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Full text of "Unsere Welt - Illustrierte Zeitschrift für Naturwissenschaft und Welterkenntnis 17.1925"

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Unfere Welt 


Illuſtrierte Zeitſchrift 
für Naturwiſſenſchaft und Weltanſchauung 


—— 6 


Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrten 
in herausgegeben vom Keplerbund :-: 


Shriftleitung: Prof. Dr. B. Bavink 


17. Jahrgang 


1925 


QELI 





Naturwiſſenſchaftlicher Verlag, Abt. des Keplerbundes, 
Detmold. 


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Anhalt des fiebzehnten Jahrgangs (1925). 





Heft Seite Heft Seite 
è z 3 NRaturmifienihaftt nrd Melt: 
A. Driginalauffäge. — von M. — 
arpia ana —— 157 6 Biahlbauten, Die Bert der -, 
8 U fotutes, Bom Relattven von R. Wels 2 139 
um —, von B. Bavint 185 10 gronini eorie, Die, "von 
i — — — — ihr 81 11 Suantentheorie, Die, von B. * 
g b ° vIn . . . . . . . . . 
1 gualdien- —— er 310 12 Schule von Nancy, Die Bedeu: 
1 Altronomie "und" Weltanfhaus one Dr Be, —, von Br. 297 
Soa bri grieHilhen Fhilofop 5 9 2 Seetifhes eilverfahten, von 
2 Mironomie_ in ertani n 11 ismus — Gedantenlefen, = 
Don Y g Gi Tas er 33 l ren. Tiere — en⸗ * 
3 Mttonomie und  Weltanfhau- eierei, DOn einmann 
9 Sterne, Etwas über — und 
ung be bei gie: iihen Philoſophen, = etmas mehr über, einen Ster» — 
nenſeher, von ietor . 
j Saunfionen, Dos Stuben | der 303 4 Sterne en Wie man — 
Su Ballen  Syogermenen „gend 10 ne gnfettion, Eine neue > 
—— von M. Müller i Behandlung der bösarti a Ge: * 
ran der Honigbiene, von wülfte dur m gpn okmag 
— ehe ‚DaninDiene, — 226 12 ee Pic zölung des 
4 — und Wirt» = ne en der —, von M. ar ši 
eit, von einmann . . . 
10 — ⸗ Debapparate, * 4 Sinbfeaftiift, È Das neue —, 86 
9 —— Die — vor 12 eietsunteriale on Pilane 
Gericht, von M. MüllerLage 233 - 1 ao Tier, von 9 i . 308 
11 Jernlinematographie, Wege zur 2 tervorherfage für , von 6 
eleftriihen —, von B. Freund 279 aspegtes . . e e 
2 Genius, Das roblem es — 1 Uebel in der Weit, as 
im Lichte der aturmiflenigaft, Problem des —, von B. Bapint 1 
von R. Scerwaßty . 36 2 Uebel in der Welt, Das 
11 Genoſſenſchaftsleben Vom BVroblem des —, von B. 'Bavint 25 
unferes grünen f — en 3 Uebel in der Welt, Das 
mit Algen, von A. 284 Broblem des —, von B. Sovint 49 
10 Heilung und jeetifgje ale ing 5 Uebel in der elt, Ju 8 
dur) bewuß utofunge ion roblem . 
nah Coué, von Fr teni agert u: 2 ah a et, re LAD 
2 Seh $. Bönte . u 
elium, von $. Bönfe . . 
2 —* Wellen, Der Sie ess B. Naturbeobachtungen. 
ug der —, von ©. v. Hael. 40 
8 Bier, er — auf Erden, Anfragen, 43. 
R. Kikbau 194 Den 
8 Sat Shane. Zwanzig | eona tungen aus dem ZLejerfreife, 42, 
— te —, von C. Dorno 200 Keine Beiträge, 42, 121, 235, 263. 
5 Antuition und Sniuitionismus, er 2 ' 
von W. Bruhn . 105 , 
——— zus nn deut: * C. Naturwiſſenſchaftliche und 
in der Satu non ©. dr naturphiloſophiſche Umſchau. 
torius . 175 
5 Kepler, Bon — zu Leibniz, von morgan ine — enſchaften, 21, 
10 M —2 — Da vn 28b, Stu. 0.12.20," 
DES Don i — In o 241 Biologie, 22, 1, 69, 94, 124, 153, 181, 
7 Kohleniager, Die — der Erde, 205, 236, 208, 315. 
von Lohmann . . . . 177 Naturphilofophie und ee Hamna, 
9 Laufitzer Kulturkreis, Der —, 70, 95, 125, 155, 206, 
von K Wels . 217 Verfchiedenes, 155, 183, 3 
6 —— enwartsbebeu: ai 
ung, von ahnte . 2 
7 Leibnizens _ Gegenwartsbedeu: D. Ausſprache. 
i tung. Bun ; an b 169 
ichtinterferenzen, echniſche t der Medien, von Hahn, 
F moen unn, der —, von Gel: i 3 OTA , a on 67 
i 12 Biologifhe Gru lagen er Cr: 
11 Debiumismus, De "Der r phohfatiice Er ebuna. Don ol Haner . 313 
gm. IM u 4 Entwitlungstehre und Religion, 
4 TAER und, Weftanfein > Son Aboli Mader. a 89 
6 Nahrungsmittel, Die Chemie 5 Entwidlungsichre und Religion, 
dee — und ihr Abbau im von Muller, Würtenhain . . 123 
menfchlihen Körper, von Güße 146 8 Entwidlungsiehre und —— * 
9 Naturvölter, Deniformen der von €. Dorr. . 202 
—, von R. Thurnwald . 213 10 Evolutionstheorie vor Gericht, 
5 a et Die moderne von Adolf Mayer . 264 
— auf dem Wene zur Meta- 10 Epvolutionstheorie vor ` Geridtt, u 
phyſik, von R. Scherwartn . 109 von B. Bavint . 2 2020.20. W 


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Heft 


12 — in a a Das —, 
nle⸗Reu ER 
10 Bom Relation zum ein. e 


von 


3 Tunderfrage, ur, v von 6. Sep. 


mann . 


E, Hutorenoeryeiónis 


Seite 


anore; g di 

Bavink, 101, 157, 185, 253, 264, 286, 
Bin. 9., 41. 

Bourguin, 86. 

Bruhn, W., 105. 

Buſſe, L., 310. 

Dörr, E., 202. 

Dorno, È., 200. 

Gelfert, 18, 245. 

Fonie 146. 


am o E 313. 


el ©. v., 40. 


acobs, 


erzberg, i — 


ikhauer, R., 194. 


Klodenbring, 
Koßmag, 250 


Fr., 31, 297. 


Raspeyres, 20. 
Leßmann, 65. 
Lohmann, ni 177. 
Mahnte, D., 129, 


Mayer, Ad., 
Meth, 33, 6. 
Müller-?age, M., 60, 85, 117, 233, 301. 


169. 
25. 49, 89, 264, 313. 
sg; 5 


Müllers-Lemgo, 38, 
Dülfer-Würtenfain, 123. 


—**— S A 
tätorius Dt 


© A —* ya 109. 


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S ner, 


Turnwald, x, 


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Wietor, A., si, 227. 
Weihe, 2 


name R., 
Wels, R. 


pad 


12 
11 


11 


73, 269. 
9., 139, 217. 


F. Befprechungen. 


Aſtronomle. 


enſſen und Schwaßmann, 
leme der kosmiſchen Phy: 


St N, ⸗ 
eae Mrenanıier Jet 


Biologie, FZoslogie, Botanik. 


André, H., Der Weſensunter⸗ 
EP la Pflanze, Tier und 


griidh, R. v., „Sinnes nesphufiofogie 
und Sprache ienen . 

—— i, —— Borftig 
Lenz, Fr. er Die 
ſchen — der Erziehung 


Geographie und Wetterkunde. 
Koßmat, Fr., Paläogeographie 
—— ©., Weltreifegedans 


Witte, 3.,  Sommerfonnentage 
in Japan und China. . . 


biologi: 


24 


238 


212 
238 


240 


324 
296 
296 


SE Phyſik, Chemie und Technik. 


-~I 


Dannemann, r., Die Anfänge 
der erperimentellen Forſchung 
und ihre Ausbreitung 


Feldhaus, F. M., Tage der 
Fehnit Bra Pr ana 4 
Fuchs, Pr. Die eleftrifhen 


Strahlen und ihre Anwendung 


184 
324 
184 


an wpe wa œ 


an 


Dahn, R., —— der Phy⸗ 
Helffenftein, AX., Das Weſen 
le * di $ iti fi teit 
eller Ye e Haltlofigfe 
der Relativitätstheorie : j 
Roth, W., Die Entwidlung der 
Chemie zur a aft. . 
Ruflell, B., ABC der Atome 
Strömer 


KR., Aus den Tiefen 
des Meltenraumes bis ins Ins 
nere = Atome 

art, Die Entwidiung der 
Übeniihen Großinduftrie 


—— a Anthropologie. 


lof und Traum 

ejunb en = Tranfen Tagen 

— ar Untergang der 

Kae A , Bom Beruf des 
rgtes . 


Kügelgen, r. v., "Die "Mangel: 
Ecantheiten gg @olfaminsien) 
Baerting, Der Baterihug 


Bhilojophie, Weltanihanung, 
on und Upologetif. 
After Raum und Zeit 
in bet Setchichte der T Bhilojophie 

Behn, S., Die Wahrheit 
Wandel der Weltanfhauung - S 
Bry, Verkappte Religion 


PA euer Şt., Reben, Fatur, 
eli 

Dried. To. Jiet taphy it 
Engelhardt, R. D Organifche 
Aultur 


Ellwood, Ch. A, "zur Erneue- 
rung der Religion 
Ernit, W., Der moderne Menih 


Grave, Fr., Das Chaos als obs 
jeftive de À 
Graeter, A. S., Das Werts und 


Seite 


127 


184 
211 


184 


323 
324 


128 

72 
209 
211 
208 
208 


268 
126 


Inhaltsverzeichnis. 


Heft 


RX 


a a ow 


© œ 


el : 
Henfeling, R , Das Werben und 
Weſen der Aftrol ogie. . ; 
Heußner. KI., Rantwörterbuf 
Kiefl, 8. 9., Leibniz und die 
teligiöfe MWiedervereinigung 


Plan 5 ; 
Kühnel, ., 3iele und Wege . 
ie Kulturkrifis der 


Leeſe, RY 
Gegenwart und die Kirde . 

Qiepmann, W., Weitihöpfüng 
und Weltanfhauung . 
Mahne, D., Leibniz 
Goethe, die Harmonie 
Weltanfihten . — 
Diller, A., Einleitung in die 
Vhilofophie A 

Müller, W. Gottentfaltung, die 
werdende Weltanfhauung und 


Rel ur A 
J—— Der Geift der Wiſfen⸗ 
Defterreid, T. R., Das Welt: 
bild der Gegenwart . ; 
Rüther, €., Auf Gottes Spuren 
Sapper, R., Das Element der 
Wir lichleit und die Welt der 
—25 — 
erwatzki, R., Erziehung ut 


zeligiö en „bun 
Si Sleid, € 5 läuten die 


Schmid, B., a "und wir 
Schreyuogel, F., Katholiſche 
Revolution . . 

Simme, 6., Fragmente und 
Auffä 
u ber. m, Bener 


Zeitwende — 
Ziegler und nn Welt: 
Pae ehung in Sage und Willen: 


gäimmer,. €., Vbiloſophie ber 


und 
ihrer 


und 


Seite 


211 

72 
212 
156 
211 


240 
126 


207 


237 


127 
211 

47 
323 
2% 

99 
100 
184 
209 
323 
240 
209 


Heft 


11 


12 
12 


11 


wo 


o P œ e 


10 


Piyhologie und Parapſychologie. 


— Ch., Die Macht in 


Baudouin Ch., Sſuggeſtion und 
Autofuggeltion . . 
Bierens de Haan, Die Bedeu: 
tung der Suggeition und Hyp» 
noje = die Frziedung — 
riedländer, igenes und 
remdes zu Breunjnen 
a aoo: :Analnfe 
Hieſe, Fr., Die Lehre von den 
Gedantenwellen . 
Häberlin, C., Grundlinien der 
iſychoanalyſe 
mago, Zeitfchrift für Anwen: 
dung der Pſychoanalyſe auf die 
Geilteswifien IROA 
Mattiejen, Der jenfeitige 


enſch 
Diüller-reienfels, R., Grund: 
piae einer Kebensp nchologie . 
terreih, T ie philofos 
flden iſche — der medumi⸗ 
i 
a 


— 


Phänomene 


* W., Das Forſchungs⸗ 


gebiet des Oftultismus . 


Bun E., Licht und arben im 
ienjt des Boltswohles . . 
Rolfienitein, Das Problem des 


Unbemubten . > 
Gigerus, , Die Telepathie ; 
Tifchner, J: Geſchichte der ok⸗ 
fu tiftiichen (metaphyſiſchen) 
FJorſhung von = Antite bis 
IR egenwart. 2. Teil. . . 

©., Otfultismus und 
AA nen igalt an en 
und Goethe. . 


Beriiedenes. 


Damaſchke, A., Vortsmmiide 
Redelunit . . 
Herder, Der tleine —, . 


Seite 


99 
295 
210 
100 


210 
324 


324 
212 
294 


48 
99 
210 


324 
210 





—— 
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR NATUR? 
WISSENSCHAFT UND WEITANSCHAUUNG 


XVII. Jahrg. Januar 1925 Heft 1 













Herausgegeben Schriftleitung : 


vom A Professor 
Keplerbund — Dr. Bavink 
= 
Detmold = Bielefeld 


% 6 








Das Problem des Uebels in der Welt. Von B. Bavink. ® Astronomie und 
Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr. Paul Meth. ® 
Technische Anwendungen der Lichtinterferenzen. Von Dr. Gelfert. ® Wetter- 
voraussage für 1925. Von Stadtbaurat Laspeyres. ® Naturwissenschaftliche 








und naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur. 





NATURWISSENSCHAFTLICHER VERLAG DETMOLD 





„UNSERE WELT“ 


erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post oder Buchhandel, viertelj. 2— Goldmark. 

Unmittelbar vom Verlag bezogen und fürs Ausland, zuzügl. Versandunkosten, 2.30 Goldmark. Der Brief- 

träger nimmt Bestellungen entgegen. Anzeigenpreise: Die 4 gespaltene 1 mm hohe Kleinzeile 15 Gold» 
pfennig. Bei Wiederholungen angemessener Rabatt. Anzeigen-Annahme bis 15. des Monats. 


Oesterreich: Postsparkasse Nr. 15603b. Schweiz: Keplerbund-Postscheckkonto: Zürich Nr. VIII. 10635. 
Holland: H. J. Couvee, Amerongen, Postrekening 17927. Amerika: Rev. W. Meinecke, Chicago (Jll.) 5131 
So West 54 St. Mexiko: M. Lassmann, Apartado 549 Mexiko D. F. 


Alie Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. Verlag od. Geschäftsst. des Keplerbundes, Detmold. 





der zweiten in unserem Ver- 


Inhaltsverzeichnis $e 5 „Der Naturfreund‘“. 


Astronomie und Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr, Paul Meth. ® Winternacht. 
Von Reinhold Fuchs. ® Skizzen aus Italien — Sizilien. Von Dr. E, Lücke, ® Inka-Tänze. Von Dr. Hartwig. ® 
Schneehals. Von Wilhelm Hochgreve. ® Etwas über Algen und ihr Studium. Von C. R, Vietor. ® 
Januar. Von Heinrich Osthoff, ® Häusliche Studien. ® Kleine Beiträge. ® Aussprache. ® Naturwissen- 
schaftliche und naturphilosophische Umschau. ® Der Sternhimmel im Januar. ® Neue Literatur. 


Natur und Technik: Das neue Windkraftschiff. Von Hans Böurquin. ® Kleine Beiträge. ® Rück- 
— — — \koppelungsschaltungen. Regenerativempfänger. Von Studienrat Möller. ® Wie 
baue ich? Von Studienrat Möller. ® Funk-Allerlei. Zusammengestellt von W, Möller, ® Kurzer Rückblick 


auf den Werdegang des deutschen Unterhaltungsrundfunks. Von W. Möller. 





- 


Janus-Epidiaskop 


(D. R. P. Nr. 366054 u. Ausl.-Patente.) 
mit hochkerziger Glühlampe zur Projektion von Papier- u. Glasbildern ! 


ZUR BEACHTUNG ! Nach vorgenommenen Verbesse- 
rungen konnte die Lichtstärke bei der episko- 
pischen Projektion auf etwa das 6 fache gegen 

Der Apparat weist 





früher gesteigert werden. 
jetzt geradezu verblüffende Leistungen auf und 
übertrifft jedes ähnliche Fabrikat bei niedri- 
gerem Preise. 


Ed. Liesegang, Düsseldorf = = 


Aelteste deutsche Sonderfabrik für Proj.-Apparate, Kinematographen und Lichtbilder. 


Gegründet 1852. 





B. Bavink, Ergebnisse u. Prob- | ESSENER ST 
leme der Naturwissenschaften 


3. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, 450 S. 
(Verlag von S. Hirzel, Leipzig 1924) 


„Als Einführung in die moderne Naturphilosophie ist das Werk 
in seiner sachlichen und klaren Darlegung aller in Betracht 
kommenden Wissensgebiete vorbildlich. Wer den Stand der 
modernen Naturforschung kennen lernen will und das Bedürfnis 
nach einer Weltanschaung hat, die mit den Tatsachen des Welt- 
geschehens in Einklang steht, der wird in diesem Buche, wie kaum 
in einem anderen finden, was er sucht“. 

(Leipziger Neueste Nachrichten.) 


„Hier liegt ein Werk vor, das den Namen der Naturphilosophie 
in geradezu idealer Weise rechtfertigt, insofern es die gesamten 
Naturwissenschaften . . bis in ihre jüngsten Probleme hinein zur 
Grundlage nimmt. . . Objektiv und sachlich von Anfang bis 
Ende, . . ist die Behandlungsweise mustergiltig und vorbildlich für 
den streng wissenschaftlichen Charakter einer echten Naturphilo- 
sophie. „ .” (B. v. Kern im Arch. f. Syst. Philos. Bespr. der 2. Aufl.) 

"Aehalch glänzende Besprechungen in der gesamten Fach- 
und allgemeinen Presse, z. 5. Naturw. Wochenschr. (A. Meyer- 
Hamburg), Phys. 2tschr. (W. Gerlach), Dt. Lit. Ztg. (V. Haecker- 
Halle) u. a. m. 


Erlöſung ohne Religion - 
durch MWiffenfchaft, Runft 
und Sozinlgeftaltung?” . 


Bon Univ.-Prof. D. Schr. von Soden: Breslau. 


Das Schriftcdhen 
verdient weitejte Derbreitung. 
Umf ang 30 Seiten Klein-Oktav. Preis 45 Gpf. Wir 
bitten bei Bejtellung den ey auf Poſtſcheck-Konto 
44 744 Hannover, zuzügl, Spl Porto einzuzahlen. 
Für unjere — y a Vitglieder: 10 cents. 


— ———— Verlag, Detmold. 


Schreiben Sie bitte stets bei Anfragen oder Bestellungen „Ich las Ihre Anzeige in „Unsere Welt“. 


WMuftrierte Zeitigrift für Naturwillenihaft und Meltauianung 


Herausgegeben vom Naturmwifjenichaftliden Verlag des Keplerbundes e. V. Detmold. 


Poſtſcheckkonto Nr. 45744, Hannover. 


Schriftleitung: Prof. Dr. Bavint, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Aufläge fiehen de Verſaſſer; ihre Aufnahme magi fie nicht zur Aeußerung des Bundes. 





XVIL. Jahrgang 


Januar 1925 


eft 1 





Dag Droblem-deg Uebels in der Welt. Bon B. Bavint. 


I. 


In einer Reihe von Auffäßen (Br. Ztſchr.) 
Nr. 7 und 8, 1923; Nr. 2 und 3, 1924) habe ich 
verfucht, die wichtigsten Tragen, welche alf dem 
Grenzgebiet der Religion gegen die Natur- 
wiſſenſchaft entfpringen, im Sinne der in Nr. 4 
1923 veröffentlichten Thefen zu beleudhten. Mit 
dem hier gejtellten Thema gehen wir nun einen 
weſentlichen Schritt weiter, als mit den bisher 
behandelten Fragen. Diefe betrafen im weſent— 
[hen reine Tatfadhenfragen und foldye Fragen, 
die fih auf die Erflärung von Naturtatſachen, 
d. b. ihre Einordnung in ein geordnetes 
logiſches Syſtem beziehen. Nunmehr aber 
wollen und müflen wir uns in das Gebiet der 
MWerturteile begeben, in das Gebiet, wo es 
fi) nicht allein mehr darum handelt, was ift und 
wie etwas zufammenhängt, fondern darum, was 
als feinfollend gelten foll, was als „gut” oder 
„Ichlecht”, als „häßlich” oder „ſchön“ empfunden 
wird. Troßdem gehört auch unfer Thema zwei: 
felsohne noch in eine Naturphilofophie hinein, 
infofern es vielfach auch Tatfachenurteile find, die 
bier zur Debatte ftehen. Es wird 3. B. behauptet, 
daß die Tiere Schmerzen, ähnlich wie bie 
Menfchen empfinden, oder es wird diefe Bes 
hauptung in Abrede geftellt. Das ift an fih außer 
allem Zweifel eine reine Tatfachenfrage und ge- 
hört als folche in die Naturmwiffenfchaft, genauer 
in die Tierpfgchologie. Wir werden fehen, daB 
nod eine ganze Reihe weiterer naturwiffenfchaft- 
liher Fragen in unfer Problem hineinfpielt und 
jo wird man mid) hoffentlich nicht ohne weiteres 
der Ueberjchreitung der Grenzen beichuldigen. 
Auf der anderen Seite reicht unfere Unterfuchung 
allerdings ehr weit ins religiöfe Gebiet hinein, 
ja wir werden fehen, dab wir hier vor der Kern⸗ 
frage unferer heutigen religiöfen Lage ftehen. 


a 


@ 


Um ſicheren Boden unter den Füßen zu haben, 
wollen wir aber zunächſt das Leiden und das 
Sterben als rein naturwiſſenſchaftliche Tat— 
ſachen betrachten. 


Wann und auf welche Weiſe aus den an: 
Icheinend völlig empfindungs» und willenlofen 
anorganifchen Stoffen zuerſt auf dieſer Erde 
Leben wurde, ift für unfere Erörterung belang: 
los. Wir nehmen es einmal als gegebene Tat- 
jahe hin, dap es diefe merfwürdigen Stoff: 
tomplere gibt, die von der leblofen Natur fich fo 
deutlich Dadurch unterfcheiden, daß fie imftande 
ind, in allem Wechſel äußerer Bedingungen 
(natürlich innerhalb gewiſſer nicht zu übers 
ſchreitender Grengen) ihre charatteriftifche Form 
zu bewahren, ja vdiefelbe fogar bei teilmeifer 
Zerſtörung wiederherzuftellen, den umliegenden 
Stoff fih zu „aflimilieren” und fchließlich, fei.es 
durch einfache Teilung fih in gwei einander und 
dem urfprüngliden Weſen gleiche „Tochter: 
organismen“ zu teilen, oder auf vermwideltere 
Weife fih felber ähnliche „Nachtommen“ zu er- 
zeugen. Jn diefen Eigenfchaften ftimmen alle 
Lebeweſen überein, und durch fie unterfcheiden 
fie fih von der lebloſen Natur (unbefchadet eines 
etwaigen Nachweifes von Uebergängen, der uns 
bier nicht intereffiert). Nun gibt es aber außer 
diefen äußerlich fichtbaren Eigentümlichteiten 
noch eine weitere und zwar die wichtigjte Eigen- 
Tchaft der Lebeweſen: fie befigen ein ünnen» 
leben, ein feelifches „Erleben“ neben dem rein 
äußerlihen körperlichen Dafein. Es hat aller: 
dings gelegentlich Forſcher und Denter gegeben, 
die geglaubt haben, ein foldes nur dem 
Menſchen zufprechen zu dürfen; fo hat 3. B. der 
Philofopd Descartesdie Tiere und Pflanzen 
als reine Mafchinen angefehen willen wollen. 
Diefe Auffaflung hat fih indefjen niemals ernft- 


2 nn 


lih durchſetzen können. Zu weitgehend find die 
Analogien zwiſchen dem Verhalten zum min- 
dejten der höheren Tiere und dem des Menfchen. 
Wollte man jedes feelifche Erleben aud bei 
diefen in brede ftellen, fo müßte man folge: 
richtig auch Das Geelenleben des Mitmen- 
jhen leugnen. Denn von diefem wiffen mir 
tatfächlih doh auh nur etwas durch irgend 
welche körperlichen „Ausdruds - Bewegungen“, 
denen wir das feeliiche Erleben unterlegen nad 
Analogie mit unferem eigenen Verhalten. An 
diefem Grundjachverhalt wird nichts dadurch 
geändert, daß der Menfch die überaus verwidelte 
Ausdrudsbemegung der Sprade vor den Tieren 
voraus hat. Wer etwa einen von einer Kugel 
getroffenen Menſchen jchreien, fih winden und 
frümmen Sieht, der braucht durchaus feine 
ertitulierten Laute, um zu wiffen, was Der Ge- 
troffene empfindet, deffen Sprache er vielleicht 
gar nicht einmal verjteht. Es genügt hier völlig 
die unmittelbare Einfühlung, die fchon das ganz 
tleine Kind betätigt, das beim Anblid und An- 
hören des weinenden Schweſterchens mit zu 
weinen anfängt. Nun liegt die Sache aber bei 
einem angefchoffenen Tier unter Umjtänden 
genau ebenfo, und darum hat auch im Ernſt 
niemand in folder age je daran gezweifelt, daß 
aud diejes Tier den Schmerz in ähnlicher Weife 
wie der Menſch empfindet. Es fommt ein zweites 
hinzu: die Sinnesorgane (nervöfen Organe) der 
höheren Tiere jtimmen auch ihrem anatomifchen 
Bau mit denen der Menſchen volltommen 
überein. Daß fie alfo auh ähnlich funktionieren 
werden, ift ein Unalogiejchluß, der fih fo un- 
mittelbar aufdrängt, wie nur irgend ein natur= 
mwillenfchaftliches Urteil anderer Art, das auf 
Analogiefchlüffen beruht und diefe Muffaffung 
wird weiterhin durch das gefamte Verhalten der 
Tiere vollauf gerechtfertigt. Natürlid muß man 
mit ſolchen Analogieen ein wenig vorfichtig fein. 
Die neuere Tierpfgchologie hat gezeigt, daß man 
vordem in die Tierjeele allzu viel Menfchliches 
bineingelefen hat. Uber daran ift auch von ihr 
niemals ein ernjtlicher Zweifel erhoben worden, 
daß Tiere überhaupt empfinden, wollen und 
fühlen, und daß fie auch in diefer Beziehung dem 
Menfchen um fo ähnlicher fein werden, je näher 
fie ihm in ihrer förperlichen Organifation Stehen. 

Schwieriger ift ihon die Frage, wie weit wir 
nun dieſen Analogiefchluß nah unten hin aus- 
zudehnen haben, ob er, da Tierreich und Pflan— 
zenreich an der Wurzel, im Gebiet der Einzelli- 
gen, zulammenhängen, etwa auh auf die 
Pflanzen auszudehnen ift und, falls eine 
fontinuierliche Verbindung auh mit dem fog. 
toten Stoff beitehen follte, gar auf die Atome 


irn Das Problem des Uebels in der Welt. 


und Elektronen. Laſſen wir die leßtere Frage 
bier außer Betracht, jo wird man m. E. nicht 
umhin fönnen, die Ausdehnung bes 
Seeliſchen auf das gejamte Reid 
des Lebens, einfhließlih der 
Pflanzen, zu bejahen. Dazu zwingt nämlich 
das Prinzip der Kontinuität. Es ift fchlechter- 
dings unmöglich, innerhalb des Tierreichs nad 
unten hin einen foldyen Grenzſtrich gu ziehen. 
jedermann empfindet unmittelbar, daß jeder 
ſolche Berjuh eine Vergewaltigung des faft 
tontinuierlihen Auf- und Abſtiegs innerhalb 
der Reihe der Tiere darftellt. Außerdem zeigen 
auh fon die niederften Organismen im Reihe 
der Protiften entweder, daß ihr Körper als 
Ganzes „reigempfindlich” ift, oder fie haben 
fogar befondere „Sinnesorgane“. Da dies aud 
für Pflanzen nachgewiesen ift, bei denen nur die 
„Reaktionen“ langſamer eintreten, fo dürfte die 
Folgerung nicht zu umgehen fein, daß wir aud) 
diefen irgend eine Art von „Innenleben“ zuge- 
ſtehen müffen, jo befremdlich das im erften 
AYugenblid auh klingen mag. Das Befremdende 
wird erheblich gemildert, wenn man fih einmal 
in einem Film die Bewegungen der Planzen in 
verfürztem Zeitmaßftab anfieht. Ich fah einmal 
in einem folden u. a. das Wachſen eines 
Spargelbeetes. Das faft trampfhafte Hervor- 


‚drängen der jungen Triebe zum Licht, der dabei 


fichtlich fib abfpielende Kampf um Licht und 
Luft uſw. wirkten vollkommen fo, als ob es fih 
um tierifche Organismen handelte. Da doch nun 
gewiß niemand von vornh'rein behaupten fann, 
daß feelifches Leben unabänderlih an das uns 
gewohnte Zeitmaß gebunden fei, die Zeit ja 
vielmehr felber „orm des inneren Ginnes” und 
als folche rein fubjektiver Natur ift, fo tann man 
wohl nicht gut abftreiten, daß die überwiegende 
MWahrfcheinlichkeit zugunften der Ausdehnung 
des Geelifchen auch auf die Pflanzenwelt ſpricht, 
mag es uns auch unmöglich fein, irgend welche 
nähere Borftellungen darüber zu geminnen. 
Wir können jedoch für unferen Zwed weiterhin 
auch diefe Frage auf fih beruhen laffen. Ich 
babe fie nur der Bollftändigteit halber erwähnt. 
Für das Problem, das uns hier beichäftigt, 
wiirde es genügen, wenn etwa auch nur bri den 
Cäugetieren oder den MWirbeltieren insgejamt 
feelifches Erleben mit einiger Wahrfcheinfichkeit 
angenommen werden darf. Hirr aber darf es 
nicht nur, fondern muß es außer allem Zmeifel 
vorausgefeßt werden. 

Es handelt fih für uns nun nicht fo jehr um 
die an fih neutralen Ginnesempfindungen, 
fondern vielmehr um ' diejenigen bejonderen 
feelifchen Zuftände, die wir mit Freude und 


Das Problem deg Uevels in der Welt. 3 


Leid oder mit Luft und Unluft bezeichnen. Daß 
es auch dieſe, nicht nur die völlig gefühlslofe 
Empfindung, bei den Tieren gibt, ift offen- 
fundig, und zwar dürfen wir als durchgehende 
Regel den Sag hinftellen, daß die normale, d. h. 
der Gelbfterhaltung oder der Wrterhaltung 
dienende Tätigkeit des Organismus für ge- 
wöhnlich luftbetont, die Hemmung diefer Tätig- 
feit Dagegen, der Zwang zu unnormaler Tätig- 
teit und vor allem jede erheblicdhere Störung der 
normalen Zunftionen des Organismus von 
Unfuftgefühlen begleitet find. An der durd- 
gehenden Giltigkeit dieſes Satzes wird durd 
einzelne jcheinbare Ausnahmen nichts geändert. 
Diefe beruhen darauf, daB bei den die über- 
wiegende Menge der Lebeweſen ausmachenden 
Bielzellern unter Umftänden die Intereſſen des 
Teils die des Ganzen für furze Zeit unter- 
drüden können, fodaß eine Luft entjteht aus 
Einflüffen oder Tätigkeiten, die zwar den Teil 
fördern, das Ganze jedody hemmen, fogar viel- 
leicht dem Untergange weihen oder umgekehrt. 
Wir dürfen von diefer Komplikation abjehen 
und die obige Hauptregel fefthalten. Daran, daß 
fie bis zum Menfchen hinauf gilt, ift keinerlei 
Zweifel, unbefchadet aller ſpäter hinzutommen- 
den fittlichen und anderen Erwägungen. 

Bom biologif dhen Standpuntte aus ge- 
fchen erfennen wir die Notwendigkeit 
diefes Sages nun darin, daß ohne ſolche Ge- 
fühlsbetonungen den Organismen der Antrieb 
fehlen würde, die zur Selbft- und Arterhaltung 
notwendigen Handlungen auszuführen. Man 
verfuche fih einmal eine Welt auszudenten, in 
der es weder Leiden noch Freuden gäbe, fondern 
nur reine Sadlichleit; man wird es nicht fertig 
bringen. Das Jagen nad) der Luft, die Flucht 


vor der Unluft find tatfächlich die bewegenden 


Kräfte alles Handelns der Tiere und des größten 
Teils der Handlungen der Menſchen. Streicht 
man fie, fo fteht in demfelben Augenblid faſt 
alles charafteriftiiche Lebensgefchehen ſtill. Es 


ift unzählige Male ausgeührt worden, daß 3. B. 


der körperliche Schmerz, der durch die zu ſtarke 
Reizung irgend welcher Nerven entfteht, das 


biologifcy notwendige Signal darftellt, das dem | 


Zentrum Ddiefes Organismus Kunde von der 
eingetretenen Gefahr geben muß. Zur Beit der 
Alleinherrichaft des Darwinismus glaubte man 
fogar, auf diefe Weife die Entitehung des 
Schmerzgefühls völlig erklärt zu haben. Da 
nämlih die in dieſer Weile eingerichteten 
Organismen offenbar vor den nicht fo einge- 
richteten den Vorteil voraus hätten, daß fie fih 
ror Gefahren warnen ließen, fo müßten fie 
allein im Dafeinstampfe überleben. Natürlich 


beantwortet auh in diefem Falle wie überall 
die bloße ©elektionslehre nicht die Frage, woher 
denn überhaupt die fragliche heranzuzüchtende 
Eigenſchaft — hier alfo die Schmerzempfindlich: 
teit — zuerſt fommt. Nach diefer Richtung hin 
ift die darwiniftiiche Erklärung alfo unvoll: 
ftändig. An fih ift die Ueberlegung jedod) völlig 
richtig. Es ift ganz flar, daß fih neben den uns 
befannten Organismen mit Schmerzempfindung 
ſolche ohne Schmerzempfindung fchwerlich be- 
haupten könnten (im gleichen Lebensgebiet). 
Wir dürfen alfo alles in allem unbedenklich den 
Schmerz als eine biologische Notwendigkeit be- 


zeichnen. 


Cine gang ähnlidye Weberlegung führt uns 
dazu, auh den Tod als ſolche biologifche Not- 
wendigkeit angujehen. Die lange jo heiß um- 
Itrittene Trage, ob jeder Organismus an fi 
zum Gterben verurteilt ift, aus inneren 
Gründen, abgejehen von äußeren Einflüffen, 
darf allerdings heute mit einem klaren Nein be- 
antwortet werden. Die forgfältigen Forſchungen 
der neueren Biologie haben ergeben, daß tat- 
fählidy nicht nur eingellige, jondern fogar ge- 
wiffe vielzellige Organismen eine „potentielle 
Unjterblicykeit” befigen, in dem Sinne, daß fie 
bei geeigneter Behandlung beliebig lange am 
Leben gehalten werden können.) Da fein Grund 
einzufehen ift, warum andere Organismen im 
Prinzip anders als die unterfuchten beichaffen 
fein follten, fo darf man wohl allgemein folgern: 
An fih ift alles Qeben „potentiell 
unfterblid.” Tatſächlich wird jedoch alles 
Leben durd) die gefamte Summe der darauf ein- 
dringenden fchädigenden Einflüffe einerjeits, 
durh gewiffe im normalen Lebenslauf 
regelmäßig vorfommende Tätigkeiten anderer: 
feits früher oder fpäter fo verändert, daß das 
Sterben unvermeidlich wind. Es ift insbejondere 
der Tortpflanzungsprogeß, der in einer deutlich 
nachweisbaren Beziehung zum Sterben fteht. 
Niele Pflanzen laffen fi) lange über die ge- 
wöhnliche Dauer hinaus am Leben erhalten, 
wenn ihnen die Fortpflanzung durch operative 
Eingriffe unmöglicy gemacht wird. Offenbar ift 
nun dieſer Zufammenhang fein Zufall, fondern 
eine innere Notwendigkeit. Die Fort- 
pflanzung, d. h. die Erzeugung weſens— 
gleicher, aber jedesmal jugendfrifcher Nachkom— 


1) Vgl. dazu den Auffag von Merter in Nrn. 7,9 
von „Unjere Welt”, 1924, und die Umfcdhaunotizen in 
Nr. 12 von 1922. Weiteres bei Korjdelt, „Lebens: 
dauer, Alter, Tod“, Jena. Tiſcher, Doflein, „Das Pro: 
blem des Todes”, ebenda. Koppanyi, Naturwiſſenſchaft— 
liche Wochenſchrift 1922, Nr 42. Haberlandt, Biolo: 
giſches Zentralblatt 1922, Nr. 4. 


4 Das Problem des Uebels in ber Welt. 


men und das Platzmachen ber Alten 
gehören notwendig zufammen. 
Welche Borteile ein folcher Prozeß in biologi- 
iher Hinficht bietet, braucht taum näher ausge- 
führt zu werden. Er ftellt das Mittel dar, durch 
das die lebende Natur fih dauernd wieder vere 
jüngt und fo die im Laufe des Individuallebens 
erworbenen Schädigungen immer von neuem 
ausgleicht. Auch hier tann man auf Grund der 
darmwiniftifhen Lehre leicht verftehen, daß fo 
eingerichtete Organismen in der Tat vor etwai- 
gen anderen individuell unfterblichen einen 
großen Vorteil voraus haben würden, wenn auth 
hier wie oben unflar bleibt, warum überhaupt 
eine folche Einrichtung auftrat, wenn fie vorher 
nicht beftand. Noch wichtiger aber ift, daß offen: 
bar gerade das fortwährende MWechfeln der 
Generationen jenen großen Entwidlungsgang 
Des Lebens auf der Erde ermöglicht hat, deffen 
Ergebriffe wir in der wormenfülle der 
Pflanzen: und Tierwelt vor uns ſehen. Denn es 
fcheint klar, daB Neues nur auftreten tonnte, 
wenn das Alte dem Neuen Pla machte, dap 
ein Fortichritt in der Entwidlung alfo nur ftatt- 
finden fonnte, wenn die neue Generation 
mwenigjtens um einen gang fleinen Betrag in der 
Richtung auf die Höherentwidlung hin von der 
alten abwich. 3n diefem Sinne ift alfo der Tod 


nicht nur eine für die Forteriftenz der Art nots 


wendige Einrichtung, Tondern erft recht eine 
notwendige Grundlage alles Lebensfortichritts. 
Wenigitens ift er das in der Welt gewefen, fo 
wie wir fie tennen. Dom Standpunkte der 
Naturmwillenfchaft aus ift es daher eine ziemlich 
müßige Frage, ob auh eine Drganismenwelt 
denfbar wäre, in der es nicht nur ein dauerndes 
Leben der Andividuen, fondern auch einen 
Hortichritt in deren Organifation gäbe. An fih 
wäre das ja fchließlich denkbar. Die Organismen 
tönnten ja fo eingerichtet fein, daB fie nicht nur 
alle Schädigungen rejtlos wieder ausglichen, 
fondern dazu noh im Laufe unzähliger Jahre 
fih zu anderen Differengierteren Formen um- 
wandeln könnten. Auh fo könnte in der Theorie 
aus einfahen Anfängen eine höchit vermidelte 
Welt des Lebens entjtehen. In Wirklichkeit er- 
reicht jedoch die Natur diefe Ziele nur auf Roften 
der Eingelmefen und zwar niht nur in dem 
Sinne, daß diefe vom Schauplatz abtreten 
müffen, fondern aud) in dem Ginne, daß diefes 
Abtreten ihnen zumeift höchft unangenehme Ge- 
fühle erwedt. 


Es kommt hinzu, daß in einer folchen Welt, 
wie mir fie eben annahmen, natürlich aud 
feinerlei Ernährung der einen Organismen auf 


KRoften der anderen jtattfinden dürfte, während. 


doh in Wirklichkeit die gefamte lebende Natur 
auf ein Freſſen und Gefreffenwerden des einen 
durch den anderen eingerichtet ift. Man kann fid 
ſchwer vorftellen, wie ohne diefe Einrichtung 
überhaupt Formenreichtum entftehen follte. 
Denn faft alle die verfchiedenen Organe und Ge: 
ftalten, zum mindelten im Tierreich, dienen doch 
dieſem Zwede: entweder zu freffen oder aber 
fih vor dem Gefreffenwerden zu ſchützen (mit 
Ausnahme der der WUrterhaltung dienenden 
Organe). Ueber rein vegetatives Leben käme 
alfo eine ſolche Welt fchwerlich hinaus. Alles zu: 
fammengefaßt dürfen wir alfo fagen: die ges 
jamten Einrichtungen unferer lebenden Welt 
find nur unter der Vorausfegung zu begreifen, 
daß es ſowohl Leiden als auch Sterben in ihr 
gibt. Leid und Tod find fchlechthin unumgäng- 
lihe Borausfegungen dafür, daß diefe fo be- 
Ihaffene Organismenwelt entftehen fonnte. 
Ob ohne fie überhaupt und ev. was für eine 
Lebenswelt denkbar wäre, vermögen wir uns 
in feiner Weife auszudenten. In den Phantafien 
aller Völker, vornehmlich auch in ihren Dichtun- 
gen, fpielt zwar die Vorftellung einer Welt, wo 
„der Löwe bei dem Lamm und der Pardel bei 
dem Bödlein lagert,” eine fehr große Rolle. 
Man fieht aber leicht, daß diefje Vorftellung gar 
niht durchführbar ift. Sämtliche Organismen 
würden aufhören zu fein, was fie find, wenn 
der Dafeinstampf, dem fie ihre Organifation 
doch erft zu verdanken haben, aufhörte. Nur die 
niederften, rein auf anorganifche Nahrung an= 
gewiefenen Weſen würden eine Ausnahme 
machen. Kurz: Leid und Tod gehören zum 
Weſen unferer Welt ebenfo wie die chemijchen 
Elemente, aus denen fie beſteht. Pielleicht 
fönnten diefe ja auch anders fein, aber das ift 
wiederum eine für uns im Grunde gegen- 
ftandslofe Frage. 

Man kann fih diefe und ähnliche Gedanten: 
gänge gar nicht flar genug machen. Nur allzu 


‚leiht begnügt fih oberflächliches Denten mit 


der Boritellung, als ob Leid und Tod fozufagen 
nur fefundäre, auch wegzudenkende Eigen— 
Ihaften einer ohne fie volllommen herrlichen 
Welt wären. Das ift, wie man ſieht, grundfalfch. 
Sie find durdaus fonftitutive Merkmale diefer 
uns befannten Welt. Wer fie wegdenft, muß 
tatfächlich neun Zehntel alles deffen, was wir 
tennen, mit wegdenten. Die gefamte Schöpfung 
müßte von Grund auf völlig anders fein, als 
fie tatfächlich ift, wenn fie diefe Dinge nicht ent 
halten follte. 

Dies gilt nun, wie wir bier fogleich hingu: 
fügen, auh mit Bezug auf den Menfchen. Wer 
jih niht auf den Standpunft ftellen will, daB 


Das Problem des Uebels in der Welt. g 


der Menſch eine ſowohl in körperlicher wie in 
jeelifeher Hinficht völlig neue Schöpfung dar- 
ftellt, wer ihn alfo auh nur körperlich von den 
Tieren abjtammen läßt, muß ficherlicy zugeben, 
daB der Menſch mit deren Körper ganz un: 
weigerlih auch deffen Schmerzempfindlichteit 
und Sterblichkeit übernahm, ja man muß fagen: 
fogar wenn Gott auch diefen Körper völlig neu 
aus dem Nichts ins Dafein rief, fo hat er ihn fo 
völlig ähnlich dem Körper der nädjftverwandten 
Tiere gemacht, daß er fichtlich aud deren Eigen- 
ſchaften teilt. Sonft hätte Gott durch eine fort- 
laufende Kette von Wundern den Menfchen vor 
Leid und Tod bewahren müfjen inmitten von 
Belsftürgen, Ueberſchwemmungen, Feuers: 
brünften, Gewittern, hungrigen Wölfen oder 
Löwen, giftigen Schlangen ufw., denn alles 
dies war außer jedem Zweifel längft vor dem 
Menfchen da und diefer trat, einerlei ob als Neu- 
Khöpfung oder als Nachkomme früherer Tier- 
geichledhter, mitten in die ſe Schöpfung hinein, 
wo jeder andere fript, und wo dazu äußere Ge- 
fahren aller Arten von der anorganifchen Natur 
drohen. Auch dem Menſchen ift alfo Schmerz 
und Tod nicht als etwas Sekundäres fozufagen 
angeflogen, jondern fie gehören von Anfang an 
zu feinen unveräußerlichen Eigenſchaften. Daß 
fie bei ibm nun auch no% eine viel weiter: 
gehende biologifche Bedeutung haben, veriteht 
fih von felbit. Beim Menjchen geht ja das rein 
Biologifche in das joziale Leben und durd) das 
Selbitbemußtjein in das Geiftige über. So 
fommt es, daß einerfeits die Stala der Gefühle 
beim Menfchen unvergleichlich viel reichhaltiger 
und verwidelter ift als beim Tier mit jeinen 
primitiven Trieben, andererfeits zum förper- 
lien auch das rein feelifche Leid hHinzutritt. 
(Es foll damit niht in Abrede geftellt werden, 
daß Anfänge davon nicht auch beim Tiere vor- 
tommen, man denfe an die vielen verbürgten 
Erzählungen von Tieren, die „aus Rummer” 
über den Berlujt des Herrn oder eines Ge- 
fährten jterben). Schließlich ergibt fid beim 
Menfchen fogar das rein geiftige Uebel, der 
Konflift mit fih felbft, der Kampf des niederen 
Triebes mit dem als das Höhere erfannten 
Gittengefeg, die „Sünde“ als der bemußte 
Wideritreit gegen das Gute. Auch in diefem 
viel verwidelteren Leben aber bleibt nun beftehen, 
daB das „Uebel” — mit weldyer Bezeichnung 
wir hier wie im folgenden überall Leid, Tod 
und Böfes gufammenfaffen wollen — zweifellos 
neben feiner negativen auch eine pofitive Be- 
deutung hat. 








Des Menſchen Tätigkeit tann allzu leicht 
erichlaffen, 

Er liebt fih bald die unbedingte Ruh. 

Drum geb’ ich gern ihm den Gefellen zu, 

Der reizt und wirft und muß — als Teufel 
— Ichaffen. 

So jagt der Herr im Prolog des Fauft vom 
Mephifto und diefer felber bezeichnet fih dem- 
entiprechend als „Teil von jener Kraft, die ftets 
das Böſe will und Stets das Gute ſchafft.“ Auch 
hierüber fönnen wir uns die nähere Ausführung 
jparen. Es mag nur auf das eine hingemwiefen 
fein, daB im Gegenſatz zu dem paffio neran- 
lagten Orientalen es uns Europäern zmweifels- 
ohne durchaus als das Höchfte fittlich-äfthetifche 
Ideal des Menſchen erjcheint, wenn diefer ge- 
zwungen ift, feine Kräfte im Kampfe mit feind- 
lien Gewalten zu ftählen und fih gegen folche 
durchzufegen (einfchließlich der Ayeinde im eige- 
nen Inneren). Heldentum ift zum wenigjten 
in dem nicht verſklavten Teile auch unferes 
Boltes, imfonderheit unferer Jugend, nod 
immer ein hohes Biel, und tein religiöfer 
Glaube wird fi) halten fünnen, der nicht in 
irgend einer Weile das Recht folches Ideals 
anertennt. Wie febr auh font der Schmerz, 
ſowohl törperlicher als feelifcher, erziehend 
wirft, ift ebenfalls oft genug hervorgehoben 
worden. Auch der Fromme wird deshalb über 
ſolche Uebel niht nur jammern, fondern feinen 
Gott auch in ihnen, ja gerade in ihnen fuchen. 
Ja richtig verftanden wird er fogar ein ge: 
wiffes Recht dazu anerfennen, daß man vom 
„Segen der Sünde” geiprochen bhat. — Es 
fommt nun aud) hier hinzu, daß gerade beim 
Menſchen noh viel mehr als in der übrigen 
organiſchen Welt „der Kampf der Bater aller 
Dinge“ auh in Bezug auf die Entwidlung der 
Art ift. Nach neueren Forfchungen unterliegt es 
wohl feinem ernitlihen Zweifel mehr, daß zum 
wenigſten unſere Rulturraffe, die nordifche, durch 
den Kampf mit der hereinbrechenden Eiszeit zu 
dem geworden ift, was fie ift. Nicht vom Süden 
aus, wie man früher glaubte, ift der Norden 
fultiviert worden, fondern umgefehrt: aus dem 
Norden ift Welle auf Welle von kulturfähigen, 
blonden und blauäugigen Ariegern in die 
freundlideren märmeren Gegenden einge- 
wandert, hat die ſchon anfäffige Urbevölferung 
unterworfen und fih mit ihr vermifcht und fo 
den ganzen eurafifchen Kontinent fulturell be- 
fruchtet, wenn fie auch dabei felber größtenteils 
untergegangen ift. Und nicht nur für diefe vor- 
gefchichtlihen Zeiten, die ganz wohl niemals 
mehr aufzuhellen fein werden, fondern auch für 
die gejchichtlichen Zeiten gilt der Sag, daß 


6 Das Problem des Uebels in der Welt. 


Großes nur im Kampf mit widerftreitenden Ge- 
walten errungen wurde. Wo immer es einem 
Bolte zu gut ging, da trat rafch genug der Ber- 
fall ein. Wie der einzelne Menſch, jo verträgt 
auh ein Bolt oder die Menfchheit als Ganzes 
genommen offenbar nur ein gewilfes Maß von 
Ausijpannung und Ruhe vom Dafeinstampf. 
Wir dürfen deshalb ficherlich ohne zu über- 
treiben, behaupten, daß das Uebel wie 
ein unveräußerlides Mertmal der 
gefamten organifhen Schöpfung, 
foaudein ſolches der menſchlichen 
Kulturentwidlung ift, daß es Streichen 
wieder ebenfo viel hieße, wie neun Zehntel alles 
deffen jtreichen, was der Menfch auf geiftigem 
Gebiete geleistet hat. Wir wollen damit feines 
wegs behaupten, daß diefe äußeren Bedingun- 
gen, alfo die harten Notwendigkeiten des 
Kampfes ums Dajein, es allein gemadyt hätten; 
das wäre die von uns im vorigen Aufſatz abge- 
lehnte Lehre von Marr. Wir behaupten nur, 
daß der Dafeinstampf eine notwendige, 
niht daß er die einzige und hinreichende Pe- 
dingung der Gefchichte bildet. Das aber muß 
auch der entſchloſſenſte Idealiſt zugeftehen. 

So dürfen wir alfo für den gefamten Bereich 
der uns befannten höheren Schöpfung das Uebel 
(Leid, Tod und Sünde) unter feiner Bedingung 


und auf feinem Gebiete als etwas rein Gefun: 


däres, Hinzugelommenes, auh Wegzudenkendes 
anfehen, fondern müffen uns darein finden, daß 
es zu diefer Welt, jo wie fie nun einmal von 
Anbeginn an war, dem innerften Wefen nad 
dazugehört, dap diefe Welt gar nicht mehr das, 
was fie ift, jondern etwas total anderes, mit der 
vorliegenden gar niht mehr Bergleichbares fein 
würde, wenn wir fie uns von diefem Uebel frei 
denken wollten. Wie ſchon oben hervorgehoben, 
wäre an fih eine ſolche Welt wohl Dentbar, 
natürlich auch eine jolche Menfchheit, aber das 
wäre dann eben niht unfere Welt und unfere 
Menschheit. Das ift nicht etwa eine „Unficht”, 
der man beliebig auch eine andere gegenüber- 
itellen fönnte, fondern einfad) das Refultat nüd- 
terner Erwägung auf Grund des uns bekannten 
eejamten Tatbeftandes der Natur und Gefchichte. 
Hier ift von „Glauben“ alfo gar feine Rede, 
fondern lediglich von Wiffen in dem Sinne, wie 
bei allem wifjenfchaftlichen Wilfen. (Vgl. „Un: 
jere Welt“ Nr. 7, 1923.) Nunmehr verlafjen wir 
aber das Gebiet des Willens und begeben uns 
in das des Wertens und damit auch des 
Glaubens im religiöfen Sinne. Wir wollen da: 
bei feinen Augenblid aus den Augen verlieren, 
dah fein Werten und Glauben die Urteile des 
Willens mehr ändern fann. Es fann ihnen nur 


die eine oder die andere Deutung geben; man 
tann 3. B. angefichts des vorliegenden Tatbe- 
ſtandes zum Optimiften oder Peffimiften wer- 
den, an Gott glauben oder nicht, aber man fann 
nicht  diefen Beſtand felber ändern auf Grund 
einer angeblichen, aus anderen Quellen fließen- 
den „Gewißheit“. 

„Primus in orbe deos fecit timor“,’) fagt der 
römifche Dichter und das Sprichwort behauptet 
dementfiprechend, Not lehre beten. Wenn nun 
auch die hierin liegende Anficht, alle Religion fei 
legten Endes aus Furchtgefühlen entftanden, 
ficher in diefer Einfeitigfeit falfh ift, — es ift 
zweifelsohne, pfychologifch-geichichtlich angeſehen, 
eine ganze Anzahl verfchiedener Motive hierbei 
beteiligt —, jo ift doch unbeftreitbar, daß das 
Nebel in der Welt eine der Haupttriebfräfte 
und einen Hauptgegenftand aller Religion 
bildet. Der primitivfte Wilde fucht bei feinen 
Götzen Rettung vor den ihn bedrohenden Uebeln, 
und auch die höchſte Religion, das Chriftentum, 
betet: erlöje uns von dem Uebel. Wenn auh 
der eine dabei nur an das äußere (yhyſiſche) 
Hebel dentt, während der andere zumeist das 
innere, moralijche Uebel im Auge hat, fo ift doch 
beiden gemeinjam, daß fie eben durch die Re- 
[igion die Erlöfung vom Uebel fuchen. Aber 
daneben bejteht noh eine andere und noch tiefer 
reichende Beziehung von Uebel und Religion. 
Wenn Hiob leidet, fo ift es nicht fo febr das 
leiden felber, was ihn quält, als vielmehr der 
Gedanfte, warum gerade er, der Fromme und 
Gerechte, fo jchwer leiden muß. Der Zweifel an 
der Gerechtigkeit Gottes, ja an der Exiſtenz Got- 
tes taudyt in ihm auf, und die fchließliche „Er: 
löfung” betrifft deshalb auch nicht in erfter Linie 
die Miederherjtellung feines früheren Glüdes, 
jondern vielmehr die Auflöfung jenes grund- 
ſtürzenden Zweifels durch Gott ſelbſt, der fih 
ihm im Wetter offenbart. Wir jehen an dieſer 
Stelle klar, wie im Tpäteren Judentum dieſes 
legte und tieffte Problem der Religion in den 
Gefichtsfreis tritt. Noch bei den Propheten und 
in den Pfalmen fpielt es nur eine untergeordnete 
Rolle. Freilich enthalten auch diefe Schriften 
Stellen genug, wo der Verwunderung Ausdrud 
gegeben wird, daß es den Böfen hier oft jo aut 
geht und die Gerechten leiden müſſen. Aber 
itets ift die Antwort: wartet noch eine fleine 
Zeit, dann wird das Gericht hereinbrechen, Gott 
wird das Böſe beitrafen, die Guten zum Giege 
führen (zugleich das Bolt Sfrael zum Siege über 
die „Völker“) und fein Reich auf Erden gründen. 
Sei alfo fromm, „denn ſolchen wird es zuleßt 





2) „Furcht erſchuf zuerft auf Erden die Götter.” 


Das Problem des Uebels in der Welt. 7 


wohl gehen“. Der Prophet forfcht und fragt 
niht, ob man denn angefidhts des Unrechts 
in der Welt überhaupt an Gott glauben könne. 
Daß es einen Gott gibt, und daß Jahwe diefer 
Gott ift, der einzige Gott, das fteht ihm vielmehr 
von vornherein mit abfoluter Sicherheit feft, und 
die Frage, warum denn das auserwählte Bolt 
gerade jo viel leiden muß, beantwortet er durch 
den Hinweis auf die Sünden des Volles. „Kehrt 
euch wieder zu ihm (Jahwe), fo wird er fih aud) 
wieder zu euch ehren.” Auf diefem Stand- 
puntte ift das Judentum in der Hauptſache auch 
fiehen geblieben und mit ihm weite Kreife des 
Chriftentums aller Seiten. Das viel tiefer gra- 
bende Hiobsproblem haben im Alten Teftament 
offenbar nur wenige gejehen. 


Man tann die beiden Einftellungen in der 
Religion gegenüber dem Uebel als die fubjektive 
und die objektive bezeichnen. Bei der erfteren, 
die dem einfachen Menſchen immer am nädjiten 
liegen wird, handelt es fih im weſentlichen um 
. die Frage, durch welche Mittel die Religion prat- 
tifch das Uebel innerlich oder äußerlich zu über: 
winden verfpricht, — einerlei, ob dies Opfer, Ge- 
bete, gute Werte oder etwas anderes fein mögen. 
Wenn man auf diefem Standpunkte gelegentlich 
auch theoretifiert und Lehren über die Herkunft 
des Uebels aufftellt, jo tut man das dodh in der 
Hauptſache Deshalb, weil man fozufagen wie ein 
Arzt, der eine Krankheit heilen möchte, erft willen 
muß, woher die Krankheit eigentlidd kommt, 
wenn man ihr mit Erfolg zu Leibe gehen will. 
Das eigentliche Intereſſe aber bleibt immer bei 
der Frage: wie werde ich, oder wie wird mein 
Volt oder auch die Menfchheit vom Uebel frei? 
Wenn in chriftliden Kreifen fo oft die Rede um- 
geht, es tomme einzig und allein auf die Frage 
an: wie werde ih felig?, fo ift das ebenfalls 
folche rein fubjeltive Religion. Man vergibt nur 
zu häufig auf diefem Standpunfte, daß neben 
diefem für das einzelne Subjeft ja gewiß ent- 
fcheiwend wichtigen Problem das ebenfo große 
oder noch größere objektive jteht: wie wird es 
wahr, daß „Dein Wille gefchehe wie im Himmel 
alfo auh auf Erden“. Es ift doch eine timmer- 
liche Verengung .diejer die ganze Welt umfaffen: 
den Frage, wenn man fo tut, als ob mit der 
„Erlöſung“ diefer oder jener einzelnen Geelen 
dies Problem gelöft wäre. Biele Chriften tom- 
men in diefem Betracht in ihrem Leben nicht 
über den naiven religiöfen Egoismus des alten 
Judentums hinaus, das ganz damit zufrieden 
war, wenn es felber als „auserwähltes” Bolt 
fchließlich bei Gott zu Ehren und Glück tommen 
würde, die anderen Völker aber gerade gut ge- 
nug dazu wären, ihm als olie oder gar als 


Mittel zum Zwed eigenen Glüdes zu dienen. 
Dem wahrhaft Frommen dagegen liegt damals 
wie heute die Frage brennend auf der Seele: wie 
wird es mit den anderen, mit der Gefamtheit des 
in der Welt vorhandenen Elends und Unredts? 


Es darf wohl gejagt werden, daß heute nach 
dem Welttriege diefe Seite der Sache viel weiter 
in den Vordergrund getreten ift, als vordem. 
Wenn ſchon ein Goethe durch das Miterleben des 
Erdbebens von Liffabon ungläubig wurde, fo 
find in unferen Tagen unzählige ihm gefolgt, die, 
fei es an fid felber, fei es an lieben Angehörigen 
oder Befannten, die ganzen Schreden und Ginn: 
lofigfeiten des Krieges und der Nachkriegszeit 
miterleben mußten. Bor 20 bis 30 Jahren 
tonnte es fo fcheinen, als ob das Grundproblem 
der modernen religiöfen Bewegungen die Frage 
nah der Auseinanderfegung von Glauben und 
Willen fei. Jn jeder Freidenkerverſammlung 
tonnte man damals hören, daß die Willenfchaft 
den Glauben aufs Altenteil gejeßt habe. Wenn 
nun diefe Art Beweisführung auch heute feines- 
wegs ganz aufgegeben ift, fo ift fie Doch ver- 
hältnismäßig in den Hintergrund getreten gegen- 
über der aus dem fogenannten Problem der 
Theodizee‘), gefhöpften. Sn überaus ges 
ſchickter Verquickung mit politifchen Strömun- 
gen, vor allem mit pazgififtifchen und internatio- 
nalen Bejtrebungen wird heute den breiten Maf- 
fen die Unfinnigfeit des Gottesglaubens dadurd 
dargetan, daß man auf den anſcheinenden Wider: 
iprud) des Uebels in der Welt gegen Gottes All⸗ 
maht und Allgüte Hinweift. Er habe die Welt 
geichaffen, aber fei felber mit ihr nicht zufrieden, 
er folle allgütig fein, aber ſehe es mit an, daß 
tagtäglich feine Geſchöpfe fih in Schmerzen und 
TZodesqualen winden uſw. Natürlich find diefe 
Einwände fait fo alt, wie die Religion fetber, 
aber fie find heute fchlagfräftiger denn je. Die 
von ihnen fanatifierten Mafjen find, wie jeder, 
beftätigen wird, der einmal ſolche Verſammlun— 
gen mitgemacht hat, blind und taub für jedes 
entgegenftehende Argument. Aber auch außer: 
halb diefer von geichidten Agitatoren verhekten 
Kreife fteht ohne Zweifel das hier vorliegende 
Problem heute im Bordergrunde alles religiöfen 
Intereſſes. Das ftarte Vordringen des Buddhis- 
mus im gebildeten Europa |pricht eine deutliche 
Sprade, ebenfo wie die unbezweifelbare Nei- 
gung der Bebildeten zu moniftifch-atheijtifchen 
deen, die keineswegs nur auf das in feiner Un- 


3) Der Ausdrud „Theodizee“ ift durch Leibniz zum 
religionsphilofophifhen Kunftausdrud geworden. Er ift 
von den griehiiden Wörtern theos — Gott und 
dikaiun — rechtfertigen abgeleitet. Es handelt fih um 
die „Rechtfertigung Gottes” angefidts des Weltübels. 


8 Das Problem bes Uebels in der Welt. 


zulänglichkeit doch allzu leicht zu dDurchichauende 
Argument zurüdzuführen ift, die moderne Nas 
turwiffenfchaft widerfprehe dem Glauben an 
einen allmädtigen Gott. Man lefe zum Bei- 
ipiel einmal Fr. Th. Viſchers befannten Roman 
„Auch einer“. Seine weite Verbreitung dürfte 
nicht zum wenigften darauf zurüdzuführen fein, 
daß er das Problem der Theodizee fo rüdfichts- 
los anpadt. Wehnlich Steht es mit Frenſſens 
„Jörn Uhl“ und noch ftärker tritt das genannte 
Problem in deffen neuften Roman: „Der Paftor 
von Poggſee“ hervor. Wir haben alle Urſache, 
diefe Entwidlung der Dinge gu begrüßen. Denn 
die unzähligen Erörterungen über das Problem 
„Glauben und Willen“ waren doh im Grunde 
recht oberflächlicher Art. Hier Dagegen greifen 
wir tatfächlic) in die legten Tiefen der Religion 
hinein, in Tragen, die feit Jahrtaufenden wahr: 
haft religiöfe Menſchen aufs tieffte bewegt haben. 

Auf der Seite der fubjeltiviftiichen Yrömmig- 
feit wird man nun troßdem geneigt fein, mit 
einem gewiſſen wohlwollenden Lächeln zu jagen 
oder zu denken: ja quält euch nur mit jeldyen 
theoretifchen ragen ab, es nügt euch ja doh 
alles nichts, ihr löft fie fo wenig w'e Hiob, ein 
Auguftin, ein Quther, ein Leibniz fie gelöft haben. 
Und wenn es ſchließlich um euer eigenes Seelen: 
heil geht, dann wird es euh doch verzweifelt 


gleichgültig werden, wie eine ſolche theoretiſche 


Trage etwa zu löſen fei. — Nun ift natürlid) 
an diefer Stellungnahme foviel richtig, daß mich 
perfünlich, prattifh genommen, feine noh fo 
ichöne Theorie über Urfprung und metaphyſiſche 
Bedeutung des Webels erlöft. Wer einmal vor 
dem Abgrunde des Nichts felber geftanden hat, 
der weiß, daß alles Willen, Theoretifieren und 
auh Mitfühlen mit anderen die eigene Schuld 
nicht tilgt und die eigene Seele nicht erlöft. Er 
tann es begreifen, daß Menjchen, die jehr ftart 
diefe innerften religiöfen Erfahrungen an fih 
felber gemacht haben, nichts anderes in der Re- 
ligion mehr fennen und hören wollen, daß fih 
ihnen Religion auf diefes Subjeftive, Innerliche 
allein konzentriert. Allein eine gerechte und 
nüchterne Erwägung aller Umftände muß uns 
doch dazu führen, über folden bloßen Subjek— 
tivismus binauszuftreben. Wir find eben nicht 
allein in der Welt, fondern fie felber, diefe Welt, 
ift auch da; nicht nur mit den anderen Men: 
jhen, fondern mit allen anderen Geichöpfen. 
Sollen wir dem großen Schöpfer Himmels urd 
der Erden diefe feine Schöpfung ſozuſagen vor 
die Füße werfen? 
Darum los von ihr und aus ihr geflüchtet in 
Das Innere, das uns fein äußeres Schidfal neh: 
men fann! Los von der intelleftualiftijchen 


Gie taugt ja dodh nichts? 


Theologie! Nur das Srrationale gilt, das mit 
Begriffen doch nicht ausfchöpfbare echte Leben! 
So heißt es heute in weiten Kreifen bei Theo- 
logen und Laien. Gie bedenken nicht, daß es 
immer eine Gelbittäufhung ift, wenn man 
glaubt, ohne die Vernunft Religion oder font 
irgend einen geiftigen Befiß irgend welcher Art 
haben zu können. Der Menſch als Bernunft- 
weſen tann gar niht anders, als nad) Gründen, 
d. h. nah Vernunfterwägungen leben und han- 
deln. Diejenigen, die meinen, im religiöfen oder 
im fonjtigen geiftigen Leben ohne diefe austom- 
men zu können, haben in Wahrheit ftets auh 
irgend eine Theorie, nur nicht die zu ihrer Zeit 
gerade übliche und herrichende, fondern zumeijt 
einfach eine viel primitivere. Die Ablehnung 
der fomplizierteren Theorien halten fie dann für 
Ablehnung aller Theorie überhaupt, während fie 
in Wahrheit nur auf ein früheres Stadium zu- 
rüdgefallen find. Jn unferen fubjettiviftifchen 
religiöfen Kreifen herricht, wie jeder weiß, der 
einmal hineingelehen hai, aumeift eine höchſt 
primitive Theologie. Intern man fich kei diefer 
beruhigt, bildet man ſich ein, überhaupt leme 
Theologie, fondern nur „religiöfes Leben” zu 
haben, — eine arge Selbſttäuſchung. Es gibt 
gar teine Religion ohne Theologie, fo wenig wie 
ee Menichen gibt, die blos wollend und fühlend 
und bandelnd, aber gänzlich ohne Denten durdys 
Leben gehen fünnten. „Wer zu Gott will, der 
mup glauben, daß er fei“, jagt [hon der Hebräer- 
brief. Dan mag wollen oder nicht: Man hat 
mit dem Glauben notwendig zugleich aud irgend 
welche theoretifche Meinungen und Anficdhten und 
zwar ftets auch nicht nur über fich felber, ſondern 
auh über die anderen Menfchen, bezw. über die 
Bejamtheit der Welt. — Die Einfchräntung der 
Religion auf die rein fubjeftive Sphäre ift aber 
nicht nur ein in fich felber unmögliches Beginnen, 
fie widerfpricht auch dem eigentlichen Wefen der 
Religion, zum wenigiten der dhriftlichen, deren 
oberftes Prinzip die Liebe ift. Wer fidh Telber 
und die wenigen anderen Auserwählten als 
alleiniges Objekt des göttlichen Heilsplanes an= 
fieht, dem fehlt noch das UBC des Chriftentums. 
Aus allen diefen Gründen muß alfo dagegen ent» 
ſchieden protejtiert werden, daß man auf jener 
Ceite die Befchäftigung mit folchen Problemen 
wie dem vorliegenden für zweckloſes und religiös 
gänzlich wertlojes Theoretifieren auszugeben ge= 
neigt ift. Wer einmal mit fchwer durch Leid, 
Ipd oder Sünde anderer angefochtenen Menjchen 
au tun gehabt hat, fühlt ohne weiteres, wie tief 
das Problem der Theodigee mitten in das ieben= 
digite religiöfe Leben hineingreift. Es ift eben 
fein blafjes Theorem, fondern Wirklichkeit, oft 


Aftronomie und Weltanfhauung bei griechiſchen Philofophen. 9 


Ichredliche und erfchütternde Wirklichkeit, in der 
es uns im Leben des einzelnen oder der Völker 
entgegentritt. Wie vielen hat das Qos unferes 
Volkes, das doh auch im Vergleich gu der wirt: 
fihen Schuldverteilung völlig unverdient er- 
Icheint, faft das Herz abgedrüdt! Ift das aud) 
bloße Theoretifiererei? Nein, wir müffen tlar 
ins Auge faffen, daß hier niht nur ein, fon= 
dern das Problem der heutigen Religion liegt. 
Nur die Religion und die Kirche, die hierauf 
eine befriedigende Antwort haben, werden fih 
wieder im Bolte durchſetzen. Jede andere ift 
von vornherein zum Konventikelweſen verur: 
teilt. Nun wird man vielleicht dies zugeben, 
aber fagen: andere Antworten als die, die feit 
Sjahrtaufenden auf diefe Fragen erteilt worden 
find, wird die Menfchheit heute auh nicht finden, 
gehe alfo jeder zu einer der längft vorhandenen 
religiöfen Strömungen, die ihm am meiften gu- 
fagen, es fei nun der buddhiftifche Peſſimismus 
oder der perſiſche Dualismus oder der chriftliche 
Kompromiß zwifchen pefjimiftifhem Dualismus 


und optimiftifdem Monismus oder was fonft. 
— So ficher es nun zwar ift, daB wefentlihe neue 
Löfungen des Problems nidt mehr gefunden 
werden können, und daß andererfeits auch nie- 
mals alle Menfchen fih auf eine einigen werden, 
vielmehr jtets der eine hierhin, der andere dahin 
durd feine gange Art und Anlage und feine pers 
jönliden Lebenserfahrungen gezogen werden 
wird, fo ficher ift es doh aud auf der anderen 
©eite, daß im einzelnen die Verkettung der zahl. 
reihen im Problem der Theodizee ſteckenden 
Unterfragen fih im Laufe der Zeiten ganz we: 
ſentlich verſchoben hat, fo daß manche Gedanten- 
gänge, die noh zu Seiten Luthers höchſt ein- 
leuchtend erfcheinen konnten, heute ganz undurd) 
führbar find. So einfach werden wir alfo mit dies 
fen Fragen nicht fertig, wie mander dentt. Wir 
werden das am flariten erfennen, wenn wir von 
den Gedanken ausgehen, die gejchichtlidy für un- 
jere abendländifche Chriftenheit die maßgeblichen 
geworden Sind. 


(Fortfegung folgt.) 


Aftronomie nnd Weltanfhauung bei griechiſchen Pille 


fophen. Bon Dr, Paul Meth. 


„Darum verfentt, wer im ungefchlichteten Zwiſt 
der Völfer nah geiftiger Ruhe ftrebt, gern den 
Blid in der heiligen Naturfräfte ftilles Wirken, 
oder hingegeben dem angejtammten Triebe, der feit 
Sahrtaufenden der Menden Brult durdglüht, 
blidt er ahnungsvoll aufwärts zu den hohen Ge- 
ſtirnen, welde in ungeftörtem Einklang die alte, 
ewige Bahn vollenden “ 

Alerander v. Humboldt, „Anfichten der Natur”. 


Das ftille Wirken der heiligen Naturfräfte, von 
dem Humboldt fpricht, hat fidh in der unbelebten 
Natur dem Menfchen ohne Zweifel beim Anblid 
des gejtirnten Himmels zum erjten Male offen- 
bart, denn in jenen unerreichbaren Höhen er- 
fannte er Vorgänge von unbedingter Regel- 
mäßigfeit, die ihm Tag und Nacht, Monate und 
Jahreszeiten brachten. Längſt ehe die einfachſten 
Geſetze der Lehre vom Gleichgewicht oder von 
der Lichtbewegung befannt waren, zu einer Beit, 
als noch alles Naturgejchehen auf der Erde dem 
Menfchen ein fortwährendes „Wunder“ und der 
Ausfluß einer ausgefprochenen Willfür zu fein 
frhien, da belehrte fchon eine durch Jahrhunderte 
fortgefegte Beobachtung des Sonnen- und Mond- 
laufs den Menfchen, daß „Satzungen“ oder „Ge: 
fege” auch für die Natur gefchrieben fein müjjen 


und nicht nur von Menfchen für das Zufammen: 


leben im Staate gejchaffen worden find. „Der 


Menſch war voll Unruhe und Furdt, jo lange er 
die Gejegmäßigkeit in der Natur noch nicht er- 
tannt hatte“, lefen wir bei dem indifchen Weifen, 
Tagore, in „Sadhana”. Bertrautheit mit einer 
Erſcheinung ftellt das innere Gleichgewicht wieder 
her. Die Furt vor den Sonnen: und Mond: 
finfterniffen verfjchwand, als man fie vorauszu>- 
fagen lernte. Das Naturgefe ift ein Gejchent 
der Aftronomie. Aus den Sternen hat der 
Menfch in alter Zeit die erften Naturgejeße ab- 
gelefen; die aus der Himmelsbeobachtung gefun: 
dene Gejegmäßigteit hat ihn zu den erften rid- 
tigen Vorherfagen befähigt. Im zweiten Jahr: 
taufend vor Chriftus verstanden chinefifche Aftro- 
nomen fchon Finjterniffe anzufündigen, und der 
Staat ftellte aus religiöfen Gründen fo hohe UAn- 
forderungen an die Zuperläffigfeit der Voraus: 
jagen, daß einmal zwei Hofaftronomen in China 
hingerichtet wurden, weil fie fih und das Land 
con einer Finſternis hatten überrafcdhen laffen. 
Auch die babylonifchen Priefter, die zugleichAſtro⸗ 
nomen waren, hatten durdy Jahrhunderte lang 
fortgefegte Beobachtungen eine regelmäßige 
Reihenfolge von Finfterniffen entdedt. Der 
Milefier Thales, welcher auf feinen Reifen aus 
dem Born babylonifcher Sterntunde gejchöpft 
hatte, fonnte im fiebenten Jahrhundert vor Chri- 


10 Aftronomie und Weltanſchauung bei griechiſchen Philofophen. 


ftus zum Staunen feiner Landsleute eine Son> 
nenfinfternis vorherfagen. 

„Geſetze“ des Staates kannte auch der jchlich- 
tefte Verftand, ihren „Zwang“, die „Anangke“, 
wie der Grieche fagte, lernte er am eigenen Leibe 
tennen, wenn er fih dagegen aufbäumte. Da⸗ 
gegen hielt der Grieche der älteren Zeit die Göt- 
ter für vollkommen frei in ihrem Handeln. Erſt 
eine ſehr tiefgründige Auffaffung erfand aud) für 
die Ueberirdiſchen die Notwendigkeit oder 
„Anangke“. Damit war ein Uebergang zu der 
von den Göttern beherrichten Natur geichaffen, 
und vorſichtig taſtend ebneten wenige ganz er- 
feuchtete philofophifche Köpfe einer ſpäteren Cr- 
fenntnis die Wege, indem fie den Begriff des 
Zwanges aus dem Bereich des menfclichen Qe- 
bens auf die Naturvorgänge übertrugen. Diefe 
Mebertragung blieb aber zunächſt ein fühnes Hin- 
eindeuten menjdlicher Berhältnifle in die Natur, 
und es mußten fhon überwältigende Gründe zu 
diefer grundfäglid neuen Auffafjung drängen. 
Wir dürfen von unjerem Standpunfte aus ge: 
radezu jagen, daB fih der Weife von dem Unge- 
bildeten dadurch unterfchied, daB jener aus den 
Naturerfcheinungen das Wunder fortzudenten 
vermochte, womit aber nicht gejagt fein foll, daß 
er im Beſitze wiſſenſchaftlicher Erklärungen ge- 
wejen wäre: Er glaubte nur an das Beftehen 
notwendiger Verknüpfungen. An die Stelle eines 
findlihden Wunderglaubens tritt die Forderung 
einer allgemeinen Geſetzmäßigkeit. In diefer 
Weltanfhauung ift nicht Plaß für ein freies, un- 
gebundenes Walten untergeordneter Naturgötter, 
jondern der Welt ift eine „Ordnung“ durch eine, 
im einzelnen unbefannte Macht aufgezwun« 
gen. Schon im Trührot der alten ionilchen 
Naturphilofophie taucht diefer Gedanke auf, um 
von da an mehr und mehr in den Mittelpunft des 
Nachdentens über den „Kosmos“ zu Ireten. 
„Kosmos“ heißt in der griedhifchen Sprade ge: 
radezu „Ordnung“ und die griechifchen Denter 
fonnten dem Weltall feinen ausdrudspolleren 
Namen als die Bezeihnung „Kosmos“ geben. 
Denn das AU ift für fie die Verförperung der 
Ordnung fchledthin. Die Gefege der Ordnung 
zu finden, war und blieb die Aufgabe; die Ueber: 
zeugung von dem Beitehen der Geſetzmäßigkeit 
ward zu einem Forichungsgefichtspunft, der mit 
mehr oder weniger Blüd angewandt wurde. Und 
je mehr die Naturgefege als feft verankert im 
Weltall gefühlt wurden, um fo weniger blieb 
neben dem Weltenſchöpfer (Platons Demiurg) 
Platz für einen reih bevölkerten Götterhimmel. 
Die in der Aſtronomie entdeckte Weltordnung 
führt zum Glauben an eine Gottheit und in der 


Geijteseinftellung der Materialiften — Demotrit 
— zur Leugnung alles Böttlichen. 

Der Glaube an Geſetze, welche die Natur be- 
jtimmen, war im Anfang noh faſt bar eines 
greifbaren Inhaltes. Durch ein „faft bewußt: 
lojes Gefühl höherer Ordnung und innerer Ges 
jegmäßigfeit fanden die Menfchen durch lange, 
mühevoll gefammelte Erfahrungen dasjelbe Welt- 
bild, nämlich die „„Ordnung“” wieder, was fon 
Jahrtauſende vorher die erleuchtetiten Geifter 
vorhergeahnt hatten” (U. v. Humboldt, Kosmos, 
Bd. I, Anfang). Da aber dies Fühlen eines Welt- 
gejeges der Betrachtung der Geftirne entiproffen 
ift, jo nehmen die aftronomifchen Gedankenreihen 
in den Lehren gerade der bedeutendften griechi— 
ſchen Weifen eine hervorragende Stellung ein. 
Die „Welt-Anſchauung“ befommt einen doppelten 
Ginn, entiprechend der eigentlichen Wortbedeu- 
tung: einen ethiſchen und aftronomifch-natur- 
naturphilofophiichen. Die Aſtronomie ift ein An- 
{hauen der großen Welt, des Mafrofosmos. Die 
mafrofosmifche Denkweiſe ift bei vielen Philo- 
jophen charafteriftiih für die Weltanſchauung 
über das Menſchenleben, den Mitrofosmos. 
Philofophifche Leitfäße finden ebenfo Anwendung 
auf den Menfchen wie auf die Einrichtung und 
Erklärung des Kosmos. Die Lehre vom Weltall, 
die Aftronomie, ift ein wichtiger Beftandteil vieler 
philofophifcher Syfteme, fo daß wir die Grund- 
gedanfen der Weltanfchauung in volliter Rein 
heit hervortreten jehen, wenn wir das Weltge- 
bäude anjchauen werden, das der PBhilofoph fih 
aufgebaut hat. Die Philofophen, bei denen wir 
die Zufammenhänge der Mitronomie und Welt: 
anſchauung aufſuchen wollen, find meilt Cr- 
foríher der Natur und des Menfchen; daher 
rundet das Bild des Kosmos als lebter, groß: 
artiger Hintergrund ihre Lehre ab, die dadurch 
etwas bewundernswert Gefchloffenes erhält. Die 
ethifche Einjtellung wird kosmiſch und die ftos- 
mifche Erkenntnis wurzelt in gewillen mehr 
ethiſch empfundenen als im modernen Ginn 
naturmiljenfchaftlih begründeten Leitgedanten 
und Erfahrungen. Während wir uns heute aus 
einer Fülle von Beobachtungen an der Hand 
hochentwidelter mathematifcher Hilfsmittel ein 
aftronomifches Weltbild jchaffen, fehlte den älte- 
ren Griechen zu diefem auffteigenden Verfahren 
jede Borausfegung. Erft in der fpäteren, foge- 
nannten helleniftifhen Beit beginnen die regel- 
mäßig vorwärtsichreitenden aftronomifchen Be- 
obadytungen, die zu Geſetzen verknüpft werden. 
Der ältere Philofoph empfand aber diefen Mans 
gel an Tatfachenmaterial nicht zu ſchwer; eine 
ſtarke Phantafie und ein zielficherer Inſtinkt 
mußten fehlende Beobachtungen erfegen. Cein 


Aftronomie und Weltanfhauung bei griechiſchen Phitofophen. 11 


Wille zur Macht auf geiftigem Gebiete eroberte 
fih in dem unbefismmerten Draufgängertum 
eines reinen olgerungsverfahrens den Qos- 
mos, fei es auch in unbedenklicher Erweiterung 
von Gejeßen des Mikrokosmos auf das AU. Als 
ein glüdlicher Einfall diefer Arbeitsmweife er- 
ſcheint uns die aſtronomiſche Anficht Anariman- 
ders (um 600 vor Chriftus), welcher die Erde 
im fugelförmigen Weltall {hw eben läßt. Wie 
body ſteht diefe Erkenntnis über der fpäteren 
Lehre eines Ariftoteles, der ein endgültiges 
Oben und Unten annimmt! Durd eine mert- 
mwürdige Verquidung von Falſchem und Rid- 
tigem fommt Anaragoras zu diejer Lehre von 
der frei fchwebenden Erde, für feine Zeit ein 
Bedankte von großartigem Schwung: Er fegt 
nämlidy in unbefümmerter Selbitverjtändlichkeit 
die Erde zunächſt in die Mitte der Welt, das 
Weltall aber nimmt er fugelförmig an. Beide 
Borftellungen erfordern noch einen wichtigen 
Zuſatz: Die Erde ift nad) allen Seiten hin von 
der Weltkugel gleich weit entfernt, es fehlt alfa 
nah Anarimander ein zureichender Grund da- 
für, daß die Erde nad einer Richtung fallen 
folle. In diefer Lehre liegt der Keim zu allen 
folgenden Entwidlungen; denn es mußte erft 
einmal die Loslöfung des Erdtörpers von dem 
Himmelsgewölbe als Glocke vollzogen werden, 
che weitere Fortfchritte der Aftronomie möglich 
waren. Anarimanders Lehre über das Welt- 
all find auch an einem anderen Punkte für uns 
febr intereffant, nämlich darin, daß er die Welt 
aus einem Urftoff entjtehen läßt, der noch feine 
unterfchiedenen igenfchaften aufwies. Die 
„Schöpfung“ befteht in der Entwidlung von ver- 
fhiedenartigen Stoffen und Formen aus dem 
Urſtoff. Diefe Neubildung alfo Schöpfung, 
Schreitet immer noh weiter fort und ift nidht 
mir einem einmaligen Schöpfungsaftt beendet. 
— Das find Gedanken von ganz neugeitlicher 
Sarbung, durchaus denen in Kants „Naturge- 
Ihichte des Himmels” verwandt. Auch Kant 
betont, daß die Entwidlung aus dem Urnebel 
an vielen Stellen des Weltalls weitergehe, daß 
die Schöpfung fortichreite. Rant vermag immer: 
þin auf die Nebelflete hinzuweiſen, die uns 
Welten im Entjtehungszuftande ſehen laffen: 
Anarimander fehlte jede Erfahrungsunterlage, 
feine Weltentftehungslehre leitet fih aus feinem 
allgemeinen naturphilofophifhen Anſatz, der 
Lehre vom Uritoffe, ab. 

