die Auffassung und Darstellung der
deutschen Geschichte der letzten Jahrhunderte ist sehr bedeutend durch
die politische Entwickelung der letzten fünfzig Jahre beeinflußt worden, die
herrliche Errungenschaft der Begründung des neuen Deutschen Reiches unter
der Führung Preußens wurde 200 Jahre zurückprojiziert. Nunmehr aber
ist es Zeit zu einer wahrhaft unbefangenen Anschauung der deutschen
Vergangenheit Und ich bin davon überzeugt, daß die großen Ereignisse*
die Deutschland und Österreich in treuester Blutbrüderschaft unlöslich ver¬
bunden haben, auch dazu beitragen werden, die Geschichte der letzten Jahr¬
hunderte des alten Deutschen Reiches recht zu erkennen und zu beurteilen.
Wiem Osw. Redlich.
Bertrand Auerbach. La France et le Saint Empire Ro¬
main Germanique depuis la paix de Westphalie jusqu’a la revo-
lution fran9aise. Paris, librairie ancienne Honore Champion, 1912.
(Bibliotheque de Pecole des hautes Stüdes 196® fase.) [X] — LXX1 V
— 487 S. 8°.
Auerbach, dem wir schon die wertvolle Studie, La diplomatie fran^aise
et la cour de Saxe* verdanken, hat vor einigen Jahren im Reeueil des in-
structions donnees aux ambassadeure et ministres de la France (XVHL Di£te
Germanique) das reiche Material an Instruktionen veröffentlicht die
den Vertretern Frankreichs beim deutschen Reichstage erteilt wurden. Im
Zusammenhang mit dieser großen Edition muß auch sein bedeutendes dar¬
stellendes Werk gewürdigt werden. Ja, die umfangreiche Einleitung des
letzteren ist in Disposition, Inhalt und Wortlaut mit ganz geringen Ab¬
weichungen die gleiche wie im Reeueil: ein guter knapper Überblick über
die territoriale Zusammensetzung des Reiches, die Theorien der Zeitgenossen
über seine Verfassung, die Zahl der Mitglieder und die Kollegien des Reichs¬
tages, seine Geschäftsordnung und Rechte, die Prärogativen des Kaisers
u. s. w. Die Beziehungen Frankreichs zur Reichsveraammlung, über die
im Reeueil nur eine kurze Übersicht gegeben werden konnte, bilden hin¬
gegen den Hauptinhalt der gleichzeitig erschienenen umfassenden und ein¬
dringenden Darstellung. So ergänzen sich beide Werke. Auerbachs Ar¬
beiten haben vor denen so vieler anderer Franzosen den Vorzug gewissen-
Literatur.
729
hafter Heranziehung und Verwertung der deutschen Literatur, selbst der
entlegeneren, sie benutzen außer den Instruktionen auch reichlich anderes,
archivalische Material und zeigen nebst wesentlichen Aufschlüssen über die
Tatsachen auch, wie diese Anzeige wohl ergeben wird, immerhin einen
Fortschritt der Auffassung.
Die Darstellung setzt eingehender mit der Sendung Vautortes 1653 ein.
Natürlich steht die Frage des Elsaß zunächst im Vordergründe. Auerbach
strebt ersichtlich nach Unbefangenheit; soll man hoffen, daß die Zeit Le-
grelles in der französischen Geschichtschreibung allmählich überwunden
wird 1 )? Freilich auch A. sucht zu erweisen, daß die vorläufigen Abmachungen
vom September 1646 der Krone Frankreich nicht nur die Souveränität
über den bisher habsburgischen Besitz, sondern auch über die Reichsun-
mittelb&ren übertragen hätten; aber er kommt doch endlich zu dem klaren
Schluß, daß weder Frankreich noch Österreich aufrichtig vorgegangen
sind. Die Stellung als Garant des westfälischen Friedens, mithin auch der
Beichsverfassung, bot Frankreich die erwünschte Gelegenheit, jederzeit in
die Beichsfragen sich einzumengen, die Uneinigkeit im Reiche zu befördern,,
jeder Stärkung der kaiserlichen Gewalt im Interesse der fürstlichen Libertät
entgegenzutreten. Es geht wohl schwerlich an, diese Garantie als genereux
(8. LXX), die Politik Frankreichs, das Reich schwach zu erhalten, als Gleich¬
gewichtspolitik gegenüber einem Weltmachtstreben des Hauses Habsburg in
einer Zeit zu bezeichnen, da längst Frankreich selbst nach der Vormacht¬
stellung in Europa trachtete. Schon Mazarin vertrat, wie A. an einer sehr
bezeichnenden Vollmacht für Vautorte 1653 zeigt, den Gedanken, Frankreich
solle als Reichsstand gleich Schweden und Spanien in das Reich aufge¬
nommen werden: er wollte auf die Souveränität der Landgrafschaft Ober¬
und Niederelsaß und des Sundgaus, der Landvogtei über die elässischen
Reichsstädte und selbst der Bistümer Metz, Toul und Verdun verzichten*
wenn dafür die Aufnahme in den rheinischen Kreis und alle Rechte der
Beichsstände gewährt und jene Besitzungen und Rechte dem Könige ah
Reichslehen verliehen werden. Und Ludwig XIV. hat diese Versuche zunächst
als Marquis de Nomenil, dann als Herr eines Teils des burgundischen Kreises-
erneuert! War da wirklich das Streben maßgebend, »die Intimität mit
dem Reiche zu verstärken* ?
Die größte Zeit der französischen Vertretung bezeichnet die Tätigkeit
Gravels von 1656 bis 1661 bei der Reichsdeputation in Frankfurt, dann
bis 1674 beim Reichstage in Regensburg. Der Rheinbund, die Kaiserwahl
Leopolds L, der Plan Johann Philipps von Mainz eine Generalgarantie zu
schaffen, — in allem zeigt sich die erstaunliche Geschicklichkeit des Be¬
vollmächtigten Ludwigs; er weiß dessen Rolle als »Schiedsrichter der Ge¬
schicke Deutschlands, als Protektor seiner Freiheit, als Verteidiger des
deutschen Landes* ebenso geschickt zu vertreten, wie die beginnende Ge¬
waltpolitik des Königs: ihm ist es zum Teile zuzuschreiben, daß das Reich
den burgundischen Kreis im Devolutionskriege im Stiche ließ, daß das
Schiedsgericht in der Frage der elsässischen Reichsstädte gänzlich wirkungslos
blieb und die Städte schließlich vergewaltigt werden konnten; er hat es
mitbewirkt, daß die Okkupation Lothringens mit einer bloßen Armierung
*) Vor dem Kriege geschrieben.
730
Literatur.
auf dem Papiere beantwortet und daß selbst der Beginn des holländischen
Krieges und des Kampfes mit dem Kaiser und Brandenburg untätig er¬
tragen wurde. Gravels Mission endete mit einem Mißerfolge, der Erklärung
des Beichskrieges und der Ausweisung aus Begensburg 1674. Auerbach
erkennt wohl, wie unvereinbar ein angebliches Beschützen Deutschlands mit
der Politik der Einschüchterung war; zu voller Freiheit des Urteils vermag
er sich doch nicht durchzuringen. Das wichtige Memoire Gravels von 1672
und seine Erfolglosigkeit zeigen doch, daß Ludwig einen Fehlschluß beging,
wenn er damals noch die deutschen Fürsten mit einer Liga nach dem
Muster des Blieinbundes ködern wollte. Aber wie Auerbach anläßlich der
so gefährlichen Bheinbundhilfe gegen die Türken 1664 meint »das Beich
empfand nicht mit der erwarteten Dankbarkeit die Wohltat einer fran¬
zösischen Intervention gegen den Feind der Christenheit*, so erscheinen ihm
Ludwigs Pläne, zugleich das Beich in Furcht und Schrecken zu setzen und
sich als Mitglied in seinen Verband einzuschieben, während der ganzen Zeit
als prätentions toutes modestes.
Wir treten in die Aera der Beunionen, Verjus de Crecy ist Vertreter
Frankreichs. Er soll sich jeder Erörterung der Streitfragen des Elsaß,
Lothringens und der Bistümer enthalten. Unterstützt von Gottfried von
Jena, dem Minister Brandenburgs, vermag er jede vertragsmäßige Ent¬
scheidung zu verhindern, auch als Straßburg fällt. Es muß anerkannt
werden, daß A. Kaiser Leopolds Haltung gegenüber diesem Ereignisse viel
objektiver beurteilt, als man es gewöhnt ist; aber er rühmt die Hoch¬
herzigkeit Ludwigs, als dieser in die Frankfurter Konferenzen eintritt und
sich bereit erklärt, auf Grund des Status quo mit seinem bisherigen Baube
sich zu begnügen. A. ist weit entfernt, der Liga von Augsburg jene Be¬
deutung zuzuschreiben, die ihr früher von französischer Seite beigemesBen
wurde, von der Bezeichnung des Orleansschen Krieges als gu&rre de la
ligue d’Augsbourg kann auch er sich noch nicht freimachen.
Frankreich fährt nach der Ausweisung Veijus’ fort, unter dem Schlag¬
worte der deutschen Libertät Unfrieden zwischen Kaiser und Beich zu
säen. In den Fragen des Generalarmaments, des neunten Elektorates und
der reformierten Beligion in den abgetretenen Orten (Byswicker Klausel)
bieten sich seinem Vertreter Bousseau de Chamoy nach dem Byswicker
Frieden Gelegenheiten genug. Aber das nahe Verhältnis Ludwigs zu den
evangelischen Reichsständen ist nunmehr durch seine Beligionspolitik durch¬
brochen, ohne daß er doch dafür die Katholiken gewonnen hätte; er muß
sich darauf beschränken die »dritte Partei* zu fördern. Nach dem Frieden
von Baden verliert der Begensburger Posten die alte Bedeutung. Der Re¬
gent Philipp von Orleans bricht mit der Politik des großen Königs, seine
Entfremdung gegenüber dem spanischen Hofe nötigt ihn zur vorsichtigen
Haltung, dann zur Allianz mit dem Kaiser. Frankreich hält sich zunächst
in Begensburg vollständig neutral in allen Zwisten, die wieder zwischen
Katholiken und Protestanten auftauchen, all die großen Ereignisse, der Ab¬
schluß der spanischen und nordischen Frage, die Wirren bis einschließlich
des Wiener Vertrages 1731 gehen fast spurlos an der Begensburger Le¬
gation vorbei. »Frankreich hatte keine deutsche Politik im höheren Sinne
mehr*, ruhig ließ es die Autorität des Kaisers und das Nationalgefühl er¬
starken, es fand sein Ziel unter Dubois und Fleury darin, die religiösen
Literatur.
731
Parteien in Deutschland zu versöhnen und auf diese Weise dem Wiener
Hofe ein Gegengewicht zu schaffen.
Als dann der Wiener Friede 1738 den diplomatischen Verkehr nach,
siebenjähriger Unterbrechung wieder eröffnet©, hatte der französische Minister
nur mehr die Aufgabe, das juste milieu zwischen Anhängern und Gegnern
des Kaisers zu erhalten, er mühte sich während des österreichischen Erb¬
krieges vergeblich, eine französische Partei wieder zu beleben, das Reick
blieb neutral, wenngleich der Reichstag sich zu Karl VIL nach Frankfurt
verlegte. Die rechte Mitte blieb die Losung, obwohl tatsächlich seit dem
entscheidenden Wechsel der Allianzen der Anschluß Frankreichs an Öster¬
reich auch auf dem Reichstage fühlbar wurde. Dieses renversement des
albances hat den Einfluß Frankreichs in Regensburg noch mehr zerstört,
wenngleich Baron Mackau und Pfeffel jeden Verdacht einer einseitig katho¬
lischen Politik abwehren mußten, wenngleich Frankreich sein Eingreifen
in den siebenjährigen Krieg auch aus dem Titel eines Garanten des west¬
fälischen Friedens rechtfertigen konnte, eine iüo in partes der Reichsstände
verhinderte und wirklich dem Uberwiegen des kaiserlichen Einflusses ent¬
gegentrat. Die Allianz mit Habsburg, dem bisherigen Gegner der franzö¬
sischen Garantie, mußte ja letztere in den Augen der Verfechter deutscher
Libertät ihres Wertes völlig entkleiden und immer blieb selbst bei den
Gegnern Preußens das Mißtrauen lebendig.
Nach dem Hubertusburger Frieden setzt Frankreich wieder mit größerer
Kraft den Versuch fort, seine Gleichgewichtsidee durchzuführen, mit Bayern
als Mittelpunkt eine dritte Partei zwischen Österreich und Preußen, be¬
stehend aus katholischen und evangelischen Ständen zweiten Ranges, zu
schaffen. Keine leichte Aufgabe angesichts des Gegensatzes der beiden
führenden deutschen Mächte, der das Reich zerriß; an ihr ist Frankreich
völlig gescheitert. Seine Stellung als Garant verliert den Wert, bald tritt
ihm auch Rußland in gleicher Eigenschaft zur Seite; seit 1772 beschränkt
sich Frankreich in Regensburg fast nur auf Repraesentation und Beobachtung..
Wohl sucht es Friedrich IL gegen Josef H zu schützen, es steht allen
Unternehmungen des ruhelosen Kaisers (bayrische Erbfolge, Scheldestreit,
Kirchenpolitik u. 8. w.) ablehnend und mißgünstig trotz der Verwandt¬
schaftsbande gegenüber, aber der Boden in Regensburg ist verloren und
auch die Vermittlung im bayrischen Erbkriege vermag die verlorenen Sym¬
pathien im Reiche nicht wieder zu gewinnen. Der neue Geist der Revo¬
lution hat dann den konservativen Reichstag noch mehr abgeschreckt, die
Beschwerden der im Elsaß begüterten und von der Revolution betroffenen
Reichsstände führten zu heftigen Zusammenstößen, das neue Regime in
Frankreich mühte sich wohl, durch den Reichstag auch die deutsche Nation
mit seinen Ideen zu erfüllen, seine Vertreter Barbö Marbois und Caillard aber
erlitten an der Einigung Österreichs und Preußens und der ablehnenden
Haltung der Reichstagsmeh/he t eine vollkommene Niederlage.
Man wird nach all' diesen Darlegungen Auerbach gewiß nicht zu¬
stimmen können, wenn er die Wirksamkeit Frankreichs in Deutschland
haute et gönereuse nennt oder wenn er die gewiß sehr richtige und schon
oft hervorgehobene Tatsache, daß Frankreich mit dem Streben nach natür¬
lichen geographischen Grenzen einer Lebensnotwendigkeit folgte, gar zu
sehr in den Vordergrund stellt (un proc&s qui attend encore sa solution I).
732
Literatur.
Derartige Dinge erinnern noch stark an die alte Tendenz der Beschönigung;
ein so tüchtiges Werk wie das A.s könnte auf sie verzichten und sich von
der nackten Wahrheit Wirkung genug versprechen. Wie gut er zu be¬
obachten versteht, das zeigen u. a. seine feinen Bemerkungen über das
Erstarken des deutschen Nationalbewußtseins; es ist ein Verdienst, Regens¬
burg als noyau de cristallisation de l’idee nationale erkannt zu haben«
Erdmannsdörffer sollte nicht (S. 39) als antiösterreichischer und anti¬
katholischer Historiker bezeichnet werden. Wenn Josef IL ennemi de
1’ eglise genannt wird (S. 409) oder wenn ihm als Motiv für den Erwerb
Bayerns zugeschrieben wil d, daß ihm * dieses Land durch die Beherrschung
der Alpenstraßen neue Aussichten auf Italien er öffnete* (S. 402), so er¬
weckt das schiefe Vorstellungen.
Graz. Heinrich R. v. Srbik.
Max Grunwald, Samuel Oppenheimer und sein Kreis.
Ein Kapitel aus der Finanzgeschichte Österreichs. Von der Rappaport-
Stiftung gekrönte Preisschrift (Quellen und Forschungen zur Ge¬
schichte der Juden in Deutsch-Österreich, hg. von der histor. Kommission
der israelit. Kultusgemeinde in Wien 5. Band.). Wien und Leipzig,
Wilhelm Braumüller 1913. XU. 358 S.
Die Stellung der Juden im Wirtschaftsleben Deutsch-Österreichs ist
nun in den »Quellen und Forschungen* zum zweiten Male durch eine
wichtige Teiluntersuchung beleuchtet worden. Hatte uns Goldmann im
Judenbuche der Scheffgasse zu Wien in die Welt der kleinen jüdischen
Geldleiher um die Wende des 14. und 15. Jahrhunderts, der gefährlichen
Geschäftsfreunde armer Gewerbetreibender und Handwerker eingeführt, so
treten wir bei Samuel Oppenheimer und seinem Kreise in die Zeit des
kapitalistischen Großbetriebes ein; in die Zeit, da Österreich im Kampfe
gegen Ludwig XIV., in den Türkenkriegen, im spanischen Erbfolgekriege
zur Großmacht wurde und in diesem Prozesse immer wieder jüdischen Ka¬
pitals sich bediente, in Abhängigkeit von ihm geriet. Es war eine sehr
dankenswerte Aufgabe, die Rolle der »Hoffaktoren* in Österreich einmal
zu untersuchen, der Hauptbankiers des Kaisers, als das Wiener Bankwesen
noch in den Anfängen steckte, der größten Gläubiger des Staates; nicht
nur die Finanzgeschichte, auch die Geschichte der Staatsbildung kann ans
solchen Studien reichlich Gewinn ziehen.
Man gewinnt ein eigenartiges Kulturbild, wenn man Grunwalds Buch,
unbeirrt durch die oft sehr trockene und rein äußerliche Aneinandereihung
von Zahlen, liest. Die jüdischen Familien in Wien erhalten sich trotz Aus¬
treibung und Steuerdruck, trotz der Abneigung der Bevölkerung mit
staunenswerter Zähigkeit. Nach der Ausweisung von 1679/71 ist Samuel
Oppenheimer als erster wieder dauernd in Wien «.ngftaaig geworden und hat.
alsbald eine Reihe von Glaubensgenossen neuerdings um sich gesammelt.
Fast unabsehbar sind nun die Geschäfte, die er mit dem Staate abschließt:
die Hofkammer häuft bei ihm Schulden auf Schulden, er liefert immer
wieder, sein Kredit hängt davon ab, daß neue Armeebestellungen mit ihm
Literatur.
733
abgeschlossen werden, der Hofkammerpräsident Kollonitßch haßt und ver¬
folgt ihn und mit dem Präsidenten steht eine Beihe anderer Beamten gegen
ihn, er wird wiederholt von seinen Konkurrenten — zumeist gleichfalls
Juden — verdächtigt, daß er bei Sinken der Gedreidepreise doch die alten
höheren Preise verrechne oder daß er verdorbenes Getreide geliefert habe,
er selbst und sein Sohn werden ins Gefängnis gesetzt und schließlich weiß
der Staat doch keinen andern Ausweg als wieder mit ihm abzuschließen.
Die Armee hat unter Oppenheimers Fürsorge häufig nichts als schlechtes
Brod zur Speise und Lumpen zur Bekleidung und doch kann der Mann
nicht mit Unrecht von sich behaupten, daß er oft als einziger die Feldzüge
ermöglicht und daß »unter seiner Mitwirkung der Kaiser Städte und Länder
erobert hat«. Allmählich bildet sich ein förmliches Monopol des Faktors
auf die bedeutendsten Lieferungen und auf die Kreditgewährung an den
Staat heraus, er besorgt für alle Truppengattungen Uniformen, Waffen,
Verpflegung, Pferde, er richtet die Feldspitäler ein, liefert das Material für
Brücken und Schiffbau, er wirkt mit an der Ausrüstung der jungen öster¬
reichischen Kriegsmarine, beschafft den Sold, Kautionen, Pensionen und
Ehrengeschenke, seine Lieferungen erstrecken sich nach Siebenbürgen und
Serbien so gut wie nach Italien und Westdeutschland, von Holland bis
nach Bußland verfugt er über Lieferanten, Agenten und Korrespondenten. Da¬
neben ist er der nie versagende Hoflieferant und Privatbankier des Kaisers,
er unterbietet alle Konkurrenten oder verbündet sich mit ihnen, sein Kredit
scheint unerschöpflich, der Kaiser ist schließlich wirklich, wie es in einem
Hofk&mmerreferate heißt, fast ganz »in der Juden Hände gefallen«.
Das alles geht aus Grunwalds Darstellung noch viel deutlicher hervor,
als man es bisher schon wußte. An einem der wichtigsten Punkte aber
versagt er vollständig. Es ist, kurz gesagt, die Frage, ob Oppenheimer ein
ehrlicher Mann war. Sein Gewinst für investierte Kapitalien ist dem An¬
scheine nach nicht übermäßig groß: durchschnittlich 6 %, dazu noch Vs—
3 Vs % Provision und 3 Vs—5 % Wechselagio. Natürlich hatte er be¬
deutende Aufwendungen zu leisten. Wie sind aber die geradezu unerhörten
Widersprüche zwischen Oppenheimers angeblichen Guthaben an den Staat
und den behördlichen Berechnungen der Staatsschuld zu erklären? Beispiels¬
weise will eine Kommission 1690 Oppenheimer an Stelle einer Forderung
von 214.859 fl. nur 27.655 fl. zusprechen. Oder folgendes: gegen Ende
des Jahrhunderts schuldet ihm der Staat nach seiner Berechnung mehrere
Millionen, er besitzt fast kein eigenes Barkapital, arbeitet seit langem über¬
wiegend mit fremden Mitteln und leistet doch 1703 nach dem bekannten
Volkssturme auf sein Haus wieder einen Vorschuß von 666.000 fl. Nach
seinem Tode verlangt sein Sohn vom Ärare die Begleichung einer Schuld
von etwa sechs Millionen, das Ärar tritt an Emanuel Oppenheimer mit
einer Forderung von über vier Millionen heran. Die Bilanzen beider
Parteien widersprechen sich unaufhörlich. Gewiß liegt ein Teil der Schuld
nn der Unübersichtlichkeit tpid Wirrnis der staatlichen Finanzwirtschaft
überhaupt, der Unfähigkeit der Hofkammer im besonderen; der Verdacht,
•daß auch Oppenheimer falsch bilanziert hat, läßt sich doch nicht beseitigen.
Das archivalifche Material vermag freilich keine völlige Gewißheit zu geben
und Oppenheimers Rechnungen mögen schon bei jenem Gewaltstreich von
1700 zum Teile zugrunde gegangen sein. In mancher Hinsicht wird
734
Literatur.