An Kant und Laplace erinnert auh die Lehre 
vom „Urfeuer” des etwa hundert Jahre jünge- 
ren SHeraflit aus Epheſus, eines Soniers wie 
Anorimander. SHeraklit läßt die Welt aus dem 
Urfeuer entjtehen, aber auch wieder dahin zu— 


rüdfehren. Der zweite Gedanke ift ebenfalls 
von Kant ausgefprochen worden, allerdings in 
viel beftimmterer Form. Nach Kant laffen fih 
phyſikaliſche Gründe dafür angeben, daß die 
Planeten einmal in die Sonne ftürzen müffen. 
Heraflit fieht weiter im Weltuntergang die 
Notwendigkeit zu neuem Entſtehen. Das 
Rätſel der Ewigkeit löft er in großartigem Ge- 
dantenfluge durch die ewige. Aufeinanderfolge 
vergänglicher Welten, die fih in ungeheuren 
Zeiträumen aus dem Urfeuer neu bilden, um. 
immer wieder ins euer zurüdgufehren. Unbe: 
ſchwert von dem uns heute hemmenden Energie: 
zerjtreuungsgejeß gibt der Ephefier in feiner 
Weltentftehungslehre gang dem inneren Drange 
nah, der eine ewige Welt verlangt. Der 
Bedankte der ewigen Wiederkehr hat auch [pätere 
Philofophen aus- der Klemme gerettet, in Die 
man zwijchen den beiden der Welt zugefchriebe- 
nen Eigenfchaften gerät: Veränderlichkeit und 
Bergänglichleit gegenüber der Cmwigfeit als 
Horderung. Eine einmalige Cntwidlung mit 
Anfang und Ende wäre nur wie ein einmaliger 
Pulsſchlag oder wie ein einmaliger Ausichlag 
eines Pendels, das durh Reibung nad) dem 
eriten Anftoß zur Ruhe kommt. Alfo Todes- 
ruhe vor der Schöpfung und nah dem Unter- 
gange. Wenn felbft das Leben des Weltalls 
zwilchen Anfang und Ende nod fo viele Beit- 


räume dauerte, jo wäre diefe — endliche — Beit 


ein Nichts zwiſchen den Ewigkeiten des Todes- 
Ichlafes. Aehnliche Gedanken werden Heratlit 
und feine Nadjfolger gedrängt haben, eine ewige 
Wiederholung des Weltgefchehens anzunehmen. 
Daß die Griechen den Ephefier den „Dunklen“, 
das heißt den fchwer Berftändlichen, nannten, 
wird uns niht Wunder nehmen, wenn wir das 
merfwürdige Wort, von ihm hören: „Die Sonne 
wird ihre Maße nicht überfchreiten. Täte fie 


es, jo würden die Rachegöttinnen fie ereilen, die 


Helferinnen des Rechts.” Hier haben wir die 
vorher angekündigte und für die alte Natur- 
philofophie höchſt bezeichnende Gegenüberitel- 
lung, ja Gleichſetzung von ethifchen Vorfchriften 
und aftronomifchen Gefegen. Nur von einem 
Standpuntt, der weit über den ſchlichten und 
wunderfreudigen Götterglauben der älteren 
Briechenzeit hinausging, war der tiefe Sinn des 
Ausſpruchs zu fallen. Durch die ganze Welt- 
anſchauung diefes Philofophen geht ein jtarfes 
Gefühl für Recht und Gejeß; und wie die Rache: 
göttinnen feine Weberjchreitung des morali: 
ſchen Gefeges zulafien, walten fie auh über 
der ftrengen Gejegmäßigkeit des Himmels. 
Inhaltlich ift es diefelbe Gegenüberftellung wie 
in dem berühmten Kantjchen Worte: die immer 


12 Aftronomie und Weltanfehauung bei griechiſchen Philofophen. 


neue Bewunderung vor dem „moralifchen Geſetz 
in mir” und dem „geftirnten Himmel über mir“. 
Der Philofoph des Altertums verfügt noch nicht 
über eine entwidelte Sprache der Wiſſenſchaft; 
daher überträgt er mit dem Begriff auch die 
Worte aus der menfchliden Sagung, wenn er 
von „SHelferinnen des Rechts” ſpricht. Wir 
fagen heute „Naturgefeße”. Für feine Zeit 
liegt aber das Neue darin, daB die Sonne fol- 
chen Gefegen unterworfen fein fol. Die allge- 
meine Weltanfhauung, die aus allen Worten 
Heroklits zu uns fpricht, verleugnet fih auch nicht 
ın der Naturmiffenfchaft und führt ihn auf einen 
Meg, der fpäter zu Begriffen wie „Urſache und 
Wirkung“ und legten Endes bis zu unjerem 
Standpunft hinleitet, wo ein „Energiegefeß“ die 
Entwidlung, alfo die „Maße“ der Sonne be: 
ſtimmt. Mir gehen alfo nicht fehl, wenn wir 
aus dem „dunklen“ und darum ausdeutungs- 
fähigen Ausfpruche eine Lehre der Wllbejeelt- 
heit herausfefen. Es mag wohl eine tiefere Ab- 
fiht den für Menfchen beftehenden Begriff des 
Rechts auf die Sonne übertragen haben, um fie 
damit unter die jelbjtbewußten Weſen einzu: 
reihen. 

Bom Often des damaligen griechifchen Kultur- 
freifes wenden wir uns nun zu den entgegen: 
gefegten griechiſchen Kolonien in Unteritalien, 


wo Pythagoras (er war im Often, auf der 


Sinfel Samos, um 550 vor Chriftus geboren) 
lehrte und Schule machte. Die pythagorätjche 
Aftronomie hat ihre höchjte Vollendung im Lehr: 
gebäude des Pythagoräers Philolaos gefunden. 
Bei der unbedingten Geltung, die jedes Wort 
des Meifters unter feinen Schülern befaß, ift 
anzunehmen, daß Philolaos' Lehre in allen 
mwefentliden Zügen auf Pythagoras felber gu- 
rüdgeht, fo wie die ganze Ethik der Pythagoräer 
vom Gründer ihrer Schule fejtgelegt und von 
feinen Jüngern und Nachfolgern peinlich be- 
obachtet worden ift. Für unferen Jwet ift es 
gleichgültig, ob die eine oder andere ajtronp- 
mifche Lehre vom Gründer der Schule herrührt 
oder Zutat fpäterer Pythagoräer ift. Das 
Syitem der Welt, das Philolaos gelehrt hat, 
gilt uns als „pythagoräifch”, und wir wollen die 
gemeinfamen Fäden auffuchen, die das Welt: 
bild der Pythagoräer und ihre ethilche Einjtel: 
lung verbinden. 

Man findet bei Heraklit und Pythagoras einige 
verwandte Gedanken; es gilt niht als ausge: 
Ichloffen, daß Heraflit von den Lehren des um 
etwa fünfzehn Jahre älteren Pythagoras Kennt: 
nis erhalten hat. Bon einzelnen Zügen abge- 
ſehen find jedoch die Weltanfchauungen beider 
PBhilofophen fehr verfchieden. Jn feinem philo- 


fophifhden Syftem des Wltertums fpielt Die 
Aftronomie eine fo große Rolle wie im pythago> 
räifchen, und in feinem Syſtem find die Grund- 
ideen über die menfchlicye Natur und das Leben 
jo eng mit Anfcdyauungen über das Weltall zu 
einem farbenpräcdtigen Gewebe verflodhten, aus 
dem wir die fchönften Fäden löfen würden, wenn 
wir die Mitronomie daraus entfernten. Auf 
aftronomifchen Erkenntniffen ruhen die Grund» 
pfeiler diefer Lehre und eine erjtaunlidy weit 
durchdachte, phantafievoll ausgeſchmückte Aſtro⸗ 
nomie trönt niht nur die pythagoräiſche Natur: 
philofophie, fondern au — fo [onderbar es 
tlingt — den ganzen Bau der Ethit mit. Man 
bekommt den Eindrud, als fei der Unblid des 
geftirnten Himmels das Urerlebnis gewefen, aus 
dem der Philofoph feine Lehre geichöpft hat. 
Pythagoras’ Lehre von der Sphärenharmonie 
zeugt am lautelten von feiner verzüdten Begeie 
fterung und Bewunderung über das Weltall, 
vor deffen überwältigend fchöner Ordnung der 
Weiſe feine tieffte Frage Stellt: Was ift diefe 
Regelmäßigfeit und Gefegmäbigteit des Welt- 
alls, deren Erkenntnis zu einem tiefinneren Er- 
febnis wird? Pythagoras gibt fih felbft die 
Antwort: Die „Zahl“ ift der Urgrund der Welt- 
gefege und damit das Wefen aller Dinge über: 
haupt. Das Wefen diefer legten Geſetze liegt 
darin, daß es durch Zahlen zu fallen ift Die 
NRegelmäßigkeit des Kosmos ift durch Zahlen 
auszudrüden. Wer die Zahlengejeße der Welt 
þat, begreift die Welt und verjteht die Geheim: 
niffe des Weltalls. Die höchſte Naturbegeifte- 
rung mündet in eine beinahe verftandesmäßige 
Löfung aus. Das ift das Reizvolle der pythago— 
räilchen Beifteseinjtellung. 

Die Zahl ift ein Erzeugnis des menfclichen 
Geiftes, und wenn die Welt, wie Pythagoras 
will, nad) einfachen Zahlengefegen aufgebaut ift, 
Io fordert er damit die Begreifbarfeit der Welt. 
Mit diefer Ansicht Jchafft er die Vorbedingung 
tür jede erafte Naturwiſſenſchaft im modernen 
Einne, das heißt für eine Befchreibung der Na: 
turvorgänge durch mathematische Formeln. Die 
ssormellprache fannte zwar das Altertum nidt, 
und feßte an ihre Stelle die geometrifche Figur. 
Œs ift aber durchaus pythagoräijch gedacht, wenn 
die griechifche Afironomie die Planetenbemegung 
durch Kreiſe oder Verbindungen von joldyen 
(Epizyfeln) zu erklären verfuchte. Auch die heu— 
tige Aſtronomie verdant: die Entdedung der 
arundlegenden Gefete der Bewegungen im Son— 
nenfyftem dem Streben, Zahlenharmonieen 
oder einfache, durch Zahlen ausdrüdbare Regeln 
für die Abftände und Gefchwindigkeiten im Pla- 
netenſyſtem zu finden: Kepler, der Entdeder die- 


Tehnifhe Anwendungen der Lichtinterferenzen. 13 


fer Brundgejege, war ebenfo wie Pythagoras 
von der Eriftenz folder Zahlenharmonieen 
durchdrungen. Diefer pythagoräifhe Gedante 
ijt einer der fruchtbariten für die Entwidlung 
der Himmelstunde geworden. Auch die pytha- 
goräiſche Aitronomie beruht ganz auf diefem 
Bedanten wie auf einem Glaubensfaß: auf der 
unbedingten Heberzeugung, daß die Natur nur 
jo fein fönne, weil fie fonft nicht fo ſchön und 
volltommen märe. Aber während Kepler 
Veltgeſetze von diefer feiner Einftellung der 


Seele aus fand, blieben die pythagoräiſchen 
Spekulationen über den Bau des Weltalls nur 
erfolgloje Zahlenzufammenftellungen. Das lag 
eben an der Methode. Der Grieche konnte und 
wollte nicht erperimentieren, aber die Natur 
laßt fih nicht aus allgemeinen Süßen erfchließen. 
Die Zahlengefege des pythagoräilhen Welt- 
bildes find daher noch von einer kindlichen Ein- 
fachheit, Die gegen die Keplerſchen Geſetze recht 
augenfällig abjticht. 
(Fortſetzung folgt.) 


zehniihe Anwendungen der Lichtinterferenzen. A 


Bon Dr. 


Cine große Reihe optifcher Erfcheinungen ift 
durch ihre technifchen Anwendungen auch weite: 
ren Kreifen der gebildeten Laienwelt befannt ge- 
worden. Darunter gehören zum %Beifpiel Die 
Epeftralanalyfe in ihrer reichhaltigen und frucht- 
baren Auswirkung, die Schlierenmethode, Die 
verichiedenen Arten der Bernrohrkonftruftionen 
nebjt allen ihren Verbeſſerungen, die Lichtitärte- 
mejjungen und dergleichen mehr. Weniger be- 
konnt find die Interferengerfcheinungen in ihrer 
Anwendung auf technifche Probleme, obwohl 
doch deren phyſikaliſche Eigenschaften nicht gerade 
|hwieriger zu verftehen find als etwa die der 
arbenfrohen PBolarifation. 

Interferenzen treten auf, wenn fih Zichtwellen 
gegenfeitig fo übereinander fagern, daß fidh die 
einzelnen Bhajen der Wellenbewegung auslöfchen 
oder verftärten. So ift die paradore Erjcheinung 
möglich, daß Licht zu Licht gebracht Dunkelheit 





x 


|| 


er O 


IIIIII 





Gelfert. 


ergeben kann (Fig. 1). Das iſt aber nur dann 
der Fall, wenn man homogenes Licht von gleicher 
Wellenlänge verwendet. Als ſolches hat man 
zunächſt Natriumlicht benutzt; gegenwärtig ver— 
wendet man mit größerem Vorteil das Licht 
einer Queckſilberbogenlampe oder einer Neon— 
röhre; auch Cadmium- oder Heliumröhren haben 
günſtige Ergebniſſe geliefert. 

Je nach der Beſchaffenheit und Lage der zur 
Interferenz benutzten Platten erhält man Inter— 
ferenzen gleicher Neigung oder Interfe— 
renzen gleicher Dicke. Die erſteren entſtehen 
an genau planparallelen Glasplatten, letztere an 
ſolchen, die ſchwach keilförmig gegeneinander ge— 
neigt find. Seien in Fig. 2 AB und AC zwei 

F 





gig. 2. 


parallele Lichtjtrahlen, welche auf die ſchwach 
feilfürmige Glasplatte LMON treffen, fo wird 
der Strahl AB an der unteren, AC an der 
oberen Fläche zurüdgeworfen; die refleftierten 
Strahlen CE und BCD feien dann durch die 
Sammellinje Q zur ünterferenz in F gebradt. 
(Die in K refleftierten und die bei C und B 
durchgehenden Teilitrahlen können ausfcheiden, 
de fie für die Interferenz nicht in betracht 
tommen.) Es ift dann an der Figur leicht ein- 
zufehen, daß der Wegunterfchied beider Strahlen 
ô — GB + BC ift, wobei diefe Streden wieder 


14 Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 


von der Plattendide d und dem Einfallswintel i 
abhängig find.) Es tritt jomit ein Marimum 
oder Minimum der Snterferenz in F ein, wenn 





Big. 3. 
Prüffläche am Glasteil. 

ô gerade gleich einer ganzen oder halben Wellen- 
länge oder einem ganzen Bielfachen davon ift; 
mit anderen Worten: von einem Interferenzmini— 
mum bis zum nächften hat fih die Plattendide 
gerade um eine halbe Wellenlänge geändert. Die 
Gejamtheit aller interferierenden 
Lichtwellen gleicher Phaſe wird fih 
bei F alfo in Form von parallelen 
Streifen gleicher Abſtände zeigen; 
die dunklen Streifen jtellen jomit 
Orte „gleicher Dide” dar. (Fig. 3.) 
Aus der Zahl der Streifen, welche 
auf eine gemwijje Länge fommen, läßt 
jih daher leicht der Neigungswinkel 
des Plattenteils (oder eines analog 
abgegrenzten Quftkeils zwiſchen zwei 
Glasplatten, deren Grenzflächen ge- 
gen die Luft dur LM und NO dar- 
gejtellt find) berechnen. 3.3. ergibt fih, wenn auf 
3 em Ränge 20 Snterferenzitreifen fallen, unter 
Benußung der violetten Duedfilberlinie å = 0,4 n 
der Winkel 


20 . 0,0004 
2.30 


Sit nun NO nicht mehr eben, fo. bleiben trog- 
dem die Snterferenzftreifen „gleicher Dide” be- 
jtehen, werden nur, der Form der Unebenheiten 
von NO entiprechend, feine geraden Linien, 
jondern irgendwelche Kurven ergeben. Bekannt 
ift ja die Erfcheinung der Nemwtonfchen Farben- 
ringe, die hiernach ohne weiteres verjtändlich 


g — 72133 .10° = 27 sec 


‘) BC — GB = BC . cos 2 i; alfo ô = 
cos i 


d 


cos i (1 + cos 2 i) = 2 d . cos i. ür i — 90° 
wird ô — 2 d. . 


wird, wenn man fih NO etwa fugelflächen- 
förmig gefrümmt dentt. 

Hierin liegt der Wert der Interferenzerſchei— 
nungen als eines ausgezeichneten Hilfsmittels 
zur Beitimmung von Unebenheiten der Mep- 
flächen von Endmaßen, Rechenlehren, Schrauben- 
mitrometern ufw., ebenjo zur Anwendung in der 
Optik und in der Mitronomie. 
~ Die Interferenzen „gleicher Neigung“ tamm 
man fih etwa entjtanden denten, wenn man den 
Keilwintel in Fig. 2 allmählich bis zu Null ab- 
nehmen läßt. Dann rüden die Anterfereng- 
itreifen gleicher Dide immer weiter auseinander, 
und es bleibt fchließlich nur eine gleichmäßig 
hell erleuchtete Fläche übrig. Werden dann, wie 
in Fig. 4 erfichtlich, ſämtliche unter dem gleichen 
Winkel i gegen die völlig planparallele Luft: 
platte geneigten Strahlen durch eine Line (Fern— 
rohr) vereinigt, jo beobachtet man eine an die 
Newtonfhen Ringe erinnernde Snterferenz- 
erſcheinung, weldye durch die Interferenz Der 
direft durch die Platte hindurchgehenden und der. 
zweimal an ihr refleftierten Strahlen zuftande- 





Fig. 4. 


fommt. Ganz ebenfjo wie bei den Jnter- 
ferenzen gleicher Dide hat man gezeigt, DaB der 
MWegunterfchied in der genau gleichen Weife von 
der Plattendide d und dem Neigungswinfel i 
abhängt (Haidinger, Mascart, ZLummer). Wäh- 
rend aber der Dirett hindurchgehende Strahl nur 
gering geſchwächt wird, büßt der zweimal reflef- 
tierte Strahl erheblich an Iintenfität ein. Daher 
erhält man feine ſcharf dunklen Snterferenz- 
furven. Um beide Strahlen annähernd auf die 
gleiche Intenfität zu bringen, werden für die 
PBraris die begrenzenden Platten an den Innen— 
feiten halbdurchläſſig verfilbert, jo daß etwa die 
Hälfte eines Lichtftrahles hindurchgeht und die 
andere Hälfte reflektiert wird. Die Verjilberung 
wird mittels Kathodengzerftäubung für jeden ge- 
wünjchten Grad der Durdhläfligkeit erreicht. 


a) Mechaniſche Anwendungen der 
Interferenzen ergeben fih nach dem oben Ge- 


Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 15 


ſchilderten in erſter Linie aus den Interferenz— 
kurven gleicher Dicke. 

Seitdem ſich das Syſtem der Austauſch— 
fabrikation mehr und mehr ausgebreitet hat, ſind 
die techniſchen Anſprüche an die Genauigkeit von 
Maſchinen und Arbeitsmethoden außerordentlich 
geſtiegen. Genügten früher Genauigfeitsgrade 
bis zu '/ıo» mm, fo hat jetzt das Mitron (x = 
0,001 mm) felbjt im Maſchinenbau Eingang ge- 
funden. 

Die Kontrolle der Feinmeſſung (Edelpafjung) 
erfolgt durch Vergleich mit ſogenannten nò- 
maen, die man je nach ihrer geometrifchen 
Beichaffenheit in Parallelendmaße (von zwei 
parallelen Ebenen begrenzt), in Sticymaße mit 
Iphärifhen Mebflächen (ein zum Durchmejjer 
paralleler Kugelausfchnitt) oder in Meßſcheiben 
(in Zylinderform) einteilt, und deren Genauig- 
feit naturgemäß noh erheblich größer fein muß. 
Während 3. B. die Herftellungstoleranzen von 
Lehren (Schub:, Rechenlehren u. a.) nur wenig: 
u betragen, günjtigjtenfalles bis auf 0,8 « þer- 
abgehen, erfordern die Endmaße jelbft einen Ge- 
rauigfeitsgrad bis zu + 1 “ auf 100 mm, ja 
jogar + 0,2 u bei Maßen von 1 bis 20 mm. 
Eine tiefere Grenze ift technifch unmöglich, da 
jelbft das Parifer Urmeter und die von ihm 
abgeleiteten Gebrauchsnormale noch mit eben 
diefem Fehler behaftet find, alle durch mechanifche 
Methoden vorgenommenen Bergleichsmeflungen 
daher infolge der neu auftretenden Meßfehler fo- 
gar noch größere Abweichungen ergeben müffen. 

Lediglich die Interferenzerſcheinungen ermög— 
lichen die Herbeiführung der oben angegebenen 
Genauigfeitsgrenze, und auch hierbei ift eine 
lorgfältige Monochromatifierung nötig, da ja 
jede Wellenlänge (weißes Licht hat Wellenlängen 
von 0,4 bis 0,8 «) wiederum einen gemijjen end- 
lihen Ausdehnungsbereich umfaßt, mithin alfo 
jede Speftrallinie immer noch eine gemilje Breite 
hat. 

Um nun die Unebenheiten folcher Endmaße 
durch Interferenzkurven fihtbar zu machen, ge- 
nügt es, eine ebene Glasplatte fo über die zu 
unterjuchende Endfläche zu legen, daß ein (hwah 
feilförmiger Luftraum zwiſchen beiden entiteht, 
und Diefen mit homogenem Liht zu beleuchten. 
Die Abbildungen 5 bis 7 zeigen folche Jnter- 
ferenzturven, die eine Art Schichtlinien der Un- 
ebenheiten auf der geprüften Fläche darftellen.”) 
Man fann zum Beilpiel in Bid 7 deutlich er- 
tennen, daß zwei Reihen von Faden bis zu 


?) Die Photographien wurden von der Firma C. P 
Goerz, Optiſche Anſtalt, Berlin-Friedenau, liebens: 
mwürdigerweife zur Verfügung geitellt. 





ein Viertel Streifenbreite aus dem regelmäßigen 
Gtreifenverlauf heraustreten, die von zwei Gtel- 
len herrühren, welche fidh über das gange End: 


ni 

u 
~ 

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TOSS 
-aro 


| \ f 


WSN 


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Fig. 7. 


maß erjtreden und um */s A = 0,05 u aus der 
Fläche herausfallen. Um zu erfennen, ob eine 
fonfave oder fonvere Störung der Ebenheit vor- 
liegt, braucht man nur einen leichten Drud auf 
das eine Ende der Glasplatte auszuüben. Dann 
wandern die Snterferenzitreifen je nach Un: 
lage der Apparatur nach rechts oder linfs, woraus 
der Schluß in dem einen oder anderen Sinne 
licher zu ziehen ift. Auch eine quantitative 
Meſſung ift hierbei möglich, wie jhon oben an- 
gedeutet wurde; man ift bis zu Abweichungen 
von 0,02 « gelangt. Jn der Praris verjährt 
man zwedmäßig fo, daß man Interferenzen er- 
hält, welche zu anftoßenden Kanten des End- 
maßes parallel verlaufen. Sind diefe dann in 
beiden Fällen völlig gerade, fo ift Ebenheit nad) 
zwei zueinander fenfrechten Richtungen nadge- 
wiefen. 

Eine weitere mechaniſche Anwendung beiteht 
in der Ermittelung von Längen: 
unterjichieden der Endmaße. Dabei wer- 
den nach einer Anordnung von Köjters (1920) 


16 Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 


die zu vergleichenden Endmaße an eine Plan- 
piatte „angefprengt”, d. b. fo luftdicht aufge- 
jegt, dap feine Interferenzen wahrnehmbar find, 
wenn man von der Planplattenfeite her beob- 
adtet. Sind in fig. 8 ABCD und ABC'D’ 





Fig. 8. 


zwei folche Endmaße, EF die Probeflädhe, GH 
und G’H’ die Diden zweier Luftichichten, die 
demfelben Interferenzjtreifen zwiſchen der Probe- 
fläche und den Endmaßflächen entjprechen, jo 
braucht man nur die zwiſchen H’ und J auf- 
tretenden Snterferenzfranfen auszuzählen, um 
den Didenunterfchied unmittelbar in Wellen: 
längen angeben zu fünnen. Da man bei mono: 


chromatifchem Lichte aber nicht einen bejtimmten | 


Streifen eindeutig kennzeichnen fann, verwandte 
Köfters mehrere Speftrallinien, die durch ihre 
charatteriftifche farbige Zufammenwirfung einen 
ganz bejtimmten Anterferenz- 
itreifen zu individualifieren ge- 
itatten. 

Jn einem analogen Ber: 
fahren ermittelte Profeffor ©. 
Berndt den mittleren Längen: 
unterjchied zwiſchen zwei nicht- 
parallelen Endflächen jolcher 
Maße. Auch Kugeln und 3y- 
finder fönnen mittels einer 
folchen interferometrifchen Me- 
thode auf der Länge ihres 
Durchmeffers hin unterjucht 
werden. 

Der erjte Verſuch, abſo— 
[ute Längenbeſtim— 
mungen mittels Lichtinter— 
ferenzen durchzuführen, führt 
auf den Franzoſen Macé de 
Lepinay (1886) zurück, der die 
Dide eines Quarzwürfels in 
Wellenlängen der einen Na- 
triumlinie De ausdrüdte, daraus das Bolumen 
des Würfels in der gleichen Einheit bejtimmte 
und durch Vergleiche mit den Gewichten des 
MWürfels in Luft und Waller eine Beziehung 


zwiſchen Meter und Kilogramm herleitete. 

Noch wertvoller aber find die Mefjungen des 
durch feine Arbeiten über die Interferenz des 
Lichtes befannten englifchen Profeſſors Michel: 
jon, der bereits 1895 die Aufgabe löfte, die 
Längedes Meters in Wellenlängen, 
alfo in einem in der Natur ſelbſt vorkommenden 
Drake auszudrüden. Die Aufgabe, um deren 
erfolgreiche Durchführung fih Pérot, Fabry und 
Benoît ſowie die deutfchen Phyfiter Lummer und 
Gehrde bejondere Berdienfte erwarben, ift des- 
wegen von bejonderer Bedeutung, weil damit ein 
Naturmaß für das Meter gefunden war, das 
unabhängig von den Veränderungen des Ur- 
meters (Temperatur, Quftdrud, Feuchtigkeit, Ma- 
terialveränderungen) ift. Es ergab fih nah den 
Arbeiten obiger orjcher, die in den Ergebniffen 
des Bureau international des poids et me- 
sures, Paris 1895 und 1913, niedergelegt find, 
daß 1 m = 15531635 } 
ijt, wo 7 die Wellenlänge der roten Cadmium: 
Linie in trodener Luft von 0 Grad und 
760 mm Drud bedeutet, während umgekehrt 4 
= 0,643 847 22 u ift. Ebenſo läßt fih nunmehr 
das Meter unabhängig von jedem körperlichen 
Bergleihsmaßftab bejtimmen. 

Schon Midhelfon erfannte, daß Interferenzen 
gleicher Dide weniger zu ſolchen Meſſungen ge- 
eignet find wie Interferenzen gleicher Neigung. 
Er wandte fich daher bejonders den leßteren zu 





yig. 9. 
Stufengitter nah Micdelfon. 


und benußte namentlich folhe von hohen Gang: 
unterjchieden. Andererjeits bedurfte er jehr weit 
aufgelöfter Speftrallinien, die er durch ein be= 
jonders fonftruiertes Stufengitter (Fig. 9), eine 


Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 17 


Glasplattenſtaffel von 20 planparallelen Platten 


von je genau 18 mm Dide erhielt, die treppen- 





Fig. 10. 
fürmig übereinandergefchichtet Stufen von 1 mm 
Breite kiefern. 

Bon weiteren mechanifchen Anwendungen der 
SInterferenzerfcheinungen feien noh erwähnt ein 
Interferenztomparator von Göpel 
(1919) zur Meſſung von Didenunterjchieden mit- 
tels vorbeimandernder Anterferengen, ferner ein 
Apparat von Hamy zur Prüfung der Zap- 
fenform von Durdgangsinftrumen- 
ten, eine Methode von Kirner zur Meflung 
ichnell veränderliher G a sd ru de mittels New— 
tonfcher Ringe, die durch Druckeinwirkung 
auf die Flächenform einer Linſe ent- 
ftehen (1910); endlich ein Anterferenz- 
apparat von Brüneifen (1907) zur 
Mefjung elaftiiher Dehnung von 
Stäben, bei melhem Planplatten fo mit dem 
zu prüfenden Gtabe verbunden werden, 
daß die Dehnung des Stabes durch eine 
Bariierung der Schichten „gleicher Dide” erkenn— 
bar und meßbar wird. 


b) Anwendungeninder Optik. Die 
ältefte Anwendung ift unter dem Namen „Me: 
thode des PBrobeglafes” befannt. Man 
legt die zu prüfende Fläche gegen eine Normal- 
fläche und beftimmt aus der orm der Jnter- 


A B 


HH] 


ferengfurven die Abweichungen. Lummer und 
Abbe haben für feinere Meffungen diefer Art 
Konftruftionen vorgefchlagen, auf Grund deren 
Brodhun und Schönrod 1902 einen Apparat 
unter Benußung der Kurven gleicher Dide an- 
fertigen. Ein febr volllommener Apparat 
gleihen Prinzips wurde 1912 von M. Schul 
fonftruiert. Sig. 10 zeigt den leicht verftänd- 
lien Typ der girma Goerz, bei welchem P die 
Vergleichsfläche, Sch ein Schlitten zur Aufnahme 
des Prüfftüdes ift. B—B ift ein feftes Stativ, 
F ein Objettiv, O das Okular, C der Kondenfor, 
k find Reflerionsprismen, S und H find Schrau- 
ben zur Feineinſtellung. 

Einen beſonders frudtbaren Gedanken hat der 
idon oben erwähnte Michelfon durchgeführt, in- 
dem er das von einer Lichtquelle ausgehende 
Licht fo durch zwei Planplatten gehen ließ, daß 
es an zwei dahinter befindlichen, aber jenfrecht 
zueinander ftehenden Spiegeln zurüdgemorfen 
und bei beitimmtem Gangunterfchiede mit fidh 
felbft zur Interferenz gebraht wurde. Twy- 
mann hat auf diefer Grundlage verfchiedene 
Interferometer (1918) fonftruiert, mit welchen 
eine Prüfung und Korrettion von Prismen und 
Linfenfyftemen ausführbar ift. (Fig. 11.) Das 
durdy den Spiegel A, die Sammellinfen B und 
D und die Blende C parallel gemachte Lich 
fällt auf die halb- : 
durchläſſige Plan- | 
platte K und wird 
teils auf dem Wege: 
Blanplatte K — 
Prisma L— Spie: 
gel F — zurüd 
nah K, teils auf 
dem Wege: K — 
Spiegel G — zu: 
rüd durh G zur 
Snterferenz in F 
c 
















und P gebradt. 
Die entſtehenden 
Sinterferenzbilder 
entfprehen den 
Unvolltommenbei- 
ten der Blasflächen 


des zu prüfenden 
Prismas fo, daß 
fie eine Art Relief- 


P 





ig. 14. 


bild wiedergeben. Ein anderes neueres (1923) 


18 Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 


Interferometer zur Unterfuhung photographi- 
iher Objektive ift in Fig. 12 Ddargeftellt. Die 


ig. 13 veranjchaulicht eine Reihe von Jnter- 
ferenzbildern eines guten Objeftivs, die mit der 


nr 
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In 


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« P TA, » E T 
ya E an a m 
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D» — — 
A j 
a f 


Fig 12. 


grünen Quedfilberlinie A = 546 «u bei Strahlen: 
neigungen von 0°, 5°, 10°, 15° erhalten wurden 
und febr anfchaulidy die auh bei guten Objet- 
tiven noch vorhandenen geringen Abweichungen 
erfennen lajjen. 

Weitere Snterferenzmethoden zu optilchen 
Unterfuchungen find in neuerer Zeit von Waetz— 
mann und Bratte angegeben und praftijch er- 
probt worden, wobei von bejonderem Intereſſe 
die vorzügliche Uebereinſtimmung der vorher be- 
rechneten und beobachteten Kurven ift. 

Eine der Michelfonfchen Methode ähnliche UAn- 
ordnung bat Mach geichaffen, die dadurch be- 
londers wertvoll geworden ift, daß man aus den 
Störungen der auftretenden 
Snterferenzen Schlüffe über 
die Drudverteilung der Luft 
in der Umgebung bemwegter 
Geſchoſſe ziehen und fo den 
Energieverlujt der Gejchojie 
beurteilen fann. 

c) Wohl die epochemachend: 
fte Anwendung der Jnter- 
ferenztechnif hat die M ftro- 
nomie zu verzeichnen. Im , 
Jahre 1921 fam aus Amerifa 
die Auffehen erregende Nach— 
richt, daß es den Aitronomen Anderfon und Peaje 
auf der Mt. Wilfon-Sternwarte gelungen fei, den 
MWinteldurchmeiler des Sterns Beteigeuze («Drio- 





nis) mittels einer von Michelfon vorgefchlagenen 
Methode dirett zu meſſen. Welche gewaltige 
Leiſtung dies bedeutet, geht am beiten aus dem 
der Wirklichkeit jehr nahe entjprechenden Ber- 
gleihe Schwarz 
Ihilds hervor, 
der das ganze 
Gebiet des Fir- 
jternhimmels mit 
Millionen von 
Stednadelföpfen 
in Parallele fegt, 
die in gegen- 
feitigen Enfer— 
nungen von 50 
km ‘m Raume 
verteut find. Da- 
bei würde die 
größte für trigo- 
nometriſche Mef- 
jungen erforder- 
iiche Baſis, näm- 
lih der Durch— 
meſſer der Grd- 
bahn, etwa einer 
Strede von 20 
Zentimetern entiprehen, woraus die Un— 
zulänglichkeit aller Yeinmefjungen hinreichend 
flar wird. 

Micheljon ging davon aus, daß jeder Punft 
der Sternoberfläche unporalifierte Wellen der ver- 
Ihiedenjten Perioden ausjendet, die mit aus- 
reichender Genauigkeit als ebene Wellen ange- 
ſprochen werden fönnen und unter einander febr 
fleine, aber eben noch meßbare Wintel bilden. 
(Fig. 1.) Er verfudt nun, den größten dieſer 
Winkel zu mefjen, den die von zwei entgegen- 
gejegten Punften des Sterns ausgehenden Win- 
fel bilden. Da aber die von verfchiedenen Punt- 
ten der Sternoberfläche ausgehenden Wellen in- 





ig, 13. 


fohärent find, darf man nur Interferenzerſchei— 
nungen zwijchen verjchiedenen Teilen einer 
und derfelben Welle beobachten. Daher 





Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 19 


wird (Fig. 14) vor das Fernrohrobjektiv ein 
Schirm mit zwei Spalten gejeßt, fo daß das Licht 
nur an zwei entgegengejeßten Enden hindurch— 
gehen tann. 





Fig. 14. 


Bon den unter dem fleinen Wintel a ein 
fallenden Lichtwellen pflanzen fih Teilwellen in 
S und S’ nad) allen Richtungen fort, fo alfo auh 
die Parallelwellen, die unter y gegen die Achſe 
geneigt find. Ihr Gangunterjhied ift ô = 
Wellenzahl von SB — Wellenzahl SA, d. h. 


1 1 
à = 7 (S'B—SA) = ~ (D sin y — D sin a) 


oder, da sin a — a gefegt werden darf, d = 
D a 
p (~r — 9). 

gür alle Wintel y, welche einen ganzzahligen 
Wert von 5 liefern, verftärten ſich die Phafen 
(im Brennpuntte), für alle Werte ð = 1/2, 3/2, *z 
ufw. zerftören fie fih. Das NRefultat find alfo 
Sinterferenzen für alle Werte von y, welche der 


Gleichung y” - + a(n=0,1,3,3...) 


genügen. Für jede andere ebene Welle gilt das 
gleiche, nur find die Lagen der Marima und 
Minima etwas verfchoben; bei einem fchein- 
baren Sterndurchmefjer b tann der Cinfallswintel 
alle Werte zwifhen + — und — Ë annehmen. 


Somit überlagern fih die Interferenzigfteme der 
verfchiedenen Wellen und verwifchen die Kon: 
traſte. Michelfon wählt nun den Abftand D fo, 
dab die Änterferenzitreifen zum völligen 
Nerfhwinden tommen. Dies tritt nad 
den von ihm ſelbſt durchgeführten weiteren Red- 
nungen ein, wenn 
2 À 
$ = 122 =” 2,24 "D 
ift, bei Doppelſternen (Algol) für 
a 1 à 3 A ) 


1 
326 5 ** 


uſw. 


5 A 

H= =D TD 2? DD 

Aus der Wellenlänge des Sternenlichts und 
dem direkt gemeſſenen Abſtande D läßt fih als- 


dann der Winkeldurchmeſſer des Sterns oder der 
Wintelabjtand der Komponenten von Doppel- 
jternen nad) einfachen Formeln berechnen. 

Zur Durdhführung der Beobachtungen madıte 
fih die Konftruttion eines befonderen Apparates 
nötig; denn fon für einen Stern von Sonnen- 
größe, der eine jährliche Parallare von 1 sec 
hat, ift ein Abftand D von 13 m erforderlich, 
um die Anterferenzftreifen erftmalig gum Ber: 
ihwinden zu bringen. Dafür reichen aber die 
Fernrohrobjektive nicht aus. 

Michelfon erfegte daher die Deffnungen S und 
S’ durd) zwei in großer Entfernung aufgeftellte 
Spiegel (Fig. 15), die er vor dem Objeftive 
montierte. 

Nachdem man 1920 mit dem 2 m=Spiegel des 
Mount Wilfon » Dbfervatoriums den Wintel- 
abitand der Komponenten des Doppelfterns Ca: 
pella (a Aurigae) beftimmt, eine Parallare von 
0,0600 sec und eine Entfernung von 131 Mil: 
lionen km (alfo etwas Meiner als die Entfernung 
Erde—Sonne) erhalten hatte — ein Refultat, 
das überrafchend gut war —, ging Peafe an die 
Beitimmung des Sterndurchmeilers von %Betei- 
geuge. Er erhielt am 13. Dezember 1920 bei 
tlarem Himmel und guten Bildern bei einem 
Spiegelabftand von 310 cm feine Spur von 





Big. 15. 


Interferenzen. Bei Benußung der Wellenlänge 
à — 550 nu ergab fih daraus ein Winteldurde 
meljer von 0,045 sec, woraus unter Benußung 
der mittleren Parallare 0,018 sec (April 1921) 
ein linearer Durchmeffer glei dem 200fachen 
Sonnendurcdhmeifer folgte. Würde fih die jehr 
wahricheinlie Mutmaßung beftätigen, daß die 
Parallare von Beteigeuze nur zu 0,01 sec an= 
zuſetzen ift, jo würde ihr Durchmeſſer fogar fünf- 
hundertmal fo groß als der der Sonne fein. 
Damit ift aber die Eriftenz wirklicher Riejen- 
iterne direft nachgewiefen und eine einwandfreie 
phyſikaliſche Grundlage für weitere Unterjuchun: 
gen der Riefen- und Zwergiterne gefchaffen. Zur 
Zeit werden die Verfuche auf dem Mount Wiljon 


20 Wettervorausfage für 1925. 


mit einer 8 m langen Spiegelbafis fortgejeßt, 
die weitere wertvolle Ergebniſſe für die aftrono- 
miſche Forſchung erhoffen laffen. 

Schon 1910 hatte der ruffifche Gelehrte S. Po- 
krowsky eine andere, wefentlih von der Michel: 
ſonſchen verfchiedene Interferenzmethode zur Be- 
ftimmung des fcheinbaren Sterndurchmefjers an= 
gegeben, die unter gleichzeitiger Anwendung von 
auftretenden Bolarifationserfcheinungen beim 
Durchgang durch Kalkipattrijtalle ebenfalls auf 
der Interferenz von Lichtwellen beruht, die zu 
Interferenzitreifen in zwei zueinander ſenkrech— 
ten Richtungen führt. Die Methode befigt den 
Vorzug einer noh größeren Empfindlichkeit, ift 
aber praßtifch noch nicht durchgeführt worden. 


Wettervorausfage für 1925. Bon Stadtbaurat Laspegres. P 


Vorbemerkung der Schriftleitung: 
Manche Leſer erinnern ſich wohl noch der im Jahrgang 
1921 veröffentlichten Wettervorausſage, die Herr Las- 
peyres auf Grund der Schaeferſchen Methode ausge: 
arbeitet hatte. Ich Habe in der November/Dezerber: 
Nummer 1921 die Borausfage und das wirklich einge: 
tretene Wetter nebeneinander geitellt und gezeigt, wie 
wenig von erfterer eingetroffen ift. Nach neuen Mit: 
teilungen des Herrn L. ift diefer aber nunmehr in der 
Lage, die Urſachen feiner Mißerfolge zu überbliden 
und behauptet, jet mit erheblidyer Sicherheit eine 
Prognoſe ftellen zu können. Ich habe zwar meine Be- 
denten dabei, gebe ihm aber gern nod einmal das Wort, 
denn über derartiges fann legten Endes nur der Erfolg 
enticheiden. Die Lejer werden am Ende des neuen 
Jahres davon hören. Bavink. 


Folgendes iſt die von Herrn L. eingeſandte Tabelle 
der „Mondvorübergänge“ nebſt den darauf gegründeten 
Wetterprognoſen für 1925: 


nn m sg 





Monat 
MB. Das Wetter foll fein: 
am... DOr... 
Jan. 1. Mars Bis 16. (A-Tag des Neu) Froft 
2. Saturn und meift troden, dann mieder 
13. Neptun milder mit ftärferen Niederjchlä- 
22. Jupiter gen, namentlih um den 18., 23. 


24. Sonne(Reu- | (CTag des Neu), 28. (C-Tag 


mond) des Ma). Bom 29 wieder 

28. Uran. Mars |troden mit Froft. 
gebr. 9. Ne Bis zum 9. (C-Tag des Ne) ziem: 
15. Sa lid) mild, zeitweile Niederſchläge, 
19. Su dann Froſt und meift troden und 
23. Neu heiter bis zum 16. (A-Tag des 
28. MT Neu), dann wieder mild mit ftär- 


teren Niederichlägen, namentlid) 
um den 18., 23., 27. 


So zeigt fi) eine Fülle von wertvollen Ergeb- 
nifjen der Snterferenztechnit, die weit über den 
Rahmen der internen wiſſenſchaftlichen For: 
ſchung befannt zu werden verdienen. Wenn die 
praktiſchen Ausnutzungsmöglichkeiten erft in den 
legten Jahren größere Ausdehnung angenom- 
men haben, fo beruht dies wohl darauf, daß die 
techniſche Bervolltommnung der benötigten op- 
tiichen Flächen, die zur Erzeugung der äußerft 
feinen Aufichließungs- und Wiedervereinigungs- 
porgänge dienen, ebenfalls erft in jüngfter Zeit 
auf die gemwünfchte Höhe geftiegen ift. Man darf 
aber nunmehr von diefem neuen Gebiete der 
Teintechnit noch manches wertvolle Refultat er- 
warten. 









März 8. Ne Bis zum 16. (A-Tag des Neu) 


14. Sa meift troden und fonnig; nod 
19. 3u zeitweife Froſt, dann bis zum 24. 
24. Neu mild und öfter Niederjchläge. Ende 
29. Ma mild und meift troden. Nod 


Nachtfröſte. 


April 5. Ne 


15. Ju 
23. Neu 29. Ma | bis 30. trodener und heiterer. 


10. Sa | Meift fühl mit häufigen Nieder- 
19. Ur | fchlägen. Bom 10 bis 14. und 24. 





Mai 1.Ne 8. Sa | Bis 28. und vom 15. bis 22 (Neu: 
13.3u 17. Ur | mondwirtung) fühl, bedeckt und 
22. Neu nah, ſonſt heiter, warm und meift 
25. Ma troden. Um den 10. bis 13. Nacht⸗ 
29. Ne froſtgefahr. 
Juni 4. Ga Meift warm, fonnig und troden. 
9. Ju Gemitterartiger Regen um den 3. 
21. Neu und 8. wahrfcheinlich (C-Tage des 
22. Ma Sa und Su), um den 15., 20., 30. 
26. Ne nicht ausgeſchloſſen. 
Juli 1.6a 6. Ju Vom 7. bis 13. und 21. bis 27. 


11.Ur 20. Neu meijt warm, fonnig und troden, 
22.Ma 28. Sa | Jonit häufig kühl und regneriſch. 


Aug. 2. 3u 7. Ur| Warm, heiter und troden, gewit- 
19. Reu 26. Ma terartige Regenfälle um den 1., 





25. Sa 13., 18., 24. und 29. nicht ausge- 
20. Ju ſchloſſen. 

Sept. 4. Ur 15.Ne|Meift warm, ſonnig und trocken, 
17. Ma 18. Neu | mäßiger Regen um den 12., 17. 
26. Ju 30. Ur und 26. wahrſcheinlich. 

Ott. 12.Ne 16 Maf Warm, fonnig und troden, höch— 
17.Neu 19. Sa; jtens um den 11., 16. und 23. 
23. Ju mäßiger Regen. Vom 25. an 
28. Ur Nadıtfroftgefahr. 








ge 


Nov. 9.Ne 14.Ma| Bis 8. meilt troden, heiter und 





15. Sa etwas Froft, dann bis zum 22. 
16 Neu ftürmifd, mild? und regnerifd. 
20. Şu Ende wieder meift heiter und 
25. Ur troden mit roft. 

Dez. 6.Ne Bis zum 8. meilt heiter und 
13. Sa, Ma troden mit Froſt, dann bis zum 
15. Neu 18. milder mit häufigen Nieder- 
18. Ju ihlägen. Ende wieder meift 
22. Ur troden und heiter mit Froft. 


Die unterftrihenen | Die Vorherſagen gelten für 
find die vorausſichtlich Nord weftdeutfhland; im 
ftart wirtenden M.- | übrigen Deutfchland müffen die 
B. Regenzeiten kürzer und die Kälte- 
zeiten länger und ſtärker ange- 
nommen werden, falls das Klima 
dort nicht einen ähnlichen Charat: 
ter wie die hiefige Gegend hat. 


Meine auf Grund der im Jahrgang 1918 veröffent: 
lichten Schaeferfhen Hypotheſe aufgeftellten Wettervor: 
herjagen hatten bisher nod fein mich voll befriedigendes 
Ergebnis, weil Sch. noch niht gefunden hatte, wann 
die im folgenden noh einmal wiederholten Regeln ein: 
trafen und wann nidt. Die Regeln lauten: 

1) Am 7, 6. oder 5. Tage vor dem Mondoorüber: 
gang (M.⸗V.) tritt gegen die Beit vorher eine Gr- 
mwärmung ein, verbunden mit fallendem Luftdrud und 
ftärleren Niederfchlägen (fog. A.-Tage). 


—— 











Naturwiſſenſchaftliche und naturprifofophifhe Umſchau. 241 


2) Am 4. und 3. Tage vor dem M.V. erfolgt Ab- 
fühlung, verbunden mit fteigendem Luftdrud und gänz- 
lidem oder erheblichem Nadjlaffen der Niederjchläge 
(jog B. Tage). 

3) Am 2. und 1. Tage vor dem M.:V. oder am 
Tage ſelbſt kommt eine neue, noh ftärtere Erwärmung 
mit befonders ftarfer Quftdrudabnahme und meift un: 
wetterartigen Niederjchlägen, häufig durh einen Kälte: 
ſturz abgelöft (fog. C-Tage). 


4) Tritt der Kältefturz nicht ein, fo erfolgen nod 
Nachwirkungen in Form von Landregen, Nebel oder 
Bewölkung, bis zu hödjitens fünf Tagen. 


Sch habe nun gefunden, daß nur die Mondoorüber: 
gänge vor den äu peren Planeten und der Neumond 
diefe Wirkungen auslöfen, wenn zur Beit der Haupt: 
niederfchlagszeiten die Planeten in Oppofition zur Sonne 
itehen. Die Hauptregenzeiten find für unſere Gegend: 
Mitte Januar bis Mitte Februar; Ende März bis An: 
fang Mai; Mitte Juli bis Mitte Auguft; Mitte Oftober 
bis Mitte Dezember. In diefen Zeiten geht die Erd» 
bahn durd größere Meteoritenihwärme; es hat daher 
große Wahrſcheinlichkeit für fih, daß der Zufammen- 
fall diefer Schwärme mit den Planeten in diejer Zeit 
die Urſache der Niederfchlagsperioden ift. Durch diefe 
Entdedung find meine Ergebniffe derart verbeffert wor: 
den, daß ich annehmen darf, daß etwa 90 Prozent der 
Tage (ftatt bisher 70—80) für Nordweitdeutichland 
richtig fein werden. 


> 


Raturwiſſenſchaftliche und naturphifofophifhe Amſchau. 


a) Anorganische Naturwiſſenſchaflen. 


Das Hauptintereffe der Phyfiter nimmt noh immer 
das Problem der Quantentheorie in Anſpruch. Es 
wurde fon in der Umſchau unferer Nr. 10, 102, über 
die neue Theorie von Bohr, Kramers und Slater kurz 
berichtet, mittels deren diefe Autoren den Widerfprud 
der Bohren Quantentheorie der Strah: 
lung gegen die klafſiſche Theorie des eleftromagne- 
tiſchen Feldes zu befeitigen ſuchen. Cine vortrefflich 
flare und turze Darftellung des Wefens diefer neuen 
Theorie gibt Shrödinger in Nr. 36 der „Natur: 
wiffenihaften”. Das Sntereffantefte derfelben ift der 
Vırftand, daß die neue Theorie die Giltigkeit des 
Energiegejebes aufgibt. Aud diefer fol nah ihr ebenfo 
- wie der „zweite Hauptſatz“ oder „Entropiefaß” nur 
ſtatiſtiſches Durchichnittsgefeg fein. (Vgl. 1, 1923.) 
Während aber die Abweichungen von diefem Durd) 
ſchnitt beim Entropiefa ſich, im Durchſchnitt auf 
beliebig lange Zeiträume gerechnet, immer wieder gegen: 
feitig aufheben, fo daß das betrachtete Syſtem ftets nur 
um einen gemwilfen Mittelwert pendelt, hat die neue 
Theorie betr. der Energie des Syſtems die fonder- 
bare Folge, daß diefe fih im Qaufe beliebig langer Zeit 
durchichnittlich immer weiter von dem normalen Mittel: 
wert entfernt, fofern das Syſtem ifoliert ift. 
Nur durch die Wechſelwirkung mit immer weiter ge- 
zogenem Umkreis anderer Syiteme ift das Berbleiben 


in der Nähe des Mittelmertes garantiert. „Man tann 
aud) fo jagen: eine gewiſſe Stabilität des Weltgeſchehens 
sub specie aeternitatis fann nur beftehen durch den 
Zufammenhang jedes Einzeliyftems mit der ganzen 
übrigen Welt. Das abgetrennte Einzelſyſtem wäre 
unter dem Gefichtspuntte der Cwigteit (t = 00) Chaos”. 
Solche Theorien find auh in philofophifher Hinſicht 
außerordentlich intereffant. Man darf freilich nicht ver- 
geffen, daß fie einitweilen bloße Verſuche find. 

In der Feftnummer, welde die „Naturwifien: 
ſchaften“ zum AInnsbruder Kongreß herausgegeben 
haben (Nr. 47) und welde alle dort gehaltenen Bor- 
träge in den „allgemeinen Sitzungen“ enthält, fommt 
Sommerfeld in feinem Auffaß auh auf dieje 
Tragen zu ſprechen und führt die drei heute vorliegenden 
Verſuche nebeneinander an, die gemacht worden find, 
um jenen Widerſpruch zu befeitigen. Jn demfelben ge- 
Sanfenreihen Auffaß berührt er auh das in „Unfere 
Weit” 1923, Nr. 1, kurz geitreifte Problem der „zeit: 
uden Fernwirkung“ in der Quantentheorie Ich Hoffe, 
auf Sefe überaus intereflante Frage demnädjft einmal 
ausführlicher eingehen zu können und begnüge mid) da: 
ber hier mit dieſem Hinweiſe. 

Auch fonft ift dafür geforgt, daß die heutige Phyſik 
verläufig nod) lange teine Urfache hat, ihre Aufgabe 
ihon für abgefchlojfen zu halten. In Nr. 42 der „Natur: 
wiffenichaften“ zeigt 3. B. Frenkel -Leningrad (das 


272 


ift wohl Petersburg?), daß die elellromagnetiſche Theorie 
der Mafje durch gewiſſe chemiſche Tatſachen betr. die 
Atomgemwichte der Elemente Helium und Waflerftoff in 
eine grundjäßlidde Schwierigkeit gerät. Die Urſache die: 
fer Schwierigfeit liegt, wie rentel zeigt, darin, daß 
man in der üblichen Theorie die Elektronen und Pro- 
tonen ( H-Kerne) als räumlich ausgedehnte elektrifche 
Zadungen anfieht, deren Teile niht nur auf andere, 
äußere Ladungen, ſondern aud auf einander gemäß 
den befannten Teldgejegen wirkten follen, obgleih man 
gar nicht begreift, weshalb fie dann nicht fofort in alle 
Winde zerftieben. Nach Frenkel ift diefe Vorftellung 
durch die unausgedehnter, punktförmiger Kraftzentren 
zu erfegen. 

Ueber die Atomgewidte der Iſolopen hat Ruſſell 
(Phil. Mag 67, 112; Phyſ. Ber. 22, 1553) eine Reihe 
von Gejegmäßigfeiten ftatiftijch ermittelt, von denen die 
intereffanteften beiden lauten: Die Elemente mit un- 
gerader Ordnungszahl haben nur zwei Iſotopen von un: 
geradem Atomgewicht mit der Differenz 2. Und: Ele: 
mente gerader Ordnungszahl haben ſowohl geradzahlige 
als ungeradzahlige Atomgewichte, aber auh bei diefen 
gibt es nur zwei ungeradzahlige Werte mit der Diffe- 
reng 2. 

Die alte Arrhenius = van t Hofffdhe 
Theorie der fogenannten eleffrolytiiden Difjoziation 
in den Löfungen der Säuren, Bajen und Salze hat fih 
in den legten Jahren vielfach Verbefferungen gefallen 
laffen müffen. Eine neue Arbeit von Druder um 
Riethoff in der „Zeitſchrift für phyſikaliſche Chemie“, 
111, 1 GPhyſ. Ber. 22, 1567) fommt zu dem Ergebnis, 
daß ſchon in verdünnten Löfungen feineswegs wie bei 
Arrhenius und van 't Hoff, die einfachen „Ionen“, wie 

+ — 
zum Beiſpiel Na oder CI vorliegen, ſondern Komplexe 
SAEN — 
wie Naz oder Cla, daß dagegen die von Arrhenius da: 
neben angenommen „unzerjegten Moleküle“ Na CI ufw. 
taum eine Rolle [pielen. 

Eine große Reihe neuerer Arbeiten beichäftigt fidh 
mit dem Gifenipeftrum, das als eines der vermideltiten 
aller Spektren überhaupt lange Zeit der Forſchung fait 
unüberwindlie Schwierigkeiten in den Weg zu legen 
ihien In Nr. 46 der „Naturwiſſenſchaften“ berichtet 
Grotrian über die in jüngfter Zeit erreichten Fort- 
Ichritte auf diefem Gebiete. Es ift erjtaunlid), wie ſelbſt 
bei diefem Taufende von Linien enthaltenden Spektrum 
fih die einfachen von der modernen Speftraltheorie ge- 
fundenen Seriengejeße und ihre Deutungen auf Grund 
der Bohrſchen Energieftufentheorie bewähren. "Berichte 
über eine Reihe einzelner hierhin gehöriger Arbeiten 
fiehe Phyf. Ber. 22, 1591.92. 

Mit der Umwandlung von Quedfilber in Gold icheint 
es einftweilen nod reichlich unficyer zu ftehen. Der be: 
fannte Radiumforiher Hahn in Berlin Dahlem, den 
die Tageszeitungen als einen der Mitbeteiligten an der 
Entdedung genannt hatten, fah fi) veranlaßt, in Nr. 31 
der „Naturwiſſenſchaften“ deutlich zu befunden, daß er 
„an der Ehre und auh an der PBerantwortung” des 
„Kollegen Miethe“ nicht teilzuhaben wünſche. Er habe 
nur auf deffen Wunſch gewiſſe ihm überfandte Gold- 
zroben analyfieren laffen und dabei in einigen Fällen 


Raturwiffenfchaftliche und naturphilofophifche Umfchau. 


— 


Gold gefunden, ohne indeffen eine Ahnung zu haben, 
woher die betreffenden Proben ftammten. Auf der 
Innsbruder Tagung fol die Entdedung gleidfalls 
ziemlich ſtark angezweifelt fein Man tut alfo gut, vor: 
läufig noh weitere Beftätigungen abzuwarten. An fid 
erfheint die Sade indeilen durdaus möglid). 

Die phyfitaliihen Eigenſchaflen des Ozons, das wegen 
feiner Erplofivität im reinen Zujtande fehr ſchwer zu 
unterſuchen ift, find neuerdings von Schwab und 
Riefenfeld (Zeitſchrift für phyfitalifche Chemie“, 
110, 599; Phyſ. Ber., 22 1615) größtenteils neu feft- 
gejtellt worden. Es ergab fih u. a. der Siedepunkt zu 
- 112,3°, die kritifche Temperatur zu — 5°, der Schmelz: 
punft der Kriftalle zu — 251,4°, die Dichte des flüffigen 
Ozons zu 1,71. Als wahrſcheinlichſte KRonftitution des 
Molefüls Os ergeben die phyſikaliſchen Eigenjchaften die 
ormel 0 = 0 — 0 

Ueber die hier jhon mehrfach erwähnten Unterſuchun⸗ 
gen betr. den Feinbau (moletularen Aufbau) der tedy 
nif jo wichtigen Zaferjtoffe gibt Herzog in Nr. 46 
der „Naturwiſſenſchaften“ einen weiteren Bericht, auf 
den wir bier nur hinweifen wollen. 

Die jehr großen Geſchwindigkeiten in den Sonnen- 
protuberanzen haben viele Erklärungsverſuche gezeitigt. 
In der „Zeitfehrift für Phyfi, 22, 322 (Phyſ. Ber., 22, 
1549) erörtert W. Underfon eine „Stromftoßtheorie” 
derjelben. Schließt man eine Röhre, durch welche mit 
einer gewiſſen Gejchwindigkeit Wafler oder Gas ftrömt, 
plößlid) durch eine Platte mit einem ziemlich engen Loch, 
jo wird die Flüffigteit bezw. das Gas aus diefem Lode 
mit einer jehr viel größeren Geſchwindigkeit als der 
urfprüngicdyen herausfprigen In derjelben Weife denti 
fi) Anderfon das Entitehen der PBrotuberanzen durd 
plößlid)e Stauungen bei Zufammenftößen der dort vor: 
handenen heftigen Gasftrömungen. 

Eine Ueberſicht über die heute vorhandenen Eiszeit- 
Iheorien gibt die in Nr. 39 der „Naturwiſſenſchaften“ 
abgedrudte Habilitationsporlefung von R. Brink: 
mann:Göttingen. Er unterfceidet aftronomilde, phy⸗ 
fitalif de und „aktualiſtiſche“ Theorien. Die erfteren 
wollen die Eiszeiten auf interplanetare oder interftellare 
(tosmijche) Urſachen zurüdführen, die zweiten auf Ver: 
änderungen in der phyſikaliſchen Beſchaffenheit der Erde 
bezw. der Atmofphäre, wie 3. B. Polverlagerungen, 
Kontinentverfchiebungen und dergleihen Die dritte 
Gruppe endlid, der B. felber den Vorzug zu geben 
ſcheint, will nur die aud jonft in der Geologie befannten 
Faktoren der allmählichen Umwandlungen von Land und 
Meer, Gebirge und Ebene benugen. Br. unterſucht 
Ipeziell an dem Beilpiel des „Gondwanalandes” die 
Möglichkeiten damaliger (permiſcher) Vergletſcherungen. 

b) Biologie. 

Die Arten der Nachtkerze (Oenothera), an denen 
zuerft das Vorkommen von Mutationen durd de 
Vries beobadtet wurde, haben dur ihre Ab: 
weichungen von den Mendelſchen Geſetzen der Ber: 
erbungsforfhung ſchon manhe harte Nuß zu fnaden 
gegeben. Eine folde Nuß ift die folgende, als 
Schedung der Nachtkerzenbaſtarde befannte, Erſcheinung. 
Wenn männlide Pflanzen einer Art A gefreugt 
mit den weiblichen einer Art B normal grün gefärbte 
Baftarde hervorbringen, fo liefert die uwmgetebrie 








Naturwiffenfhaftlihe und naturphitofophifhe Umfhau.  _  ______233 


Kreuzung (weiblide Pflanzen A mit männlichen B) 
merfwürdigerweife gelb und grün geſcheckte Nad- 
tommen, auh wenn das Erbgut in den Kernen der 
Nachkommen volltommen gleid ift. Renner gibt 
(Biologiſches Zentralblatt 44) dafür die folgende Cr- 
Härung: Die Chloroplaften, die die Grünfärbung der 
Pflanze bewirken, find mütterliden Urfprungs. Unter 
der Borausfeßung, daß das Gedeihen der Chloroplaften 
von der Zufammenfegung des Kerns abhängt, und dap 
die Chloroplaften der einen Art (B) die durd Die 
Kreuzung hervorgerufene Veränderung in der Kern: 
zufammenfeßung beffer vertragen als die der anderen 
Art (A), werden diejenigen Nachkommen ausgebildete 
Chloroplaften, alfo Grünfärbung, aufweiſen, deren 
Mutterpflanze von B ftammt. Doh werden wahr: 
Iheinlih auch geringe Mengen von Chloroplaften der 
männliden Pflanze im Pollenſchlauch übertragen, wo- 
durch das gefchedte Ausfehen der Nachkommen männ: 
liher Pflanzen von B und weiblider von A zujtande 
fommt. Damit ergibt fih ein neuer Beweis für den 
Anteil des PBrotoplasmas an der Vererbung. 

Tatfählih haben Ruhland und Wepel in drei 
Füllen das VBorhandenjein von Chloropiciten in den 
Geſchlechiszellen des Pollenſchlauchs und damit die 
Strigfeit der alten Anficht, daß die Chloroplalten ganz 
mütterlihen Urfprungs feien, nachweiſen können. (Be: 
riht der Deutſchen Botaniſchen Gefellichaft, 42, 1924; 
„Raturmwifienfchaften”, 48). 

Die unter dem Namen SHormonentheorie bekannte 
Annahme Haberlandts, daß die Zellteilungen in 
wachſenden Pflanzenteilen durdy das Vorhandenfein ge- 
wifler Stoffe — der Hormone — ausgelöjt würden, 
die insbefondere als Wundhormone die Ausbildung des 
MWundgewebes veranlaßten, hat in der legten Zeil hier 
und da Widerſpruch erfahren. (Vergleihe U. W. H 
12, 1924.) Beltätigt wird die Haberlandtſche An: 
fit neuerdings wieder durch Verfuhe von H. Reide, 
der es jet gelungen ift, auh bei nicht verwundeten 
Pflanzenteilen lebhafte Zellteilungen dadurch hervorzu: 
rufen, daß fie diefen einen Aufguß von zerriebenen 
Blättern einſpritzte. Um einen Berührungsreiz tann 
es fih hierbei nicht handeln, da das Einfpriken von 
Sandteilchen erfolglos blieb. (Zeitihrift für Botanik, 
16, 1924; „Naturwiſſenſchaften“, 48.) 

Die Urſcche des Alterns und des nafürliden Todes 
fiedt Ruzicka in einer allmählichen, nicht wieder rück⸗ 
gängig zu madenden Verdichtung des Protoplasmas 
(PBrotoplasmahpfterefis).. In einem Aufſatz im Arhiv 
für mitroftopifhe Anatomie und Entwidlungsmeda: 
nit, 101, 1924; („Naturmwillenjchaften”, 45) vergleicht 
er diefen Vorgang mit der im Laufe der Zeit von 
felbft eintretenden Verdichtung folloidaler Stoffe in der 
lebloſen Natur und erblidt in beiden Vorgängen einen 
Ausdrud des Intropiegeſetzes, fo daß das gleiche Ge: 
jeg — der Verfall der Energie —, das die leblofe 
Natur beherrfcht, aud die legte Urjahe des Todes in 
der lebenden ift. 


Eine merkwürdige Anpaſſungserſcheinung ftellt die 
Beziehung dar, die bei vielen, den verſchiedenſten 
Tierfreifen angehörenden Tieren (Plattwürmern, Kreb- 
fen, Amphibien, Fiſchen) zwiſchen Lebensraum und 
Körpergröße beiteht, derart, dap Bewohner zum Bei- 





ipiel von Teihen und Inſeln häufig eine geringere 
Körpergröße aufweifen als Tiere der gleichen Art, 
denen ein größerer Lebensraum zur Verfügung fteht. 
Durch keine der bisherigen Erklärungen dieſer Er: 
ſcheinung voll befriedigt, bat W. Goetſch eine große 
Reihe von Verſuchen angeftellt, deren Ergebnifle er in 
Seit 10 des Biologifhen Zentralblatts 44 veröffent- 
fidt. Die Wadstumshemmung wird bewirkt durd 
Mafferverunreinigungen — hervorgerufen durch An: 
fammlung von Ausfcdeidungsitoffen 3. B. — umd 
erhöhten Kräfteverbraud infolge von. Nahrungs: 
tonturrenz, mechaniſche Störungen durd die Artgenoj- 
fen, Anftoßen an die Wände des Behälters — Dod) 
muß man hierbei ftets die gewöhnlichen Lebensbedin: 
gungen des Tieres berüdlichtigen; bei wenig bemweg- 
lihen Formen wie den Plattwürmer und Schneden 
fommt natürlid) der zweite Faktor weniger in Betracht, 
umgelehrt ift es bei lebhaft beweglichen Tieren wie 
Kaulquappen und Molden. 

Verſuche von Baltz er bringen neue Aufihlüffe über 
das Sinnesleben der Spinnen und ihre geiltigen Fähig— 
teiten (Mitteilungen der Naturforſcher Gefellihaft zu ` 
Bern, Heft 10, 1923; „Naturwiſſenſchaften“, 45). 
Balter unterfudhte zunächſt, welcher Sinn bei dem Cr- 
greifen der Beute die Hauptrolle jpielt. Es zeigte fich, 
daß der Geſichtsſinn völlig ausjcheidet. Dafür, daß die 
Spinne zur Beute hinftürzt, genügt die Erſchütterung 
des Neges. Zur Auslöfung der folgenden Handlungen 
(vom Einjpinnen bis zum Ausſaugen) müſſen Tajtjinn 
und chemiſcher Sinn zufammenwirten. Balßer gelang 
es au, das Borhandenfein von Gedädtnis bei Spin- 
nen nachzuweiſen. Endlich wurde beobachtet, daß GSpin- 


in manden Fällen dort, wo die injtinftmäßige Aneinan- 


derreihung der Handlungen finnlos geweſen wäre, gwed: 
entjpredend entgegen dem ererbten Inſtinkt handelten. 
Ueber den Medanismus der Häufung bei den Infelten 


bat Eidmann (Arhiv für milroftopifche Anatomie 


und Entwidlungsmecnnit, 102, 1924; „Naturmillen- 
ihaften”, 45) feitgejtellt, daß die Inſekten vor der 
Häutung den Kropf voll Zuft pumpen und durd) den 
jo entitehenden Drud den Panzer fprengen. Ferner 
wird dadurch der Panzer, folange er noh weid) ift, ge- 
weitet, und fo das Wachſen des Körpers ermöglicht und 
der Blutdrud erhöht, fo daß das Blut bei der legten 
Häutung in die Flügel gepiept wird, wodurd) diefe ge- 
glättet werden. 

Die Aufnahme des Waflers duch die Blätter, die 
bei den tropiſchen Bromelinzeen ar die Stelle der 
Wafferaufnahme durd) die Wurzeln getreten ift, fommt 
auch bei einheimiihen Pflanzen vor Nadh Unter: 
fuhungen von 8. Wetzzel („Flora“, 117, 1924; „Na: 
turwiflenjchaften”, 48) ift die Anzahl derjenigen ein- 
heimiſchen Pflanzen, die durd die Blätter — und war 
dur die Kutikula, nicht die Spaltöffnungen — Waſſer 
aufnehmen, febr groß. Doch ift die aufgenommene 
Waffermenge zu gering, als daß fie eine entjcheidende 
Rolle im Wafferhaushalt der Pflanzen fpielen könnte. 


Pflanzen trodner Standorte befigen zur Herabſetzung 
der Berdunftung Windfchugeinrihtungen derart, daß die 
Spaltöffnungen an den Grund von becherförmigen Ber: 
tiefungen der Blattoberfläche verlagert worden find. 
Dasjelbe würde die Pflanze durh das an fih näher 


24 Neue Literatur. 


liegende Mittel der Verringerung der Anzahl oder Größe 
der Spaltöfinungen erreihen. Hierdurch aber würde, 
wie Gradmann (Dahrbud für wiflenjchaftlide Bo- 
tanit, 62; „Naturmwiffenjchaften”, 48) feitgejtellt hat, die 
Kohlenjfäureaufnahme in gleihdem Maße gehemmt wer: 
den wie die Wafferabgabe, während das bei den Wind- 
ichußeinrichtungen, wie phyſikaliſche Nachbildungen be: 
weijen, nicht der Fall ift. 

Aus einem Vortrag, den Knoll auf der diesjährigen 
Innsbruder Naturforjherverfammlung über die Weg- 
jeibeziehungen zwiſchen Blüten und Injelten hielt (ver: 
öffentlit in Heft 47 der „Naturwiſſenſchaften“), heben 
wir bejonders hervor die erperimentellen Feſtſtellungen 
über die Rolle, die das Gedächtnis der Schmetterlinge 
beim Auffinden des Nektars jpielt. Der Taubenſchwanz 
findet nur mit Hilfe des Gefichtsjinnes jofort aud) ver: 
borgene Nektarien, wenn fie durch Saftmale gefenn- 
zeichnet find, die fi) durd fattere Färbung abheben, wie 
bereits früher veröffentlidte Verſuche Knolls ergeben 
haben. Knoll ftellte nun Verſuche an mit ſchwarz— 


weißen Saftmalen auf gelbem Grunde. Die Schmetter: 


linge fanden dann den Zugang zum Nektar nicht fofort, 
ſondern nur durch Zufall beim Abtrommeln des gelben 


Grundes mit dem Rüffel. Beim fpäteren Beſuchen aber 
leitet fie das Gedädtnis ſofort fiher zu dem Gaftmal 

Die Tatjache, daß es auh Blumen gibt, deren Blüten: 
bau der Beitäubung durch Vögel angepaßt ift (Vogel: 
blumen), jieht man im allgemeinen als merfwürdigen 
Ausnahmefall an. Dagegen it Porſch, wie er in 
einem Bortrag auf der genannten Berfammlung aus: 
führli (ebenfalls in „Naturwiſſenſchaften“, 47) ver: 
öffentlicht, der Anfiht, daß die Zahl der Bogelblumen 
bedeutend größer ift, als man gegenwärtig annimmt. 
Seine Forfhungen ergaben in einem Falle, dağ von 
281 Familien beinahe 23 Prozent Bogelblumen auf: 
wiefen, und in einem anderen Falle von 170 Familien 
16,4 Prozent. Ebenfo wird die Zahl der Blumenvögel- 
urten fowie der Anteil der Vögel überhaupt an der Be- 
ftäubung weit unterfhäßt. Porſch jtellt feft, daß es 
auf Java mindejtens ein Drittel ſoviel Blumenvögel 
gibt wie Bienen. Die Blumenvögel ſuchen die Biumen 
nur des Honigs wegen auf, nicht wegen der Inſekten. 
Nicht angepaßte Vögel führte unter der heißen Tropen: 
jonne urjprünglich der Durft zu den Blumen. Das Ge- 
biet der Beitäubung durch Vögel ift nad) Porſch nod) 
viel zu wenig durchforſcht. 





Probleme der kosmiſchen Phyſik, Herausgegeben von 
Prof. Dr. Ienfen und Prof. Dr. Schwaßman. Ham: 
burg 1924. Henri Grand. Heft IV: Die Milchſtraße 
von Prof. Dr. Plaßmann. 96 ©. mit 3 Abbildungen 
und 2 Tafeln. Man ijt erjtaunt, was der Berfaffer 
alies über dieſes noh immer rätjelhafte Gebilde zu 
jagen hat. Zunächſt aftrometriih. Ihr Anblid zu den 
verjhiedenen Jahreszeiten, die Bejtimmung des galaf- 
tiihen Wequators und die Beziehung des Kosmos 
dorauf, dann Zeichnungen und photometriihe Aufnah— 
men der Milchitraße, die jo ſehr viel Subjektives zeigen, 
jo daß eine Darjtellung der Milchſtraße febr jchwierig 
ift, und photographiih fih ganz anders darftellt als 
optifh. Sodann ajtrophyfitaliih. Hier handelt es fidh 
um Entfernung, Größe, Temperatur udn Bewegung der 
fie zufammenjegenden Sterne, während die Sternitatiftit 
die Stellung der Sonne zum galaktiſchen Mequator er: 
gibt und zeigt, daß gewiſſe Verteilungsgeſetze auftreten. 
Eingehend werden die Beziehungen des Gebildes zu 
den GSternhaufen und Nebeln beiprocdyen, und die Ber- 
bältniffe der Sterne nad) Eigenbewegung und phyjifa- 
liſchen Eigenſchaften, die noh jehr der Klärung bedürfen. 
Sehr wertvoll ift der Anfang, den Hagen von der Bati- 
fanifhen Sternwarte über feine Arbeiten über die dunt- 
len Nebel und deren Beziehungen zur Milchſtraße gibt. 


Wir gewahren hier ganz neue kosmiſche Einblide in 
dieje noh wenig erforfchte Welt matt oder garnicht 
leuchtender Welttörper, die möglicherweije der Stoff 
find, aus dem die Sterne fih bilden. 

Heft V: Die durchdringende Strahlung in der Atmo- 


ſphäre. Bon Dr. W. Kohlhörfter. 72 ©. mit 5 Abb. 
Nah einem einleitenden Kapitel über gewiffe Eigen: 
haften der Radioaktivität wird eingehend gezeigt, eine 
wie große Menge von Arbeit darauf verwendet worden 
ift, die verfchiedenen Strahlungen in der Atmofphäre 
jomweit zu ftudieren, daß fie mit Sicherheit von einander 
getrennt werden konnten. Dann aber ift unzweifelhaft 
feitgeftellt worden, daß nod eine febr harte bis auf 
den Erdboden dringende Strahlung vorhanden ift, von 
der Art der Gammajtrahlung. Die Ionifation nimmt 
nad) oben hin ftar? zu und ift in 9000 m Höhe etwa 
adıtzigmal jo ftar? wie in 2000 m Höhe. Bis 15 km 
Höhe ift fie als zunehmend erwiefen, während über 
ihren Urjprung nur Vermutungen aufzuftellen find. 
Jedenfalls handelt es ſich um kosmiſche Einflüffe. Biel- 
leiht um eine Strahlung der Firfterne, der Milchſtraße 
oder der Gternriejen; vielleiht auh, im Anſchluß an 
Ideen von Nernit, um eine Strahlung neu im Aether 
jid) bildender Elemente von jehr hoher Ordnungszahl. 


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XVII. Jahrg. Detmold, Februar 1925 Hett 2 


Herausgegeben Schriftleitung: 
vom Professor 
Keplerbund Dr. Bavink 
Bielefeld 


6 ê 





Inhalt: 


Das Problem des Uebels in der Welt. Von B. Bavink, ® Astronomie und 
Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr. Paul Meth. ® 
Das Problem des Genius im Lichte der Naturwissenschaft. Von Dr. Scher- 
watky. ® Seelisches Heilverfahren. Von Oberarzt Dr. Müller. ® Der Sieges- 
zug der Hertjschen Wellen. Von Georg v. Hassel. ® Helium. Von Dr. 
H. Bönke. ® Aus dem Leserkreis. ® Kleine Beiträge. ® Ausprache. ® 
Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur. 


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erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post oder Buchhandel, viertelj. 2.— Goldmark. 

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Oesterreich: Postsparkasse Nr. 15603b. Schwelz: Keplerbund-Postscheckkonto: Zürich Nr. VIII. 10635. 
Holland: H. J. Couv&e, Amerongen, Postrekening 17927. Amerika: Rev. W. Meinecke, Chicago (Jll.) 5647 
So. Rockwell St. Mexiko: M. Lassmann, Apartado 549 Mexiko D. F. 


Alle Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. Verlag od. Geschäftsst. des Keplerbundes, Detmold. 





z aa des Februarheftes der zweiten in unserem 46 
Inhaltsverzeichnis “$ vers erscheinenaen zeino „Der Naturfreund‘“. 
Naturwissenschaft und Weltanschauung. Von Studiendirektor Dr. Müller. ® Winternacht. Von Reinhold 
Fuchs. ® Winterfütterung der Vögel. Von Gustav Wolff. ® Die Bisamratte. Von Frit Brandt. ® Wintersnot. 
Von C. Lund. ® Der Segen von Blitz; und Regen. Von Viktor Kutter. ® Im wilden Gebirge des Kaukasus. 
Von Alfred Nawrath. ® Beobachtet die Mondfinsternis am 8. Februar! Von Prot. Dr. Riem. ® Häus- 
liche Studien. ® Kleine Beiträge. ® Der Sternhimmel im Februar. ® Naturwissenschaftliche und 

naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur. 
Funkfreund: Rückkoppelungsschaltungen. Mar Ha fänger. Von Studienrat Möller. ® Wie 
— baue ich? Von Studenrat Möller., ® Funk Allerlei. Zusammengestellt von W, Möller. 








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ünftrierte Zeitineitt fir Auturwiſſenſchuft und Weltanihauung 


Herausgegeben vom Naturwillenfchaftlichen Verlag des Keplerbundes e. B. Detmold. 


Poſtſcheckkonto Nr. 45744, Hannover. 


Schriftleitung: Prof. Dr. Bavink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Aufläge ſtehen die Verfaſſer; ibre Aufnahme magt fie nigi zur Aeußerung des Bundes. 


XVIIL. Jabrgang 


Sebruar 1923 


Oeit 2 


Das Problem des Uebels in der Welt. Bon B. Bavin. & 


— —ñ— — —ñ— — — — — —— 


Zum erſten Male in unſerem Kulturzuſammen— 
bang ift das Problem des Uebels zur Grund- 
irage der Religion bei Zoroafter, in der altperfi- 
Ichen Religion, geworden. (Bon dem fajt gleich 
alten Buddhismus, der auf unfere Kultur erft 
viel jpäter als jene Einfluß gewonnen hat, jehen 
wir bier ab.) Bei Zoroafter wird alles Gute 
auf den guten Gott Ahuramazda, alles Böfe auf 
den böfen, ebenjo urſprünglichen Gott Angra- 
manju zurückgeführt. Daß hierbei natürlich 
ganz naiv anthropozentrifch verfahren und des- 
halb 3. B. alle dem Menfchen nüßlichen Tiere, 
wie etwa das Rind, auf den erften, alle ihm 
Ihädlichen und widerlichen, wie Skorpione oder 
Schlangen, auf legteren zurüdgehen, braudjt uns 
nicht Wunder zu nehmen; über diefen naiven An- 
thropozentrismus find nur die indifchen Religio- 
nen von Anfang an hinausgefommen. Als nun 
diefe im Grundjaß dualijtifche perfifche Religion 
in den lekten zwei, drei vorchriftlichen Jahrhun- 
derten auh das Judentum ftar? zu beeinfluffen 
begann?) (durch die Deportationen der Juden in 
perſiſche Gebiete), fand fie hier zwar einen 
Wideritand an dem grundfäglichen Theomonis- 
mus der damals längjt zu feften Dogmen fri- 
ftallifierten jüdifchen Religion, fo daß ein völliger 
Vebergang zu jenem Dualismus niemals er: 
folgte; dafür aber drang um fo ftärker in die 
religiöfe Praris und die Bolfsreligion die aus 
der perliihen Religion geflojfene dualijtifche 
Borjtellungswelt ein. Wenn in- den älteren 
Schriften des Alten Tejtaments ein „Teufel“ 
noh taum eine Rolle fpielt, oder fogar, wie im 


+) Das Nähere wolle man im zweiten Band von Ed. 
Meyers bervorragendem Wert: „Urfprung und An: 
fänge des Chriſtentums“ nachlefen. 


5 Fortſetzung. 


Hiob, ein ſolcher „Ankläger“ nur als eine Art 
von Staatsanwalt zum göttlichen Gerichtshof ge⸗ 
hört, ſo wurde nunmehr der „Satan“ (griechiſch: 
diabolos) als Perſonifikation des böſen Prinzips 
einfchließlich eines ganzen höllifchen Hofftaats 
und einer Hölle als Aufenthaltsort der Verwor⸗ 
fenen allgemein angenommen. (Der „Scheol” 
der älteren altteftamentlichen Schriften ift feines 
wegs eine Hölle, jondern, dem Hades der Grie- 
chen ähnlich, ein Dämmerzuftand nad) dem Tode.) 
Wir finden diefe dem Judentum urfprünglich 
fremden Borjtellungen dann auh im Neuen 
Zeitament, 3. B. wenn Jefus vorgeworfen wird, 
er treibe die Teufel durch Beelzebub, den ober: 
ften Teufel, aus. In diefer Form ift der Dualis- 
mus weiterhin ins Chriftentum übergegangen, 
das aber auf der anderen Geite ebenjo wie das 
Judentum den Schöpfungsmonismus grundfäß- 
lich fejthielt.. Wenn fpäter, im zweiten und drit- 
ten nachehriftlihen Jahrhundert, gnoftifche Lehe 
rer auf einen urfprünglichen Dualismus zurück— 
griffen, fo hat die Kirche dies ftets als Srrlehre 
abgelehnt. Sie verwarf fogar jeden Verſuch, 
zwilchen den Batergott und die Welt einen bes 
londeren Weltenfchöpfer, den fogenannten Demi- 
urgen, eingufchieben, der als niedere Emanation 
der in unnahbarer Höhe thronenden Gottheit 
ſchon weit in die Materie hineingegogen und 
deffen Wert, die Welt, daher unvolltommen wäre 
und durch den Obergott erlöft werden müßte. 
Der Ablehnung diefer Lehre dient, beiläufig be- 
mertt, der erjte Artikel des Apoftolitums, der 
feftitellen foll, daB der allmächtige Vatergott mit 
dem Weltenfchöpfer identifch ift. 

Trog dieſes grundjägliden Monismus der 
Schöpfung ift das Ehrijtentum jedoch auf der 
anderen Geite durchaus dualiftifh. Das Uebel, 


26 Das Problem beg Aebels in der Welt. 


und zwar ganz bejonders das fittlihe Uebel, die 
Sünde, ift ihm keineswegs, wie oft im modernen 
liberalen Proteftantismus, bloße Rückſtändigkeit 
oder Unvollfommenheit oder gar notwendige Er- 
gänzung des Guten, ſondern grundfäßliche Gott- 
widrigteit. Daß die Kirche entgegen auch ſchon 
im Altertum öfter vorgetommenen Verfuchen zur 
Abſchwächung diefes Dualismus ihn fo entjchie- 
den fejtgehalten hat, muß ihr als Berdienft an- 
gerechnet werden, obwohl fie damit aus einem 
gewilfen inneren Widerjprud im Gottesbegriff 
niht herausgelommen ift. Gie hat damit dodh 
den richtigen Inſtinkt bewieſen; denn tatfächlid) 
zeigt eine tiefere Ueberlegung, daB diejer anjchei- 
nende Widerjprucd eine unumgängliche Schwie— 
rigteit aller höheren Religion fein muß. Cs liegt 
im Wefen des Gottesbegriffs, daß derjelbe in 
Hinfiht auf die Schöpfung und Erhal- 
tung zu einem moniſtiſchen Abſchluß 
drängt. Iſt Gott wirklich „allmächtig“, fo hat er 
alles, ichlehthin alles, auch das uns wertwidrig 
Erfcheinende, ins Dafein gefegt. Auf der 
anderen Ceite ift Gott als höchſtes Gut jedoch 
ftets der A ndere, der dem, was ift, das, was 
fein foll, entgegenftellt. Wie jener Gedanfe in 
die Vergangenheit, fo weift diefer in die Zukunft. 
Sener handelt von den legten Urfachen, diefer 
von den lebten Bielen der Welt. Es nügt nichts, 
fih durch allerlei fadenfcheinige Rationalismen 
darüber hinwegzutäufchen, daß die Spannung 
zwifchen diefen beiden Ideenreihen unaufhebbar 
ift. Natürlich löft auch der Teufelsbegriff diefes 
Problem ebenfo wenig wie der freie Wille des 
Menfchen oder der Demiurg der Gnoftiter. Jm- 
mer bleibt auf dem allmädtigen Schöpfer: 
gott die Verantwortung dafür ruhen, daß ſolche 
Wefen überhaupt da find, die abfallen und damit 
die Schöpfung verderben fonnten. Als mein 
jehsjähriges Söhnchen zum erjten Male in der 
Vorſchule die Gefchichte vom Sündenfalle gehört 
hatte, erzählte er fie uns mittags ganz aufgeregt 
und folop halb weinend mit den entrüfteten 
Worten: „Warum machte denn der liebe Gott 
auh fo einen alten efligen Teufel?” (Die 
Schlange war natürlich als dieſer gedeutet.) 
Das Theodigeeproblem in Kindermund! Cur 
Deus fecerit diabolum? fragten die alten Kir- 
chenlehrer. Den Widerfpruch beifeite jchaffen 
fann offenbar nur ein grundjäßlicher Dualis- 
mus wie bei Soroafter, das heißt mit anderen 
Worten: Streichen des ſchlechthin allmächtigen 
Gottes des erjten Artikels, oder aber Auflöfung 
des ganzen Gottesbegriffs überhaupt wie im 
modernen Monismus oder im Buddhismus. Wir 
tommen darauf unten näher zurüd, müfjen aber 
nun zuerst Die mwuitere Ausführung des Pro- 


blems in der chriftlihen Dogmatik ins Auge faf- 
fen, weil diefe noh heute das Denten der meijten 
Menſchen bei uns enticheidend beeinflußt. 


Das Chriftentum übernahm vom Judentum, 
aus dem es hervorging, nicht nur die ſchon er- 
örterten religiöfen Borftellungen, fondern dazu 
noh zwei andere grundlegend wichtige Dinge. 
Das eine ift der Glaube an eine heilige, „geoffen= 
barte“ Schrift. „Das Chriftentum ift von An» 
fang an Buchreligion geweſen,“ jagt mit Recht 
ein neuerer Theologe. Das andere ift das aus- 
ſchließliche Betonen des fittlidhen Elements 


‚in der Religion, während alles Naturhafte völlig 


in den Hintergrund tritt. Wie Chamberlain in 
den „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ fo 
padend jchildert, ift das Judentum eben dadurch 
von falt allen anderen religiöfen Bewegungen 
der Menfchheit unterfchieden, daß es alle religiöje 
Energie auf das filtliche Verhältnis des Menſchen 
zu Gott konzentriert. Wer Naturmyjtit oder 
religiöfes Naturgefühl, philoſophiſche Durch: 
arbeitung oder auch künftlerifche Veredelung 
der Religion fudht, muß fih niht an das 
Alte Teftament, fondern an die Hellenen oder 
Inder oder die Edda ufw. menden. Das Juden- 
tum hat denn ja auch dementjprecdyend weder 
Wiſſenſchaft noch Kunſt hervorgebracht und das, 
obwohl die Juden, wie die Neuzeit ausweift, zum 
mwenigften für gewiffe Zweige der Wiflenfchaft, 
(3. B. Arithmetit und mathematifche Phyfit) febr 
gut beanlagt find. Hier fieht man, wie eine 
Ideenwelt fogar entgegen natürlicher Veranla- 
gung entjcheidenden Einfluß auf ein Volksſchick⸗ 
fal haben fann. In dieſer Einfeitigkeit nun liegt 
zwar eine Schwäche, aber darin liegt natürlich 
zugleich auch die Größe des Judentums. Was 
die großen Propheten, ein Jeremias oder die 
beiden Jefaja, auf ihrem Gebiete brachten, dem 
hat die ganze übrige religiöfe Entwidlung der 
Menichheit (abgefehen vom Chriftentum) auch 
nicht annähernd Aehnliches zur Seite zu Stellen. 
— Das Chriftentum jedody wurde ſchon in den 
erften Jahrhunderten gezwungen, fi nun auch 
mit der hellenijtilchen Gedanfenwelt auseinander» 
zufegen, und in diefer fpielten eben Natur und 
Kultur, Wilfenfhaft und Kunft die führende 
Rolle. Diefer Prozeß beginnt jchon bei dem 
eriten großen Heidenapoftel, Paulus, und fegt 
fich dann durch mehrere Jahrhunderte fort. Wenn 
er im Mittelalter fcheinbar zu einem gewiljen 
Abichluß gefonımen war, fo begann er aufs neue, 
und in viel intenfiverem Maße als vorher, zur 
Zeit der Renaijfance und dauert noch heute fort. 
Da nun aber zugleich das Ehriftentum, wie er= 
wähnt, an eine heilige Schrift gebunden war 
und es, nachdem auch der neuteftamentliche Ka: 


——— AA GE En we — — 


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Das Problem des Uebels in der Welt. 27 


= mm nn e — — — 


non gegen Ende des zweiten Jahrhunderts zum 
Abſchluß gelangt war, erſt recht wurde, ſo er— 
gab ſich mit Notwendigkeit von Anfang an nicht 
ein völlig freies Spiel der Gedanken, ſondern 
ein ſteter Kampf zwiſchen Ueberlieferung und 
Neuem, ein immer erneutes Ringen um den 
Ausgleich zwiſchen dem, was man feſthalten 
wollte, weil es ja „offenbart“ war, und dem, 
was an neuen Gedanken fih eindrängte. Jeder 
Beobachter unferer heutigen religiöfen erhält: 
nifle weiß, daß wir felber noch mitten in ſolchem 
Ringen drinftehen. Dies muß man fih gegen: 
wärtig halten, wern man auh unfer Problem 
richtig fehen will. 

Die Grundlage für die chriftlicde Ausgeſtal⸗ 
tung des Problems des Mebels bildet bis auf 
diefen Tag die Lehre des Apoſtels Paulus, der 
fie in erfter Linie im Römerbrief und in dem 
befannten 15. Kapitel des erjten Korintherbriefes 
‚entwidelt hat. Es entipridt durchaus der Her: 
funft des Paulus aus dem Judentum, daß er hier 
allesnatürlihdelebelgrundfäglid 
unterdasfittlideunterordnet. Nidt 
nur der Tod ift ihm „der Sünde Sold”, fondern 
auch „das ängftliþe Harren und Sehnen der 
Kreatur” ift eine Folge des Gündenfalles der 
Menfchheit, fie ift mit diefer zugleich und um 
ihrer willen „der Bergänglichkeit mit unterwor: 
fen“. So wenigftens ift der betreffende Abfchnitt 
(Römer 8) zumeist verftanden worden, und, wie 
ich glaube, mit Redt. Die Auslegung, Paulus 
meine mit dem hier von ihm gebrauchten Worte 
ktisis (Luther: Kreatur) nicht die außermenjch- 
lihe Schöpfung, fondern die außerchrijtliche 
Menjchheit, fcheint mir gezwungen und wohl 
mehr aus dem Wunſche hervorgegangen, Paulus 
von der Lehre freizufprechen, daß auch die Leiden 
und der Tod der Tiere durch den Sündenfall 
des Menfchen verurfacdht feien. Wie dem aber 
auch fei: auf jeden Fall hat Paulus für den 
Menſchen alles phyfifche Uebel als Folge und 
Strafe der Sünde aufgefaßt. Daran follte man 
nicht durch apologetifche Künste zu drehen und zu 
deuteln verjuhen. Wenn Paulus in den allbe- 
fannten Worten vom Tod fpricht, der „durch 
eines Menfhen Sünde in die Welt getommen 
ift” uſw., fo meint er nicht einen abftraften Be- 
griff eines „geijtlichen Todes” oder dergleichen, 
fondern ganz real das phyfilche Sterben, das 
Aufhören des irdifcdyen Lebens, natürlich ein 
Ichließlih und mit befonderer Betonung der das 
mit verbundenen Gewifjensnöte u. a., aber doch 
nicht diefe allein, fondern auch den phyſiſchen 
Vorgang. Er fußt dabei ganz offenbar auf den 
Worten des Genelisberichts (Gen. 2, 17). Wenn 
er ferner 1. Ror, 15 als „Stachel des Todes” 


m — — — 


die Sünde bezeichnet, ſo fol das ebenfalls nicht 
etwa, wie manche Apologeten gerne möchten, das 
phyſiſche Sterben aus der religiöfen Betrachtung 
bejeitigen, fondern entweder, wie es zumeift auf: 
gefaßt wird, bejagen, daß die Sünde dasjenige 
jei, was den Tod ganz bejonders bitter mache, 
oder aber, was ich nadh der Grundbedeutung des 
Wortes kentron (Biehtreiberftachel) für viel 
wahricheinlicher halte: daß die Sünde fozufagen 
der Treiber ift, der dem Tode feine Beute zu- 
treibt, oder auch: deffen fih der (hier perfonifi- 
zierte) Tod als Antriebsmittel bedient‘) Mag 
man nun aber im einzelnen auch die Worte des 
Apoſtels jo oder fo deuten, im ganzen tann man 
meines Crachtens nicht, ohne ihn zu vergewal- 
tigen, beftreiten, daß er das phyfilche Uebel dem 
moralifchen unterordnet, es aus dieſem herleitet. 
Daß dies fo ift, geht {hon daraus hervor, daB 
feine Worte zwei Jahrtaufende hHindurdy von 
allen fo verftanden worden find, außer von ge: 
wilfen Theologen, die gerne etwas anderes her- 
auslefen wollten, weil fie felber anderer Mei- 
nung waren und nicht gerne im Widerfpruch zu 
der anerfannten Autorität der Kirche Stehen woll- 
ten. Sn chriftlichen Laienkreifen wird Paulus 
auch heute noch fajt überall fo verjtanden. Nur 
wo man durch apologetijche Schriften auf die 
Schwierigkeiten aufmerffam geworden und auf 
die anderen Interpretationen als Austunftsmit- 
tel hingewiefen ift, verficht man gelegentlich diefe. 

Die Schwierigkeiten der paulinifchen Lehre find 
nun allerdings fo groß, daß von Anfang an zahl- 
reiche chriftliche Theologen andere Lehren ver- 
treten haben und zwar feineswegs etwa nur 
folche, die als „Ketzer“ verworfen wurden, fon- 
dern auh Autoritäten der Nechtgläubigfeit, wie 
3. B. Athanafius. Zu ftar? leuchtet {hon dem 
einfachen Menfchenverftande ein, daB Tod und 
Leid Naturordnungen find, ohne die man fih 
eigentlich die Welt gar nicht denten tann, und 
zu wenig motiviert erfcheint doch gerade dem 
Gottesglauben die Vorftellung, daB Gott die doch 
an dem Sündenfalle Adams ganz unfchuldige 
Tierwelt um diejes Falles willen mit verdammt 
baben follte. Sobald man jedoch hier an Paulus’ 
Lehre abftreicht, und nur noch den Tod des 
Menfchen auf feine Sünde zurüdführen will, 
Ipricht wieder alle natürliche Analogie dafür, 
daß auch beim Menfchen der Tod Naturordnung 
und nicht ſekundär erworbene Eigenfchaft ift. 
So ift die Kirche zu einer fozufagen offiziellen 
und endgültigen TFeitlegung der Lehre über die- 
jen Bunft niemals recht gefommen; das hat je- 


— 





5) Der ganze Spruch ift im übrigen deutlid) eine An: 
lehnung an Hoſea 13, 14. 





28 Das Problem des Uebels in der Welt. _ 


doch nicht gehindert, daß fie in der Praxis ziem- 
lich eindeutig doch fih auf den Standpunft des 
Paulus geftellt hat. Um das einzufehen, braucht 
man nur unfere gebräuchlichen Grabliturgien 
oder die große Menge der Ofter-, Totenfeft- und 
Allerfeelenpredigten fih zu vergegenmärtigen. 
Einerlei, wie weit es fidh dabei um ein Entgegen: 
tommen an die fogenannte „Gemeindetheologie” 
oder um eigene Heberzeugungen der Urheber und 
Ausführenden handelt: der Gefamterfolg ift auf 
alle Fälle, daß niemand, der nicht die näheren 
Verhältniffe tennt, hinter allem diefem auh noch 
andere Lehren als die des Paulus vermuten 
würde. Stellt jedoch in öffentlichen Distuflionen 
einmal ein Zweifler die Bedenten gegen diefe 
Lehren offen heraus, fo erhält er zumeift hödjit 
ungenügende Antworten. Zwar pflegt man ihm 
ohne weiteres guzugeben, daß „ſelbſtverſtändlich“ 
Leid und Tod in der außermenfdlichen Schöpfung 
vor dem Menfchen vorhanden gemejen fein tönn- 
ten. Aber die Naturwiſſenſchaft fei doh auch 
niht unfehlbar. Im übrigen meine ja Paulus 
gar nicht fo febr das phyſiſche Sterben als viel- 
mehr den „geiſtlichen Tod“, und auf der anderen 
Seite fei doh auch gar nicht zu beftreiten, dah 
in fo und fo vielen Fällen Leid und Tod tatfädj: 
lih Folge der Sünde feien (was natürlich nie- 
mand je beftritten hat). Nahdem dann fo glüd- 
lih alles mit halben Eingeftändnijfen und halben 
Wahrheiten durcheinander gerührt worden ift, 
weiß der Frager überhaupt niht mehr, woran 
er fih eigentlich halten foll. Erjtens exiſtiert Die 
ganze Frage eigentli gar nicht, wenigjtens 
brennt fie noh nit auf den Nagel, da ja ‚gar 
nicht ficher ift, ob die Naturwiſſenſchaft nicht irrt. 
Zweitens hat Paulus das ihm Borgemworfene 
aber ja eigentlih gar nicht gejagt und drittens 
hat er damit doch eigentlich Recht gehabt. 
Angefichts einer folhen unwürdigen Sadjlage 
muß jeder Freund ehrlichen und klaren Denkens 
folgendes fejthalten und immer wieder feftitellen: 
Naturmilfenichaftliche Urteile haben (vgl. „Un: 
fere Welt” Nr. 7, 1923) zwar vielfady) nur mäßige 
MWahrfcheinlichkeit, vielfach aber auh fo gut wie 
abfolute Sicherheit. Solche Urteile noch zu be: 
ftreiten, 3. B. etwa der Kugelgeftalt der Erde und 
der Sonne oder der eleftromagnetifchen Lidt- 
theorie noch zu widerjprechen, fällt feinem ver- 
nünftigen Menfchen ein, der die zwingenden 
Gründe, die zu ſolchen Urteilen geführt haben, 


- wirklich kennt. Hierzu gehört aber aud) das Ur- 


teil, daß Leiden und Tod vor dem Menicen in 
der Welt gewefen find. Wenn, wie mandhe 
neuere Forjcher lehren, der Stamm desfelben ge- 
fondert von den übrigen Tierftämmen fchon 
früher als zur Tertiärgeit eriftiert hat, fo ift es 


Doch eine reine Sophifterei, wenn man darauf: 
þin etwa im Jura oder gar im Paläozoikum 
[don von „Menfchen“ fprechen will, um fo 
ichließlich herauszufriegen, daß womöglid) der 
Menſch am Anfang der ganzen Schöpfung ftehe. 
Durh alle die endlofen Jahrmillionen dieſer 
Perioden hat diefer angebliche „Menſch“ nicht die 
geringften Spuren intelligenter Tätigkeit hinter: 
laffen. Wenn alfo die Vorfahren des heutigen 
Menfchen vielleicht auh fon fehr früh gefon- 
derte Entwidlungsbahnen gegangen find und die 
Menichenaffen nicht von ihnen abzweigten, fon- 
dern eine Parallelentwicklung darftelten (fo 
neuerdings wieder Dacque), jo waren doh 
eben diefe Vorfahren prattifch auch nichts ande: 
res als ihre tierifchen Zeitgenoffen. Von mora: 
lichen Begriffen konnte bei ihnen ebenfo wenig 
die Rede fein wie bei diefen, den anderen Tieren, 
auh. Es ift jchlimm, daß fo etwas nod aus 
drüdlich gejagt werden muß. ch weiß aber, 
daß wenn ih es hier überginge, alsbald fidh 
hinter {olhe Gedankengänge der apologetiſche 
Wunſch wieder verfchanzen würde. Damit ift 
es alfo nichts. Es bleibt dabei, daß man Leid 
und Tod der Tierwelt fchlechterdings nicht ohne 
die unfinnigften Verdrehungen und Phantafte: 
reien als Folgen menſchlicher Sünde hir 
ftellen tann. Das, was den Namen Menje erft 
wirklich verdient, tritt nah allem, was wir 
wiljen, früheftens im Tertiär auf diefer Erde auf. 
Was vorher war, mag gefonderter Tierftamm 
geweſen fein, war aber fein Menfch in unjerem 
Sinne des Wortes. Das ift fo ficher, wie über: 
haupt nur irgend ein naturmiffenfchaftliches Ur: 


‚teil fein fann, und darum hat es nicht den ge: 


ringften Zweck, hier noch auf die „Unficherheit 
naturmwifjenfchaftlicher Schlüffe” zu poden. 
Zweitens follte dann aber nicht minder tlar 
und offen zugegeben werden, daß diefe Erkennt: 
nis allerdings in beftimmten Punkten einen nid)! 
zu überbrüdenden Gegenſatz zu der Lehre des 
Apoftels Paulus bildet. Man follte endlid 
darauf verzichten, diefen umzudeuten, um ihn 
vor dem Vorwurf des Widerfpruches gegen die 


Wiffenfchaft zu bewahren. Paulus war ein Kind . 


feiner Zeit und fonnte mit ihr irren. Er hai 
in diefem Punkte geirrt, das foll man ĝt 
geben und nicht durch einen Schwall von Worten 


über den „geiftlihen Tod“ ufw. zu verhüllen 
Seine Theorie klingt dem einfaden 


ſuchen. 
Nachdenken freilich plauſibel genug, ſie entſpricht 
einem unmittelbaren Gefühl. Der Tod des mil 
Selbjtbemußtfein und eigener Verantwortung 
ausgeftatteten Menfchen fommt uns allerdings 


in gang anderer Weife unnatürlich vor, als der : 


des in dumpfem Triebleben befangenen Tieres. 





























































) 








Das Problem des Uebels in der Welt. 29 


Wir fühlen alle — aud) die Ungläubigen werden 
das zumeift zugeben — das relative Recht der 
Hoffnung auf Unfterblichkeit, denn es liegt in 
uns etwas, was nad) diefer verlangt: die höheren 
geiltigen Werte, die wir vor dem Tiere voraus 
baben. Uber daraus folgt nicht, daB wir vor 
fo und foviel Jahrtauſenden einmal unjterblid) 
geichaffen wurden, fondern beitenfalls, daß wir 
mittels diefer höheren Werte an einem vergäng> 
lichleitsfreien Dafein teilhaben und zwar gerade 
fo viel, wie wir folche Werte tatfächlich aufzu— 
weifen haben. Unfer tragifches Schidfal aber ift, 
Daß wir diefen Schaß, um mit einem anderen 
Worte des Mpoftels zu reden, „in einem irdenen 
Gefäß” tragen müflen, aber nicht etwa erft in- 
folge eigener Schuld, fondern von Natur aus. 

Die Folgen diefer Einficht find nun viel wei- 
tertragend, als man gemeinhin zugeben möchte. 
Hat Paulus in diefem Puntte geirrt, fo ift es 
niht nur fein Unrecht, ſondern einfach unfere 
Pflicht, uns zu fragen, ob dann nicht vielleicht 
feine ganze Auffaffung des Uebels von Grund 
auf reformbedürftig ift. Wir brauchen darum 
feine tiefe Erfaffung der „Sünde“ als folche 
nicht preiszugeben, aber die Frage ift, ob er 
damit, daB er in ihr den legten Quell alles 
Uebels überhaupt fah, Recht gehabt hat. Dieje 
Trage muß m. E. unbedingt mit Nein beantwortet 
werden, wenigjtens wenn man unter „Sünde“ 
das verfteht, was bei uns Menichen jo heißt, 
d. h. bewußter Widerftand gegen Gott und feine 
Ziele oder „Gebote“. Diefe „Sünde“ ift nicht die 
legte Quelle, fondern nur der eine Ausfluß 
aus der. Quelle alles Uebels. Der andere ift das 
phyfiiche Uebel. Beide entijtammen allerdings 
der gleichen Quelle, nämlih dem Umftande, 
daB der individuelle Wille zum 
Leben fi felber als einziges Ziel 
fett und dadurd in Widerſpruch ſowohl gegen 
die anderen Weſen als gegen den Gejamtmillen, 
d. i. Gott, gerät. Wenn man dies, alfo die 
Selbſtſucht des Individualmillens, 
an fih als „Die Sünde” fchlechthin bezeichnen 
will, dann freilid ift es rihtig, daß 
alles Uebel aus der Sünde ftammt. 
Aber das ift dann ein anderer Begriff des 
Wortes Sünde, als der, den Paulus meint, der 
dabei durchaus an die bemwußte Sünde eines 
feiner felbit bewußten und mit freiem Willen 
ausgeftattet gedachten Weſens gedacht hat. Mit 
jenem weiteren Begriffe wandeln wir ſchon auf 
den Bahnen indifcher Weisheit, wie fie bei uns 
befonders durch Schopenhauer und Hartmann 
verbreitet worden ift, haben uns aber ziemlid) 
weit von dem Standpuntt des Alten Tejtaments 
und des urfprünglichen Chriftentums entfernt. 


Das wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß im 
ipäteren Chriſtentum febr oft ſolche Gedanken 
ihon ausgefprodyen worden find. Die großen 
deutfchen Myſtiker, ein Jakob Böhme oder 
Meifter Edhardt, haben alle zu foler viel tiefes 
ren und weiteren Auffaffung geneigt, aber das 
ift eben der Einfluß germanifchen Geiftes, der 
fih da bemerkbar madıt. Für das Judentum und 
auh für Paulus gibt es Sünde nur als be- 
mußten Miderfpruh gegen göttliche Gebote. 
Dieje find den Heiden zwar aud) bekannt, „denn 
Gott hat fie ihnen ins Herz gelegt,” aber gang 
unmittelbar und dirett doch nur durch „das 
Geſetz“ Mofis dem auserwählten Bolt offenbart, 
deffen Sünde daher (bei den Propheten und auh 
bei Paulus) um jo größer ift. Bon irgend 
welcher Naturhaftigfeit ift dabei zunächſt gar 
feine Rede; bei den altteftamentlichen Propheten 
ipielt eine „Erbfünde” überhaupt faum 
eine Rolle, und auh bei Paulus, dem Urheber 
diefer jpäter durch Muguftin zur offiziellen 
Kirchenlehre gewordenen Lehre, ift diefe Crb- 
fünde nicht etwa ein urjprünglicyer Naturbe- 
itandteil, fondern eben erft jetundär durh den 
„Sündenfall” Adams in die urfprünglich davon 
freie Menfchenart hineingebracht. Man muß fidh 
durchaus tlar machen, daß hier zwei einander 
ausfchließende Auffaffungen zufammentreffen, 
eine jüdifch anthropogzentrifche und eine ger— 
manifch naturverbundene. Die eritere geht von 
der „Sünde“ in ihrer höchitentwidlten Form 
aus, wie fie bei Menſchen mit freiem Willen als 
bewußter Widerfpruh gegen befannte Gebote 
des SGittengejeßes auftritt, und ſucht alles 
Uebel niederer Ordnungen gulegt als Folgen 
folder Sünde zu begreifen und zwar als 
Folgen im moraliid - juriftiihem Sinne 
(Strafen), niht etwa im Sinne logifcher oder 
faujaler Notwendigkeit. Die andere erfennt in 
diefer menfchlichen „Sünde“ eine Teilerjcheinung 
eines viel allgemeineren Phänomens, das nicht 
auf den Menfchen beſchränkt ift, fondern die 
ganze Welt durchwaltete und nur auf der 
höchſten Stufe, da, wo freie Selbitbeitimmung 
vorhanden ift, als die uns geläufige bemwußte 
„Sünde“ erfcheint. Beide Auffaffungen haben, 
vom Standpunfte praftifchen Chrijtentums aus 
gejehen, ihre Vorzüge und ihre Schwächen. Die 
erjtere ift offenbar der zweiten darin überlegen, 
daß fie jeden Verſuch der Entſchuldigung durch 
BZurüdführung auf „Naturanlagen” von vorn- 
herein abfchneidet, wie folche Verſuche feit den 
Anfängen des Chriftentums jtets aufs neue ge- 
macht worden find. Praftifch genommen muB 
tatfächlich jede religiöfe Ethit den Menfchen fo 
behandeln, als ob er jchlechthin frei wäre, fonft 


leidet unfehlbar der Ernft der Verantwortung. 
Auf der anderen Seite macht aber diefe Auf- 
faſſung nur allzu leicht ungeredht und blind 
gegen die tatfächlichen, unverfennbaren natür- 
lichen Bindungen auh des Menfchen. Hat man 
doch im Mittelalter gar nicht felten fogar Kinder 
wegen irgend weldyer „Verbrechen“ getötet oder 
beftraft, die ihnen nad) age der Dinge und nad) 
modernem Strafredht aus dem einfachen Grunde 
gar nicht angerechnet werden durften, weil ihnen 
die Vorbedingungen zur richtigen Einficht nod 
fehlten. Bon allen praftifchen Fragen aber ab- 
gejehen gerät jene Auffafiung nun außerdem in 
die oben erörterten unmöglicyen Folgerungen 
hinfichtlich des außermenfdlichen Uebels. Schon 
dadurch allein erweift fie fidh als undurdyführbar, 
und es fommt hinzu, daß fie nicht einmal bei 
Befchräntung auf den Menjhen voll befriedigt. 
Denn es bleibt auf diefem Standpunft doh nicht 
nur unverftändlih, warum Gott mit Adam zu: 
gleich die Tierwelt zur „mataiotes” (—-Vergäng- 
lichkeit, Luther: Eitelkeit) verdammt, fondern 
man fieht auch nicht im geringjten ein, warum 
die noh gar nicht geborenen, alfo doch ebenfalls 
an Adams Sündenfall völlig unfchuldigen Nach— 
fommen desfelben gleichfalls von vornherein in 
den Stand des „non posse non peccare“ t) 
verjegt werden müſſen. Tatſächlich madt jede 
ſpätere chriftliche Theologie und Apologetif an 
diefer Stelle eine Anleihe bei der zweiten Auf- 
faffung, 3. B. indem fie auf die erfahrungs= 
mäßige Erblichkeit gewiſſer unmoralifcher UAn- 
lagen und dgl. verweift. Sie ftüßt fih alfo ftatt 
auf die innere Logik ihrer Sätze bier plößlid) 
auf die vernunftgemäße Erkenntnis der Tat- 
jahen und manchmal ganz direft auf indild- 
germanifche Gedantengänge. Daß die Tatjachen 
zu einer Lehre vom „radifalen Böfen“ in der 
menſchlichen Natur führen können, hat nicht nur 
Kant, fondern nah ihm noch viel eindringlicher 
v. Hartmann gezeigt. Jn diefem Betracht leijtet 
der zweite Standpunft erheblich mehr als der 
erite, der den in ſich infonjequenten Verſuch 
unternehmen muß, etwas, was als rein Jittliche 
Tat urfprünglich begriffen ift, nun doch wieder 
naturhaft fejtgelegt und übertragen fein zu 
laſſen. 

Steht alſo die theoretiſche Undurchführbarkeit 
des erſteren Standpunktes feſt, ſo wird es 
ſchließlich nicht darauf ankommen, ihn nun doch 
mit allen möglichen apologetiſchen Mitteln und 
Einſchränkungen ſcheinbar zu halten, ſondern 
vielmehr umgekehrt dafür zu ſorgen, daß auf 





1) Ausdruck von Auguſtin — nicht ohne Sünde ſein 
können. 


30 Das Problem des Uebels in der Welt. 


dem anderen, der modernen Erkenntnis der 


Melt allein entſprechenden, der in den alten An- 
ſchauungen jtedende tiefe ſittliche Ernſt nicht 
verloren geht. Hier liegen die Sünden des 
neueren liberalen Proteftantismus und die 
lebten Gründe dafür, daß die Orthodorie beider 
Konfefjionen immer wieder fih auf das Tängft als 
theoretifh unmöglich Erfannte verfteift. Man 
fürchtet nicht ohne Grund, daß durch eine rein 
evolutioniftifche Weltanſicht der Sündenbegriff 
vermwäflert werde, daß an die Stelle der Günde 
das bloße Zurüd in der Entwidlung gefegt 
werden folle, und daß damit dem fittlihen Ber- 
antwortungsgefühll das NRüdgrat gebrochen 
würde. Jn der Tat find nicht felten folche be= 
denflihen Folgerungen aus der neueren Cr- 
fenntnis gezogen worden. Wir ftehen hier an 
dem eigentlichen tiefften Graben zwiſchen rechts 
und lints, pofitiv und liberal, joweit man über: 
haupt bei dem ließen aller Uebergänge in der 
Praris des kirchlichen Lebens von einer folchen 
Scheidung in zwei Parteien reden darf. Die 
Lehre von der Sünde und die damit aufs 
innigfte verbundene von der Erlöfung find der 
eigentliche Streitpunft, alles andere, auh 3. B. 
die Stellung zur „heiligen Schrift” u. a. find 
dem gegenüber nur fetundär. Nun ftehen die 
Dinge offenfichtlich fo, daß auf jeder der beiden 
Seiten ein Teil Recht und auf jeder aud) ein 
Teil Unrecht liegt, ſonſt wäre es nidyt zu er- 
klären, daß auf beiden gleichzeitig fo viele gleich 
ernfte, glei) gebildete und gleih zum Guten 
entfchloffene Geifter zu finden find. Es ift aber 
auch gar nicht fo ſchwer, die Synthefe zu finden. 
Sie lautet einfach dahin, daß in den theoretifchen 
Anfchauungen, foweit fie in Natur- und Ge- 
ſchichtswiſſenſchaft hineinreichen, der Liberalis- 
mus im großen und ganzen fchon heute Recht 
behalten hat, feine wejentlichjten neuen Erkennt: 
niffe find tatfächlich bereits zum Gemeingut der 
Theologie aller Richtungen, wenigftens in 
der evangelifchen Kirche, geworden. Auf der 
onderen Seite hat aber der fog. „alte Glaube“ 
offenbar die größere religiöfe und fittliche Kraft 
bewiefen, (auf den Durdjfchnitt des Volts- 
lebens, nicht die einzelnen Individuen geſehen), 
er muß alfo etwas haben, was feinen Gegnern 
fehlt oder doch bei dieſen in Gefahr fteht, ver: 
[oren zu gehen. Und das ift eben die tiefere Er: 
fallung der Sünde. So erwächſt ganz von jelber 
die rage, ob diefe denn notwendig an die alten 
dogmatifchen Theorien gebunden ift, und ob die 
moderne der paulinifchen Lehre teilweife ent- 
gegenftehende Erfenntnis notwendig zu [agerer 
Auffaffung führen muß. Dieje Trage, die ich 
noch immer für die YZentralfrage der heutigen 





theologifchen Lage halte, muß m. €. verneint 
werden. Es ift vielmehr durchaus möglich, auh 
auf modernem Boden der Sünde ihren ganzen 
Ernit zu belafjen, ja ich möchte faft behaupten, 
Daß die moderne Einfiht das Problem der 
Sünde noch viel tiefer angufaffen erlaubt als die 
alte, die doch, wie die Gefchichte zeigt, nur allzu 
leicht auh zu einem juriftifchen Formalismus 
erjtarren tann (vgl. Anſelms u. a. Lehren). Es 
wird hier wie überall in der Religion gelten, daß 
der Erjag der primitiveren, anthropozentrifch 
und anthropomorphiſtiſch verfahrenden Vorſtel— 
lungen durch theoretiſch geläuterte zwar Den 
Halbgebildeten leicht von Gott wegführt, weil 
ihm feine bis dahin alku maffiven Begriffe ver- 
flüchtigt werden, ohne daß ihm ein (für ihn) 
brauchbarer Erjaß ſogleich geboten wird, daB 
aber derfelbe Prozeß denjenigen, der ganz hin: 
Durchdringt, zu einer vertieften Erfaffung des 
Alten zurüdführt. 

Tür die moderne Erkenntnis ift wie erörtert 
das, was Paulus als „Sünde“ bezeichnet, näm- 
lid der bewußte Widerftand gegen Gott, 
nicht das einzige, fondern nur eine bejondere 
gorm des allgemeinen Uebels, feine höchite 
Spike, die es nur im Menſchen erreicht, weil 
Diefer das einzige uns befannte Weſen mit 
Selbitbemußtfein und freiem Willen ift eine 
Verantwortung reicht deshalb auch genau jo 
weit, als er diefe ihn vom Tier unterfcheidenden 
Qualitäten wirflid hat. Darüber hinaus hat er 
aber mit dem Tiere teil an dem allgemeinen 
Schickſal, daß jeder Teil diefer großen Schöpfung 
feın Dafein nur auf Koften anderer Teile führen 
fann. n diefem Sinne ift feine Selbſtſucht, 
d. h. fein auf eigene und Arterhaltung gerichteter 
Wille doh auch naturhaft bedingt und feine fitt- 
fiche MBerfönlickeitsfchuld, ſondern höchitens 
metaphyfifche „Schuld“ irgend einer übergeord- 
neten Inſtanz (davon reden wir gleich nod). 
So ift der Menih als Bürger zweier Welten 
gieichzeitig frei und unfrei, verantwortlich und 
entfchuldigt, und jedes einzelne Individuum trägt 
auch ein verfchiedenes Map von Verantwortung, 
je nachdem, wie weit in ihm die Ablöjung des 
perfönlich bewußten fittlihen Willens vom trieb- 
haften Leben der Tierheit fortgefchritten ift. Wir 
werden fo nicht erft in foldye unmöglichen Tragen 
uns einzulaffen brauchen, ob beijpielsweile der 
Neandertaler oder Heidelberger Menſch aud 
fchon gejündigt haben und der Erlöjung be- 
dürftig waren oder niht. Die alte Dogmatit 
wird folgerichtig gezwungen, ſolche Tragen auf- 
zuwerfen und mit [charfen Grenzbeftimmungen 
zu beantworten, die doch in Wirklichkeit zu den 


Das Problem des \lebels in der Welt. 31 


` überall vorhandenen Webergängen in Wider- 


ſpruch geraten. Daraus folgt aber nicht, daß 
wir nicht verantwortlicd) wären, wenn etwa unfer 
Vorfahr vor 100 000 Jahren es auch noch nicht 
war. Wir find es, fo gewiß wir wirfliche Men- 
ihen find. Niemand kann fih durch die evolu- 
tioniftifche Betrachtung feiner etwaigen Abtunft 
tatfächlich diefer Verantwortung entziehen, denn 
in dem Augenblick, wo er fie anitellt, beweiſt er 
ja durch eben die Fähigkeit, ſolche Betrachtung 
anjtellen zu fönnen, daß er gerade fein Tier 
mehr, fondern etwas anderes ift, ein Weſen, das 
Wiſſenſchaft treiben und dementſprechend auch 
bewußt ethiſch handeln kann. So bleibt ihm alſo 
genau dieſelbe Verantwortung wie dem, der 
über den Urſprung des Sittengeſetzes und der 
Sünde andere Vorſtellungen hat, ja ſie wird eher 
noch größer. Denn je ſtolzer der moderne Menſch 
auf das iſt, was er erreicht hat — und wer wäre 
ſtolzer darauf als gerade die freidenkeriſchen 
Gegner der Religion? — um fo klarer wird auch, 
daß von dem, dem viel gegeben ift, auh viel 
gefordert wird. Eine richtig zu Ende gedachte 
Entwidlungslehre mindert alfo den Ernit der 
Verantwortung nicht im geringiten, hat dafür 
cber den großen Borteil vor der früheren Auf» 
fajjung, daß fie zugleich dem naturhaft Bedingten 
Des Uebels zwanglos gerecht wird. Gie ftreicht 
olfo auch nicht die „Erbſünde“, im Gegenteil, fie 
bietet diefer tieffinnigen Lehre erft die rechte 
Unterlage. Es wäre doch eine höchit oberfläch— 
lihe Auffaffung, wenn man, mit den oben ange— 
führten Gründen gegen die paulinifche Ausge— 
jtaltung dieſer Lehre, mit ihr felber fertig zu 
fein glaubte. Das macht ja gerade die über- 
aus ftarfe Ueberzeugungskraft diefer Lehre für 
einen tiefer fittlidy empfindenden Menfchen aus, 
daß er mit dem Apoſtel die Wahrheit der Klage 
fühlt: „Wollen habe ich wohl, aber Bollbringen 
des Guten finde ich nicht. ch elender Menje, 
wer wird mich erlöfen von dem Leibe diefes 
Todes?” Ganz gewiß bleibt dies richtig, auh 
wenn wir einjehen, daß nicht ein „Sünbenfall” 
Adams, fondern das ineinander von Freiheit 
und Notwendigkeit, das nun einmal unfer Teil 
ift, daran ſchuld iſt. Denn das ift eben unfer 
Menfchenlos, daß durch die erlangte Freiheit das, 
was dem Tiere nur natürlicher Trieb war, uns 
unter Umjtänden zur Sünde werden muß. Go 
jind wir Sünder, weil und foweit wir frei, „erb= 
fündig”, weil wir dabei zugleich naturgebunden 
find, und doch durch eben diefe Naturgebunden- 


- beit, und foweit fie tatfächlich reicht, in gewiſſem 


Sinne auch nicht „fündig“, fondern nur gefellelt. 
Das ganz unauflösliche Ineinander von Schuld 


32 ` Z Das Problem des Uebels in der Welt. 


und Schidjal,’) das jedes Menfchen Leben durd- 
zieht, läßt fih nur fo völlig verftehen. 

Wenn wir nun bier ſtehen blieben, fo würde 
man uns allerdings mit Redt den Vorwurf 
machen können, daß dies alles zwar vielleicht 
richtig fei, aber in die eigentlichen Tiefen des Pro- 
blems doch nicht hinabreiche. Die ſchwerſte Frage 
erhebe fih ja nun gerade jeßt erft, nämlich die 
Frage: wie denn nun jene „Urfünde”, die Selbit- 
ſucht des Eigenmwillens, metaphyfiich zu deuten 
und zu werten fei. Und bier wird der Chrift jtets 
fi in einem gewilfen Gegenjag zu indiſch— 
ſchopenhaueriſchen Anfchauungen befinden, fo 
nahe er an diefe im ganzen auch heranfommen 
mag. Er wird immer wieder diejen zweierlei 
entgegenhalten. Zum erften, daß fie die Günde 
zuletzt doh ganz in einen Naturfaftor ver: 
wandeln, und dadurd) die Verantwortung dem 
Menſchen ganz abnehmen, ja daß fie legten 
Endes das Uebel ganz in Gott felber hineinver- 
legen. Bei Hartmann wird ja dem Abſoluten 
die doppelte Eigenfchaft beigelegt, Wille und 
Vernunft zu fein und der ganze Weltprogzeß ift 
nad) ihm der Weg, auf dem der an fih blinde 
Dafeinsmille fih von feiner dunftlen unbemwußten 
Gelbftfuht durd die Entwidlung der Vernunft 
felber befreit, um fih fo fchließlich in das Nicht- 
fein freiwillig aufzulöfen und damit dem ja doch 
niemals zur Befriedigung führenden Streben zu 
entfagen. Eine folhe im Grundjaß peflimiftifche 
Stellungnahme widerſpricht aber Zweitens gu- 
dem offenfichtli” dem an fih optimiftijchen 
Grundcharatter des Chriftentums, das, ohne fein 
Weſen aufzugeben, niemals zugeben tann, daß 
der Wille zum Leben an fih die Urfünde fei, 
vielmehr in diefem den an fich guten Ausfluß 
der unendlichen Schöpferfraft ſieht. Diejer 
Optimismus, den das Chriftentum mit dem 
Judentum teilt, ift auf alle Fälle ein integrieren- 
der Beftandteil desjelben. Und darum ift es 
und nicht die indiihe Weisheit trog all ihrer 
Tiefe die Religion des das Leben im Grunde 
bejahenden und die Welt meifternden, nicht an 
ihr verzweifelnden Europäers. Uns erfcheint der 
Buddha Gautama, der, getrieben von immer 
düftereren Gedanken, fchließlich heimlich in der 
Nacht fein blühendes Weib und feinen Knaben 
verläßt, um zuerſt im Büßerleben und danı in 
der gänzlichen Ertötung des Dafeinsmwillens den 
„Pfad des Heils” zu finden, nicht als die höchite 
Potenz menſchlicher Größe, fondern als ein zwar 





2) Es ift in prachtvoll fünftleriicher Geltaltung 3. B. 
in r. v. Bagerns hervorragendem Roman „Die Wund- 
male” dargeftellt. 


Edler und Großer, aber Srregegangener, einer 
der, von Jugend auf überfättigt dur das 
Luxusleben eines indifchen Fürſtenhofes, Tchließ=- 
lih das Nächitliegende und Sclichtejte im fitt= 
lihen Leben nicht mehr fab, wie denn ja auch 
bei uns der Buddhismus fehr häufig die legte 
Zuflucht nicht etwa ſchwer angefochtener und 
leidender, fondern durd; den Befiß aller Kultur— 
güter überfättigter Menſchen wird. Es ift mehr 
als nur ſymboliſch, wenn das Chriftentum fidh 
demgegenüber zu allen Zeiten feinen Meifter 
gern als Baft auf der Hochzeit zu Kana gedadht 
und ihn als foldhen unzählige Male bildlich dar= 
geftellt hat (man dente 3. B. an ©. v. Gebhardts 
befanntes Bild). Das Chriitentum bejaht den 
Willen zum Leben als an fih gut, weil göttlicher 
Art und Herkunft und muß deshalb — allen jo 
vielfach eingedrungenen asketiſchen Strömungen 
zum Trog — zulegt auch die diefem Willen als 
Werkzeug dienenden Naturtriebe an fih gut 
heißen, foweit fie niht zur Beein- 
träbhtigung anderer führen. Da die 
Ernährung tatſächlich zumeift nur auf Koſten 
anderen Lebens möglich ift, jo müßte folgerichtig 
das Chriftentum zuerſt auf diefem Gebiete den 
Beginn des Uebels fudhen. Wenn es Statt deffen 
gerade umgelehrt fo oft das Ellen und Trinten 
als völlig gleichgültige Dinge, den Trieb zum 
anderen GBefchlechte dagegen geradezu als die 
Urfünde behandelt hat, fo ift das ein glatter 
Widerfprud gegen fein Grunddogma von der 
Schöpfung und nur durd das Ueberwiegen 
fpäterer fetundärer Einflüffe zu erklären. Die 
ungeheuren geijtigen Werte, welche die Liebe 
zwifhen Mann und Weib gefchaffen hat und 
denen fidh tatfächlicy fein Menfch, auch der ver— 
ranntejte Asket nicht, entziehen tann, diefe Werte 
hat das Chrijtentum allen Grund ebenfo zu 
preifen wie die Wunder der Schöpfung, ja nody 
mehr, denn durch wahrhafte Liebe braucht an 
fih niemand anderem ein Leid zu geichehen, 
während das Vöglein, das dort auf dem Baum 
uns ein Loblied zu Ehren feines Schöpfers zu 
fingen fcheint, vielleicht im nächſten Augenblid® 
eine unglüdlice Raupe langjam zu Tode hadt. 
Aus diefem Gefichtspuntte ift 3. B. auch der 
Wagnerſche „Parzival“ trog aller feiner Hoheit 
und feiner vielen wahrhaft driftlichen Ideen im 
Grunde undriftlich gedadht; er fteht auf dem 
Boden Schopenhauers und der Inder, denen die 
geichlechtliche Liebe ganz direkt dasjenige Mittel 
ift, deffen fich der unfelige Wille zum Leben be- 
dient, um immer aufs neue das Leid diefes Da- 
jeins zu entfachen. | 
(Schluß folgt.) 


Bo —— Ge rah nn — = m 


Aftronomie und Weltanfhauung bei griehifhen Philofophen. 33 


Aftronomie und Weltanfhauung bei griechiſchen Philo- 


fophen. Bon Dr. Paul Meth. — (Fortfekung.) 


Da der „Kosmos“ die Ordnung und Boll- 
endung fchlechthin darftellt, fönnen feine Formen 
nur die vollendetiten fein: darum muB die 
Erde Kugelgeftalt Haben! Darum müſſen 
auch alle Gejtirne auf Kreifen umlaufen, und 
Das Weltall felber muß eine Kugel fein. Die 
in grober Annäherung richtige Ausfage über die 
Kugelform der Erde ift alfo nur aus einer philo- 
fophifchen Erwägung hervorgegangen. Nad der 
Zahlenlehre der Pythagoräer ift die Zehn eine 
bejonders heilige und volltommene Zahl, folg- 
Gh müflen es zehn Kreife fein, auf denen fih 
Die Sterne um den Mittelpuntt der Welt drehen. 
Die Zehnzahl wird dabei auf eine höchft eigen- 
tümliche Weife berechnet. Die fieben Wandel- 
Tterne, Mond, Mertur, Benus, Sonne, Mars, 
siupiter, Saturn durchlaufen fieben Kreife. 
Mit der Firfternbahn ift die Zahl acht ers 
reiht. Die Erde ſelbſt ſteht nicht ftill 
im Mittelpuntt der Welt, fondern dreht fih 
um ein Zentralfeuer in einem Tage, 
und zwar fo, daß die eine Erdhälfte immer 
den Ausblid ins Weltall behält, während die 
andere Halbkugel dem Sentralfeuer zugekehrt ift. 
Eine Gegenerde bewegt fih auf demjelben 
Kreife um das Zentralfeuer, uns ewig unfichtbar 
immer hinter dem Feuer ftehend. Mit Erde und 
Begenerde ift die Zehnzahl in der pythagoräifchen 
Melt erreiht. Durch die eintägige Drehung der 
Erde um das Zentralfeuer fommt diefelbe Cr- 
Iheinung zuſtande, als ob fih alle Gejtirne in 
einem Tage um die Erde drehten. Daher wird 
dem Firfterngewölbe auch nicht die tägliche Um- 
mälzung gegeben, fondern Philolaos nimmt eine 
febr langſame, vieltaufendjährige Umdrehung der 
Hiriterntugel an. Diefe langdauernde Um— 
drehung der Fixſterne um den Weltmittelpunft 
ift offenbar nur aus Entſprechungsgründen hin» 
zugefügt worden. Die Kegelbewegung der Erd: 
achfe, die fogenannte „PBräzeffion“, 
eine fcheinbare Drehung des Fixſterngewölbes 
gegen die Sonnenbahn, aber die Präzeſſion ift 
erft im zweiten Jahrhundert vor Chriftus von 
Hippard) entdedt worden. Die Kenner der grie- 
chiſchen Wiflenfchaft lehnen den Gedanken ent- 
fchieden ab, daß Pythagoras oder Philolaos die 
Präzeflion gefannt hätten. Gerade die phanta- 
ftifchen Elemente des pythagoräifchen Weltbildes, 
die Zutaten freier Erfindung, enthalten entwid: 
Tungsfähige Keime und Anfäße zu weiteren Fort- 
fchritten auf dem Gebiete der aftronomifchen Cr- 
fenntnis. So war nur nod ein Meiner Schritt 


erzeugt zwar 


P) 


nötig, um bdie Gegenerde als Halbkugel der 
Gegenfüßler mit der eigentlichen Erde zu vers 
binden und aus der vorher befchriebenen Bes 
megung beider Erden die Achfendrehung cines 
einzigen Erdförpers zu machen. Dann war die 
icheinbare tägliche Bewegung der Geftirne in 
der neuzeitlichen Weiſe erklärt. Aber auch ohne 
dies bedeutet die Loslöfung der Erde aus der 
Mitte des Weltalls erfenntnistheoretifch einen zus 
funftsreichen Fortſchrit. Wird doch dadurd 
zum eriten Male die Möglichkeit gewaltiger Bes 
mwegungen zugegeben, die wir garnicht durdy Cr- 
ichütterungen wahrnehmen; denn ähnliche Be» 
denfen find es doch, die den kindlichen Verſtand 
von der Annahme einer bewegten Erde abge- 


. ihredt haben. Ferner wird im pythagoräifchen 


MWeltgebäude die Erde ausdrüdlid mit den 
andern Geftirnen auf eine Stufe geitellt, denn 
fie rechnet in der Zehnzahl mit und fie bewegt 


fih nad) Art der andern: fie wird zum „Pla: 


neten“. Innerlich war damit auh das Welt- 
gebäude mit der Sonne als Mittelpuntt vorbes 
reitet worden, denn wenn man überhaupt erjt 
gewagt hatte, eine Bewegung der Erde auszu- 
denken, fo fonnte man ihr auch jede andere Be: 
wegung, aljo auch die jährliche Ummälzung um 
die Sonne zuſchreiben. Beſonders zu betonen ift 
noch, daß im pythagoräiſchen Weltgebäude in ges 
radezu bahnbrechender Weife die Bewegung zum 
erjten Male als eine relative Erfcheinung erfannt 
wird, d. h. daß es für die Befchreibung einer Be- 
megung gleichgültig ift, welchen Körper man als 
ruhend oder bewegt anlieht: Der Reifende in 
einem ftehenden Eifenbahnzuge glaubt zu fahren, 
wenn fih ein Zug auf dem Nebengleis in Be- 
wegung fekt. Oder um auf das aftronomifche 
Beifpiel einzugehen: Die Erfcheinungen des Auf» 
und Unterganges der Erde werden ebenfo gut 
durch die Achjendrehung der Erde wie durch eine 
täglife Umdrehung des Himmelsgewölbes in 
entgegengejetter Richtung bejchrieben. Die Be» 
wegung ift eine Lagenänderung der Körper 
gegeneinander oder relativ zueinander. Diele 
Relativität der Bewegung wird im pythago- 
räifchen Weltbilde ausgewertet, um die fcheinbare 
tägliche Umdrehung der Sterne aus einer täg— 
lichen Kreisbewegung der Erde zu erflären. Hier 
biegt zwar ein Tehlgriff in der Wahl der Er— 
flärungsmittel vor, indem der Erde eine Achſen— 
prehung hätte zugefchrieben werden follen, aber 
mierfenntnistheoretifchen Urteil ver: 


34 Aftronomie und Weltanfchauung bei griechiſchen Philofophen. 


liert die Erklärung dadurch nicht an Bedeutung. 

Wenn wir uns niht auf den Standpunft der 
heutigen Willenfchaft ftellen, fondern die Aftro- 
nomie des Pythagoras als Ausdrud einer philo- 
iophifchen Weltauffafjung werten, fo ift die Lehre 
von dem Sphäreneinklang nicht als Entgleifung, 
fondern als die Krönung der pythagpräiichen 
Weltauffaffung anzujehen. Pythagoras nahm 
an, daß ſich die Durchmeifer der Planetenfreife 
wie die ganzen Zahlen 1 : 2 : 3 verhalten, ent- 
ſprechend feinem Glauben an die allbeherrichende 
Zahl. Andererfeits hatte er entdedt, daß die 
Verfürzung einer jchwingenden Saite auf }:', 35 
uſw. ihrer urfjprünglichen Länge die Oktave, 
Quinte ufw. des Grundtons der Saite ergibt. 
Die für das Weltgebäude angenommene und in 
der Muſik entdedte Zahlenharmonie vermählen 
fih in der phantaftijchen Lehre des Sphären: 
eintlanges. Die Planetenbahnen follen nad) 
ihren Größenverhältniffen wie die Obertöne einer 
Gaite tönen und damit auh dem Obr die Ein- 
heit des Weltenbaues fundtun, allerdings nur be- 
vorzugten Menfchen hörbar, zu denen fih Pytha= 
goras felber rechnete.e Wir gehen wohl nicht 
fehl, wenn wir annehmen, daß er in entrüdter 
Verſenkung in die Schönheit des Alls geglaubt 
þat, die Klänge der Sphären mwirflih zu ver- 
nehmen. 

Der Kosmos, die Berförperung göttlicher 
Schönheit, an der fih die Außeren und inneren 
Sinne in gleiher Weiſe erbauen, verträgt 
feinen Untergang. Diefe Welt muß ewig 
währen, fonft wäre die Gottheit ja nicht voll- 
fommen. Das Rätfel der Ewigkeit löſt Pytha- 
goras durch die ewige Wiederholung: Nad einer 
Umdrehung der Firfternfphäre follen auh alle 
Planeten wieder ihre Anfangsitellungen ein- 
nehmen, und nun follen alle Ereigniffe in der 
Welt fih wiederholen. Heraklit hat diejen Ge- 
danfen wahrfcheinlich von dem älteren Pytha— 
goras übernommen. Die Welt erjcheint dem 
Pothagoras als ein riefiger Organismus, Die 
regelmäßige Wiederholung aller Vorgänge er- 
innert an die ſich wiederholenden Lebenstätig- 
feiten. Die Welt „atmet“ in langjamen Zügen, 
die Jahrtaufende umfaſſen! 

Sin der pythagoräifchen Aftronomie hat fih 
der griechifche Geift ein unvergängliches Dent- 
mal geſetzt, denn das echt griechiſche Gefühl für 
Mah, Schönheit, Einklang, findet im pytha- 
goräifhen Kosmos den ſtärkſten Ausdrud. Das 
Weltall, wie es Pythagoras fah, ift ein Gebilde 
jeiner Weltanſchauung, und diefe wieder fchöpft 
aus dem Anblick der Sternwelt und ihrer Schön- 
heit neue Kraft des Glaubens. 


Nur die Lehre von den Zahlenverhältnifjen 


der Töne ruht bei den Pythagoräern auf dem 
Unterbau, auf welchem fih das Gebäude neugeit- 
liher Naturforſchung erhebt: auf dem Verſuch. 
Sm übrigen droht fih die Naturphilofophie auf 
dem Wege, den Pythagoras und feine Schüler 
mit fo viel Hoffnung und Begeifterung bejchrei- 
ten, in einem trügerifchen Helldunfel von Ber: 
nünfteleien zu verlieren. Zwar treiben aud) wir 
die Aftronomie, wie alle ftrenge Naturforfchung, 
in pothagoräifhem Sinne, wenn man darunter 
verfteht, daß wir von der Natur verlangen, dağ 
fie großen Geſetzen unterworfen ift, die wir in 
Bahlenbeziehungen ausdrüden. Aber wir arbei: 
ten dabei durchweg mit Verfuchen oder Beob- 
achtungen Hand in Hand. Der Verſuch führt 
uns zu Gefeßen, deren Folgen für das Denten 
mit Hülfe der Mathematit gezogen, fidh wieder 
fchrittweife durch das Experiment prüfen iaffen. 
Wie aber der griechifche Geift nah Pythagoras 
den legten Reit des Erdenftaubes abfchüttelt, und 
wie fih in den reinen Wetherhöhen des Kosmos 
auch der reine Berftand, gepaart mit Forderungen 
des Gemüts, eine Welt fchuf, jehen wir an 
Platon. Wohl haben wir von ihm das Jıhöne 
Wort: „Die Altronomie zwingt uns, empor zu 
ſehen und führt die Seele von dem, was hie 
nieden ift, nach dort“, und hierin zeigt er feine 
innere Verwandtſchaft mit Pythagoras. Uber 
nun tut er den jhon angedeuteten Schritt weiter: 
Der menſchliche Geiſt erfaßt den Kosmos aus 
fich felbft heraus; dazu ift noch nicht einmal das 
Eichverfenten in den Anblid der Sternenmelt 
nötig! Die Himmelsmunder find nad) Platon, 
nach einer Aeußerung in feiner Schrift „Der 
Staat”, nicht darum befonders erhaben, weil wir 
fie über uns erbliden; mir können dieſelbe 
Schönheit und denfelben Erkenntniswert in der 
Tiefe fuben und finden. Und die legte Tiefe, 
aus der dem Weiſen die reinfte Wahrheit quilt, 
ift der menfchliche Geift, der Gedanken zu fallen 
vermag, die bis in die dunfelften Geheimnille 
des Kosmos hineinleuchten. Iſt doch die menfdy 
liche Seele ein Teil der „Weltſeele“, und daher 
kann der Menſch in ſich den Sinn der Bell 
finden, die Welt verftehen und ergründen. In 


Platons Augen ift die Welt nady einem großen. 


„Zweck“ geftaltet, der ihr Dauer und Ordnung 
verbürgt. Der Kosmos verkörpert die „Boll 
fommenheit“. Dem Kosmos liegt ein Leitgedante 
zugrunde, der fi) dem großen Denter als die 
„dee des Guten“ offenbart. „Das Gute” ift 
der furze Ausdrud, eine zuſammengefaßte 



















































Formel für das herrfchende Weltprinzip, das J. 
allen Veränderungen entzogen ift und über dem Æ; 







MWechfel der Erfeheinungen thront. Es beherrid 
die veränderlichen Dinge und prägt ihnen DIE 








Aftronomie und Weltanſchauung bei griechiſchen Philoſophen. 35 


Geſetze auf. Daher rührt z. B. die Geſetzmäßig— 


keit im Laufe der Sterne. Das „höchſte Gute“ 
kann nicht untergehen, das iſt Platons natur: 
philojophifhe Religion; die wahre Weſenheit 
der Welt ift ein unveränderlich Bleibendes, Wer- 
den und Vergehen find nur vorübergehend. Die 
Welt, regiert vom „höchſten Guten“, ift ewig. 
Das ift nur zu denten und zu verftehen als ewige 
Wiederkehr, wie fie Pythagoras lehrte. Nach 
dem großen „Weltjahr”“ haben alle Geftirne 
wieder dieſelbe Stellung zueinander, und alle Cr- 
eigniffe auf Erden fehren wieder wie die Be- 
mwegungen im Kosmos. Platon vergleicht die 
„dee des Guten” mit der Sonne, beide „er: 
leuchten”, beide find die Erzeuger des Wachſens 
und Gedeihens der Gefchöpfe. Und wo die Ber: 
gleichbarkeit fo weit geht, da ftellt fih, noch an= 
fangs taum bewußt, die Gleichjegung ein. Es 
bleibt der freien Deutung überlajfen, ob Platon 
in fpäteren Jahren in der Sonne eine Ber- 
törperung der weltbeherrfchenden „dee des 
Guten“ gejehen hat; jedenfalls haben Philo- 
fophen nah ihm aus foldyen Vergleichen des 
athenifhen Meiiters die Anregung zu einer 
Sonnen- und Lichtphilofophie gefchöpft, die die 
Beziehungen zwifchen Aftronomie und Welt- 
anſchauung befonders eng knüpfen follte. Immer 
wieder verfudht Platon die Sdee des Guten zu 
umfchreiben, fie uns nahe zu bringen. Er findet 
fie endlich in den drei Begriffen der Schönheit, 
Wahrheit und im Maß, dabei in enger Be- 
ziehung zu pythagoräifchen Anſchauungen blei- 
bend, denn das Maß ift eben die in Zahlen aus» 
dDrüdbare Form und Geſetzmäßigkeit. Daher 
fordert Platon, daß die Entfernungen der Pla- 
neten von der Erde, um die fih alle Gejtirne 
drehen, in gewiſſen, einfachen, ganzzahligen Ber- 
hältniffen ftehen, und folgert daraus mit Pytha- 
goras die Sphärenmufit. Der gange Kosmos 
muß, als volltommenjtes Wefen, die voll- 
fommenjte Geftalt haben, das ift die der Kugel. 
Der Kosmos ift alfo nicht unendlich groß, denn 
das unendlich Große wäre geftaltlos. Das Ge- 
fühl für Maß und Form verbietet dem atheni- 
ſchen Weifen, eine unendliche Welt anzunehmen. 
Freilich bleibt dabei unerflärt, was fich hinter 
den Grenzen der Kugel befinden foll Ganz 
pythagoräijch gibt er auch der Erde Kugelgeſtalt 
und folgert daraus richtig die Exiſtenz von Gegen: 
füßlern, die Begriffe „oben” und „unten“ rela- 
tivierend. 


Während fih in diefen Zügen des aftronomi- 
ſchen Weltbildes faum fchon etwas Eigenes findet, 
geht Platon bewußt über feine Vorgänger hin- 
aus, wenn er die „Zwedmäßigfeit” der Welt be- 
tont. Er fühlt fih von den älteren Philofophen 


nicht befriedigt, welcdye nad) den Gründen fragen, 
„woher” die Welt jo und niht anders fei. Platon 
glaubt, daß man durch die frage nach den ding- 
lichen Urfachen die legten Gründe nicht aufdede. 
Diefe lägen vielmehr in den jenfeitigen „Zwecken“. 
Die fosmifchen Vorgänge find nicht blind wir- 
tenden Naturfräften zugufchreiben, die eigentliche 
Erklärung alles Gefchehens fließt aus einer Biel- 
itrebigfeit des Kosmos nad) dem „Beſſeren“, nad) 
Berpolllommnung. Die tosmifche Entwidlung 
wird — wie die menſchliche Gefellfchaft — von 
der „Gerechtigkeit“ beherrich, in dem Sinne wie 
Heraklit die Rachegöttinnen als Hüterinnen des 
„Rechts“ über die Bahn der Sonne maden läßt. 
Die Wirkung der Gerechtigkeit ift es, daß alle 
Geftirne ihre vorgeichriebenen Bahnen Durch» 
laufen und einander ihre Kreife nicht ftören. 

Platons Einjtellung, auh in ajtronomifchen 
Dingen, ift im höchſten Maße folgernd, der Ber- 
Stand ift der „König des Himmels und der Erde”. 
(So 3. B. im „Philebos” bezeichnet.) Da jpricht 
aus ihm der hervorragende Mathematiker: fo 
wie er die Eigenfchaften geometrifcher Gebilde 
durch bloße Weberlegung finden fann, glaubt er 
auch, die Natur aus feinem eigenen Innern þer- 
aus ergründen zu können. Die hohe fünftlerifche 
Befriedigung, weldye die Beichäftigung mit der 
Mathematit gewährt, ergibt das Bindeglied zwi- 
jhen der Berftandes: und Gefühlsfeite in der 
Platonifchen Weltanfhauung. Jene innerjte 
Ueberzeugung, daß der Kosmos nad) fünjtlerifchen 
Grundfägen gefchaffen ift, ift für Platon gleidh- 
bedeutend damit, daß die Welt im großen wie 
in den kleinſten Teilen mathematijche Gejeße be- 
folgt. Daher werfen ihm die Gegner vor, er 
habe die Natur „vermathematifiert”. Damit 
wird man aber feiner Geiftesart nicht gerecht, 
denn fein Sinn und feine Freude an mathemati- 
ichen Formen ift ftets an ein ftarfes, urjprüng- 
liches Gefühl für Schönheit gebunden, und nur 
durch diefes Gefühl glaubt er die Geſetze des Welt- 
alls zu verſtehen, fagen wir richtiger: „nachzu— 
fühlen“, in die Geheimnijfe der Werkſtatt des 
MWeltichöpfers zu jchauen. 


Es wurde ſchon vorher auf Platons Lehre von 
der Meltfeele hingewiefen. Auch diefe Boritel- 
lung wird in eigentümlicher Weife mit der 
Aftronomie verquidt; fie foll dadurch dem Ber- 
ftandnis näher gebracht werden: Im Weltall er- 
folgen lauter Kreisbewegungen als Ausdrud der 
Bolltommenheit des Kosmos. Im Haupte des 
Menichen bewegen fih feine, unfichtbare Teil: 
chen, und ſoweit fie geordnete Bahnen in Kreijen 
ausführen, bringen fie die edlen und vernünftigen 
Gedanken hervor. Alfo beherricht diefelbe Nar- 
monie den Kosmos wie den harmonilchen, guten 


36 Das Problem des Genius im Lichte der Naturwiſſenſchaft. 


und weifen Menſchen. Die Menfchenmelt iſt 
denjelben Regeln wie die Gejtirnwelt unter- 
mworfen, infofern als die Streisbewegungen in 
beiden Fällen eine Begleiterfcheinung der inneren 
Vollkommenheit im phyfitalifchen wie ethifchen 
Sinne find. Aber eine noh engere Verknüpfung 
zwiſchen der Welt des Kleinen und Großen findet 
Platons Gedantenflug: Wenn die Bewegungen 
der Teilchen im Haupte zum Bemwußtfein ge- 
hören, müffen auh im Weltall die Bewegungen 
der Sterne von Gedanken und Empfindungen be- 
gleitet fein, d. bh. der Kosmos ift ein leben- 
Diges Weſen, freilich von ganz anderer Be» 
Ichaffenheit als alle anderen bekannten, mit Be- 
mwußtfein begabten Wefen, weil er aud) ein Da- 
fein unter einzigartigen Bedingungen lebt. Er 
Ichließt alles in fih, daher braucht er fein Organ 
zur Nahrungsaufnahme; und er tann die Glieder 


zur Fortbewegung entbehren, denn er führt als 
volltommenftes Weſen fchon die volltommenfte 
Bewegung aus, das ift der Umſchwung um fih 
jelbft. Der Kosmos umfdließt ſelbſt Wefen 
niederer Stufe, das find die Sterne, welche höher 
geartet als die Erde, die Wohnungen der Seelen 
nach dem Tode abgeben. Die Gedanten find zum 
Teil ähnlidy wie die Fechners im „Zend-Avpeſta“. 
Platons tosmologifche Lehren entfernen fih weit 
von dem, was wir heute Wiſſenſchaft nennen. 
Uns Steht manhe Anfiht älterer Naturphilo- 
fophen näher als Platons Metaphyfit. Wenn 
3. B. Anaragoras die Himmelstörper für Steine 
hielt, fo wurde er zwar von Platon und Mri- 
itoteles dafür angefeindet, aber er hatte doch den 
Weg betreten, auf dem die Ergebnifje der moder: 


‚nen Spelttralanalyfe liegen. 


(Schluß folgt.) 


Das Problem des Genius im Lichte der Naturwiſſen⸗ 


ſchaft. Bon Dr. Scherwatzky. 


Das Problem des Genius ift fo alt wie die 
Menichheit ſelbſt. Schöpferifhe Naturen wie 
Dichter und Denter haben immer eine Sonder: 
ftellung gehabt. Im Altertum galten fie als 
heilig: ein Gott fchien aus ihnen zu fprechen! 
Das gilt für die Welt des alten Teftamentes 
genau fo gut wie für die der Germanen und 
Römer. Erft bei Beginn der Neuzeit wird das 
raturmiljenfchaftlich-philofophilche Problem, das 
in und hinter dem „Genius“ ftedt, gefehen. Wohl 
jpürte man auh damals die in den genialen 
Menſchen wirfende „höhere“ Macht, aber der 
Menſch der Renaiffance war rein naturwillen- 
ichaftlich eingeftellt und der Weberzeugung, dab 
fi) alle Probleme reftlos in wiſſenſchaftlicher (das 
hieß für ihn zunächſt in naturmiffenfchaftlicher) 
Weiſe löfen laffen müßten. Der fpätere Mas» 
terialismus geht an dem Problem wie an allen 
geiftigen Problemen achtlos vorüber. Erft durd 
Die Neubegründung der Philofophie dur Kant 
und vor allem durch die Romantik wird das 
Problem des fchöpferifchen Menfchen wieder le: 
bendig. Gegen die rein philofophifche Auffaffung 
diefer Frage wendet fih die beginnende Natur: 
wiljenfchaft der Zeit um 1840. Seitdem ift das 
Problem ein Gtreitgebiet zwifchen der Natur: 
wiljenfchaft — genauer der Piychologie — und 
der Philofophie geblieben. Es ift ein typifches 
Grenzproblem. — Das geniale Denten ift oft ge- 
nug geichildert worden, da es immer wieder zu 
Deutungen reiste. Zur Klärung der Frage wird 


$) 


es gut fein, an der Hand des vorhandenen Ma- 
terials die wefentlihen Grundzüge herauszu— 
arbeiten, ehe eine Scheidung der Gebiete erfolgen 
tann. (Das ift gerade heute wichtig, da die ganze 
Trage durch die Arbeit von Giefe: „Das außer: 
perfönliche Unbemwußte” in ein neues Stadium 
zu treten fcheint.) 

Am befannteften find die Ausjagen der Mdh- 
ter geworden, und dort ftehen unſere klaſſiſchen 
Perjönlichkeiten im Vordergrunde der Forſchung. 
Goethe betont einmal, daß die Snfpiration in 
niemandes Gemalt fei; fie ftände über alle 
irdifhe Macht erhaben und fei dem Dämoniſchen 
verwandt. An Schiller fehreibt er darüber: „Ich 
glaube, daß alles, was das Genie als Genie tut, 
unbewußt gefchehe. Kein Werf des Genies tann 
durch Reflerion und deren nächite Folgen ver: 
beflert, von ihren Fehlern befreit werden.” 
Schiller hatte furz vorher gemeint: „Der Künft- 
ler fängt ftets mit dem Unbemußten an. Er 
hat fih glüdlich zu ſchätzen, wenn er durch das 
tlarite Bewußtſein feiner Operation nur fo weit 
fommt, um die erjte dunkle Totalidee feines 
Werkes in der vollendeten Arbeit ungefchwächt 
wiederzufinden. Ohne eine folche dunkle, aber 
mächtige Totalidee — die allem Technilchen vor: 
hergeht — tann fein poetifches Wert entftehen.” 
Ein anderes Mal ftodte in ihm diefer „Medha: 
nismus”, und er fchreibt an Goethe: „Was ift 
unfer Wille, wenn die Natur verfagt! Worüber 
ich jhon fünf Wochen lang brütete, das hat ein 





Das Problem des Genius im 


milder Sonnenblid binnen drei Tagen in mir 
gelöſt.“ Goethe beftätigt: „Wir können nidyts 
tun, als den Holzftoß erbauen und recht trod- 
nen; er fängt alsdann euer zur rechten Beit, 
und wir verwundern uns felbjt darüber.“ Beſſer 
tann der Mechanismus unbewußter Arbeit — 
jenfeits und autonom vom Ich — nicht gefdil- 
dert werden. Diejelbe Erfcheinung finden wir 
auch beim Schaffen Feuerbachs. Er fagte ein- 
mal: „Es ift eine fanfte, felige Macht, die mir 
zuweilen die Hand führt; die Bilder haben ihren 
eigenen Willen, und wenn fonft nie, folge ich 
hier gern.“ Bekannt ift auh, daB Mozart die 
Gedanken jtrommweife und ganz plöglih tamen; 
woher und wie, das wußte er nicht. „Alles das 
Binden und Machen geht in mir nur wie in 
einem Starten Traum vor; aber das Ueberhören 
fo alles zufammen ift doh das Beſte.“ Aehn—⸗ 
liches willen wir auh vom Schaffen Beethovens, 
den die Melodie des „Opferliedes“ fein Leben 
lang verfolgte wie Goethe die Tauftidee. 

Aber auch das mwiffenfchaftliche Denten arbeitet 
in ähnlicher Weife. Am klarſten geht das aus 
Nietzſches Worten hervor: „Man hat, man Jieht 
nicht, man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt, 
wie ein Blig leuchtet ein Gedanke auf mit Not- 
wendigfeit in der Form und ohne Zögern — 
ih habe niemals die Wahl gehabt. Alles ge- 
ſchicht im höchſten Grade freiwillig, aber wie im 
Sturm, wie Treiheitsgefühl, wie Unbedingtfein, 
wie Macht von Gottheit.“ 

Ueberbliden wir die angeführten Ausſprüche, 
fo ergibt fich deutlich, daß die Anfpiration wohl 
gefucht werden tann, aber nicht erfcheint; daB 
plötzlich jedes geiftige Können erlifcht und zwar 
oft auf Jahre hinaus, um plöglih wieder auf- 
zutaucdhen. Allen genialen Menjchen ift diefe 
ausgefprochene Ohnmacht gegenüber dem „her- 
beirufen“, „abftellen“ oder „geftalten” irgend 
eines intuitiven Gedankens eigentümlich. Ein» 
heitlich ift auch die Empfindung eines völlig 
jelbftändigen, vom Willen unabhängigen Ge- 
ihehens im Menſchen. Es herricht fein Pro- 
duftionsgefühl, fondern durchaus das Gefühl des 
Empfangens. Der geiftoolle Lichtenberg hat das 
einmal fo ausgedrüdt: „Nicht ich dente, fondern 
es denft in mir.” 

Ebenfo rätjelhaft wie die Gleichheit der, Bor- 
günge des intuitivegentalen Denkens ift aud die 
Gleichförmigkeit menfchlicher Ideen und ihre 
Bleichartigkeit bei verfchiedenen Völkern und 
Zeitaltern. Eine begrenzte Zahl von „Ur: 
gedanten” wie Scidfal, Gottheit, Seele, Recht, 
Empfindung, Kraft, Stoff, Sein, das Körper: 
liche, der Weltfchöpfer, der Gutgefell, die Sünde 
ufw. findet fih bei allen Völtern in allen Zeiten, 


Lichte der Naturwiflenfchaft. 37 


gleichgültig ob fie durch Kontinente oder Ozeane 
oder Durch abgrundtiefen Bildungsunterfchied ge- 
trennt find. Intereſſant ift nun, daß fih diefe 
Urideen genau fo bei Minderfinnigen wie bei 
Kindern wiederfinden; die Vermandtichaft zwi- 
ſchen kindlichen Zeihnungen mit denen primis 
tiver Völker auf der einen Seite und denen der 
Minderfinnigen auf der anderen Geite ift ver- 
blüffend, und ebenjo rätſelhaft. Nätfelhaft ift 
auch die Periodigität, die geregelten Zeitabläufe, 
in denen diefe Ideen auftauchen. Wir wiljen 
aus dem Schaffen H. Wolfs, Heines, Grillpar- 
gers, Goethes und Schillers von jenen plößlichen 
„Ihöpferiihen Paufen”, die den Dichtern fetbft 
jo peinlich waren und dodh für ihr Schaffen von 
unendlicher Bedeutung geweſen find. 

Die Wege, die zur Löfung aller diefer Pro- 
bleme, die mit dem intuitiven Denten in feinem 
weitelten Sinne gegeben find, führen fünnen, 
jind doppelter Natur: der eine ift der der Phäno- 
menologie. Sie verfucht, Die im Bewußtſein ge: 
gebenen Fragen rein philoſophiſch zu erforfchen, 
unabhängig von ihrer pſychologiſchen Bedingt- 
heit. Für fie ift der Dualismus Geift und 
Materie ein Urdatum, eine lebte Gegebenheit, 
und ihre Löfungsverſuche find von der piycho- 
fogifchen Methode abſolut verichieden. Der pfy- 
chologiſche Weg iit naturwiffenidhaft- 
Tid orientiert. Er führt über das Gebiet der 
Dentpigchologie, der Piychoanalyfis, der ver- 
gleichenden Ceelenfunde. Diefen Weg Ichlägt 
ein Buch ein, das in feiner willenfchaftlichen 
Tolgerichtigkeit und äußerſten Konfequenz nieder: 
Hchmetternd wirft: Giefes „Das außerperfönliche 
Unbewußte“. Unter Verwendung eines erftaun= 
lich vielfeitigen Materials fuchte der befannte 
Stuttgarter Piychologe den oben ſkizzierten Pro⸗ 
blemen rein naturwifjenfchaftlid auf den Leib 
zu rüden. Er nimmt an, daß es eine befondere 
Energie außerhalb des Menfchen geben müffe, 
die er das „außerperfönliche Unbewußte“ nennt, 
das heißt: er bricht radikal mit der alten pſycho— 
Togifchen Anfchauung, als ob das Gehirn der Ur- 
{prungsort unferer Erlebniffe wäre. Das in- 
tuitive Denten ift nicht mehr ein fchöpferijcher 
Alt des Menſchen, jondern beiteht in feinem 
mwefentlichen Anhalte in der Aufnahme von 
Außenreizen, deren Ort außerhalb des Ichs liegt, 
deren näherer Charafter aber noh undefannt 
ijt. Wir denten alfo niht, mit uns wird gedadjt 
— es maht uns denken. Wie die Umfegung 
des es denkt in ich denfe erfolgt, darüber gibt 
Biefe teine Antwort. Er begnügt fih mit der 
Theorie, daB es objektive Denfreige gibt, ener- 
getiſcher Natur, nicht unähnlich den eleftrifchen 
Wellen, die unfer ch beeinfluffen und fo den 


38 | Seeliſches Heilverfahren. 


Menſchen zum jchöpferifchen Denten führen. 
Weiher Art freilich diefe Energie ift, willen wir 
nicht, doh nimmt Giefe an, daß fie im mejent- 
fichen elektrifcher Natur ift. Man wird alfo mit 
Biefe fagen können, daß hinter den intuitiven 
Gedanken fo etwas wie „Gedankenwellen“ 
itehen, auf die der Menſch mehr oder weniger 
reagiert. So gibt es feine Eigenproduftion der 
Ideen durh den Menſchen, fondern nur nod ein 
Gereiztwerden. Damit jintt das intuitive Den- 
ten etwa auf die Stufe der Wahrnehmung her” 
ab: es wird zur Aufnahme von Reizen. — Zwar 
fann jeder Normalmenfcd hören, auh Ton und 
Schall unterfcheiden, aber längjt nicht jedermann 
ift mufitalifh. Die Mufikalität ift eben eine fpe- 
zifiſch beſchränkte Eigenschaft des Menfchen, und 
ebenfo ift das intuitive Denten eine ſpezifiſche 
Geite des Denkens, alfo nur bei hochyentwidelten 
Typen zu finden. Es ift ebenjo autonom wie 
die unmittelbare Sinnesmahrnehmung, die aud) 
nur zuſtande kommt, wenn ein Wußenreiz 
realiter gegeben ift. Eine lebte Trage ift nun, 
mie wir uns die Energiewirtung im Einzelnen 
zu denken haben. Auf Grund feflelnder Zuſam⸗ 
menfaffung pfychologifcher und anderer Beob- 
achtungen fommt Gieſe zu dem Ergebnis, daß 
diefe Energie nicht das Großhirn, fondern gu- 
nächſt das vegetative Nervenſyſtem zu beein- 
fluffen fcheint. Das letere ift dann alfo etwa 
einer Art Antenne vergleichbar, welche Die 
Energie auffängt. Das alte Volkswort, daß Ge- 
danten in der Luft liegen, befommt einen völlig 
neuen Sinn. 


Giefes Gedankengänge find von ungeheurer 


Kühnheit in ihrer Kombination des befannten 


Tatjachenmatertals und der Deutung derfelben. 
Seine Hypothefe des außerperjönlichen Unbewu p- 
ten (das „es denkt“ im Menfichen bedeutet) ift 
jo etwas wie eine .geiftige Revolution. Der 
Energiegedante feint, wie ſchon Ditwaldt es 
fih erträumt hatte, leßter Weltgrund zu werden. 
Uber es ſcheint doh nur fo. Was Giefe gibt, ift 
naturwiſſenſchaftliche Hypotheie, was 
er aufklärt, find die Vorgänge beim Denten, be- 
fonders dem intuitiven Denfen. Was er darüber 
zu fagen hat, ift den Gedantengängen der mo- 
dernen Philofophie, vor allem der Phänomeno- 
logie verblüffend ähnlich. Auch die Phänomeno— 
logen fprechen von einem Schauen der Ideen; 
auch fie find überzeugt, daß der Menſch die Ideen 
nicht fpontan erzeugt, aud) fie treiben Bemwußt- 
feinsanalgfen. Uber alle Aehnlichkeit darf doch 
nicht darüber hinmwegtäufchen, daß Giefes Unter- 
fuhung grundſätzlich naturmilfenjchaftlich 
eingestellt ift und bleibt. Cie unterfudht das 
naturwiſſenſchaftlich-pſychologiſche Zuſtandekom—⸗ 
men von Denkreizen. Aber über das Weſen des 
Gedachten ſelbſt ſagt ſie nichts aus, (denn die 
elektriſche Erklärung der een als Energie— 
träger iſt ein Widerſpruch in ſich, das Finden 
und Wirken einer Idee hat ja nichts mit ihrem 
Weſen zu tun). Gieſe führt bis an die mög- 
lihen Grengen der modernen Piychologie: fie 
fann wohl verfuchen, den Aft der Inſpiration 
natumviffenfchaftlich begreiflich zu maden, aber 
das Ewige, das in und durch diefen Aft erfaßt 
wird, bleibt ihr reftlos verjchloffen, da es feinem 
MWefen nah jenfeits der Naturwiſſenſchaft 
ſteht. 

















Seeliſches Heilverfahren. Bon Oberarzt Dr. Müll er C 


Jn einer der legten Nummern der „Deutichen 
Mediciniſchen Wochenſchrift“ eröffnet Prof. Pleſch in 
Berlin unter der Ueberſchrift „Die poho - phyſiſche 
Reaktion als Heilfaftor” jehr lehrreiche Ausblide auf 
ein bisher planmäßig erft wenig bearbeitetes Gebiet 
ärztlichen Handelns Seine Ausführungen bejchäftigen 
fit) mit der befannten, außerordentlich innigen Wedel- 
wirfung zwiſchen feelifdyem und förperlihem Geſchehen, 
die er nah Möglichkeit Heilzweden dienſtbar gemadt 
wilfen möchte. Es verlohnt ſich etwas eingehender hier- 
uber 3u berichten. 