Oppenheimer auch psychologisch immer ein wenig Rätsel bleiben. Objektir
läßt sich nur ein Gesamturteil fällen: er verstrickte sich anfänglich ans
Ehrgeiz und Gewinnsucht in gewagte Geschäfte, geriet immer tiefer in
Kreditverbindlichkeiten, bei der geringsten Einstellung seiner Tätigkeit als
Staatskontrahent mußte er seinen völligen Zusammenbruch unvermeidlich
voraussehen; er hatte nicht die Charakterstärke ehrlicher Kaufleute, offen
seinen Bankerott zu erklären; der hilflose Staat selbst drängte ihn zu neuen
Verpflichtungen, er nahm sie immer wieder auf sich, um sich noch eine
Weile über Wasser zu halten und die Gelegenheit zu neuen, wenig reellen
Geschäften zu benützen; als schließlich der Staat Oppenheimers Bankerott
doch aussprach, war das nur die Besieglung einer längst bestehenden Tat¬
sache. Samuel Oppenheimer hat für den Staat viel geleistet, ein ehr¬
licher Diener des Staates war er weder als Armeelieferant noch als S taats -
bankier und die allgemeine Geschäftsmoral hat durch ihn schwer gelitten.
Unter Oppenheimers Glaubensgenossen tritt manche markante Persön¬
lichkeit hervor. Zunächst sein Sohn Emanuel, der bis 1719 — wenig
glücklich — die Geschäftstätigkeit seines Vaters fortzuführen suchte; oder
Löw Sinzheim, einer der bedeutendsten Finanziers Karls VL, dann namentlich
Simeon Wertheimer, der bevorzugte Hofbankier des letzten Habsburgers.
Wertheimer steht in seinem Geschäffcsgebahren weit höher als Oppenheimer:
kann n* m jenen als den Typus des waghalsigen Spekulanten bezeichnen, so
erkennt man in diesem den soliden vorsichtigen Finanzmann. Eine lange
Reihe von kleineren Leuten schließt sich ihnen an, Mautpächter, Münz¬
händler, Arendatoren, Lieferanten des Heeres, mancher gewissenlbs, mancher
ehrliche Mann, in allen aber waltet ein nimmermüder Unternehmungsgeist,
der schließlich doch auch für den Staat nicht wertlos war. Österreichs
Handel und Industrie, namentlich die Fabrikengründungen der vortheresia-
nischen Zeit, haben ihnen mancherlei zu danken.
Eine ansehnliche Bereicherung unserer Kenntnis vermittelt uns dem¬
nach Grunwalds Buch. Wohl ist das ausgedehnte Material, das er vor¬
nehmlich dem Hofkammerarchive entnommen hat, nicht hinreichend ver¬
arbeitet, wohl scheut der Verfasser manchmal vor schlurfen Urteilen zurück
und kann sich von einem leichten Schönfärben jüdischer Geschäftsleute und
»jüdischer Kulturaufgabe, die Stoffe absterbender Gebilde zu neuen Orga¬
nisationen umzugestalten*, nicht ganz frei halten. Eine allzu aufdringliche
Tendenz aber tritt nirgends entgegen und das fast überreiche Mosaik seines
Werkes läßt sich doch unschwer zu einem einheitlichen, farbenreichen Ge¬
mälde gestalten 1 ).
Graz. Heinrich R. v. Srbik.
*) S. 1 hätte Grunwald die Bemerkung, ein Finanzetat Österreichs finde sieb
aus älterer Zeit nur dreimal (1670, 74 und 77), vorsichtiger fassen sollen. Der
Hofkammerpräsident Graf Sinzendorf wird immer Zinzendorf geschrieben, ein Irrtum,
der übrigens bei vielen Autoren zu finden ist. S. 176 soll es anstatt Mätzin von
Springfeld M. von Spiegelfeld heißen.
Literatur.
735
Beschreibung des Oberamts Münsingen. Herausgegeben
vom K. Statistischen Landesamt. Zweite Bearbeitung. Stuttgart, W.
Kohlhammer 1912. 8°. XI und 937 S. Preis 7 Mark.
In der neuen Bearbeitung der Württembergischen Oberamtsbeschrei-
bnngen, die 1893 mit dem Oberamt Beutlingen einsetzte, dann Ehingen,
Cannstatt, Ulm, Bottenburg, Heilbronn, Urach folgen ließ, ist nunmehr
Münsingen erschienen. In dem allgemeinen Teil, der sich in die Kapitel:
L Geographische Verhältnisse, H. Altertümer, ID. Geschichte, IV. Volkstüm¬
liche Überlieferungen, Mundart, V. Wirtschaftliche Verhältnisse, VI. Ver¬
waltung, Kirche und Unterrichtswesen, gliedert, kommt alles Wissenswerte
über Land und Leute von der grauen Vorzeit bis zur Gegenwart nach dem
neuesten Stand unserer Kenntnisse zur Erörterung. Die Abteilung Geogra¬
phische Verhältnisse ist von Bobert Gradmann, Adolf Sauer, August v.
Schmidt und Kurt Lampert bearbeitet; die Abteilung Altertümer rührt
von Peter Gößler her mit einem Anhang über Bodenfunde aus dem Mittel-
alter und Bömerstraßen von Eugen Nägele. Die Abteilung Geschichte hat
Viktor Ernst zum Verfasser, das Kapitel Volkstümliche Überlieferungen,
Mundart Prof. Bohnenberger mit einem Anhang über das Bauernhaus von
Eugen Gradmann und über Volkstracht von Kunstmaler Th. Lauxmann.
Über Wirtschaftliche Verhältnisse handeln Finanzrat Dr. Trüdinger, Ober¬
amtsarzt Dr. Mayer, Medizinalrat Dr. Krimmel, Baurat Oskar G oß und
Oberförster Bundschu, über Verwaltung, Kirche und Unterrichtswesen Trü¬
dinger, Oberamtsrichter Bothfelder, das K. Oberamt, Kameralverwalter Haag,
Dekan Häcker, Dekan Bothenbacher und Pfarrer Sorg, ferner Oberregierungs¬
rat Dr. v. Adam und Oberstudienrat Dr. v. Hartmann. Der spezielle Teil
gibt die Beschreibung der einzelnen Ortschaften in alphabetischer Beihen-
folge unter Voranstellung der Oberamtsstadt. Die Ortsbeschreibung ist
bei sämtlichen Gemeinden von Eugen Gradmann verfaßt, die Ortsgeschichte
von Viktor Ernst, dem auch die Bedaktion des ganzen Werkes
oblag; die umfangreiche Geschichte des Klosters Zwiefalten hat Pfarrer
Dr. Josef Zeller in Bingingen beigesteuert, die wirtschaftlichen Verhält¬
nisse sind bei sämtlichen Gemeinden von Finanzrat Dr. Trüdinger be¬
schrieben. Wie man sieht, sind es nur berufene Männer, die ihr Wissen
und ihre Feder in den Dienst der Sache gestellt haben.
Die Leser dieser Zeitschrift interessiert vor allem der Abschnitt Ge¬
schichte, in welcher Viktor Ernst äußerst lehrreiche Ausführungen über
die germanische Besiedelung des Bezirks, Gemarkungen und
Hundertschaften — der Kern des Oberamts ist die alte Münsinger
Hundertschaft, die Munigiseshuntere —, ferner über Grafschaften und
Territorien, das Grundeigentum, die Dörfer und ihre Ver¬
fassung bietet. Da sich das Oberamt aus vielerlei Territorien zusammen¬
setzt, ergibt sich der Vorteil, da und dort die Entwicklung benachbarter und
engverwandter Gebiete vergleichend nebeneinander stellen zu können. Es
ist ein großes Verdienst von Emst, daß er namentlich auch ein so ein¬
wandfreies Material, wie die Lagerbücher, in umfangreichem Maße für seine
Zwecke herangezogen hat. Im einzelnen möchte ich namentlich auf die
Erörterungen über Grundherrschaften und bäuerliche Eigengüter, Schupf-,
Fall- und Erblehen (S. 310), Bauer und Seldner (S. 327 ff.), Entstehung
736
Literatur.
der Seldner (S. 333) hingewiesen haben. Von den Ortschaften hat die
reichste Vergangenheit Zwiefalten wegen seines alten Benediktinerstiftea,
dessen Geschichte gebührende Berücksichtigung gefunden hat. Verschiedene
Tabellen, Bilder und Karten, die dem trefflichen Werke beigegeben sind,
erhöhen seine Brauchbarkeit.
Donaueschingen. Georg Tumbült
Wilhelm Bahnson, Stamm- und Begententafeln zur
politischen Geschichte. Berlin, Vossische Buchhandlung 1912.
3 Bände (I. Außereuropa, Balkan 111 Tafeln, II. Italien, Spanien, Por¬
tugal, Frankreich 154 Tafeln, HL Niederlande, Belgien, Großbritannien,
Dänemark, Norwegen, Schweden, Bußland (und Polen), Österreich 154
Tafeln).
Trotz des Aufschwunges der Genealogie in den letzten Jahrzehnten
müssen wir noch immer das corpus genealogicum entbehren, das schon
Banke als notwendige Ergänzung zur deutschen Geschichte vor Augen
schwebte. In diesen Blättern habe ich zwar von manchen sehr erfreulichen
Monographien berichten können, die in den letzten Jahren den Schatz un¬
seres genealogischen Wissens bereicherten, ein modernes zusammenfassendes
Werk über die Genealogien der wichtigsten Begentenfamilien fehlt uns aber
noch immer. Und doch ist es nachgerade unmöglich, beim heutigen Stande
der Genealogie und Geschichte als einziges Universalhandbuch den alten
Hübner und seine französischen und italienischen Nachfolger zu besitzen.
Ein modernes Nachschlagewerk ist dringendes Bedürfnis. Dem Genealogen,
der in einem Werke die wichtigsten Stammtafeln vereint finden möchte,
dem Historiker aber vor allem, dem die Stammreihen der Herrscherfamilien
zur Erläuterung seines Forschens dienen, ganz abgesehen von den wichtigen
Lehren, die wir seit Schulte und Düngern den vordem juristisch stumm er¬
scheinenden Stammtafelsammelwerken ablesen können.
So müßte denn jedes Unternehmen mit Freude begrüßt werden, welches
das Lebensfähige am Hübner, die Universalität mit den Prinzipien moderner
Wissenschaft vereinigt und uns ein brauchbares genealogisches Handbuch zur
Staatengeschichte liefert Mit günstigem Vorurteil und keineswegs mit allzu
hoch gespannten Erwartungen ging ich darum an die Prüfung des vor¬
liegenden Werkes, das im großen Stile Ersatz für den Hübner schaffen will.
Von vomeherein ist einem solchen Universalunternehmen Generalabso¬
lution für Detailirrtümer gewährt Ein Sammelwerk von Hunderten von
Stammtafeln kann nicht fehlerfrei sein, ja sogar das stete Zurückgreifen
auf die Originalquellen wird man nicht durchwegs verlangen können, ln
zweiter Linie ist eine richtige Auswahl des Gebotenen am Platz. Ein Uni¬
versalwerk muß jedes Geschlecht aufnehmen, das weltgeschichtliches
Interesse bietet, dafür aber auch rigoros alle überflüssigen Angaben
vermeiden, die der allgemeinen Geschichte wenig dienen. Daß bei allen
weltgeschichtlichen Gesichtspunkten ein in deutscher Sprache geschriebenes
Werk zunächst die Deutschland mehr interessierenden Gebiete ausführlicher
behandelt, ist natürlich. Endli ch muß dem Werke eine Vertrautheit des
Literatur.
737
Verfassers mit Sprache und Geschichte der führenden Kulturnationen anzu-
merken sein, die ihn befähigt, das historisch Wertvolle vom bloß genealogisch
Interessanten zu sondern und die wichtigsten Monographien in der Ursprache
zu lesen.
Die vorliegende Arbeit, der ich im Interesse der Sache gerne alles Lob
spenden würde, der ich gerne auch Hunderte von Irrtümem in den Daten
nachsehen möchte, würde sie nur wenigstens im allgemeinen als Nachschlage¬
werk brauchbar sein, erfüllt jedoch die oben gestellten Anforderungen nicht
Wenn das Referat über dieses Buch denn länger als üblich ausfällt mag
dies die Pflicht entschuldigen, mein Urteil zu begründen, das im Gegensatz
zu einer Rezension der Historischen Zeitschrift tritt, die Bahnsons Werk
wohl allzu hastig lobte. Zugleich mag auch jedem Benützer der Tabellen
ein kleines Vademekum bei ihrer Verwertung gegeben werden.
Ich formuliere zuerst die Bedenken gegen Bahnsons Werk in einige
Leitsätze. Jeder soll dann aus den Tafeln selbst heraus als berechtigt er¬
wiesen werden.
1. Das Werk ist ohne Kenntnis der monographischen Literatur
sämtlicher außereuropäischen, slawischen und osteuropäischen Staaten ge¬
schrieben.
2. Infolge der mangelnden Sprachkenntnisse finden sich bei allen
fremden Familien (mit Ausnahme der romanisch-germanischen) fortgesetzt
Fehler in der Namenschreibung.
3. Dem Verfasser fehlt vielfach die Kenntnis auch der gebräuchlichsten
modernen allgemeinen Werke, nicht bloß der Monographien.
4. Infolgedessen finden sich Hunderte von Lücken (>N.*), die ergänzt
werden können, Dutzende falscher Filiationen, Tausende falscher und un¬
berechtigt fehlender Daten.
5. In der Auswahl der behandelten Familien fehlt jedes System. Her¬
vorragende Königsfamilien werden übergangen, dagegen sind ganze Seiten
mit Heroengenealogien oder Stammtafeln von Negerfürsten angeführt
6. Der Verfasser schreibt kritiklos die Angaben der älteren Lite¬
ratur ab.
7. In den Stammtafeln selbst sind wieder ohne Grund vielfach Per¬
sonen nicht angegeben. Dies läßt besonders bei mangelnder Angabe der
Ehefrauen im Leser die falsche Meinung aufkommen, die letzteren seien
überhaupt unbekannt. Anderseits prätendiert der Autor Vollständigkeit für
nlle verheiratet gestorbenen Mitglieder.
8. Die technische Anlage ist anfechtbar. Die Eltern der einheiratenden
Frauen sind nicht oder nur sporadisch angegeben.
9. Es finden sich Verstöße bei der Bestimmung des Standescharakters
einzelner mediatisierter Familien; dem Verfasser scheinen die nötigen all¬
gemeineren Kenntnisse auch auf dem Gebiete der Ständegeschichte zu
mangeln.
1., 2. Die mangelnde Spvachenkenntnis zeigt rieh schon in der Ver¬
nachlässigung der slawischen Literatur. Des weiteren fehlen vollständig die
bei einem Handbuch nötigen nationalen Schriftzeichen. Ganz abgesehen
von den exotischen, wie denen des arabischen, armenischen, georgischen
Alphabets fehlen z. R die slawischen Laute £, c, die polnischen 1, 8, z,
das ungarische i, 6, das rumänische $ und BL muß darum den meisten
18*
738
Literatur.
ausländischen Namen Gewalt antun, um sie in deutsche Form zu pressen
und verwendet dabei nicht einmal die beste Transkription. Auch mangelt
natürlich die Einheitlichkeit, indem z. B. bei den polnischen Familien a,
cz, rz meist wie im Original geschrieben sind, und die Kenntnis der rich¬
tigen Aussprache dieser Lautverbindungen voraussetzen, dagegen das russi¬
sche «tt in tsch, tu in sch transponiert sind, wahrend l. q und a einfach ganz
unrichtig durch 1, e, a wiedezgegeben werden.
Dazu kommt dann eine Legion falsch geschriebener Eigennamen, z. R
Bathori statt Bathory, Zapolja statt Zapolya u. a. w. Ganz überflüssig ist die
Beigabe schlecht abgeschriebener nationaler Epitetha der Regenten, z. R
bei Rumänien Radu cel mace (statt cel mare. Kein Druckfehler, denn auch
Mircea I. heißt bei B. ccl Mace). Merkwürdig wirkt Tab. 85 der Kanimfr
(polnisch Kazimierz, nicht Kaziemierz) gegebene Beiname restaurator, der
mitten unter den sonst polnisch abgedruckten sich seltsam genug ausnimmt,
bekanntlich im polnischen eine ganz andere Bedeutung hat (Wirt!).
3. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß die südslawischen Stamm¬
tafeln die Unkenntnis Mas-Latries, die der byzantinischen Kaiser und Ungarns
die Brömmels verraten, daß aus der Einlftitnng mangelnde Vertrautheit mit
Stockvis hervorzugehen scheint.
4. Dieser Punkt wird am Ende dieses Referates genügend belegt. Hier
nur so viel, daß ich auf Grund der Stichproben die Zahl der bei B. positiv
falschen Daten und Filiationen auf mehr als 5000 schätze.
5. Vor allem ist es vollständig unerfindlich, warum in einem modernen
Werk, bei dem höchste Ökonomie am Platze wäre, ganze Tafeln mit Genea¬
logien der griechischen Heroen, mit den Stammreihen der dänischen Könige
nach Sazo Grammaticus und ähnlichen müßigen Spielereien angefullt and.
Nicht minder überflüssig ist eine große Anzahl Tafeln des ersten Bandes^
die vielleicht in Spezialarbeiten recht interessant wirken mögen, für ein
Handbuch aber wirklich kein Bedürfnis sind. Zudem getraue ich mich, —
obwohl ich mich bis nun mit der Genealogie der Nyam-Nyam, Mongbattn,
Wadai und Kanemiyln nicht genügend beschäftigt habe, die von B. über
die Dynastien dieser Staaten gegebenen Tabellen ohne weiters als kaum vor
den Augen der Kritik bestehend anzusehen. Sonst müßte freilich der Ruhm
der Habsburger und Welfen bedenklich vor dem der Sefiya erblassen, deren
Stammreihe B. bis auf 580 zurückfuhrt!
Sind auch die Häuptlinge der Nyam-Nyam in ihrer weltgeschichtlichen
Rolle genügend gewürdigt, so scheinen die Könige von Armenien und
Georgien B. nicht ähnlicher Interessen wert In einem Werke wie dem
seinen fehlt darum eine Stammreihe der Bagratiden in Armenien und Geor¬
gien, fehlt die Stammtafel der für die mittelalterliche Geschichte so bedeut¬
samen Rupeniden, ist der Stammbaum der byzantinischen Kaiserfamilie der
Kantakuzinos ein wertloses Fragment. In einem Werke, das die Genealogie
der Souveräne von Tahiti ausführlich darstellt, umfaßt der Stammbaum der
Grafen von Tirol 8 Namen, werden die Sponheimer und Eppensteiner mit
wenigen Zeilen abgetan.
Die mangelnde Literaturkenntnis mögen folgende Stichproben zeigen.
Wie aus den Angaben einzelner Tafeln hervorgeht, scheint Bahnson u. a.
folgende Werke nicht zu kennen: Wlasiew: Potomstwo Rjuryka (vgL Ru߬
land); Balzer: Genealogie Piastdw (vgL Polen); Wertner: Az Arpidok csalädi
739
törtenete (vgL Urmam : iesseib«! 1 kuzepkuri ielaziav unikndük gene»-
]ogiai tör tene te (vgL Bulgarien. Sertnei.: JLr®c'-*k: '^scnien® ier BuIgTireii
(▼gL Bulgarien ; Leeea: Familme boer-su t ui. iumänien : Klan:: ‘^scmeht»
Bosniens (Kotrotnanic : Wihf: Buh ietfymiiia Jig^ilciieii : Boniecki: Herbarz
polaki (poln- Familiär - Encanges änuLLes l ■ :urr®-mer Krenzzngzeit':
BroaBet: ffiatoire *ie ♦Bonner Jusu: I^msmps W*r»rbucii Potbiu Ap-
menien). Jeder ier <^eneaifigie wiri in -ien von mir angeführten
so ziemlich da« Wicircese an raieaAOinscnßi Werken Osteuropas erkennen.
BL vernaehläSBirt anrn «irrers iie besten Xonognphien französischer
nnA dentacber TW nagMnirpwEn ^.nr pr. wie etwa Eicnarü» 'jescniLnte «ier Grafen
von Poitou, Öteies Gescmcine ier Grafen von Amiechs. Von arroden Zeit¬
schriften scheint er einzige zu benützen. wemgscens ▼enniiit man eine
|t» pii*Wi<*htTg Trny von Wittes Ansätzen in nesen c lüttem. von Poupardins
Familie« comtaies in ‘ier Revue 2 istattmj£ ’ Primäre Quellen and überhaupt
nirgend« herazxgezogen worden. selbst Eegestenwerke mit beigegebenen
Stammtafeln sfnd übersehen. Am ärseriicnsten wirkt aber *üe Behanliung
Frankreichs nnd Italiens. Wahrend iie moderne Genes Icvrie einer grinsen
Ifrdhrf» Familien ohne jede weither«-rische Bedeutung, «iie sofort im Gotha
oder im Annnazre de La ncb Lesse. o^ier im Anzruarii: ieEa ncbilta zu Enden
«nd, bis ins kleinste Detail auf i <) Taiein ‘iargesteut ist. sind «iie groben
Dy naateng eaeh Whter des Jütteiaiters mit derart kastrierten Stamm tafeln ver¬
treten, daß ihre Benutzung gänzlich unmöglich wird. Die Tabellen der Her¬
zoge von Bor rmd der Alerazniiien von Moutferrat send dafür besonders «deut¬
liche Beispiele. Dam fehlen große Familien, wie «Le Chi:ellerauli. die Vienne
vollständig!
7. Die Answahl «ier in den Stammtafeln angeführten Personen ist regellos.
Einige Stichproben beweisen dies. Bei der Stammtafel der Arpaden fehlen
die Gattinnen des Königs Ladislaus L. des Herzogs Geza und AlnivXs die
erste Gemahlin Stefans des Lombarden, eine ganze Beine von Arpadenibehtern*
die in große Geschlechter heirateten. Dagegen nennt R unbedeutende Per¬
sonen wie den 1047 verstorbenen Levente, nnd Geza. den Sohn Geza 11. Letz¬
teres mag berechtigt sein — ich bin natürlich für Vollständigkeit vier wich¬
tigsten Stammtafeln. Die Ignorierung ungarischer Königinnen ist schwor
za billigen, ebensowenig die Nichterwähnung eyprischer Königinnen. Gänz¬
lich unverständlich würde das Prinzip der Selektion bei Kumänien wirken,
wüßte man nicht, daß R nur die Personal nennt» die Jorgs in seiuer iGe¬
schieh te des rumänischen Volkes mitteilt!