Pleſch geht von der Tatladje aus, daß jedes Organ 
(3. B. Mustel oder Drüje) fid ohne unſer Wiffen und 
Wollen auf das Maß und den Umfang der von ihm zu 
erwartenden Leiftung ganz automatisch einftelt. Wem 
ift nicht das eigentümliche, pſychiſche und phyſiſche Cr- 
lebnis befannt, wenn er 3. B. beim Treppeniteigen 
nod) eine Stufe vor fih 3u haben glaubt, aber tatiächlich 


ion oben angefommen ift?! Man empfindet es mit 
aller Deutlichkei: man war ſeeliſch und körperlich auf 
die mit dem Belteigen der noh erwarteten einen Stufe 
verbundene Mebrleiftung genau eingeitellt und durd 
den ganzen Körper Blingt es nun wie das Empfinden 
einer Enttäufhung. Vielleicht noch deutlicher hat man 
diefje Mikempfindung irrtümlicher Cinftellung auf 
Mehr: (oder Minder:=) Leiltung, wenn man 3. B. einen 
Cimer oder eine Kanne rajh aufheben will, über deren 
Leer: oder Gefülltjein man fi) im Irrtum befunden hat: 
man empfindet im bebenden Arm fofort ein deutliches 
„Differenzgefühl“ zwiſchen der unrichtig geſchätzten 
Raft und der von den Armmuskeln tatſächlich bereitge- 
itellten Kraft. 

Die phyſiologiſche Grundlage diefer Vorgänge ift 
einmal die durch Meffungen feitgeitellte Tatſache einer 
genau nad) dem Maße der Leiſtung veritärkten Blutzus 
fuhr 3u dem arbeitenden Musfelgebiet, und zweitens 


ge — — —— 


— ` 


©eelifhes Heilverfahren. 
ein der vorgeftellten Leiftung entſprechend ftarfer, vom 


Bemwußtjein durch die Nerven in die Musteln ent- 
fendeter Impuls (Antrieb). Natürlich erfolgen Zuſtrom 
von Blut und „Nervenenergie” in einem Körperteil 
nad Boritellung, aber vor Beginn der Leitung —; 


daher die Entitehung des Täujchungsgefühls bei irriger. 


Schätzung. 

Dieſe pſycho-phyſiſche Wechſelwirkung macht nun nicht 
Halt vor der Grenze des Einzelmenſchen: Cs ift eine 
allbefannte Tatjade, daB jeder Vorgang von einiger 
Bedeutung oder Intereife nicht nur das Gemüt aller 
näher Beteiligten feflelt, fondern bei ihnen aud unmill- 
fürlide, oft fichtbare Entladungen in das Körperbe- 
wegungs-@ebiet verurfadht: Bei einem Ringkampf 3. B. 
malt fih deffen Verlauf in allen feinen Einzelheiten 
nicht nur in den Mienen der lebhaft beteiligten Um- 
ftehenden, fondern man ſieht fie auch — wenn aud oft 
nur angedeutet — alle vorfommenden Handgriffe und 
Bewegungen mitmaden. Das befannte Sprichwort 
„Wes das Herz voll ift, des geht der Mund über“ gilt 
eben nit nur für ſprachliche Entladungen, fondern für 
das ganze Körperbewegungs-Bebiet überhaupt. 

Die Einwirkung pſychiſcher Geſchehniſſe auf phyſiſche 
Vorgänge beichräntt fidh übrigens keineswegs auf das Ge- 
biet w i l [ f ü r Liher Bewegungen (Spredy: und Körper: 
mustulatur), fie ſchafft auh tiefgreifende Veränderungen 
auf jenen körperlichen Gebieten, die dem Willenseinfluß 
gänzlid” entzogen find: Herztätigkeit, Blutgefäßweite 
und Verdauungsarbeit unterliegen in hohem Grade 
dem Einfluß feelifher Zuftände. Schreden und Angit, 
Aufregung und Scham verurfadden Erröten und Er: 
blaffen, Herzklopfen und Beichleunigung der Ber: 
dauungstätigteit. 

Vielleicht find diefe jedem geläufigen Erfahrungen 
des täglichen Lebens uns teineswegs ſehr verwunder: 
lid; denn es handelt fih dabei ja um — oft plößlid) ein- 
fegende — lebhafte Affekte, und wir find gewohnt, von 
diejen Starte Rüdwirtungen auf körperliche Zuftände 
zu erleben. Biel erftaunlicyer ift folgende Beobachtung, 
die an die leichtverftändlihe Erfahrungstatfadhe an- 
fnüpft, daß Qungenjchwindjüchtige bei körperlichen Be- 
mwegungen Temperatur - Steigerungen erfahren: Bei 
folden Kranten fünnen nämlidy leichte Fieberzunah: 
men ſchon auftreten, wenn fie nur mit lebhaftem Sn- 
tereffe turnerijhen Webungen anderer zuſchauen! Nadh 
allem bisher Gejagten muß uns diefe Möglichkeit aber 
doch einleudhten: Der affektbetonte Anblid der Turnen: 
den löſt in dem intereffierten Beſchauer zunächſt leb- 
bafte, gleichgeartete Bemwegungsporitellungen aus; — 
lebhaftere Bemwußtjeinstätigkeit bedeutet aber an und 
für ſich ſchon Steigerung des GStoffwedjlels und Be- 
jhleunigung des Blutumlaufs. Diefe träftigen Bor: 
ftellungen haben nun ferner das immerwährende Be- 
ftreben, ihre Nervenenergie in die zugehörigen Mustel- 
gebiete abfließen zu laffen mit der Wirkung des Mit- 
madens oder Nachahmens der gefehenen und lebendig 
mitempfundenen Bewegungen. Bei Menſchen mit leb- 
baftem Temperament oder von geringer Selbitbe» 
berrihung werden tatſächlich auch Mitbewegungen zu- 
jtande tommen (vergl. das oben erwähnte Beiſpiel vom 
Ringtampf); die meilten werden deren Zujtandefommen 
zwar unterdrüden, aber diefe „Unterdrüdung” ift ja 


® 


39 


wieder nichts anderes als eine weitere Energie-Ent- 


ladung in die fog. Antagoniſten (d. h die entgegengefeßt 
arbeitenden Muskeln) zur Hemmung der unbewußt an- 
geltrebten Bewegungen. Der anjdeinend ruhig Ju- 
Ihauende verrichtet alfo tatſächlich ein nicht geringes 
Map geiltiger und körperlicher, fih in Trieb und Gegen- 
trieb nulos erjchöpfender Arbeit, deren Wirkung auf 
einen tubertulöfen Körper jehr wohl derjenigen 
mäßiger, förperlider Arbeit gleichkommen tann. 

Die hier zum Nadteil des Körpers wirkfam ge: 
wordenen Vorgänge können und follen nun aber auh 
nah Möglichkeit feinem Nuken, d. h. dem ärztiıchen 
Heilbeitreben, dienftbar gemacht werden. Bei vielen Cr- 
frantungen unleres Bewegungsapparates (Brühe und 
Entzündungen von Knochen und Gelenken) ift begreif- 
liher Weije die völlige Ruhigftellung erjtes Erfordernis; 
zum beichleunigten SHeilungsverlauf ift ferner ein ver: 
verjtärkter Blutzufluß (Hyperämie) dringend erwünjdt. 
Die völlige Ausſchaltung aller Bewegungen rüdt aber 
die Gefahr des fo febr gefürdteten Mustelfhwundes 
durch Untätiglfeit (Dnaktivitäts - Atrophie) bedroh: 
lich nahe. 

Zur Befriedigung dieſer pofitiven und negativen Not- 
wendigkeit foll das von Pleſch empfohlene pſycho— 
phyſiſche Heilverfahren uns wertvolle Dienſte leiften 
tönnen. Der Erkrankte muß bei völliger Ruhe feiner er- 
frantten Bliedmaße unter ftarter Willensanjpannung 
feine Vorftellungstätigteit auf geeignete Bewegungs: 
complere (Bergfteigen, Radfahren, Hanteln, Klimmen 
u. a.) einftellen; er wird dann bei Vermeidung ſchäd— 
licher Bewegungen dodh dem verlegten Bliede die zu 
feiner Heilung erforderlide, größere Blutmenge und 
„Nervenenergie“ zuführen. In ähnlider Weite foll 3. B. 
bei unzureichender Abjonderung der Berdauungsjäfte 
der Anblid mit Appetit eflender Perjonen, ichmad- 
hafter Speilen oder auch nur deren deutliche Vorſtellung 
die daniederliegende Tätigkeit der Magen- und Darm- 
drüfen fräftig anregen. Verſuche diefer Art an Hunden 
find ſchon vor Jahrzehnten durch Pawlow mit deut- 
lihem Erfolge angeftellt worden. In welchem Umfange 
aud die Tätigkeit der übrigen Organe des menſchlichen 
Körpers (Nerveniyitem, Sinnesorgane, Entwidlung 
des feimenden Lebens) dur) unſer Willens- und Bor- 
itellungsleben in tiefgreifender Weiſe zu beeinjluflen 
find, bedarf noch weiterer Feſtſtellung. Jedenfalls er- 
fordert jede derartige Beeinfluffung des Körperlcbens 
dur ſeeliſche Vorgänge eine ungewöhnlich ſtarke 
Willensanjpannung. 

Am Schluffe feiner Ausführungen jagt Pleidh: „Die 
naturwiſſenſchaftliche Forſchung hat die Aufgabe, die Cr- 
iheinungen zu ergründen und zu erflären. Je weiter 
unjere Erkenntnis gediehen if, um fo weniger 
„Wunder“ bleiben übrig. Und fo glaube ich, daß, wenn 
wir der pſychiſchen Beeinflußbarteit organiſcher Ber- 
änderungen denjenigen Plagg in der Therapie einräumen, 
der ihr ohne Zweifel gebührt, die „Wunderheilungen“ 
eine noch weitere Einſchränkung erfahren werden.“ 

So richtig der Inhalt diefer legten Zufammenfafjung 
an ſich ift, jo will er uns doch in feiner nüchternen, nur 
das Negative betonenden Weile nicht völlig befriedigen. 
Wir modernen Menſchen glauben zwar aud nidt an 
„Wunder“ und „Wunderheilungen“; aber es will uns 


40 Der Giegeszug der Hertzſchen Wellen. 


doh ſcheinen, als ob die unendliche Weisheit, die in un- 
geahnter und oft ans „Wunderbare“ ftreifender Weife 
durch alle Lebensporgänge waltet, allen Anfprud auf 


unfere Ehrfurdt und Verehrung hätte, und wir würden 
Dielen Empfindungen bei befonderen Anläffen gern 
Ausdrud gegeben jehen. 


Der Siegeszug der Hertzſchen Wellen. Bon Georg v. Haffel 


Als im Jahre 1888 Heinrich Herb feine berühmten 
Verſuche ausführte, durdy die es ihm gelang, das Weſen 
der eleftromagnetiihen Wellen zu ergründen und die 
Geſetze feitzuftellen, denen fie unterworfen find, dachte 
weder der Entdeder noh die Oeffentlichkeit daran, daß 
die Ergebniffe der Erperimente die Grundfteine eines 
neuen Zweiges der Technik fein würden und daß diefer 
eine Entwidlung einjchlagen würde, die an Schnelligkeit 
und Großartigleit von feinem anderen Zweige der 
Technik auh unr annähernd bisher erreicht wurde. 

Heinrich Hertz felbit verneinte dem Ingenieur Huber 
gegenüber die Möglichkeit, elektrifhe Wellen zur Ueber: 
tragung von Telephongeipräden zu benußen. Andere 
Forſcher dagegen bauten mit edt dichteriſcher Be- 
geifterung auf den kleinen Hertzſchen Laboratoriumsver- 
ſuchen ein großartiges Phantafiegebäude auf. Befonders 
waren es Profeffor Threlfall in Sidney und Crooks in 
England, die begeiftert mit glühenden Farben diefes Zu- 
funftsgemälde darftellten. Croots fchrieb in der „Forth- 
nightly Review“, 1892, in einem Aufſatz, betitelt „Some 
Possibilities of Electricity“, ein Zutunftsbild, welches 
faft vollftändig in Erfüllung gegangen ift. Zu denen, 
die den Verfolg ihrer früheren Ideen, die drabtlofe Ber- 
bindung durch Induktion herzuftellen, aufgegeben hatten 
und fih dem Studium der elektriſchen Wellen widmeten, 
gehörte der Engländer Rodge. Im Jahre 1893 machte 
er jhon Verſuche, die Eriftenz der Hertzſchen Wellen 
durch einen neuen Wellenanzeiger, den Kohärer, feftzu- 
itellen, und es wurde möglich, mit Hilfe diefes empfind: 
fihen Indilators die Entfernungen zwiſchen Sender und 
Empfänger zu vergrößern. 

Wenn wir den Entwidlungsgang der Hertzſchen 
Entdedung verfolgen und denjelben graphiſch darftellen, 
fo erhalten wir die nebenftehende Zeichnung. Die Kurve, 
die von den Herbichen VBerfuchen im Jahre 1888 ausgeht, 
fteigt bis zum Jahre 1900 nur wenig an. Die be- 
deutendften Verſuche, die in diefem Zeitabjchnitt ftatt- 
fanden, waren die im Jahre 1893 von Lodge in Eng: 
land, bei denen eine Reichweite von 36 m erzielt wurde; 
dic von Popoff in Rußland im Jahre 1895 mit einer 
Hödjftreihweite von 5 km. Ferner die Verſuche von 
Marconi im Jahre 1897, bei denen ebenfalls eine Reid- 
weite von 5 km erzielt wurde, die aber in demfelben 
Jahre auf 14 und 18 km gefteigert werden fonnte. 
Die Berfude von Slaty in demjelben Jahre er- 
weiteren die Reichweite auf 21 km. Diele 
Entfernung zwiſchen Sender und CGmpfänger wurde 


aber dur Marconi bezw. die von ihm ge: 
gründete „Wireleß Telegraph and Gignal Com: 
peny“ dur die VBerfuhe im Jahre 1899 auf 


45 km, dann auf 52 km und ſchließlich auf 136 km 
ausgedehnt. Im Jahre 1901 gelang es derfelben Ge: 
fellfchaft bei ihren Verfuchen, Entfernungen von 175 und 


300 km zu überbrüden. Angefeuert durch dieje günftigen 
Ergebniſſe errichtete Marconi eine Sendeftalion in 
Poldhu in Cornwallis, mit einer Antenne von 70 m, 
und eine Empfangsftation auf Signal-Hill bei St. Johns 


in Neufundland. Am 12. Dezember 1901 wurden die 


erften von Europa gejandten Signale in Amerika 
empfangen. Die Kurve der Reichweite ftieg von 
diefem Zeitpunkt an ftändig fteil empor und er- 
reichte 1919 ihren Höhepunkt. Es war dies die 
Ueberbrüdung der Entfernung zwiſchen Nauen 
und Avanui auf Neufeeland, die 20 000 km be⸗ 
trägt. Damit war bewiefen worden, daß von 
einem Orte ausgefandte Hertzſche Wellen unfere 










3490 km adhu - uggel Hil 
ki -Table Yed 
—8 ku RE 





55 Mıllıonen Am Erde -Mars _ 


Erde in ihrem gejamten Umfang umfließen können, denn 
die von Nauen ausgeltrahlten Wellen breiten fi nad 
allen Seiten aus und treffen darum den Empfänger 
jewohl von der einen wie von der anderen Seite. Die 
drahtiofe Telegraphie hat alfo im Jahre 1919 die größt- 
mögliche Reichweite auf unferer Erde erreicht, und damit 
ſcheint den Hertzſchen Wellen, wenigitens denen von der 
bisherigen Länge, ein Halt geboten zu fein, denn die 
wilfenichaftlihen Forſchungen haben die Exiſtenz einer 
die Wellen zurüdwerfenden Gasſchicht über der Erde 
feltgeftellt. Das Fragezeichen auf der graphiſchen Dar- 
ftelung: „Wann werden die Hertzſchen Wellen die 
55 Millionen km überbrüden, die die Erde von dem 
Mars in feiner günftigften Oppofition zur Erde tren: 
nen?“ dürfte alfo unbeantwortet bleiben, vorausgefeßt, 
daß die Theorie von der Undurdpringlichkeit der unferen 
Planeten umbüllenden Gasſchicht auh für lange Wellen 
gültig ift. 


Helium. E 41 


Der Menfcengeift fteht aber nicht ſtill und begnügt 
fit nit mit dem Erreichten. Schon hat er zu feiner 
Betätigung neue Wege eingelchlagen, er ift jebt daran, 
die hohen Antennen abzubauen. Im Jahre 1914 glaubte 
man nod, um die Weltzeitfignale überall auf der Erde 
bemerkbar zu maden, eine 14 km lange Antenne, die 
am Abhang des Pic von Teneriffa herabgeführt werden 
follte, nötig zu haben, und 1919 zeigte die Verbindung 
zwiſchen Nauen und Avanui, daß dazu fhon etne Un- 


Helium. Bon Dr. 5. Bönte. 


Die Amerifaner werden den Zeppelin mit Helium 
füllen. Was ift Helium? Zum vierten Male bereits 
beichäftigt dieje Frage die Deffentlichleit Bor zehn 
Jahren las man in allen Zeitungen, daß Profeflor 
Kamerlingh Onnes in Leiden den Nobelpreis erhalten 
babe, weil es ihm gelungen fei, durch Berflüfjigung 
des Seliumgafes in feinem weltberühmten Kälte- 
laboratorium dem abfoluten Nullpunfte bis auf einen 
Grad nahe zu kommen. Bor dreißig Dahren, als 
Ramjayg und Rayleigh die jogenannten Edelgaſe ent- 
dedten, unter denen das Argon durch techniſche Ber- 
wendbarteit die größte Beachtung gefunden hat, war 
es ein Ereignis, als Ramſay im Cleveit, einem feltenen, 
nah feinem Entdecker Cleve in Upfala benannten 
Mineral, außer dem Argon bei ſpektroſkopiſcher Unter- 
fuhung das Helium nachweiſen konnte, ein Element, 
deflen Speftrallinien ein Bierteljahrhundert früher von 
Lockyer in London im Spektrum der Sonnenprotube:- 
rangen zuerst bemerfi worden waren. Die hellſte 
Spettrallinie im Heliumfpeftrum ift eine charakteriſtiſche 
gelbe Linie, die der gelben Natriumlinie D jo nahe liegt, 
daß nur die genauelte Meſſung der Lichtwellenlängen 
über die Nichtidentität entſcheiden tann. 


Die Wellenlänge der Natriumlinie beträgt 5896 A.⸗ 
C., d 5. Angftrömeinheiten, worunter die Phyſiker 
den zehnmillioniten Teil eines Millimeters verjtehen. 
Die Wellenlänge der gelben Seliumline ift etwas 
feiner, nämlid 5876 A.E. Nur durch Beachtung 
diejer feinen Unterſchiede konnte die Heliumforjchung 
zu der hohen Vollendung gelangen, die ihr heute ge: 
ftattet, der Luftihiffahrt wichtige Dienfte zu leilten. 
Der Hergang war alfo folgender: Durch Erhigen von 
gepulvertem Cleveit mit Kaliumdichromat wurde ein 
Gasgemiſch, Cleveitgas, entwidelt. Durch diefes ließ 
Ramjay elektriſche Funken ſchlagen, um ein Speftrum 
zu erhalten. Da dasfelbe außer den Argonlinien eine 
der Natriumlinie febr naheliegende gelbe Linie auf: 
mies, übergab Ramſay eine mit dem (Lleveitgafe ge- 
füllte Geiblerfhe Röhre dem befannten Chemiter (und 
Geiſterſeher) William Crootes, der in der Meſſung von 
Lichtwellenlängen befonders geübt war. Crookes ftellte 
feft, daß die Wellenlänge den oben angegebenen Wert 
hatte. Damit war die Identität mit dem durch aftro- 
phyſiſche Beobachtungen entdedten „Sonnenelement“ 
Helium erwiefen. Doc ift fein Vorkommen auf der 
Erde an feltene Mineralien gebunden Aus 1 kg 
Eleveit erhält man ungefähr 7 1 Heliumgas. Der 
- Hauptoorzug diefes Gafes vor dem bisher zur Füllung 


tenne von 250 nr genügt. Und heute regijtrieren fon 
Amateurftationen mit Hilfe von Dadantennen Wellen, 
dic ihren Urjprung auf der anderen Seite des Dieeres 
baben. Schrumpfen die Antennenanlagen in demjelben 
Tempo, wie es feit 1914 bis heute der Fall ift, zu: 
jammen, fo werden wir bald durch elektriſche Wellen in 
Gang geſetzte oder regulierte Uhren in der Weſtentaſche 
tragen. 





der Luftichiffe dienenden Wailerftoffgafe, deffen Feuer- 
gefährlichleit beim Ausftrömen in Luft durh Knall- 
gasbildung erhöht wird, beiteht in feiner Unentzündlid: 
teit. Hinfichtlic) der Gemidhtsverhältniffe und der Trag- 
kraft jteht Helium zwifhen Wafferjtoff und Leuchtgas. 
Es ift zweimal jo ſchwer wie Waſſerſtoff, Hat aber 
fajt dreimal fo große Tragkraft wie Leudtgas. 1 cbm 
Waſſerſtoff wiegt 90 gr, 1 cbm Helium. 180 gr, 1 cbm 
Leuchtgas 520 gr, 1 cbm Quft 1300 gr. 

In neuerer Zeit hat fih gezeigt, daß die fogenannten 
radioaktiven Körper beitändig Helium ausjtrahlen. 


- Diefe Strahlung oder Emanation ift aber von dreifadher 


Art, fie enthält nämlich poſitiv elektriſche Helium- 
itrahlen, negativ elektriſche Kathodenftrahlen und kurz: 
wellige Röntgenitrahlen. Man unterjcheidet fie durch 
Anwendung griedifher Budjftaben als a:Strahlen, 
P-Strahlen und y:Strahlen Erſtere, alfo die pofitiv 
geladenen SHeliumijtrahlen, laffen fih nad einer von 
Crootes entdedten Methode ſichtbar madhen und jo ge- 
nau unterſuchen, daß man fogar die Atome zählen fann, 
die ein radioaktiver Körper in einer gewillen Zeit, 
3. B. in einer Minute, ausſtrahlt. Jedes Helium- 
atom verurfadt nämlich beim Wufprallen auf einen 
Zintblendeihirm ein Aufbligen oder, wie Crootes es 
nannte, Szintillieren, das man im Dunteln mit der 
Zupe beobachten tann. Diefe Methode ift jo empfind- 
lid, daß es 3. B. genügt, einen Körper, den man auf 
Radioaktivität unterſuchen will, mit einem Lederlappen 
abzureiben und leßteren im Dunfeln in die Nähe des 
Zinkblendeſchirmes zu bringen, um mit der Qupe das 
Szintillieren zu beobadten. Es leuchtet ein, daß man 
Heliumquellen auf der Erde nad) ſolchen und ähn- 
lichen Methoden leichter als dur) Anwendung des 
Speltralapparates entdeden fann. Jn der atmojphäri- 
jhen Luft fommt Helium nur in fehr geringen Men- 
gen vor. Während nämlid 107 1 Luft 1 1 Argon 
enthalten, tommt auf 666 000 I Luft nur 1 1 Helium. 
Unter den Mineralien, die Helium enthalten, ragt 
dur Ergiebigkeit bejonders der auf Ceylon gefundene 
Thorianit hervor. Erwähnenswert ift auh ein braji» 
lianifcher, Zirton und Uran enthaltender Sand ſowie 
ein Mineral der fogenannten Ditrocitgruppe, das in 
den Kryolithgruben Grönlands gefunden wird. 
Zuleßt, aber last, not least, ift zu erläutern, in 
weldhem Sinne man Selium als das idealfte aller Gafe 
bezeichnet. Die Phyſiker verftehen unter dem Begriff 
des fogenannten „idealen Gajes”, dem die in der Natur 
vorfommenden wirklichen Giſe nur angenähert ent- 


42 Kleine Beiträge. 


iprechen, ein gedachtes Gas, in weldyem nad) den Gas: idealen Gafes am nädjften und eignet fih am meilten 
gejegen von Mariotte und Gay-Luffac das Produft p. v zur Heritellung eines idealen Gasthermometers. Da= 
aus Drud und Bolumen der abfoluten Temperatur T mit hängt es zufammen, daß der Nobelpreis dem er- 
proportional ift. Das trifft aber für die wirklich eriz folgreichen Forſcher verliehen wurde, dem es nad) vielen 
jtierenden Gaje nur in befchräntten Bereichen annähernd Bemühungen gelang, das lange als „intoerzibel“ be- 
zu. Große Abweichungen dagegen zeigen fi in der zeichnete Gas endlich dodh zu verflüffigen. Diefe lange 
Nähe der Verflüffigungspunfte, wo aus diefem Grunde erwartete Hödjitleiftung vollbrachte Kamerlingh Onnes 
die Gasthermometer verjagen. Da nun Helium von am 10. Juli 1908. Durd weitere Verſuche mit flüf- 
allen befannten Gafen den tiefiten VBerflüffigungspunft jigem Helium tam er dem abjoluten Nukpuntte bis 
befigt (— 269° C), fo fommt es auch dem Begriff des auf einen Grad nahe. 








Aus dem Leſerkreis, u @ 


— — — 




















In einem ſchneearmen Winter (1922 oder 1923?) ging erklären? Gurit, Paftor in Priſchwitz bei Sauer. 
ih) an einem warmen und flaren Tage des Februar Das Phänomen ift offenbar fo zu erklären, daß die 
oder März vormittags zwiſchen 9 und 10 Uhr nah der Luft an jenem Tage und in jener Gegend mit Waffer- 
Stadt, die nordnordöftlid von unferem Dorfe liegt. Dampf völlig gejättigt gewejen ift, und daß eine plöß- 
Rechts vorwärts von mir ftand die helle Sonne über lihe Kondenfation des Waflerdampfes eingejegt hat, wie 
dem Dorfe. Links hatte id) eine weite Ausficht über die fie auch ſonſt häufiger, befonders in Gebirgsgegenden, 
Selder, die im, Nordweften von Bergen begrenzt wurde. zu beobadıten ift. Es regnet dann aus falt heiterem 
Der Himmel war vollftändig tlar, feine einzige, noh Himmel, was nebenbei bemerkt fo gut wie immer das 
jo fleine Wolfe war fihtbar. Geregnet hatte es auh Vorzeichen eines eintretenden Witterungsumfclages ift. 
nicht; es war alles ganz troden. Plötzlich bildete fih Die KRondenfation ift im vorliegenden Falle jo raſch 
auf dem blauen Himmel ein volltommener Regenbogen, erfolgt, daß es jofort zum Regnen, nicht erft zur Bil- 
der mit feinem weftlihen Ende an die Berge rührte dung der winzig fleinen, eine Wolfe bildenden Tröpf- 
und mit dem anderen an die Stadt reichte. Nach einigen chen gefommen ift. Diefer Regen hat dann in befannter 
Minuten entitand an den Bergen eine ftarfe, gelbiide Weiſe die Erjcheinung des Regenbogens erzeugt; erft 
Wolfe. Der Regenbogen aber blieb beitehen, das weft- nadträglid hat fih dann auh die Wolfe aus feineren 
life Ende auf dem Hintergrunde der erwähnten Wolfe, Tröpfchen, die in der Luft ſchweben, gebildet. Zum Zu- 
der übrige Teil am blauen Himmel. Die Wole, die ftandefommen eines Regenbogens ift nämlidy eine Wolte 
deutlich als Regenwolke zu erfenneg war, überzog all- niht nötig, fondern nur die größeren Tropfen fallenden 
mähli den ganzen Himmel. Der Bogen war noh Regens in denen das Licht auf eine befondere Meife 
eine Zeitlang fihtbar, verſchwand aber allmählich, wäh- gebrodyen bezw. gebeugt wird. Jedenfalls ift aber ein 
rend ein heftiger Regen von großen Tropfen einſetzte. ſolches Phänomen ſehr felten und wohl wert, der All: 
Das Ganze hat wohl 15 bis 20 Minuten gedauert. Wie gemeinheit befannt gegeben zu werden. 


ift ein Regenbogen auf wolfenlofem blauen Himmel zu Bavink. 
Kleine Beiträge. | & 


Beobachtet die Mondfinfternis am 8. Februar! einjchaltet und diefe abblendet. Dadurd) können die 

Jeder unferer Lejer, der fih im Beſitz eines Meinen von dem Mondförper ſelbſt nad) allen Richtungen zu: 
Fernrohres oder auch nur eines guten Prismenglafes rückgeworfenen Lichtitrahlen nun aud über den Mond- 
befindet, tann ohne große Schwierigeit eine Veobachtung boden dahingleiten, fie legen alfo eine recht großen 
maden, die, falls fie ſichergeſtelli ift, febr mwidhtig ift. Weg in der am Boden dichteſten Lufthülle zurüd, fo 
Der befannte Forſchungsreiſende Paul Sarafin hat doh fie diefe Iuftblaue Farbe erzeugen. Saraſin hat 
nämlich bei einer folden Sinfternis mit einem nur run in der Literatur nah ähnliden Beobadtungen ge- 
ſechsmal vergrößernden Zeißglas folgende Beobachtung ſucht und eine ganze Anzahl gefunden, die freilid wieder 
gemadt: Als die BVerfinfterung am weiteften vorge: in Vergefienheit geraten waren, fo daß heutige Werte 
Ichritten war, die leuchtende Mondſichel alfo am ihmal- nichts mehr davon melden. Mädler hat das Licht kurz 
ften, da zeigte fih an deren Innenfeite gegen den rötlich Tor und nad) der Totalität gejehen. Schmidt hat es 
feuchtende Mondförper eine ſchmale Sichel in leuchtend aud gejehen, führt es aber auf die Erdatmofphäre zu- 
himmelblauer Farbe. Sarafin ift der Meinung, dag tüd, was fiher faljh ift. Daß es noh Spuren von 
cr hier in der Tat einen Nachweis für das Vorhanden- Luft auf dem Monde gibt, geben mehrere Forſcher zu. 
fein einer fehr dünnen Mondatmofphäre hat. Deren Dichte Schröter hat die Hörnerjpigen des nur zwölf Stunden 
beträgt nur wenige Taufendjtel derjenigen der Erdluft, alten Mondes beobachtet und gejehen, wie fie nad) dem 
ift aber ausreihend, diefe Erfcheinung zu bewirken. dunklen Mondförper Hin deutlih einen graulichen 
Unter den gewöhnliden Umftänden ift fie nit nad» Schimmer zeigten. Das Dämmerlidt des Tages hat 
teisbar. Hier aber tritt der Fall ein, daß der Erd- offenbar die reine blaue Farbe niht auffommen laffen. 
förper fi in die fenkrecht auffallenden Sonnenjtrahlen Andere haben das blaue Licht gejehen, wenn die Sonne 


Ausfprade. 43 


über einem großen NWinggebirge aufgeht. Dieſe find 
nah außen fteil abfallend, aber nad innen febr 
flade Schalen. Wenn nun bier das Licht der auf- 
‚gehenden Sonne darüber ftreift, jo ift das Beden im 
Grunde noh dunfel, oben aber geht der Lidhtitrahl auf 
eine weite Strede durd die in dem Beden enthaltene 
Luftmaſſe und erzeugt wiederum den blauen Schimmer. 
Wie man Sieht, lohnt es fih aljo, den Mond auch unter 


| Ausſprache. | 


Anfragen. 


Es ijt eine befannte Tatjacdhe, daß dreifarbige Ragen 
(ſchwarz⸗weiß-⸗gelb) immer weibliden Geſchlechts find, 
und daß man dieje Färbung nur erhalten (fonjervieren) 
tann, wenn men jolde Kagen mit ſchwarzen Katern 
paart. Wie ift diefe auffällige Erjcheinung zu erklären? 
Gibt es etwas Aehnlidyes in der Tierwelt? 


Dd’ Bonin, Landrat a. D., Bahrenbujch bei Rakeburg. 


Vorftehende Anfrage ift nicht ohne eingehende c;peri- 
mentelle Prüfung 3u beantworten. Es handeli fidh 
offenfihtlid um gefchledhtsgebundene Koppelung von 
Erbfaltoren. Das „Wie“ lann nur durch Erperimente 
feftgeftellt werden. Ob diefe jchon vorliegen, weiß id) 
richt genau, erinnere midh aber, irgend eine Notiz über 
dreifarbige Raken ſchon gelejen zu haben. Am beiten 
wird es fein, Sie bitten Herrn Profeſſor Dr. Erwin 
Bauer Berlin-Dahlem, Kaifer Wilhelm-Inftitut, Ab: 
teilung Vererbung — um genaue Auskunft. Cs ift jebt 
in den Bererbungsfragen fo mandes in lub, daß ich 
es für nötig eradjte, nur fichere und einwandfreie Uus- 
funjt zu geben. Rabes. 

Die Beltimmung über das Dfterfeft heißt doh: Oftern 
fallt auf den erften Sonntag nah dem erjten Bollmond 
sad) Frühlingsanfang. Nun fiel in diefem Jahre Früh- 
lingsanfang auf den 20. März, der erite Vollmond da- 
nadh auf den 21. März, 5 Uhr 20 Minuten, Oltern je- 
dodh, das nadh obiger Beitimmung auf den 23. März 
fallen follte fällt auf den 20. April. Im vorigen Jahr 
mar der Trühlingsanfang am 21. März, der erjte Boll- 
mond danad) am 1. April, 2 Uhr 20 Minuten, Dftern 
hätte auf den 8. April fallen follen, fiel aber auf den 
1. April. Wie fommt dies? Ift die obige Diterbejtim- 
mung unvollftändig oder was ift die Urfache? 


Profeflor Dr. V opb. 


Die vorjtehende Anfrage wurde freundlichit von Herrn 
Prof. Nölde-Bremen beantwortet: 

Daß die wirkliche Lage des Ofterfeftes der befunnten 
Regel (erfter Sonntag nah dem erjten Frühlingsvoll- 
mond) nicht immer gemäß ift, erklärt fi daraus. daß 
die übliche Teitlegung des Termins auf jehr alte Mond- 
tafeln zurüdgeht. Er ergibt fih niht aus der altrono- 
miſch beitimmten Lage des Nadhtgleichenpunftes. Die 
Unterſchiede können eine ganze Woche betragen. 

Fr. Nölde. 
In „Unfere Welt”, 1924, Heft 11, findet ſich in dem 


Aufſatz „Bon Kolloiden und Kriftalloiden“ von Dr. 
Hans Bleher zu Anfang eine Pleine Unftimmigteit: 


diefem Gefichtspuntt zu beobachten, um fo mehr, als 
nur geringe Hilfsmittel dazu gehören. Einwandfreie 
Beobachtungen können aljo jehr wertvoll fein und der 
Wiſſenſchaft einen großen Dienft leijten, wie ja über- 
haupt immer wieder darauf hinzuweiſen ift, daß es eine 
ganze Menge Aufgaben für den Sternfreund gibt, wo 
er fi wiſſenſchaftlich mit Erfolg betätigen tann. 
Riem. 


„Zeichnen wir uns die Lage jolh eines Waflerreiters 
.. . . (bis) als Ginuslinie bezeichnet.” Was gemeint 
ift mit diefem anſchaulichen Beilpiel, ift flar. Aber die 
Deutung der Wafferwellen ift faljch, vielleicht auh, dem 
Zwede entjpredyend, zu kurz gegeben. Eine Waffer- 
welle ift immer eine Kombination von Transverfal- 
und Longitudinalwelle. Lebiere erzeugt eine jeitliche 
Berihiebung des Wafferreiters in der Wellenrichtung, 
fo daß der Reiter im allgemeiniten alle eine Ellipfe, 
im jpeziellen Falle (bei gleiher Amplitude der Longi— 
tudinal- und Transverfalwelle) einen Kreis befchreibt. 
Daraus rejultiert eine Welle mit flachen Tälern und 
ipigen Bergen, die bei jtarfer Amplitude oben einen 
Schaumfamm tragen tann. 


Dann noh eine Anfrage: Führt man in wenigen 
Zentimeter Entfernung vom Auge auf Drudidrift 
ihauend den Rand eines Papieres ſenkrecht zu den 
Scriftzeilen jtehend langfam vor das Auge, dann fan: 
gen in der Nähe des Randes die Schriftzeihen an zu 
wandern, wie wenn man durch eine bewegte Linje 
ihaut. Dit dieje Erjcheinung phyliologii im Auge be- 
gründet und wie, oder hängt fie mit Beugungserfdei- 
nungen des Lichtes zufammen? 


Crid Krumm, Lehramtsaffeffor, Kehl (Baden). 


Antwort: Die nit volljtändige Erklärung der 
Wafferwellen hat Herr Dr. Bleher zweifelsohne im 
Sntereffe der Einfachheit jo gegeben. Ich befenne, daß 
ih es, obwohl mir der wirkliche Sachverhalt natürlich 
befannt ift, im Unterricht auh zumeiſt jo made. Die 
vollftändige Theorie der Wafferwellen ift einigermaßen 
verwidelt. Wir haben in Göttingen bei F. Klein mal 
ein ganzes Kolleg darüber gehört. Ich möchte deshalb 
die Bezeihnung „falſch“ nit gern unmwiderfprochen 
laſſen. Bl.s Erklärung ift in ufum delphini etwas 
ftart „itilifiert“. Das ift in populären Darftellungen 
manchmal unvermeidlid. 


Die an zweiter Stelle erwähnte Erſcheinung möchte 
id) unbedingt für eine der vielen „optiſchen Täuſchun— 
gen” halten. Es gibt meiner Erinnerung nad ein 
neueres Bud), das allerlei ſolche Täuſchungen jehr über- 
ſichtlich zuſammenſtellt. Kann einer unjerer Lefer den 
Titel angeben? Bapvint. 


Man weiß doh heute, wie noh auf ©. 204 von 
„Uniere Welt” erwähnt ift, daß Chlorophyll teine 
Eiſen-, jondern eine Magnefiumverbindung ift. Wie 
find denn nun die Verſuche zu erklären, daß Pflanzen, 
die mit eifenfreier Nährlöjung großgezogen werden, tein 


44 Raturwifienfchaftliche und noturphilofophifhe Umfchau. 


Blattgrün entwideln? Sollten die Eifenverbindungen 
in der Nährſalzlöſung eine katalytiſche Rolle [pielen? 
Stwdienrat B. in Schw. 
Wer gibt Antwort? Bapint. 
Dftern 1925 findet in Hannover die 27. Haupt- 


verfammliung des Vereins zur Förderung des mathe- 
maliihen und nalurwiſſenſchafllichen Unterriis ftatt, 








und zwar vorausfitlid vom Sonnabend, 4. bis Mitt- 
woch, 8. April. Die Verhandlun,en der Hauptfigungen 
jollen jih um die Themen gruppieren: „Unterricht und 
Technik“ und „Die Beziehungen der mathematifch:natur:- 
wiflenichaftlihen Fächer untereinander und zu den 
anderen Fächern“. in vierter Tag foll fyortbildungs- 
und Ausbildungsfragen gewidmet fein. Auskunft er- 
teilt der Ortsausſchuß. 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 





a) Anorganiſche Nalurwiſſenſchafien. 


Die „Maſſenfuggeſtion der Relafivitätstheorie“ ift 
eine Brofchüre des betannten Einfteingegners Gehrde 
betitelt (Verlag H. Meußer, Berlin), weldye zu lejen 
ganz amüfant ift. G. Stellt darin in chronologiſcher 
Reihenfolge eine große Menge von Prefleftimmen und 
anderen Weußerungen zufammen, die deutlicd) zeigen, 
wie die Relativitätstheorie zunächſt zur großen Mode 
wurde, und wie dann in allen Ländern die allgemeine 
Begeilterung allmählich nadließ und in Satire und 
Sntereflelofigteit oder Bekämpfung umidlug In 
maſſenpſychologiſcher Hinficht ift die Lektüre recht lehr- 
reich. Bom Standpunkte objeftiver Beurteilung aber 
. muß meines Cradtens Bedenken dagegen erhoben 
werden, daß ©. hier ohne genügende Kritik nur diefe 
jozujagen öffentlidye Seite der Sade darftellt. Es ent- 
fteht dadurd in dem lefenden Laien der faljche Gin- 
drud, als ob auh die Fachwelt ähnlich wie die Deifent- 
lichkeit zuerjt eine maßlofe Ueberſchätzung der Theorie, 
dann eine immer Deutliddere Ablehnung gezeigt hätte. 
Dies ift leineswegs der Fall. Weder Einftein felber, 
noch die feine Theorie 3u den wertoolliten modernen 
Horihungen zählenden Phyſiker (melde die über: 
wiegende Majorität bilden) find jchuld an jenem „Ein- 
fteinrummel”, den gewille Preffeorgane und Verleger 
in Szene gejebt hatten. Sie haben deshalb aber aud) 
teine Beranlaflung, jet hinterher zurüdzuziehen. Die 
Fachwelt jteht nah wie vor auf dem einzig des exakten 
Forſchers würdigen Standpunkt: Abwarten und immer 
aufs neue nachprüfen, folange bis eine eindeutige Ent- 
iheidung erzielt ift. Bisher liegt eine folde nicht vor. 
Daß hin und wieder einmal ein Forfcher, wie 3. B. 
vor kurzem wieder Norman Campbell (Nature 
113, 784) vor übertriebener Einſchätzung der Relativi- 
tätstheorie warnt, ift nur gut. Er bebt mit Redt her- 
vor, daß ſowohl Einftein, wie aud der hauptfädy- 
lichſte Vertreter der Relativitätstheorie in Cngland, 
Eddington, aud anderweitig viel zu große 
Schöpfungen aufzuweifen haben, als daß ihr Ruhm 
Schaden leiden fünnte, wenn die Relativitätstheorie fidh 
nicht bewahrheitete. Auf jeden Fall aber liegt eine 
Leiſtung eriten Ranges vor ſchon deshalb, weil die 
Theorie zu unzähligen wichtigen neuen Frageltellungen 
angeregt hat. 

Hierfür gleih ein Beilpiel. Um die von der Rela- 
tivitätstheorie behauptete Identität von Schwere und 
Trägheit nadjzuprüfen, hat ein Phyſiker namens P. 
Hey! das Gewidt von AKrilfallen beitimmt, die in 
allen möglichen Richtungen aufgehängt waren. Da alle 


jonftigen Eigenſchaften im Kriftall fi mit der Richtung 
ändern, jo wäre vielleiht zu erwarten, Daß dies aud 
bei Gravitation und Trägheit der Fall wäre, und daß 
dann bei gleicybleibender Trägheit Unterfchiede im Ge- 
wicht fih bemerfbar madhen würden. (Ganz vermag id) 
nad) dem kurzen Referat in den Phyſikaliſchen Berichten 
Nr. 23, ©. 1143, allerdings nicht einzufehen, inwiefern 
bier eine Beltätigung des Einfteinfcyen Aequivalenz⸗ 
fates vorliegen fünntee Dazu müßten meines Er: 
adhtens eher Fallverjuhe oder den Eötvösſchen Ber- 
juden ähnliche Zentrifugalverfudge mit Kriftallen ange- 
itet werden.) Das Reſultat war übrigens negativ. 
Es ließ fiġ feine Aenderung mit der Richtung feft- 
itellen. i 

In Nr. 113 der Nature erörtert Brauner, ein 
alter Schüler und Freund Mads, noh einmal die 
Stellung Mads zur modernen Alomiſtik. Er teilt nicht 
Einjteins Meinung, daß Mad), wenn er länger gelebt 
hätte, vielleicht feine Anficht über die Atomiftit geändert 
haben wünde. — Cs ift nur gut, daß Mad es nicht 
mehr nötig gehabt hat, einen Blid in die „Phyſikaliſchen 
Berichte” von heute zu werfen. Ungefähr die Hälfte 
aller Arbeiten Handelt darin von Forfchungen über den 
Bau der Materie. In Heft 24 derfelben (S. 1730) 
finden wir 3. B. eine wichtige Arbeit von Harkins 
und Ryan (Journ. Am. Chem. Soc. 45, 2095) auf- 
geführt, in der diefe Forſcher durch gleichzeitige Photo- 
graphie nah Wilſonſcher Methode von zwei Seiten ber 
die Bahnen von a-Teilden und etwaigen Brudjftüden 
von Atomen genau feitgeftellt haben. Es find im 
ganzen 21000 Bilder aufgenommen. Die Zahl der 
von den im Bilde feitgehaltenen a-Teildhen durd» 
flogenen Atome wird auf etwa 12 Billionen gejchäßt. 
Trob diefer ungeheuren Zahl finden fih nur drei Auf- 
nahmen, welche deutlich erfennen laffen, daß das a-Teil- 
dien einen Rüditoß erfahren hat, alfo ziemlich genau 
zentral auf den Kern eines anderen Atoms aufgetroffen 
jein muß. Und auf einem einzigen diejer Bilder ift 
nun aud 3u ſehen, wie buchltäblich das getroffene Atom 
total zertrümmert wird. Es gehen von dem Treffpunft 
nit nur drei (wie auf den anderen Bildern), jondern 
mehrere Wegfpuren aus, das ftoßende a-Teildhen ſelbſt 
ijt um 165 Grad nad) rüdwärts abgelenft. — Bejonders 
bemerftenswert an den Harkinsſchen Photographien ift 
nod, daß auf ihnen noh eine bejondere Art von 
Elektronenſtrahlen 3u fehen ift, die Harfins P-Strahlen 
nennt. Dieje find offenbar aus durcdquerten Atomen 
durch das a-Teildhen losgelöjt, haben aber viel größere 
Reichweite als die bisher in diejer Art beobadteten fo- 


— — 


genannten ö-Strahlen. H. nimmt deshalb an, daß fie 
aus tiefer liegenden Schichten des Atoms losgeriffen 
jind (aus der fogenannten K-Schale). 


Ein Rätjel, welches der modernen Atomphyſik viel 
Kopfzerbreden gemadjt hat, ſcheint H. Krefft (Ann. 
dò. Phyſ. 75, 75; Phyſikaliſche Berichte 23, 1664) end- 
tidh gelöft zu Haben. An den fogenannten Kanalitrahlen 
(fliegenden pofitiv geladenen Teilchen in Bakuumröhren, 
f. Nr. 4, 1921) hatte Start den „Dopplereffett“, d. i. 
die Verſchiebung der Speftrallinien durh die Bewegung 
bei Beobadhtung in der Flugrichtung oder ihr entgegen, 
nacdhgewiefen. Die hieraus berechnete Geſchwindigkeit 
ſtimmte jedod niemals genau mit der auf eleftromagne- 
tiihem Wege gemeffenen überein. Kr. hat nun gezeigt, 
daß die Differenz fih dadurd erklärt, daß die auf den 
Dopplerefett bin unterfudhten Spettrallinien von un: 
geladenen Atomen herrühren, während die eleftromagne: 
tiſche Beitimmung nur die pojitio geladenen Teildyen 
erfaßt. 

Einen neuen einfachen Demonffrationsverfuh zur 
direfien Beitimmung der Geſchwindigkeil der Kathoden⸗ 
firahlen gibt Fr. Kirchner (GPhyſikaliſche Zeitſchrift 
25, 302; Phyſikaliſche Berichte 23, 1665, 1924) an. Die 
Elektronen durdlaufen zwiſchen zwei Kondenfatorplatten 
ein elettriides Wechlelfeld veränderliher Schwingungs: 
zahl. Richtet man diefe fo ein, daß die Zeit, während 
der das Elektron fih in diefem Felde befindet, gerade 
glei einer halben Schwingungsdauer ift, fo erhält man 
auf dem FZinffulfidfhirm eine ſcharfe Linie, in jedem 
anderen Falle dagegen zwei. 

Ueber die demifhe Bindung als dynamiſches Problem 
bat Born in einem Bortrage auf der SInnsbruder 
Berfammlung berichtet, der in Nr. 52 der Naturmiffen- 
ſchaften abgedrudt ift. Born ftellt bier in fehr klarer 
und überfichtliher Weife unfere bisherigen Senntniffe 
über dies Problem, an denen er felber fehr weientlichen 
Anteil hat, zufammen. Bon einer völligen Löſung find 
wir noch weit entfernt. Dod tann man bereits für eine 
ganze Anzahl phyſikaliſcher Konftanten Beziehungen aus 
den theoretifhen Vorftellungen der Atomiſtik ableiten, 
insbejondere für die fogenannten polaren Verbindungen, 
wie 3. B. Salze. 


Weitere folde Konftantenbeziehungen leitet Qafa: 
reff in einer Arbeit in den Comptes rendues 178, 
1716 (Phyſikaliſche Berichte 23, 1642) ab. Ift N die 
Anzahl der Moleküle in der Bolumeneinheit fo muß 
nah Q. der Elaftizitätsmodul mit der Rubit- 
wurzel aus der vierten Potenz von N, de Schmelz: 
wärme mit N felber und die ultrarote Eigen: 
frequenz mit der Quadratwurzel aus N proportional 
fein für verfcdjiedene Metalle. Die Beftätigung diefer 
Beziehungen durch das Erperiment ft nad) ihm be- 
friedigend. 


Die früher fo lange vergeblich geſuchte Brechung der 
Rönfgenftrahlen ift neuerdings von dem berühmten 
Röntgenforfher Siegbahn im Berein mit zmei 
anderen Forſchern Larffon und Waller, mit 
Hilfe von Kriftallprismen, auf welde die Strahlen 
unter einem fehr kleinen Wintel einfallen, nachgewieſen 
worden. Die Foricher erhielten fehr fchöne und Mare 
photographifdhe Aufnahmen des gebrochenen Strahles 


Naturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifhe Umfhau, 


— 


neben dem direkten und dem reflektierten (Naturwiſſen⸗ 
ſchaften 52). 

In Nr. 52 der Naturwiſſenſchaften tommen Miethe 
und Stammreid nod einmal auf die von Haber 
ausgeführten Analyfen ihrer Quedfilberlampenpräparate 
zurüd. Nach den mitgeteilten Zahlen muß allerdings 
auch der Unbeteiligte fchließen, daß an der behaupteten 
Berwandlung des Quedfilbers in Gold dodh etwas daran 
fein tann. Man wird gut tun, weitere Unterſuchungen 
abzuwarten und die Forſcher ebenfowenig vorſchnell zu 
verjpotten, wie vorjchnell von der Erfüllung des alten 
Alchymiſtentraumes zu reden. 

In Nr. 6, 1922, von „Unjere Welt” haben wir über 
die von Johnſon-Rahbeck genauer unterfudhten 
eigentümlihen Anziehungswirkungen zwiſchen einer 
Metallplatte und einer Halbleiterplatte (Adat, Schiefer 
und dergleichen) berichtet, die in der Technik der Tele: 
graphie eine bedeutende Rolle als fogenanntes elet: 
troftatifhdes Relais fpielen. In einer Arbeit 
in der Zeitfchrift für Phyſik 27, 74 (Phyſikaliſche Be: 
richte 23, 1664) hat nun W. Kramer gezeigt, dab 
diefe Vorrichtung zugleih eine ziemlich große Gleid- 
richterwirkung befigt, d. 5. daß fie Strom in einer 
Richtung bedeutend leichter Hindurdläßt als in der 
anderen. Es fdeint, daß aud die Wirkung der. foge- 
nannten Konfaftdefeltoren in der Funkentelegraphie fid 
auf diefem Wege erflären läßt. 

Der Schmelzpunft und Siedepuntt des Kohlenſtoffs 
war von Fajans und Ryſchkewitſch (Natur: 
wiſſenſchaften 1924, Nr. 16; Poyſikaliſche Berichte 23, 
1799) mittels Durchſchmelzen von Graphitſtäbchen durd 
Wecjelitrom zu etwa 3800 Grad abj. beftimmt worden. 
Da dieje Ergebniffe angegriffen worden find, fo ver: 
öffentliden Hagenbadh und Lüthy in Nr. 51 der 
Naturwiflenfchaften ihre nah demfelben Prinzip ange- 
ftellten Unterſuchungen, die noh genauere Ergebniſſe 
hatten. Es wäre danad) der Schmelzpunft 4060 Grad 
und der Giedepunft (unter Atm.-Drud) 4072 Grad 
abjolut. 


In der Novembernummer 1924 von „Unfere Welt“ 
wurde über neue Unterfudyungen von Abderhalden 
betr. die Chemie der Eimweißitoffe (Proteine) berichtet. 
In Nr. 50 der Naturmiffenfchaften, welche den Jahres- 
beridt der Kaifer Wilhelm-Gefellfhaft und eine Reihe 
von Aufſätzen aus dem Kaifer Wilhelm - Inftitute in 
Dahlem enthält, finden wir nun einen Bericht von 
M. Bergmann über „neuere Proteinddemie”, der 
den Beriht Abderhaldens nadh vielen Seiten hin er: 
gänzt. Da die Ergebniffe nur für den Chemiler ohne 
weiteres verſtändlich find, müflen wir leider von näheren 
Ausführungen abfehen. 

Die von 2. Cramer entdedte Möglichkeit einer 
Entwidliung phofographiihen Bildes nah dem Firleren 
ift vor einiger Zeit von den Gebrüdern Qumiere urd 
Seyewehb genauer unterfuht worden (Comptes 
rendues 178, 1765; 179, 14; Phyſikaliſche Berichte 23, 
1691/92). Sie fanden, daß die bisher zumeift fchlechten 
Nejultate eines folhen Vorgehens dadurch verurſacht 
werden. daß das Fixierſalz das latente Bild angreift. 
Diefe Wirkung lann indes durch Zufah von Alkali ftar? 
herabgefeßt werden. Wenn man auf ein Liter dreißig: 
prozentiger Firierfalzlöfung 10 ccm konzentrierten Am: 


46 


moniaks zugibt und nur 5 Minuten figiert, fo erhält man 
bei nadträglidem Entwideln ein normales Negativ. 
Zum Entwideln benutzten die Berfafler folgendes Re- 
zept: Löſung I: 1000 g Waffer, 180 g Sulfit (waſſer⸗ 
frei), 75 ccm zehnprozentige Silbernitratlöfung. Lö— 
jung II: 1000 g Wafler, 20 g Sufit, 20 g Baraphenglen: 
diamin. Zum Gebraud 150 ccm von I gemiſcht mit 
30 ccm von II. Es wurde ferner feftgeitellt, daß nicht 
alle Silber reduzierenden Flüſſigkeiten als Entwidler 


wirkſam find, fondern nur foldye, die einen photographi= 


ſchen Entwidler als reduzierende Subſtanz enthalten 
(nicht 3. B. Formaldehyd), daß aber die Entwidlung mit 
folgen auch gelingt, wenn das latente Bild zuerjt mit 
einem Entwidler, wie 3. B. Diamidophenol, gemajchen 
wird. — Weitere Einzelheiten möge man in den Dri- 
ginalarbeiten nadjlefen. Ich habe diefe jo ausführlid) 
mitgeteilt weil gerade auf diefem Gebiete auh der 
Dilettant vielleicht noch mande wilfenjchaftlidy wertvolle 
Endeckung maden tann, wenn er ſyſtematiſch erperi- 
mentierf. 


In der Zeitichrift „Die Kinotechnik“, Jahrgang 6, 
Heft 19/20, gibt F. P. Liefegang, Düffeldorf, einen 
intereffanten geſchichtlichen MWeberblid über „die Çr- 
findungsgeihichte des Lebensrades“ von der eriten Be- 
obachtung des fogenannten Zaunphänomens durd 3. M. 
(Sohn Murray?) im Jahre 1820 bis zu Plateaus und 
Stampfers Erfindung des eigentlihen Lebensrades, das 
die Vorftufe des modernen Kinos bildet. 


Der vielbeadhtete Vortrag von A. Kühl auf der 
Innsbruder Verſammlung, in weldem diefer Münchener 
Forfcher die Erflärung der Marstanäle auf rein phylio- 
logifh-optiidem Wege aufs neue fehr wahrſcheinlich 
machte, ift in Nr. 51 der Naturmiffenichaften abgedrudt. 
Ich muß geitehen, daß die beigegebenen Bilder mir per: 
ſönlich die behaupteten auftretenden „SKontraftlinien“ 
nur jehr ſchwach gezeigt haben. Aber vielleicht liegt das 
an der mangelhaften Reproduftion. Kühl faßt das Er: 
gebnis dieſer wichtigen Unterfuhungen in folgenden 
Sägen zufammen: Die Planetenoberflähe ift wie die 
der Erde und des Mondes in Wirklichkeit überjät mit 
feinen, ſcharf definierten Einzelheiten, die unter der Auf: 
lösbarkeit der Fernrohre ilegen. Die Grenzübergänge 
von Gebieten mit verfchiedener Flächendichte folder 
Einzelheiten geben Beranlaffung zu phyſiologiſch-opti— 
ſchen Grenztontraftlinien im Beobadıterauge, die meilt 
unter der Merkbarteitsgrenze liegen. Stellenweije wer- 
den fie indeffen zwiſchen gerade eben auflösbaren Pla: 
netendetails über die Empfindungsfchwelle gehoben und 
als „Marstanäle” fichtbar. 


Unfer verehrter Mitarbeiter, Prof. W igand -Halle, 
bat in den Ann. d. PH. 75, 279 (Phyſikaliſche Berichte 
24, 1745) eine größere Arbeit über jeine Erfahrungen 
betr. die Meflung Iuftelettriiher Zuftände im Flugzeug 
und Ballon veröffentliht. Das für den Laien inter- 
effantefte Ergebnis der zahlreiehn Verſuche ift wohl, 
daß dur) das Laufen der Motoren ftets eine Potential: 
Differenz des Flugzeugs gegen die umgebende Quft von 
mehr als 1000 Bolt entiteht. Das Spannungs gefälle 
überjchreitet jedoch nie 2000 Bolt pro Meter, jo daß eine 
Zündungsgefaht für Lenkballons hierdurch ausge: 
ſchloſſen ift. 


_ Raturwiffenfchaftliche und naturphile ſophiſche mſchau 


Cine ganze Reihe von Arbeiten über das Problem 
des Dogelfluges finden wir in den Phyſikaliſchen Be- 
richten, Heft 23, ©. 1633 ff., referiert. Zwei Auffäße 
von Karpen -Budapejt behandeln das Problem des 
Gegelfluges bei lediglich horizotnalem Wind. Eine Ar- 
beit von Jdrac aus den Compets rendues unterfudhte 
erperimentell den Flug des Albatros. Das Er: 
gebnis war, daß entgegen früheren Annahmen aud der 
Albatros nicht vertifale Windtomponenten ausnußt, die 
etwa durch die Wellen entjtehen, fondern daß es aud 
bei ihm ſich um die Geſchwindigkeitsdifferenzen zwiſchen 
horizontalen Quftitrömen in verſchiedenen Höhen über 
dem Nulljpiegel handelt. Die Differenzen werden na: 
türlich ebenfalls durd) die Ablenkungen der Luftftrömung 
an den Wellen erzeugt. wei weitere Arbeiten von 
Breguet und Lachmann beſchäftigen ſich mit der 
no% wenig erforſchten Wirkungsweiſe des in einzelne 
gedern zeripaltenen Schlagflügels. 


b) Biologie. 

Die Serodiagnofe, die die „Blutsperwandtfchaft” des 
Menden mit den höheren Affen bewiefen bat und die 
in der medizinifcyen und gerichtlihen Praris eine folde 
Bedeutung erlangt hat, wird feit 1911 von CE. Mes; 
dazu verwandt, um aud die Eiweißverwandtichaften der 
Pflanzenfamilien zu ermitteln. Das Ergebnis diefer, 
jest abgejchloffenen, Unterfudyhungen, über die Mez auf 
der legten Innsbruder Naturforjcherverfammlung be: 
richtet hat, ijt ein neuer Stammbaum des Pflanzen- 
reiches, der nadh Mez den Vorzug hat, erperimentell be- 
gründet zu fein. Damit glaubt Mez einen erakten Be: 
weis für die Entwidlung der Pflanzen (und damit des 
Lebens überhaupt) aus einer einzigen Wurzel erbradt 
3u haben. — Ohne ein Urteil über die Mezſchen Er: 
gebniffe abgeben zu wollen, — das muß einer ein: 
gehenden Prüfung der Einzelheiten vorbehalten werden 
—, mödten wir hierzu bemerlen, daß der Schluß von 
der chemiſchen Aehnlichkeit der Eiweiße zweier Organis: 
men auf ihre gemeinjame Abjtammung niht zwingend 
ijt. Die Ausführungen haben daher auh zum Teil 
Widerfprud erfahren, fo von dem befannten Spyitematifer 
R. Wettjtein. 

Den Umfang, den die Zellftimulationsforfhungen an- 
genommen haben, erfieht man am beiten aus dem Um: 
tande, daß der Beröffentlihung ihrer Ergebnifle eine 
neuerdings eigens zu dieſem Zweck gegründete Zeit: 
Ichrift dient („Die Zellſtimulationsforſchungen“). Aus 
dem Inhalt des erſten Heftes. erwähnen wir bejonders 
(nad) einem Beriht in Naturwiflenichaften 52, 24) die 
Berjuhe von Bleisberg, die unter anderem die 
für die Landwirtſchaft wichtige Tatſache ergaben, daB 
die Reizung auh noh wirkt, wenn zwifchen ihr und 
der Ausſaat eine längere Zeit verftridgen ift. — Ber: 
judt von Bopaff und Teskoff zeigten, daß die 
Zellreizung auch die Regeneration verloren gegangener 
Körperteile bei vielzelligen Tieren (Plattwürmern) 
fördert. 

Ueber die Frage der Orientierung der Zugvögel 
ihreibt 9. Wachs in Heft 51 der Naturmwiffenjchaften 
1624. Er führt aus, daß es fih bei den Zugvögeln, bei 
denen Junge und Alte gemeinfchaftli ziehen, um eine 
von dem einzelnen Vogel erworbene und im Gedädht- 
nis behaltene Ortstenntnis handelt. Cine Erklärung 





Neue Literatur. 47 


fehlt für das Drientierungspermögen der Vögel, bei 
denen Junge und Alte getrennt fliegen oder die weite 
Meeresitreden überfliegen. Die Annahme eines be- 
jonderen Drientierungsjinnes ift eine Sceinerflärung. 
Das hier vorliegende Problem jteht aber nicht vereinzelt 
da, jondern es begegnet uns aud bei anderen Tieren 
(Siihen, Walen, Robben, Bienen, Fledermäufen, Maul: 
würfen). 

In Heft 47 der Naturwiffenichaften 1924 jdildert 
von Friſch febr anziehend und ausführlich feine hier 
jeinerzeit erwähnten Forſchungen über die „Sprade“ 
der Bienen. 

gür die Befämpfung der Infektionskrankheiten ift die 
Ftage von Wichtigkeit ob bejtimmte Parafiten auf einen 
ihnen eigentümlihen Wirt angemwiejen find oder ob fie 
auh andere Tiere infizieren können. Verſuche von 
Keſſel über Infeltionen von Mäufen und Ratten mit 
menjhlihen Darmamöben ſprechen für eine Beantwor- 
tung im leßtgenannten Sinne. (Univerjity o. California 
Publications i. Bool. 20, 23; Naturwifjenjchaften 52, 24). 

Die Krebsforihung hat zwei neue wichtige Ergebnifje 
zu verzeichnen. F. Blumenthal und feinen Mit- 
arbeitern Auer und Meyer ift es, wie wir einer 
Darftellung der „Frankfurter Umſchau“ in Heft 47, 24, 
entnehmen, gelungen, zum erſten Male ein Bakterium 
zu entdeden, das einen menſchlichen Krebs verurjadt. 
Es ſcheint ein Verwandter eines Balteriums zu fein, 
dis einen dem menjdliden ähnlichen Pflanzenkrebs 
hervorruft. Damit ift natürlid) nicht gejagt, daß jeder 





— — — —— — — — 





Krebs durch Paraſiten erzeugt wird; im Gegenteil ſteht 
von mindeſtens zwei Krebsarten feſt, daß ſie nicht para— 
ſilären Urſprungs ſind. — Weitere Aufſchlüſſe über das 
Weſen der furchtbaren Krankheit bringen Unterſuchun— 
gen O. Warburgs Maturwiſſenſchaften 50, 24). 
Warburg konnte feſtſtellen, daß dem krankhaften Wachs— 
tum der Krebsgeſchwülſte ein anormaler Stoffwechſel 
der Krebszellen zugrunde liegt. Auf Grund dieſes Er— 
gebniſſes glaubt er, daß Sauerſtoffmangel in den Zellen 
den Anreiz zur Bildung der Krebsgeſchwülſte abgibt, 
der einerſeits wieder verſchiedene Urſachen wie Gefäß— 
ſtleroſe, Druck, Bakterien (ſ. o.) haben kann. Die Frage 
allerdings, wie die als Krebs bekannten äußeren Er— 
ſcheinungen mit den von Warburg feſtgeſtellten Stoff— 
wechſelvorgängen zuſammenhängen, bleibt noch unge— 
klärt. 

Der Nobelpreis des Jahres 1924 für Medizin und 
Phyfiologie ift dem Leidener Profeffor Wilhelm 
Einthoven für feine Arbeiten über die Herzaftions- 
itröme, das heißt elektrifche Ströme, die durch die Herz- 
tätigfeit im Körper entitehen, verliehen werden. Eintho— 
ven ift der Erfinder des „Einthovenſchen Saitengalvano- 
meters”, mit dem man dieje Ströme feſtſtellt. Es ift 
ipm gelungen, das Gejeß diejer Ströme zu entdeden 
und damit das Glektrofardiogramm — fo nennt man 
die graphiiche Darftellung der Ströme — zu enträtjeln, 
was von großer Bedeutung für die Erkennung von 
Herzkrankheiten ift. 


Alle in diefer Zeitihrilt beiprod. guten Bücher beiorgt jede Buchhandlung und die Sorfimentsabt. des Keplerbundes 


R. Sapper, Das Element der Wirklichfeit und 
die Welt der Erfahrung. Grundlinien einer anthro- 
pozentriſchen Naturphilojophie. C. H. Bediche Verlags: 
buchhandlung, Münden. 250 ©. Geh. 6 M. Der 
Berfaffer, Profeffor in Graz, will in diefem Buche 
zeigen, wie weit man heute mit einer an Shopen- 
bauer, Leibniz und Hartmann orientierten 
voluntariftiiden Metaphyfit in der Naturphilojophie 
fommt. An die Stelle der fih bewegenden Atome der 
mechaniſtiſchen Phyfit will er die „Entelechie“, d. h. 
„die Ichrealität als einfache, zielftrebig wirkende, quali- 
tatio durch ihren Zielinhalt beitimmte, wiffende und 
wertende Größe“ feßen. Im erften Kapitel jchildert er 
die atomiſtiſch mechaniſche Naturauffaffung, im zweiten 
den Bemwußtfeinsinhalt, im dritten das Ich als Be- 
wußtjeinstatfahe und beweiſt, daß weder diejes nod 
jene als Element der Wirklichkeit angeſehen werden 
fönnen. Im vierten Kapitel wird der Wille als „sum 
efficiens“ an die Stelle des Cartefifhen „sum cogi- 
tans“ gejeßt; im fünften will der Berfaffer nachweiſen, 
daß, abgejehen von den Tatjahen der Affoziation die 
Ertenntnisfunttionen niemals reftlos von dem Schema 
mechaniſcher Kaufalität begriffen werden fönnen, ſon— 
dern einer finalen Grundlage bedürfen. Gie find als 


Diener des Willensfubjefts aufzufaffen. Im nächſten 
Kapitel wird das Werten dem voluntariftiihen Schema 
des Berfaffers eingeordnet. Das widtigfte Kapitel ift 
das jiebente, welches „die Entelechie und die materielle 
Welt“ behandelt. Auf diefes war ih am meiften ge: 
Ipannt, weil id) hier einen Weg von den feelifchen Ur- 
eiementen zur Welt der „realen Dinge“ zu finden er: 
hoffte. Das Rejultat ift leider ein rein negatives. Der 
Verfaffer „beweift” in der übliden Weile die Sub- 
jektivität der Grundbegriffe Ausdehnung, Raum und 
Bewegung und ftellt als neue Erklärungsprinzipien den 
„alloziierenden“ und den „Ddiffoziierenden“ Wirktungs- 
typus der Enteledien auf. Wie der planmäßig wirkende 
menihlide Wille 3. B. die Formen der Kunft erzeugt, 
jo erzeugt auch die wirkende Entelehie Formung und 
Geitaltung, — wie fie das aber anfängt, wird leider 


‚nicht gejagt. In einem Anhang wird die modernite 


Phyſik als Zeuge dafür herangezogen, daß die Grund- 
begriffe des Mechanismus fubjeftive Gebilde feien. Das 
ahte Kapitel behandelt das Körper-Seele-PBroblem; es 
ift erfreulich, daß der Verfaſſer entgegen vielen anderen 
Bertreiern feines Standpunftes ehrlich zugeitellt, daß 
auh auf diefem Standpunkte diefes Problem ebenjo 
wenig lösbar ijt, wie auf dem mechaniſtiſchen. Das 


48 ne: Neue Literatur. 


— 


folgende Kapitel befchäftigt fi mit dem in der Konfe- 
quenz des eingefchlagenen Weges liegenden biologijchen 
Bitalismus und das legte endlich, das wiederum grund- 
- legend wichtige Fragen behandelt, ift dem Berhältnis 
der Entelecjie zur anorganijhen Welt gewidmet. Hier 
ganz befonders mußte fih wie im fiebenten Kapitel die 
Leiftungsfähigteit der Theorie des Verfaſſers erproben. 
Jh muß leider jagen, daß ih bei allem ehrlidyen Willen 
aud hier arg enttäufcht war. Irgend eine Spur eines 
Weges, der von der Enteledie zur Materie hinüber: 
führen könnte, habe ich auch hier niht gefunden. Der 
Verfaſſer felber gibt zu, dap feine Theſe auf diefem 
Gebiete bloßes Poftulat bleibe. Nur in der jeltbe- 
ftimmten Form der Kriftalle glaubt er ein Zeugnis für 
das Wirken der affoziierenden Tätigkeit der Entelechien 
jeben zu dürfen. Ferner beruft er fih auf die oft be- 
merfte Analogie des Kraftbegriffs der Mecdanit zu den 
menſchlichen Willenshandlungen, und außerdem will er 
in den fogenannten Minimumprinzipien eine „imma- 
nente Teleologie” jehen. Es muß hierauf meines Er- 
achtens erwidert werden, daß es erjtens nicht richtig ift, 
wenn der Berfafler (Seite 226) behauptet, daß Das 
Wahstum eines Kriftalls ebenjo wie das eines orga- 
nijgen Individuums in der Größe begrenzt fei. Daß 
zweitens die neuere Phyſik den Kraftbegrifi frei von 
jenem Anthropomorphismus zu definieren imftande ift, 
daß drittens die vielberufenen Minimumprinzipien nur 
eine Scheinteleologie enthalten (fiehe darüber „Unfere 
Melt“ 1920, Heft 5, Sp. 162). Auch jonjt enthält dies 
Kapitel Behauptungen, die nicht unwiderſprochen bin: 
gehen können, jo 3. B. die, daß die NRegenerationsjähig: 
teit der Kriftalle im weſentlichen gleichartig der der 
Lebeweien fei (Seite 229). — Alles in allem: ih glaube 
nicht, daß diefer neue Verſuch eines metaphyſiſchen 
Spiritualismus glüdlidyer ift als alle feine Vorgänger. 
Der Weg vom Phhyſiſchen zum Geelifhen ift von 
beiden Seiten her verrammelt. Wie aus diefem 
jenes werden könnte, erfährt der Lefer in diefem Buche 
ebenjowenig, wie er bei Haedel das Umgefehrte erfährt. 
Man falle diefe Kritit nicht als dogmatiſche Borein- 
genommenheit auf. Ich bin felber überzeugt, daB das 
berühmte Problem jchließlich dodh noh einmal eine an- 
nehmbare Löfung finden tann. Aber hier jehe ih feine, 
fondern die klaffende Lüde ift durch bloße Poftulate 
ausgefüllt, wie bei allen früheren Verſuchen gleicher 
oder entgegengejegter (materialiftifcyer) Art. Dod darf 
und muß das Bud) als die ernſt zu nehmende Arbeit 
eines den Dingen auf den Grund gehenden wohlorien- 
tierten Denters angefehen werden, die niht mit den 
zahlreihen populären Gegenjdriften gegen den Ma- 
terialismus auf eine Stufe zu ftellen ift. Man tann aus 
ihm lernen, wieviel der dem Materialismus entgegen: 
gefeßte Standpunkt heutzutage zu leijten imſtande ift. 

T. K. Defterreich, Die philofophiihe Bedeutung 
der mediumiſtiſchen Phänomene. W. Kohlhammer, 
Stuttgart. 2 M. 
weiterte Faſſung eines auf dem zweiten Internationalen 
Kongreß für parapſychologiſche Forſchung in Warfchau 
im Herbſt 1923 verlefenen Bortrages dar. Der betannte 
Bortämpier des willenfchaftlien Okkultismus will hier, 
ausgehend von der als wahr und edt unterftellten 
Realität der verjdiedenen ottulten Phänomene wie 
Teiepathie, Heilfehen, Teiekinefie, Materialifation uſw., 


— Das Scdriftden ftellt die er: ' 





unterfudgen, welche Folgerungen fih daraus in Hinſicht 
auf Erfenntnistheorie, Metaphyfit und Weltanſchauung 
ergeben. Es muß zugeftanden werden, daß diefe Unter— 
ſuchung auch für denjenigen, der nicht mit dem Ver: 
faffer der Meinung ift, dap die Tatfachenfrage [don 
entfchieden fei, höchſt intereffant und nußbringend ijt. 
Man fann De. das Zeugnis nicht verjagen, daß er fid 
auch hier als weit- und tieffehender, außerordentlich klarer 
Kopf bewährt hat, als den wir ihn von einer großen 
Reihe wiffenfchaftliher Arbeiten her tennen. Es ft ein 
Genuß, ji” von ihm durch die mannigfachen Wege des 
erhofften Neulandes führen zu laffen und eine Unzaähl 
neuer, nun erft fommender Fragen emporfteigen zu 
jeben. Mit Recht fagt er an mehreren Stellen, daß die 
eigentliche Arbeit des wiſſenſchaftlichen Okkultismus erft 
beginne, wenn erft einmal das gegenwärtige Siadium 
hinter uns liege, wo es fiġ im Grunde immer nur um 
die reine Tatfachenfrage handele. Es ift rüdhaltlos 
anzuerkennen, daß die von De. hier aufgeftellten For: 
derungen durchaus im Geiſte echter Wiffenjchaft gehalten 
find. Diefe fann nicht mit dem bloßen Daß zufrieden 
fein, fondern muß nun vor allem die Frage des Bie 
und Wodurch in Angriff nehmen. Wie viele neue 
Probleme da auftauchen, das möge man in dem lejens: 
werten Schriftchen felber nachleſen, das id gem 
empfehle, obwohl id), wie ſchon angedeutet, in Hinfig! 
auf die Tatjachenfrage anderer Meinung bin als der 
Berfaffer. Eine Bemerkung aber fann ich zum Schluß 
nicht unterdrüden. Gerade beim näheren Verfolgen dei 
von De. mit viel Geſchick entwidelten einzelnen Mög 
lichleiten des Wie der (angebliden) Telepathie- um. 
Phänomene ift mir mit faft unüberwindlicher Deutlid; 
feit der Eindrud aufgeftiegen: es ift tatfächlich für diejes 
Wie nah alledem, was De. da jelber entwidelt, faum 
eine andere Erklärung denkbar als die, daß — die be: 
treffenden Erfcheinungen gar nicht auf „ottultem” Wege 
zuftandegetommen find. Dies ſchien mir nämlid) fof 
zwingend daraus hervorzugehen, daß die angebliden 
„oltulten“ Wahrnehmungen der Medien eine geradezu 
lächerliche Uebereinftimmung in allen ihren Qualitäten 
mit den normalen Wahrnehmungen aufweifen. Gie 
fehen Farben wie wir im Wadjzuftande, fie erklären, 
daß fie den betreffenden Gegenftand „von unten“ oder 
„von oben“ her jähen (der in Wahrheit Hunderte von 
Meilen entfernt ift); fie lejen dierfach zufammenge: 
faltete Briefe, die fein Menſch, wenn fie völlig durd: 
fihtig wären, entziffern könnie, weil die Schriftzüge fid 
völlig überdeden, als ob der Brief aufgefaltet vor ihnen 
läge uſw., tura fie geben überall gerade ſolche Wahr: 
nehmungen an, wie man fie vorausfehen müßte, wenn 
3. B. die Betrugshnpotheje zuträfe. Mir erſcheint das 
im hödjften Maße auffallend und nidyt gerade fehr ein: 
leuchtend. Wenn wirklich eine folde, alle Raum: und 
Zeitgrenzen überſchreitende innere Erleuchtung egiftiert, 
ſollte diejelbe dann wirklid) ausgerechnet an ganz die: 
jelben jetundären und primären Empfindungsqualitäten 
und Beziehungen gebunden fein wie die normale? Aud 
aus Deiterreihs Worten ſpricht an mehr als einer Stelle 
die Verwunderung über eine folde — sit venia verbo 
— Naivität der oftulten Kräfte. Ich rate dem Lefer 
jeiner Broſchüre hierauf einmal ganz befonders 3N 
achten. Bavin. 








En. J 
Godesberg a. RY. u. Derhen a. ò. Giss 
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3. Reifeprüfung, — — 
——— Gebeer und Ersieper. Önteruat 
22 Samtliengänjern 


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ı XVIL Jahrg. Detmold, März 1925 Heft 3 











Herausgegeben Schriftleitung: 







vom Professor 
Keplerbund Dr. Bavink 
Detmold Bielefeld 









Inhalt: 


Das Problem des Uebels in der Welt. Von B. Bavink. ® Astronomie und 
Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr. Paul Meth. & 
Naturwissenschaft und Weltanschauung. Von Dr. Max Müller. ® Aus- 
sprache. ® Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ® 
Neue Literatur. 
























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Zahlstellen für Auslandsbeiträge 
Oesterreich: Postsparkasse Nr. 15603b. Sehwelz: Keplerbund-Postscheckkonto: Zürich Nr. VIII. 10635. 
Holland: Dr. W. var der Elst, Utrecht, Julianalaan 13, Postrekening 52198. Amerika: Rev. W 
Meinecke, Chicago (Jll.) 5647 So. Rockwell St. Mexiko: M. Lassmann, Apartado 549 Mexiko D. F. 


Alle Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. verlag od. Geschäftsst. des — Detmold. 














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Inhaltsverzeichnis Verlag erscheinenden Zeitschrift „Der Naturfr eund a 
Astronomie und Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr. Paui Meth. [Schluß.) ® März- 
wanderung. Von R. Fuchs. ® Skizzen aus Italien — Sizilien. Von Dr. E. Lücke. ® Fährten und -Spuren. 
Von Dr. Ernst Alefeld. ® Hexe und Eidechse. Ein Beispiel biologischer Sprachforschung. Von Dr. Hans 
Hallier. ® Das Erwachen des Frühlings in der Natur. Von Studienrat E. Zieprecht. ® Brauchen die 
Pflanzen den Winterschlaf? Von Herbert Henne. ® Pelorie bei Anemone pulsatilla? Von Erich Mahler. ® 
Fiugspiele der Krähen. Von H. Osthoff. ® Der Sternhimmel im März. ® Häusliche Studien. ® Kleine 

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Natur Technik; A. E. G.-Abraum-Lokomotiven. ® Tönende Morsezeichen. Von Hans Bourquin. ® 
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Möller. 








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Mitglieder und Leser des Keplerbundes findet voraussichtlich im Oktober 


in Halle statt. 
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ersten Vierteljahres (Mk. 2,—) unserm Postscheck- l Die Geschäftsstelle. 
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nehmen an, Zahlungen, die bis 20. März nicht eir- | Z3llIIMMRUNMNNRNMLRUMHEEERREE 
















gegangen sind. zuzügl. der entstehenden Unkosten = iā ” = 
durch Nachnahme erheben zu dürfen. = Cp. Pädagogium = 
Naturwissenschaftlicher Verlag, | = Gobesberg a. RH. u. Derhen a. d. Gieg È 
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Herausgegeben vom Naturwiſſenſchaftlichen Berlag des Keplerbundes e. B. Detmold. 


Boftichedtonto Nr. 45744, Hannover. 


Scriftleitung: Prof. Dr. Bavink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Aufläge fiehen die Derfaffer; ibre Aufnahme madht fie nit zur Weuberung des Bundes. 


XVII. Jahrgang 


Das Problem des Uebel in der Welt. son 2. Bavin. ® 


März 1923 


Heft 3 





Schluß.) | 





Neben der Anerkennung des Lebensdranges 
an fih fteht nun aber im Chriftentum auf der 
anderen Geite die ebenfo entichiedene Ber- 
urteilung jeglihder Art und Form der Gelbft- 
fudt, und das eigentlihe Problem 
liegtdarin, wiejene Unerfennung 
und diefe Berwerfung fid vertra- 
gen, da doh anicheinend beides: Lebensmille 
und Gelbftjucht völlig zufammenfallen, man alfo 
ſcheinbar nur beides zugleich annehmen oder ab- 
lehnen tann. Das leßtere will der Buddhismus, 
das erjtere verfuchen feit alter Zeit gewiſſe Strö- 
mungen in. Philofophie und Religion, die im 
Egoismus niht etwa ein Uebel, fondern das 
eigentliche Prinzip alles Yortfchritts erbliden 
wollen. (So vielfach bei neueren Freidenkern, 
die andererfeits aber im vollen Widerfpruch da- 
mit von allgemeiner Menjchenliebe überfließen.) 
Wir haben nun feon oben offen ausgeſprochen, 
daß eine rationale Auflöfung diejes Problems, 
meldes nur das „Problem der Theodizee” in 
anderer Faſſung ift, nicht möglich ift. Wir müf- 
fen anertennen, daß hier metaphyfifche legte Ge- 
þeimniffe in unfer Dafein hineinragen, die uns 
undurdpringlich find. Aber wir tröften uns bei 
diefem Verzicht mit zwei Dingen: Zum erften mit 
der Einfiht, Daß unsdieletten Gründe 
des Dajeins der Welt theoretif h 
dodh auf ewig verfdhloffen bleiben. 
Das Problem, warum überhaupt eine Welt da 
ift, und warum gerade diefe und feine andere, 
ijt der vernunftgemäßen Erkenntnis unzugäng- 
lih. Wir können nur feftjtellen, wie diefe Welt 
tatfächlich ift und wie fie in fih zufammen:- 
hängt in Raum und Zeit. (Problem der Kon- 
tingenz f. Nr. 4:5 1922.) Zum andern aber er: 


wägen wir, daß wir als menfchliche irdifche 


Wefen an die Form der Beit, ſowohl in fubjef- 
tiver wie in objektiver Hinficht, gebunden find. 
Die Zeit ift „Form des inneren Ginnes“ (Kant), 
fie ift auch Ordnung der äußeren Welt, wenn 
auch vielleicht eine andere Ordnung, als die 
innere (Einftein). Gott aber fteht jenfeits von 
Raum und Zeit, feine „Ewigkeit“ bedeutet 
niht eine unendlich fortgefegte Zeit, fondern 
eine außerzeitlihe Eriftenzform. Was für uns 
in der Zeit hintereinander ift, das „ift“ oder 
„gilt“ für ihn einfach; er fieht die Welt „uno 
aspectu“. Und darum ift aud) die „Schöpfung“ 
fein zeitlicher Anfang, fondern eine reine „Urs 
heberfchaft”, etwa vergleichbar einer logijchen 
Begründung, bei der wir aud von „Folge“ 
iprechen, obwohl wir diefes Wort nicht zeitlich 
oder räumlich meinen. Go heißt: denn das 
Theodizeeproblem vom Standpunkt metaphyji- 
ſcher Einficht aus niht mehr: wie fam in eine 
von einem guten Gott geichaffene und urfprüng- 
lih gute Welt das Böſe hinein (das wäre zeit- 
lih gedacht), fondern: wie fteht es mit dem Ber- 
hältnis der Teilwillen zum univerfellen göttlichen 
Willen, der fih jelber in diefe Teilmillen frei: 
willig jpaltet?) Warum muß überhaupt eine 
folche Spaltung fein? Vielleicht, weil nur fo 
Bielheit in der Einheit möglich ift? Aber warum 
bejteht dann niht troßdem eine vollflommene 
Harmonie der Teile untereinander, wie bei den 
Einzeltönen eines Akkords? Offenbar ift die 
Schöpfung jo eingerichtet, daß alles ineinander: 





1) In diefer Faſſung erfennt man, daß es mit dem 
Problem der Willensfreiheit im Grunde zufammenfällt. 
Beide müſſen jozujagen erft in die Sprade von Ein: 
jtein Minkowski überjegt werden. 