Noch ein letztes DetailbeispieL Die Stammtafeln sollen doch odenbar
die politische Geschichte erläutern. Wie entspricht diesem Erfordernis etwa
B.*s Genealogie der Moghila. Das wichtigste Faktum derselben, das ihre
Stellung als Fürsten erklärt, die Herkunft von der Tochter des IVtcr Kare$
ist nicht eisichtlich, das Z wt itwichtigste, die zahlreichen polnischen und
ungarischen Beziehungen, tue für die gleichzeitige Geschichte Rumäniens
do minie r end eb enso wenig.
8. Weiters genügt ein Blick auf eine beliebige Tafel um feaUuateUeu,
daß die Eltern der Gattinnen nie, der Vater höchst selten erwähnt sind,
daß der Adelsgrad der einheiratenden Frauen nicht angegeben, daß
überhaupt deren adelige Qualität nioht klargestellt wird, Ein teelu|ir k
Mangel ist auch die nicht überall durchgeführte Trennung der KbK
740
Literatur.
schiedener Ehen und die Ungleichmäßigkeit in der Anführung der Daten,
die bald bei den nebensächlichsten Personen Tag und Monat anfuhrt, bald
bei wichtigen Geschlechtern generationenweise nicht einmal ein Todesjahr gibt
6. und 9. Bevor wir B.’s Tafeln im einzelnen prüfen, noch einige letzte
allgemeine Vorwürfe! So ist z. B. das Wesen der polnischen Wappennamen B.
unbekannt, darum hält er Sebastian Szreniawa (sic!) für einen Vornamen
des Sebastian Lubomirski, Stanislaus Prusz (sic!) für den der JablonowskL
Sehr schlimm ist die Unkenntnis der ständegeschichtlichen Forschungen
Dungems und Schuttes, wie sie bei den Genealogien der österreichischen
Standesherren hervortritt, und wohl beim deutschen 4. Band noch ärger
bemerkbar werden müßte. Nur so ist es erklärlich, daß er einen Adolf von
Auersperg am Beginn des 11. Jahrhunderts, einen Reinpert von Dietrich¬
stein um 1000 kennt, daß er noch immer die Khevenhüller 1080 nach
Kärnten kommen läßt, den Stammherrn der Collalto ins Jahr 930 versetzt,
den der Batthyany 970 findet und in den Ministerialen Starhemberg agna-
tische Deszendenten der steirischen Herzoge erblickt.
Es erübrigt noch eine stichprobenweise Besprechung einiger Tafeln in
Bezug auf Einzelerrata und Omissa.
Die große Zahl von Irrtümem Bahnsons mag dabei als Entschuldigung
dienen, wenn ich es entgegen meiner sonstigen Gewohnheit unterlasse, für
jede meiner Korrekturen einen speziellen Beleg anzufahren. Auch ist es
mir aus Baumrücksichten ganz unmöglich, auch nur die wichtigsten Ver¬
sehen Bahnsons vollständig anzuführen. Ich beschränke mich darum dnr^f
einige der am leichtesten tadellos herzustellenden Tafeln in ihren ärgsten
Verirrungen vorzuführen. Beginnen wir mit der S tammtaf el des ungarischen
Königshauses (HI. 120). Die Genealogie desselben ist im wesentlichen voll¬
ständig klargestellt. Wertner hat in seiner Arpadengenealogie (1892) nur
wenig für die Forschung übrig gelassen, dem gewissenhaften selbständigen
Forscher liegt übrigens in den Quellenpublikationen der ungarischen Aka¬
demie genug Material aus erster Hand vor; was endlich die Filiatdonen be¬
trifft, so sind sie schon bei Brömmel ziemlich unanfechtbar sichergestellt.
Es ist unendlich zu bedauern, warum uns demgegenüber B. seine Quellen
vorenthält. Seine Neuentdeckungen sind nämlich verblüffend. Geza, der Stamm¬
vater der Arpaden ist bei B. Nachkomme Leventes; wir glaubten diesen kin¬
derlos verstorben, dagegen Taksony als Ahnen Gezas ansehen zu dürfen; König
Andreas I. ist nach B. Sohn Wasuls; wir hielten Laszlö für dessen Vater. In
Almos vermutete ich bisher einen Sohn Lamberts, B. kennt dafür Geza L als
Vater. Abgesehen von den genannten Fihationsirrtümern fehlen die Gattinnen
von St. Emerich, Gdza L, Laszlö dem Heiligen, Almos, fehlt gänzlich Herzog
IAszlo, fehlen von Arpädentöchtern Margit 1208, Eufemia von Mähren,
Sophie von Sachsen, Helene von Kroatien, Helene von Kalisch, Elisabeth
von Bosenberg, Katharina von Serbien, die Gattinnen des eomes Lambert,
Jaroelavs von Bußland, Sventlav Jakobs von Bulgarien und die Mutter der
Elisabeth Huntpazman. Unbekannt (,N. € ) bleiben — die >N. € sind über¬
haupt bei Bahnson überall zu finden, wo er irgend einen Namen nicht
sofort in seinen schon gewürdigten Vorlagen fand — die erste Gattin Kolo-
mans, namens Busilla, der dritte Mann Margarethens, der Tochter Bölas TTT,
pamens Nikolaus von St. Omer, endlich eine Anzahl von zirka 10 unver-
Lisaasrnr.
741
ehelicht ^esusr^enm mfembcnen ArpiiaensproaBen: bescmaeis sr-armd ist die
Kichtanführxzng ibstariaeL bedeutsamer Al-.aji7.PTi. V ör diesen möcht* ich noch
separat hervoibebm die Nisbfemfthrnng der GfcXÜn Lashb des Heiligen,
der deutschen KüLigsUK^rier Adelheid, der an Aba vermkLlten Tochter Geza&,
der nach Hcgifczid verheCTäetai Tochter Stefans des Heiligen, der ersten
Gattin Stefans HL Elisabeth Traveisari. enchh die TTnkenrtnis des Vor¬
namens der Gattiii des Königs Andreas von Habet. Maria von Nowgorod.
Weniger schrecklich ist die yiertanfnhrxing der 'fingeren Sühne Arpads und
ihrer Deszendenz : venu sie aber stn:n erwähnt wurden, warum fehlt dann
die Linie toh Termaez. und vamm erscheinen ihre Kamen in so greulicher
Verballhorn nng. n B. Taxis starr TakaouT? An die HLhtionsoxnissa und
Errata reiht sich eine ZLu tot gegen 20o latenter] em. Sie abe kann ich
natürlich nicht anfünren. nur beispielsweise, daß R Geza 9^5 sterben läßt
(997). daß Andreas IL 1176 geboren ist. nicht 11 SO, daß der nach R 1101
geborene St efan IL zwar 1104 auf die Weh ham. dafür aber nicht im
jugendlichen Alter ron 3 Jahren seine Göttin heimffihrte. daß diese nicht
Predslawa Ton Eufüand hieß, die Almos mm Gatten harte, sondern Adel¬
heid ron B-egeosbuig. So seht die Stammtafel eines der ersten und bekann¬
testen Geschlechter Europas bei B. ans. Bei den folgenden Stichproben
Wnn ich mich kürzer fasser.
Tabelle LH 85 Piastern Es fehlen der Ahnherr ZiemomvsL Adelheid
Tochter desselben, eine Tochter Boleslaw Cnrobiys. zwei Tochter Wladislaw
Herrmanns, drei Töchter Boleslaw KrzywciLStys. eine Tochter Kasimir Spra-
wiedliwrs, drei Töchter Mieszko Starys eine Tochter Boleslaws Kedzierzawvs;
hiebei sind nnr die verheirateten berücksichtigt, da ja R nur diese voll¬
zählig anfuhren zu woben scheint. Des weiteren kennt R nur einen Gatten
Richezas, der Tochter Boleslaw Krzywoustvs. während diese noch Wladimir
von Nowgorod und Swerker von Schweden heiratete. Es fehlen ferner die
Gattinnen von Boleslaw Kedzierzawy (Wierzchoslawa von Nowgorod^, Les®ek
Bialys, (Przymisiawa von Luckl und Przemystaws IL (Luitgard von
Wyszomierz und Eicheza von Schweden"): unbekannt bleiben auch Konrad von
der Lausitz, als zweiter Mann Elisabeths, der Tochter Mieszko Starys, der
Vorname der Gattin Mscislaws von Kijew, Agnes, Falsch sind die Daten
des Todes von Hedwig, der Tochter des frommen Boleslaw, Konstanzen* von
Brandenburg, die Zahl der ohne Grund nicht angegebenen Daten *hät«e
ich bei dieser Tafel nur auf etwa 50. „ .
Tabelle 86, Piasten, Fortsetzung. Es fehlen die erste und dntte itatt
Kasimirs yon Kujawian, ferner an Piastentüchtem — die ledi^n
bei Seite gelassen — Eufemia von Halicx, Fennena von l ngaro. Kuphnvsm©
^TlhSTAmalie von Thüringen-Meißen. Hedwig
ferner nennt B. als Gattin Ziemowits. t 12«2. ^nul w»
Perejslawa toi Hali«, den «weiten Gatten ^ An^ T^htrr
Kasimirs des Großen
Koiugnnde nnd Margarethe * b R>rnhan i von Sohweiduit*. m
Von Piastengattinnea,
^ B ^kX^Twaren Agafia (nicht Ag*»), Gattin Ken-
742
Literatur.
eine russische Fürstin, und Anna, deren Schwiegermutter eine HolszAnska.
Besonders auffallende Irrtümer in den Daten sind die des Todes von Kasi¬
mir von Gniewkowo (recte 1343/1353), Eufemia von Teschen (recte nach
1364), Margarethe von Brieg (recte nach 1409) und Maria von Pommern
(recte 1450), und der Elisabeth von Ungarn (recte 1380); der Geburt von
Kasimir dem Großen (recte 1310). Fehlende Daten etwa 70.
Haus Poitou. Tabelle I, 101; II, 102. Die zwei ersten Generationen
fehlen ganz, die sehr interessante Tatsache der Abkunft des königlichen
Geschlechtes aus der Liaison mit einer Dirne ist ebensowenig ersichtlich,
wie die uneheliche Geburt Ebles, des Sohnes dieser Dame und Stammvaters
der Poitous. Die Gattinnen von Eble fehlen, unbekannt sind B. die Vornamen
von Brisque von Gascogne, Garsinde von Perigord, Gattinnen des dritten
und des sechsten Wilhelm. Es fehlen ferner Matheode, Wilhelm V. Gemahlin,
Agnes, Tochter Wilhelms VI., mit ihren Männern Peter von Aragonien und
Eli»« von Maine, Agnes, Tochter Wilhelms VIL, mit ihren Gatten Aimeri
von Thouars und B&miro von Aragonien, endlich die letzten der Linie
Poitou, Aölith und ihr Bruder Wilhelm Aigret Hildegard, die dritte Gattin
Wilhelms VH. heißt richtig Dangereuse von lle-Bouchard; von der Linie
Cypern fehlen Margarethe von Armenien und Alix von Ibelin, Töchter,
Bohemund von Galiläa, Sohn Hugos des HL, Isabella von Dampierre, Tochter
Guido Camerinos, Eschive von Majorka, Marie, Thomas und Isabella, Kinder
Hugos des IV., Margarethe von Tripolis und Jakob, Kinder Peters des
Großen, Maria von Bourbon und Jakob, Kinder Johanns des III„ Maria von
Neapel, Isabella von Lusignan, Guy, Heinrich, Hugo, Andreas, Philipp, Agnes
und Eschive, Kinder Jakobs des L; Eschive von Ibelin, Gattin Guido Came¬
rinos, Eschive von Montfort, Gattin Peters des Großen; unbekannt ist B.
die Herkunft von Alix, Gemahlin Hugos des IV., geborenen Ibelin, falsch
ist die Angabe der ersten Gemahlin Jakobs des L, Heilwig von Braun¬
schweig, die B. Esther nennt; die angegebenen Daten sind mindestens zu
einem Drittel falsch oder leicht zu ergänzen, so die Todesjahre Peters des
Großen, des Jakob Posthumus, das Geburtsdatum Johanns des IL etc. Auch
bei der Hauptlinie Poitou gibt es allein unter Berücksichtigung von Bichard
6 Daten, die zu berichtigen, 17, die zu ergänzen wären.
Tabelle L 33 Antiochia. Diese kleine Tafel ist besonders lehrreich.
Obzwar auf ihr nur 18 Personen erscheinen, finden sich 2 falsche Filia-
tionen, 3 falsche Gattinnen, unter den angeführten 18 Daten nur 9 rich¬
tige, dazu fehlen 37 Personen, von denen allerdings ein Teil auf der Tafel
Poitou erscheint, wo er gar nicht hingehört Übrigens gibt es auch dort
noch zahlreiche Irrtümer. Als besondere Gedankenlosigkeit erwähne ich, daß
B. dem 1236 geborenen Bohemund dem VL die 1246 verstorbene Alix
von Jerusalem als Gattin zugesellt, die dem 10jährigen Witwer nach B.
einen Sohn hinterläßt Die Verwirrung ist hier aufs höchste getrieben. B.
vertauscht die Gattinnen Baimunds und Bohemunds des IV., gibt Bohemund
dem V. seine Stiefmutter zur Frau, und dessem Sohne die eigene Mutter.
Tabelle I, 103 Brankoviö in Serbien. Es fehlen vor allem fast
Sämtliche Daten, von den 12 angeführten sind 3 unvollständig, 2 falsch.
Die Tafel ist nur Fragment Von 31 erwachsenen Mitgliedern des Hauses
Brankoviö seit Wuk fehlen 20! Darunter eine byzantinische und eine Trape¬
zunter Kaiserstochter, eine bosnische Königin, eine Markgräfin von Mont-
Literatur.
743
ferrat und zwei rumänische Hospodarengattinnen. Ganz unzureichend ist
die ebenfalls auf dieser Tafel befindliche Übersicht über die Familie Lazars,
dessen Gattin Milizza für R ,N € ist, während er von 8 Kindern nur 3
nennt, dabei eine Bulgarenczarin und eine bosnische Königstochter mit
Stillschweigen übergeht.
Tabelle 104, Nemanjiden in Serbien. Es fehlen Helene, Königin
von Ungarn, Maria von Znaim, Pfedislav, Erzbischof von Serbien, Elisabeth
von Bosnien, Lelika Subich, um nur die wichtigsten der ausgelassenen
Nemanjiden zu nennen, ferner die Gattinnen Stefans des YIL, Anka von
der Walachei und Elisabeth, die Stefans des VI., Helene von Bulgarien, die
drei ersten Gattinnen Stefans des IV., Elisabeth, Helene, Angela und die
Tochter Terterijs, die Gattinnen Stefans des V., Smilia von Bulgarien und
die Apor; unbek ann ten Vornamen haben für B. die Frauen Wladislaws,
(recte Beloslawa) und Dragutins (Katharina), sowie der Sohn Stefans des L
und Vater des Bulgarencaren Konstantin (Tich); falsch ist der Vorname
bei Maria Dandalo, der Familienname bei Ihomais Orsini. Daten nur allzu
spärlich, wo vorhanden, unvollständig oder falsch, darunter sogar das Todes¬
jahr St Savas.
Tabelle 105. Bulgarien. L SUmanidem. B. sind im ganzen 2 Daten
über diese Familie erwähnenswert Falsch ist der Vater des Caren Johann
Wladislaw, richtig Aaron und nicht David, der B. unbekannte Sohn Gabriels
hiefi Dejan, Prussian richtig Frufiin. Unter den fehlenden Personen Alusian
mit seiner armenischen Gattin und Kosara, Gattin Wladimirs von Serbien.
H. Asöniden. Es fehlen die Frauen von As6n (Helene) und die erste Johann
Asens, Anna, sowie Agrippina von Halicz, die zweite Gattin des Michael
Asön, von bedeutenden Familienmitgliedern ferner Thamar, Gattin des
Michael Komnenos, Maria von Halicz, endlich die ganze Deszendenz Johann
Asens des ITT., darunter 4 erwachsene Söhne und 2 Töchter, in weiterer
Folge eine Kaiserin von Byzanz. ITT. Siömaniden H. Es fehlen die Stamm¬
eitem Keraca Despotica und Sracimir, deren Sohn Johann As6n und Ge¬
mahlin Anna Angela nebst Tochter; beide Frauen Johann Sismans des HL,
endlich unbegreiflicherweise die beiden letzten des Hauses Konstantin und
seine Schwester Dorothea, Königin von Bosnien, sowie die Vornamen der
beiden Theodora, Gattinnen des Michael von Bdyn und des Johann Alexander.
Tabelle 109 Bumänien. Haus Basaraba. Auf dieser großen Tafel
die Lücken auch nur vollständig anzudeuten ist ganz unmöglich. Hier sind (s. o.)
im allgemeinen nur die Personen erwähnt, die Jorga in seiner Geschichte
des rumänischen Volkes gelegentlich anführt! Indem ich mir Vorbehalte,
diese Behauptung auf Wunsch zu begründen, stelle ich nur fest, daß von
den erwachsenen Gliedern des Hauses mindestens 80 fehlen! Dazu eine er¬
schreckende Anzahl positiv falscher Filiationen unter dem verbleibenden
Best. Basarab Tepelu? ist nicht der Sohn L&iots, sondern der Basarabc, des
Sohnes von Dan, des Sohnes von Mircea, Dan II. ist der Sohn Dan des L,
nicht des Mircea, Badu ist der Sohn Alexanders und nicht Wladislaws,
Wladislaw HL ist Enkel nicht Sohn Wladislaws des H., sein Vater WJadia-
law ist ganz übersehen, Basarab, Sohn Badu de la Afumat^s heißt richtig
Vlad, Katharina (bei B. Barno waka ist Tochter Mihnea des JIL, nicht
Badu Mihneaa, die spärlichen Daten auf dieser Tabelle sind fibrigen* isst
ausnahmslos richtig.
744
Literatur.
Tabelle 110. Die Stefaniden (recte das Hans Mu$ai) in der Moldau.
Falsche Filiationen: Hia$ ist Sohn des Peter Rare$, nicht yon Lapu^neanu,
Jon cel cnmplit und Janen Sasul sind Bastarde, nicht Kinder der recht¬
mäßigen Frauen, ebenso Peter Rare^, dagegen ist Jnga (nicht Inga) kein
Bastard des Fürsten Roman, sondern ein legitimer Sohn des Jnrij Koria-
towicz und der von B. übersehenen Prinzessin Anastasia ans dem Hanse
der Bogdaniden. Der Ahnherr des Hauses wäre richtig Costea Mu$at zu
nennen, seine Gattin Mu$ata ist identisch mit der von B. genannten
Tochter des Bogdan, die übrigens B. fälschlich wieder zu dessen Schwester
macht, ihr Sohn Stefan identisch mit Stefan dem L Natürlich fehlen die
Namen der Ehegattinnen und der Töchter wieder in so großer Zahl, daß
Ergänzung an dieser Stelle nicht möglich ist. Uber die auf derselben Tafel
befindliche Genealogie der Moghilä wurde schon gesprochen.
Wir sind am Ende. Nach den allgemeinen Fehlern in der Anlage des
Werkes und der gebrachten Blütenlese von Details müssen wir Bahnsons
Werk als ganz unbefriedigend betrachten. Möge das in der Idee richtige
Unternehmen uns wenigstens mit zu dem verhelfen, was wir im Interesse
von Geschichte und Genealogie seit langem herbeisehnen, zu einem voll¬
wertigen genealogischen Handbuch zur allgemeinen und deutschen Geschichte.
Otto Forst-Battaglia»
Notizen.
Guglia, Eugen, Die Geburts-, Sterbe- und Grabstätten
der römisch-deutschen Kaiser und Könige. Wien 1914. Schroll.
VI und 200 S. — Dieses musterhaft ausgestattete, in seinen Grenzen wohl-
gelungene Buch, bei aller Gründlichkeit der Vorstudien vor allem literarisch,
man dürfte sagen nationalpädagogisch gemeint, erscheint ungewollt auf den
Ton der Gegenwart gestimmt, der große historische Erinnerungen, auch
wenn sie nicht mehr unmittelbar wirksam sein sollten, doppelt teuer ge¬
worden sind. Es meldet von Geburts- und Grabstätten von sechsundfunfeig
Herrschern, die von Karl dem Großen bis zu Franz H. als Kaiser und
Könige in Deutschland gewaltet haben, wobei freilich viele Fragen im
Dunkel bleiben müssen. In der Hälfte der Fälle ist der Geburtsort unbe¬
kannt; man weiß nicht, wo Karl der Große, Rudolf von Habsburg zur
Welt gekommen sind. Aber auch manches Herrschergrab ist verschollen,
nicht nur die langgesuchte Ruhestätte Friedrichs des Ersten. Den Stim¬
mungen, die sich an so geweihten Stätten einzustellen pflegen, gibt der
Verfasser sich unbedenklich hin und hat auch Dichtung und Legende reichlich,
freilich ohne Vollständigkeit herangezogen. Wie denn der Charakter des
Gelegenheitswerkes dem Buche deutlich aufgeprägt ist. Aber auch so wird
es einem weiteren Lesekreis die Anregung bieten, die es geben will, und
der Fachmann wird für manche hier festgehaltene Nachricht dankbar sein.
Wien. H. Kretschmajr.
Literatur.
745
Forschungen zur Geschichte Bainaids von Dassel als Dom¬
herrn von Hildesheim. Von Karl Schambach. Zeitschr. des Hist.
Vereines für N.-Sachsen 1913, H. 4. Der Verfasser gibt hier keine neue
Beurteilung der Persönlichkeit Beinalds, sondern behandelt zwei Detail-
fragen. Auf Grund eingehenden Quellenstudiums weist Sch. als terminus
post quem der Probstwahl Bainaids den 13. Oktober 1147 nach, erklärt
es aber als unsicher, ob Beinald 1148 bereits Probst gewesen sei. Zweitens
stellt der Verfasser auf Grund verschiedener quellenmäßig überlieferter
Umstände eine Bomreise Bainaids im Jahre 1146 als wahrscheinlich hin.
Klemens HL 1187-1191. Von Dr. Johann Geyer. Jenaer Histor.
Arbeiten, hrsg. von Alex. Cartellieri und Walther Judeich. H. 7. 1914..