— — 


ae a E E —— 


50 





ng —— 
— i ae nn nn 


greift und das Gange einen riefenhaften Organis- 
mus darftellt. Uber warum ift diefe Einrichtung 
mit Leid verfnüpft? Müßte es nicht jener 
Raupe eigentli Freude machen, wenn fie ihre 
naturgemäße Beftimmung erfüllt, vom Bogel 
gefreifen zu werden? Ebenfo Freude, wie wenn 
fie ihr Kohlblatt fript? Hier ift unfere Weis- 
heit zu Ende. Nur eines fönnen wir nod) 
jagen: Wenn Gott alles in allem ift, wenn die 
ganze Schöpfung vom Elektron bis zum Men- 
ichen fein Wert ift, fo ift er auh in dem Leid 
und dem Uebel gegenwärtig, ja er ledet es mit. 
Wie unfer Wille ein (in gewilfem Umfange ver: 
jelbftändigter) Ausfluß feines Willens, fo find 
auch unfere und natürlich ebenfogut der übrigen 
Geichöpfe Empfindungen und Gefühle aud feine 
Zuſtände. Das ift der legte Sinn des Wortes, 
daß fein Sperling vom Dache fällt ohne feinen 
Willen. Das Ehrijtentum fann einen gemiljen 
Einſchuß von Pantheismus niht entbehren, ohne 
auf die Stufe eines deiftifchen Gottesbegriffs zu: 
rüdaufinfen. Un diefer Stelle haben wir vor 
allem von unferen großen deutfchen Myſtikern 
zu lernen. Gott ift (als Schöpfer und Erhalter) 
„nicht ferne von einen jeglichen unter uns”, nicht 
etwa nur fo, als ob er überall „Dabei“ wäre, 
nein, fondern fo, daß er mitten darin ift. „Gott 
ift in mir das Feu'r und ich in ihm der Schein. 
Sind wir nun niht einander ganz inniglich ge- 
mein?” fingt Angelus Cilefius. Rein transcen: 
dent ift Gott immer nur als Werter und Richter, 
nie als Schöpfer. DaB das Chrijtentum dies fo 
oft nicht beachtet, ift die Urfache dafür, daß es 
vielfach nicht über den deiftifchen Gott des alten 
Judentums hinaustommt. (Bgl. Nr. 6, 1921.) 
Das Problem wird dadurch zwar nicht gelöft, 
wie der Widerfpruch in die Welt fommt. Aber 
er wird für uns tragbarer, wenn wir glauben, 
daB Gott felber ihn mit uns trägt. 


Und hier ergibt fih der Teßte und weiteſte 
Yusbli und ermweift fih die Ueberlegenhe't des 
Chriftentums über alle anderen Religionen. Es 
gibt einen Weg, auf dem Wille und Wille itatt 
zum Gtreit zur Einheit zurüdfinden können. 
Diefer Weg ift die Liebe, jegt nicht im irdifch® 
menschlichen Sinne, fondern in dem des Apoftels 
in jenem berühmten Hymnus 1. Kor. 13 ge: 
nommen. Es ift die Liebe, die fih nicht felbft 
fucht, fondern das des anderen, ja die fid) jelber 
freimillig und gern für den anderen opfert. Auf 
diefem Wege und nicht auf dem der Verneinung 
des Willens an fih löft im Prinzip das Ehrijten- 
tum den Widerſpruch des Dafeins. Denn das 
ijt ja der Grundgedante feiner Erlöſungslehre, 
daß ſogar Gott ſich ſelber in dieſer Liebe opfert 


Das Problem des Uebels in der Welt. 


= 1.20. — on — 


für feine Gefchöpfe. Wie in jenem Widerjprud, 
jo ragt auh in dieſer Erlöfung das Transcen- 
dente, jchlechthin über unfer Berftehen Erhabene, 
in unjere Welt hinein. 
nicht durch äußere „Wunder“ bezeugt zu fein, 
wie mancher als unbedingt notwendig fefthalten 
zu müjjen meint. Wer aus fachlichen Erwägun: 
gen heraus gegen diefe Bedenken hat, habe fie.) 
Sene Erlöfung vielmehr ift felber das Wunder, 
ebenjo wie der fie begründende Widerſpruch des 
Dafeins ein Wunder, d. h. ein uns undurchdring— 
liches Geheimnis, ift. Schöpfung, Fall und Er: 
löſung — dem naiven Berjtande der Gläubigen 
ungezählter Jahrhunderte waren fie alle drei 
zeitlich gefchichtliche Ereigniffe. Dem geläuterten 
Nachdenten find ficherlich die erjteren beiden Ur: 
daten der Welt, metaphyfifche legte Gegeben: 
beiten, auf einander nicht zurüdführbar und nicht 
jelber zeitlich, fondern in allem Seitlichen gegen: 


wärtig.”) Die Erlöfung hingegen ift zwar dem $ 


nun einmal an die Zeit verhafteten Menjcen 
gegeben in einer zeitlich gefchichtlichen Geftalt, 
an die er fih halten fann und foll, aber an fió 
ift fie auch überzeitlich, wie die beiden anderen. 


(Es braucht deshalb > 


— — 


Sean 


Sie ift der Aft, durch den der gefpaltene Wille | 


wieder zur Einheit mit fidh felber gelangt, nun 


IST SIIN S DADA 


aber nicht mehr zur Einheit der Indifferenz, fon: 3 


dern zur Einheit harmonifchen SJneinandergrei: 
fens aller Teile. Das abgrundtiefe Geheimnis 
des Weges diefer Erlöfung aber heißt: Opfer. 


N 


Nicht in dem menſchlich-allzumenſchlichen Sinne ) 


des Heidentums, das auch ins Chriftentum teil: 


weife eindrang, als ob Gott zuerft eine Art von J. 
Bezahlung haben müffe, damit er die Sünde aus F 


tilgen könne, fondern in dem Sinne der Gelbit: 
hingabe aus dienender Liebe. 
Wer an diefe göttliche Liebe glaubt, der ift er 
[öft, und wer fich felber in ihrem Sinne opfett, 
wer, mit Chrifti Worten gejprochen: „fein Leben 


verliert um meinetwillen, der wird es finden.” 


Denn diefer Tod ift nah dem Glauben des 


Chriftentums die Bürgfchaft für den Anteil an 


einem ewigen, nicht der VBergänglichfeit unter: 
worfenen Leben. Pflanze und Tier müffen 
fih opfern, weil fie nicht anders fünnen, jedes 
muß dem höheren Zwede dienen. „Was fie 
wilfenlos find, fei du es wollend, das iſt's.“ Der 


Menih, der feine Selbftfucht in der Liebe über E - 


windet, nimmt eben damit teil an Der Melt: 


erlöfung, und dies ift tatfächlich der einzige Weg: | 


der ihn von allem Uebel innerlich frei madi, 
auch von dem phyſiſchen. Es ift zugleich ſeine 
höchſte Beſtimmung, die alles andere mM fid 
>) Bgl. hierzu des Roſtocker Theologen Althaus Bud) 
von den „leßten Dingen“. 


i! 


(Marc. 10, 45.) 1 






ichließt, auh die „natürliche Moral”. Denn auh 
alles Große in Wiſſenſchaft, Kunſt, Technit, 
Wirtfchaft und was es immer fei, wird nur auf 
dem Wege des Opfers erreicht. Der Denter, der 
Künftler, der Erfinder, der Baterlandsverteidiger, 
fie alle bezeugen, daß es wahr ift: feet Ihr nicht 
das Leben ein, nie wird Euch das Leben gewonnen 
fein. In diefem höchſten Ziel einigen fih alfo die 
natürlichen mit den ſittlichen und religiöjen Auf: 
gaben. Daß der eine feiner ganzen Anlage nah 
mehr für den einen, der andere für den anderen 
Zweig bejtimmt ift, braudyt dann feine Urfache 
für einen Rangftreit mehr zu fein. „Es find 
mancherlei Gaben, aber es ift ein Geift”. Eine 


Ahnung davon, wie das fein fünnte und fein 


jollte, haben wir im Auguft 1914 in Deutjchland 
befommen. Da waren tatjächlih in weitem 
Make alle natürlichen und geiftlihen Gaben mit 
einander einig zur Erreichung eines gemein: 
famen Bieles, der äußeren und inneren Stär- 
tung des ſchwer bedrohten Vaterlandes. Jn 
ſolcher Einigteit follten fie immer verbunden, 
itatt wie fo oft in gegenjeitigem Argmohn und 
Hader entzweit fein, dann trüge die Menjchheit 
den auf fie fallenden Anteil wirklich Dazu bei, 
daß „dein Reich fomme”. 


Wir follen und mülfen uns allerdings flar 
machen, daß damit nur u n fer menfdlicher An— 
teil praftifch geklärt ift. Das Problem der Theo: 
dizee, Das theoretijch überhaupt unlösbar ift, ver- 
liert praktiſch für den Menfchen feine 
Furchtbarkeit, wenn diefer fih in Gottes Liebe ge- 
borgen weiß und damit zugleich in fich felber die 
Selbftfudht im Grundfaß überwindet. Es ift aber 
wiederum nichts als menfchliche Weberhebung, 
— oft aud) bloße findliche Naivität —, wenn wir 
meinen, damit fei das die ganze Welt be: 
hberrichende Problem auch ſchon gelöft. Die 
ErlöfungdesChriftentumsgiltden 
Menſchen. Wie es mit der übrigen Schöp- 
fung jteht, das. ift uns verborgen, und wir fünnen 
daran aud) praktiſch fo gut wie nichts tun. Lebt: 
lih wird wohl aud; eine tiefe Wahrheit in den 
von der deutſchen Myſtik ebenfo wie von Hart: 
mann und anderen gelehrten Auffaflung fteden, 
daß der ganze MWeltenvorgang gemiljermaßen 
eine Art von Eelbiterlöfung Gottes fei. So ent- 
ichieden auch das Chriſtentum die peffimiftische 
Wendung diefes Gedantens bei Hartmann oder 
im Buddhismus ablehnen muß, fo wird es doch 
andererjeits gerade wegen feines Gedanfens an 
den mit Chriftus leidenden Gott die Möglichkeit 
ins Auge faffen dürfen, daß vielleicht Gott feine 
„vor aller Welt” (dies aber außerzeitlich genom- 
men) bejtehende Seligfeit des Sichjelbftgenügens 


= Dag Problem des Uebels in der Welt.  ćč 51 


mit der relativen Unjeligfeit diefes Weltlaufs 
vertaufcht (wiederum muß man einen zeitlichen 
Ausdruck gebrauchen, um Außerzeitliches anzu: 
deuten), um dadurch die höhere Stufe der Selig- 
teit, nämlich die freie Harmonie der Liebe einzu— 
taufchen. Bon folchen Dingen läßt fidh felbft- 
redend nur ftammelnd fprechen. Unfer an die 
Zeit und den Raum verhaftetes Denken verfagt 
da naturgemäß. Und nichts ift der wahren Re- 
ligion abträglicher geweſen, als daß die Kirche 
jo oft verjucht hat, diefe nie anders als in Sym- 
bolen ausdrüdbaren Dinge in nüchternen, ſchein— 
bar flaren, in Wirflichkeit unverftändlichen oder 
nichtsfagenden Dogmen festlegen zu wollen. Wer 
von ſolchen transcendent göttlichen Dingen das- 
jenige erfahren will, was der Menfch davon er: 
fahren kann, der muß fih niht an die Dogmatif, 
D. i. den grübelnden Berjtand, fondern an die 
religiöfe Kunſt wenden, am beiten an die Mufit, 
die eher als alles andere mit ihrem Sneinander 
von Konfonanzen und Difjonanzen den Ginn 
des Weltfeins enthüllen tann. Wer bei Beetho- 
ven allen Donnergroll der Schöpfung, alles 
tieffte Leid, aber auch alle höchſte Luft des Da- 
feins erlebt, wer dann bei Bach die Engel im 
Himmel ihr „Sanctus, fanctus Dominus” an: 
jtimmen hört und bei Brahms in alles mitreißen- 
der Schlußfuge das himmlifche Loblied mitfingt: 
„Herr, Du bift würdig, zu nehmen Preis und 
Ehre und Dant und Ruhm. Denn Du baft alle 
Dinge geſchaffen“, der ahnt von fern, weshalb 
Gott nicht Gott allein blieb, fondern eine Welt 
ſchuf. Und der ahnt auh, — er bildet fih nicht 
ein, damit etwas Berftandesmäßiges zu willen —, 
dah hinter dem Sterben des einzigen Menfchen, 
der Gottes Willen wirklich reftlos erfüllte, mehr 
itedt als nur ein Heldentod und ein leuchtendes 
Beijpiel, vielmehr eine metaphyfifche Tiefe, die, 
mögen die alten Dogmen längft überholt fein, 
doch immer von neuem unfer Denten reizt, 
darüber nachzugrübeln. Es zeigt fih darin ein 
Weltgefeg, das Opfer heißt, und das Gott fidh 
felber überall, nicht nur in diefem Tode für diefe 
Menfchheit, erfüllt. Alles VBergängliche ift nur 
ein Gleichnis, aber es ift auh ein Gleichnis, 
es jtedt dahinter wirflich ein Emwiges und be- 
londers jeder reinjte Typus eines Gefeßes oder 
einer Idee läßt uns dies Ewige ahnen. In die- 
jem Gehalt an Emwigem liegt die überwältigende 
Kraft jolcher Einzelbeifpiele und Fälle. Wie tief 
bat Plato gefehen, als er es zur „Idee“ des voll: 
fommenen Gerechten gehörend erkannte, daß 
derjelbe unschuldig verfolgt und hingerichtet mer: 
den müljen! Und wenn niht Plato (falls die 
betreffende Stele des „Timäus“ ſpätere Jnter- 


52 2.2... Das Problem deg Uebels in ber Welt. 


polation fein follte) dann die chriftlichen Philo- 
fophen, die diefen Gedantengang fchufen, oder 
Paulus, von dem fie dazu angeregt wurden 
(Phil. 2). Es läßt fih auch heute nod) unendlich 
tiefer Sinn aus den uns allen befannten Stel: 
fen?) des Neuen Teftaments herausholen, der 
weit von allem flachen Rationalismus der Auf: 
färung weg zu legten unfagbaren Geheinniffen 
fühbtt. Man muß nur dem modernen Menſchen, 
der wahrlich längſt wieder eingefehen hat, dah 
mit dem Verſtande nicht alles zu machen ift, nicht 
sumuten, daß er unbejehens die alten Gedanken: 
gänge nachwandeln foll, fondern ihm in jeiner 
Sprache, d. h. in der der Philofophie und Meta- 
phyfit unferer Zeit, davon reden. Gie ift 





nicht flacher, eher tiefer als die vor 1800 Jahren; _ 


fie unterjcheidet fi) von Diefer aber vor allem 
in dem einen Puntt, daß fie feine Konftruftionen 


duldet, die mit dem erfahrungsmäßigen Willen 


in Widerfpruch geraten. Gie ift, wie Hartmann 
jagt, induktive Metaphyfit. 

Die altkirchliche Dogmatik fann uns deshalb 
nicht mehr genügen, weil fie in diefem Betracht 
Die von unferer Erkenntnis aus zuläffigen 
@renzen überfchreitet, an fih folgerichtig, denn 
te gog damit nuir die Folgerungen aus ihrer 
Grundthefe von der Zurüdführung alles Uebels 
auf menſchliche Sünde. Diefer entjprechend ließ 
fie mit der Erlöfung der Menſchen auch die der 
Kreatur mitgefeßt fein (vgl. Röm. 8, 20/21). In 
einer tief ergreifenden Dichtung zeigt ein neuerer 
Dichter‘) wie es in Wahrheit damit fteht. Er 
läßt Chriftus in den 40 Tagen der Verſuchungs— 
geichichte in der Wüſte mit Lilith, der bekannten 
mythologiichen „erjten Frau Adams” zufammen- 


treffen, die ihn durch einen Trant die Stimmen 


der Tiere verftehen lehrt. Nun muß er 3. B. 
hören, wie drei Raben fih darüber beraten, wie 
fie einen gewiſſen franten Hafen erbeuten wol: 
len. Der eine will ihm die Augen aushaden, 
der andere ihm den Bauch aufreißen ujw. Darauf 
zieht dann das Drama jelber an uns vorüber. 
Chriftus bittet, von all dem im Innerſten er- 
Ichüttert, den Bater, ihm diefe Laft wieder ab- 
zunehmen. Er wolle fein Leben der unglüd: 
lihen und fündigen Menfchheit weihen, das 
andere auch noch auf feine Seele zu nehmen, 
gehe über feine Kraft. — Das ift nun natürlich 
Dichtung, aber es liegt in ihr ein tiefer Sinn, 
der wohl nicht erft ausdrüdlich entwidelt zu wer: 
den braudt. Es ift Gottes Geheimnis, wie er auh 
diefen Widerjpruch auflöfen wil. Wir müf- 

* 3. B. 2. Kor. 5, 19; 30b. 3, 16. 


9) W. Widmann, Der Heilige und die Tiere; Halle, 
Niemeyer. 





ſen uns damit begnügen, dem Gott, 
der uns den Chriſtus gab, zuzu— 
trauen, daß er audb hierfür Rat 
weih, und unfererfeits nur alles zu vermeiden, 
was die Uebel in der außermenfdlichen Schöp- 
fung noh unnötig vergrößern könnte In 
diefem Betracht hat die Chriftenheit ebenfalls 
noch viel von Indien zu lernen. Nicht nur der 
Tierſchutz, — natürlidd innerhalb vernünftiger 
europäilcher Grenzen und niht in der abfurden 
Vebertreibung des Anders, der fih fein ganzes 
Keben dadurch Tahmlegen laßt —, fondern auch 
der „Naturſchutz“ find, wie wir heute jehen, gott- 
gewollte menſchliche Aufgaben. Ein Verfahren 
wie 3. B. das gegen die nordamerifanilchen Büf— 
fel ift nit nur „Ichädlih” im ökonomiſchen 
Sinne, es ift Sünde gegen den Schöpfer, der 
Leben aud) in diefer Form wollte. Wenn von 
ſolchen Forderungen nichts im Neuen Teftament 
fteht, fo beweiſt das niht das Geringite gegen 
ihre Geltung. Wie hätten die Berfafjer jener 
Schriften alle einzelnen derartigen Aufgaben 
vorausfehen und würdigen können? Unjere 
Sache ift es, da, wo fie eine Yüde ließen, unferer- 
feits uns über Gottes Willen klar zu werden, 
vielleicht auch einmal zu erkennen, daß fie in 
diefem oder jenem Punkt felber noch nicht die 
volle Wahrheit hatten, und fo unfererjeits „Das 
Amt zu führen des Neuen Tejtaments, nicht des 
Buchftabens, fondern des Beiftes”. Die Mög- 
lichkeiten und die Lebenskräfte des Chriftentums 
find noch lange nicht erjchöpft, wie viele wähnen, 
denen der Blid auf die legten drei Jahrhunderte 
mit ihrer zunehmenden Spannung zwiſchen 
Chriftentum und Kultur die Augen blendet. Es 
bedarf nur einer der Wandlungen, die das 
Chriftentum nun fon fo oft durchgemacht hat, 
um unverfehens eine Fülle neuer Quellen Iprin- 
gen zu laffen, die vielleicht wieder auf Jahr: 
hunderte hinaus Leben und Kraft fpenden tön- 
nen. Daß mir zurzeit auf einem toten Punkte 
find, fühlt jeder, aber auh wohl, daß alles auf 
einen neuen großen Anfang wartet. Der dog: 
matifhe Kern eines ſolchen Neuen 
wird, das ift meine Ueberzeugung, eine 
gründliche Revifion der Lebre vom 
lebel in der Welt fein, die prat- 
tifhe Folge aber eine neue Ver- 
bindung von Religion und Rultur. 


Darüber zum Schluß noh ein paar offene 
Worte. Eine Religion, der alles natürliche Uebel 
lediglih Folge des fittlihen ift und die dem- 
zufolge auch ihre Ethit ausſchließlich auf 
die innere Erlöjung abitellt, fann notwendig in 
Bezug auf das äußere Uebel, das ja dann nur 


Das Problem des Uebels in der Welt. l | 53 


Gottes Strafe für die Sünde oder ein Er⸗ 


ziehungsmittel iſt. nicht zu einer entſchloſſenen 
Verneinung kommen, ſondern wird ſtets dazu 
neigen, dasſelbe als „gottgewollt“ (zu unſerer 
Warnung und Beſſerung) mit beinahe ſympathi⸗ 
ſchen Gefühlen anzuſehen, die natürlichen Be— 
ſtrebungen auf ſeine Beſeitigung zu belächeln, 
den Glauben an die Möglichkeit ſolcher Beſeiti— 
gung als menſchliche Ueberhebung und Aufleh— 
nung gegen die göttliche Erziehung zu betrachten 
und gar in natürlichen Verſuchen, fittliche und 
fogiale Zuftände zu beffern, die grundlegende 
Irrlehre von der an fi guten und edlen 
Menfchennatur (firchengefchichtlich: den Pelagia- 
nismus) zu wittern. Niemand tann beftreiten, 
daß foldhe Stimmungen weithin auch im Chri- 
ftentum unferer Tage noh berrfhen. Wenn 
troßdem auf der anderen Geite gerade das 
Chriftentum einen hervorragenden Anteil an der 
Abftellung einer ganzen Reihe natürlicher Uebel 
hat, wenn es 3. B. vor allem in der Kranten- 
und Hilflofenfürforge bahnbrechend gewirkt hat, 
jo widerſpricht das dem eben Gefagten nicht. 
Denn das Chriftentum motiviert diefe Art der 
Befämpfung natürlicher Uebel auf feine Weife, 
nämlid als fittlicye Qiebespflicht des Menfchen 
gegen den Menfchen; anders gefagt: als Be- 
lätigung der durch die innere Umwandlung er- 
zeugten Gejinnung des Chriften. — Gerade dies 
ift es aber nun befanntlid), was dem Chriften- 
tum in unferer Beit fo außerordentlich viel Un- 
feindung zugezogen hat, vornehmlich bei den 
breiten Volksſchichten. Der Vorwurf, der hier 
immer wieder erhoben wird, ift diefer, daB man 
nicht Almoſen, fondern Gerechtigkeit, nicht 
Liebesgaben, fondern tatkräftige Mithilfe an der 
Befeitigung unerträglicher Zuftände erwarte. 
Diefer Vorwurf ift, wie wir von unferem Stand- 
puntte aus jagen müffen, zu einem gemiffen 
Teil berechtigt, und hier fommt nun die eminent 
praftifhe Bedeutung unjerer fcheinbar fo ab- 
ftraften Erörterung zutage. Denn auf unferem 
Standpunfte müffen wir zugeben, daß in der 
Tat die übliche chriftliche Begründung all jener 
lozialen Tätigkeiten unzulänglid; ift. Sie dürfen 
nicht bloß fozufagen von Gnaden der indivi- 
duellen Moral oder „Heiligung” leben, fondern 
verlangen, um ihrer jelbjt willen gewertet zu 
werden. Der Gott, der ridhtet und 
wertet, der Bott des zweiten Ar— 
titels, rihtet und wertet nidht nur 
die Sünde, fondern aud das phy- 
fiſche Uebel. Das legtere für „gott- 
gewollt” einfah hbinzunehmen, ift 
genau fo gottlos, wie die Sünde 


einfadh als „gottgemwollt”“ gelten zu 
laffen. Alles Uebel ift ein Nidt- 
feinfollendes, einerlei ob phyjfi- 
ihes oder moralifdhes. Und darum ift 
es ganz ebenjo fittliche Pflicht an fih, Krant- 
heiten gu heilen, wie Sünden zu befämpfen, 
Menſchen zu menfchenwürdigen Dafeinsbedin- 
gungen zu verhelfen, wie ihnen von böfen Neis 
gungen und Trieben loszuhelfen. Jedes ohne 
das andere ift unvollftändig und nur die halbe 
Wahrheit. Es ift wohl überflüffig, nog näher 
auszuführen, was eine entjchlofjene Anertennung 
diefer Süße für die Entwidlung eines neuen 
hriftlichen Volkslebens insbefondere bei uns in 
Deutſchland bedeuten würde. Man fage nidt, 
es fei doch Schließlich ganz einerlei, ob man 3. B. 
die Kranfenheilung oder dergleichen aus der 
Forderung der allgemeinen Menfchenliebe oder 
aus der des Kampfes gegen das phyfifhe Uebel 
degriinde. Die Hauptfache fei, daß fie gefchehe. 
Es ift nicht einerlei, ob die Religion neben der 
Kultur herläuft, was wahrhaftig viele Chriften 
fchon für einen Sdealzuftand halten, oder ob fie 
diefelbe durchdringt und adelt, wie das bei allen 
gefunden und jugendfrifchen Völkern der Fall ift. 
Es ijt eine traurige Berzichtpolitit, wenn man 
Xe Religion dahin treiben will, daß fie die Kul- 
tur fidh ſelber überläßt und froh fein foll, falls 
man fie nur in ihrem reife in Rube läßt. Re- 
ligion ift entweder alles oder nidhts. Niemand 
tann zween Herren dienen, auch ein Bolt als 
Ganzes niht. Entweder man hat nur eins von 
beiden, Religion oder Kultur, oder man hat 
beide als eines, als Ineinander, d. h. eine von 
Religion bejeelte und durchgeiftigte Kultur, wie 
das v. Soden in feinem vortrefflicden Aufſatz 
jo ſchön am Schluß ausgeführt hat. Jn unferem 
gegenwärtigen Zuftande laufen zumeift die na- 
türliden und die fittlichsreligiöfen Aufgaben des 
Menfchen völlig unverbunden nebeneinander her; 
das ift auh bei unzähligen guten Chriften jhon 
fo zur Gewohnheit geworden, daß fie gar nicht 
mehr merken, wie unfinnig diefer Zuftand ge- 
rade vom Standpunfte ihrer Religion eigentlich 
ift. Seht ihr denn nicht mehr — möchte man 
jolhen zurufen —, daß es derfelbe Gott ift, der 
euch ſowohl die natürlichen Dafeinsaufgaben wie 
die ſittlichen Ziele fegt? Iſt denn erträglich, dab 
zwiſchen dem erjten und dem zweiten Artikel in 
eurem Katechismus ein dider Trennungsitrid) 
mitten hindurchgeht? Jefus hat mindeftens die 
Hälfte feiner Zeit und Arbeitskraft auf die Lin- 
derung phyſiſcher Leiden verwendet. Man tue 
doh nicht immer fo, als ob er das immer und 
überall nur getan hätte, um dadurch indirekt 


54 


„Seelen zu retten“. Das hat er auch gewollt, — 
jelbftverftändlicd —, es war ihm ficher auch nod 
wichtiger, als das andere. Aber dies andere hat 
er ganz ficherlich zunächſt auch um feiner ſelbſt 
willen gewollt; helfen hat er wollen, ganz ein- 
fah und fchlicht: helfen, Uebel abjtellen, dem 
was fein follte, aber nicht ift, auch hier zum Da⸗ 
fein verhelfen. Aus Menjcyenliebe? Gelbitver- 
ftändlih! Auch wir follen alles, was wir an 
anderen und für andere tun, „aus Menfchen- 
liebe” tun. Wer wollte unfere barmherzigen 
Schweſtern entbehren? Aber wer ift auf der 
anderen Seite fo töricht, von dem mediginilchen 
Forſcher oder dem Entdeder fremder Erbteile 
oder dem Künftler zu verlangen, er folle das, 
was er tut, auh „aus Menfchenliebe” tun? Hier 
find wir in Gebieten, wo der objeltive Zweck das 
Wort hat, und der hat genau dasſelbe Recht von 
Gottes Standpunft aus wie der fubjeltive, ja 
wer weiß, vielleicht in vielen Fällen ein größeres. 


Berüdfichtigen wir das, fo wird es uns mit 
einem Male tlar werden, daß auh Tragen, wie 
3. B. die der Raffenhygiene und Bevölterungs- 
politi? vom Standpuntfte der Religion aus feines- 
w:gs immer fo rein fubjettiviftifh behandelt 
werden dürften, wie das zumeift gejchieht. Die 
chriftlich orientierten Erörterungen diefer Fragen 
kommen zumeift nicht über das Gebiet der reinen 
individuellen Moral hinaus. Daß es neben die- 
fer das ebenfo berechtigte Intereſſe der Gejamt: 
moral und — der Gefamtgejundheit gibt, igno- 
riert man oft genug völlig. Man hat 3. B. in 
neuerer Seit, feit man auf die Wirkung der 
natürlichen Auslefe durch Darwin aufmerffam 
geworden ift, dem Chriftentum oft vorgeworfen, 
daß es durch feine unterfchiedslofe Pflege alles 
Schwachen und Kranten, natürlich unbeabfichtigt, 
die Volksgefundheit tatſächlich ſtark zum Ungün- 
ftigen beeinfluffe, da es „negative Ausleſe“ be- 
treibe oder mindeftens die pofitive Ausleſe, das 
Ueberleben der Tüdhtigften, hemme. Jn der Tat 
ijt nicht zu leugnen, daß mindeſtens diefe Gefahr 
beteht, das Chriſtentum alfo alle Urfache hätte, 
wenn es denn feine grundfäßliche Forderung des 
Schußes gerade der Schwachen nicht aufgeben 
will und fann, doh gleichz:itig fiġh mit großem 
Ernft darum zu fümmern, durch weldye Mitte! 
den üblen Folgen folder an fih guten Beftre- 
bungen vorgebeugt werden fann. Wer di: Ge: 
fellfichaft mit der Erhaltung und liebevollen Pflege 
ungezäblter, ohne diefe zum Untergange verur- 
teilter Epileptifcher, Trunffüchtiger, Schwaächſin— 
nig:r, moralijch erblidy Belafteter uſw. beglüden 
will, hat auch die Pflicht und Schuldigfeit, da- 
rüber nachzudenten, wie diefe @ejellichaft vor 


Das Problem des \lebels in der Welt. 


den bedrohlihen Folgen foler grundfäglicen 
Erhaltungspolitit zu bewahren ift. Ganz ähnlid 
liegt die Sache. auch bei zahlloſen anderen Fra: 
gen, 3. B. der Frage der Gleichberedhtigung der ` 
Menfchenraffen, der Bevölterungspermehrung, 
der Frage des Krieges u.a. m. Sch muß es mir 

leider verfagen, nicht nur aus äußeren Gründen, 

fondern aud) aus inneren, an diefer Stelle hier: 

auf näher einzugehen. Auf dem im vorigen dar: 

gelegten und begründeten Standpunft ergibt fid 
zu allen diefen Fragen eine durchaus eindeutige 
Stellungnahme im Sinne eines vernünftigen 
Ausgleichs zwilchen der Forderung des religiöfen 
deals und der nüchternen Erwägung der realen 
Verhältniſſe. Alle diefe Fragen find im übrigen 
nur Teilfragen des großen Komplexes „Religion 
und Kultur”, auf den wir in anderem Zuſam— 
menhange noch einmal zurüdtommen müffen. 
Nur auf eine Seite der Sade fei hier zum 
Schluß kurz eingegangen, weil fie mit einem 
Einmande zufammenhängt, den man gegen die 
ganze hier gegebene Darftellung vielleicht von 
hriftlicher Seite aus erheben könnte. Man wird 
mich nämlich vielleicht auf die Worte der Berg- 
predigt verweilen, daB wir „dem Uebel nid 
widerftreben follen”. Es heißt aber m. ©., den 
Sinn diefer Worte Jefu völlig mißverjtehen, 


wenn man aus ihnen herauslefen will, Jefus - 


habe geboten, feine Jünger jollten in der Well 
ruhig alles Uebel fih auswirken laffen und ihm 
nur durch die innere Liebesgefinnung entgegen: 
zutreten fuchen. Soldye Folgerungen, welde 
Tolftoi und viele andere daraus gezogen haben, 
fcheitern nicht nur an der klaren Tatfache, dab 
Jefus feinerfeits keineswegs alles Vebel hat 
gehen laffen, wie es ging (man denfe an die 
Tempelreinigung und an feine Heilungen), fon: 
dern auh daran, daß fie die Worte aus dem 
Zufammenhang herausreißen, in dem fie ge 
ſprochen find. Einerlei, wie weit nun die „Berg: 
predigt” auf freier Kombination ifoliert über: 
(ieferter Sprüche durch den Evangeliften beruht, 
foviel fcheint doh aus dem ganzen Zufanımen: 
hange tlar, daß fidh Jefus mit den fraglicen 
Worten auf die innere Gefinnung der einzelnen 
Menfchen beziehen wollte, die feine Jünger fein 
wollen. Der ganze Abfchnitt handelt von dem 
wahren Sinne des „Gejeßes“, den Jefus in das 
Innere verlegen will. Jn diefem. Zufammen: 
bang: fann der oft zitiert Ausſpruch von dem 
rechten und linfen Baden ufw. nur befagen, DaB 
die Gefinnung eines Jefusjüngers gegen feine 
Mitmenfchen eine fo liebevolle fein folfe, daß er: 
auch wenn ihm Unrecht zugefügt wird, nicht dem 
Wunfch nah Radhe und Vergeltung Raum gebe, 











Das Problem bes- Uebels in der Weit. 55 


fondern feinen Gegner durch Liebe innerlich zu 
überwinden tradte. Mit diefer Gefinnung hat 
das Ehriftentum tatfächlich die Welt erobert, und 
zwar obwohl fie oft genug in die häßlichen Berr- 
bilder kriechender Unterwürfigfeit ausgeartet ift, 
die in fo vielen Erzählungen, 3. B. in Felix 
Dahns Romanen faritiert ift. Angefichts von 
Menſchen, die wirklich die innere Größe haben, 
die Jefus hier vorausfeßt, entfinkt tatſächlich dem 
Böfen jehr oft am Ende der Mut, Böfes zu tun. 
Allein damit ift nicht im geringjten gejagt, daß 
nun auch, abgejehen von feinen eigenen perjön: 
lichen Angelegenheiten, der Jünger Jefu alles 
Böſe fih ungehemmt auswirken laffen follte, daß 
er fih verfolgter Unfchuld nicht, nötigenfalls auch 
mit Gewalt, annehmen, daß er Verbrecher nicht 
beftrafen helfen, daß er der blutigen und rohen 
Gemalttat nur mit frommen Reden entgegen: 
treten folle, womöglidy gar in Fällen, wo der 
Ueberfallene feinem Schuge ausdrüdlich anver: 
traut war. Ein folches Berhalten ift fein Chri- 
ftentum, fondern entweder Feigheit oder Ber- 
rüdtheit, und es gar vom Staate zu fordern, 
heißt: die Guten den Schlechten wehrlos aus» 
liefern. Hier gilt vielmehr gerade der umge- 
fehrte Sag: ihr follt widerjtreben allem Uebel. 
Der lUnterfchied liegt darin, daß das Uebel in 
diefem Falle für den Handelnden reines Objelt 
ift, während er in dem von Jefus gemeinten 
galle felber als Subjekt daran beteiligt ift. In 
letterem Falle machen Rache und Bergeltung als 
jubjeftive Wünfche das Uebel noh ärger, im 
erften dagegen würde gerade umgekehrt die Ub- 
lehnung alles „Widerftrebens” das Uebel ver- 
größern. Auch die Bergpredigt denkt alfo m. €. 
nicht daran, das Uebel als objektive Tatjache zu 
fanttionieren. Im Gegenteil, man tann fagen, 
dah der in Rede ftehende Ausſpruch gerade den 
3wed hat, diefes objeftive Uebel zu mindern, in: 
dem er offenbar vorausjeßt, daß das Streben 
nach perjönliher Rahe das Uebel feineswegs 
aus der Welt jchafft, fondern nur ärger madıt 
(man dente 3. B. an die furdhtbare Blutrache). 
Er will alfo gerade einen richtigeren Weg zur 
Befämpfung des Uebels zeigen und zwar den, 
ten der einzelne für fich angefichts feiner perfön- 
lihen Intereſſen gehen foll. Daraus aber eine 
Univerfalvorfchrift auch für die Gejamtethit, d. h. 
für das richtige Verhalten, 3. B. des Staates 
gegenüber feinen Untertanen oder der Staaten 
untereinander zu machen heißt ein an fih ge: 
fundes Prinzip durch Uebertreibung zu Tode 
hegen. Für die Fragen der Gejamtethit fommt 
der Geſichtspunkt perfönlicher Rachegelüfte ja gar 
nicht in Betracht. Hier handelt es fih einzig 


darum, durch welche Verhaltungsweifen tatſäch⸗ 
lid das Uebel als objeftive Größe auf ein Mini- 
mum zu reduzieren ift. Dies nah allen Seiten 
hin aufs forgfältigfte zu überlegen, die Erfahrun- 
gen der Jahrhunderte fih gunuße zu machen und 
danach die Geſetzgebung, die internationalen Be- 
ziehungen ufw. zu regeln, ift in diefem Falle die 
Forderung auch der Religion, denn dazu hat 
Gott dem Menfchen den Berftand gegeben. 

Diefe Säge richten fidh, wie leicht erfichtlich, 
niht nur gegen ſolche Strömungen, welde, wie 


es feit Beginn des Chriftentums geſchehen ift, 


aus der Bergpredigt und dem Chriftentum über: 
haupt nicht nur die Verwerfung des Krieges als 
eines Uebels, fondern auh die Verwerfung des 
Kriegsdienftes für den einzelnen folgern, wie 
überhaupt gegen jeden Nichts-als-Bazifismus im 
bürgerlichen oder internationalen Leben, der 
ichließlich tatenlos zufehen will, wenn der Un- 
iyuldige vergewaltigt und das eigene Bolt von 
einem radjgierigen und graufamen Feinde ver: 
nitet wird. Gie richten fih vielmehr aud) 
gegen die nicht feltenen Stimmen auf der ent- 
gegengefeßten Seite, die im Kriege eine bejondere 
Art göttlicher Ordnung zu fehen glauben und das 
Verbot der Bergpredigt dahin auslegen, daB es 
Irrtum und Sünde fei, an der Abichaffung der 
Kriege durch internationale Verträge zu arbeiten. 
Bon unferem Standpuntt aus find beide Extreme 
glei falfcy und verderblid. Wir folgern — 
ganz abgefehen von einzelnen aus dem Zufam: 
menhang herausgeriffenen Ausſprüchen, ſtamm— 
ten ſie auch von der höchſten religiöſen Autorität 
ſelber — aus den Grundlagen unſerer ganzen 
Erörterung, daß beides: der klare Kampf gegen 
alles objektive Uebel und die ebenſo klare Ein— 
ſicht in die einmal vorhandene Wirklichkeit des 
Uebels ganz gleich wichtig iſt. Wir folgern, daß 
deshalb von ſeiten der Religion nicht nur alles 
getan werde, um dem Uebel, hier insbeſondere 
dem Kriege, entgegenzuarbeiten, ſondern daß 
durch ſie auch der Glaube geſtärkt werde, daß 
ſolche Arbeit nicht vergeblich ſei. Es iſt auf 
unſerem Standpunfte nicht chriſtlich, ſondern un— 
chriſtlich gedacht, wenn man mit hochmütigem 
Naſerümpfen die Beſtrebungen auf Herbeifüh— 
rung internationaler Verträge lächerlich macht, 
da die Menſchheit nun einmal ſündig und daher 
zu gegenſeitiger Bekämpfung verdammt ſei. Wir 
folgern aber auch umgekehrt, daß pazifiſtiſche 
Ideologie nicht blind mache für das, was wirk— 
lich iſt, und ein grauſam geknechtetes Volk nicht 
noch weiter in die Knechtſchaft hineintreibe. Es 
ift nicht chriſtlich, ſondern unchriſtlich, wenn man 
den Schafen predigt, daß ſie die Wölfe in Ruhe 


56 Aftronomie und Weltanſchauung bei griechiſchen Philoſophen. 


laſſen follen, wenn man die Strafgeſetze ab- 
ſchaffen will, um die Verbrecherinſtinkte nicht zu 
reizen, wenn man einem vergewaltigten Volke 
den Willen zum Widerſtande gegen die Gemalt- 


tat ausredet. Die Religion, die wir hier meinen, _ 


glaubt an das Gute, aber ift darum nicht blind 
für das Böfe. Gie ift ein unauflösbares nein: 











ander von Optimismus und Peljimismus. Gie 
fieht die Uebel in ihrer ganzen nadten Häßlich— 
teit, aber fie fieht fie, um fie zu überwinden, denn 
fie glaubt an einen Gott, der größer ift als das 
Uebel. Nur eine ſolche Religion verbürgt einem 
Menfchen und einem Volke die Zukunft. 


Aſtronomie und Weltanſchauung bei griechffchen Philo 


fophen. Bon Dr. Paul Meth. — (Schluß) 


Platons mathematifche Genialität blieb nicht 
auf der Stufe ftehen, die von den Pythagoräern 
bereits ertlommen war. Er foll im höheren 
Alter erfannt haben, daß die Darftellung der 
Himmelsbewegungen einfacher ift, wenn man 
die Sonne zu ihrem Mittelpunft macht, als 
wenn man fie um die Erde gehen läßt. Er 


warnte nämlidy vor einer falfchen Auffaffung 


der Bahnen von Sonne und Mond. Das legt 
die Vermutung nahe, die eben ausgeſprochen 
wurde. Wenn Platon wirklich fpäter im engſten 
Kreife gelehrt hat, daß fih die Planeten um die 
Sonne bewegen, — eine aftronomifche Folge- 
rung aus dem metaphyfiichen Vorrang, weiden 
die Sonne als Sinnbild des höchjten Guten bei 
ihm fchon befaß — fo fielen diefe Gedanken dod) 
auf unfruchtbaren Boden. Die Beit war für 
folche Borjtellungen, die jo hohe Anforderungen 
an die geometrijche Abſtraktion ftellen, durch 
aus nicht reif, und felbft Platons bedeutendfter 
Schüler, Ariftoteles aus Stageira, war niht 
imstande, den feften Boden der Erde zu verlaffen 
und das Planetenigftem in der Sonne zu ver- 
antern. Daß der Schüler feinem Lehrer in die- 
fen fchwierigen Gedanken niht zu folgen ver: 
mochte, liegt wohl vor allem an dem Mangel an 
gründlichen Kenntniffen des Ariftoteles auf dem 
Gebiete der Mathematit und Aſtronomie; gibt 
er doch freimütig zu, daß er fich in folchen Fragen 
auf „Kenner“ berufen müffe, und daß er fidh fein 
eigenes Urteil darüber bilden könne. Obwohl 
die Aftronomie des Ariftoteles die Zufammenftel: 
lung eines bloßen Liebhabers der Sternkunde ift, 
hat fie doch auf die fpätere Entwidlung oder 
rihtiger „Hemmung“ der wiljenjchaftlichen Him- 
melstunde fo ſtark eingewirft, daß man fie nicht 
übergehen fann. Tür welchen Gemwährsmann 
follte fih Ariftoteles entjcheiden, wenn fidh in einer 
aftronomifchen Frage die Anſichten feindlich 
gegenüberſtanden? Maßgebend war dann für 
ihn, wie fidh die eine oder andere ajtronomijche 
Anſchauung feinen philofophtihen Gedanken: 


A 


— — — 


gängen einfügte. Darum können wir die Aſtro⸗ 
nomie des Stagiriten nicht wie die Meinungs 
äußerung eines Fachmannes werten, feine 
Himmelslehre ift vielmehr ein Ausdrud feiner 
Weltanſchauung. Der Kosmos des Ari: 
ftoteles muß als Verkörperung jenes geiftigen 
MWeltbildes gefehen werden, das durd anderthalb 
SJahrtaufende in der chriftlichen Scholaftit nad- 
gewirkt hat. Das aftronomifche Weltbild des 
Ariftoteles wächſt logiſch aus zwei Grundjäßen 
hervor, die höchſt bezeichnend für die geiftige Ein- 
ftellung ihres Urhebers find. 

1. Die Dinge des Himmels find grundfäßlid) 
der Urt nah, von allen Dingen diefer Erde ver 
ichieden. 

2. Hinter der Firfterniphäre thront der „erite 
Beweger“, der alle Bewegungen des Kosmos 
im Umfchwung erhält. 

Diefe beiden Säße find fo ausgefprochen „theo: 
logiſch“, daß es fein Wunder ift, wenn fie auf 
die Scholaftit des Mittelalters einen ftart 
werbenden Eindrud machten. Es ift die mit 
der Lebensverneinung weſensverwandte, edt 
„fromme“ Naturbetrachtung, in der die Erde 
Ichlechter ift als das ganze übrige All. Dasjelbe 
will der erfte Sat ausdrüden. Man fragt fid 
nur, warum die Erde dann vom „erjten Be 
weger“ — das ift eben Gott, der Schöpfer des 
Kosmos, — zum Mittelpunft gemacht wird, um 
den fih alle göttlichen oder halb göttlichen Ge 
ftirne, geheftet an ihre Sphären, ſchwingen müſ— 
fen. In der ariftotelifchen Aſtronomie bleibt die 
fer Widerfpruch unaufgeflärt. Hier gehört als 
Ergänzung zur Kosmologie und Weltanjchauung 
des Stagiriten geradezu das Chrijtentum, das 
den Bewohnern des Weltmittelpunttes, den 
Menfchen, eine jenfeitige Beftimmung gegeben 
hat. Dadurch wird der Menſch über die Natur 
binausgehoben: Die Welt ift für ihn da, er 
nimmt eine bevorzugte Stellung im Kosmos eth. 
Damit fchließt fih eigentlich erft die erwähnte 
Lücke im Gedantengange des Ariftoteles. — — 












































shna 


Aftronomie und Weltanſchauung bei griechiichen Phifofophen. 57 


Bu dem erften der beiden obigen Grundfäße 
gehört als ergänzende Ausführung die Lehre, 
daB das Schwere, Unedle, Vergängliche nad) 
unten, d. h. zur Erde, ftrebe, das Leichte, der 
Aether, das Reine, Unvergängliche nach oben. 
Jedes Ding bat feiner Natur nach einen bes 
ſtimmten Ort im Weltall, den es auffudht. Se 
nahdem in den Dingen eine nähere oder fernere 
Berwandtichaft zum Göttlichen, aljo Unvergäng- 
lichen, fih auswirtt, find fie dem Sig des „eriten 
Bewegers“ und damit der äußerſten Weltiphäre 
näher oder ferner. Danach find die Firiterne 
das Reinjte, fie befunden ihre Unvergänglichkeit 
auh am deutlichjten Durch die unveränderliche 
Geftalt der Sternbilder. Ariftoteles tadelt die 
Anhänger der Atomlehre, wie Demofritos, weil 
fie lehren, daß die Tirfterne aus demjelben 
Material wie die Erde beftünden. Dieje Anficht 
glaubt Ariftoteles gar nicht beffer entkräften zu 
tönnen als durh den Vorwurf, daß feine Geg- 
ner dadurch den Unterfchied zwifchen „vergäng> 
lich“ und „unvergänglich“ verwifchen. Dieſe Cnt- 
fcheidung ſteht alfo für ihn als Forderung außer 
jeder Erörterung; mit ihr fchlägt er jede andere 
Lehre aus dem Felde. Nichts tann deutlicher 
zeigen, daß ihm die Aſtronomie nur ein Beilfpiel 
ift, feine Weltanfhauung ins rechte Licht zu 
fegen, nicht eine Wiffenfchaft, die ihre Behaup- 
tungen vorurteilsfrei und felbjtändig zu begrün- 
den hat. Die jpätere Entwidlung der Aftronomie 
hat dem Stagiriten Unrecht gegeben. Seine An- 
fiht über die Phyfit des Kosmos mußte ganz 
verworfen werden. À? 


Einen Ausgleich) zwifchen der ariftotelifchen 
und der atomiſtiſchen Anfchauung, die auch die 
heutige ift, gibt es in diefer Frage niht. Denn 
Ariftoteles „erklärt“ den Rosmos, indem er alles 
in die Unterfcheidung: „hie Erde, hie Weltall” 
hineinpreßt. Der gegnerifche Standpuntt findet 
die „Erflärung” der Beobachtungen an den Ge- 
ftirnen gerade dadurch, daß er vergleichbare Cr- 
iheinungen mit den irdifchen Vorgängen auf- 
juht und die auf der Erde entdedten phyfitali- 
jhen Gefege auf das Weltall ausdehnt: Man 
braucht dabei nur an die Speftralanalyfe zu 
denken. Ariftoteles’ Erzählungen find ein Selbft- 
betrug, denn fie „erflären” die Fernen des Welt- 
alls durch etwas ganz Unbekanntes, durch die 
Untergötter, welche auf den Gejtirnen ihren Gig 
haben. Die große Ordnung, welche von dem 


oberjten Herrſcher ausgeht, hat zur Folge, dah. 


alle Bewegungen im Kosmos in Kreifen vor fidh 
gehen müflen. Da alle Bewegungen der Ge- 
ftirne vom „erften Beweger” von dem Umkreis 
aus den inneren Sphären mitgeteilt werden, 


mußte Ariftoteles eine befondere Vorrichtung 
für feinen Kosmos erfinnen, der verhindert, daB 
eine innere Sphäre in die Bewegung der benad): 
barten äußeren hineingeriffen wird. Er er- 
fann deshalb die zurüdrollenden Räder zwiſchen 
den Sphären. Diefe Räder hoben die Bewegung 
der Außeren Kugel auf, fo daß die innere dann 
ihre eigene Bewegung erhalten fonnte. 


Platon fchrieb dem Weltall Vergäng— 
lichkeit zu; denn alles Entjtandene fei auh 
vergängli. Daß dagegen die Unvergäng>- 
lich keit des Firmaments zu den Vorausſetzun⸗ 
gen bei Ariſtoteles gehörte, ſahen wir ſchon. 
Er beruft ſich hierbei noch auf die uralten Be⸗ 
obachtungen der Chaldäer und Wegypter, aus 
denen fih feine Veränderungen unter den Stern- 
bildern erfennen ließen. Cs gäbe alfo teine 
tosmifchen Perioden, wie Platon will, fein Welt- 
jahr. Der unveränderliche Sternhimmel muß 
von Ewigkeit her gewefen fein, denn nur linge: 
ihaffenes tann ohne Veränderung fein. 


Das find in großen Zügen die aftronomifchen 


Lehren des Ariftoteles, die zwangsläufig aus den 


vorangeftellten naturphiloſophiſchen Grundſätzen 
folgen. Um aber dies Weltbild abzuſchließen, 
müſſen wir uns noch erinnern, daß Ariſtoteles 
die Exiſtenz des leeren Raumes leugnete, eine 
Lehre, die noch lange als „horror vacui” (Angft 
vor dem Leeren) in den Köpfen der Natur- 
forfcher Verwirrung anrichtete. Uns interefjieren 
hier nicht die ſpitzfindigen Schlüffe, durch die 
Ariftoteles zu feiner Behauptung tam. Be- 
achtenswert find feine aſtronomiſchen Schluß» 
folgerungen für uns: Da es feinen Raum ohne 
Materie geben foll, fo muß das Weltall dort zu 
Ende fein, wo die Materie aufhört; das ift an 
der Grenze der Firfterniphäre. Die Gottheit 
außerhalb ift raum- und zeitlos. — 


Das aftronomifche Weltbild des Ariftoteles 
verblaßt febr, wenn man es gegen das Platons, 
feines großen Lehrers, hält. Den athenilchen 
Dichterphilofophen treibt über das damals noch 
dürftige Tatfachenmaterial der SHimmelstunde 
eine großzügige geiltige Anfchauungstraft hin 
aus. Das Streben, ein mweltbeherrichendes Et- 
was, das fih als Maß und Schönheit offenbart, 
durch Ueberlegungen über die Grundlage aller 
Erſcheinungen zu erfaflen, führt ihn bis an bie 
Grenze der Weltauffaffung mit der Sonne als 
Mittelpunft empor. Er fieht Welten entftehen 
und vergehen, ein glüdliches Sicheinfühlen in 
den Kosmos maht ihn dabei frei von dem 
augenblidlichen Eindrud der Unveränderlichkeit 
des Weltalls. Die arijtotelifhe Welt dagegen 
ftellt einen mit ſchwerfälligen Bewegungsgliedern 


58 Aftronomie und Weltanfhauung bei griechiſchen Phifofophen. 


überladenen Mechanismus dar. Der Mangel 
an Entwidlungsmöglidjteiten des Ganzen. macht 
fein Bild des Kosmos reiglos, als wäre es vor- 
ausbeftimmt, in die |pätere Philoſophie religiöjer 
MWeltüberdrüfligteit aufgenommen zu werden. 
Sein Kosmos ift Ausdrud für feine Geijtesein- 
ftellung, wie der von Schönheit und Leben er- 
füllte Kosmos des Platon Ausdrud ift für diefen 
athenifchen Philofophen. Des Stagiriten Spal- 
tung der Welt in die fchlechte Erde und den voll- 
fommenen Himmel mußte die Zuftimmung der 
Lebensperneiner finden; dagegen ift der pla- 
tonijche Kosmos das Symbol einer alles einen» 
den Weltanfchauung, die zwiſchen Weltichöpfer 
und Geſchöpf feine grundfäßlichen Unterjchiede 
fieht, fondern durch die Idee des Guten alle Teile 
miteinander verbindet und fie in der Weltjeele 
als in einer höheren Einheit aufgehen läßt. Die 
Unendlichkeit der Welt haben beide Philoſophen 
verneint: Platon, weil die Welt das Maß ver- 
förpert und die Unendlichkeit für den Griechen 
ein „Un“maß ift, das in dies Weltbild nicht hin- 
einpaßt. Die Unendlichkeit ift nicht mehr durch 
Zahlen und Verhältniſſe zu faffen. Hier liegt 
mehr eine ideelle Qeugnung der Unendlichkeit 
vor, bei Ariftoteles hingegen eine materielle 
Leugnung, wie fchon ausgeführt wurde. Daß die 
Welt [ehr groß fei im Bergleidy zur Erde, be- 
tont der Stagirit allerdings. Troßdem hat man 
bei feiner Kosmologie das Gefühl, in einer engen 
Höhle eingefchloffen zu fein, weil er das Bor- 
handenfein des leeren Raumes fo fchroff ablehnt. 


Den entgegengefeßten Standpuntft in der Trage 
der Unendlichkeit der Welt nahmen die Atomi- 
ften ein, deren Hauptoertreter, Demofritos 
aus Abdera, Platons Zeitgenoſſe war. Auf unfe- 
rem bisherigen Gang durch Die griechiſche Philo- 
jophie fanden wir in allen Lehren vom Kosmos 
ein ftartes metaphyfifches Clement vor. Dies 
fehlt bei Demofrit, und darum ijt feine Dar: 
ftelfung des Kosmos diejenige, die fpäter der 
mathematifhen Rechnung unterworfen werden 
tonnte. Denn er und feine Anhänger brauchen 
nur die Begriffe Raum, Zeit und Materie, um 
die Vorgänge im AU zu beichreiben; mit den: 
jelben Begriffen arbeitet auch die Galilei-New— 
tonſche Mechanit. Eine befondere „Aftronomie“ 
hebt fih aus ihren Lehren niht heraus. Die 
Eigenart ihrer atomiſtiſchen Weltauffaffung tritt 
erft in den legten und jchwerften Frageftellungen 
der Weltentwidlungslehre zu Tage, nämlich in 
der bedeutfamen Löfung, die das Problem nad 
dem Woher und Wohin des Weltalls findet. Die 
Entwidlung des BWeltalls wird von der Platon- 
lehre aus begriffen und bejchrieben. Der Blig 


in den fleinften Ausjchnitt der Welt offenbart 
dem Utomiften das Weltengeheimnis. Nach der 
Art des Vorgehens ift hier das Verfahren vor: 
gezeichnet, welches das mathematiſche Genie Leib- 
niz' und Newtons zur ftrengen Wiſſenſchaft erhob: 
Das Weltgefchehen durch Differentialgefege zu 
befchreiben. Die Annahme kleinſter, unteilbarer 
Korpusteln, auf Griechiſch: „Atoma“, hat der 
Scule des Demofritos den Namen gegeben, weil 
auf diefer Grundlage fih die ganze Weltent: 
ftehungslehre aufbaut. Zwiſchen den Atomen 
ift leerer Raum; alfo wird das Vorhandenfein 
des Raumes an fih, ohne Materie, gefordert, 
während nad) Ariftoteles der leere Raum ein 
Unding ift. Erft zwei Jahrtaufende jpäter haben 
fih die Grundanfchauungen der Atomiften in der 
Entwidlung der Naturmwillenfchaften voll aus 
gewirkt. Aber Demofrit hat die große Frucht⸗ 
barkeit feiner Atomhypotheſe flar vorausgelehen, 
wagt er es doch, von ihr aus eine Weltent⸗ 
ftehungslehre abzuleiten, der wir auch heute nod 
unfere Bewunderung nicht verjagen fünnen. 
Seine Vorausfegungen und Biele find faft die 
gleichen, wie die des großen Königsberger Philo- 
fophen, der in feiner „Naturgefchichte des Him- 
mels” die berühmte Theſe niederfchrieb: „Gebt 
mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt 
daraus entjteht!" Auch Kant fuchte zu erklären, 
wie fi) aus einem großen Haufen von Atomen 
Fixſtern- und Gonnenfyfteme bilden fünnen, 
ohne daß übernatürliche Kräfte eingreifen. Die 
großartige Phantaſie Demofrits erfüllt das Welt- 
all mit unendlich vielen Atomen, die in ewiger 
Tallbewegung durch den Weltraum begriffen 
find. Er dentt fih, daß die Teilchen verfchieden 
ſchnell fallen, dadurch zufammenpralfen und fih 
zu Wirbeln vereinigen, die den Anfang der 
Weltenbildung darftellen. Kant geht auh vom 
Fall der Atome aus, nur läßt er ihn nad An 
ziehungsmittelpunften durch die Schwerfrajt er 
folgen. Nach Demotrit find die Bedingungen 
für die Entftehung von Welten an vielen Stellen 
des Univerfums gegeben, und daher entftehen 
und vergehen unzählig viele Welten neben- und 
nacheinander. Während der Stagirite Himmel 
und Erde für artverfchiedene Derter des Kosmos 
hält, gibt es im atomiftifchen Weltbilde teine aus 
gezeichneten Stellen des Univerfums, das phyfi: 
kaliſch in allen feinen Teilen gleichartig ift Da 
mit find die Ergebniffe der Spektralanalyſe vor’ 
weggenommen, damit ift die bevorzugte Stel: 
[ung der Erde erfchüttert und die Lehre von der 
Sonne als dem Mittelpunkt der Erdbahn einer 
feits, Brunos Behauptung von der Bielheit der 
Sonnenfyfteme andererfeits fchon vorbereitet 


1 
E 





— ⏑⏑— 


Aftronomie und Weltanschauung bei griechiſchen Philofophen. 59 


Der ewige Fall der Atome bedeutet ein unauf- 
haltfames Dahineilen der Körper durch den Welt- 
raum. Und damit fieht Demotritos in feiner 
Welt ähnliche Bewegungen wie die heutigen 
Altronomen in den GSternftrömen. Seine Welt 
ift unendlich groß, auf fie paßt nicht das „Maß“ 
im Sinne anderer griechifcher Philofophen; fie 
verliert fih im Kleinen und Großen ins Unſicht⸗ 
bare und ift deshalb für die meiften Gelehrten 
des Altertums nicht faßbar. 
Weltanſchauung Demofrits das Heraufdämmern 
eines neuen Weltgefühls, das dem, wie Spengler 
fagt, „apollinifhen” MWeltgefühl des klaſſiſchen 
Menſchen mit feinem Empfinden für Schönheit 
der Form fremd ift. Diefe andere Anfchauungs: 
mweife, welche in Pythagoras und Platon ihre 
höchſten Vertreter hat, erjchöpft ſich in der jtati- 
IchenAuffaffung vongorm- und Zahlenharmonie. 
Die ewige Wiederkehr, welche die Philojophen 
lehren, trägt noch in die Bewegungen des Alls 
das ftatifche Weltgefühl hinein. Denn die un— 
zähligen Wiederholungen von Tod und Neuge: 
burt des Kosmos find wie Pendelichläge der 
Weltenuhr, wie die Schwingungen um eine fta- 
tifcye Bleichgewichtslage. Die Seele des De- 
mofritos dagegen fteht gang unter dem Eindrud 
dynamischer Vorgänge. Das geiltige Anſchauen 


der im unendlichen Strome dahinfließenden 


Atome ift das innere Urerlebnis des Abderiten. 
Das unerfchöpffihe Werden und Vergehen in 
der Bewegung, im Fluß ohne Quell und Ende, 
der aus der Unendlichkeit fommt und in die Un: 
endlichkeit drängt, ift der Kern feines Weltbildes. 
Es ift aus einer „fauftilchen” Geele geboren, 
wenn wir Spenglers Ausdrud für den Renaij- 
fancemenfhen anwenden. Jn der Tat hat De- 
mofrit mit den faft zweitaufend Jahre jüngeren 
Dentern diefer Zeit mehr VBerwandtichaft als 
mit dem Typus des klaſſiſchen PBhilofophen, und 
darum erjcheint das Weltbild des Atomiſtikers 
fo vielen feiner Zeitgenoffen fremdartig. 


Demotfritos hat für feine Welt mit aller Ent- 
ſchiedenheit das Berurfachungsgefeg angenom- 
men: „Nichts geichieht grundlos, fondern alles 
mit Grund und Notwendigkeit.” Tür das 
„Wunder“ ift nun fein Raum mehr. Der Ato- 
mift ift ein Feind des Aberglaubens, darum ift 
feine Weltanſchauung nichts für die findlichen, 
mwunderfreudigen Menfchen, fondern fagt nur 
logifch gefchulten Gelehrten zu. Auch jchmeidhelt 
diefe Lehre nicht der menfchlichen Eitelkeit, denn 
fie fieht den Menfchen nur als etwas Unbedeu: 
tendes an, ein Weſen, das fih viel zu wichtig 
nimmt, und zwar find es kosmologiſche Schlüffe, 
die zu folder Beurteilung der Erdbewohner 


Bedeutet doch die 


führen: Nämlich bei der Gleichartigkeit aller 
Teile des Weltalls müffen an vielen Stellen die 
Lebensbedingungen für organifche Wefen, alfo 
auh für Menfchen oder menfchenähnliche Ge- 
icyöpfe, vorhanden fein. „Eine einzige Getreide- 
ähre auf einer weit ausgedehnten Ebene wäre 
nid wunderfamer als ein einziger Kosmos in 
der Unendlichkeit des Raumes”, jagt ein Rad- 
folger Demofrits. Das heißt, es gibt viele, uns 
niht fichtbare Sternſyſteme und Damit viele 
Körper wie unfere Erde, die dadurch zu einem 
unbedeutenden Atom herabfinft.e Und mit fei: 
nem Planeten wird der Menfch zu einem Nidyts 
vor der Unermeßlichkeit des Alls; diefe Klein 
heit des Menfchen und die Laft der Unendlichkeit 
auf ihm gibt der fittliden Weltanfchauung des 
Abderiten die befondere Note. Der Berkünder 
diefer jungen und darum noch überwältigend auf 
die Mitwelt wirtenden Lehre — fo weit fie über- 
haupt begriffen wurde — fteht als der abgeflärte 
Naturphilofoph vor uns, der fidh als unbedeuten- 
des Weſen inmitten des Ablaufs der Erjcheinun- 
gen fühlt, die von ehernen Naturgejegen be- 
herrfcht werden und über den kleinen Menjchen 
dahingehen, ohne ihm Beachtung zu fchenten. 
Solche Erkenntnis gibt dem, der fie fih ganz zu 
eigen macht, eine kosmiſche Seeleneinjtellung, 
d. h. das Gefühl, als Teil zum ganzen AM zu 
gehören, ohne darin eine Sonderftellung einzu 
nehmen. Diefe Stimmung erzeugt Demut, und die 
Ueberzeugung, daß „nichts grundlos geſchieht“, 
dämpft die inneren Erregungen. So erreidht De- 
mofrit fein Ziel: die Ruhe der Seele. Geine ja- 
genden, raffenden und anmaßenden Mitbürger, 
die fih als wichtige Mittelpunfte der Welt be- 
trachten, zwingen dem abderitifchen Weifen nur 
ein Lächeln ab; darum fteht er vor ihnen und 
der Nachwelt als der „lachende Philofoph”. 


Bei Demotrit tritt nicht die urfprünglicde 
Einheit, die apriorifche Verbindung von äußerem 
und innerem Weltbild, von Kosmologie und Welt- 
anfchauung zu Tage wie bei anderen griechifchen 
Meifen. Bei ihm Tiegt das Schwergewicht zu- 
nächſt auf der naturmwilfenfchaftlichen Lehre. In 
den bewunderungswürdigen, großzügigen Gedan— 
fenreihen feiner atomiſtiſchen Weltdarſtellung, 
feiner „Himmelsmecdanit” — wenn man eine 
moderne Bezeichnung anwenden darf — ift De- 
mofritos in feinem eigentlichen Element. Seine 
Meltlehre ift naturwiſſenſchaftlich und rein lo— 
gifch, ohne jede metaphyfifhe Zutat. Erft das 
fertige Weltbild wirft feinen Abglanz auh 
auf die Seele, fie von allem Kleinlichen des 
Erdenmwallens löjend. Die naturwifjenjchaftliche 
Geite des atomiftischen Weltbildes wurde fpäter 


60 Naturwiffenfchaft und Weltanſchauung. 


volfstümlih. Aber feine ethifch = erzieherifche 
Kraft, die fidh in der Lebensführung und -auffaf- 
jung des Begründers ausmirfte, ging dabei oft 
. verloren. Demofrits Lehre, als wiſſenſchaftlicher 


— 
—— 





Materialismus aus der Studierftube des Ge 
lehrten in die breiten Maffen getragen, diente 
nur zu häufig der Halbbildung und anmaßen- 
den Urteilslofigkeit als Kleid. 








Naturwiſſenſchaft und Weltanſchauung. Bon Dr. Mag Müller. @ 


Ende des 19. Jahrhunderts (1899) erſchien ein 
Bud) aus der Feder des Jenaer Zoologen Ernft 
Hädel, „Die Welträtfel”, das gemaltiges Auf- 
leben erregte. Ein Naturforjcher von Ruf ging 
bier mit allen Mitteln feiner Wiffenfchaft zum 
Ihärfften Angriff gegen Gottesglauben und 
Kirche vor. Der Menſch ift nah ihm nicht eine 
Schöpfung Gottes „ihm zum Bilde“, fondern ein 
Stammesverwandter des Affen, im Laufe einer 
ratürliden Entwidlung — Evolution — ent: 
jtanden. Die SJefuslehre des Chriſtentums ift 
ibm eine plumpe Gefhichtsfälfhung. Als ich 
noh auf der Schulbank fah, wurde das Bud), 
das in einer vielgelefenen Volksausgabe unter 
die Maſſen verbreitet war, von uns Schülern 
mit SHeißhunger verfchlungen, und mancher 
wurde feinem Gott abtrünnig, um nie wieder 
zu ihm zurüdgufinden. Die Wiffenfchaft hatte 
es ja ermiejen: „der Menih ftammt vom Affen 
ab — und niht von Gott!” Die Evolutions: 
lehre ift nun freilich nicht von Hädel aufgeftellt 
worden. Er hat fie nur durch fein Buch volts- 
tümlich gemadt und in ihr für feine Welt- 
anſchauung, den Materialismus, eine wefentliche 
Stüße gefunden. Nah dem Materialismus ift 
alles in diefer Welt materiell, d. h. ftofflich, 
körperlich; das Geiltige ift nur eine „Funktion“ 
des Stoffes; unſere Seele ift alfo nur eine 
Funktion des Leibes. Wurde diefe Weltanfchau- 
ung auh von den Tachphilofophen als haltlos 
gefennzeichnet, jo wurde Hädels Lehre doch 
die Weltanfchauung der Maſſen — und niht 
nur in Deutſchland. Daß nun mit diefem rein 
theoretifchen Materialismus mit: feiner Leug- 
nung aller geijtigen Werte ein praktiſcher Ma- 
terialismus Hand in Hand geht, ift durchaus 
folgerichtig. Denn wenn es feinen Gott gibt, 
feine Seele und fein Leben nach dem Tode, fo 
icheint es ja in der Tat das Richtigſte zu fein, 
ron den Genüffen diefer Welt mitzunehmen, was 
fih mitnehmen läßt, in diefem „Rampf ums Da: 
fein” das Recht des Stärkjten walten zu laffen, 
nur auf den eigenen Vorteil bedacht, ohne Hem- 
mungen des Gemwiffens. Der Weltkrieg war der 





— — — — 


graufige Ausklang des materialiſtiſchen Zeit: 
alters. 


Das große Leiden und Sterben brachte 
aber zugleich den Umſchwung, deſſen Zeugen 
wir im gegenwärtigen Augenblicke europäiſcher 
Geſchichte ſind. Wie weit ſind wir heute von 
jenem Wahn der Häckelzeit entfernt, die da 
glaubte, mit ein paar Schlagworten alle Welt- 
rätfel löfen zu können! Die neufte Natur 
forfhung hat uns das Staunen und die Ghr- 
furcht vor dem Geheimnis wiedergefhentt. Gie 
ift tiefer eingedrungen in den einbau des 
Stoffes und hat uns aufgezeigt, wie die Heinften 
Teilen der fcheinbar toten Materie, die foge 
nannten Atome, fih in Wirklichkeit daritellen als 
eine Wundermelt im Kleinen, — jedes Atom ein 
förmliches Sonnenfyftem mit einem Atomtern 
als Sonne, und Elektronen, die wie Planeten 
und Monde in unheimlich fchneller Bewegung 
darum freifen. Nichts von toter Materie alfo, 
fondern allerlebendigftes Leben! Und das Eigen 
tümliche dabei ift, daß der Stoff, je mehr man 
ihn in immer Eleineren Musmaßen verfolgt, ſich 
Ichließlich immer mehr verflüchtigt, fo daB endlid 
eine Subſtanz gar nicht mehr übrig bleibt. Was 
nun eigentlih im Grunde die Elektronen find, 
das ift uns no% unfaßlich. Wir ftehen hier vor 
Rätjeln und Geheimnifien. Diefer Welt des 
Kleinsten jteht die Welt des Größten gegenüber, 
das Forjchungsgebiet des Aftronomen. N 
unſere Welt endlih? Hat fie Grenzen? Die 
Relativitätstheorie Einfteins will uns darauf 
Antwort geben. Aber diefe Antworten find ganz 
anders als die der Materialiften, die wie IM 
Menfchentörper jo auh) im Weltall eine legten 
Grundes einfache große Maſchine fahen. Die 
Relativitätstheorie arbeitet dabei mit — dem 
Deritande des Einfältigen ganz unfaßbaren — 
neuen Borjtellungen der — fcheinbar fo tiaren 
— Begriffe von Raum und Zeit, daß wir auf 
bier vor einer Fülle des Wunderbaren ftehen, 
von dem fih die Häckelzeit nichts träumen 
ließ. Ebenfo ſchwierig ift die fogenannte 












Raturwiffenfchaft und Weltanfhauung. 61 


Quantentheorie, gegenwärtig der Mittelpuntt 
der geſamten Phyfit, ungeahnte Ausblide öff- 
n:nd auf eine alles durchziehende geheimnisvolle 
Geſetz- und Zwedmäßigkeit, wobei nicht nur die 
für unantaftbar gehaltene lex continuae na- 
turae, — das Geſetz der Gtetigkeit im Wirken 
der Natur —, über den Haufen geworfen wird, 
fondern aud ein ganz eigentümlidyer Zug von 
Zielftrebigkeit im Wirken der Materie in die 
neugeitlihe Phyfit einzuziehen fcheint.) Ja, 
die theoretifhe Phyfit, die am meiteften in 
unbetannte Gebiete vorgedrungene Wiſſenſchaft, 
ift fo recht das Gebiet der Rätfel und Wunder, die 
freilich dem Laien nur ſchwer verftändlid) find. 
Der Geift der Forſchung ift jedenfalls nicht mehr 
der des neunmalweifen Hädelianers; je tiefer 
wir in die Geheimniffe der Natur eindrigen, 
dejto verwidelter wird fie für uns. 


Bon allen Naturmwiflenfchaften weift die Bio: 


logie noch die meiften Materialiften unter ihren 


Forſchern auf. Aber fie find verhältnismäßig 
jtill geworden und wagen fih im Grunde doh 
nicht recht mehr daran, mit naturmiffenfchaft- 
lichen Erfenntniffen und Methoden zum Angriff 
gegen die Religion vorzugehen. 
Naturforſchung und MWeltanfhauung find 
eben zwei wejensverfchiedene Gebiete. Natur: 
forfhung erjchließt uns lediglich das Weltbild, 
d. h. das So-Sein (genauer: das uns So-Er- 
fcheinen) des Wirklichen. Je nad) dem Fort- 
ſchritt der Forfchung ändert fih das Bild, Lügen 
werden ausgefüllt, Erweiterungen vorgenom« 
men, Irrtümer rihtiggeftelt. Auf der Suche 


nad) einer das Weltbild frönenden Weltanfchaus- 


ung verläßt man nun das Gebiet der Natur- 








1) Es Handelt fih dabei um folgendes: Nad) der 
alten Auffaffung wird das, was im nächſten Augen- 
blid geichieht, beftimmt durch das, was in dem jeßigen 
Augenblid ift, und durch dies allem. Nach der neuen 
Auffaffung, wie fie die Quantentheorie fordert, wird 
aber ſeltſamerweiſe das jeßt Geichehene ſchon beftimmt 
"dur das, was im nächſten Dingaugenblid gejchehen 
wird! Eine dem „gefunden Menidenverftande” taum 
faßbare Borftellung! Die Zukunft wirkt mit an der 
Beltaltung der Gegenwart! Nadh der alten Auffaffung 
zeritreut fich bei dem Wirken in der Welt des Kleinſten 
eine Welle von der Wellenerregungsitelle aus nad) allen 
Richtungen, ganz unbefümmert um etwaige Apparate, 
die die ausgefandte Energie auffangen fünnen. Nad 
der QDuantentheorie aber ift der Ausfendungsporgang 
von vornherein mitbeitimmt durdy die Dinge, die die 
ausgefandte Wellenenergie aufnehmen follen! Es madıt 
aljo den Eindrud, als ob der Wellenerreger weiß, wo 
feine Energie bleiben wird! Er ftreut diefe ſozuſagen 
nicht blind um fih, jondern ſchießt fie, ein nie fehlender 
Schüte, feinem Ziele 3u! Wie man früher eine raum: 
überwindende Fernkraft für die Wirkungen der Planeten 
aufeinander annahm, fo jet eine zeitlihe Fernwirkung 
zwiſchen den kleinſten Teilen der Materie! 


willenfchaft und zieht zu der Weltertlärung 
Elemente hinzu, die anderen Gebieten entftam- 
men. Die Weltanfchauung fragt fo nicht nad 
der Welt als folder, wie fie der Naturforfcher 
beichreibt, fondern nad) ihrem eigentlichen tief- 
ften Wefen. In diefen Fragen ift die Natur- 
willenjchaft (fie follte es wenigſtens fein) neu- 
tral; und es ift auch durchaus möglich, daß fih 
mit einem und demfelben Weltbild, eben weil es 
neutral ift, mehrere ganz verfchiedene Welt: 
anſchauungen vereinen laffen. Auch der Gottes- 
glaube gehört nicht in die Naturmiffenfchaft.‘) 


2) Die neue Philofophie, die Gott als reinen Geift 
begreift, die alfo auf dem Standpuntt fteht, daß aud 
nur reme Geiltwirtungen von ihm ausgehen und aus: 

jagt werden können, hat Gott völlig „entweltlicht“. 
Sie lehnt auh grundjäglid alle Erörterung der Trage 
der Weltihöpfung durch Gott ab, — aud Kants lt⸗ 
entſtehungsgedanken aus der „Kritik der reinen Ber- 
nunft“: Gott als die Idee des ſchlechthin Unbedingten 
gegenüber der Welt anzufehen, die nur Bedingtes auf- 
weile; alfo Gott als Schöpfer der Welt und als den 
Allmädtigen gegenüber feiner Schöpfung Rehmke 
ſchreibt (in der Zeitfchrift „Grundwiſſenſchaft“, 5. Bd., 
©. 28): „Gott muß von der Welt (der Dingwelt) ſchlecht⸗ 
bin freigehalten werden, außer aller Beziehung mit „die- 
jer Welt“, d. h. der Dingwelt, gefebt fein für das reli- 
giöfe Bewußtfein. Bor „phyſiktheologiſchen“ Phantafie- 
BEN als angeblih begründeten Meinungen hat felbft 

ant in der Kriti? der Urteilstraft gewarnt, wenn er 
aud, durd feine Idee „Gott“ verleitet, Doh nicht ganz 
aus der überfommenen religiöfen Kosmologie fih hat 
herausarbeiten und fomit nicht hat abmweilen können, 
daß die Gejamtbetrahtung der Welt, „als ob”. fie von 
Gott und daher zwedgefeht fei, beitehen bleibe. Aber 
dies zeigt deutli, daß Kant, der den fosmologifchen 
Gottesbeweis „zermalmt”“ hatte, fih troßdem nicht von 
dem althergebradyten Gedanten, daß Gott eine Be- 
3iehung zur Natur, d. i. zur Dingwelt habe, losmachen 
konnte. Crit wenn Gott völlig entweltlicht ift, alfo 
außer aller Beziehung zur Dingwelt, zum „Fleiſch“ ge- 
dacht ift, werden Religion und Wiſſenſchaft in der Bruft 
des Einzelnen zulammenmwohnen fönnen, tann das ein- 
zeme menſchliche Bewußtiein ungeftört und durch nichts 
in der Welt beirrt, religiös fein, d. i. mit feinem Gott 
leben. Dies ift reines Geiltleben, rein geiltiges Ber: 
hältnis des menſchlichen Bewußtieins zum göttlichen Be- 
wußtjein..... Sobald nun aber ein Bewußtjein aus 
feinem religiöfen Leben heraus wieder verfudt, 
„Kosmologie“ zu treiben oder, was dasfelbe jagt, „Welt: 
anfhauung” zu beihaffen und den „Sinn des Lebens” 
zu entdeden, briht das Unglüd herein . Wenn wir 
nur erft jo weit wären, daß wir über dies Bedürfnis 
nad) „Weltanſchauung“, das im Grunde ein irreligiöfes 
ift, hinweg wären, dann könnte der helle Tag der Re: 
ligion andredyen; denn jede Weltanſchauung führt den 
Religiöfen, der doh als folder nichts mit der Welt, 
jondern nur mit Gott zu tun hat, wieder in die Welt 
hinein und von Gott ab, fo febr fie auh die Abhängig: 
feit der Welt von Gott betonen mag; während freilid) 
die reine Religion von Beilt zu Geift das menſchliche 
Bemußtfein in die Welt hineinführt, jofern eben zu 
diefer Welt menidhlide Bemwußtjeinswefen (an 
menſchliche Leiber getnüpft) gehören, die ein jedes als 
religiöfes dem göttlichen Bewußtiein verbunden find. 


62 Naturwiffenfhaft und Weltanfchauung. 


3n der Tat tann es ja einem religiöfen 
Menfchen ganz gleich fein, was die Natur- 
willenichaft findet. Die Bibel ift fein na: 
turmiffenfchaftliches Lehrbuch, deffen Lehrjäße 
dur Ergebniſſe der Wiſſenſchaft eine Be- 
rihtigung oder Miderlegung zu fürchten 
hätten. Nie kann Wiſſenſchaft das Geringjte 
gegen lebendige Religion, die eben fchließlich auf 
ganz anderem Grunde verantert ift als auf dem, 
auf welchem fih verjtandesmäßige Wiſſenſchaft 
bewegt. Um es in eine Formel zu bringen: Reli- 
gion ift im Kern nicht Wiſſenſchaft, jondern Gebet. 
Wenn daher auch umgekehrt Religion fih zu 
ftügen glaubt auf fcheinbar noh fo ſichere Cr- 
gebniffe der Naturwiſſenſchaft, jo ift das ein ge- 
fährliches Unternehmen; denn was dann, wenn 
die Stüße doch zuſammenbricht? Gie braudt 
eine ſolche Stüge wirklich nicht. 

Nicht, als ob die Naturmwijjenfchaft der 
d:r Religion nun eine ſolche Gtüße biete, 
fondern nur als ein überaus bemerfens- 
wertes Zeugnis für die Abkehr unjerer 
jeßigen Zeit vom Hädelgeift wolle man es auf: 
nehmen, wenn nun von einem Buche die Rede 
ift, das jeßt genau foldes Auffehen verurfadht 
wie es einit die „Welträtfel” taten, nur im um: 
gefehrten Sinne. Es ift das Bud) des Profeffors 
der Paläontologie (Urmelttunde) an der Mün: 
hener Univerfität, Edgar Dacquk: „Ur: 
melt, Sage und Menfdheit.”) Es 
stellt fi als eine fchroffe Abſage dar an die 
alte Abftammungslehre, nad) der der Menſch ein 
Seitentrieb der Affenfamilie ift. Dacque ftellt 
am Schluß feiner Beweisführung feft: „So 
haben wir auh in Ronfequenz rein naturmiffen- 
Ichaftlihen Zuendedentens den Beweis, daß eine 
andere Borftellung vom Kommen und Werden 
des Menfchen gar nicht vorhanden und wahr- 
Iheinli” überhaupt nicht möglich ift als Die, 
welche uns als ältejte und fejtgefchlofjenfte Lehre 
in allen Mythen und Religionen entgegentritt: 
daB der Menſch ein eigenes Weſen, ein eigener 
Stamm ift, uranfänglich gewefen, was er fein 
und werden jollte, wenngleich mit allerlei grund» 
legenden Beränderungen feiner Geftalt.“ 

Solcderlei Yehre würde nun taum foles Auf: 
lehen erregen, wenn niht Dacqu& einer unjerer 
bedeutendften Naturforfcher wäre, der einen 
Lehrftuhl an einer der angelehenften deutfchen 
Univerjitäten inne hat. Dacqué beichränft fih 
abor nit darauf, eine Widerlegung der alten 
Abftammungslehre zu geben, an deren Stelle 
er feine „Typenlehre“ fegt, fondern er zeigt auch 
an vielen anderen Punkten auf, daß die alten 


*) Oldenbourg, Münden. 1. u. 2. Aufl. 1924. 359 ©. 