Marcus & Webers Verlag in Bonn. Es ist der Versuch der Darstellung der
Geschichte dieses Papstes, hauptsächlich nach drei Bichtungen gehend: im
Verhältnis zur Stadt Born, zum deutschen Kaiser und zur Kreuzzugsbe¬
wegung. Eine neue Anschauung über diesen.Papst bringt der Verfasser
nicht, stärker betont wird hier aber der im allgemeinen weniger beachtete
Bischofsstreit unter König Wilhelm von Schottland, in welchen Klemens,,
seinem Charakter folgend, eine entgegenkommende Haltung einnahm. Haupt¬
sächlich wurde sein politisches Verhalten durch den Kreuzzugsgedanken be¬
stimmt, dem er manches Opfer brachte.
Heinrich VI. auf dem Höhepunkt der staufischen Kaiser¬
politik. Vortrag, gehalten am 19. Februar 1914 in der Ges. £ Ge¬
schichtskunde zu Jena von Dr. Alex. Cartellieri. Leipzig, Dyk, 1914*
Verfasser betrachtet Heinrich VT. lediglich als Verstandes- und Willens-
menschen und beurteilt von diesem Standpunkt seine äußere und innere
Politik. Betreffs der unio regni ad imperium meint Cartellieri, H. VI. habe
zum Beweis seiner Absicht, eine solche Union nicht vorzunehmen, Konstanze
zur Begentin eingesetzt. Eine von der allgemeinen Beurteilung abweichende
Stellung nimmt Verf. zum Erbkaiserplan ein: dessen Ausgangspunkt sei der
Kreuzzug, das Vermächtnis Barbarossas, gewesen. Um ihn mit möglichst
vielen Teilnehmern zu unternehmen, habe er den Fürsten auf ihr Verlangen
die subsidiäre Erbfolge der weiblichen Nachkommen in ihren Lehen zuge¬
sagt, habe aber als Gegenleistung, außer der Beteiligung am Kreuzzug, noch
die Erblichkeit des Kaisertums verlangt. Nur um den Kreuzzug nicht zu
gefährden, habe H. VI. schließlich verzichtet. Cartellieri setzt also das
religiöse Unternehmen und das Projekt der Fürsten als das Primäre voraus,
während in den Quellen das Streben des Kaisers, in seinem Beich die Würde
des Hauses erblich zu gestalten, deutlich als Tendenz hervortritt, das Ver¬
langen der Fürsten hingegen als sekundär erscheint.
Die Schlacht bei Bouvines (27. Juli 1214) im Bahmen der
europäischen Politik. Von Dr. Alex. Cartellieri. Leipzig, Dyk, 1914.
Nur im Bahmen der großen politischen Ereignisse kann diese Schlacht ge¬
würdigt werden. Vom bloß deutschen Gesichtspunkt eigibt sich leicht eine
schiefe Beleuchtung (so sieht z. B. Scheffer-Boichorst darin eine bewußt
feindliche Einmischung in die deutschen Wirren). Cartellieri betrachtet
dieses Ereignis vom universalen Standpunkt. Der deutsche Thronstreit, der
alte Kampf zwischen Welfen und Staufen, wurde durch den Sieg Englands
über Frankreich entschieden. Die Entscheidung über diese deutsche An¬
gelegenheit wurde also von den fremden Mächten herbeigeführt, die Deutschen
746
Literatur.
standen an Bedeutung im Kampf zurück; es kam die Zeit, in welcher
Deutschland seinen politischen Bang den Westmftchten überlassen mußte.
Guilelmus Neubrigensis. Ein pragm. Geschichtsschreiber des
12. Jahrh. Ton Dr. Rudolf Jahncke. Yer£ fuhrt uns hier den tief¬
sinnigsten englischen Geschichtsschreiber des 12. Jahrh. vor. Das Besondere
an diesem ist nicht die Fülle des Stoffes (engL Geschichte von 1066-1198),
sondern die Art der Stoffbehandlung. Es ist nicht die übliche Kloster¬
chronikenart, die trocken die wichtigsten Ereignisse erwähnt und das Haupt¬
gewicht auf lokale Vorkommnisse legt. Der Chronist verfugt über die
Eigenschaften des denkenden Historikers: er sucht die Ursachen der Ereig¬
nisse und trachtet sie mit möglichster Objektivität wiederzugeben. Hiedurch
entstehen historisch und psychologisch interessante Charakteristiken. Der
innere Zusammenhang der Geschehnisse läßt ihn geschlossene Bilder bringen.
In seinem Bemühen, gerecht zu sein, hindern ihn zwei Momente: seine
kirchliche und nationale Anschauung. So verurteilt er Barbarossa und
Heinrich VI. vom kirchlichen und die kontinentalen Völker mit Ausnahme
der Franzosen, vom nationalen Standpunkt. Außer seinem und dem fran¬
zösischen Volk gibt es nur noch Barbaren. Den Wert der Urkunden wußte
er noch nicht zu würdigen, aber stets gab er schriftlichen Überlieferungen
den Vorzug vor den mündlichen, überragt also darin Zeitgenossen.
Die Ketzerpolitik der deutschen Kaiser und Könige in
den Jahren 1152-1254. Von Dr. Hermann Köhler. A. Marcus u.
E. Weber. Bonn 1913. Die Arbeit behandelt das Verhältnis der Staufer
zur Ketzerfrage und kommt zu dem Resultat, daß wesentlich unter dem
Einfluß romanischer Anschauungen Friedrich L die Reihe deutscher Ketzer¬
gesetze begann, die dann von seinen Nachfolgern fortgeführt wurde. Die
Stellung der Kaiser zur Ketzerfrage war überwiegend vom politischen Ge¬
sichtspunkt bestimmt. Die Verfolgung geschah imm er auf päpstlich-kirchliche
Anregungen und wie weit der Vogt der Kirche diesen entgegenkam, wurde
von der Politik bestimmt. Köhler zeigt, wie die einzelnen Herrscher je
nach ihrem Verhältnis zur Kurie sich ablehnend, entgegenkommend oder
auch ganz indifferent verhielten. Nur bei Friedrich L erscheint etwas nicht
ganz klar. K. erklärt, das Veroneser Gesetz sei aus einer gehobenen reli¬
giösen Stimmung entsprungen. Könnte man nicht auch hier politische Ur¬
sachen (Papst und Kaiser hatten sich eben versöhnt) annehmen? Umsomehr
als Friedrich I. sich sonst anscheinend wenig von Stimmungen leiten ließ
(vgL Otto v. Freising IL 3. Kap. über die strenge Haltung Friedrichs bei
seiner Erhebung zum König gegen einen reuevollen ehemaligen Gegner).
Die Regentschaft Papst Innozenz HL im Königreich
Sizilien. Von Friedr. Baethgen. Heidelberger Abhandlungen zur mittL
u. neueren Gesch. H. 44. 1914. C. Winter. Die sizil. Bestrebungen der
Päpste schienen durch den Tod Heinrichs VL unendlich erleichtert zu
werden. Hatte der Kaiser durch Verweigerung des Lehenseides etc. die
Unabhängigkeit des Landes von der Kurie zu betonen gesucht, so mußt»
nach 1198 naturgemäß die päpstliche Tendenz das Übergewicht gewinnen.
Wie schwer es aber war, in Sizilien den päpstlichen Einfluß festen Fuß
fassen zu lassen, führt das vorliegende Buch aus. An politischen Faktoren kamen
für den Papst auf der Insel in Betracht: Markward von Anweiler, die
deutschen Kapitäne, die Familiären (die eigentliche Regierung des Landes,
Literatur.
747
bestehend ans den Adelsh&nptera), die von der staufischen Partei große*
Handelsvorteile erhoffenden Seestädte, ferner der Schwiegersohn Tankreda
Walter von Brienne. Die Ziele dieser Gruppen durchkreuzten vielfach die
pfipstliche Politik. Charakteristisch für die allgemeine Interessenpolitik ist
die Haltung des bischöflichen Kanzlers. Durchaus klar ist die Persönlichkeit
des Papstes gezeichnet: immer vorsichtig, weitblickend, rücksichtslos die
geistlichen Waffen für weltliche Zwecke verwendend, bei aller Leidenschaft¬
lichkeit des Kampfes nie die kalte Überlegung verlierend, das Ideal eines.
Staatsmannes. Bezeichnend für ihn ist sein Verhalten dem Kanzler gegen¬
über. Im Augenblicke des Vertrauensbruches tut der Papst dessen keine
Erwähnung, weil seine Lage es ihm nicht erlaubt. Erst als seine Situation
sich gebessert hatte, griff er zu dem alten Mittel, der Exkommunikation.
Er besitzt das Talent, immer das Bichtige im richtigen Moment zu tum
Trotz aller persönlicher Fähigkeit kann der Papst nicht Herr der Schwie¬
rigkeiten werden. In dem ewigen Widerstreit der Parteien endet die
Anarchie auch nach dem Tode Marquards in Sizilien nicht. Erst das Er¬
scheinen Friedrichs IL beendet diese traurige Zeit. Das Gesamturteil über
die Begentschaft ergibt sich aus dem Charakter des Begenten und der Zeit:
eine friedlose Unordnung. Die Verfügungen sind an sich weder königsfeindlich,,
noch zeugen sie von persönlichem Eigennutz, aber sie tragen den Stempel
der kurialen Politik: es gilt nur eine Bücksicht und Sichtung, das ist der
Vorteil des Papsttums, alles andere tritt zurück. Zu diesem Ergebnisse
kommt der Verf. des durchaus klar und gerecht abwägenden Buches.
Willy Cohn. Das Amt des Admirales in Sicilien unter
Kaiser Friedrich H. Festschrift für Alfred Hillebrandt Buchhandlung
des Waisenhauses in Halle a. S. Allem Anscheine nach war das Admiralat
Friedrich II. eine Neuschöpfung. Ein Beweis hiefür ist nicht zu erbringen.
Auch in dieser Einrichtung zeigt sich der Grundsatz Friedrichs IL, die Be¬
amten in engster Abhängigkeit von der regierenden Person zu erhalten.
Der Admiral ist nur dem Kaiser verantwortlich und dieser hat dafür ge¬
sorgt, sein Herrschertum auch dem höchsten Beamten der Flotte gegenüber
zur Geltung bringen zu können. Gehaltfrage, Bechte und Pflichten sind
genau abgegrenzt Es fehlt hier die Unklarheit des Lehenrechts in Sollen
und Dürfen. Der einzige feudale Überrest im Admiralat war die teilweise
erbliche Bestellung der Galeerengrafen.
Jean de Bernin, Archevöque de Vienne (1218—1266) Md-
moire historique par le Chanoine Ulysse Chevalier. Poris, Libr. Alph.
Picard & Fils. 1910. Verfasser gibt eine Übersicht aller urkundlich über¬
lieferten Handlungen des Erzbischofs. Dessen Tätigkeit war infolge der
Länge seiner Herrschaft und der lokalen Wichtigkeit seines Sprengels (Nähe
des Ketzerzentrums) von außergewöhnlicher Bedeutung. Dies bezeugen vor
Allem die vielen Aufträge seitens der Kurie in diplomatischen und kirch¬
lichen Angelegenheiten. Eigentlich ist die Broschüre nur eine Begesten-
sammlung, die Persönlichkeit Jean’s wird trotz der zahllosen angeführten
Tatsachen nicht lebendig und trotzdem der Verfasser sich seit 40 Jahren
mit der Geschichte des Dauphines beschäftigt, gewinnen wir keinen Ein¬
druck von den diesem Lande eigentümlichen Verhältnissen. Es bleibt zu
hoffen, daß Chevalier seine Kenntnisse dem Publikum noch in einem über
die Details hinausgehenden Werk erschließen wird.
748
Literatur.
Die Entwicklung der Landeshoheit der Vorfahren des
Fürstenhauses Beuss (1122—1329) von Dr. Walter Finkenwirth.
(Jenaer hist. Arbeiten hrsg. von A. Cartellieri u. Walther Judeich, Heft 2).
A. Marcus u. K Weber, Bonn 1912. Verf. setzt der bisherigen Auffassung,
nach welcher die Herren von Weida erst in Folge der Ächtung Heinrichs
des Löwen von der Unstrut an die Elster gelangt seien, auf Grund urkund¬
licher Forschung die Behauptung entgegen, daß eine Teilung in eine Un-
struter und eine Vogtländische Linie bereits um 1125 stattgefunden habe.
Über die Verleihung der Beichsvogtei an letztere gibt keine Quelle Auf¬
schluß. F. nimmt an, daß nach Auflösung der Zeitzer Mark das Land den
Beichsministerialen von Weida als BeichsvÖgten übergeben worden sei. Audi
als die Ausübung der Vogtei über das ehemalige Zeitzer Gebiet aufgehört,
hätten die Herren von Weida den Titel >advocatus« beibehalten und zwar
als Inhaber der Gerichtshoheit über ihre eigenen Lande, sowie als Vögte
über einige Gebiete, die dann später infolge der Vogtei in die Landeshoheit
des Weidaer Geschlechtes übergingen. Die Ausübung der Beichsvogtei
bildete also hier die Grundlage für die allmählich erwachsende Landeshoheit,
die 1329 als abgeschlossen betrachtet werden kann.
Die Entwicklung der Landeshoheit der Grafen von Arns¬
berg. Von Dr. Josef Tigges. Münster sehe Beiträge zur Geschichts¬
forschung, hrsg. von Prof. Dr. Alois Meister. 1909. Diese Arbeit bildet
einigermaßen ein Gegenstück zu der soeben besprochenen (Fürstenhaus
Beuss). Im Vogtland ein Territorium, dessen Anfänge auf Vogteirechte und
Ministerialbesitz zurückgehen, hier die Entwicklung der Landeshoheit nach
dem oft beobachteten Schema: erst Grafschaft, dann Übergang des Amtes
in Feudalbesitz und allmählicher Erwerb der Begalien, dadurch Emanzipation
von der Beichsgewalt und Festigung der Herrschaft nach unten. Die
Hoheitsrechte die dem Erzb. von Köln als Nachfolger der Herzöge von
Sachsen zukamen, waren an sich gering und wurden außerdem, solange die
Grafen die Macht dazu hatten, nicht beachtet.
Die Entwicklung der Landeshoheit der Mindener Bi¬
schöfe. Von Dr. Bernhard Frie. Münster’sche Beitrage zur Geschichts¬
forschung, hrsg. von Prof. Dr. Alois Meister. 1909. Hier liegt der Grund¬
stock der Territorialhoheit in der schon von den Ottonen verliehenen Im¬
munität. Schon um 1000 waren die Bischöfe den Grafen gleichberechtigt
Hätten die Bischöfe die Möglichkeit gehabt, rechtzeitig Grafschaften zu er¬
werben, so würde die Basis ihres Landeäfün tentu ms eine viel breitere ge¬
worden sein. Aber ihre bescheidene Macht, die Kämpfe mit ihren Vögten
und Ministerialen, sowie äußere Feinde nötigten sie zu andauernd defensiver
politischer Haltung. Außerdem, sagt Frie, sei noch hinzugekommen, daß
die Bischöfe ihre infolge der sozialen Entwicklung an Wert stark ver¬
minderten Freigrafschaften während des 13. Jahrh. eingehen ließen, die an
deren Stelle tretenden Gografschaften aber infolge mißlicher äußerer Ver¬
hältnisse nicht erwerben konnten. S. 55. »Da die Zahl der Vollfreien
immer mehr abnahm, gewannen die Gogerichte allmählich größere Bedeutung
als die Freigerichte«. S. 48. »Die Freigrafschaften waren eingegangen und
so fehlte es außerhalb der Städte an vollfreien Männern, der Vorausetzung
zur Bildung eines Freigerichtes«. S. 55. »War die Erwerbung der Frei¬
grafschaft nicht möglich, oder war sie eingegangen, so bot der Besitz der
Literatur.
749
öografechaft die beste Grundlage für die Landeshoheit«. Mithin scheint
Verf. anzunehmen, daß die Gografen über Halb- oder Unfreie richteten.
Hingegen hält nach Schröders Lehrbuch d. dt. Bgsch. S. 614 fL der Gograf
seit dem 13. Jahrh. das Niedergericht über die unterste Klasse der Freien
xl zw. der nichtritterlichen Grundbesitzer und der freien Landsassen. Auch
ist es wohl fraglich, ob (8. 55) ein Gericht über Unfreie die Grundlage
für die Landeshoheit bilden kann. — Etwas künstlich erscheint ferner die
Auslegung S. 13: die trotz Immunitätsprivilegs dem Herzog 979 reservierte
Kriminalgerichtsbarkeit wird vom Verfasser nach einer Urkunde von 1299
dahin interpretiert, daß der Herzog von Sachsen das Recht gehabt habe,
Todesurteile zu bestätigen oder zu verwerfen. Man darf nicht außer Acht
lassen, daß die zwischen 979 und 1299 liegenden drei Jahrhunderte die
.größten verfassungsgeschichtlichen Veränderungen in sich schließen.
Wien. G. Laube-Husak.
Bei der Redaktion sind eingelaufen:
Anselmi, episcopi Lucensis Collectio canonum unacum collectione minorum
(Jussu Institut! Savigniani) ree. Fridericus Th an er. Fase. 2 Innsbruck,
Wagner. K 15*—.
Bitterauf, Theodor: Friedrich der Große, 2. veränd. AufL (Aus Natur
und Geisteswelt Nr. 246) f Leipzig. B. G. Teubner 1915. M. 1*25.
Brandenburg, Erich: Die Reichsgründung. 2 Bde. Leipzig. Quelle &
Meyer. 1916. M. 12*—.
Brandt, Otto: England und die Napoleonische Weltpolitik 1800—1803.
(Heidelberger Abhandlungen zur mittL und neueren Gesch., Heft 48).
Heidelberg. C. Winters Universitäts-Buchhandlung. M. 5*60.
Bur dach, Konr.: Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen z. Gesch.
der deutschen Bildung. 2. Bd. Briefwechsel des Cola di Rienzo, hg.
von K. Burdach u. Paul Pius. 1. Teil, 1. Hälfte. K. Burdach, Rienzo
und die geistige Wandlung seiner Zeit. Berlin. Weidmann 1913. M. 12*—.
Oämmerer, Herrn., von: Die Testamente der Kurfürsten von Brandenburg
und der beiden ersten Könige von Preussen (Veröffentl desVer. für Gesch.
d. Mark Brandenburg). München u. Leipzig. Duncker & Humblot M. 16*—.
•Codex Diplomaticus Silesiae, hg. vom Ver. £ Gesch. Schlesiens.
28. Bd.: Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens. 2. Kreis
und Stadt Glogau. Breslau. Ferd. Hirt.
Halbedel, Ant: Fränkische Studien. Kleine Beitr. zur Gesch. und Sage
des deutschen Altertums (Hist Studien, Heft 132). Berlin. Emil
Ebering. M. 3*50.
Heigel, Karl Theodor, von: Politische Hauptströmungen in Europa im
19. Jahrh. 3. verb. und verm. AufL (Aus Natur und Geisteswelt
Nr. 129). Leipzig und Berlin. B. G. Teubner. M. 1*25.
Hilt, Käthe: Camille Desmoulins, seine polit Gesinnung und Parteistellung
(Hist Studien, Nr. 133). Berlin. Emil Ebering. M. 3*80.
Hofmann, Max: Die Stellung des Königs von Sizilien nach den Assisen
von Ariano (1140). Münster L W. Borgmeyer & Cie. M. 2*50.
760
Literator«
Jahn, Mart: Die Bewaffnung der Germanen in der älteren Steinzeit, etwa
von 700 y. Chr. bis 200 n. Chr. (Mamms-Bibliothek, Nr. 16) Würa-
burg. Curt Kabitzsch. 1916. M. 7—.
Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg VH- 1. Abt: Ludwige
V. 0.: Memoiren eines Vergessenen (1691—1716). M. 3*40. 2. Abt:
Schönsteiner, Ferd.: Die kirchL Freiheitsbriefe des St Klosterneu¬
burg. Urkundensamml. mit rechtl. u. geschichtL Erläuterungen. M. 6*80.
Janssen, Job.: Gesch. des Deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittel¬
alters. 2. Bd., 19. und 20. Anfl., bes. durch Ludwig von Pastor.
Freiburg i. Br. Herder. M. 10*—.
Joachimsen, Paul: Vom deutschen Volk zum deutschen Staat. Eine
Gesch. d. deutschen Nationalbewußtseins. (Aus Natur und Geisteswelt,
Nr. 511). Leipzig. B. G. Teubner.
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hg. von Fritz Kern, Bd. 1, Heft 2). Leipzig. K. F. Koehler. 1914.
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Loehr, Aug. R. v.: Beiträge zur Gesch. des mittelalterL Donauhandels.
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Meyer, Karl (Luzern): Zum Freiheitsbrief Kg. Heinrichs für die Gemeinde-
Uri vom 26. Mai 1231. (22. Histor. Neujahrsblatt für 1916).
Bikskanzleren Axel Oxenstiernas Skrifter och Brefvexling. Förra Afdel-
ningen. 5. Bd. Bred 1630. Stockholm. P. A. Norstedt & Sömers. Kr. 12* —.
Peez, Alex.: Europa aus der Vogelschau. Polit. Geographie. Vergangenheit
und Zukunft. Zeitgemäßer Nachdruck. Wien. Manz. K 3’—-
Badcke, Fritz: Die eschatologischen Anschauungen Bernhards von Clair¬
vaux. Ein Beitrag zur histor. Interpretation aus den Zeitanschau¬
ungen. Langensalza. Wendt & KlauwelL M. 3*50.
Bichthofen, Günther, Freih. v.: Die Politik Bismarcks und Manteuffels
in den Jahren 1851—1858. Inaug.-Diss. Berlin. W. Weber.
Buof, Friedr.: Joh. Wilh. Archenholtz. Ein deutscher Schriftsteller zur
Zeit der franz. Revolution und Napoleons (1741—1812). (Histor.
Studien, Nr. 131). Berlin. E. Ebering.
Scala, Bud. v.: Das Griechentum in seiner geschichtL Entwicklung. (Aus
Natur und Geisteswelt, Nr. 471). Leipzig. B. G. Teubner. M. 1*25.
Scheler, Selma: Sitten und Bildung der französ. Geistlichkeit nach den
Briefen Stephans von Tonrnai (1203). (Hist. Studien, Nr. 130). Berlin.
E. Ebering.
Schräder, Johanna: Isabella von Aragonien, Gemahlin Friedrichs des
Schönen von Österreich. (Abhandlungen zur mittL und neueren Gesch.
Heft 58). Berlin und Leipzig. Dr. Walther Rothschild. M. 2*60.
Mai 1916.
Berichtigung. Auf S. 549 Zeile 2 von oben soll es heißen >Zinzen-
dorff statt Sinzendorff 4 .
elüili l 82 S$
>vrYq*
THE ÜNIVIRSITY Of MICHIGAN
GRADUATE UBRARY
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