Sagen, Mythen — und aud die altteftament- 
lihen Erzählungen von den Naturgefchehnifien 
— einen ganz anderen Wahrheitsgehalt haben, 
als die bisherige Wiſſenſchaft Wort haben will 
So ift ihm beifpielsweife die Sündflut ein Cr- 
eignis, das, von gewaltigen fosmifchen Wirkun- 
gen hervorgerufen und riefige Ummälgzungen 


auf der Erdoberfläche hervorrufend, wirklich ftatt- 


gefunden hat, — am Ende der Kreidezeit; — 
während man bisher in der Sintflutfage, die fidh 
ja bei vielen Völkern findet, nur die Ueberliefe 
rung von Fluten erblidte, die fih in verhältnis 
mäßig neuerer erdgefchichtlicher Zeit ereignet 
haben. Ja, Dacque gibt niht nur eine natur 
wiſſenſchaftliche Erklärung für die Möglichkeit 
des in der Erzählung im Bud) Joſua, Kapitel 10, 
Vers 12ff., berichteten Naturereignijfes, jondern 
findet es in den Sagen anderer Völker beftätigt. 
(Es handelt fih um die befannte Stelle, wo der 


. König mit Gott redet und vor dem verjammel- 


ten Kriegsvolk fpricht: Sonne, ftehe ftill zu 
Gibeon, und Mond im Tale Ajalon! „Da ftand 
die Sonne und der Mond ftille, die Sonne mitten 
am Himmel, und verzog unterzugehen, beinahe 
einen ganzen Tag; und war fein Tag diefem 
gleich, weder zuvor noch danad“ .. .) 


Die Sagen find für Dacqué eben nicht will 


türlihe Erdichtungen, allegorifcher Art, jondern 


Erinnerungen an wirkliche Gefchehniffe, und 
deren Weberlieferer „haben unter dem Eindrud 
und dem Bemwußtfein übermältigendfter Wirt: 
lichkeit geftanden!” 


Der Raum verbietet es, im einzelnen aufzugei- 


gen, wie Dacque feine Beweife führt; aud tann 


nicht auf feine Topentheorie eingegangen werden, 
die er an Stelle der alten Abftammungslehre auf 
ftelt. Nur feine Widerlegung eines möglichen 
Einwandes gegen feine Lehren fei angeführt. 
Wenn der Menſch, wie es nah ihm der Fall fein 
foll, wirklich ſchon in fo ältefter erdgefchichtlicher 
Zeit gelebt haben foll, wie fommt es dann, da 
wir aus jenen Erdperioden zwar von den ver 
Ihiedenartigften Tieren Spuren ($offilien) 
haben, vom Menfchen aber feine einzige? Denn 
die Bunde vom fofjilen Menfchen gehen nur in 
das Diluvium zurüd, für die davorliegende erd” 
geihichtliche Zeit, das Tertiär, hat man folde 
Gunde zwar behauptet, aber ein wirklich ficherer 
Fund ift bis heute noch nicht feftgeftellt. Die nod 
vor dem Tertiär liegenden geologifchen Zeitalter: 
Kreide, Jura, Trias, Perm- und Steinkohlen⸗ 
seit haben uns auh nicht die leifeften Spuren 
vom Dajein des Menfchen geliefert, fo ſehr man 
die betreffenden Schichten auh durchitöbert hat. 
— Wenn man nun feine Menfchen aus jener 


| 
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{ 





Tr u 





Urhfh; rn e 

4 . ond g 
oi Entwi N. Sene uralte Menfchhen, 
es geführt bon $ uć im einzelnen nad: 


Si Derfchiedenften Diler Tate ber Sagen 


P des sadamitiihena ° CT Unterfcheidet den 
en Mengen en 


Geiftesgaben ausae | 
geitattet als mir, di 
M a m Hellſehen ein letes Ueberbleibjel 
w — en Begabung haben. Es iſt die Zeit 

Ythen, mythenhaften Helden, die Beit der 


taden: und Lindwurmkämpfe, von denen uns 
te Sagen erzählen. Das Gondwanaland ging 
bonn in der (noadhitifchen) Gintffut unter, n 
bie enſchen, von ihren Wohnfißen vertrieben, 
befiedelten andere Candftriche. Atlantis wurde 
nun die Heimat der Menſchen, — jene fagenhafte 
Belt zwiſchen Europa und Amerita, von ber 
uns u. a. Plato im Timäos berichtet und von 
der die Kunde Solon aus Aegypten mitgebracht 
hat, wo er fie aus alten Geheimberichten von 
Prieftern gehört hatte. Auch Atlantis verfant 
im Meere, — zu Ende des Tertiärs. Die Wogen 
des atlantifchen Ozeans bedecken jenes alte eft- 
land und mit ihm die Spuren feiner Bewohner, 
der ſpäteren Roachiten, bei denen die Natur- 
fidtigteit mit zunehmender Großhirnentfaltung 
einer immer ftärteren Entwidlung des Verftan- 
des gewichen war. Die älteren Diluvialmenfchen 
telen fih für Dacque dar als Periöten (Um: 
wohner, Nebenbemohner) der Atlantis. Auf den 
Untergang der Atlantis folgt das Diluvium mit 
dem uns durch Funde befannten Eiszeitmenfchen 
als kulturloſem Reſt. Dann ſetzen im Alluvium 
die geihichtlichen Kulturen ein. Es beftand aber 
idon eine Atiantiskultur! 


Ich tann es nicht als meine Aufgabe anjehen, 
bier zu Dacqués Theorien Stellung zu nehmen. 
Der Berfaffer rechnet fein Wert felbjt zu denen, 
die, „aus der Enge wagnerhafter @elehrtenftube 
berausführend zum Dfterfpagiergang , einen „ers 
ſchauten“ Gedanken als folchen vermitteln wols 
len und denen der eigentliche Wiffensftoff Neben- 
lade ift. Dacque hat wohl zugleich an Speng: 
lers „Untergang des Abendlandes“ gedacht, 






wenn er dis m. — 
zeichnet; e Bücher dieſer Art 
„Es ift wi | 
— ie i 
Dir aus einem gotifchen 
bliden. der Berne über di ſchen Dom, den 


ſeine e Häufer ragend er. 
Eindru A Sefamtiorm macht — er 


— 63 
wie folgt kenn⸗ 


Onheits und Materi 
a erialfehl 
en u. arme Quaber find — 
er 


gen oder ein Fenſter 
romaniſch ſtatt gotiſch; oder die Rei 

Pfeiler ijt verſchoben; oder a 
gefügt, die zu einem anderen Bau 
gehörten und notgedrungen bier 


mwältigenden Eindrud, mit berjelben Gemiß- 
heit und Wahrhaftigkeit feiner Gefamtton- 
jtruftion ragt er wieder über die Däder, und 
wir geben uns dem, was er uns wahrhaftig 
vermittelt, jeßt nach der kritiſchen Prüfung 
mit vollerer Ueberzeugung wieder bin und 
{hauen mit dem Geift des Meifters, jtatt über 
den verkehrten Quader mit dem Steinmeß zu 
ſchelten.“ 


Nun dürfen dieſe gewiß ſehr ſchön klingenden 
Worte uns freilich nicht darüber hinwegtäuſchen, 
daß auch eine noch ſo geiſtvolle Schau doch nicht 
den Boden der Wirklichkeit unbeachtet laffen darf. 
Eine Methode, die fih nad) Hegelſchem Vorbild 
nur in großangelegten Spekulationen ergeht 
oder doch wenigſtens eine Annahme durch eine 
andere ebenſo unbegründete ſtützt, wird immer 
etwas Anfechtbares haben. Freilich: unſere Zeit 
ſchwelgt ja im Gefühlsmäßigen, im „Irratio⸗ 
nalen“, und begeiſtert ſich ſchnell für jede künſt— 
leriſche „Schau“. Abkehr vom rein Verftandes- 
mäßigen iſt Trumpf, in Frankreich noch mehr 
als bei uns. „Intuition“ iſt das Schlagwort, 
das unſere Zeit im Banne hält. Nun ift Dagegen 
gar nichts einzuwenden, aber wir ftehen bann 
nicht mehr im Gebiet der Wiſſenſchaft, ſondern 
dem der — Kunſt, — die gewiß ein ebenſo 
berechtigtes Kulturgut iſt wie jene. Aber ſolche 
Bücher ſollen dann nicht den Anſpruch darauf 
machen, wiſſenſchaftliche Werke zu ſein. Sie ge— 
hören in das Bereich der — Dichtung. Keyſer— 
lings Reiſetagebuch eines Philoſophen — um 
noch ein Beiſpiel zu nennen — gehört zur Kunft, 
zur Dichtkunft, nicht zur Wiſſenſchaft. Aehnlich 
su werten find — nur daß fie noch eine Stufe 





64 Naturwiffenfhaft und Weltanfchauung. 


tiefer ftehen — Erzeugniſſe wie die eines gez 
willen Frang von Wendrin, der jebt die Menſch— 
beit mit den Früchten feiner Geiſtesſchau be— 
Ichentt; nad) feinem jüngften Bud) liegt das 
Paradies in — Hinterpommern! Dacques Bud 
ſteht freilich unendlich höher. Dacque ift immer: 
þin ein Fachmann von Bedeutung, der uns 
immer etwas zu fagen hat, auch wenn feine 
Grundidee (wie die Spenglers) niht Zuſtim— 
mung findet. Aber lebten Endes gehört fie 
doch in jene Gattung, die ih zur — Dichtung 
rechne. Es ift mir feinen Augenblid zweifel- 
haft, daß das Bud) feinen Weg maden wird, 
zumal es den Lefer von der erften bis zur Ichten 
Geite in Atem hält, — genau fo wie Spenglers 
Bud, das ja auh von der Zunft von „durchaus 
ordentlichen PBrofefforen” in Grund und Boden 
verdammt wurde. Es Steht wohl zu erwarten, daß 
Dacqués TFachgenoffen in manchen feiner Gedan⸗ 
fen Bföße Phantafien fehen werden,*) eine Gefahr 
würde fein Buch nur werden, wenn vertrauens- 
jelige Laien darauf ihren religiöfen Glauben 
ftüßen wollten. Sie würden in genau denjelben 


Fehler verfallen, nur in umgefehrtem Sinne, 


wie einft die Gottesleugner der Hädelfchule, die 
ihren Unglauben auf den unficheren Grundpfei- 
lern der Lehren erbauten, die fie den „Welträt- 
fein“ entnahmen. Noch einmal: Weltanfcyauungen 
und Religionen laffen fi niht mit natur 
wiffenfchaftlihden Mitteln beweiflen (— und 
widerlegen); eine Weltanfchauung, ein religiöfer 
Glaube, liegt in einer anderen Ebene als das 
Weltbild, das in diefer Beziehung völlig neutral 
ift. Das fei ausdrücklich feſtgeſtellt. 

Und troß alledem: 

Daß ein folhes Budh überhaupt gefchrieben 
werden fonnte, wohlgemertt das Budh cines 


ernst zu nehmenden Naturforfchers von Ruf, das 
ift für mich allerdings ein „Zeichen der Zeit“. 


Wie fern find wir jeßt der Hädelgeit, wenn 
Dacque fein Buch denen widmen tann, „die er: 
tennen, daß wahres Berftehen Glaube ift”, und 
wenn er etwa fein Eingangstapitel ſchließt mit 
den Worten: 


„Wenn nach dem ſchönen Wort von 


1) Bavink faßt feine ablehnende Stellung wie folgt 
aufammen: „In der Fixigkeit war ih dir über, aber in 
der Nichtigkeit warft du mir über,“ jagt Bräfig zu 
feinem Freunde Korl Hawermann; es ſteht 3u fürchten, 
daß D. dies aud zu feinen Freunden und Kollegen von 
en und den Nachbarwiſſenſchaften wird jagen 
miiffen.” 


Echwart?) die abendländiſche Forſchung fih bis- 
þer nicht um das Geelenheil ihrer Jünger zu 
kümmern brauchte, wenn fie der Herausarbeitung 
des Stoffes allein leben fonnte, fo ift das nicht, 
wie es diefem hohen Geift wohl fcheinen mag, 
ein Endzuftand und vielleicht eine Art Befreiung 
geweien, fondern es war der Porbereitungs- 
dienst zu einem aus diefer Wiffenfchaft eben dodh 
allmählich erwachſenden Priejtertum, das mit 
feiner fauftifhen Innerlichleit taum an ein epi- 
turäifches gemahnen, fondern die Brunnen der 
Tiefe öffnen und vielleicht wieder bei einer Berg- 
predigt feine Erfüllung finden wird.“ 


Nachwori. 


In der Anm. 4 auf dieſer Seite hat der Herr Ter: 
fa'fer ſchon erwähnt, daß ih das Dacquéſche Bud ab- 
lehne. Die angeführten Sätze ftammen aus einer Be- 
fpredung im „Hannoverſchen Kurier”, Die ich dort vor 
einiger Zeit veröffentlidte.e Ich kam mid über ein 
foldes Buch nicht freuen, fo jehr ic) es begrüße, daß 
die deutfhe Naturwiflenichaft ſich in ein pofitives Ber: 
hältnis zur Metaphufit zu ſetzen verfudt. Wenn dies 
Verhältmis jo ausfieht, fo muß idh fagen: lieber gar 
nicht als fo. Dann möge Sdillerss Wort von dem 
zu früh fommenden Bündnis lieber noh fünfzig Sabre 
länger in Geltung bleiben. Ich bin, wie die Lefer 
meiner Veröffentlichungen willen, feit Jahren dafür ein- 
getreten, daß die Spezialmwiflenichaft den Anichluß an 
die gemeinjame Mutter, die Rhilofophie, wieder juchen 
müffe und habe die „Hupothejeophobie* des Machſchen 
Zeitalters als einer der erften mit flaren Worten be- 
fümpft, zu einer Zeit, wo nod faſt die gefamte Wiffen- 
fhaft im Banne des Pofitivismus ftand. Uber unge: 
fihts des Dacquéſchen Budes überfam mid eine Art 
von Heimweh nad den friftallffaren und logiſch fo 


») Œ. Schwark, Charakterköpfe aus der antiten Lite. 
ratur. 2. Reihe. Leipzig 1910. ©. 34ff.: „Epikur legt 
auf eine erafte Erklärung der Naturvorgänge feinen 
Wert und erhebt es zum Grundfaß, mehrere zur Aus- 
wahl nebeneinanderzuftellen .. . . Er war midt der 
erite unter den Nachfolgern des großen Naturforfchers 


. (Demotrits), der die atomiſtiſche Hypothefe nit als 


ein Prinzip der Forſchung, fondern als Beltandteil einer 
Meltanihauung behandelte und entwidelte . . Er 
folgt nur dem Zuge feiner Beit, wenn er die willen» 
ſchaftlichen Aufgaben, die der lekte originelle Denter 
der Nachwelt geftellt hatte, veracdhtete und beijeite jchiebt: 
derfelbe Prozeß läßt fih auh bei den Erben der plato- 
niſchen und ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft beobachten . .. . 
Die helleniſche Philoſophie war ſeit Plato, ja ſeit So— 
krates Wiſſenſchaft und Weltanſchauung zugleich. Wenn 
die moderne Wiſſenſchaft auch ſchwer mit dem Dogmatis- 
mus hat ringen müſſen, mit dem die Kirche als Erbe 
der griechiſchen Philoſophie die Menſchheit durchtränkt 
hatte, eines verdankt ſie der geiſtigen Herrſchaft der von 
den chriſtlichen Kirchen gehüteten Offenbarung doch: ſie 
konnte fih erflufio der Forſchung widmen und brauchte 
fi) um das Seelenheil ihrer Adepten nicht zu kümmern 
wie ihre helleniiche VBorgängerin, die auf feinen Detalog 
und feine Bergpredigt verweilen fonnte.” 


= 


Ausſprache. 65 








abſolut ſauberen Darlegungen œs großen Anumeta- 
phyſikers, der jo oft Newtons Wort zitiert hat, daB 
„Hypotheſen, feien es phyſiſche, feien es metaphnitjche, 
in der Naturwillenichaft feine Stelle hätten“. Dacques 
Hnpothefen gehören zu der Art, die Newton ſicherlich 
nicht hätte paflieren laffen. Mit ſolchen Ideen, wie er 
fie entwidelt, fann man tatfächlich alles und jedes be- 
mweifen, was man will. Ganz gewiß hat die unmittel: 
bare „Weſensſchau“ in der Naturwiſſenſchaft ja gut 
ihre Stelle wie in jeder Wiſſenſchaft, die ſich weiter- 
erimwideln will. Ohne folde wäre Marmwell nie zu 
feiner eleftromagnetifhen Lichttheorie und Bohr nie 
3u feiner Atomiſtik gefommen. Aber das eben ift das 
Charatteriftitum der miflenjchaftliden Phantafie, daf 
fie fid) felber gezügelt weiß durch die Erfahrung, daß fie 
nicht mit einem, wenn aud vielleicht grandiofen Hypo— 
thefengebäude als Kunſtwerk zufrieden ift, fondern zur 
erit und zuleßt fragt, ob es aud ftimmt. Das Heißt 


Ausſprache. 


Neumittelwalde, 30 Oktober 1923. 


Sehr geehrter Herr Profeſſor! 

Ich habe etwas auf dem Herzen, was ich Ihnen 
ſchreiben muß, weil ich eine innere Verpflichtung dazu 
empfinde. Es betrifft die Wunderfrage und die damit 
zuſammenhängende Frage der Gebetserhörung. Die 
Diskuſſion darüber iſt ja zwar abgeſchloſſen, aber das 





tann doch nur ein vorläufiger Abſchluß fein. Und ſelbſt' 


wenn fie in abfehbarer Zeit nicht wieder auflebt, tann 
id wenigjtens Ihnen gegenüber gewillenshalber nicht 
ihweigen. In der Stille meines vor kurzem zu Ende 
gegangenen Urlaubs ift es mir zu einer inneren Nöti- 
gung geworden, die jchweren Bedenken auszujprecdhen, 
die ih gegen die bisherige Art der Behandlung der 
Frage habe. Ich will damit feine Beleidigung aus: 
ſprechen, aber ih tann nicht finden, daß die Wunder: 
ufw. Frage in wiffenfchaftlidem Sinne behandelt wor: 
den ift. Wohl ift von verſchiedenen Geiten gejagt 
worden, was in diefer NHinficht fein fönnte und was 
nicht fein könnte; vielmehr: was nad) der wiſſenſchaft— 
fihen Dogmatit des Einzelnen fein dürfte und was 
nicht fein dürfte Aber ift das das Erfte und Cnt- 
icheidende? Fragt nicht die Wiffenfchaft bei allen anderen 
Gelegenheiten zuerit: „Was ift?“, unbefümmert darum, 
ob das nach landläufiger Meinung fein tann oder nicht 
fein tann. Mir kommt es fo vor, als würde die 
nüchterne Wirklichkeit in der Wunder- uſw. Frage von 
manchen Bertretern der Naturwiſſenſchaft aus natur- 
wiffenjchaftlih-dogmatiichen Gründen geradejo vernad): 
läffigt, wie die naturwiſſenſchaftlichen Tatfachen gelegent: 
lid von theologiſcher Seite aus theologifc) - dogmati- 
ſchen Gründen. Bei der wiſſenſchaftlichen Feſtſtellung 
von Tatſachen ift es aber doch vollkommen gleidh- 
gültig, was irgendwer für möglich oder nicht möglich, 
für denkbar oder undenkbar erklärt. 

Wir pflegen von Wundern zu ſprechen, wenn etwas 
geſchieht, was nach unſerer Kenntnis vom gewöhnlichen 
Lauf der Dinge nicht hätte geſchehen können oder 


in Newtons Sinne, die Gründe aus den Erſcheinungen 
induzieren (rationes ex phaenomenis deducere), was 
darüber ift, das ift in der Naturwiſſenſchaft vom Uebel. 
Nach meinem Gefühl fteht das Dacquéſche Buch durd- 
aus auf einer Stufe mit Haedels Welträtfeln. Nicht 
natürlich in der Tendenz, die ift vielmehr gerade ent- 
gegengefeßt, über in der Dberflächlichteit der Methode 
und der dadurd bedingten Gefährlichkeit für das lejende 
Nublitum. Herr Dr. Müller meint, „eine Gefahr 
würde das Bud nur werden, wenn vertrauensjelige 
Laien darauf ihren religiöfen Glauben gründen würden”. 
Sch fürchte, dah diefer Sag nur allzu rajh aus der Form 
der Irrealität in die der Tatſächlichkeit übergehen wird 
— und nit nur bei Laien. Ich fehe auh kommen, 
dah meine Warnung ungehört verhallen wird, denn 
was man wünjdt, das glaubt man nur allzu gern. 
Dixi et salvavi animam. Bapvint. 





H 


brauchen, oder wenn etwas nicht geichieht, was nad) 
unjerer Kenntnis vom Lauf der Dinge eigentlih hätte 
gefhehen müffen. Liegen bier aus der Gegenwart oder 
näheren Vergangenheit glaubwürdige und nadyprüfbare 
Berihte von Tatſachen in genügender Anzahl vor, 
dann fann ich nicht begreifen, wie aufrichtige, die Wahr: 
heit unporeingenommen fuchende und prüfende Men: 
ſchen das, man möchte beinahe jagen „maffenhafte” Ge- 
ſchehen von Wundern beitreiten können. 


Aus der ungeheuren Fülle von Tatſachen möchte 
ih nur einige, ganz wenige, berausgreifen. Da 
it Georg Müller von Briftol, der große englijche 
Waifenvater; er hat über feine Gebetsanliegen fürm: 
lid Buh geführt. Seine Tagebuchaufzeichnungen dürf: 
ten noch vorhanden und dem Forſcher zugänglid) fein. 
Er hat vermerft, wann er dieje oder jene Sahe im 
Gebet vor Gott zu bringen begonnen hat, und wann 
ihm die Erhörung geſchenkt wurde Wollen Sie etwas 
äbnliches, uns näher liegendes unterfudgen, dann beachten 
Sie bitte die Blätter „im Dienjte des Königs”, die vom 
Diakoniſſenhauſe Miehowig bezw. deffen Oberin, der 
weithin befannten Schweſter Eva von Thiele-Windler, 
herausgegeben werden. Ausgiebige Beute würden aud) 
die meilt mehr als nüchternen Berichte der Heiden- 
Miffionsgejellichaften liefern. Nicht felten berichten 
quh die Zeitungen Dinge, die man ehrlicherweije als 
Wunder bezeihnen muß. Cs mag zehn Jahre her fein, 
daß die Kaiferin in einem Breslauer Krankenhauſe am 
Bette eines Kindes ftand, das viele Stodwerte her: 
unter auf die Straße gefallen war und feinen Schaden 
genommen hatte. Nur zur Beobachtung war es jicher: 
heitshalber ins Krankenhaus gebradht worden. In der 
Zeitung konnte man Tefen, das Kind fei „„wie” durd) 
ein Wunder““ dem jideren Tode entgangen. Diefes 
itereotgpe „wie“ ift bezeichnend: Es ift die Der: 
beugung der Preffe gegen den Unglauben mit feiner 
Munderangit. — Was mag im Kriege an Bewahrungs— 
wundern alles erlebt worden jein? — 


66 Ausſprache. 


Dann noch zwei Leſefrüchte aus den Ferien. 
Friedrich von Bodelſchwingh (Ein Lebensbild, 1. Aufl., 
Pfennigverein der Anſtalt Bethel bei Bielefeld, Seite 
72/73) beridhtet von feinem Basler Lehrer Haug, wie 
diefer eines Pfingftmorgens zu ihm fagte: „Heute vor 
vier Jahren habe ich mein Augenliht wiederbefommen 
und zwar auf das Gebet des lieben Pfarrers Blum: 
hardt.” (Bei diefer Gelegenheit darf ich nicht unter: 
laffen, auf das Lebensbild Blumhardts von Zündel auf- 
merffam zu maden, in dem eine Fülle von Wundern 
mwahrheitsgetreu berichtet wird.) — 

I. Ziegler in feinem lefenswerten (aud) in politifcher 
Hinfiht in Bezug auf die Frage eines chriſtlichen Kom- 
munismus febr lehrreihen) Bude: „Ein Königstind”, 
Verlag der Zieglerfhen Anftalten in Wilhelmsdorf und 
ter Buchhandlung der ev. Gefellihaft in Stuttgart, 2. 
Auflage, Seite 209 bezw. 160, erzählt, wie man den 
Lehrer Thumm in Wilhelmsdorf als einzig in der Not 
der Gemeinde dazu geeigneten zum Vorſteher gewählt 
habe, obwohl er die Schwindſucht in fo hohem Maße 
hatte, daß er fhon längere Zeit nicht mehr Schule hielt 
und feine Auflöfung täglid erwartete. Er lehnte die 
Wahi jelbftverftändlih ab. Aber die Brüder jagten 
ipm: „Du darfit nicht Sterben; wir baben für Dein 
Reben gebetet, und der HErr wird Dih uns ſchenken 
und Didh genefen laffen.” Thumm ift genefen und hat 
jahrzehntelang der Gemeinde vorgeltanden. Der Mili- 
tärarzt, der ihn einſt als jungen Menſchen untzrjudt 
und als Todestandidaten gefannt hatte, wollte feinen 
Augen niht trauen, als er viele Jahre hernach dem 
längit Totgeglaubten begegnete. — — 

Nur lUnmiffenheit, Verbohrtheit oder Bösmilligteit 
tann das immer neue Geſchehen von Wundern leug- 
nen. Geſchehen fie aber heute, dann find fie aud 
früher geſchehen, und es ift nicht wohlgetan, jeden 
Wunderbericht kurzerhand als Märchen und Mythe zu 
ftempeln. — 

Ih möchte auh das noch ausjprecdhen, daß nad 
meiner Erkenntnis nit bloß göttliche, Inden aud 
ungöttlide Mächte die Urſache von Wundern fein 
fönnen. Doh es würde zu weit führen, mid darüber 
noh ausführlich auszulaflen, und ich fürdite, daß ich jo 
idon Ihre Geduld, hochgeehrter Herr Profeffor, ftart in 
Anfprud genommen habe. — 

Auf dem dunklen Gebiet des Spiritismus hat die 
Wucht der Tatſachen dazu geführt, niht überall mehr 
nur Schwindel und Einbildung zu fehen. Der Re- 
fpett vor den Tatfaden, in denen die Welt 
des Lichtes und der Liebe in die äußere Sinnenwelt 
hereinreicht, muß bei allen dentenden Menjchen größer 
werden, und das ift zu fordern im Namen edıter Willen: 
ſchaft. 

Mit vorzüglicher Hochachtung 

G. Leßmann, Paſtor 


* 

Da die vorstehenden Ausführungen zunädjft nicht für 
die Veröffentlichung in „Unjere Welt” beitimmt, inndern 
en mid privat gerichtet waren, jo bitte id) die anders 
denfenden Lejer, jih nicht an den ftellenweife etwas 
idjarfen Ton derjelben zu ftoßen. Der Berfafler hat 
meines Erachtens vollkommen Redt, wenn er jagt, daß 
die Theorien fid unbedingt nad) den Tatſachen 3u richten 


Gaben, und daß fomit, wenn genügend viele von glaub- 
haften Zeugen beglaubigte Wunderberichte vorliegen, 
ein unvoreingenommener Menſch die Möglichkeit von 
Wundern nicht beitreiten folle. Er meint nun, in den 
von ihm angeführten und älteren Schriften diefe Be- 
tichte zur Genüge beglaubigt zu finden. Die Frage 
ift aber ja jet eben die, ob diefe Be: 
richte wirtlid überzeugend find Tem 
das wird der Herr Einfender ja wohl zugeben, daß 
die Beweislaft in diefem Falle auf dem 
Behaupter und niht auf dem Beitreiter 
ruht. Nicht lebterer hat alfo zu erweifen, daß die frag: 
lien Berichte unglaubwürdig, ſondern eriterer, daß fie 
glaubwürdig und über jede Kritik erhaben find. 

tenne nun leider von den von ihm angeführten Schriften 
feine, um über diefe allgemein etwas fagen 3u fünnen. 
Aber ſchon der eine Tall, den er anführt, heint mir 
3u zeigen, wie wenig ſicher die von ihm gezogenen 
Schlüſſe find. Das ift der Fal des Lehrers Th. in 
Wilhelmsdorf. Daß nämlich ſchwer Tuberkulöje wider 
alles Erwarten, aud wider die ärztliche Diagnofe, noch 
genefen und jahrelang leben können, ift eine ganz all: 
gemein befannte Erſcheinung; ich felber tenne mehrere 
derartige Fälle aus nächſter Nachbarſchaft. Ich will 
gewiß niemand daran hindern, eine folde Heilung ge- 
gebenenfalls als „Gebetserhörung“ aufzufaflen, aber er 
muß troßdem zugeben, daB jo etwas aud jonjt vor: 
fommt und daher feinen zwingenden Beweis für 
Wunder vorftellen tann. Daß man es als Wunder auf: 
faffen fann, nügt uns bier nidts. Es handelt fid 
darum, ob man es als foldes auffaffen muß. Und 


da zeigt diefes Beifpiel meines Erachtens nur, wie leicht 


man in dhriftlihen Kreifen oft diefes „muß“ nimmt. 
Diefe Betrachtung ſcheint mir aud in den beiden anderen 
Fällen zuzutreffen. Ich muß geitehen, daß fie mid) fo, 
wie der Herr Cinfender fie vorträgt, in teiner Weile 
überzeugen. Im Falle des Lehrers Haug müßle zu- 
nächſt doh mal die Art der betreffenden Augencrfran- 
fung feititehen, ehe man darüber irgend etwas Sidjeres 
jagen könnte. Es gibt hyſteriſche Blindheit, die unter 
Umftänden durd) eine ftarte Suggeſtion geheilt werden 
tann. Ich behaupte nicht, daB H. eine foldye gehabt 
habe, aber idy verlange, ehe ich midh von einem folden 
Bericht überzeugen laffe, daß man diefe oder andere 
ebenjo leicht „natürlih” zu erflärende Urſachen aus- 
ſchließt. Aehnlich in dem erften alle, wo ein Kind 
„mehrere Stockwerke“ herunterfällt. Wie viele? Wie 
boh war jedes? Ic tenne ein junges Mädchen, die 
das Gleiche erlebte. Das Fenſter war hoch genug, daß 
jedermann bei einem Tall da hinunter den fofortigen 
Tod erwartet hätte. Sie blieb auch unverleßt. Meines 
Wiſſens hat aber weder fie jelber, noh ihre Verwandten 
das als Wunder aufgefaßt. Es ift befannt, daß Be- 
trunfene in foldyen gefährlichen Lagen ebenfalls oft un— 
verlegt daponfommen, wo Normale tot oder jdywer ver- 
let hinweggetragen werden. Iſt das auh jedesmal ein 
Wunder? Wenn aber hier die natürlide Erklärung ge- 
nügt, warum dann nicht in ähnlidyen anderen Fällen 
auch? — Kurz: fo einfach, mie der Herr Einjender dieje 
Fälle aniteht, find fie meines Eradtens niht abgemadıt. 
Wenn er am Schluß den Offultismus zum Wergleich 
heranzieht, jo hat er damit auh ganz Redt. In beiden 


Raturwiffenfchaftlihe und naturphilofophifche Umſchau. 67 


Fällen handelt es fi aber nicht, wie er und mit ihm 
fo viele glauben, darum, daß eime gewiſſe wiflenichaft- 
liche Dogmatit dem berichteten Unerhörten von vorn: 
herein ablehnend gegenüberjteht, jondern darum, daß der 
moderne, kritiſch geichulte Menſch, gewibigt durch die 
in hunderten von Fällen bemwiejene ofienbare Kritik⸗ 
‚ Iofigleit „gläubiger” Kreife, mit Recht jet zuerſt bün- 
dige Beweiſe verlangt, ehe er etwas wieder glaubt, 
was fi) in jo und jo vielen Fällen als Täuſchung und 
— gelegentiih auh — Betrug erwiejen hat. Kann man 
ibm das verübeln? Aus diefem Grunde muß id den 
Vorwurf zurüdweiten, nur „Unwiſſenheit, Verbohrtheit 
oder Böswilligteit tönne da3 immer neue Geſchehen 
von Wundern leugnen“. Da ich demnächſt näher auf 
die Wunderfrage zurüdzutommen gedente, fei es hier: 
mit genug. Bapint. 


Zu dem Artikel des Herm Profefior Dr. Dennert 
in Nr. 12, 1924, „Betrug der Medien”, möchte 
id nur einige furze Bemerkungen bringen dürfen: 

1) Die Feitftellung, daß meine Abweifung des Okkul⸗ 
tismus als Stüße der Religion (in Nr. 6) nicht gegen 
Herm Profeflor Dr. Dennert gerichtet fein fonnte. 

2) Die Frage, ob denn ein naturphiloſophiſcher Schluß 
wirtlih eine Beweis traft für den haben fann, der, 
von Religion oder Philofophie (Kant), gezwungen, den 
Berftand des Menſchen als primäres Mittel, fi 
von der Eriltenz des Geiltes überzeugen zu fönnen, 
oblefnen muß. Mit anderen Worten, ob es über: 
haupt eine Wiſſenſchaft gibt und einen Weg, auf dem 
der Rampf gegen den Materialismus Ausſicht auf Er: 


folg haben tann. Ob eben niht der Geiſt fih nur dem 


Ge ift erfchließt durch innere — nicht finnlie — Cr- 
fahrung und nit dur Wiſſenſchaft! Ich halte alfo 
einen wiffenfhaftliden Kampf gegen den 
Moaterialismus für abjolut ausſichtslos, vor allem aber 
ausſichtslos durch Meaterialifationsphänomene Hier 
will man durch Erfcheinungen niht etwa philofophiid 
ſchließen auf G@eilt, der der Erſcheinung zugrunde 
iiegt, jondern man glaubt ihn in Kräften, Energien 
oder Formen, die feine Materie find, zu ſehen. Was 
aber der Menih finnlih wahrnimmt, ift eben 
Materie und nidt Geift. Anders fann ih den 
Begriff Materie nit definieren und für „eilt“ 
habe ich feine andere Tefinition als die negative: Nicht 
Materie — Sinmlich nit Wahrnehmbares. Sein mir 
undelanntes Weſen tann ich nicht definieren. Ad 





Halle die Materialifationsphänomene durchaus nicht alle 
für Betrug, jondern für Realitäten, aber eben nur für 
eine willlommene Erweiterung unferer Erkenntnis von 
der Materie und darum erjdeint es mir für den 
Naturwiſſenſchaftler Pflicht, perfönlich bei aller Stepfis 
ih damit zu beidhäftigen und nit — weil hier leider 
einmal die Naturerjdeinung mit dem Menjen ver- 
bunden ift, der betrügen tann — das Sind mit dem 
Bad auszufhütten und fi” mit Vorurteil zu wappnen, 
wa3 niht wiſſenſchaftlich wäre. Ich halte auh die Un- 
griffe der materialiſtiſch eingeftellten Preffe, die tat- 
\ählih in der Belämpfung des Okkultismus einen 
blinden {fanatismus verraten und fih die Sade redt 
leicht maden — für einer Kampf gegen das eigene 
Fleiſch und Blut. Nochmals: es läßt ſich meines Crad- 
tens lediglich vermuten, daß der Erfcheinung eine nicht 
materielle Erijtenz mit Verſtand, Wille, Selbjtbewußt: 
fcin, — alfo etwas Perſönliches zugrunde liege, aber 
nit wiſſenſchaftlich beweiſen. Zum wiſſenſchaftlichen 
Beweis brauchen wir Wahrnehmbares und dann be— 
finden wir uns eben im Reich der Materie. Ohne eine 
allgemein gültige, poſitive und abſolute Definition von 
Geiſt kann es auch nie gelingen, das Verhältnis von 
Geiſt zur Materie und ihre Grenzlinien zu beſtimmen. 
3) Noch ein Wort zu der Frage: Wer hat zu be— 
meijen? Immer der, der behauptet hat. Es ift 
doch ganz ſicher, daß eine Erſcheinung, die ich nicht als 
Betrug zu entlarden vermag, deswegen doh nod) Be: 
trug fein fann und id habe dann auh das Redi und 
die wiſſenſchaftliche Pflicht, mit diefer Möglichkeit 
zu rechnen und fie in der wiffenfhaftliden 
Prefle zu erörtern. Es fann mir feiner zumuten: 
„weil du die Erſcheinung niht entlarven konnteſt, fo 
mußt du fie fo gelten laffen, wie ich fie dir erklärt 
liebe.” Wohl aber darf er verlangen für jeden ein: 
zelnen Fall, den ih als entlarot verfündige, 
— mas einer neuen Behauptung gleidtommt, — 
daß ih ihm dann den vollen wiſſenſchaftlichen Beweis 
dafür erbringe. Nun behauptet eine Naturerfcheinung 
ſelbſt garnichts über fi; wenn aber ihre Eiklärer 
eine fefte Behauptung aufitellen, dann haben fie aud 
die Bemweispflidt. Können fie ihr nicht genügen, dann 
tennen fie vom Naturwiſſenſchaftler auh feinen Beifall 
erwarten, vielmehr müffen fie fid) feine wiſſenſchnftliche 
Efepjis nicht nur gefallen laffen, fondern weil fie der 
Eade ſehr förderlich ift, herzlich dankbar dafür fein. 
MWeihenzell. Hahn, Pfarrer. 





Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 


a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften. 

In einer Arbeit, betitel „Wanderung der Jonen in 
feften Elektrolyten“ hat G. C. Schmidt die Uus- 
fendung von pofitiv geladenen Metallionen aus Salzen 
unterfucht, die auf einem reinen Nidel: oder Platin: 
draht angebradht waren und hier auf etwa 400 Grad 
erhigt wurden (Zeitichrift für Elektrochemie 30, 440; 
Phyſikaliſche Berichte 1925, 1, 39). Es wurde feft- 
geitellt, daß faſt alle Salze in diefer Weife pofitive Ionen 
ausjenden, Daß Zufag von Halogenen die Ausfendung 
vermehrt, daß ſchon bei fehr niedrigen Spannungen (von 


1 Bolt aufwärts) die Emiffion beginnt u. a. m. Das 
Verhältnis von Ladung zu Maffe diefer Teilden hat 
Ih. Bolmer m einer weiteren Arbeit (Zeitfchrift für 
Phyſik 26, 285; Phyſikaliſche Berichte 1, 41) unter: 
juht. Es ergab fih, daß man es hierbei mit ganz 
beijonders „weihen“, ò. b. hier: langſamen Anoden- 
ftrahlen 3u tun þat. Cine Ueberraſchung in cdyemifd;er 
Hinſicht zeigte ſich injofern, als der beim Ausfällen 
von Kupferfulfat mit Jodkalium erhaltene Niederidjlag, 
der in allen Lehrbüdern der Chemie als ein Gemiſch 
von Kupierjodür Cu) mit überjhüfligem Jod ange: 


68 Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umſchau 


gleiche Lage zu den Windungen fommt. Nun gibt aber 


iproden wird, ſich als deutlich zweiwertige Jonen Cu 
enthaltend erwies. 

Aus Frankreich fommi mal wieder eine Nachricht 
über eime vorläufig mit viel Reſerve aufzunehmende 
„Entdedung“. U Nodon will (CE. R. 176, 1705) 
feitgeitellt haben, daß die Radioaktivität (gemefien an 
der photographifhen Wirkung und an der Sonifation) 
durch den Einfluß von Strahlungen fid ändert, die von 
der Sonne oder anderen Welttörpern ausgehen. Die 
Wirkung diefer Strahlungen auf das Radium fol den 
betannten magnetifchen Wirfungen der Sonne parallel 
gehen. Abwarten! 

Eine ähnlich unerwartete Entdedung glaubt ein deut: 
iher Privatgelehrter, X. Hofmann in Mehlem bei 
Bonn, gemadt zu haben. Nadh den Angaben feiner 
Brofhüre über „Magnetifche Kräfte in der Atmofphäre”, 
die 1923 im Verlag von Mube-Leipzig erichienen ift 
(was fie einem Phyſiker nidyt gerade empfiehlt), hat 9. 
einen Apparat konftruiert, der in jehr empfmdlicher Weite 
Störungen des maynetifchen Feldes der Atmofphäre feft- 
zuftellen erlauben fol. Der Apparat hat den Borzug, 
von jedem Phyfifer ohne alle Schwierigkeiten nachkon 
ftruierbar zu fein. Er beiteht aus einem Solenoide aus 


emem weichen, ausgeglühten Eifendraft von 20 m 


Länge. Das Solenoid ift ca. 0,5 m lang, hat etwa 
40 Windungen von etwa 16 cm Durchmeſſer und die 
Dide des Drahtes beträgt etwa 2 mm. Der Draht ift 
nun nicht in üblicher Weife einfach gewidelt, jondern 
in der Mitte des Solenoids ift die Widelungsridtung 
umgefehrt, jo daß beide Hälften desjelben entgegengejebt 
umlaufen werden. Innerhalb des Golenoids find auf 
einem ‘Bretten drei möglichſt gleiche Magnetnadeln 
(horizontal ſchwingend wie üblich) angebracht, die eine 
genau in der Mitte, die beiden anderen etwa in den Mit- 
ten jeder der beiden Solenoidhälften. Die Achſe des Sole: 
noids wird in die Oſt-Weſt-Richtung geftellt. Hofmann 
gibt nun an, daß dieje beiden feitlihen Nadeln dauernde, 
mandmal fleme, manchmal aber auch recht groß 
werdende Schwankungen (bis zu 60 Grad, einmal fo: 
gar bis zu 72 Grad) angezeigt hätten, die er auf die 
Einwirkung vorüberziehender magnetifcher Wirbel oder 
dergleihen zurüdführen will. Die Ausſchläge erfolgen 
bei beiden Nadeln in entgegengefegtem Sinne, jo daß 
3. B. beide Nordpole nah innen, nah der Mitte des 
Solenoids zu abgelenft werden. Wie er jelber angibt, 
find feine Arbeiten bisher von den maßgebenden Fad- 
leuten abgelehnt worden. Wenn idh fie troßdem hier 
erwähne, jo geidjieht es deshalb, weil ich nad) einer 
Korrelpondenz mit dem Berfafler es nicht für ganz aus: 
geichloffen halte, daß ihm damit tatſächlich Unrecht ge- 
ſchehen ift. 3n feiner Broſchüre gibt er allerdings die 
Berfude in einer Form an, die aud mir fofort als fo 
wenig einwandfrei erſchien, daß ich fie zunächſt glatt 
abzulehnen geneigt war. Er Hat nämlich zuerſt nur 
eine Nadel benußt und diefe zur jedesmaligen Ablejung 
der ſeitlichen Stellungen nad) den beiden Mittelpunften 
der Spulenhälften hin verfhoben. Da die Cijendraht: 
mwindungen felbjtredend eine fräftige nfluenzwirfung 
auf die Nadel ausüben müflen, fo könnten abweidyende 
Stellungen der Nadel in den beiden Geitenitellungen 
auf diefe zurüdgeführtt werden, weil es falt 
unmöglich ift, daß die Nadel jedesmal in genau die 


H. an, daß er die gleihen Refultate auch erhalten habe 
mit einem Apparat mit drei bezw. zwei feititehenden 
Nadeln, den Ruhjftrat-Göttingen nad femen Angaben 
beritellt. Wenn dies zutrifft, fo ift das ja leicht auch 
in Nachprüfungen feitzujtellen, und um jolde 3u er 
möglichen, habe ih hier die Notiz aufgenommen. Es, 
werden unter unferen Leſern ficherlid) welde fein, die 
Zeit und Geduld haben, fih einen jo einfadyen Apparat 
felber 3u bauen und ihn eine Zeit lang forgfältig zu 
beobachten. Natürlid”) müflen alle Störungen mög- 
licht ausgefchloffen werden, was bei empfindliden mag= 
netiſchen Apparaten bekanntlich eine fehr ſchwierige Auf- 
gabe ift. Ueber die Ergebniffe etwaiger Verſuche werde 
ih gern hier Bericht eritatten laffen, auh wenn fie 
negativ ausfallen. Sehr einfah wäre 3. B. eine Nad- 
prüfung dadurch, daß zwei derartige, nicht weit von 
einander aufgeitellte Apparate unabhängig von einander 
gleichzeitig beobadjtet werden. Sind atmoſphäriſche 
magnetiihe Störungen an den Ablenkungen ſchuld, fo 
ift anzunehmen, daß fie fi) bei folden einander nahen 
Apparaten in gleicher Weile zeigen werden und zugleid 
ijt die Annahme, es handle fih um Urſachen m den 
Apparaten felber, natürlich faſt ausgeichlofien. 


Nr. 2 der Naturmwiflenicyaften enthält zwei intereffante 
Aufſätze aus dem Gebiete der phyfiologiichen Chemie. 
Der erite mit dem etwas ſchwer verfitändlichen Titel 
„Zur Syntheie der moletularen Aſymmeirie“ behandelt 
das aud in diefen Blättern (3. B. 1921, Sp. 177 von 
W. Eitel) mehrfah erörterte Broblem, wie es 
in den lebenden Weſen zum Aufbau 
folder Moletüle fommt, welde einen 
unifommetrifden Bau haben und infolge- 
deſſen die fog. „optifhe Aktivität”, jowie eine unſym⸗ 
metriihe Kriftallform (Rechts: oder Lintsform) erzeugen. 
Solde Stoffe find 3. B. die Weinfäure, der Trauben: 
zuder, die Milchſäure u. a. Seitdem Paſteur zuerft 
diefe Verhältniffe näher unterfucht hat, ift diefes Problem 
cit zum Gegenitand auch naturphilofophiicher Erörierun« 
gen geworden. Bei allen fünftliden chemiſchen Syn- 
tbefen foldyer Stoffe erhielt man nämlid) jtets entweder 
die „inattive“ Mopdifitation des betreffenden Stoffes 
oder aber die Rechts: und Linksform in gleiden Men- 
gen. Da fidh die beiden entgegengelehten Formen oft 
in ihrer phyfiologifhen Wirkung ftar? unterjcheiden (jo 
wirft 3. B. inaktiver Kampfer nicht halb fo Start wie 
der natürlide Rechtskampfer; ähnlich ift es mit dem 
Eocain), jo war es eine wichtige Frage der chemiſchen 
Technik, wie man aus folden Gemiſchen die beiden ein- 
zelnen Komponenten erhalten fünnte. Schon Paſteur 
hatte gezeigt, daß dies in manden Fällen dadurd er 
möglicht wird, daß beim Ausfriftallifieren fi neben- 
einander Rechts- und Linkskriſtalle bilden, die man 
dann mit der Qupe und Pinzette ausfuchen tann. In 
anderen {Fällen fann man 3. B. das Gemiſch der beiden 
entgegengefeßten Säuren mit einer aftiven Bafe neu- 
tralifieren, wobei fi) dann Unterſchiede im Berhalten 
der beiden Salze ergeben, die zur Trennung führen 
fönnen. In wieder anderen Fällen, fo 3. B. bei der 
Milchjäure, wird die eine der beiden Komponenten durd 
Einwirftung von Batterien leichter zerjtört als die 
andere, die deshalb bei nicht 3u langer Einwirkung 


Raturwifienfchaftlihe und naturphilofophifhe Umſchau. 69 


übrig bleibt. In allen diefen Fällen aber bedient man 
ji entweder ſchon vorhandener aktiver Körper als 
Hilfsmittel oder aber die Intelligenz des ausfuchenden 
Chemilers erfegt die zielitrebige Wirkung des lebenden 
Drganismmus. Deshalb hat aus diefen Ergebnifien der 
Vitalismus oft eine Stüte für feine Behauptung zu 
nehmen gefudt, daß die Lebensvorgänge von einem 
überphyſikaliſchen Prinzip geleitet würden (vgl. aud 
W. Eitel a. a. D.). In dem angeführten Auffat teilt 
nun Byt, der ſchon früher auf diefem Gebiete Hervor- 
getreten ift, gelegentlich” des 50jährigen Jubiläums der 
jogenannten Gtereocdhemie unfere heutigen Kenntmiſſe 
in dieſer Frage überſichtlich zuſammen. Er jtellt ferner 
die Hypotheſe auf, daß das in einigen Fällen beobadhtete 
Weberwiegen der einen der beiden formen bei der 
chemiſchen Syntheſe darauf zurüdzuführen jei, daß die 
zuerft in der Flüſſigkeit gebildeten Kriftallfeime 
je nad) zufälligem Zufammentreffen der Atomtraftfelder 
mehr linte oder mehr rechte Aggregate ergeben. Wenn 
auf diefe Weife einmal Tlüfligfeiten mit moletularer 
Aſymmetrie entjtanden find, fo fann eine der beiden 
Bafteurfhen Methoden zur weiteren Zerlegung der 
primär entitandenen Gemiſche in die beiden aktiven 
Komponenten führen. Da nun die optifch aktive Stoffe 
enthaltenden Organismen (wie 3. B. die Batterien) 
dieje Stoffe ftetsnurindereinender beiden 
Formen enthalten, fo tann nad) Byt nunmehr von 
jeiten der Chemie folgende Alternative gejtellt werden: 
Entweder haben fih die einzelnen Arten von folden 
Organismen jede an einer einzigen beftimmten Stelle 
zum eriten Male gebildet und von da aus verbreitet. 
Dann tann die vorhandene Links: oder Rechtsaktivität 
auf den eben erörterten Zufall der Kriftallifation zurüd: 
geführt werden. Oder aber jede diefer Arten hat fih 
an mehreren Stellen der Erde zugleid) oder nad) ein: 
ander gebildet. Dann mußten fih diefe Zufälle jim 
Mittel herausheben und gleichviel von beiden Arten 
entitefen. Da das aber nicht zutrifft, muß in diefem 
Falle die Entitehung nur einer tatfächlich vorkommenden 
Mopdifitation auf das Wirken univerjeller, die ganze 
Erde gleihmäßig beeinfluffender afymmetrifcher Kraft: 
felder (3. B. zirtularpolarifierten Lichtes) zurüdgeführt 
werden. Die Entſcheidung über diefe Alternative will 
B. den Biologen überlaffen. Die PBitaliften werden 
ihm einwenden, daß er eine dritte Möglichkeit außer 
Acht gelaffen Habe, nämlid die Entitehung der Aſym— 
meirie eben durdy die vitalen „Entelechien” oder der- 
gleichen. Worauf B. freilich erwidern wird, daß damit 
überhaupt nichts erklärt, fondern das Problem rur in 
eine metaphyſiſche Dimenfion verſchoben fei. 

“ "Der zweite der erwähnten Auffähe beſchäftigt fidh mit 
den Zwiſchenproduklen im Stoffmedhjel der höheren 
Pflanze. Der Berfaffer, ©. Klein in Wien, gibt eine 
trefflihe turze Ueberjicht über das bisher Erreichte in 
den Fragen der Affimilation der Kohlen: 
jäure der Atmung und der Afjfimilation 
des Stidftoffs. Hinſichtlich der erjteren darf heute, 
dur) eigene Verſuche des Berfaffers, die berühmte 
Baeyerſche Hypothefe, dah Formaldehyd (CH>O) das 
erfte Produkt der Affimilation fei, als erwiejen gelten. 
Bei der Atmung ift Ucetaldehyd nad) dem von Neuberg 
mit fo großem Erfolg bei der Gärung angemwendeten 





Verfahren als Zwiſchenprodukt nadygewieien. Am mwe- 
nigiten geflärt find noh die Verhältniffe bei der Affi- 
milation des Stidftoffs. Feſt fteht nah KI., daß Am: 
moni? und Salpeterjäure gleih gut von der Pflanze 
verwertet werden können, jedod im Licht die letztere, 
im Dunfel das erjtere beffer ausgenußt wird. Ob aber 
im übrigen aller Stidftoff guerft zu Ammoniak reduziert 
und dieſes dann etwa mit bereits vorhandenen Gub- 
tanzen zu Aminoſäuren aufammentritt, oder ob andere 
Swifchenprodufte, wie 3. B. Blaufäure (HCN; vor: 
mamid (H . CO . NH2) u. a. m. auftreten und diefe 
zum Aufbau der Eiweißitoffe verwendet werden, fteht 
nod dahin. Kl. fcheint im ganzen mehr der erfteien 
Auffaflung zu uneigen. Im übrigen zeigten feine Ber- 
juhe, daß die Affimilation des N in den erſten Shhritten 
jhon in der Wurzel vollzogen wird. 

Die Wegenerihe Hypolheſe der Kontinentverihiebun- 
gen hat noh immer erneute Diskuflionen im Gefolge. 
In Nr. 5 der Naturmiflenichaften erörtert H. Hof: 
mann -Jena eine Reihe moderner Probleme der Tier: 
geographie. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die 
Wegenerſche Hypotheſe bei manden desielben, 3. B. 
dem Yalproblem glatt verjagt, während fie in anderen 
Fällen nicht mehr leiftet als die alte Brüdentheorie 
(Beitehen ehemaliger Landverbindungen) aud. 

Andererfeits bridt Ed ardt in dem folgenden Artikel 
eine Lanze für Wegener vom Standpunfte der Klima: 
tologie aus. Er findet, daß fidh bejonders die Eiszeiten 
durch die Wegenerſche Hypotheſe im ganzen recht gut 
erklären laffen, wenn er aud einiges daran geändert 
ſehen will, und zum Schluß jagt er: Gider wird über 
furz oder lang aud von der Wegenerſchen Theorie der 
Ausſpruch Schopenhauers gelten: „Der Wahrheit ift ein 
furzes Siegesfelt beichieden zwiſchen den beiden langen 
Zeiträumen, wo fie als parador verdammt und als 
trivial gering geihäßt wind.“ 

b) Biologie. 

In Nr. 7 1922, jowie Nr. 1 1924 erwähnten wir 
die in kurzer Zeit berühmt gewordenen Finflerihen 
Kopftransplantafionen an Woaflerfäfern. F. wollte bei 
diefen Verſuchen gezeigt haben, daß der überpflanzte 
Kopf eines Männdens einen vorher weiblichen Körper 
umjtimmen könne. Wiederholung der Verſuche insbe: 
jondere durch von Lengerken hat nun ergeben, 
daß anſcheinend eine arge Selbittäufhung Finklers 
vorliegt. Bei v. R.s Verſuchen ergab fih überhaupt 
feinerlei Verwachſung des Transplantats mit dem neuen 
Träger. Er vergleicht die %.ichen Angaben über Ueber- 
pflanzung von Woaflertäferföpfen auf Gelbrandleiber 
(„Unfere Welt” 1924, ©. 20) mit der Behauptung, man 
könne erfolgreich einer Kuh einen Löwenkopf aufpfropfen. 
Alles in allem alfo anfdeinend ein böjer Hereinfall. 
Zum Glüd kommt fo etwas innerhalb der deutſchen 
Wiſſenſchaft doh verhältnismäßig redt felten vor. Leider 
find die Verfude auch jhon in die naturphilofophifche 
Literatur übergegangen. Sie würden in der Tat, wenn 
wahr, ziemlich erhebliches philojophifches Intereſſe ge: 
habt haben. 

Bon jeher hat den Menſchen die Frage, ob und wie 
eine Dorausbeitimmung des Geſchlechts der Nachkommen 
möglich ift, ftar? bejchäftigt, und auch Heute find wir 


LEE 


- = — —— 


noch weit von ihrer Löſung entfernt. Einen Schritt vor- 
wärts auf dem Wege zur Löſung bedeuten die Verſuche, 
die Correns mit Lichtnelfen angeltellt hat. Sie 
zeigten, daß bei Pflanzen das Alter der Eizellen ohne 
Einfluß auf das Geſchlecht ift, wohl aber das Alter bei 
Pollenkörner. Ne älter die Pollenförner waren, tefto 
mehr verichob fid das Verhältnis der Geſchlechter in der 
Nachkommenſchaft zugunften der männlichen Pflinzen 
(Sigungsbericdyt der Preußiſchen Akademie der Wiffen- 
ſchaften 24). Erwähnt fei hierzu noh, daß eine lieder: 
tragung diefer Feſtſtellungen auf menſchliche Verhältniſſe 
nicht angängig ift. 

Zum Pithecanthropusproblem ſchreibt Weinert in 
Heft 40 der „Frankfurter Umſchau“ 1924. Cine Reihe 
von Forſchern jteht befanntlicdh auf dem Standpunft, daß 
die auf Java gefundene Schädeldede, die fjeinerzeit als 
von dem berühmten „Zwiſchenglied“ zwiſchen Affen und 
Menſch herſtammend angefprodyen wurde, ein typiſcher 
Affenſchädel einer ausgeltorbenen Riejengibbonart fei. 
Weinert vergleidt die Stirnhöhle des Pithecanthro- 
pus mit der vom Menſchen und von den Affen. Danad 
tann man den Bithecanthropus nicht mit dem Gibbon 
in Verbindung bringen, weil diejem die Stirnhöhle ganz: 
lich fehle. Nadh der Geftalt der Stirnhöhle und dem 
Berhältnis zwiſchen Hirnraum und Schädellänge ftehi 
der Pithecanthropus zwiſchen Schimpanſe und Neander: 
thaler, während die Stirnhöhle des Gorilla in der ent: 
gegengefeßten Richtung von der regelmäßigen Stirn: 
höhle des Schimpanfen abweicht. (Natürlich bringt diefe 
Reihenfolge feine Abſtammungsverhältniſſe zum Aus: 
drud.) — Dieſe Feititellungen ſprechen für die Anſicht 
daß der PBithecanthropus der Sproß eines Geitenzweiges 
der Menſchheitsentwicklung ift. 

c) Naturphilofophie und Weltanfhauung. 

Die Feltnummer der „Naturwiſſenſchaften“ anläßlich 
des SOjährigen Jubiläums der Berliner 
Phyſikaliſchen Geſellſchaft (Heft 3, 1925) 
enthält einen horhintereflanten und beadytenswerten Bor- 
trag, den Piang bei ver Feſtſitzung gehalten hat. Der Bor- 
tiag führt den Titel „Bom Relativen zum Abſolulen“. 
An der Einleitung behandelt PI ein Beiſpiel aus der 
Geichich!e der Chemie. Die fogerannten Atomgewichte 
der Elemente waren zuerſt injofern relativ, als ein 
Vielfaches dabei unbeltimmt blieb. Man konnte 3. B. 
für das Atomgewicht des Sauerſtoffs ebenjo gut x wie 
16, für das des Calciums ebenjo gut 20 wie 40 ujw. 
rchmen. Durch die Einführung der Avogadroſchen 
Kegel lieh Sich Diele Unbeitimmtheit beheben. Troßdem 
bheb das Atomgewicht eine relative Größe inſofern, 
als die aus der Chemie befannten Zahlen nur die Ver: 
haltniffe der Atomgewichte untereinander, nicht aber den 
cbjoluten Betrag derjelben angaben. Audy dieje Rela- 
tivität ift heute, wo wir die abfoluten Gewichte der 
Atome bis auf etwa 1 Prozent genau angeben können, 
in ein „abjolutes” Wilfen verwandelt. Bon dieſem Bei— 
Ipiel aus erhebt jih nun PI zu einer umfafienderen 
Kritik des von ihm hier jo bezeichneten „Burismus“, 
tworunter er die hauptjädlid von Mac) veriretene 
Richtung veriteht, die immer wieder auf Fritiiche Säube 
tung der gebrauchten Begriffe von allen überflüſſigen 
Weitandteilen dringt. 
euf Einführung neuer Ideen bedachten Kidytung die: 


__ _ Raturwiffenfchaftiihe und naturphileſephiſche Ymfchau 


Wenn Ve Vertreter der anderen, 





jen Puriften gegenüber einen jo ſchweren Stand hatten 
(vgl. Bolg man n), fo erflärt Plant dies jehr treffend 
dadurch, daß jene Puriſten ja gerade nur das als zu: 
lajlig erachen, was aus den fon anerkannten Arivmen 
der Wiſſenſchaft logifch folgt, während die anderen erh 
um die endgültige Geftaltung der von ihnen geſuchten 
neuen Axiome ringen mülfen. Es ift, jagt PI, nod 
fein einziges Axiom als fertiges Syſtem wie Palas 
Athene aus dem Haupte des Zeus entiprungen, fondern 
es lebt zunädjt nur unvollfommen, ja oft mehr oder 
weniger unfiar in der Phantaſie feines Erzeugers und 
erbliet häufig erft nad) ſchweren Geburtsmehen das 
Ridt der Defientlichkeit. (Dies trifft übrigens für 
lands eigene große Leiftung, die Quantenhypotheſe, 
nicht 3u.) Bon dem nunmehr jhon der Gefdidte an: 
gehörenden Beijpiel der Atomiftif wendet fid) der Red: 
ner dann weiter 3u moderneren nod im luffe befind- 
lidhen Fragen, jo der nah dem Abfjolutwer:i der 
Energie eines Körpers, dem Abſolut— 
wert der Entropie und ähnlidem. Jein ift hier 
unter anderem befonders die Bemerkung, daß „gerade 
eine Theorie der Relativität zur Beitimmung des Ab: 
jolutwertes der Energie eines phyſikaliſchen Gebildes 
geführt hat“. Zum Abfolutwert der Entropie führt da: 
gegen die Quantenlehre, gemäß welder ein phyſikaliſches 
Syſtem nur einer ganz beftimmten endlidgen, wenn aud 
ſehr großen Anzahl von Zuftänden fähig ift. Die fid hier: 
aus weiter ergebenden Folgerungen, die im Endrejultate 
einen Erjaß der früheren Stontinuitätsporftellungen durch 
die Vorftellung disfreter Mannigfaltigfeiten überhaup! 
und damit eine „Arithmetifierung der ganzen Phyfit” al: 
möglich erjcheinen laffen, - daß Plang feine Sympathie 
diefen Beſtrebungen zuwendet, ift neu —, beleudiet PI. 
in weiteren furzen Ausführungen. Sodann zeigt er, 
daß ein Gegner, der ihm insbefondere die Relativitäts: 
lhaorie vorrüden könnte, im Irrtum ift, wenn er meinen 
jollte, man fönne nur mit 'relativen Begriffen arbeiten. 
„Eine Leugnung des Abſoluten überhaupt käme nad) 
meiner Meinung auf dasfelbe hinaus, wie mwenn je 
mand, der nad) der Urfadhe eines eingetretenen Creig: 
nilfes forfcht, falls er einmal die Entdedung madıl, dah 
ein gewiller Umftand, den er eine Zeit lang für die 
Urſache hielt, nidyt dafür in Betracht fommt, nun daraus 
den Schluß ziehen wollte, daß das Ereignis überhaup! 
feine Urjache gehabt hat. Nein, man fann ebenjowenid 
alles relativieren, mie man alles definieren oder alles 
beweifen fann. Tenn wie bei jeder Begriffsbildung 
von mindeltens einem Begriff ausgegangen werben 
muß, der feiner bejonderen Definition bedarf, und wie 
jede Beweisführung von einem Oberjaß ausgehen muh, 
der ohne Beweis als zutreffend erkannt ift, jo knüpft 
jedes Relative im legten Grunde an etwas jelbftitänd!: 
ges Abſolutes an. Sonſt ſchwebt der Begriff oder dT 
Beweis oder das Relative (i. e. die „Beziehung”. DE) 
in der Ruft, ähnlidy wie cin Rod, für den fein Nagel 
zum Aufhängen da ift . So ift aud) in der viel: 
fad) mißverftandenen WRelativitätstheorie das Abſolute 
nicht aufgehoben, fondern es ift im Gegenteil durd ſie 
nod jhürfer zum Ausdrud gekommen, daß und inwte: 
fern fidh die Phyſik allenthalben auf Abjolutes gründet 
Denn wenn das Abſolu‘e, mie mande Erfennini® 


'Deoretifer annehmen, nur im eigenen Erleben zu finden 





u” 








wäre, jo müßte es grundjäßlid jo viele Arten von 
Phyſik geben, wie es Phyſiker gibt, und wir würden der 
Tatſache verjtändnislos gegenüberftehen, daß es menig: 
itens bis zum heutigen Tage möglich ift, eine phyſika— 
liſche Wiſſenſchaft aufzubauen, deren Inhalt für alle fid 
als der nämlid erweift. Daß nidt wir aus 
Zwedmäßigfeitsgründen die Außen— 
welt jhaffen, jondern daß umgefehrt 
Die Außenwelt jid uns mit elementarer 
Bewaltaufzwingt, iſt ein Punkt, welder 
in unſerer ſtark von poſitiviſtiſchen 
Strömungen durchſetzten Zeit nicht als 
ſelbſtverſtändlich unausgeſprochenblei— 
ben darf. Indem wir ... von dem Ein: 
zelnen, Konventionellen und Zufälli— 
gen dem Allgemeinen, Sachlichen und 
Notwendigen aujtreben, ſuchen wir hin: 
ter dem Abhängigen das Unabhängige, 
hinter dem Relativen das Abjolute, hin: 
ter dem VBergängliden das Unvergäng: 
lide Undfjoweitidfche, zeigt ſich diefe 
Tendenz nicht nur in der Phyſit, jondern 
in jeglicher Wiſſenſchaft, ja nicht nur 
auf dem Gebiete des Wiſſens, ſondern 
auh auf dem des Guten und dem des 
Schönen.“ Dieſe lapidaren Worte des eriten Phy- 
iters Deutſchlands verdienten es, in allen SHörjälen 
unserer Hochſchulen angeichlagen zu werden. Gie deden 
jih jo völlig mit dem, was id) immer wieder vertreten 
habe, daß ih unfere Lejer nur bitten fann, den ganzen 
tiefgründigen Vortrag felber nadjzulefen. Einen Auf: 
jag mit genau dem gleidyen Thema, den ich ſchon halb 
rertig hatte, als ih diejen Vortrag las, hoffe ih troßdem 
nod bringen zu Dürfen, da er gerade auf die legten 
bei PI nur flüchtig erwähnten Gebiete und auch auf 
das von ihm gar nicht erwähnte der Religion eingehen 
soll. 

Das Kantjubiläum hat, wie begreiflid), eine Unmenge 
von „Feſtſchriften“, Reden, Vorträgen uſw. gezeitigt. 
Auf einiges davon, was mir vorliegt, fei mit ein paar 
Worten bingewiefen. Die Annalen der Philo: 
jopbie und philoſopiſchen Kritif, gegen- 
wärtig herausgegeben von H. Baihinger und R. 
Schmidt, Berlag F. Meiner:Leipzig, beginnen mit 
einer KRant-Feftnummer ihren vierten Jahrgang 
und fünden darin im Anfang eine Erweiterung ihres 
Arbeitsprogramms an. Während fie bisher in der 
Hauptjade der „Als Ob-Philoſophie“ Waihingers fid) 
mwidmeten, wollen fie nunmehr fih der anderen Aufgabe 
zuwenden, „durd frucdhtbares Zujammenmirfen der 
Philofophen im engeren Sinne mit den Vertretern der 
pofitiven Wiffenjchaften den ſchroffen Gegenjaß unjerer 
Zeit, der zwiſchen Idealismus und Poſitivismus, zwi- 
ihen Bhilojophie und Einzelwiſſenſchaft bejteht, zu über- 
minden.“ Man tann diefem Programm nur von Her: 
zen Glück wünfdyen. Die vorliegende erjte Nummer ent: 
hält einen Aufjag von R. Schmidt über „Kants Lehre 
von der Einbildungstraft” und, was uns beſonders in: 
terefliert, einen folden unferes verehrten Bundes: 
freundes Geheimrat Profeffor Boltmann Königs: 
berg mit dem Thema: „Kant und die theoretiihe Phyjit 
der Gegenwart“, jowie einen dritten Aufjaß über „Kant 


__Raturwiffenfhaftlihe und naturphiloſophiſche Umfchau. 


ui een 


und Driefh“ von O. SHeinicden, den wir eben: 
falls 3u unjeren &reunden zählen dürfen. Bon Volt: 
manns lehrreiden Ausführungen feien bier befonders 
folgende Säge am Schluß hervorgehoben: „Würde Kant 
auf Grund des heute vorliegenden Materials der mathe- 
matiſchen und phyſikaliſchen Wiffenfchaften der Gegen: 
wart in gleicher Weile zur Metaphyſik fortfchreiten und 
jeine Kritit der reinen Vernunft ſchreiben können, wie 
er es auf Grund der Mathematit und Phyſik feiner Beit 
getan? Die Frage ift nit unwidtig, bildet doc) heute 
rod für viele Kants Kritit der reinen Vernunft ein un- 
umjtrittenes Evangelium, dem heute noh nidt nur 
fritiihe Philofophie, jondern auh Grundanſchauungen 
und Lehren für Mathematit und Phyſik in unveränder: 
ter Form zu entnehmen wären... . Täuſchen wir uns 
niht, unterſchätzen ſchon Kantianer ſtrikteſter Objervanz 
den Einfluß mathematiſch-phyſikaliſcher Vorbildung auf 
feine Kritif, jo dürften fie erft recht unterſchätzen, was 
mathematijchphylifaliihe Bildung der Gegenwart be: 
deutet . . . Ih tann Fr. Harms nur zuftimmen: 
‚Wie die Kantiſche Philojophie nun einmal gegeben ift, 
bleibt nichts anderes übrig .. . ., als ihre Borausjegun: 
gen 3u afzeptieren; ihr Mangel läßt fi nicht von 
jiemder Hand vebefiern, fo wenig als dies bei Kunft- 
werfen möglich ift? Wir können weder den Stand: 
punft einnehmen, daß an Kants Werfen reitlos alle 
Stüde und Entwidlungen weiterer wiffenjchaftlicher 
Forſchung zum Scheitern verurteilt fein werden, nod 
tonnen wir eine Rettung darin erbliden, im Sinne einer 
MWeiterentwidlung eine Umdeutung an Kants Werten 
vorzunehmen.“ Dieſen Worten Volkmanns tann id) 
(Bk.) nur zuftimmen. 


Von ganz hervorragendem Intereſſe war ferner für 
mid) der Aufſatz von Heinichen über das Derhältnis 
von Kant und Driefh. H. der in neuerer Zeit fid viel: 
fad) als geſchickter und eifriger Interpret des von der 
Biologie zur Philojophie übergegangenen, Kant an 
Schwerverſtändlichkeit noh übertrefienden Drieih aus- 
gewiejen hat, legt hier in einer überaus klaren Weiſe 
ſeine Yuffaffung dar, daß und wie der leßtere das Werf 
des Königsbergers erft richtig vollendet habe. Oder 
eigentlich noh nicht vollendet, jondern vielmehr die wirt- 
li tragfähige Grundlage für die von Kant eigentlich 
geplante „Metaphyfif der Natur” und „Metaphyſik der 
Sitten” gejchaffen habe: Tenn in Kants Wert fei das 
der Grund aller Unflarheiten und Widerjprüche, daß 
er nicht reinlich die Aufgabe der Logif als „Drdnungs: 
lehre” und die der Metaphyfit als „Wirklichkeitslehre” 
auseinandergehalten habe. Id) tann 9. in vielen Bunt: 
ten nur beiltimmen, jo 3. B. wenn er jagt: „Die rigoroje 
Üblehnung aller bloßen Wahrfcheinlidykeit hat Kant vor 
Schwierigfeiten geitellt und zu WBerzichtleiitungen prin- 
3ipieller Art gezwungen, die gar niht entſtehen und 
nötig find, wenn man die Tatſache im Auge behält, 
daß vom Wiffen zum Glauben eine Brüde mit taujend 
Pfeilern führt, die dem Willen zunächſt noch feititchen, 
allmahlidy immer ſchwankender und ſchließlich jo luftig 
werden, daß wir in den Glauben hinein nur nod ſchwe— 
ben” (mit „Blauben“ ift hier notabene nicht der religiöſe 
Glaube, fondern die willenichaftlie „Vermutung“ ge: 
meint), An manden Punkten mußte ich freilih aud 
mem Fragezeichen jegen, jo wenn 9. den Drieichichen 


72 = Reue Literatur. 





— — — — 


Beweis für die Rotmendigtel bejonderer vitaler Er: 
lärungsfaftoren der Organismen (Dr.s „Enteledien“ ) 
für vollkommen erbradt hält, wenn er als einziges wirt- 
lih „Gehabtes“ das — en anſieht u. a. m. Doch 





empfehle ich die Lektüre diejes vortreffliden Aufſätzes 
gern einem jeden, der fih für die moderne Philojophie 
interefliett. Er wird durch ihn mitten in die heutige 
Broblemlage hineingeführt. 


Bi 
Alle in dieler Zeitichrift beiprom. guten Bücher beiorat jede — und die. Sorfimentsabt. des Keplerbundes 


M. Baerting, Der Vaterfhuß. Neue Wege zur 
Erhaltung der Manneskraft. Volkshygieniſcher Verlag, 
Dresden. Nach dem Untertitel hatte ich zuerjt ange- 
nommen, daß es fih hier um eine der zahlreichen mehr 
oder minder bedenklichen populärmedizinifchen Schriften 
handelt, in denen einem ungefund gewordenen Geſchlecht 
fünftlihe Wege zu gefünftelter Scheinheilung gewiejen 
werden follen. Ich hatte daraufhin die Rezenſion ab- 
gelehnt, aber die Durchſicht des mir troßdem zugefandten 
Buches zeigte, daß der Untertitel irreführt. Vaerting, 
der auh fonjt vielfah als Eugenifer hervorgetreten ift, 
will etwas ganz anderes, als nervös und ſexuell über- 
reizten Männern zu den taufend Mittelhen noh ein 
neues anpreijen. Er mill zeigen, daß die ganze moderne 
Raſſenhygiene (Eugenit) auf einem grundjäßlichen 
Holzwege fei, wenn fie immer nur an den Schub der 
Mütter und Kinder, aber niht an den der Väter dente. 
Nach feiner Meinung ift uns die ſchließliche Entartung 
ebenjo wie allen früheren Kulturvölkern jicher, wenn 
wir nicht erkennen, daß durch unfere gejamten jozialen 
Berhältniffe gerade der widhtigite Faktor der Vererbung, 
nämlid) die männliche Keimzelle, unheilbar gejchädigt 
wird. An einem großen Tatjachenmaterial will V. nad): 
weijen, daß jowohl der männlide Organismus als 
Ganzes, wie insbejondere die männlichen Keimzellen 
ungleid) empfindlicher gegen alle Arten von Schädigun- 
gen find, als die weiblichen, und daß es daher eine un: 
jinnige Ordnung der Dinge fei, wenn man dem Manne 
alle Arbeit im Lebenskampfe aufpade, die Frau dagegen 
nah Möglichkeit von folder zu entlaften fume. Die 
Ritterlichkeit des Mannes und die Eigenſucht der Frau 
verbinden fih hier nadh feiner Meinung 3u einem un: 
heilvollen Bunde. Sicherlich enthalten die von V. vor- 
gebrachten Gedanken mandes Wahre. So ift 3. B. 
zweifellos wohl erwiefen, daß gerade geijtige Arbeit auf 
den Mann eine feimjchädigende Wirkung hat, und daß 
lid) jo die verhältnismäßig große Zahl unbegabter Nad- 
tommen begabter Bäter erklärt, weil diefe faft alle erft 
in fpäterem Alter zum Heiraten fommen. Die Forde- 
rung, gerade den hochbegabten jungen Männern die 
Frühehe zu ermöglichen, ift jhon oft erhoben worden. 
Es ift ftatiftiih erwiejen, daß die erjten Kinder folder 
Männer im Durchſchnitt viel begabter find als die 
lebten. Die verbreitete und von demokratiſchen Gleich): 
machern gefliffentlidy genährte Meinung, hohe Begabung 
‘ei an ſich zumeift nicht erblich, ift falſch. Die Erblich— 
teit tritt nur zumeift nicht in Erjcheinung, weil fie durch 
die Keimjhädigung verdedt wird. Anderen Sätzen des 
Berfaffers wird aber eine nüchterne Kritit entgegen: 
treten müffen. Daß es, wie er möchte, eigentlich das 


Naturgemäße jei, wenn das Weib die ſchwere Arbeit 
tut und der „empfindlichere” Mann die leichtere, wird 
durch die ganze Natur widerlegt, wo fat überall das 
Männden die Rolle des Starfen und Schüßenden jpielt, 
und offenbar ift das beim Menſchen auh von Anfang 
an jo gewejen. Hier jteht B. im Banne feiner wunder: 
lien Theorie, daß das körperliche Kräfteverhältnis der 
Geſchlechter lediglich ein Produkt der fozialen Verhält— 
nifje jei und in einem Amazonenjtaate ebenfo gut um: 
gefehrt fein könnte. Die einfache Gegenfrage genügt, 
warum denn bei den nädjtverwandten Affen und 
anderen Säugetieren die Sade ebenjo ift. — Es iji 
nicht anzunehmen, daß V. mit ſolchen ertremen Forde- 
rungen Glüd haben wird. Doc tann es nicht jchaden, 
wenn auh die Gejehgeber einmal bedenken, inwieweit 
jeine {Forderung auf größeren „Vaterſchutz“ A 
berechtigt ift. 


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Henjeling Mit 34 Abbildungen. Preis geheftet 
1,20 M, gebunden 2.— M. Stuttgart, Kosmos, Gejell- 
Ihaft der Naturfreunde. Franckhſche Verlagshandlung. 
— Dem Kenner mittelalterlider Schriftwerke ift es be: 
fannt, welche Rolle ajtrologifche Gedanfengänge oft in 
ihnen jpielen; der Geſchichtsfreund weiß, wie fehr oft 
führende Geilter vergangener Zeiten aftrologifhen Spe- 
fulationen verfallen waren, und aud heute nod) zeigt 
ein Blid in die Tagesblätter oder eine Durchſicht der 
Neuerjcheinungen des Bilchermarftes häufig das Inter- 
efje an der Aftrologie. Der Streit über Wert oder Un: 
wert aſtrologiſcher Forſchung geht Hin und her. Dak 
dabei auf Seiten der Bekämpfer und Verteidiger mand- 
mal recht große Unklarheit über das eigentlide Weſen 
der Aſtrologie herrſcht, iſt Tatſache Um gerecht urteilen 
zu fönnen, muß man Werden und Wefen der Ajtrologie 
tennen, muß man auh mit den Grundlagen des moder- 
nen aſtronomiſchen Weltbildes vertraut fein. Dieſe 
Kenntniffe vermittelt in angenehmer Weiſe das oben 
angezeigte Wert. Klar jchildert der Verfafler das Ent: 
itehen des aſtrologiſchen Weltbildes, er weiß feflelnd zu 
plaudern von den Beeinfluffungen, die ajtrologijches 
Denten und Fühlen auf den Menjchen der Vergangen— 
heit gewann; er zeigt die oft wunderlide Miſchung von 
Irrtum und Wahrheit, von Gelehrjamteit und unfrudht: 
barer Spekulation, die im aſtrologiſchen Syſtem fih 
findet. An allen Stellen, au da, wo aſtrologiſche Dar: 
legungen gegeben werden, ift das Büchlein durchaus 
verftändlid. Im Schlußwort ſchlägt der Verfaſſer die 
Brüde, die von dem ewig richtigen Kerngedanfen der 
Aitrologie herüberführt zum Denken unjerer Zeit. A. 


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WISSENSCHAFT UND WEITANSCHAUUNG aa 

ı XVII Jahrg. Detmold, April 1925 Heft 4 a 

Herausgegeben Schriftleitung: : | | 

vom Professor 7 
Keplerbund Dr. Bavink ı 
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Inhalt: 


Erkenntnistheorie und Wirklichkeit. Von Rudolf Weinmann. ® Metapsychik 
und Weltanschauung. Von Dr. med. Rudolf Tischner. ® Etwas über Algen 
und ihr Studium. Von C. H. Vietor. ® Wie man die Sterne hören kann. 
Von Studiendirektor Dr. Müller. ® Das neue Windkraftschiff. Von Dr. Hans 
Bourquin. ® Beobachtungen aus dem Leserkreise. ® Aussprache. ® Natur- 
wissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur, 








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erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post oder Buchhandel, viertelj. 2— Goldmark. 

Unmittelbar vom Verlag bezogen und fürs Ausland, zuzügl. Versandunkosten, 2.30 Goldmark. Der Briel- 

träger nimmt Bestellungen entgegen. Anzeigenpreise: Die 4 gespaltene 1 mm hohe Kleinzeile 15 Gold 
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Alle Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. Verlag od. Geschäftsst. des Keplerbundes, Detmold. 


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Reinhold Fuchs. ® Der heutige Stand der Marsforschung. Von Prof. Joh. Riem. ® Die Relativität der 
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neues Bild vom heutigen und urzeitlichen Europa Von Studiendirektor Dr. Müller. ® Die Natur der Heide-, 
Moor- und Salzpflanzen. Von Prof. D, Dr. E. Dennert. ® Warum sind die Pflanzen grün? Von Alfred 
Knappe: ® Das Feuerland. Mit 5 Bildern auf besonderer Beilage. Von Studiendirektor Dr. Müller. ® 
Das Erwachen des Frühlings in der Natur. Von Studienrat E. Zieprecht. (Fortsegung.) ® Der Ausflügler als 
Beobachter. Von Georg v. Hassel. ® Kleine Beiträge. ® Der Sternhimmel im April. ® Häusliche 
' Studien. ® Naturwissenschaftiche Umschau. ® Neue Literatur. 


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Herausgegeben vom Naturmwifienichaftliden Verlag des Keplerbundes e. V. Detmold. 


Boftichedtonto Nr. 45744, Hannover. 


Schriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Auffäge fichen die Derfeffer;ihre Aufnahme macht fie nicht zur Meukerung des Bundes. 





XVIIL Jahrgang 


April 1923 


Heft 4 








GErfenntnistheorie und Wirklichkeit. Bon Rudolf Weinmann. P 


Borbemerftung: Ih bitte alle philoſophiſch 
irgendwie intereffierten Lejer, den folgenden Auffak 
ganz bejonders zu beachten, dem ich reftlos zuftimme. 
Möchten diefe m. E. den Nagel auf den Kopf treffenden 
Worte doch endlich beherzigt werden! Dann ftände uns 
eine neue Blüteperiode der Philofophie bevor, die fih 
bislang in ewig unfruchtbarem Zirkel um das Wert 
Kants herumgedreht hat. Bapınt. 

Die Zeichen mehren fih, daß der Subjeltivis- 
mus und Phänomenalismus der legten philo- 
ſophiſchen Epoche feinem Ende zugeht. An feinen 
eigenen ertremen Formulierungen führt er fich 
klbft ad absurdum, feine Zu⸗ und Ueber: 
Ipigungen find zugleich feine unfreiwillige Selbft- 
auflöfung. Er bat feine Hiftorifche Million er- 
füllt, die äußerſten SKonfequenzen der fubjetti- 
viftilchen Seite des Kantianismus zu ziehen. Er 
hat zweifelsohne gedankliche Möglichkeiten auf- 
gezeigt, die in der Geſchichte des philofophifchen 
Denkens einmal auftauchen mußten und darin 
ihren Pag verdienen. Aber fchlieklich find fie 
dodh nur ein fpefulatives Gedankenſpiel gemefen 
— genau fo wie die mit Emphafe „über: 
mundenen“ metaphyfiichen Gebäude eines Hegel, 
dichte, Schelling, ja vielleicht noh mehr als diefe 
—, das in einer logifhen Sadgaffe fein Ende 
findet. Mit Hufferl, Ridert, Carnap wie mit 
Natorp und Cohen ftehen wir fchließlich vor der 
— von Natorp ernft gemeinten! — Dilemma: 
Frage: „Wiffen wir denn überhaupt, ob die Eri- 
ſtenz — exiſtiert?“ Wenn Philofophie zu 
loldem Zweifel führt, parodiert fie fich felbft; 
und wenn das Philofophie ift, zwingt fie uns, 
Philofophie als Zerrbild menfchlicher Vernunft 
überhaupt abzulehnen. Dann allerdings tann 
der gefunde Menfchenverftand im philiftröfeften 
Sinne des Wortes triumphieren, 








Aber es gibt einen gefunden Menfchenverjtand 
im guten Sinne. Er ift identifch mit menfdhlicher 
Vernunft und es muß eine Philofophie geben, 
die ihm genau fo wenig widerftreitet wie die ge- 
famte konkrete Wilfenfchaft des Geiftes und der 
Natur. 


Es muß nur endlich die „kopernikaniſche Wen: 
dung” gegen allen Bewußtleinmonismus voll: 
zogen werden. Cs ift ein grotesfes Vorurteil, 
zu glauben und zu behaupten, daß der philo- 
fophifche Ichſtandpdunkt diefe Wendung invol— 
viere. Selbftverftändlicy gerade umgekehrt! Der 
Standpuntt: alles ift Bemußtfein, Crfanntes, 
Empfundenes ift — auf erhöhtem Niveau — 
Anthropozentrismus äußerfter Objervanzg. Denn 
wie vorfichtig und wie vielfagend und wie fom- 
pliziert terminologifch fih jeglicher Phänomena- 
lismus auch gebärden mag, wie raffiniert er dem 
abfoluten Golipfismus mit feinen abfurden und 
tompromittierenden Konftquenzen auszumeichen 
verfucht: legten Endes tann eben die bewußtſeins— 
moniftifche PBofition nichts anderes heißen, als 
daß nur das individuelle Ich, das konkrete Einzel: 
bewußtfein des gerade Philofophierenden „eri: 
ftiert” — eriftiert es denn wirklich”? muß man 
mit Natorp fragen! —, daß in diefem Eriftieren- 
den alle Eriftenz, alle Wirklichkeit eingefchloffen 
ift. Es führt eben feine Brüde aus diefem Ich 
zu anderen Ichen außer über eine irgendwie vor: 
ausgefeßte, zunächſt fogar höchſt materielle 
Außenwelt. Und keinerlei „Bemußtjein über- 
haupt“, „Allgemeinbewußtfein“, keinerlei Operie— 
ren mit „Ermwartungsurteilen” „@eltung” ufw. 
tann darüber hinwegführen, hinwegtäufchen. 

Die weiteſte Formel, die lekte Pofition des 
phänomenaliftifchen Erfenntnistheoretifers fann 
immer nur fein: Abhängigkeit alles Seins, alles 


74 Grlenntnistheorie- und Wirklichkeit. 


Geſchehens, aller Wirklichkeit, der Gefamtwelt 
vom Ganzen der menfchlichen Ertenntnis. Rid- 
tig verftanden eine Gelbitverjtändlichkeit: mir 
fönnen nur als Menſchen fpredhen und es 
bliebe nur Selbjtverdammung zum abfoluten 
Schweigen, wenn uns folche Erwägung irgend- 
wie beitimmen follte.. Schweigen wir aber nidt, 
jo müffen wir natürlich auh über lebte philo- 
fophifcye Dinge diefer oder jener Meinung als 
Menſchen urteilen. Darüber fann es weder 


Distuffion noh finnvolle Skepſis geben. Es wäre 


ein Müncdhhaufenfches Beginnen, fih davon, vom 
Menfchjein und als-Menſch-denken, emanzipieren 
zu wollen. 

Die „Exiſtenz“⸗Frage, auf die der Erkenntnis» 
theoretifer zielt, wird davon auch garnicht be- 
rührt. Für fie ift allein von Ausſchlag, daß 
bezw. ob alles Eriftente ein menjchliches Bewußt- 
fein vorausfeßt und in weldyem Sinne, mit wel- 
hen folgen. (Daß diefe gragejfelbft von 
Menſchen gejtellt, von Menfchen erörtert und be- 
antwortet wird, fchaltet, weil jelbitverjtändlidh, 
aus.) Wenn man nun felbft dem Bewußtieins- 
monismus und PBhänomenalismus jeglider 
Artung die Borausfeßung eines menſchlichen 
oder Menfchheitsbewußtfeins in jedem Sinne 
und mit allen Folgen ohne weiteres und ohne 
jede Dppofition oder Einfchräntung zugibt, fo 
ift er troßdem und von vornherein in feiner 
eigentlichen Abficht widerlegt, durch fih Telbit 
widerlegt. 

Denn: das vorausgefeßte menſchliche Be- 
mwußtfein fekt ja bereits den Menſchen vor— 
aus! Ob nun als Individuum oder Gattung! 
Der Begriff, die Idee „Menſch“ ift gar nicht fap- 
bar oder aufitellbar, ohne daß irgendwie der 
real erfahrbare, d. h. pſychophyſiſche Menſch, die- 
fies wirkliche Stüd der wirklichen Welt jhon als 
eriftent gilt. 

Alfo: ob menfchlidyes oder Menfchheits = Be- 
wußtfein, individuelles oder gattungsmäßiges — 
der Menfch ift vorausgefeßt, der diefes Be- 
wußtfein hat, und mit diefem Menfchen die ge- 
famte Außenwelt, deren Teil er ift. 

Man kann alfo fogar noch weiter gehen wie 
ih in meiner Arbeit „Philofophie, Welt und 
Wirklichkeit") gegangen bin, und fagen, daß 
nicht nur die Anerkennung der andern Jehe 
(Battungs-Ich!), fondern fogar der Golipfismus 
im Grunde die Eriftenz der Welt fchon invol- 
viert. So daß alfo der ertremfte Subjettivismus 
und PBhänomenalismus felbft {hon — erkennt: 
nistheoretifcher Realismus ift. Und legten Endes 


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vom Realiften gar nicht erft widerlegt oder be- 
ftritten werden muß. 

Das wäre das lebte Glied in der langen Kette 
der Gründe, die den ertenntnistheoretifchen 
Idealismus in jeder Form und Spielart zu- 
gunften des Realismus entwurzeln. 

Um auf die übrigen Hauptgründe, für Die 
ih auf meine oben genannte Schrift vermweile, 
nur ganz turg hinzudeuten, fei folgendes ange- 
führt: 

Nur die realiftiihde Grundanficht fchafft und 
ermöglicht die Einheit zwiſchen Bhilofophie, fämt- 
lien Einzelmifjenjchaften der Natur und des 
Geiftes, dem praftifchen Leben und dem gefun- 
den, natürlidden Menfchenverjtand. Leßteren als 
antiphilofophifh, ungeiftig, mindermwertig zu 
brandmarfen, liegt gar feine Veranlaffung vor. 
Denn er verträgt fih mit allen tontreten 
Wiſſenſchaften einfchließlich Logit, ja er ift nichts 
anderes, tann nichts ander:s als diefe felbit fein: 
unfere Bernunft ift nicht zerlegbar, es gibt nur 
eine, die Vernunft. Entfteht ein Zwieſpalt 
zwiſchen ihr und einer erfenntnistheoretifchen 
Dottrin, fo ift die ſe im Unredt. 

Auf idealiftifcher, phänomenaliftifher Erkennt: 
nistheorie als Bafis läßt fich fein praftifcher, tein 
wiſſenſchaftlicher Schritt tun, fein Eedanke for: 
mulieren, fein Sag niederfchreiben. Man billigt 
deshalb der konkreten Willenfchaft (vomit man 
die Naturmwilfenfchaft meint) eine Art „provilo- 
riſchen“ Standpuntt zu, von dem aus fie den 
Kosmos zunächſt als real hinnehmen darf. Zum 
Schluß fommt der Philojoph und verwandelt 
Erde, Menfchen, Sonnen und Sterne, Welt und 
Meltengeichichte, Strahlungsenergien und Ridt- 
jahre in eine Art Nichts. Unmöglich, in feiner 
Sprache auch nur ein Stüdchen des wirklichen 
Befchehens auszudrüden. Ebenfo unmöglid) aber 
auch — und das vergißt der Philoſoph gerne — 
geifteswifjenfhaftlich etwas in phäno— 
menaliftifcher Sprache auszufagen. Nicht nur 
Pſychologie involviert allenthalben eine Be- 
ziehung zwilchen geiftiger Innenwelt und einer 
ihr gegenüberftehenden Außenwelt der objektid— 
rhylifaliichen Reize, der nervöfen Vorgänge in 
einem phyſiſch eriftierenden Bemußtfeinsorgan 
(Gehirn), ganz ebenfo wird Ethbifund Meta- 
phyſik finnlos, wenn Menfchheit und Welt, 
ftatt als reale Größen gu gelten, zu einer Be- 
wußtfeins - Fatamorgana verflüchtigt werden. 
„Welt“anfhauung hebt fih felbit auf, wenn 
„Welt“ nicht real eriftiert und Gegenftand der 
„Anfhauung“ wird. Auh idealiftiiche 
Metaphyſik bedingt realiftifde Cr- 
fenntnistheorie! (Hört es! BR). 


mn. — — — -r 





Die Sprache ſelbſt zwingt zum Realis- 
mus. Sie verweigert den Dienſt dem Phäno— 
menaliſten. „Anſchauung“, „Erfahrung“, „Er: 
kennen“ — alles erheiſcht ein Subjekt, das ein 
ihm gegenüberſtehendes Obijekt erfaßt, abbildet. 

Der Grundbefund iſt allenthalben ein dualifti- 
iher. Wenn der metaphyfifche Idealis- 
mus das Außen nah dem geiftigen Innen dann 
auch geiltig interpretiert, fo hat er doh 
den real-objeftiven Beſtand des zunächſt mate- 
riellen Außen bereits zugugeben! Der Geiftes- 
Monismus ift bedingt und erhält erft feinen 
Ginn durd) einen vorausgegangenen Dualismus. 
Die naturgegebene Zweiheit wird nur 
monitih umgedeutet. — 

Auch der Apriorismus — der eigentliche Ur- 
grund für alle fubjeltiviftifchen und phänomena- 
fiftiiden Tendenzen — zwingt weder zu einem 
raum- und zeitlofen Ding an fih, nod führt er 
in feinen legten Konſequenzen zur Auflöfung 





alles Seins in Bewußtfein. Wenn Kant die un- 


überbrüdbare Kluft aufriß zwiſchen Ich und 
Nicht-Ich, weil unfere Anfchauungs- und Dent: 
formen apriorifh, „alfo” nur (!) fubjektiv feien, 
jo müffen wir, auf dem Boden der Entwidlungs- 
iehre ftehend, aber auch aus dem Prinzip der 
jedenfalls für uns Menfchen allenthalben fih 
offenbarenden und geltenden Teleologie heraus 
diefe Kluft nachgerade wieder [hließen und 
Welt und Ich in entwidlungsmäßig gewordene 
„Harmonie“ ſetzen. Diefe Harmonie ift eine „prä- 
ftabilierte” infofern, als fie der „Erfahrung“ vor» 
ausgeht. Erfahrung fegt a ein, wenn Be- 


Metapſychik und Weltanfhauung. soo: Bon Dr. meb. Rudolf Tifhner. C? 


Bekanntlich find die metapſychiſchen oder ot: 
fulten Erfcheinungen noch nicht allgemein an: 
ertannt, und es könnte als verfrüht erfcheinen, 
daß man ihre Bedeutung für Theorie, Philofophie 
und Religion erörtert; ich meine aber, es ift 
doch aus mehreren Gründen gerechtfertigt, ein: 
mal zu diefen Fragen Stellung zu nehmen, um 
in mehr, da die Gegner auh Gründe theoretifcher 
Art gegen die Metapfychit ausfpielen, und 
anderfeits von den Anhängern vielfach die of- 
fulten Erfcheinungen untritifh in religiöfem 
Sinne verwendet werden. Wir wollen alfo ein- 
mal verfuchen, ın gerechtem Abmwägen das je- 
weilig Richtige der verfchiedenen Standpunkte 
f. Stzuftellen, dabei die Tatfachen diesmal auf fih 
beruhen laſſend. 

Hauptfählich drei Befichtspuntte finden wir 
da vertreten. Erſtens den der materialiftifch- 


tiſchen Idealismus. 


Metapſychik und Weltanſchauung. 75 


mußtfein und Bewußtfeinsorgan ſchon vorhan- 
den find. Die apriorijche Organifation ift ge- 
worden, aber niht durch Erfahrung, fondern 
durch fih anpaflende Entwidlung. 

Und darum find die Grundformen des Be- 
wußtfeins auch die Grundformen der Welt, in 
Die das Bemwußtfein zweds Erfaffung eben diefer 
Welt hineingeftellt ift. 

Sn den Elementen (Formen, Kategorien) des 
Bemußtfeins tritt uns das Cepte, Realfte auh 
der Welt entgegen. 

Raum und Zeit und Raufalität find eben des: 
balb jo durchaus objektiv und real, weil fie fo 
untilgbar fubjeltiv find. Weber die Realität der 
Beit kommt felbft der extremſte Ich-Philofoph 
und Bemwußtfeinsmonift nicht hinweg, denn das 
Bewußtſein f elb ft ift und ftellt fih dar durch: 
aus und nur zeitlich. Wer alfo Bewußtſein zu: 
gibt, gibt damit auch Zeit zu. 

Mathematiſche Phyfit, fynthetifche Urteile 
a priori find fein Problem, fondern eine Selbit: 
verftändlichkeit; fein Wunder, fondern eine Not- 
wendigfeit. Oder auch: fie find das gleiche Wun- 
der wie die Eriftenz überhaupt. Daß und wiefo 
etwas erijtiert, ift und bleibt das legte, unerklär- 
lihe. Uber dem Eriftierenden Raum und Zeit 
und Raufalität nehmen, heißt der Eriftenz die 
— Eriftenz nehmen. Bor allem: es fehlt zu dies 
jem Beginnen jeder zureichende Grund. Wir 
müſſen über das Kant'ſche Ding-an-fich den Weg 
zum Ding gehen; nur dann entgehen wir der 
x- und der 0-PBhilofophie des erfenntnistheore- 


moniftifch Eingeftellten, die der Meinung find, 
daß es diefe Dinge deshalb nicht geben fünne, 
weil fie in ausgefprochenem Gegenfaß zu den Er: 
gebnijfen der modernen Naturwiſſenſchaft ftehen. 
Unverhohlen ausgeiprochen wird das im öffent- 
iichen Schrifttum allerdings felten, aber wer aus 
mündlichen Erörterungen die Anfichten und Cin- 
wände diefer Kreife fennt, der fühlt auch aus ` 
den Arbeiten diefe Einwände und eine dadurd) 
erzeugte Antipathie hindurd. 

Anders ftellt fih eine immer noch febr einfluß: 
reiche philofophifche Richtung, der Neufantianis- 
mus, zu dem Dffultismus. Der Neufantianis- 
mus behauptet, diefen Phänomenen fomme gar 
feine weltanjchauliche, metaphyfifche Bedeutung 
zu. Meift bleibt es bei diefem allgemeinen Ber: 
dikt; nur felten hat man fih, foweit ich febe, 
ausführlicher dazu geäußert. Uber bei den Ge- 


16 Metapfochit und Weltanfchauundg. 


bildeten, bei denen ein folder Ausſpruch von 


philojophiicher Seite einiges Gewicht hat, pflegt 


fo etwas trog feiner Allgemeinheit zu wirken, 
und der Offultismus ift in Rückſicht auf feine 
metaphyfifche Bedeutung erledigt. Kürzlich hat 
der Berner Philofoph R. Herbert fih über 
diefen Punkt etwas ausführlicher geäußert („Neue 
Züricher Zeitung“, 8. September 1923, Nr. 1220) 
und es fei bei der Bedeutung der Sache etwas 
darauf eingegangen. Herberg fchreibt: „Meta- 
pſychologiſche Forſchungen find in erfenntnis- 
theoretiiher Hinficht grundfählich bedeutungslos, 
da fie des transcendentalen Charakters ent- 
behren.” Das will fo verftanden werden: Nad) 
dem Neufantianismus ift jede Tatfachenfeftitel: 
fung für die rein apriorifche Geltungswiſſenſchaft 
der Erfenntnistheorie ohne jede begründende Be- 
deutung; es gilt alfo dies Zurückweiſen der er- 
fenntnistheoretifhen Bedeutung der metapſychi— 
ſchen Tatſachen gerade fo gut aud für alle 
anderen Erfahrungstatfadhen. Der Neutantia: 
nismus behauptet alfo die durdygängige Be: 
deutungslofigfeit der Erfahrung für die Erkennt: 
nistheorie, während er die Eriftenz einer Meta- 
phyſik überhaupt ablehnt. So ift denn im 
Rahmen diefer Anfchauung die Zurüdweifung 
der metaphyſiſchen Bedeutung der Metapſychik 
fiherlich folgerichtig, aber nur wer fih diefem 
Iholaftifchtalmudiftifchen Begriffsgewebe ver- 
icyrieben hat, wird diefe TFolgerung anerkennen 
müjfen. Es tann natürlich nicht die Aufgabe 
diejer Zeilen fein, in eine Widerlegung des Neu- 
fantianismug einzutreten; es fei nur gejagt, daß 
neuere Richtungen in der Philofophie, als deren 
Bertreter ich befonders Külpe, Driefd, 
Meffer und Nikolai Hartmann nenne, 
die Unbhaltbarfeit feiner Behauptungen erwieſen 
haben und ihm gegenüber einen fritifchen Realis- 
mus vertreten, der erftens den Tatfachen der Cr- 
fahrung beffer gerecht zu werden geftattet und 
zweitens auch noh Raum für eine Metaphyjfit 
läßt, in deren Rahmen auh der Metapfychit 
Gerechtigkeit widerfährt, wie wir das befonders 
. bei Driefch jehen. 

Schließlich fei noh auf eine dritte Richtung 
eingegangen und ihre Stellungnahme in Bezug 
auf die weltanfchauliche und metaphyfiiche Be- 
deutung der Metapſychik; es find die unfritifchen 
Dfkultiften, Theofophen und „Myſtiker“, die man 
wohl am beiten unter dem Namen der „magi- 
ihen Idealiſten“ zufammenfaffen fann. Für 
diefe Richtung ift der Okkultismus das Eintritts- 
tor in die Metaphyfif; die okkulten Tatjachen 
beweifen angeblich ohne weiteres diefe meift 
mehr oder weniger buddhiftiich angehauchte Welt- 


anſchauung. Angeblich wird durch die okkulten 
Geſchehniſſe die Realität des Aſtralleibes be- 
mwiejen; nah diefer Richtung werden ſowohl die 
Ericheinungen der Telepathie und des Hellfehens 
als auh die der Telefinefe und Materialijation 
chne weiteres ausgedeutet. Und die Trance- 
äußerungen vieler Medien, die fih fo geben, als 
ob fie von Merftorbenen herrühren, werden 
meift, ohne viel Kritit daran zu üben, als das 
genommen, als was fie fih ausgeben, und bilden 
jo angeblid) ein feſtes Beweismaterial zugunjten 
des Spiritismus. 

Jm folgenden wollen wir nun fehen, was von 
den Behauptungen der verfchiedenen Richtungen 
zu halten ift, wobei ich den Neufantianismus 
nicht weiter berüdfichtigen werde, da fih mit 
einer Rıayrung, die den Tatſachen der Erfahrung 
eine Bedeutung jenfeits diefes Erfahrungsbe- 
reiches überhaupt allgemein abitreitet, eine 
Erörterung über den weltanfchaulicyen und meta: 
phyſiſchen Wert bejonderer Tatfaden er- 
übrigt. 

' Wir haben es alfo jet damit zu tun, die fih 
diametral gegenüberjtehenden Behauptungen der 
naturaliftifhden Monijten einerfeits und die Der 
magijchen Idealiſten anderfeits zu erörtern. 
Während die einen behaupten, die angeblichen . 
oftulten Tatjachen würden den nun einmal eg- 
perimentell fejtgeftellten Tatjachen, wie fie die 
Wiffenfchaft angehäuft Hat, widerfprechen und 
tönnten deshalb niht wahr fein, erbliden die 
anderen darin eine Beltätigung ihrer myjtifchen 
Anfichten und nehmen deshalb ungefähr alles, 
was an offulten Tatjachen berichtet wird, un: 
befehen hin. Einig find fih beide Richtungen 
nur darin, daß der Okkultismus im Rahmen 
einer rationaliftiichen Anficyt feinen Pla Hat 
und vielmehr nur myſtiſch aufzufaflen fei, was 
die einen mit Entfegen, die anderen mit Be- 
friedigung feftitellen. 

Zuerft fei die beiden Parteien gemeinfame Be- 
hauptung beiprochen, daß der Okkultismus zur 
„Moftit” führe. Was ift mit diefem Nätfelmort 
gemeint? Das Wort Myftit wird fehr viel mi- 
braucht; man pflegt das Verſchiedenſte darunter 
zu verjtehen. Der Naturmillenfchaftler nennt 
ungefähr alles myjtilch, was er auf Grund feiner 
augenblidlihen Anfchauungen niht verfteht; ich 
meine aber, man follte das Wort nur in engerem 
Sinne verjtehen; ja, am beften folte man es 
nur in dem Sinne der mittelalterlihen „My: 
ſtiker“ wie Ekkehard ufw. verftehen, die nicht 
mit dem Berjtand, der Ratio, zur Erkenntnis 
der Welt fommen wollten, fondern durch Ber- 
fentung, durch Intuition und durch Eftafe. Der 


Metapfohit und Weltanfhauung. 77 


moftifhe Weg der Erkenntnis ift ein irrationaler 
Weg; wenn man alfo meint, daß der Ottultis- 
mus zur Myftit führe, jo will man damit fagen, 
daB die ofkulten Phänomene innerhalb einer 
rationalen Anſchauung niht begreifbar find. 


Sehen wir einmal zu, was von Diefer Be- 
hauptung zu halten ift. Wenn wir uns erft den 
parapigdhifchen Tatfachen des Hellfehens und der 
Zelepatie zuwenden, fo ift es ſicherlich mert- 
würdig genug, daß gemiffe Menichen unter Um- 
ſtänden ein Wiffen haben können, das fie nicht 
durch die Sinne erworben haben, während diefes 
Biffen vielfach ganz in der Form von finnlichen 
Borftellungen, ja, nicht felten in der Form von 
Wahrnehmungen auftritt. Zur Erklärung, — fo: 
weit man bisher von Erklärung reden tann, — 
ſtehen ſich im mejentlichen zwei Theorien gegen: 
über, die phyfitalifche, die der Meinung ift, daß 
es fih um Schwingungen handele, und diejenige, 
die Darin im mejentlichen ein rein piychiiches 
Phänomen fehen will. Falls die „Wellentheorie” 
richtig fein follte, fo wären diefe Phänomene 
alfo durchaus im Rahmen der üblichen Anfichten 
der Naturwilfenichaften erflärbar. Andernfalls 
wären fie allerdings nicht im Rahmen der Nas 
turwiffenfchaft verjtehbar, ohne damit aber 
irrational zu werden, denn Pſychiſches gehört 
ebenfogut zur Welt wie Phyſiſches; die Phäno- 
mene der Aufmerffamteit, der Affociation, find 
gleichfalls pigchifche Phänomene, die wir als piy- 
hiidhe Urphänomene hinzunehmen haben. Als 
folche find fie alfo weder irrational noh myſtiſch. 

Was die paraphyſiſchen Phänomene der Ma- 
terialifation und der Telefinefe angeht, jo tann 
man auch von ihnen niht fagen, daß fie im 
Rahmen der modernen Naturanfchauung grund- 
ſätzlich unerklärbar feien, Nach den neueren 
Forſchungen handelt es fih bei der Telekineſe 
garnicht um unvermittelte Fernbewegung — die 
übrigens gar niht unerhört wäre, ich erinnere 
nur an die Gravitation, — fondern um 
Bewegungen durch Glieder, die vom Organis- 
mus des Mediums „materialifiert” werden; 
beiden Phänomenen liegt alfo diefelbe Erfchei- 
nung zu Grunde, über die fih bisher aus Mangel 
an genaueren Forfchungen wenig fagen läßt, 
aber es liegt fein Grund vor, daß diefe Phäno- 
mene niht in dem rationalen Syſtem der 
Wiffenfchaft, in der Nähe von Zeugung und 
Wachstum fowie Regeneration untergebracht 
werden können. 

Auch die vierte Dimenfion, die man mehrfad) 
— ob mit Recht oder Unredt, fei hier nicht er- 
örtert — zur Erklärung mander Phänomene 
berangezogen hat, ift gewiß an fih nichts Jr- 


rationales. Gie ift auh fonft von Mathema: 
titern unabhängig vom Okkultismus, ja, bevor er 
dort erörtert wurde, in den Kreis ihrer Betrady: 
tungen gezogen worden. Dasfelbe gilt von derzeit: 
lihen Borfchau, dem Prophegeien; auch dies ift 
nur eine Tatjachenfrage, die man nidt von 
vornherein, — wie es mehrfach gejchehen ift —, 
als „Unfinn” abtun darf, indem man fagt, die 
Wirkung könne niht eher da fein als die Ur- 
fache. 

Ich lehne es im allgemeinen ab, in voreilig 
unfritifcher Weife mancher Ofkultiften mich auf 
die Relativitätstheorie zu berufen, möchte hier 
aber doh einmal darauf hinweifen, daß 3. B. der 
befannte Mathematiker Weyl in feinem Buche 
„Raum, Beit und Materie” davon fpridht, daB 
nad) der allgemeinen Relativitätstheorie es prin- 
zipiell gefchehen könnte, daß man Ereigniſſe 
miterlebt, die 3. T. erft eine Wirkung künftiger 
Entfchlüffe und Handlungen find. Es fei aud) 
niht ausgefchloffen, „daß eine Weltlinie, insbe- 
fondere die Weltlinie meines Lebens, in die Nähe 
eines Weltpunftes zurüdtehrt, den fie ſchon ein- 
mal paffierte. Daraus würde dann ein radi- 
faleres Doppelgängertum refultieren, als es je 
ein €. T. A. Hoffmann ausgedacht hat“. Weyl 
betont, daß tatfächlich in dem Weltgebiet, in dem 
wir leben, derartiges niht vorfomme, aber id) 
meine, daß die prinzipielle Möglid- 
teit folder Vorkommniſſe nad) den Anſätzen 
der allgemeinen Relativitätstheorie es nicht ge- 
ftattet, wenn nun tatſächlich derartiges vor- 
tommen follte, als „Unſinn“ zu brandmar- 
ten. Es wäre dann vielleicht fogar denkbar, 
die Anſätze fo einzurichten, daß ein Vorkommen 
derartiger Ereignifje in unferem Weltgebiet niht 
nur grundfäßlich, fondern auch tatſächlich ver- 
ftändlih würde. Sch will auf diefe Ausfüh- 


‚rungen niht allzu viel Gewicht legen und wollte 


damit nur zeigen, wie vorfichtig man fein muß, 
irgend etwas als Unfinn zu begeichnen. Uber 
auch, wenn man die Beziehung auf die Relativi- 
tätstheorie ablehnt, wäre immer noh die Mög: 
lichkeit vorhanden, zu einem Berftändnis der 
zeitlichen Vorſchau zu tommen. Belanntlid) 
prophezeit die Wiffenfchaft auch fonjt vieles, etwa 
eine Mondfinfternis auf Grund der ihr zur 
Verfügung ftehenden Kenntniffe, aber nicht des- 
halb, weil die Wirkung früher da ift als die Ur- 
fahe, wie der Einwand gegen das zeitliche Fern- 
leben lautet, fondern weil fie gewifle Kaufal- 
reihen genügend überfieht, um auf Grund Ddiefes 
Willens ein Ereignis in ferner Zufunft voraus: 
fagen zu können. Die Vorherſage bei der zeit- 
lichen Borfchau gefchieht nun aller Wahrſchein— 


78 Metapſychil und Weltanfhauung. 


lichleit nah niht auf Grund des Ueberſehens 
von Kaufalreihen, fondern auf Grund eines auf 
irgend eine andere Weife erlangten Willens, 
über das wir nichts Genaueres fagen können, 
immerhin genügt in dieſer Hinficht die Tatjache 
des willenfchaftlichen Prophezeiens, um aud) die 
zeitliche Vorſchau nicht von vornherein ablehnen 
zu müffen. (Vgl. zu obigem meine Arbeit 
„Okkultismus in feinen Beziehungen zu Srratio» 
nalismus und Myſtik“. Pſych. Studien 1924, 
Nr. 1 und 2). 

Nachdem wir fo gejehen haben, daß man die 
oftulten Phänomene niht von vornherein als 
irrational ablehnen tann, fragt es fih, was fie 
denn ſonſt in naturtheoretifcher und metaphy⸗ 
fifcher Hinficht bedeuten. Wie oben fon kurz 
erwähnt wurde, gibt es viele Menjchen, die der 
Meinung find, daB die fog. ofkulten Tatſachen uns 
ohne weiteres die größten metaphyjifchen Auf- 
ihlüffe gäben. Darin ftedt eine Webertreibung, 
aber meiner Anſicht nah doch auch ein bered- 
tigter Kern. Sehr viele Erfahrungstatfachen 
haben einen metaphyfifchen Sinn und metaphy- 
iifche Bedeutung, es führen alfo febr viele 
Brüden in das metaphyjifche Bereich, grundfäß: 
lih find demnach die oftulten Tatfachen nicht Die 
einzigen, die uns metaphyjifch etwas zu fagen 
haben. Anderfeits aber liegt diefer Behauptung 
von der großen metaphyfifchen Bedeutung ein 
richtiges Gefühl davon zugrunde, daß die okkulten 
Tatfahen eine Sonderftellung einnehmen, ohne 
daß allerdings tlar wird, worin die Berechtigung 
beruht, fie als bejonders bedeutfam für die 
Metaphyfit anzufprehen. Meiner Meinung 
nach beruht die befondere metaphyfiihe Bedeu- 
tung der offulten Erfcheinungen darin, daß es in 
eigenartiger Weile Grenzphänomene zwiſchen 
der phyſiſchen und pſychiſchen Welt find. 

Es ift ein methodifch febr berechtigtes Streben 
der indultiven Willenfchaft, ein Phänomen mög- 
lichft rein und von fremden Beimengungen ifo- 
liert gu ftudieren, handele es fih nun um einen 
chemifchen Körper, eine phyjifalifche Erjcheinung 
oder einen pfychologiſchen Vorgang; wenn aber 


die völlige Iſolierung nicht möglich ift, fo ſtrebt 


man menigitens darnach, die Verſuchsbedin— 
gungen möglichſt zu variieren. Gerade von 
diefem methodifchen Befichtspunft aus feinen 
mir nun Die metapfgehilchen Ericheinungen 
von einer bejonderen Bedeutung für eine in- 
duktive Metaphyfit zu fein, denn bei ihnen 
steht Materie und Geift nicht in der gewöhn— 
lichen Beziehung zu einander, ja, bei den Phäno- 
menen der Telepathie und des Hellfehens fcheint 
das Wefentliche der Erjcheinungen ein rein 


feeliicher Vorgang zu fein. Aber wenn man 
das auch beftreiten follte, fo fteht jedenfalls das 
eine feft, dap bei den metapſychiſchen Phäno- 
menen die Piyche in einer andern Beziehung zu 
der Materie Steht, als wir es ſonſt gewohnt find. 
Gerade die Andersartigkeit diefer Beziehungen 
ift das Mertwürdige an diefen Erfcheinungen, 
gerade deshalb widerjegt man fih ja vielfach 
ihrer Anerfennung. 


Worin beiteht denn nun des Genaueren der 
Unterſchied zwifchen den gewöhnlichen pfychifchen 
Vorgängen und den parapſychiſchen? Die nor- 
male Wahrnehmung beruht immer auf gemiffen, 
die Sinnesorgane treffenden phyſiſchen Reizen, 
beim SHellfehen dagegen findet ein Wiffen ftatt, 
ohne daß die Sinnesorgane eine Rolle fpielen 
und ohne daß irgendwelche phyfiichen Reize 
nachgewiefen oder auh nur wahrfceinlich 
wären. Das Piyhifche ift alfo hier dirett tätig 
ohne phyfiiche Vermittlung und erfährt auf diefe 
Weile um Gegenstände und Vorgänge. Aehnlich 
liegt die Gade bei der Gedankenübertragung 
und beim Gedanfenlefen, auh hier ift eine Ber- 
mittlung durch phyfitaliide Wellen durdyaus 
unerwieſen und unmwahrfceinlih. Im einzelnen 
läßt fih bisher leider wenig fagen, dazu find die 
Dinge noh zu wenig geflärt, aber die einfache 
Tatfache, daB zwei Individuen ohne materielle 
Zwifchenglieder geiftig mit einander in Berbin- 
dung treten fönnen, feint mir metaphyfilch von 
der größten Bedeutung zu fein; fie zeigt, daß in 
der Tat das Pſychiſche nicht notwendig an das 
Materielle gebunden ift, fondern eine Gonder- 
eriftenz hat, eine Tatjache, die fih ſonſt nur auf 
ihwierigen erfenntnistheoretifchen und meta- 
phyſiſchen Pfaden erfchließen läßt. Ob man mit 
Myers nun annimmt, daß hier eine „Piycho- 
rhagie“ eintritt und etwas Geelifches fih ablöft 
und von dem einen Individuum zum andern 
geht oder ob man annimmt, daß diefer Tatbe- 
tand ein Hinweis für ein überindividuelles 
Geelifches ift oder ob — wie E. v. Hartmann es 
cusdrüdt —, hier ein Telephonanfchluß ans Ub- 
folute vorliegt, laffe ich unentfichieden. Nah 
derfelben Richtung weifen die Tatſachen des 
Hellfehens; auch hier laffe ich es unentichieden, 
in welchem Einne man die Erfcheinungen deuten 
fönnte. (Ueber die pfyodiftiiche Theorie der para— 
pſyichiſchen Erfcheinungen fiehe meine Bücher 
„Weber Telepathie und Hellfehen, Münden, 2. 
Aufl. 1921 und „Monismus und Dfkultismus“ 
Lpzg. 1921). Auch Driefch vertritt die pſychi— 
ftifche Theorie, fih dabei auf meine längeren 
Ausführungen beziehend. 

Wie ift nun die Sachlage bei den paraphyſiſchen 


Metapſychik und Weltanſchauung. 79 


Phänomenen im Vergleich mit den normalen 
Bewegungen, die wir 3. B. mit unſern Glied- 
maen verurfahen? Bei einem gewöhnlichen 
Willensaft wird Materie unter Einfluß von 
etwas Pſychiſchem bewegt, durch einen Nerven: 
impuls zieht fich der Mustel zufammen, nachdem 
der Willensentichluß, alfo etwas Piychifches, 
vorbergegangen ift. Bei der Meaterialifation 
und der Teletineje ſehen wir aud, daß fid 
Materie unter dem Linfluß von Pſychiſchem, 
nämlich den Borftellungen des Mediums, be- 
wegt. Während wir aber bei dem normalen 
Willensakt diefen Vorgang, daß etwas Geiltiges 
Einfluß auf Materie gewinnt, zur Not vielleicht 
mechanifch deuten fünnen im Sinne der Piydho- 
pbyfiologie und der Parallelismustheorie, nad 
der die materiellen Vorgänge in unverbrüc)- 
lichem Zufammenhang Stehen, ohne daß das 
Pſychiſche irgendwelchen Einfluß darauf bat, 
vielmehr nur ein bedeutungslofes „Epiphäno- 
men” darftellt, ift diefe mechaniltifhe Deutung 
bei den parapfgchifchen Phänomenen nicht mög: 
lih. Wir haben dabei nicht, wie im Körper, vor: 
bereitete Leitungsbahnen, auf denen das phy- 
fifhe Gefchehen ablaufen tann, Hier ift es im 
wahren Sinne des Wortes mit Händen zu 
greifen, daB Piychifches auf Materielles mirtt, 
indem Mechanismen irgendweldyer Art fehlen 
und die PBaraltelismustheorie ausfcheidet. Mit 
Recht betont übrigens Driefch, daß es fih auf 
dem Boden der vitaliftilcden Anfchauung nur um 
Diftanzunterfchiede handelt, eigentlich fei jede 
Aktion des Pſychoids auf den Mustel ebenjo gut 
„paraphyſiſch“ wie eine Materialijation. 


Wie man fieht, haben wir auf beiden Gebieten 
der Metaphyfit eine eigenartige Trennung des 
normalen Zufammenhangs von Leib und Seele 
und es fann nicht ausbleiben, daß die veränderte 
Stellung diefer beiden Reiche zueinander uns 
auch Seiten erbliden läßt, die bisher nicht fo flar 
hervortraten. Alles in der Metapſychik ſpricht 
ein gewichtiges Wort zu Gunften des Bitalismus 
und weiter zu Gunften der Wechſelwirkungs— 
theorie. 

Auch in erfenntnistheoretifcher Hinficht ſcheinen 
mir die metapſychiſchen Tatſachen von Belang zu 
fein. Die hellfeherifhen Erfahrungen werden 
allem Anfchein nah auf einem Wege gemacht, 
der von dem Wege, auf dem wir fonft unjere Er- 
fahrungen mittels unferer Sinne gu maden 
pflegen, gänzlidy abweicht, befonders die foge- 
nannten pfochoftopiichen (piychometriichen) Cr- 
perimente, bei denen die Berfuchsperfon an 
Hand eines Gegenitandes übernormale ganz 
Ipezielle Ausfagen über die Vergangenheit eines 


Gegenstandes und feiner Befißer macht, fcheinen 
mir es auszufcließen, daß irgendwelche phyfi- 
kaliſchen Reize dem Menſchen die Kunde von 
den Dingen übermitteln. Was nun die Seher 
auf Grund ihrer auf ganz andern Wegen er- 
haltenen Kunde fagen, ftimmt im wefentlichen 
mit den finnlidden Erfahrungen überein. Man 
fönnte diefe Tatfache im Sinne des erfenntnis- 
theoretifchen Realismus deuten, fie weilt darauf 
hin, daß gewiſſe Eigenfchaften den Dingen wirt- 
lid) zukommen. | 

Auch die zeitliche Vorfchau, deren Wirklichkeit 
von den Hauptgebieten der Metapſychik noh am 
unficherften ift, wollen wir einmal als erwieſen 
anjehen und zufehen, was fih daraus für meta- 
phyſiſche Folgerungen ergeben würden. Die 
Möglichkeit der zeitlichen Vorſchau ſcheint darauf 
hinzudeuten, daß eine menfchliche Freiheit nicht 
befteht, immerhin fragt es fih, ob diefer auf den 
erften Blid zwingende Schluß gerechtfertigt ift. 
Auch der Anhänger der Freiheit beftreitet ja 
nicht, daß die Handlung eines Menjchen auf nor- 
malem Wege bis zu einem gewiſſen Grade vor- 
ausfagbar ift, die freiheit ift alfo nur relativ. 
Außerdem ift die zeitliche Vorſchau mit zahl: 
reichen Fehlern behaftet; wenn wir davon ab: 
fehen, daß man mit den Skeptikern fagen könnte, 
die falfhen Vorherſagen feien die Regel und 
alles andere nur Zufall, jo tönnte man diefe 
Srrtümer entweder als Unpolltommenbeiten 
deuten, wie man 3. B. aud) bei einer als wirkſam 
anerfannten SHeilmethode Verſager fieht, man 
tönnte aber in dieſen Srrtümern auch den 
Tingerzeig fehen, daß eben eine gewiſſe, nicht 
porausfehbare Freiheit der Handlung beiteht. 

Wenn wir alfo auch diefe Frage vorerjt unent- 
ichieden laffen müffen, fo zeigt ſich dodh, daß die 
zeitliche Borfchau, zumal wenn wir fie erft ein- 
mal erperimentell ftudieren fünnen, berufen ift 
über folh wichtige Fragen, wie die menſchliche 
Freiheit, ein gemwichtiges Wort zu ſprechen, auch 
befteht begründete Ausficht, daß wir dann über 
das uns fo rätfelhafte Phänomen der Zeit zu 
neuen Auffchlüffen tommen. 

Ein anderes wichtiges Gebiet fei ausführlicher 
beiprochen. Bekanntlich geben manche Trance: 
äußerungen von Medien fidh fo, als ob die Mit- 
teilungen von einem Berftorbenen fommen; auf 
dDiefer eigenartigen Erfcheinung hat der Spiritis— 
mus fein Gebäude erridtet. Es muß aber gleich 
hier betont fein, daß dies nur eine Deutung 
ift; an fih würden die Phänomene aud eine 
andere Erklärung geftatten. Während alfo der 
Spiritismus eine unermwiejene voreilige Deutung 
des Tatbeftandes darftellt, die von vielen 


80 __________....._Metapfpchit und Weltanfhauung. 





Forſchern abgelehnt wird, tun die Gegner aus 
Untenntnis, Gedantenlofigkeit oder auh mit Ab⸗ 
fit jo, als ob Spiritismus und Okkultismus 
dasjelbe wären, vielfach anjcheinend, um damit 
den unfritifchen Beifterglauben dem wiſſenſchaft— 
lien Oftultismus an die Rockſchöße zu hängen. 
Anderfeits rüden aber manhe metapſychiſchen 
Forſcher von vornherein weit vom Gpiritismus 
ab und meinen, die Frage des TFortlebens nad 
dem Tode fei eine Frage des Glaubens und der 
Religion. I 

Dazu ift mandherlei zu bemerten. Die Frage 
des Fortlebens nah dem Tode, wie fie angeblich 
durh die Mitteilungen der Medien bewiefen 
wird, ift eine reine Tatjadhenfrage, wie aud 
Driefcd betont; follte auf irgend eine Weife 
diejes Fortleben mwifjenfchaftlich erwiefen werden, 
fo müßten wir das ebenfo wie irgend eine andere 
Tatſache der wiſſenſchaftlichen Erfahrung fühl 
und vorurteilslos annehmen. Bon diefer Frage 
aber verjchieden ift die Frage der Unfterblichkeit. 


Es könnte ja fein, daß dies Fortleben nur 
mehr oder weniger lange dauert, ja, wenn man 
fih einmal auf den Standpuntt ftellt, daß das 
Tortleben bewieſen ift, fünnte man mandes zu 
Gunften der Meinung anführen, daß diefes 
Hortleben nicht unbegrenzt ift. 

Aber, wie ich fon betonte, halte ich den Be- 
weis für das Fortleben nicht für erbradt, prin- 
zipiell befteht die Möglichkeit, die Mitteilungen 
der Medien auh animiltifch auf Grund hellfehe: 
riſcher und telepathifcher Fähigkeiten zu erklären. 
Zugegeben muß aber werden, daß die Erflä- 
tungen auf diefer Bafis vielfach doch recht ver: 
widelt find und man dabei dem lUinterbemußtfein 
Fähigkeiten zufchreibn muß, die in diefer Aus: 
dehnung fonjt nicht feitgeftellt find, während die 
jpiritiftifche Erklärung von beftechender Einfad)- 
heit ift, falls man den erjten Schritt tut. „Nur 
der erfte Schritt toftet etwas“, aber es fragt fid, 
ob damit das Erreichte nicht üb'rzahlt wird. 
Wenn alfo auh die Beweiſe der Spiritiften mir 
nicht zwingend zu fein fcheinen, fo darf man doh 
anderfeits nicht jagen, daß fie ohne Gewicht 
wären; gewiß find es Anzeichen (Indizien), die 
es g ftatten, ja nahe legen könnten, die Tatfachen 
in fpiritiftiijchem inne zu deuten, man darf alfo 
von einem Indizienbeweis fprechen, wie es deren 
viele in der Willenichaft gibt. Bei einem Jn- 
Dizienbeweis fann man vielfadh nicht fagen, 
wann er anerfannt werden foll, es ift 
tas in gemwilfen Grenzen Temperaments: 
und Gefhmadsfahe; aber es könnte dod 
der Zeitpunkt kommen, in dem man den 
Bemeis, wenn auch nicht für abjolut zwingend. 


-eng begrenztes — Fortleben, 


jo doch für fo gewichtig halten müßte, daß die 
Wagſchale fih zu feinen Bunften fentt. Auch ein 
lo £ritifcher Forfcher wie Po d more betont das. 


Welchen Wert hat nun die Metapſychik in reli- 
giöfer Beziehung? Auch hier möchte ich ihre 
Bedeutung im Gegenfaß zu einer großen Partei 
niht überjchäßen, ich meine aber, fie ift auch nicht 
ganz ohne Wert. Wie ich fchon erwähnte, halte 
ift es für verfrüht, wenn niht überhaupt für 
falich, die Metapſychik im Sinne einer myftifch- 
buddhiftifchen Religion zu deuten. Auch falls 
man die fpritiftilche Hypotheſe für erwieſen an- 
liebt, dann ift mit diefem Fortleben wenig ge- 
wonnen, denn der religiöfe Glaube verlangt nicht 
ein zeitlich begrenztes — vielleicht fogar ziemlid) 
iondern Un: 
terblicdheit und den Erfahrungsbeweis da- 
für tann der Spiritismus nicht geben. 


Aber damit ift der Spiritismus noh nicht er- 
ledigt. Insbeſondere geht es niht an, aus 
dem unbcdeutenden, ja vielfach läppifchen Cha- 
rafter der Mitteilungen Schlüffe nad) der Ridh- 
tung zu ziehen, daß es erjtens wenig wünſchbar 
fei, in diefer Art fortzuleben und außerdem auch 
recht unmwahrfcheinlih. Habe denn wirklich ein 
Iserftorbener nichts anderes zu fagen? Mit einem 
gewiſſen Recht weijen die auf dem Boden der 
Ipiritiftifchen Hypotbefe ftehenden Forſcher dar: 
auf hin, daB das Befremdende fortfällt oder 
wenigitens gemildert wird, wenn man annimmt, 
daß es die Traumfchichten der Seele find, die fidh 
äußern, gerade fo wie auch in diefem Leben vie 
Phänomene der Telepathie meift in einem 
traumartigen Zuſtande auftreten, außerdem 
werden uns die Mitteilungen dur) das Medium 
im Trancezuftand übermittelt; beides fönnte 
an dem läppifchen Charakter der Mitteilungen 
Schuld fein. 

Weiter wäre allerdings noh gegen die Be- 
deutung dieſer Tatfachen und ihrer ſpiritiſtiſchen 
Erklärung zu fagen, daß es überhaupt ein Mi- 
verjtehen des Religiöjen bedeutet, wenn man fih 
einen Glauben experimentell b:weifen will; es 
wäre das ein Verfennen des Weſentlichen am 
Glauben, der „über Vernunft und Wiſſenſchaft“ 
in einem Att bejfondcrer Art Stellung zu der 
Welt nimmt, und gerade in diefer Befonderheit 
fein Glüd findet. 

Aber ich meine, daß dennoch der Spiritismus 
nicht ganz ohne religiöfen Wert ift. Erjtens wird 
ein Menſch, der fi) von der Wirklichkeit des 
Spiritismus überzeugt zu haben glaubt, wenn 
er früher der Religion gleichgültig oder feindjelia 
gegenüberjtand, nunmehr ganz anders zur Reli- 
gion stehen, ftimmt er dod) in einem wichtigen 


Etwas über Algen und ihr Studium. ! 81 


Buntte mit ihr überein. So fann alfo der Spi- 
ritismus die Brüde zur echt religiöfen Ein: 
ftellung fein. Bielen Menfchen ift aber eine echt 
religiöfe Einjtellung niht möglich, für fie tann 


der Spiritismus eine Art Erjaßreligion bilden; 


fie finden bier ihre SJenjeitshoffnungen erfüllt 
und fühlen fih von der in gewiſſem Sinne idea: 
Iiftifchen Weltanfchauung, die ihrem Leben feinen 
Sinn gibt, befriedigt. Wenn man aud) die gei- 
ftige Höhe des heutigen an Allan Kardec und 
Davis antnüpfenden Spiritismus niht allzu 
groß bewerten mag, fo jtände nichts im Wege, 
ihn nach der Ritung hin auszubauen, die der 
geiſtvolle Fechner in feinem „Zend-Aveſta“ 
gewiejen hat. (Vgl. darüber meine foeben er- 
fchienene „Geſchichte der okkultiſtiſchen For- 
ihung“ Baum-Berlag, Pfullingen.) 

Damit ift jedoch die Bedeutung der Metapiy- 
hit für die Religion nicht erfchöpft.e Auch wer 
den Spiritismus ablehnt, wird troßdem durch die 
Anerfennung der metapſychiſchen Erſcheinungen 
den religiöfen Phänomenen gegenüber eine 
andere Stellung. einzunehmen geneigt fein wie 
der moderne Pofitivift oder naturaliftiiche Mo- 
nift. Wie wir oben ſahen, |prechen die meta= 
piychiſchen Erjcheinungen fo ftart wie feine 
anderen unferer Erfahrung für ein Reidh des 
Seelifchen, das nicht nur ein Erzeugnis materiel- 
fer Borgänge ift, fondern von ihnen unabhängig 
eriftiert. Und die Erfcheinungen [prechen weiter 
dafür, daß diejes Seeliſche uns alle miteinander 
verbindet und uns umgibt. Wir tommen alfo 


auf Grund diefer Erjcheinungen zu Borftellun- 


gen von einem überindividuellen Geelifchen, einer 
Weltſeele, wie fie der ftar? religiös eingejtellte 
Neuplatonismus und von Neueren Shelling 
und Eduard von Hartmann vertreten 
haben; ja auch mit einem theiftiichen Stand- 
puntt, wie ihn James in feinem Werte „Ein 
pluraliftifhes Univerfum” eingenommen bat, 
wären diefe Phänomene durchaus vereinbar, und 
es ftände wohl auch nichts im Wege, die Er: 
Scheinungen im Rahmen des landläufigen drift- 
lichen Theismus zu verjtehen. Jedenfalls find 
fie ein ftarfer Hinweis auf ein felbjtändiges 
Reih des Geiltigen. 

Zufammenfajjend wird man fagen dürfen, daß 
die metapſychiſchen Erfcheinungen weder die Be- 
fürdhtungen der Naturaliften noh die Hoffnun— 
gen der magifchen Sdealiften rechtfertigen; es 
ift nicht einzufehen, daB diefe Dinge nicht ebenfo 
gut oder fchlecht rational verjtehbar find wie 
viele andere Dinge unferer Erfahrung; jeden- 
falls liegt fein Grund vor, fie als irrational von 
vornherein abzumweifen. Weiter fahen wir, daß 
die Phänomene vermöge ihrer Eigenart von 
großer naturtheoretiicher und metaphyſiſcher 
Bedeutung find, da fie die beiden Hauptgebiete 
unferer Erfahrung, das phyſiſche und das piydji- 
idhe, in einem ungewöhnliden Zufammenhang 
zeigen und dadurch uns fonft nicht befannte Be- 
ziehungen zu ftudieren gejtatten. Und auch der 
religiöfe Wert der Phänomene darf, wenn man 
aud die Anfprüche der Theofophen zurüdmweijen 
muß, nicht gering geſchätzt werden. 


+ 


= e measa i m —— — 
— ⸗ — TI 2 


Etwas über Algen und ihr Studium. Bon 6. R. Bieter @ 





: „Saft du felber an was Spaß — 
So erzähle andern das.“ 
Ariftoteles, II. Band, 2. Teil. 


Nun bin id) mehr als 60 Jahre alt geworden 
und wußte nohh bis vor kurzem jo gut wie nichts 
von Algen. Warum und Woher ih nunmehr 
Wiſſenſchaft über fie habe, will ich erzählen. Zu: 
nächſt ftelle ich folgendes feft: Diefe halb tieri- 
ichen, halb pflanzlichen Gebilde können, wenn es 
gut g:ht, dreihundert Meter lang werden. Es 
gibt eine Sorte Algen — fie trägt den leicht zu 
behaltenden Namen Dedogonieae —, die den 
Frauenrechtlerinnen bejonders gut gefallen wer: 
den, denn in ihr gibt es nur „Zwergmännchen“ 
— fie find nur fo eine Art Nebenproduft der 
Weibchen. Es gibt Algen der allerverfchiedeniten 
Geſtalt, der berrlichiten Farben, vom dunflen 
Rot bis zum Schönen Weih. Man kann, wenn 


man Zahnmeh und die nötigen Apparate hat, 


. aus dem Meerestang, der zu den Algen gehört, 


Jod machen und damit das Zahnfleifch bepinfeln, 
und wer das nicht nötig hat oder nicht will, tann 
„Tang“ durch eine kleine PBeränderung zu 
„Dung“ maden und ihn auf den Ader ftreuen, 
oder fann auch mit gemilfen Sorten Bich füttern. 
Dies alles weiß ich feit vierzehn Tagen aus 
Meyers Konverfationsleriton vierter, gänzlich 
umgearbeiteter Auflage, Seite 341—346. Wa- 
rum ich dies aber dort las und lernte, will ich 
nun, um auch andere für das Studium auf 
dieſem intereffanten Gebiete zu begeijtern, mit: 
teilen. Da aber, wie oben erwähnt, manhe 
Algen 300 Meter lang werden, fo fann aud) 
meine Ausführung nicht fo ganz furz fein. 

Am 3. April 1764 wurde Frang Carl Mertens 
in Bielefeld geboren als Sohn eines preußifchen 


82 


an der Bielefelder Akziſe mit acht (!) Talern 
im Monat angeftellt wurde. Da er feiner Länge 
wegen unter Friedrich Wilhelm I. als Soldat 
eingezogen war, fah der Bater mit Schreden und 
Grauen feinen kleinen Fr. C. — es fei diefe Ub- 
fürzung geftattet — unheimlich fchnell empor- 
wachſen. Der Länge des Sohnes entipracd die 
Höhe feines Tleißes. Aber wie zwei Schweine 
beffer freffen als eines alleine — in einem Blatte 
für „Naturfreunde“ ift dies Gleichnis wohl er- 
laubt! — fo lernen auh zwei Knaben beffer zu» 
fammen als jeder für fih. Darum ließ der 
Bielefelder Bürgermeifter, Brand, Fr. C. ges 
meinfam mit feinem Sohne in den alten 
Sprachen und dergl. unterrichten und zwar mit 
ſolchem Erfolge, daß Fr. C. Ion mig fünfzehn 
Jahren anderen Knaben Privatftunden gab und 
eine kleine Summe für das fpätere Studium 
der Theologie erfparte. Da traf den faum 
17jährigen Jüngling der harte Schlag, daß er als 
Soldat eingezogen wurde. Als es dem Bürger: 
meifter gelungen war, ihn gu befreien, fam ein 
neues Unglüd: es erblindete der Bater; feinem 
Stellvertreter mußte er von den acht monatlichen 
Talern, wovon fünf Perfonen leben follten, drei 
abgeben. Mit blutendem Herzen brauchte die 
Familie die Beinen Erfparniffe des Fr. C. auf. 
Aber er erhielt ein Stipendium von 87 Talern, 
mit dem er die Univerfität Halle brzog. Des 
blinden Baters Abfchiedsworte lauteten: „Ich 
bitte Did, Fr. C., tomme mit einem unbefledten 
Herzen zurüd.” Unter Entbehrungen, wie fie 
felbft heutige, arme Studenten faum tennen, 
jtudierte Fr. C. Theologie. Der Aufforderung 
eines Profeflors zu predigen fonnte er nidt 
nadhtommen, weil er weder einen fchwarzen 
Rod noch ſchwarze Strümpfe befaß, die unter 
anderem für eine Predigt damals nötig waren. 
Rah einigen Anjtellungen in "Bielefeld und 
MWandsbe wurde er Lehrer am Pädagogium in 
Bremen, mit einem Gehalt von 400 Talern. Für 
diefes Gehalt mußte er von Morgens fieben bis 
Abends aht Uhr mit einer einftündign Mit- 
tagspaufe in der Schule unterrichten; hinterher 
gab er noch Privatitunden. 
bürdung bradte Fr. ©. feine Schule auf eine 
vorbildliche Höhe; als das Bremer Bädagogium 
in die „Handelsichule“ umgeändert wurde, ward 
er ihr erfter Direktor. Mit 26 Jahren verheiratete 
er fi) und war jehr glüdlich. 

Nun kommen wir den Algen näher! Jn feinen 
fnappen Mußeftunden hatte fih Fr. C. ſchon als 
Knabe mit Botanik beſchäftigt. Er kannte die 
ganze Flora von Bremens Umgebung. Dadurch 


Trog diejer Ueber- 


Gtwas über Algen und ihr Studium. 
Feldwebels, der nad) dreißigjähriger Dienitzeit 


wurde er mit einem Arzte in dem drei Stunden 
entfernten Begefad, Dr. Roth, befannt und von 
ihm in die Algenkunde eingeführt. In aller 
Frühe lief Fr. C. des Sonntag morgens nad; 
Vegeſack, im Sommer wie im Winter, auch im 
Ihlimmiten Wetter; und Nachts im Dunteln 
zurüd. Georg III. von England hatte als Rur- 
fürft von Hannover diefem Dr. Roth fo viel Land 
an der Wefer gefchentt, wie er haben wollte. In⸗ 
folgedeffen legte Roth fih einen großen Garten 
an, in dem er alle möglichen Pflanzen fo ſorgſam 
aufzog, wie ein Bater feine Kinder. Da er einen 
reihen Schwiegervater hatte, jo baute er fih in 
Hoffnung auf fein fpäteres Erbteil ein Wohn- 
und ein Treibhaus. Aber als er gerade darin 
eingezogen war, madjte der Schwiegervater 
Bankerott, und Dr. Roth mußte fein Leben lang 
die Schulden abtragen. Daraus tann man lernen 
ſparſam zu fein, fo lange man felbjt noh nichts 
in der Tafche hat. 

Dr. Roth hat das Verdienſt, feinen vier- 
zig Jahre jüngeren freund Mertens in die 
Schönheit und Mannigfaltigfeit der ihm’ bis- 
her unbefannten Algenwelt eingeführt zu 
haben. In dem denfwürdigen Orte Rigebüttel 
erblidte Fr. C. zum erften Mal das Meer, und ein 
brennendes Verlangen erfüllte ihn, feine Ge- 
heimniffe zu erforſchen. Ganze Kiften und Kajten 
von Algen fchleppte er nach Haufe und ftellte 
mifroftopifche Unterſuchungen mit ihnen an, 
trodnete fie ab, bejchrieb fie, und widmete Jahre 
lang jede freie Minute diefen feinen Lieblingen. 
Jn Bremen hatte er viel Gelegenheit, in die 
gerne jeg:Inde Kapitäne mit Erfolg um Ein— 
fammeln von Algen zu bitten. So wuchs feine 
Sammlung bald zu der bedeutenditen in Deutfch- 
land an. Pflanzen, die fih nicht konſervieren 
ließen, zeichnete er jo fein und anmutig in bunten 
arben ab, daß fie jedes Künjtlerauge erfreuten. 
Botanifer aus ganz Europa baten ihn um 
Doublctten, aber einen Verleger für fein erites 
foloriertes Wert fonnte er trog feiner Berühmt: 
heit nicht finden. Man kann fagen: ein wahres 
Algenfieber ergriff Mertens. Er vergaß jede Rüd» 
fiht auf feine Gefundbheit, und wenn ihn nicht feine 
Botanifiergänge immer wieder zu weiten Wan- 
derungen veranlaßt hätten, hätte fein von Natur 
fräftiger Körper fchon viel eher verjagt. 


Der Beruf und die Algophilie füllte Fr. C.'s 
Leben fo aus, daß er feine Zeit hatte, fih um das- 
politiihe Leben viel zu befümmern. Aber 
Napoleon war roh genug, jeinerjeits Mertens 
Studium durch die Kontinentaljperre zu ftören, 
die das weitere Einlaufen von Algen durd 
freundliche Kapitäne ſowie feinen Briefwechfel 


Etwas über Algen und ihr Studium. 83 


mit englifchen Botanitern hinderte. Und was nod 
Schlimmer war: Die Sperre ward Schuld, daß 
die Eltern der englifchen Penſionäre, die bei ihm 
wohnten, fein Geld für den Unterhalt der Söhne 
herüberfchiden konnten. So fam Mertens famt 
jeinen Algen in manhe Schwierigkeit. Ueber⸗ 
haupt war feine Lieblingsbeichäftigung nicht ohne 
Gefahren. Die beiden Freunde, Roth und 
Mertens, waren nad) der Inſel Fehmarn ges 
jahren; fie entfernten fih jo weit vom fichern 
Strande, daß fie von der Flut überrafcht wurden 
und beinahe, beide Arme voll Algen, ertrunten 
wären. Wie fie das angeftellt haben, da die 
Ditjee keine Flut und Ebbe tennt, tann ich nicht 
angeben. Uber, wie der geehrte Lefer wohl fchon 
gemerft hat, fonnte Mertens ja mehr als 
andere Leute. Eines Nachts rutfchte unfer Freund 
auf der Rüdmwanderung von Vegeſack den Deidy 
herunter. Er wäre unfehlbar in die Wefer ge- 
fallen, wenn nicht ein alter Weidenbaum den ab- 
mwörts rollenden Gelehrten aufgefangen hätte, 
jo daß nur der Hut und die von Dr. Roth ge- 
ſchenkten Algen in den Strom taumelten. Es ift 
ergreifend, daß ein Baum, alfo eine Pflanze dem 
großen Freunde der Pflanzenwelt das Leben 
retten mußte! Diefem unbewußtem Dante der 
Pflanzenwelt fchloß* fih die Gelehrtenwelt mit 
Bemußtjein an: 


. Halle ernannte ihn zum Dr. phil., die akade⸗ 
mifche Naturforfchervereinigung Wiens machte 
ihn zu ihrem Ehrenmitgliede, ebenfo ähnliche 
Geſellſchaften in Philadelphia und Paris, in 
Regensburg und Hannover, in Lund Ind Halle. 

Die höchſte Ehre, die einem Botaniker begeg- 
nen fann, ift die, daß eine Pflanze feinen Namen 
erhält. Auch diefe Ehre ward Fr. C. eine Zeit 
lang in hohem Maße zu Teil, indem in allen 
Weltteilen entdedte Pflanzen den Namen 
„Mertenfia” erhielten. Allerdings ftellte fich bei 
vielen heraus, daß fie {hon anderweitig befannt 
und benannt waren, aber der Lejer weiß, daß 
einige Gewächſe noch heute als „Mertenfis“ be- 
zeichnet werden. Und diefen Ruhm erreichte Fr. 
C., obwohl er noch immer zwölf Stunden Unter: 
richt täglich gab! Dabei führte er noh einen leb- 
haften Briefwechfel mit nachweislich 43 Gelehrten. 


Eine der fchwierigften Tragen ift die der Ber- 
erbung. Es fcheint, daß fie auf dDiefem Gebiet der 
Algenforfchung gelöft ift; denn Mertens hatte 
einen Sohn, der jhon mit 18 Jahren eine große 
Berühmtheit in diefem Fache war. Als Mitglied 
eines freiwilligen Corps marjdjierte er mit in 
Paris ein. Wie waren die großen Naturforicher 
an der Seine erjtaunt, wenn ein blutjunger 
preußifcher Soldat bei ihnen eintrat und fofort 


mit ihnen über Algen verhandelte. Hier lernte 
er auch den febr reichen Algologen Turner aus 
Darmouth kennen, der ihn mit über den Kanal 
nah Zondon nahm. Jn beiden Hauptitädten 
ward Heinrich befchworen, feinen Bater zu 
Ihiden, auf deffen Schäße und Kenntniſſe man 
erft recht begierig war. So machte fih der Bater, 
dem der Sohn die Wege fo fchön bereitet hatte, 
1816 auerjt nah Paris auf. Er fchreibt: „Paris 
fieht wie ein unaufgeräumter Ballfaal am Mor- 
gen nad) dem Balle aus. Die Beamten find auf 
ein Drittel ihres Gehaltes geſetzt, die Wiſſen⸗ 
Ichaften jchlummern.” Seine fünfzig feltenften 
egotifhen Algen, feine feinften Zeichnungen, 
feine ſchönſten Befchreibungen, feine teuerften 
Bücher hatte er in eine Kiſte gepadt und fie auf 
einem GSegelfchiffe gleich nah London gefandt, 
wo er von Gelehrten wie Labillardidre, Juffien 
uſw. in Paris reich befchentt, im Haus feines 
älteften Sohnes antam. Zunädjft überzeugte er 
fih von der glüdlichen Ankunft feiner Kifte und 
befuchte dann die berühmteſten Botaniker Eng- 
lands auf ihren Gütern. Unter ihnen befaß Lord 
Bulad ein Privatmufeum mit fünfzehntaufend 


. Gegenftänden, die in einem Katalog von 149 


Seiten überſichtlich zufammengeftellt waren. Es 
befand fi) u. a. eine Sammlung von Farren, 
Moofen und Weiden darunter, wie die Eng- 
tänder überhaupt ein mertwürdiges Intereſſe 
für Weidenbaumfammlungen hatten. Mertens 
hatte viel Gelegenheit, mit feinen Kenntnifjen 
zu glänzen, ohne es au wollen. Unbekannte 
Pflanzen vermodte er meiſtens fofort zu be- 
ftimmen, falſch beftimmte in die richtige Klaſſe 
einzuordnen. 
Und nun tam der große Tag, an dem er einer 
Reihe von Gelehrten feine Schäße vorlegen follte, 
im Anfchluß an einen Vortrag über die Algen. 
Wer befchreibt fein Entfegen, als er am Abend 
vorher die Kifte öffnet und nur Steine darin 
findet und Heu, das noch dazu verjhimmelt war. 
Eine Arbeit von 18 Jahren, von vielen taufend 
mitroftopifchen Unterfuchungen, war vergeblid) 
gewefen; im buchftäblichen Sinne: unerjeßliche 
Schäße waren für die Wiſſenſchaft verloren! 
Mertens war wie zerichlagen. . Er fonnte die 
Nacht nicht fchlafen, er erfchien leichenblaß vor 
der Berfammlung und teilte ihr unter Tränen 
fein Unglüd mit. | 
Diejer Diebitahl, jo muß leider der Wahrheit 
gemäß berichtet werden, war ſchon auf der 
Meier, alfo in Deutjchland, begangen. Ein 
Cdiffsjunge hatte die Kiſte erbrochen und in 
feinem Xerger, feine Eßſachen darin zu finden, 
den Inhalt herausgenommen und in Vegeſack 


84 Etwas Über Algen und ihr Studium. 


an einen Juden verſchachert. Diefer hatte die 
meilten Blätter als Einwidelpapier an Laden- 
geichäfte verkauft; die fchönften bunten Beid 
nungen hatte er als Bilder verfchleudert. So 
war die Sammlung in alle vier Winde zerftreut. 
Nur langjam erholte fi) Mertens von diefem 
Schlage. Er war ja aud) in der Tat fehr fchwer, 
und es tam aud noch hinzu, daß damals — in 
den erfiten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts — 
in vielen Kreifen Deutfchlands fchon fowiefo eine 
febr rührfelige tränenreiche Stimmung herrichte. 
Aber noh mehr Grund als zum Weinen um 
Algen follte Mertens, der von fih fagen durfte: 
„Ich zweifle, daB zehn Menfchen in ganz Bremen 
mehr arbeiten als ich“, befommen. Zunächſt 
arbeitete er zufammen mit Dr. Rod) an der Her: 
ausgabe der „Flora Deutfchlands“, deren Fertig- 
jtellung fih durch acht Jahre hindurch erftredte. 
Die Erſparniſſe, die er durch Privatitunden oder 
Schriftitellern erwarb und die er in einer mit 
trodenem Qugzerner Heu (Medicago sativa L.) 
gefüllten Blechdoſe fchlau verborgen hatte, be- 
nute er 1820 zu Reifen nach Dänemark und 
Schweden. Der König leßteren Landes ließ fih 
von dem großen Botaniker darüber belehren, 
was alles an fchönen Gewächſen in der Tiefe 
feines Meeres zu finden fei. 

Der Sohn Heinrih tat es indeffen nicht 
unter einer dreijährigen Reife um die Welt, 
die Nicolaus I. von Rußland zu willen: 
ihaftlihen Zwecken ausgerüftet hatte. Bon 
ihr brachte er mehr als zweitaufend Algen 
und Phanerogamen mit. „Sollte ih es 
wohl erleben, von Deinen Schäßen noh etwas 
zu jehen zu befommen?“ fchreibt der 67jährige 
Bater erwartungspoll. Jndeffen befchreibt, gra- 
viert, zeichnet, unterfudht Heinrich feine herr: 
lihen Schäße in Petersburg; Bater und Sohn 
eröffnen fozufagen ein Rompagniegefchäft in der 
‚Algentunde, wobei einer den andern bereichert. 

Nur zaghaft ließ Vater Mertens noch einmal 
feinen Sohn in die weite Welt ziehen, — aber 
es handelte fih um eine neue Entdedung gelieb- 
ter Algen. Ein ruſſiſches Kadettenſchiff follte 
nach IJsland fahren, das reiche Beute verfprad). 
Es ift rührend zu leſen, wie Paterliebe und 
Algenliebe in dem Herzen von Fr. C. kämpften: 
einerfeits die weite Reife, die eifige Gegend — 
andererjeits die dort zu erhoffenden neuen 
Schätze! Die Hoffnung überwand die Furcht; 
Heinrid) fuhr ab. Schon fah man vom Schiff 
aus die Gletſcher und Schneeberge IJslands, 
feine grünen Weiden, feine fchwarzen Telfen da 
liegen, — das Algenherz Heinrichs fchlägt in 
ftürmifchen Schlägen —, da teilt der Kapitän 


ihm mit, daß die angefichts Islands zu eröffnende 
Schiffsorder laute: „Ohne zu landen nah Kron= 
ftadt umkehren!“ Ja, die Algen fordern harte 
Opfer von denen, die fich ihrem Dienfte ver: 
ichrieben haben. Aber nicht genug mit diefer 
Enttäufhung! Auf der Rüdfahrt brah an Bord 
Typhus unter der Mannfchaft aus; wie ein Held 
juht Heinrich ihn Tag und Nacht zu befämpfen 
und die Kranten zu pflegen. An Leib und Geele 
geſchwächt fommt er in Petersburg an; tiefes 
Heimweh ergreift ihn, aber ehe er die Seinen 
wiederfieht, ftirbt er am 29. September 1830 
in dem fernen Lande. Anderen dienend, ver: 
zehrte er fid. 

Indeſſen ift in Hamburg die große Natur- 
forfcherverfammlung und Bater Mertens ihr 
Mittelpuntt. Frau und Tochter hat er mitge- 


nommen, damit fie die fehnfüchtig ermartete 


Rückkehr Heinrichs im Hafen miterleben möchten. 
War der Bater doch ebenfo als Bater me als 
Gelehrter auf diefen Sohn ftolg. Einftimmig 


wählten ihn die Teilnehmer zum Borfißenden 


der botanifchen Abteilung; in- wie ausländifche 
Gelehrte feierten ihn neidlos als den Größten 
in ihrer Mitte, fo daB der befcheidene Mann 
durh alle Ehrungen fidh tief bedrüdt fühlte. 
„Ich habe nie,“ fo fchreibt er, „in meinem ganzen 
Reven in unfhuldigen Genüffen aller Art fo 
gleichfam gefchwelgt wie in diefen zwölf Tagen. 
in Hamburg.” Ein faft unleferlich gejchriebener 
Brief voll Hoffnungslofigfeit und Heimweh 
Heinrichs erwedte in den Eltern die trübjten 
Ahnungen, und nad) vierzehn Tagen traf fie der 
ſchwerſte Schlag: die Todesnacdricht des hoff- 
nungspollen Eohnes. So febr der Bater fidh 
bemühte, fidh tapfer und gläubig in Gottes dunkle 
Wege zu finden: fein Leib wie fein weiches Ge- 
müt brachen unter diejer Raft zufammen. 
Profeſſor Poftels und Dr. Franz Ruprecht 
ordneten in Petersburg den — vor allem von der 
Weltreife her ftammenden — Algennadjlaß. Nico- 
laus I. ftiftete dafür zehntaufend Rubel, ferner 
250 Tsreieremplare des fünjtlerifchen Großfolio- 
Bandes, in dem Heinrihs Schäße veröffentlicht 
wurden. Dem Bater ficl die wehmütige Auf. 
gabe der Korrektur der Zeichnungen und Blätter 
au. Der Eine fäet, der Andere fchneidet! Afıhma 
und Rheumatismus plagten den fchwer geprüf- 
ten Mann immer ftärfer, ohne ihm fein Gott« 
vertrauen rauben zu fünnen. Selbſt feine Lieb- 
linge, die Algen, fonnten ihn niht mehr auf- 
muntern; fie wurden ihm zum Ballaft auf feiner 
legten Reije, den er über Bord warf. Am 18. 
Juni 1831 ging er ruhig heim, mit Gott und 
ollen Menſchen im Frieden. Er hinterließ in 


Wie man bie Sterne hören tann. 85 


442 Großfolio-Kartons mehr als dreißigtaufend 
getrodnete Pflanzen, die auf das fauberfte ge- 
ordnet waren. Es war das größte Herbarium, 
das je von einem Einzelnen angelegt ift. Leider 
fand fih weder in Bremen noch in Deutfchland 
Intereſſe dafür. Der Direktor des kaiferlich ruffi- 
jhen botanifchen Gartens in Petersburg faufte 


es für 7000 Taler Bold an, wodurch nicht nur 


für die Zukunft diefes Herbariums, fondern auh 
für die Witwe des Gelehrten erfreulich gejorgt 
war. Co jtatteten die Algen ihrem Entdeder 
über fein Grab hinaus fozufagen ihren Dant 
ab, wie denn überhaupt, um mit einem Worte 
in Goethes Stil zu ſchließen, die eingehende Be- 
Ihäftigung mit der Natur einen gar fehr bedeu- 
tenden Einfluß auf das Leben des Menichen hat. 


Wie man die Sterne hören fann. Bon Stusiendirettor Dr.M. Mütter. 


Nah dem griediichen Philojophen Pythagoras geht 
die Bewegung der GBeltime im MWeltenraum niht ge- 
räuſchlos vor fi, fo wie wir uns beim Anblid des 
Sternenhimmels uns das gewöhnlich wohl vorftellen, 
jondern: wie eine Kugel, die wir an einen Faden binden 
und nun ſchnell mit der Hand herumſchwingen, einen 
ſauſenden Ton erzeugt, fo meinte der griechiſche Weife, 
ergebe fidh aud bei der Bewegung der Weltentörper 
durch das Weltall eine fürmlide „Harmonie der 
Sphären“ aus dem Zufammenfluß des Tönens der ein- 
zelnen Körper zu einem harmoniſchen Weltakkorde. 
Goethe denkt an diefje Vorftellung, wenn er in feinem 
„Hauft“ den Erzengel Raphael den Lobpreis des Herrn 
beginnen läßt mit den Worten: 


Die Sonne tönt nad) alter Weife 
In Bruderfphären Wettgefang .. . 


Bir. Menſchen vernehmen die Harmonie der Sphären 
nit, die nad) der Yauftitelle allein jhon die Herrlid- 
teit der Schöpfung verfünden würde. Ift es, weil man 
etwas, das man dauernd gleihmäßig hört, jchließlich 
gar nicht mehr wahrnimmt? Wie ja auh der Müller 
in feiner Mühle oder der Arbeiter in der Fabril erft 
dann aufhorchen foll, wenn die Maſchine zum Stillſtand 
tommt? 

Wenn nun im folgenden von einer neuen Erfindung 
berichtet wird, die es ermöglicht, die Sterne wirklich zu 
„hören“, jo handelt es fih freilih nicht um das un- 
mittelbare Hören des Saufens der Sternenfugeln, fon- 
dern genauer um das Hören des Sternenlichtes. Wenn 
ein Sternenſtrahl bei der Wanderung eines Sterns in 
eine bejtimmte Stelle eines Inftrumentes einfällt, jo 
löft er eine eleftrijche Wirkung aus, und diefe wird in 
eine Schallbewegung umgewandelt, die man dann ab: 
hören tann. Das ift das Wefentlicje bei der neuen Er— 
findung, die rein praktiſch zunädjft die Bedeutung hat, 
dab man die Zeit (die legten Endes Sternzeit ift!) ge- 
nauer als bisher, rein mechaniſch, mit Ausſchaltung der 
Vehlerquellen des menſchlichen Beobadhters, beftimmen 
oder, wenn man will, — abhören tann. Diefe vorläufige 
Andeutung wird jofort verftändlicher werden, wenn nun 
näher auf die neue Erfindung eingegangen wird. 

Wie geht denn jeht die Zeitbeftimmung vor fi? In 
den aftronom:jhen Obfervatorien — bei uns in Pots- 
dam, in England in Greenwich uſw. — figi der Be- 
odachter vor feinem Teleflop. Er richtet feinen Blid 
angeipannt auf einen bejtimmten Stern, der langjam 
feine Bahn befchreibt. Nun läuft quer über die Linſe 


feines Inftrumentes ein feiner Draht, — mie das 
Fadenkreuz in unſern Militärferngläfern. Im Augen- 
blid, wo fein Stern den Draht überſchreitet, drüdt er 
auf einen Knopf: und nad diefem Zeitpuntt werden 
die überaus genauen Feitmefler des Obfervatoriums 
eingejtellt oder verbeflert. Uber ein menſchlicher Be- 
obachter bleibt immer ein Menſch: die Zeit vom Pe- 
obacdhten des Sterns bis zum Drüden des Signaltnopfes 
ift vielleicht febr, jehr klein, aber es ift immer eine Beit- 
ipanne von gewiffer Dauer, die noh dazu bei ver- 
ſchiedenen Beobachtern, ja fogar bei demjelben Beob- 
achter, wenn er einmal frijd, das andere Mal müde 
ift, verfchteden fein tann. Es fommt aber auf aller: 
tleinfte Bruchteile von Sekunden an, ſonſt jtimmt eine 
ganze Reihe wiſſenſchaftlicher Berechnungen niht, die 
in letter Linie auf der Sternzeitmefjung beruhen: Pol- 
abplattung der Erde, Verſchiebung der Feſtländer der 
Erdoberflähe ujw. Zwei Franzoſen, Ferrie und Iou- 
auft, haben nun einen Apparat erfunden, der den menje- 
lihen Beobachter und damit das jubjeltive Element 
ausichaltet. Die Umjegung des Lichtfignals in ein elef- 
triides bewirten fie mittels der fogenannten photo-elet- 


triihen Belle. 


Ihre Wirkung beruht auf der Tatjache, daß gewiſſe 
Elemente, wenn fie beleuchtet werden, kleinſte Teilen 
Elektrizität abgeben. (Wir müffen — nad) den neue- 
ften Forſchungen — uns die Elektrizität tatſächlich wie 
einen Stoff vorjtellen, und die kleinſten Clektrizitäts- 
teilden nennt man in der Sprade der Wiſſenſchaft: 
Elektronen.) 3u den Körpern, die bei Beltrahlung 
Clettronen ausfenden, gehört aud) das Metall Kalium. 


"Mit Luft oder Waſſer zufammengebradt, reagiert es 


febr heftig, indem es fih gierig mit dem in der Luft 
wie im Waſſer enthaltenen Sauerftoff zu vereinigen 
trachtet. Man fchließt es daher in Form eines Metall- 
plätthens in eine luftleere Glasbirne ein, die ftatt Quft 
Argon oder Helium enthält, beides fehr träge Gafe, die 
fi mit dem Kalium nicht verbinden. Das ift im 
wejentlichen die photoeleftriiche Zelle, in die auf der 
einen Geite durch einen Glasfenfterfpalt der Strahl 
fällt, der die Elektronenausftrahlung auslöfen foll. Die 
Elektronen Strömen in den Raum, den das träge Gas 
einnimmt, und fpalten einige der Gasatome, die da- 
durch 3u Eleftrizitätsleitern werden, was bewir!t, daß 
nunmehr ein eleftriiher Strom leichter durch die Zelle 
hindurchgeht als vorher. Dieje Veränderung der Leit- 
fähigkeit ift mittels eines Metallringes mekdar, Ser in 


In —— 


- -a 
— 
* X 22 ze .. ” 


86 Das neue Windkrafiſchiff. 


der Birne angebracht und mit einer elektriſchen Batterie 
verbunden ift. 


Wie die Ausmaße der Elektronen winzig klein find, 
— Milliarden gehen auf eine Nadelſpitze, — fo ift auf) 
die Zeit, die Der ganze Vorgang dauert, unendlicd Klein. 


Wir haben nun, grob geſprochen, Licht in Elektrizität 
umgewandelt. Ganz winzig ift die in Frage fommende 
Strommenge. Aber wir haben ein Mittel, winzige 
elektriſche Wechſelſtröme zu verftärten, ſowie durch ein 
Mitroftop winzige Gegenſtände dem Auge vergrößert 
werden. Das ift die jedem Funkfreund bekannte Elek⸗ 
tronenröhre oder Glühkathodenröhre. Mittels einer ge- 
eigneten NRadioapparatur ift es den oben genannten 
Erfindern in der Tat gelungen, den Strom fo zu ver: 
ftärten, daß er als Radiowelle weitergefandt werden 
tann. Die Umwandlung einer eleftriihen NRadiowelle 
in eine Schallwelle aber ift eine alte Sade, jeder Funt- 
freund „hört“ ja dauernd „Elektrizität“. 


In der Pragis geht die Sade nun fo vor fidh, dab 
der Gternitrahl durh das Teleftop — ftatt in das 
Auge des Altronomen — in die photoelektriſche Zelle 
fällt und die gejchilderten Vorgänge auslöft, jo daß man 
in leter Linie im Radioapparat einen deutlichen Ton 
hört. Genauer: in dem Augenblid, wo die Erde auf 
ihrer Bahn fo weit ift, daß es fcheint, als fei der 
beobachtete Stern Hinter den Draht des Teleflops ge- 
langt, ift der Lichtjtrahl einen Augenblid unterbrochen; 
der im Funkapparat abgehörte Ton ijt im felben Augen: 
blid ein anderer. So fann man Gternzeit mechaniſch 
meſſen, jo tann man, wenn man will, die Sterne fingen 
hören, jeden Morgen und jeden Abend. 


„Scientific American“, deffen Bericht über die neue 
Erfindung ich hier wiedergegeben habe, knüpft daran 
eine reizvolle Betrachtung mit Ausbliden auf weitere 
Möglidjteiten, die fi aus der Erfindung ableiten laffen, 
wenn man befonders die Ummwandlung von einer der 
ſechs Energiearten (Licht, Bewegung, Wärme, Schall, 
Elektrizität, demifche Affinität) in eine andere ins Auge 
faßt. — Auf folden Ummandlungen einer Art von 








Der Name Flettners, der heute überall ges 
nannt wird, ift in den Kreiſen der Seeleute und 
der Luftjchiffer Schon länger befannt. Bor Jah- 
ren trat nämlich der genannte Erfinder mit einem 
eigenartigen Ruder an die Deffentlicjkeit, das 
bier nicht übergangen werden foll, weil feine zu— 
nehmende DBerwendung es gemillermaßen als 
etivas immer Neues erfcheinen läft. 


Uinfere erfte Skizze Stellt das Yletiner-Ruder 


dar. Sie maht nicht den Anſpruch, die Formen 
des wirklichen Upparates zu zeigen, jondern fie 


- im Grunde unzulängliden, Einfällen abgeſehen, fehlte 


Dag neue Windkraftſchiff. Von Hans Bourquin. 




















Energie in die andere beruht ja ein weſentlicher Teil 
menſchlicher Ziviliſation; immer, wenn eine neue Um: 
wandlungsart gelang, ergab fih ein gemaltiger Fort: 
Ichritt auf techniſchem Gebiete (Wärme in Bewegung: 
Dampfmaſchine; Bewegung in Elektrizität: Dynamo; 
Elektrizität in Licht: Glühfaden, Elektrizität in Schall: 
Telephon ufm.). 

Bon dem Optophon Fournier d'Albes und ähnlichen, 


in der Reihe der mögliden Energieumwandlungen vor 
allem die von Licht in Elekirigität.‘) Die photoelektriide 
Zelle in Berbindung mit dem Radioapparat bedeutet 
hier einen neuen Meilenftein auf dem Wege. Der Be: 
tihterftatter denkt bei feiner Zutunftsmufit vor allem 
daran, daB ja in der Tat die größte Menge 
von Energie uns in Form von Kit zuſtrömt 
Es ift das Sonnenlicht. Was wir täglid davon 
erhalten, fommt der Arbeitsleiftung von 80 Milliarden 
Tonnen Kohle gleih! Mit dem Sonnenidein eines 
Tages könnten die Räder aller Fabriten der Welt in 
Gang gebracht, alle Eifenbahnen und Schiffe auf über 
20 000 Jahre gefahren werden! Nur wir haben nid 
das Mittel, die Lichtenergie in eine paflendere Energie: 
art zu verwandeln. Dürfen wir hoffen, daß eine ferne 
Zukunft die Aufftellung einer Unzahl von photoeleltri- 
[den Zellen erlebt, die alle Werte der Welt mit nie 
verfiegendem Cnergievorrat [peifen? Der Ameritaner 
ſelbſt ift zurüdhaltend mit Prophezeiungen, erinnert 
aber daran, daß auh Edifons erfte elettrifche Lampe 
oder Marconis erfte Verſuche wenig mehr waren als 
wiſſenſchaftliche Spielereien. Und Ferriés Erfindung be 
deutet ihm mindeftens ebenfoviel, — einen erften Schritt 
auf einem Wege zu einem nod ferneren größeren iel. 


1) Wiſſenſchaftlich geſprochen find Lichtwellen von elet: 
trifhen Wellen nur durch ihre größere bezw. fleinere 
Länge verſchieden; der Interfchied ift eigentlich gar fein 
grundfäßlicher, fondern nur ein gradiger. 


— — —— 
mn — — 


will nur den Grundgedanken der wertvollen Er: 
findung anfchaulih maden. Die große Fläche 
bedeutet das eigentliche Steuerruder; Die feine 
Dagegen ift die fogenannte Slettnerfloffe. Durch 
befondere Vorrichtungen wird zunächft nur diefe 
loffe gedreht, und das Waffer ſtellt daraufhin 
das große Ruder felbfttätig ein. Es ift tlar, daB 
dadurch eine erhebliche Erfparnis an Gleuer 
crbeit erzielt wird. Mehr und mehr fommt dies 
Ruder in Aufnahme, und es leiſtet nicht nur auf 
hoher Gee, fondern auch in der Binnenſchiffahrt 






Das neue Windfraftfchiff 87 


vortreffliche Dienfte. Wenn beifpielsweife auf 
dem Rhein das Binger Loch zu durchfahren ift, 
wird auf einem Schiff, das mit dem Flettner: 


Ruder ausgerüjftet ift, viel befchwerliche Anſtren⸗ 


gung vermieden. Im Gegenfaß zum gemöhn- 
lichen Ruder kann fih dasjenige nah Fleitner 
rings im reife drehen. Es wird dabei nicht an 
die in der Skizze angegebene Grenzlinie links 
anjtoßen, wenn die Drehung um die Achfe er- 
folgt, die teils als Hülfslinie angegeben ift. 


zus 





Ruderbild. 


Die Slettnerfloffe findet aber nicht nur Ber: 
wendung auf dem Waffer, fondern auh in der 
Luft. Bereits in der Kriegszeit wurde fie zur 
Einjtellung von Höhen: und Seitenfteuern bei 
Flugzeugen benutzt. Und es wartet ihrer noch 
ein beſonderer Dienſt bei Windmotoren. Man 
will nämlich Motorflügel mit Flettnerfloſſen ver- 
ſehen, die ſelbſttätig vom Winde geſteuert werden, 
und deren Lage dann weiter die richtige Ein— 
ftellung der großen Flügel oder Schaufeln be- 
forgt. 


Ehe Flettner fein Rotorfchiff baute, dem wir 
uns jekt zuwenden, hat er auf eine andere Weife 
verjudt, die Windkraft recht voll auszunußen. 
Aud dabei fpielt noh die Floſſe eine ent|cheidende 
Rolle. Es jollten nämlich Segel, die aus Metall 
gefertigt waren, durch Floſſen genau in die zum 
Sahren nötige Lage gebracht werden, die wieder: 
um über eine Fahne vom Winde jelbft beftimmt 
wurde. Diefer Gedante ift dann fallen gelajjen 
worden, und im Flettner-Rotor ift ein Mittel 
gegeben, das beffer zum Ziele führt. 

Die Wirkung der Flettnerfchen Rotoren beruht 
auf dem Magnus-Effelt, der zwar „ſchon feit 
1853 bekannt“ ift, über den aber bislang wohl 
nur wenige Beicheid gewußt haben. Magnus 
fetbft þat ihn faum näher erforfcht; er ift nur 
zu der Erkenntnis gelangt, daB er „febr bedeu- 
tend” fei. 

Worin befteht er und worauf gründet er fih? 


Die zweite Skizze foll darüber Auffchluß geben. 
Der geichloffene Kreis tell! den wagerechten 
Schnitt durd einen Zylinder dar, der in der Rid- 
tung der eingetragenen Pfeile — alfo im Sinne 
der Uhrzeigerdrehung — umkdhft. Kommen nun 
von lints her Luftmaſſen angejtrömt, fo werden 
fie hauptfächlich oben — im Bilde — den Zy— 
linder umgehen. Denn dort bewegt fih die By- 
linderhaut gleichfinnig mit der Strömung, fo daß 
wenig oder feine Reibung zwiſchen Luft und 
Drehkörper auftritt. Wenn von einem bereg- 
neten Bergabhange Wafler herabrinnt, fo ſucht 
fich diefes ganz von felbft den Weg aus, auf dem 
es feine Höhenfpannung am fchnellften und leih: 
teften verlieren tann. So bevorzugt auch hier 
die Luft bei der Wahl zwiſchen zwei Umftrö- 
mungswegen denjenigen, der als der bequemere 
erjcheint. 

Es bildet fih auf diefe Weife oben eine ziem- 
(ih lebhafte „Lünftliche Zirkulationsftrömung” 
aus, bei der eine hohe Befchleunigung der Luft- 
teilhen auftritt. Und diefe bewirkt wieder einen 
fräftigen Unterdrud, oder einen „Sog“, wie man 
lich fachmänniſch ausdrüdt. Dieſer Seraftantrieb 
ift in der Skizze durch den Pfeil oben in der 
Mitte dargeftellt. 

Auf der Gegenfeite entfaltet fih dagegen ein 
Drud, der durh den Pfeil unten bezeichnet ift. 
Denn bier werden die Quftmaflen durch die Rei- 
bung, die durch die Gegendrehung des Zylinders 
veranlaßt wird, gehemmt und dadurch zujam: 
mengepreßt; außerdem erfolgt ein gewilfer Rüd- 
ſtau durch die Teilchen, die aus der Zirkulations— 
jtrömung rechts antommen. 

Jn der Mitte des Bildes ift ein Pfeil gezeichnet, 
der eine Zufammenfaffung beider Kraftantriebe _ 
bedeutet. 


ng, I gu 


Kreisbild (Magnus-Effett) 

Es bildet fih fo ein Trieb quer zum Winde 
aus, und wenn diefer einen Wert hat, fo gilt es, 
alles zu verhindern, was ihn mindern fünnte. 
Eine Gefahr in diefem Sinne bejteht tatjächlidh. 
Denn es wird fomohl der Unterdrud als aud) der 
Ueberdrud beftrebt fein, ſich längs der Zylinder: 


N 
>. 


88 Beobachtungen aus dem Leferfreife. 


baut nad) oben und unten auszugleichen, wodurd 
natürlich der Antrieb in wagerechter Richtung 
an Stärke verlieren muß. Bildet man jedoch die 
Stirnfläcdhen des Zylinders zu Scheiben aus, die 
gehörig überragen, fo tann einer ſolchen Aus— 
gleichung gewehrt werden. 

Sehen wir uns nun die Flettner-Rotoren felbjt 
an, indem wir dabei den Ausführungen folgen, 
wie fie Flettner gegeben hat. Im allgemeinen 
haben die Schiffe je zwei fih drehende Türme. 
Nur auf Segeljachten genügt ein einziger Rotor. 
Sene Türme beftehen aus innen verfteiftemn, 
1 mm ſtarkem Stahlblech, und erheben fih auf 
einem im Sciffsinneren feft verankerten Pivot 
auf zwei Gleitlagern. Sie haben einen Durg: 
mefler von 2,80 m, eine Höhe von 15,6 m. Die 
jhon erwähnten Endſcheiben — die hier nur 
oben nötig find — zeigen etwa den anderthalb» 
fachen Durchmefler der Türme. Der Antrieb der 
leßteren gefchieht durch zwei Elektromotoren von 
je 11 Kilowatt Hödjftleiftung, die von Diejel- 
mafchinen gefpeift werden. Eine Anlage mit 
zwei Türmen wiegt nur 7 Tonnen, während eine 
gleichwertige Belegelung ein Gewicht von 35 
Tonnen aufweift. 

Wir hatten kürzlich Gelegenheit, einen Film 
zu fehen, der bei den Fahrten der „Budau” auf: 
genommen worden war, die man mit zwei Flett: 
nersRotoren ausgerüftet hatte. Das Abfahren, 
das Menden um die Hafenmole, vollzog fih 
fcynell und ficher; unterwegs begegnete die 
„Budau” anderen Schiffen, und es ließ fih leicht 
durch Vergleichungen feftitellen, daß fie flott vor- 
wärts fam. Daß ein Flettnerfhiff Sturm und 


Beobachtungen aus dem Leſerkreiſe. 


Vielleiht hat folgende Beobachtung aus dem Lefer: 
treis einiges Intereſſe: 

In unferer Wohnſtube ift ein großer grauer Ofen mit 
Sitplatte vor dem Winter entfernt worden. An deffen 
Stelle fteht jeßt das fchwarzpolierte Klavier. Ein Ofen 
befindet ſich an anderer Gtelle freiltefed. Nun ift 
unjere Rabe, welche feit Jahren jeweils auf dem Ofen- 
fig lag, [hon oft auf dem Klavierdedel angetroffen wor- 
den, was frühe: nie vorgefommen ift. Das Ruhebett be- 
fteigt die Rage nicht, weil fie daraufhin erzogen ift. Erft 
jeßt, noch vielen Wiederholungen fällt mir ein, daß der 
jeltfame Sitplaß mit der früheren Ofenftelle 3ufammen- 
hängt. Ih muß geftehen, daß id) von einer fonft 
findigen Kate mehr „Intelligenz“ erwartet habe. Kann 
vielleicht ein Tierpfgchologe die Beobachtung oder meine 
Einfhägung bewerten? 

©. Sch., NReallehrer, Schweiz. 

Die im Tebruarheft von „Unfere Welt” berichtete 

Naturbeobachtung ruft mir eire ähnlidye ins Gedächtnis 


Böen gut aushalten fann, und daß es trog der 
hohen Türme eine vorzügliche Stabilität befißt, 
ließ fih zwar nicht aus der Darftellung im Tebın- 
den Bilde erjehen, fteht aber nach gemachten 
lonftigen Beobachtungen feft, ebenfo wie die Tat- 
fahe, daß auf eine Erhöhung der Segelwirkung 
auf das Zehn⸗ bis Fünfzehnfache zu rechnen ift. 

Die Bedienung der Türme ift ungemein ein 
fach: fie laffen fih leicht und fchnell in Drehung 
verfeßen, und ebenfo leicht wieder bremſen. Ber- 
juhe haben erg ‘ben, daß die Haut des Rotors 
fih etwa mit 3,5facher Windgeichwindigkeit be- 
wegen muß, wenn man den hödjiten Wirktungs- 
grad bei einem beftimmten Winde erreichen will. 
Der Seemann tann alfo durd die Einjtellung 
einer gewiflen Umfangsgefchwindigfeit des Ro« 
tors die Kraft, die auf diefen felbft wirft, be- 
grenzen. Darum braudt er einen auflommen- 
den Sturm niht mehr zu fürdhten. Eine Regus 
lierung des Rotors bei einem bejtimmten Kurſe 
zum Wind gibt es einfach nit; es befteht alfo 
auch feine ungünftige Einftellung, wie fie bei 
Cegeln vorfommen tann. Das Flettnerſchiff Hat 
eine hohe Wendigkeit, und es dreht rajch auf der 
Stelle, wenn man den vorderen Rotor in der 
Gegenrichtung umlaufen läßt. 

Geit Iahrtaufenden hat fih die Schiffahrt des 
Segels bedient. Und man hat diefes mit der Seit 
fo vervolltommnet, daß wohl faum ein Fort- 
fchritt mehr möglich ift. Wollte man in der Aus» 
nußung des Windes weiter tommen, fo mußten 
ganz neue Wege eingeflchlagen werden. Und hier 
bat Flettner Bahn gebrochen, indem er den 
Magnus=Effekt benußte. 


— — — — 
ST — 


P 





———— ———— — = —— — — 


zurück, die nach Urſache und Begleitumſtänden gleicher⸗ 
maßen merkwürdig und darum vielleicht wert iſt, ver⸗ 
öffentlicht zu werden. 

Ende Mat oder Anfang Juni 1918 iſt's, wenn id 
mich recht erinnere. Der Krieg tritt in fein entſcheiden⸗ 
des Stadium. Jammer und Elend im Feld wie daheim. 
Es gärt in den Maffen, ſchlimme Gerüchte flattern auf, 
das Unfinnigite wird geglaubt. — 

Die Natur feheint fih um alles Leid der Menſchen 
nicht 3u fümmern. Vom tiefblauen Himmel ftrahlt 
lodend durchs offene Fenſter die Sonne und madıt mir 
das Arbeiten jchwer. Soll id ihr folgen hinaus in den 
ladenden Morgen? Schon ſteh ih am enter und füle 
in tiefen Zügen die Lunge mit Friſche. Wie täte mir 
das Wandern fo gut, wandern mit den murmelnden 
gluten des Nedarl — 

Doch was ift das? Wie bleicht das blendende Blau, 
fabl wird der Himmel und grau, und unheimlih wird 
es zumal! Rein Lüftchen regt fih, — und rım rauſcht 


es hernieder; das ijt fein Regnen mehr, es ſchüttet mit 
Kübeln! — Alles ift das Wert weniger Minuten, und 
wieder ftrahlt die Sonne, ladt der Himmel, als wäre 
nichts geſchehen! 

Roh habe ich mid) nicht recht von meinem Staunen 
erholt, da kommt jchredensbleicy meine Hausfrau: „Der 
jüngfte Tag ift da, Schredliches ift geſchehen! Schwefel 
bat es geregnet!” Auf der Straße bilden ſich Gruppen, 
alles ſtarrt auf die Pfühen, dort muß fih das Fürchter⸗ 
lihe zeigen! — Ich lade natürlich” und fuche der Frau 
den Unfinn auszureden. — Schon kommt eine andere 
Mithausbemohnerin, deren Mann im Felde fteht und 
die das Leben offenbar immer von der leichten Seite 
zu nehmen verfteht. Sie will meine Meinung hören. 
Wenn fie es nur gewiß wüßte, das mit dem Weltunter: 
gang, fie liefe fchnurftrads zur Sparkaſſe, um ihr Cr- 
ipartes zu holen und fih nod ein paar vergnügte Tage 
oder Stunden zu maden. — So feiden fi) die Geifter. 
Auch ich tomme in den Gerud der Trivolität. — Auf 
der Straße ſuche ih nämlid ein paar Leute zu be: 
ruhigen. Aber was nügt das angefihts der Tatſache, 
dab auf allen Pfügen ein Haufen feinen gelben Pulvers 
Idwimmt, das an einzelnen geeigneten Stellen fogar zu 
fleinen gelben Dünden aufgeſchwemmt ift? Man läßt 
e3 fih nicht nehmen: das ift Schwefel! — Ich verfudhe 
einen Scherz: „Wenn es alfo wirklidd Schwefel ift, fo 
‚jolltet Ihr als Weingärtner doh froh fein, wenn Eud) 
der Himmel felber diesmal das Schmwefeln abgenommen 
hat!” — Da aber tomme ich ſchön an; ſcheu fieht man 
mid von der Seite an, mid), der es wagt, etwas fo 
Emftes ins Lächerliche zu ziehen. 

Dantbarer find am andern Tage meine Schüler für 
meine Erklärung. Ganz können fie diefe zwar nod 
niht verjtehen, aber fie glauben fie darum dod gern. —- 
Und die Löfung des Rätjels? — In den nahen und 
ausgedehnten Waldungen des Strom- und Heuchelberges 
— vielleiht trug aud der fernere Schwarzwald das 
Seinige dazu bei — Stehen die Tannen in volliter Blüte. 
Die großartigen Flugvorrichtungen ihres Blütenftaubes 
erlauben es dem leifeften Lüftchen, ihn weithin zu ent- 
führen. Ueber dem Nedartal kommt er, wohl infolge 
Abfintens — mit waflferdampfüberfättigter, aber zurzeit 
Haubfreier Quft in Berührung. Die einzelnen Körnchen 
dienen als SKondenfationsterne. Schlagartig fegt die 
Kondenjation des überfchüfjigen Dampfes ein und die 
Bafler praffeln nieder, mitteninnen aber aud der un- 
ſchuldige Blütenftaub. So kommt er in den fchlimmen 
Verdacht, ein Auswurf der Hölle und Antündiger des 
Beltunterganges zu fein. — Ein Mitrojtop ftand mir 


Ausſprache. 


Zum Thema: „Entwidlungslehre und Religion“. 

In meifterhafter Weife hat der verehrte Schriftleiter 
der Monatsſchrift unferes Keplerbundes in einem fih 
über Heft 2 und 3, Jahrgang 1924, diefer Zeitjchrift 
eritredenden Aufſatze gezeigt, daß es für eine idealiftifche 
Beltanihauung gar nicht darauf antommt, ob der 
Menih vom Tiere ftammt, fondern einzig und allein 





— — — — — — — — — — — — 








_ Ausſprache. 89 


leider damals nicht zur Verfügung, aber auch ſo iſt 
nicht daran zu zweifeln, daß es ſich um Blütenſtaub, 
und zwar jedenfalls um Tannenblütenſtaub handelte. 


Murrhardt i. W. Ernſt Maag. 


Der Aufforderung in Heft 2 von „Unſere Welt” nad- 
tommend, fann ih über den Berlauf der Mondfiniter- 
nis vom 8. d. M. folgendes berichten: 

Der Himmel war hier vollkommen tlar, die Luft 
durchſichtig. Oberhalb des leuchtenden Teiles des Mond- 
förpers war die Luft ebenjo Hell beleuchet als der 
Mond felbit, jo daß die Abgrenzung des Mondkörpers 
nicht ganz leicht zu finden war. Es fah aus, als ob 
der Mond fi eine Ballonmüße aufgeſetzt Hätte oder 
von leuchtenden Haufenwolten umlagert wäre. Zwiſchen 
dem Mondtörper und diefer beleuchteten Luftſchicht habe 


ih nun die erwartete blaue Linie etwa von 10% bis 


11 Uhr deutlich gefehen. Sie hatte ungefähr die Form 
eines Rinderhornes, wurde nad” Südoften zu breiter. 


Bahrenbufd. v. Bonin, Landrat a. D. 


In Nr. 11 von „Unſere Welt” ift ein Bericht wieder- 
gegeben, demzufolge die Marskanäle auf optifcher 
Täuſchung beruhen follen. Mit anderen Worten ift ent- 
weder daS menſchliche Auge oder das verwendete Fern- 
robr für das vorgetäufhte Bild verantwortlih zu 
maden. Hierbei fällt mir folgendes auf: Trifft die Be- 
hauptung zu, daß Auge oder Fernrohr infolge ihrer Un- 
vollkommenheit ein unrichtiges Bild erzeugen, jo müſſen 
dod bei jedem anderen Stern, welder ähnliche Lichtver- 
hältniffe aufweift wie der Mars, die gleiden Kanäle 
vorgetäujcht werden. Denn es ift nicht einzujehen, wes- 
halb ausgerechnet bei der Betradhtung des Mars das 
Auge rejp. das Fernrohr optifch unrichtige Wilder liefert. 
Ich Habe noh nie davon gehört, daß auf anderen 
Sternen ebenfalls Kanäle gejehen worden find. Aus 
diefem Grunde tann mid) die Erklärung, die Marskanäle 
beruhten auf Täufchung, auch nicht befriedigen. Ich bin 
überzeugt, daß viele Lefer von „Unfere Welt” diefelbe 
Ueberlegung angeitellt haben wie ich und infolgedeflen 
ebenfalls zur Anſicht gekommen find, daß in dieſer Er: 
klärung etwas nicht ſtimmt. F. Sch. in Hbg. 

IH bin tein Aſtronom, glaube aber, daß die Cr- 
tlärung des bier aufgeworfenen Problems in. den 
Worten des Herrn Einjenders liegt, „der ähnliche Lidt- 
verhältnilfe aufweilt wie der Mars”. Das wird wohl 
eben bei anderen Planeten feineswegs der Fall fein. 


Bapvint. 
x 





64 











auf das Ziel, auf das er hinfteuert oder hinjteuern foll. 
Der bier geführte Nachweis dürfte in vieler Beziehung 
endgültig überzeugend fein. Nur ein einziger dunfler 
Punft, über den dieje im übrigen wundervoll durd- 
fihtige Darftellung hinweggleitet, dürfte übrig geblieben 
fein. Wenn der Stammbaum des Menſchen nun auh 
nicht in dem Affen, jo doh mit diefem zujammen an 


90 a Ausſprache. 


irgend einem noch nicht ganz fejt beſtimmten Puntie 
an den tieriſchen anſchließt, dann muß es (logiſch un⸗ 
abweisbar) irgend einmal ein Geſchöpf gegeben haben, 
das typiſch tieriſche und menſchliche Eigenſchaften zu— 
gleich beſaß. Zu den menſchlichen gehört nun aber 
nach Anſicht mehr oder minder Gläubigen auch der Beſitz 
einer unſterblichen Seele, den ein Chriſt — obgleich auch 
hierzu ſchon Verſuche ſogar von theologiſcher Seite ge⸗ 
macht worden ſind — unmöglich leugnen kann, und den 
man doh unmöglich Tieren, bis hinab zu den aller- 
niedrigften, zugeftehen tann, ohne der urſprünglichen Be- 
deutung des Begriffs Seele ganz und gar untreu zu 
werden. Aud hier heißt es alfo, Farbe befennen, und 
man darf niht über diefen enticheidenden Punkt mit 
dem Hinweis auf den fubjeltiven Charakter der Re- 
ligion binweggleiten. 

Die Unſterblichkeitsfrage ift nun aber nicht bloß eine 
jedem pofitiven Chriften unendlid wichtige Sade, an 
der er mit allen Fafern feines Herzens hängt, fondern 
äugleih ein Poftulat der Religion im fozialen Sinne, 
weil nur eine jenfeitig veranferte Weltanſchauung Aus: 
ſicht Hat, einen größtmögliden Einfluß auf die Lebens- 
führung des ganzen Bolles zu üben.?) 

Aber ich meine, daß man teine Scheu, fid) in unlös- 
bare Widerfprüdhe zu verwideln, zu haben braudt, 
wenn man es unternimmt, diefen fpringenden Punkt 
näher zu beleuchten. Denn zunädft: Was ift Un- 
fterblichleit der Seele? Ein Fortleben durch alle Ewig- 
teiten, bei derem Ausdenten gerade die Seelen, die 
diefem Gedanken wirklid) bis zum Ende zu folgen ver- 
mögen, zurückſchrecken? Jedenfalls geht es aber bei 
diefer Feſtſtellung nicht ab, ohne mit den Begriffen End- 
lichkeit, Unendlichkeit zu fjdhaffen zu haben, und man 
weiß, daß diefe Begriffe in aller fi) mit ihnen be- 
ſchäftigenden Wiſſenſchaft feineswegs eindeutig find. 
Den Begriff Unendlichkeit können wir überhaupt nicht 
faifen,') fondern wir fegen ihn gewöhnlid nur, wei 
wir gleichfalls nicht fallen können, wo etwa die End- 
lihleit eine Grenze haben könnte. Unfer Faflungs- 
vermögen ift betanntli begrenzt dur unfere Cr: 
fahrung, und erfahren haben wir eben nur, daß alle 
Dinge ihr Ende haben, und dab man fi nad) dem 
Ende nod ein „Ende” — Stüd hinzudenten tann. Mit 
einem fo gejtalteten Begriff gedanklich zu operieren, 
führt felbftverjtändlih Leicht zu Trugfchlüffen. 

Sodann aber fommt hinzu, daß der Zeitbegriff wiffen- 
ſchaftlich keineswegs feſtſteht. Es gab und gibt feit 
Kant und bis auf den heutigen Tag Fachdenker und 
Philoſophen, die den Zeitbegriff aus der wirklichen Weit 
der Noumena in die Anſchauungswelt der Phänomena 
verlegt haben und nod verlegen. Danah wäre die Zeit 
nicht wirklich bejtehend, fondern nur eine Form unferes 
Dentens, unjerer PBorftellungen. Man braudt nun 
feineswegs dieſer Auffafjung unbedingt zuzuftimmen. 
Aber fo lange diefelbe nicht als wiſſenſchaftlich unmög⸗ 
lih aus der Welt geichafft ift, muß man mit ihr red: 
nen und die Möglichkeit diefer Rechnung für die Auf- 
ftellung von religiöfen Theorien, die man Dogmen 

') Bergi. in diefer Hinficht meinen Aufſatz „Unfterb- 
lihfeit in 3. Bande der Zeitſchrift: „Religion und 
Geiſteskultur“, ©. 30. 


nennt, zugeftehen. Diefen ihr Spiel verderben, che fie 
an den Grenzen der Unwiſſenſchaftlichkeit angelangt 
find, ift ebenfalls unwiſſenſchaftlich. 

Jedenfalls beiteht aber naturwiſſenſchaft Tier die 
Verſchiedenheit des Zeitmaßes bei. verfiiedenen 
Tierarten, fo daß, fubjektiviftiich gefehen, die Zeit feines- 
wegs etwas wiſſenſchaftlich Feſtſtehendes ift, jedenfalls 
tein „Elaton” der Dauer der Empfindungen und des 
Geeleniebens. 

Dazu fommt nod, daß es im Leben nit felten Er: 
lebniffe gibt, die nad) unſerem ſubjektiven Empfinden 
die Zeit häufig kürzen oder verlängern. Ic ziele natür- 
lid mit diefer Bemerkung niht auf die berüdhtigte 
Langeweile, fonden im Gegenteil auf Erlebniffe, die 
trog der Kürze ihres objektiven Erſcheinens fogenannte 
Ewigteitswerte für uns in Anſpruch nehmen, weil fie 
einen Glanz auf alle die noh folgenden Tage hinaus: 
werfen. Aber felbit die Langeweile ift ein Beweis da: 
für, wie wenig auf diefem Gebiete das Subjektive fidh 
mit dem objektiven Tatbeftande dedt. Da alfo, mathe- 
matifh geſprochen, Unfterblichkeit eine Funktion ift, in 
der die Zeit als unendlich eingefebt ift, fo ift cs fehr 
notwendig, auf die große Variabilität derfelben, d. $. 
alfo auf das Unbeſtimmte diefer Behauptung hinzu- 
weifen. | 

Alfo, wenn wir von Unfterblichleit reden, fo braudt 
damit feineswegs gemeint zu fein: jene Unendlichkeit des 
Beltehens, die über all unje. Denten und Urteilen weit 
hinausgeht, fondern lediglich die Meinung, beziehungs⸗ 
weile Hoffnung, daß mit dem leibliden Tode die 
Menſchenſeele noch nicht endgültig tot fei, fondern in 
irgend einem Sinne weiter lebe oder auch nur weiter: 
leben könne. Die Unjterblichleitsiehre ift im Lichte 
diefer Erörterung nichts weiter als die beitimmte Ber- 
neinung der materialiftiihen oder energetifhen Auf: 
faflung des Lebens al3 einer bloßen Erſcheinung wie 
der einer Flamme, die ein Körper zu fein fcheint umd 
doch nur aus demifchen Energien geipeift wird, Die 
eine begrenzte Zeit ihr Spiel treiben, um dann nichts 
zurückzulaſſen als ein Häuflein Afe. 

Der Glaube an die Unfterblichkeit, in diefer wiffen- 
ſchaftlich vorfihtigen Weiſe gefaßt, ift dann auch febr 
wohl verträglich mit der Meinung, daß eine Tierfeele, 
je nad dem Grade ihrer Entwidlung ein fürzeres oder 
gar tein Fortbeſtehen nad) dem Crlöfhen des Lebens 
ihres Leibes habe, womit dann die Schwierigkeit einer 
endgültigen Ueberbrüdung der tiefen Kluft zwiſchen 
Menſchen- und Tierfeele befeitigt wäre. 

Und zugleich muß man, um in Bezug auf diefen 
ſchwierigen Gegenftand zu verjöhnliden Borftellungen 
su gelangen, fi die Forteriftenz nad) dem leiblichen 


Tode nit in der kindlichen Weiſe denten, wie jener 


biblije rager, dem Jefus die jchlagende Antwort gab, 
daß im Himmel nicht gefreit werde; wohl als eine perfön- 
liche, mit Berantmwortlichfeit beidywerte und dem Ge: 


: fühle von wachſender Vollendung beglüdte, aber nicht 


mit dem irdifchen Kleide in Beziehung ftehend, dus wir 
Körper nennen. Auch die Erinnerung an die irdifchen 
Einzelheiten muß unbedingt getilgt fein. Das ijt aud 
ein wiffenidyaftliche® Erfordernis, da gerade die Be: 
ladung mit zu viel Gedädtnisftoff einen von Zeit zu 


Raturwiffenfchaftlihe und naturphilofophifcehe Umſchau. 91 


it eintretenden Tod biologiji notwendig macht, um 
wieder einmal tabula rasa zu machen. 

Daß mit dieſer Einſchränkung niht das ſelbſtiſche 
Intereſſe an einem Fortleben verloren ginge, ift leicht 
zu zeigen.) Ich möchte hier nicht weiteren Raum für 


) Man vergleiche den Aufſatz de3 Verfaſſers in 
„Unfere Weit“ 1910, Spalte 129: „Die dualiftifche Welt- 
enſchauung etc.“ und Deiterreidhs: „Phänomenologie“ 
1910, ©. 226, 245, 501, 502. 








die Ausführung meiner bejonderen Gedanken über die- 
jen Gegenitand in Anſpruch nehmen und ſchließe meine 
Anmerkung mit den poetiſchen Worten, die man Konrad 
Ferdinand Hutten in den Mund legt: 
„Erft dien’ ih aus auf Erden meine Reit, 
Und bin id dann zumal nicht ‚dienftbefreit, 
Berteilt man auf den Sternen neues Leh’n — 
Mohlan! Ic dente meinen Mann zu fteh’n.“ 
Bon Adolf Mayer. 


Naturwiffenshaftlihe und nafurphilofophiihe Umſchau. 


a) Anorganiihe Naturwiffenihaften. 

Die Distuffion über die Relativitätstheorle ift nicht 
mehr jo ergiebig wie vor einigen Jahren. Die Zahl der 
$r gewidmeten Arbeiten ſcheint merflid abzunehmen. 
Biel neue Gefihtspuntte find auch in den zuletzt vor: 
liegenden Arbeiten anſcheinend nicdyt gefunden. Der 


Halieniihe Phnfiter Righi hat eine neue Theorie 


des berühmten Michelſonſchen Verſuches ent- 
midelt, wonach der negative Erfolg desſelben ſich auf 
eine ganz andere Weile erflärt, als durch die Annahme 
einer wirklichen oder relativiftifchen Längskontraktion. 
Righi will nämlih, indem er die Neflerion der Wellen 
an dem ſenkrecht zur Bewegung aufgeltellten Spiegel 
nah dem Huygensſchen Prinzip berechnet, bemeifen, 
dab. ihon dadurd eine Meine Drehung der Wellen 
erjolgt, die gerade den gefuchten Effekt ergibt. (Mem. di 
Bologna 7, 69; Phufitalifche Berichte 1925, 2, 164). 
Ein anderer italienifher Phyfiter, La Roja, ver- 
tdig neuerdings mit Geidid wieder die ſog. 
balliftifde Lihthypothefe, d. i. die Am 
nahme, daß das Licht die Geſchwindigkeit der es aus- 
kndenden Quelle mit annähme, wie das Geſchoß einer 
Shiffstanone die des Schiffes. Diefe Hypotheſe ift f. Zt. 
von dem Schweizer Phnfiter Rig ſchon ale Erklärung 
des Michelſonverſuchs herangezogen, jedoch aufgegeben 
wowen auf Grund von Einwänden, die ſpäter dagegen 
erhoben wurden. Gie würde ſehr ernithaft wieder zu 
distutieren fein, wenn die fogleid 3u erwähnende 
neue Lichttheorie von 3. 9 Thomſon fid 
weiter als durdführbar erwieje. (Ueber La Rofa vgl. 
Bhpfitalifche Berichte 4, 250). 
Diele neue Lihitheorie von Thomfon, dem weltbe: 
ühmten engliihen Altmeiſter der Phyſik, foll die 
Biderfprüde zwifhen der klaffifden 
ellentheorie und der neuen Quanten- 
theorie befeitigen. Ihomfon nimmt an, daß das 
čidt aus einzelnen Wirbeln beftehe, die ihrerjeits von 
wachen Wellen umgeben find. Beim Verſchwinden 
tines ſolchen Wirbels foll entweder ein Elektron hoher 
Geſchwindigkeit ausgeſandt oder eine charakteriſtiſche 
(Blende) Strahlungseinheit frei werden. Es gelingt 
omſon auf dieje Weife, einen angenäherten Wert für 
Planckſche Quantum herauszurednen. (Die 
Arbeit bon Thomfon fteht Phil. Mag. 48, 737, ein 
Referat Phyſitaliſche Berichte 4, 282). 
„me weitere, die Schwierigfeiten der 
‘eutigen Ligfiheorie in etwa mildernde Unter- 


ſuchung þat Marg (Zeitichrift für Phyſit 27, 248; 
Phyfitaliihe Berichte 4, 251) gegeben. Da eine nähere 
Darftellung hier zu ſchwierig ift, fei nur das Refultat 
angeführt, wona% man ohne Zuhilfenahme der 
Einſteinſchen Annahme gefondert erijtierender „Licht: 
quanten”, die eine unbegreiflih große Ausdehnung 
haben müßten, auf Grund der klaſſiſchen Theorie die 
richtigen Zahlenwerte für einige bier maßgebliche 
Größen erhält, wenn man nur aus der Quantentheorie 
porausjegt, daß für die aufzunehmende Energie ein 
gewiſſer „Schwellenwert“ befteht. Die fog. Dimenfionen 
des „Lichtquants“ geben nichts weiter an, als die 
Grenzen der Breite und Tiefe der Wellenfront, bis zu 
denen bei einer von einer feinen Linie ausgehenden 


Wellenitrahlung diefer Schwellenwert noch vor: 
yanden ift. 
Der bedeutendfte amerikaniſche Phyfiter, R. A. 


Millitan, Hat vor kurzem einen Bortrag über 
die Atomiftit in der modernen Phyfit gehalten, der im 
Sourn. Chem. Soc. 125, 1405 (Phyſikaliſche Berichte 
2, 99) abgedrudt ift. In diefem Vortrag hat er die 
intereffante Angabe gemadt, daB es Bowen ce: 
lungen jei, im Baluum die Speltren des einfad 
icnifierten Berylliums, des zweifah ionifierten Bo:s, 
des dreifach ionifierten Koblenftoffs und des vierfid 
ionifierten Stickſtoffs zu erzeugen, die nah Bohıs 
Theorie unter einander und mit dem Speltrum des nicht 
ionifierten Lithiums übereinftimmen müffen. Auf 
Grund der Sommerfeldfhen Theorie ließ fi aus den 
Meffungen der Abſchirmungseffekt der inneren 
Elektronen genau beredinen. Ebenſo glüdte ihm die 
gleide Mefjung in der nächſt höheren Reihe der 
Elemente (Mg, Al), und er tonnte fo eine erafte Be- 
ftätigung für die von Bohr gemadte Annahme liefern, 
daß die beiden inneren Eleltronengruppen in dieſer 
Reihe tatfähli mit 10 (= 2 + 8) Elektronen be- 
fegt find. i 

Einen neuen Weg zur Bereduung der Molekular- 
durchmeſſer hat Sirt, der fi ſchon früher um die 
finetifhe Moletulartheorie große Berdienfte erworben 
hat, angegeben. Er ftelft (Zeitfehrift für phyſ. Ch. 114, 
S. 114) auf Grund der neuen Anfiten über die Natur 
der Oberflädhenfpannungen und den Aufbau der 
Moleküle aus elektriiden Ladungen eine neue Formel 
für den Zufammenbang der Dberfläden: 
jpansnung und der Berdampfungswärme 
auf, aus der man dann den Molekulardurchmeſſer mit 


92 o Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofovhifhe Umſchau. 


Zuhilfenahme gewiſſer anderweitig befannter Werte 
berechnen tann. Die gefundenen Größen Stimmen mit 
den nah anderen Methoden gefundenen joweit überein, 
als es nah Lage der Berhältniffe zu erwarten ijt. Be- 
fonders gut ift die Webereinftimmung mit einem von 
Lindemann an dem einatomigen Argon er: 
haitenen Wert. 


Noch intereffanter ift eine neue Methode zur Be- 
ftimmung der fog. Loſchmidiſchen Zahl, bezw.” der 
„Avogadroihen Ftonftanten“ (= abfolute Zahl der 
Molefüle in einem gegebenen Gasquantum), die 
du Nouy gefunden hat. (Phil. Mag. 48, 664; 
Phyſikaliſche Berichte 3, 175). Sie beruht auf dem Ge- 


danten, daß bei Ausbreitung einer nur ein Molekül 


diden Schicht einer zweiten Flüffigteit auf der Ober- 
fläche einer eriten die Oberflächenſpannung ein 
Minimum beißt. Der Verfaſſer unterfuhte nun 
Schichten von ölfaurem Natrium (Delfeife) auf Waffer. 
Dieje haben drei deutliche Minima der Oberflächen: 
jpannung bei ganz beitimmten Berdünnungsgraden. 
du Nouy nimmt an, daß die Moleküle des Stoffes eine 
Art von Recdtederform Hätten, und daß die Drei 
Minimalmwerte jo zu ftandetommen, daß entweder die 
einzelnen Moletüle alle „auf der hohen Kante“ ftehen, 
oder bei dem zweiten Minimum auf der mittelgroßen 
Fläche ruhen, oder bei dem dritten alle auf der breiteiten 
Fläche liegen( man dente an die drei möglihen Lagen 
eines Ziegelſteines oder Zigarrenkäſtchens). Er erhält 
nun aus den Meflungen die drei Kanten diefes ange- 
nommenen Redteders und daraus das Bolumen des 
Natriumoleatmolefüls und fein abfolutes Gewicht. 
Dann folgt aus feinem chemiſchen Molekulargewicht die 
Anzahl der Moleküle in foviel Gramm, wie diefes 
Molekulargewiht beträgt, und das ift die fog. 
Avogadroſche Zahl; du Nouy erhält für diefe den Wert 
60,03.10°, der vortrefflid mit den beiten Beſtimmun— 
gen Millitan (60,62.10°) übereinjtimmt. Die 
Abweichung darf unbedentlid auf Konto der allzu ver- 
einfadhten Annahme quaderförmiger Form des Mole- 
füls gejeßt werden. 


Bu der immer noh nicht entſchiedenen Streitfrage 
nad) der Exiſtenz von Ladungen, die Meiner fein follen, 
als ein eleltriihes Elementarquantum, liegen abermals 
eine Reihe von Arbeiten vor von Serl, Waſſer 
und Daede (Phyſikaliſche Berichte 3, 240 und 4, 258). 
Während Serl an den von Bär zur Rettung der 
tonjtanten Gleftronenladung ausgeführten Unter: 
ſuchungen eine ziemlich fcharfe Kritik übt und Waffer 
die Regener -» Königfche Hypotheje einer Gas: 
abjorption (vgl. U. W. 1923, ©. 248) ebenſo zu wider: 
legen unternimmt und außerdem in einer Erperimental: 
unierfuhung Neues über den fog. inverfen photo: 
elektriſchen Effekt (negative Aufladung Meiner Kügelchen 
durch ultraviolettes Licht) ermittelte, was ebenfalls 
gegen die Annahme des konſtanten Elementarquantums 
zu ſprechen feint, fommt umgekehrt Daede in einer 
rein mathematifch gehaltenen Diskujfion der Verſuchs— 
methoden 3u dem Ergebnis, daß dieje Annahme immer 
noh „größere Wahrfcheinlichteit beſitzt als jede andere 
Annahme.” 


Die Bildungswärmen der Salze lafen fih nad 
Audubert (C. R. 178, 1814; Phyſikaliſche Be- 
richte 2, 101) durch eine der Balmerſchen ähnliche 
Serienformel ausdrüden, die, wenn fie richtig ift, 
eine neue Methode zur Beltimmung der Atomtonftanten 
daritellen würde. 

Die Hauptfählid von Langmuir ausgeführte 
Theorie der chemiſchen Valenz, wonach zwiſchen polarer 
und nichtpolarer Bindung der Atome durch die Eiet- 
tronen oder zwiſchen „Elektrovalenz“ und „Kovalenz“ 
unterſchieden wird, läßt ſich nach Unterſuchungen von 
Briggs (Phil. Mag. 47, 702; Phyſikaliſche Berichte 
2, 100) nicht durchführen, er findet vielmehr, daß eine 
und diefelbe Subftanz, 3. B. Aluminiumdlorid, je nad 
den Umftänden ſich wie ein Clektrolyt oder wie ein 
Nichtelektrolyt verhält, und dab ferner in gewiffen 
Galzreihen ein völlig gradweifer Uebergang der einen 
Art der Balenz in die andere vorfomme. Zu einer ähn: 
lihen Ablehnung der Lagmuirfhen Unterfcheidung 
kommt auh Noyes in einer Arbeit in den Chem. Be: 
rihten 57, 1233; (Phyſikaliſche Berichte 2, 101). Er 
felber entwidelt eine Theorie, wonad die von Langmuir 
porausgejeßten Trennungen in pofitive und negative 
Anteile des Motefüls erft während der Reattion ein- 
treten. Die von ihm vorgetragenen Ideen haben fehr 
viel Einleudhtendes. 

Eine Anzahl holländiſcher Forſcher veröffentlichen ge- 
meinfam (in den Proc. Amijterdam 27, 425; Phyf. 
Berichte 2, 103) eine Unterſuchung, wonad das in den 
Körperflüffigteiten ftets in geringer Menge 
anweſende Aalium und Calcium duch Radiumemanfion 
erjegl werden tann. Dies ſpricht für die [don vordem 
ausgejprodene Annahme, daß das Kalium wegen 
feiner Radioaktivität dem Organismus unentbehrlich ift. 


Die ſehr widtige Frage, ob die Zuſammenſetzung 
der chemiſchen Elemente aus ihren Jfotopen ftets Die 
gleiche ift, oder ob das Mengenverhältnis der einzelnen 
Komponenten und damit das durdjichnittliche „chemijche 
Atomgewicht“ wechſeln fann, wird durch eine neue 
Unterfuhung der beiden Holländer Jaeger und 
Dijtftra (Proc. Amfterdam 27, 303; Phnfitalifche 
Berichte 3, 196) beantwortet. Die beiden Forſcher unter- 
ſuchten zu diefem Zwede das Clement Silicium, 
das fih ebenſowohl aus Metoriten, alfo kosmiſcher Here- 
funft, wie aus unferen irdiſchen Gefteinen gewinnen 
läßt. Als geeignete Verbindung erwies fih das Silicium- 
tetraäthan Si (C° H°).- Die gefundenen Unterfchiede 
des Atomgewichts waren kleiner als ein halbes 
Promille. Da jedod) die Genauigkeit der Unterfuhungs- 
methode noh erheblid) höher ging, jo mußte weiter 
unterjucht werden, ob die gefundenen Abweichungen von 
Verunreinigungen oder von einer wirklichen Ab- 
weihung in der Iſotopenmiſchung herrührten. Da fi 
der Brehungserponent mit der gleihen Ab- 
weichung ergab, diefer aber bei Iſotopen identiſch ift, 
jo mußten die Abweichungen auf Verunreinigungen 
zurüdgeführt werden. (Cin unporfidtiger Forſcher 
hätte auf Grund des erſten Ergebniffes das Gegenteil 
gefolgert). Dies Ergebnis beweiſt, wenn es fih mweiter- 
bmn aud) an anderen derartigen Füllen beftätigt, daß die 
tatiählid an falt allen Elementen bisher beobachtete 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umfchau. 93 


Bleihheit des Miſchungsverhältniſſes der Sfotopen 
nicht, wie es bisher zumeilt gejchah, dadurch zu erklären 
ijt, daß die Elemente nad) ihrer endgiltigen Bildung auf 
der Erde volltommen durcdheinandergemiiht worden 
feien. Denn dann wäre der Cintritt des gleichen 
Miſchungsverhältniſſes auf einem anderen Weltkörper 
höchſt unwahrſcheinlich. Vielmehr muß gefdloffen 
werden, daB innere Wahrſcheinlichkeits— 
gründe die Anteile der einzelnen Iſotopen beftimmen, 
Gründe, die überall zum gleichen Ergebnis führen, wo 
fi} das betr. Element überhaupt bildet. 

Eine intereffante neue Erſcheinung bei der 
Magnetifierung der Gafe hat A. Glaſer (Mündener 
Dif; Ann. der PH. 75, 459; Phyſikaliſche Berichte 4, 
215) entdedt. Bei den drei diamagnetifhen Gafen H, N 
und COz änderte ſich die „Susceptibilität” (— Größe 
der Magnetifierungsfähigfeit) mit fallendem Drude zu- 
nädft, wie zu erwarten, einfach proportional dem 
Drude. Bei febr kleinen Druden wird die Abnahme 
aber langfamer und die Senkung nähert fi) dem drei- 
fadhen Werte des Betrages, den man bei proportionaler 
Abnahme erwarten muß!e. Zur Erklärung nimmt der 
Berfaffer an, daß in fehr verdünntem Zuftande die 
Gasmolefüle zwilhen zwei Zufammenftößen Zeit 
haben, ſich vollitändig nad) dem äußeren Felde zu 
orientieren, während im dichten Zuftande diefe Zeit viel 
zu Mein dazu ift und deshalb die Moleküle völlig un- 
geordnet find. Diefe Erklärung klingt äußerſt plaufibel. 

Die Urfade des fonfinuierliden Spektrums der 
Sonnenforona ijt zumeift in der Annahme der Eriftenz 
tosmifher Staubteile in diefer Gegend geſucht worden. 
Anderfon (Beitichrift f. Ph. 28, 299; Phyſikaliſche 
Berichte 3, 181) zeigt auf Grund der Strahlungsgefehe, 
daß felbft Kohtenftoffteilden von 1 x Durchmeſſer in 
einer Entfernung von einem halben Sonnenradius von 
der Oberfläche hon in 5 Sekunde, in der doppelten 
Entfernung in etwa einer Minute verdampfen müßten 
und daß dies Ergebnis weiter aud für andere, 3. B. 
Metallteilchen gilt. Er ſchließt, daß die Annahme foldyer 
tleiner fejter oder flüffiger Teilen als Erzeuger des 
tontinuierlihen Spektrums niht zu halten fei. 

Das Speftrum des dunklen Nachthimmels hat 
Dufay (C. R. 176, 1290; Phmſikaliſche Berichte 3, 
231) neuerdings unterfudht und gefunden, daß es auf 
zerſtreutes Sonnenlicht zurüdzuführen if. Mert- 
würdigerweiſe dehnt fih diefes Spektrum viel weiter 
ins Ultraviolette aus, wie das Dämmerungsjpeltrum. 
Dufay führt dies auf einen größeren Ozongehalt 
der oberen Luftſchichten zurüd. 

Einen direften Nachweis der elettriihen Ladung der 
Erde hat Ramfjauer (Ann. d.. Ph. 75, 449; Phyf. 
Berichte 4, 265) erbradt. Eine ifolierte Metallplatte 
wird zunächſt leitend mit der Erde verbunden, ſodann 
mit einem Metallbleh möglichſt umfaflend zugededt. 
Sie gelangt fozufıgen auf diefe Weife in das Innere 
der Erde, und wenn nun die Oberfläche eine Qadung 
datte, jo muß Diefe jekt nad dem bekannten 
Faradayſchen Käfiggejeh zur Oberfläche adfließen. Tat- 
ſächlich zeigte ein empfindliches Galvanometer einen 
Strom an, d ffen Größe die Folgerung ergibt, daß auf 
jedem Quadratmeter Erdoberfläche eine negative Ladung 
von etwa 10° Elektronen (d. i. ungefähr ein Fünftel 


der fog. elektroftatiihen Ladungseinheit) fikt. Diefer 
Nachweis ift ein grundfäßlich intereffanter Beitrag zu 
dem Problem „Relativ oder abfolut” in der 
PBhyjil. In Mads Medani? wird des näheren 
ausgeführt, daß Ladung, Potential uſw. nur „relative 
Begriffe“ feien, ebenjo wie Energie und Entropie u. a. 
Größen, von denen feine abfolute Beträge, fondern nur 
Differenzen beitimmt werden könnten. Wenn Planed 
in dem jüngjt hier erwähnten Vortrag zeigte, daß die 
neuere Phyſik in Bezug auf die beiden lebteren Begriffe 
Yen Weg „vom Relativen zum Abfoluten” gefunden 
hat, fo hat der eben geſchilderte Verſuch einen neuen 
Beitrag dazu geliefert und damit einen neuen Beweis 


dafür, wie einfeitig und ſchief der Machſche 


Nurrelativismus war. 


In Nr. 9 der Naturw. finden wir ein febr ausführ- 
lies Referat von Prey (Prag) über ein Bud) des 
Geophyfiters Jeffreys, betitelt: „Die Erde, ihr 
Urfprung, ibre Geſchichle und ihre phyſikaliſche Be- 
ihaffenheit“ (Cambridge, Univ. Preg 1924). Nadh dem, 
was Prey mitteilt, muß man wünſchen, daß das Budy 
recht bald ins Deutſche überfegt wird, es enthält eine 
bemwundernswerte Menge von Forſchungsergebniſſen 
aus allen Gebieten und fcheint ein rechtes Standardiwert 
für den Geophyfiter werden zu follen. 


Magnuseffelt und MWindkraftihiff behandelt der be- 
tannte hervorragendſte Sachverſtändige auf dem Gebiete 
der LQuftmedanit, Prof. Brandti - Göttingen, in 
Nr. 6 der Naturmwiffenfchaften. Diejenigen unferer Lejer, 
die von dieſem heute alle Welt beichäftigenden Thema 
etwas mehr willen wollen, als unfer Aufjaß in diefem 
Heft bringt, feien auf diefe ausführliche und leichtver- 
ſtändliche Darftellung Prandtls hingewiefen. 


Das Rätjel der römifhen Kornkammer im Oftjordan- 
land ſuchen Befarge (H. 2 der „Naturwiflenichaften“) 
und Endriß (RNaturwiſſenſchaften“ 1925, H. 10) zu 
löfen. Die Lavamüfte öftlid des Jordan, die heute nur 
ganz ſpärlich von Drufen befiedelt ift, muß, wie Trüm- 
mer von Städten beweilen, einft von kulturell hod- 
itehenden Bölfern bewohnt geweien fein. In der Tat 
wohnten hier zur Zeit der Wanderung der Juden aus 
Aegypten nad) Paläjtina Getreidebau betreibende Böl- 
ter, die blühende Städte befaßen. Möglicherweiie waren 
zu diefer Zeit die Vulkane, von deren Tätigkeit die Lava, 
die heute das Land bededt, Zeugnis gibt, noh in 
Tätigkeit. Funde von in die Lava eingebetteten Haus: 
tierknochen beweifen wenigitens, daß zur Beit der Tätig— 
teit {hon SHirtenvölfer hier lebten. Der Gedanfe an 
den Bibelbericht von der Wolkenſäule, die den Dfraeliten 
tags, und der Tjeuerfäule, die ihnen nadts den Weg 
wies, liegt nahe. 3n der mofailchen Ueberlieferung. ift 
bie Erinnerung an die Zerſtörung der alten Kultur des 
Landes durd die Juden aufbewahrt. Eine zweite Blüte 
erreichte das Land zur Zeit des alten Roms, fo daß es 
3u einer der Kornfammern des römilchen Reiches wurde. 
Es wurde zum zweiten Mal vermwültet in der Ueber- 
ihwemmung durch den Slam. Das Rätſel ift nun, 
wie in dem regenarmen Klima und in der Felswüſte 
AUderbau und zumal in folhdem Umfang möglich war. 
Vielleicht bringen die Vermutungen von PBaffırge Lich! 
in das Dunfel. Nach ihm liegt unter den oberflächlichen 


z >i 


Es 


94 . NRaturwiflenfchaftlihe und naturphiloſophiſche Umſchau 


Zavaplatten eine Schicht frudtbaren Bodens, der durd) 
VBermitterung der Lava von unten Her entitanden ift, 
fo daß man nah MWegräumung des Gteingerölls den 
dejten Aderboden findet. Die nötige Feuchtigkeit liefern 
die Schneefälle des Winters. Die Möglichkeit, daB das 
Land der Kultur zurüdgegeben werden tann, ift nicht 
von der Hand zu weiſen, jo daß die behandelte Frage 
no% einmal praktiſche Bedeutung erlangen tann. 


Biologie. 

Den Schwarzwald tann man ſich ſchlecht ohne jeine 
himmelanjtrebenden Fichten vorftellen und dody bot er 
einft ein ganz anderes Bild. Unterjuchungen von 
Star? über die Waldentwidiung im füdliden Schwarz- 
wald jeit der Eiszeit (Zeitihrift für Botanik, 16, 24; 
„Naturmiffenichaften“ 48, 24) ergaben, daß auf eine 
Periode, in der nur Kiefern, Birten und Weiden vor- 
famen, die noh unter dem Einfluß der Eiszeit ftand, 
eine wärmere Zeit folgte, in der Linde und Eiche in 
größeren Höhen vorfamen wie heute. Die Kiefer ver- 
ſchwand dann immer mehr, an ihre Stelle frat der Eichen: 
miſchwald, bis jchließlid Buche, Fihte und Tanne die 
übrıgen Bäume im Schwarzwald verdiängten. — Aehn⸗ 
lih bat man fi nad) den Forfhungen von Firbas 
die Waldentwidiung der Oftalpen zu denten. Aud hier 
folgte auf die Eiszeit, die Buchen und Tannen zum Ber: 
Ihwinden bradte, eine Kiefernzeit, die abgelöjt wurde 
dur eine Wärmeperiode, in der Buchen in 1990 m 
Höhe wuchſen, alfo in weit größeren Höhen als heute 
(„Qotos” 71, 23; „Naturwiſſenſchaften“ 43, 24). 

BV. Frang} glaubt ein neues tatfächliches Beifpiel für 
eine Ausmerzung des Unzwedmäßigen durch den Kampf 
ums Dajfein gefunden zu haben. (Biologiiches Zentral: 
blatt 44, 12.) Da es ſolcher nur febr wenige gibt („Un- 
fer Welt“ 24, Heft 5, erwähnten wir das neuerdings 
von Prell gefundene), ift jedes neu aufgefundene für 
die Klärung des Auslefeproblems von der größten Wid- 
tigkeit. Bei Franz handelt e3 fi) um folgendes. Man 
findet dann und wann abmweidyend gefärbte, nämlich 
weißgefledte Schollen. Nah der Unterfuhung einer 
croßen Anzahl von Fifchfängen ftellt num Franz feft, daß 
die Zahl der weißgefledten Schollen mit dem zunehmen: 
den Alter der Tiere abnimmt. Da eine Tarbänderung 
bei Schollen unwahrſcheinlich ift, jcheinen alfo die weiß: 
gefledten gefährdeter zu fein und eher dem Kampf ums 
Dafein zu erliegen. Dafür ſprechen aud die Beobad)- 
tungen, die ranz in Aquarien an Scollen gemadyt 
hat. Allerdings feinen mir die Ergebniffe von Franz 
noch febr der Nachprüfung zu bedürfen. Im übrigen 
vergleiche zum gegenwärtigen Stand der Wuslefehypo- 
thefe „Unfere Welt” 24, 5. 


Nägelis Mizellachypotbele, d. i. die Annahme von 
Mizellen-Krümden, ultramifroftopifchen Kriftallen, als 
legten Baufteinen der Zelle, hat durch die Röntgenſpek⸗ 
tıoffopie eine überrafhende Beltätigung gefunden. In 
1. W. 1924, ©. 143 wurde jhon über einen Aufſatz von 
V. J. Schmidt beridtet, der den heutigen Stand der 
Theorie in der Zoologie darftellt. Das gleiche unter- 
nimmt ©. Steinbrinft in 9. 1 des Biol. Central- 
blattes 1925 für die Botanif. Auch hier haben uns die 
Borfhungen von Scherrer, Bolanzi, Weißen: 
burg u. a. weitgehende Auffchlüffe über den Feinbau 


der lebenden Subſtanz gebradt. Sie beitätigten nicht 
nur feine friftalliniide Natur, fondern laffen aud) die 
Art der regelmäßigen Unordnung der Kriltalle erfennen. 
Sn den Pflanzenfafern insbejondere find diefe in Schrau⸗ 
ben=Linien angeordnet. In diefer Anordnung erblidt 
Steinbrint die Erklärung für die große Tragfähigkeit der 
Pflanzenfajern. 

Im gleiden Heft teilt 9. Junter die Ergebnifle 
feiner Verſuche über die Wirkung ftar? verblinuter Sub- 
tanzen auf Pantoffeltiechen mit. Bei diefem Titel ver- 
mutet man faum, welcdje grundlegende Bedeutung diefe 
Ergebniffe nicht nur für die Biologie, ſondern aud für 
Phyſik, Chemie und Naturphilofophie haben. Es fei 
zunächſt das Tatſächliche kurz berichtet. Als Junter den 
Kulturen von PBantoffeltierden Löfungen verichiedener 
Stoffe (Gifte, Zitronenfaft, Drangenfaft) in verfchiede- 
ner Verdünnung zuſetzte, zeigte es ſich, daß einerfeits 
auch die ftärkiten Verdünnugen — Verdünnungen von 
1:107 noch Wirkungen auf die Bantoffeitierdden — Be- 
ihleunigung bezw. Hemmung ihrer Vermehrung — 
ousüben, daß andererfeits von einer beitimmten Ber- 
dünnung ab die dem Stoff eigentümlidde Wirkung auf- 
hört und die gänzlid) verfchiedenartigen Stoffe die gleiche, 
nur vom Perdünnungsgrad abhängige Wirkung aus- 
üben. Entiprehende Ergebnifie erhielten fon 1923 
Kolidko und Krawkow bei ähnliden Verſuchen 
mit andern Objekten. Sie gingen jogar bis zu Ber- 
dünnungen von 1:10°°, und es beiteht fein Grund anzu- 
nehmen, daß bei nod) größeren VBerdünnungen die Wir- 
tung aufhört. Wie fol aber ein Stoff in folder Ber- 
dünnung nod wirkten können? Bei derartigen Ber: 
dünnungen können in 10 ccm feine Molefüle der ge- 
löften Subjtanz mehr vorhanden fein, ja — ihren Ber- 
fall felbit bis zu den Elektronen vorausgefeßt — fogar 
feine Elektronen mehr, oder man müßte eine den mo- 
dernen Anſchauungen widerjprehende Menge Clet- 
tronen im Molekül annehmen. Krauw kow ſpricht von 
einer „Umwandlung der Giftſubſtanz in eleftrifche Ener- 
gie“, gibt aber felbjt zu, daß das nur ein anderer Name 
für den rätlelhaften Vorgang ift. 

Die im Folgenden genannten Auffäße führen uns auf 
das Gebiet der Bererbungsforfhung. Ketule verfolgt 
Naturw. 25, 6) die Dererbung der fogenannten Habs- 
burger Unterlippe, der befannten. dem Haufe Habsburg 
eigentümlichen Gefichtsbildung. Wie er feitjtellte, handelt 
es fih hierbei nit um eine Erbeigenſchaft, jondern um 
drei (1. wulftige Form der Lippen, 2. vorjtehender 
Unterkiefer, 3. feitlih zufammengedrüdter Schädel), die 
unabhängig von einander vererbt werden, und erft, 
wenn fie in einer Perfon vereinigt auftreten, zufammen 
die genannte Mißbildung erzeugen. Bei den Habs- 
burgern war das zum eriten Mal der Fall bei Karl V. 
(und feinem Bruder Ferdinand). In der Familie ihrer 
Mutter, Johanna der Wahnlinnigen, waren die wul- 
ftigen Lippen erblid. Karls Bater, Philipp der Schöne, 
hatte von feinem Bater den vorftehenden Unterkiefer und 
von feiner Mutter die genannte Schädelform geerbt. Die 
Nachkommen von Philipp und Johanna ftellen alfo nach 
Mendel die „erſte Hpbridengeneration“ dar. 

In U. W. 24, ©. 286 wurde berichtet, daß Santos 
das Vorhandenſein von Geſchlechtschromoſomen aud bei 
Tflanzen entdedte. Inzwiſchen find nad) einem Bericht 


Naturwiffenfhaftlihde und naturphilofophifche Umfchau. 95 


in Heft 8 der Naturwiffenfchaften bei einer ganzen Reihe 
von Pflanzen Geſchlechtschromoſome feitgeltellt worden. 
Es jteht demnad) jebt feft, daß die Vererbung des Ge- 
ſchlechts bei den Pflanzen auf diefelbe Weife erfolgt wie 
bei den Tieren. In allen unterfuchten Fällen war das 
männliche Geſchlecht das heterozygote. 

In Brit. journ. erp. biol. I 1924 (Naturwiffenichaften 
25, 6) gibt Gates einen zufammenfaflenden Beridt 
über unjere Kenntniffe von der Polyploidie, ungewöhn- 
life Vermehrung der jeder Art zukommenden Chromo- 
jomenzahl. Die äußere Folge diefer Erſcheinung ift 
häufig eine Vergrößerung des Wuchſes. Solde Poly: 
ploidie wurde künſtlich hervorgerufen (Mardal, 
Binktler), anjdeinend beruhen aber aud, was 
ſtammesgeſchichtlich wichtig ift, in der Natur die ver: 
ſchiedenen Chromofomenzahlen der Arten beitiimmter 
Gattungen (Rofe, Weizen) auf erblich gewordener, durd) 
Kreuzung entjtandener Polyploidie. 

In Heft 8 der Naturwifjenichaften werden einige neue 
Ergebniffe über die Reizbemegungen der Pflanzen be- 
richtet. Bemerkenswert find vor allem die Verſuche, die 
Start über die Leifung des geoftopifhen Reizes an- 
geftellt Hat. Er legte Haferkeimlinge wagerecht, bis ihre 
Spite ſich infolge ihre negativen Geotropismus nad) 
oben zu frümmen begann. Dann ſchnitt er dieje ab und 
fete fie auf ſenkrecht wachjende Haferkeimlinge, nachdem 
er diefen ebenfalls die Spite abgefchnitten hatte. Dann 
begannen diefe entipredyend der in der aufgefeßten Spitze 
eingeleiteten Krümmung wagereht zu wadjen. Der 
Reiz war aljo über die Schnittfläche weg in das andere 
Individuum gewandert, wie das für den Lichtreiz [hon 
früher feftgeftellt wurde. (Ber. d. Didh. Bot. Gej. 42, 
1924). 

Ein Gegenftüd zu den Unterfuhungen v. Friſch's 
über die Sprade der Bienen bilden Fidmanns 
Unterfuhungen über das Miltellungsvermögen der 
Ameifen (Naturwiſſenſchaften 25, 7). Auch die Ameifen 
beſitzen die Fähigkeit, fih in beitimmten Maße zu ver: 
ftändigen. Eine Ameiſe, Die ein Nahrungs: 
tüd nit allein ins Neft fchaffen fann, alarmiert 
mit Hilfe ihrer Fühler ihre Genoffinnen im Neft. Da 
fie anfcheinend über die Lage des Fundes feine Angaben 
machen tann, jo ſchwärmen die alarmierten Ameiſen 
regellos aus oder folgen der Spur der TFührerin. Genügt 
die Hilfe nicht, fo wiederholt die erſte Ameiſe den Alarm. 
Der Alarm unterbleibt, wenn die Nahrung aus Stüd- 
hen beiteht, jodah fie von der Finderin durch mehr: 
maliges Hin- und Herlaufen geborgen werden fann. Be- 
merfenswert ijt aud), daß man vergeblich verjucht, eine 
mit der Bergung beichäftigte oder auf einem Meldegange 
befindliche Ameiſe durch dargereichten Honig von ihrer 
„Pflicht“ fortzuloden. Manchmal läßt fih bei einer 
jolen Ameiſe ein regelrechter Kampf der Triebe beob- 
achten, in dem immer das foziale fiegt. 

Ein ſeltſames Naturſchauſpiel bildete der Injelten- 
wanderzug, den H. Prell am 9. September 1924 in 
den Alpen beobadıtete (Biol. Zentralbl. 1925, 1). Auf 
dem Grat des Hohenjtollen jtehend, fah Prell, wie in 
ununterbrodenem Zuge ünfelten, deren Anzahl er auf 
1000 Ichäßt, über den Grat von Süden nah Norden ge- 
flogen tamen, dabei gegen den Wind anfämpfend. Der 
Vorbeiflug dauerte zwei Stunden. Der Zug beitand 


größtenteils aus Schlammfliegen, Tagjchmetterlingen 
und Libellen. Man fann es nadjfühlen, wenn Prel den 
Eindrud „geradezu überwältigend” nennt. Wie aus 
allerlei Anzeichen gejchloffen werden tann, haben die Jn- 
fetten ihre Wanderung bis zum Aaretal fortgefebt. Prell 
nimmt an, daß die Inſekten anfangs dur Quftitrömun- 
gen am Talgrunde emporgerifen worden find, dann 
jpäter, angelodt durch beſſere Lichtverhältniffe aktiv den 
Flug fortgefeßt haben. Immerhin jcheint ihm feine Er» 
Härung nicht ganz ausreihend. Sm Heft 1 des Biol. 
Zentralbl. beridtet R. Heffe von Zerfförungen von 
Bleirohren duch Tiere. Es Handelt fid dabei um 
Ratten, Käferſchnecken und eime oftafiatiide Haut- 
flüglerart (von der Gattung Hylocopa). Der all der 
letztgenannten ſcheint uns am feltjamjten zu fein. Diefe 
Hautflügler bohren in die 0,8 mm diden Bleimäntel, die 
in den Tropen häufig zum Schuß der Telephonfabel ver: 
wandt werden, Deffnungen von etwa í cm Durchmeffer. 
Dahinein legen fie ihre Eier mit Futter für die Brut. 
Sntereffant ift die Erklärung, die für dies Verhalten des 
Inſekts gegeben wird. Danad hält diejes die Bleiröhren 
für Bambusrohre, denn jobald die Kabel mit einem Ge: 
webe bededt werden, werden fie nicht angegriffen, weil 
das Inſekt dann an der weideren Beichaffenheit der 
Oberfläche merkt, daß es fih nit um Bambus handelt. 
c) Naturphilofophie und Weltanfhauung. 

Zwei Sonderabdrude aus der Königsberger Kantfelt: 
ſchrift (Dietrichſche Verlagsbuchhandlung, Leipzig) ent- 
halten Beiträge von R. Unger: „Der beiticnte Him- 
mel über mir... . .“ und von W. Sauer: „Neue 
„Horizonte der Kopernitanlihen Wendung‘. Cs ift bei 
beiden ſchwer, den Inhalt in ein paar turze Worte zu 
faffen. Unger will in der Hauptſache zeigen, wie fih 
bei Kant das Verhältnis von wiſſenſchaftlicher Welt: 
ertenntnis und praktiſcher Religioſität allmählid) zu 
immer geiftigerer Form geklärt Hat. Jn der „Allge- 
meinen Naturgefchihte und Theorie des Himmels“ gibt 
ibm der geftirnte Himmel noh den religiöfen Gedanten 
einer Möglichfeit unendlicher Weiterentwidlung in an- 
deren Welten und einer unendlihen Bervolltommnung 
unferer Erkenntnis von der Schöpfung an die Hand. 
Am Schluß feines Lebens dagegen, in der Kritik der 
praftiichen Vernunft, weldye das befannte Wort vom be- 
ftirnten Himmel über mir und dem moraliſchen Gefeh 
in mir enthält, ift es weniger diefe naturphilofophifche 
Seenreihe, als vielmehr eine innere Verwandtſchaft 
zwifchen den Eindrüden der Größe der Schöpfung einer: 
feits und der Majeftät des Sittengeſetzes andererfeit3, 
welde Kant zum Ausdrud bringen will. — Sauers Ab— 
handlung ift eine willenfchaftstheoretiiche. Sie behandelt 
die Thefe, daß das Grundgeſetz jeder einzelnen Wiſſen— 
Ichaft ihr kopernikaniſcher Standpunkt fei, und führt diefe 
Theſe an einer verjuchten Gliederung des Syſtems der 
Wiſſenſchaften durch. Beide Schriften find Fehr geeignet, 
Kant für unfere Zeit fruchtbar zu machen. 

Weiter liegt mir vor der am 22. April vorigen Jahres 
auf Beranlaffung einer Reihe Iippifcher Vereine, darunter 
aud der DOrtögruppe des Keplerbundes in Detmold von 
Dr. ©. Schilling -Lage, unferem Mitarbeiter, ge- 
haltene Feftvortrag: „Rants Lebenswert als Babe und 
Aufgabe“. Ich war damals verhindert, dem Bortrage 
jelber beizumwohnen, und eine Kritik post festum er- 


96 
ſcheint mir ziemlich unfruchtbar. Der Verfaffer will 
zeigen, wie Kant „jene beiden großen Grundprobleme der 





Philoſophie, das Problem des Gegenſatzes zwiſchen 


Glauben und Wiſſen und das des Widerſtreites zwiſchen 
Pflicht und Neigung grundſätzlich und ein für allemal 
gelöſt habe” (©. 17), indem er, alte, eingewurzelte Dent- 
gewohnheiten durchbrechend, die bis dato ftets geübte 
Frageſtellung felber angezweifelt habe. Ich weiche von 
dem Herrn Berfafler jo ftart in der Bewertung der 
Leitung Kants ab, daß es wenig Zwed hat, hier in 
einem furzen Referat darauf einzugehen. Doc tann id 
den in der Meyerſchen Hofbuchhandlung, Detmold, er- 
Idienenen Vortrag empfehlen als gute, leicht lesbare 
und tare Einführung in das Wert Kants vom Stand: 
puntte eines Santianers. 


In den Moniftifhden Monatsheften Juni 1924 (die 
Hefte durchzuarbeiten war mir erft jegt möglich) fand 
ih einen febr lehrreihen Aufſatz des befannten monifti- 
ihen Biologen Kammerer über Amerika. Wie weit alle 
feine Angaben zutreffen, fann ih nicht nachprüfen, 
nehme aber an, daß das Sachliche im allgemeinen doc 
rihtig fein wird. Der Aufſatz behandelt die neuere 
Entwidlung des Streites zwiſchen Glauben und Wiffen 
in Amerika. Am interefjanteften daran find die An- 
gaben über den Verlauf des Kampfes um „Evolutionis» 
mus“ und „Tundamentalismus” („alſo“ — fügt 8. hin- 
3u — „über Entwidtungslehre und Buchitabenglauben“). 
K. berichtet über eine große öffentlidde Debatte zwiſchen 
dem Baptiftenprediger Straton und dem Unitarier 
Potter, die in Newyork vor überfülltem Haufe ftatt- 
fand. „Zwei Maffenverfanmlungen waren nötig, um 
die Erörterung durchzuführen: die erjte endigte mit einem 
Giege Potters, aber in der zweiten wurde er von 
Straton „widerlegt“. Als Handelte es fi um ein 
Preisboren, entfcheidet eine Jury, wer gewann: eine 
Jury, der fein einziger Biologe angehört! .. . In 
Springfield (Kentudy) gelang e8 den Fundamentaliſten 

. . . die Bevölkerung derart zu verheben, daß alte 
Freundſchaften gefündigt, Läden und Bankgeſchäfte boy: 
fottiert wurden, wofern ihre Inhaber im Geruche des 
Evolutionismus ftanden. Profeffor U. D. Owens und 
ein anderer Mittelſchullehrer wurden ebendort öffentlid) 
angeklagt, den gottlofen Darwinismus in der Schule 
gelehrt zu haben: fie befinden fidh gegenwärtig in Difzi- 
plinarunterfuhung. An der Spike der fundamentalifti: 
iden Bewegung jteht aber fein Priefter, fondern ein 
PBolititer: W. I. Bryan (vgl. „Uniere Welt” 1922, 
Nr. 11)... . „3ft es zu glauben — fo ungefähr ruft 
er aus, ermutigt durch ſtürmiſchen Beifall feiner Ju- 
hörer —, daß niedere Mleerestiere an Qand gekrochen 
icien; hier feien unter dem Einfluß der Sonnenftrahlen 
hügelige Borwölbungen an den Meerestieren entitunden 
und aus ihnen haben fih die Augen gebildet. Und wer 
ſelchem Blödfinn Vertrauen fdyenfe, wolle an den be: 
3eugten Wundern der Bibel zweifeln?’ CEbenbürtig war 
ein von Kraß vorgebradter „Beweis“ dafür, dıp wir 
olles der Vererbung und nichts der Anpaffung verdunfen: 
man könne Goldfiſche beliebig lange im Beden eines 
Gewächshauſes halten, fie würden doch immer nur Fiſche 
und feine Blumen erzeugen.” Kammerer erwähnt! dann 
weiter das jhon a. a. O. erwähnie Berbot der Entwid: 
lungslehre in Kentudg und North-Carolina und tragt, 


aturwiſſenſchaftliche und naturphifofophifhe Umfhau. 





welder Zuftand vorzuziehen fei, der deutſche, wo man 
nod gar niht zur Einführung der biologiſchen Entwick⸗ 
lungslehre in die Schule vorgejchritten fei oder der ame: 
tifanijche, wo man aus reattionärer Tendenz fie wieder 
abſchaffe (biologifher Unterricht, auh in der Entwid- 
[ungslehre, war in Amerika an vielen Schulen cinge- 
führt). Seine weiteren Ausführungen über das Ber- 
hältnis der amerikaniſchen Wiſſenſchaft zur Religion 
übergehe ich, lehne natürlich aud) die deutlih in K.s 
Worten zu mertende Parteiftellung des Moniften ab. 
Troßdem dürfte der Tatbeftand ftar? zu denken geben. 

Was im übrigen alles bei dem Unterricht in der Cnt- 
widlungslehre heraustommen tann, zeigt überrufchend 
ein Blid in eine der bedeutenditen ameritanifhen Dar- 
jtellungen der Entwidlungslehre, die von dem drüben 
hoch angejehenen Biologen W. Patten herrührt. Das 
Buch führt den Titel „Ihe Grand Strategn of Evo- 
lution” (etwa: Der große Plan der Entwidlung), ift 
zum Unterridyt in höheren Schulen, insbefondere an dem 
Dartmouth College, wo der Berfaffer wirkt, beitimmt 
und enthält eine großzügige Darftellung der allgemeinen 
Entwidlungslehre, die an fih gewiß ihren Zweck vollauf 
erfüllt. Das Schlimme daran ift num aber, daß der 
Verfaſſer in der fritiflofeften Weife die befannten Zügen 
der feindlichen Preffe aus der Kriegszeit über die deutſche 
Schuld am Weltkriege in diefe Darftellung hineinverwebt. 
Bei Gelegenheit der Darftellung des Darwinismus (den 
er ablehnt), fegt er auseinander, wie diefe verderhlicden 
Lehren vom allgemeinen Kampfe ums Dafein ufw. ins- 
oefondere in Deutichland zur allgemeinen Moral der 
Gebildeten geworden feien und Badurd die Hauptſchuſd 
am Weltfriege hätten. Ich zitiere wörtlich gemäß einer 
von Herrn Direktor Müller freundlihft zur Verfügung 
geftellten Uebeſetzung: 

„Diefe falfche, kurzſichtige Philofophie der Biologen 
mar in mweitgehendem Maße für den Weltkrieg verant- 
wortlih. Die deutihen Wiffenfchaftler waren die erften, 
d'e fih unummwunden zu Darwins Coolutionslehre be- 
fannten; Deutfchlands führende Männer waren die 
eriten, die unummunden in die Politit, das Geſchäfts— 
leben, die Philofophie und die Religion die höchſt ver: 
derblien Lehren vom Kampf ums Dafein und dem 
Ueberleben des Tüchtigſten aufnahmen. 


Deutichlands Einftellung zur Weltpolitit war das Er- 
gebnis feiner entfchiedenen Anwendung willenjchaftlicher 
Grundfäße, insbefondere folder der Biologie, auf inter- 
nationales Leben. Seine innere Politi? war ein rein 
ſcholaſtiſches Bemühen, aus einem tlareren Berftehen 
und einer bejleren Nadahmung tieriſchen Qebens und 
der Naturgefehe Nuten zu ziehen. In der Hinfiht war 
icin Vorſatz völlig geredtfertigt und feine Bemühungen 
löblid. Daß man das Naturgefchehen falſch auffaßte, 
ift verzeihlih: darin ftand und fteht Deutichland nicht 
allein. Aber die praftiide Anwendung feiner Theorie 
mit all den gemeinen, herzloſen und verbrecheriſchen 
Einzelheiten war eben nur möglich bei einem gefühllofen 
Nolte, deffen fittlihe Anlagen und gejellichaftlicder Idea: 
lismus zu unreif oder zu ftar? niedergehalten waren, um 
fid) gegen die Logik jener Forderungen aufzulehnen. 

En Aber für die Melt ift das gut. Denn Deutſch— 
land hat der Welt gezeigt, indem es 3u diefem Erperi- 
ment all die unvergleichlichen Hilfsmittel körperlicher, 


Eine der Urſachen von Deuiſchlands Aufſtieg war die. 


Entwidlung feiner Wiffenihaft; die entichiedere Feil- 
heit der Wiffenfchaft war eine der vielen Urſachen feines 
Falles... . 

Wenn der berufsmäßige Wiſſenſchaftler, der gemweihte 
Jünger der Wahrheit, ausgeſprochenermaßen fih in 
einen liltenreihen Propagandiſten oder ein wiſſenſchaft— 
fies Werkzeug des Ränkeſpiels ummandelt, deffen 
Hauptoorfa ift, Lügen zu verbreiten und draußen Ber: 
mwirrung und Anarhie zu fchaffen, um deito beffer im 
trüben Waffer zu filden, — dann wird eben der Beift, 
der ihn ſchuf, an der Quelle vergiftet, und die Willen: 
ſchaft ſelbſt wird zerſtört. Der Geift der Wiſſenſchaft 
und der Geift des Ränkeſpiels ſchließen ſich gegenfeitig 
cus und vernichten fih gegenfeitig. ‘Sie fünnen nidt 
ouf demfelben Boden gedeihen. Denn fein Menſch und 
tein Bolt tann wirkfam gleichzeitig Lügen und Wahr: 
beiten übermitteln; Erfolg bei einem Verſuch ſchließt 
automatifch Erfolg beim anderen aus. 

Dder fehen wir uns die Philofophie der Selbſtſucht 
felbft an. Ein veines Raubfyftem muß von dem Mus- 
gebeuteten leben; es ift daher in feinem Wachstum auf 
jene Hilfsquellen befchräntt. Wenn jene Hilfsquellen auf: 
gebraucht find, gibt es nur zwei Auswege, und beide 


hiſche Umſchau. 97 
Belbjtvernichtung: entweder muß das Syſtem 
p gänzli umwandeln, oder fih gegen fid 
innen wenden, fih ſelbſt verzehrend. 

;B. die ausgebeutete Raffe oder Klaffe oder 
chwächt und von Zerftörung bedroht ift, fo 
m Ausbeuter durch feine Anftrengung wieder- 
werden, es fei denn durch eine Form von 
Haft, die, um zweddienlich zu fein, zur Um- 
bes Raubjtaates in ein Syſtem gegenfeitiger 
n muß. 

tits tann in Notzeiten, angeſichts des Feh- 
er Hilfsquellen, der wahre Anhänger eines 
s folgeritig feinem Mitglied des Syſtems 
verweigern, den Nächſten anzugreifen und 
„da alle Gründe zur Zufammenarbeit zweds 
o des gemeinfamen Feindes verfchwunden 


an ſo etwas lieft, jo fragt man fih vergeb- 
t folder Wuſt von Irrtum jemals wieder zu- 
en foll. Patten ift, wie mir Herr Dir. Müller, 
önlich tennt, verfichert, ein Ehrenmann, der an 
ger als an ungerechte Vorwürfe dentt. Er ift 
yanebücdenen Beihuldigungen offenbar feljen: 
igt und, wie ich höre, jeder Belehrung unzu- 
Wenn nun fo etwas an einem foldyen dodh 
der übergroßen Mehrzahl durch Willen zur 
und Wahrheit hervorſtechenden Manne mög- 
œ folen wir Deutſchen jemals Hoffen, die 
ge dort drüben zu überzeugen, daß die ganze 
von U bis 3 Unfinn ift, der nur auf Grund 
Infenntnis der wirklichen geſchichtlichen Tat- 
der wirklihen Stimmung in Deutſchland fein 

m tann? 
Ann. der Phil., Bd. IV, ©. 105, Stellt der 
$ mehrfach erwähnte Ertenntnistheoretifer 
ap eine Unterfuhung über den logiſchen 
jang zweier Fiktionen, nämlid) der Drel- 
= _ itäf des Raumes und der Kanfalitäl an. Er 
femmt 3u dem Ergebnis, daß die „primäre Welt“, 
ò. b. die Welt der ungedeuteten Sinnesempfindungen, 
nur 2+1 Dimenfionen þat, während die „ſekundäre 
Melt“, d. H. die Welt des täglicden Lebens und die 
der Wiſſenſchaft 3+1 Dimenfionen (drei Raum: und 
eine Zeitkoordinate) hat. Er führt dann den Begriff 
der „dDeterminierenden Geſetze“ und der „beichränten: 
den Geſetze“ ein, zeigt, daß es folde nur in der ſekun— 
dären Welt gibt, und daß diefe „Fiktion“ in logiſchem 
Zufammenhang mit der Erweiterung der Dimenfionzahl 
con 3 auf 4 fteht. 
Unfer febr geichäßtes Bundesmitglied, Sanitätsrat 
Dr. Bagenfteher in Merito, Hat im Verlag von 
C. Marhold, Halle eine erperimentelle Studie über 
„außerfinnlide Wahrnehmung“ veröffentlidt, in der 
er feine Verſuche mit einer feiner Patientinnen fchildert, 
bei der er dur) Zufall mediale Fähigkeiten entdedte. 
Die Darftellung der Einzelheiten würde zu viel Plah 
beanjprudyen und ohne ganz ausführlide Wiedergabe 
der Protokolle gibt ein Bericht über ſolche Dinge doh 
nur ein falſches Bild. — In den Mitteilungen der 
Deutſchen Geſellſchaft für wiſſenſchaftlichen Okkultismus 
(Oktober 1923) hat Dr. med. Kröner einen Bericht 
über „Diagnofenjtellung duch Fernfühlen“ gegeben. Es 


98 Naturwiſſenſchaftliche und naturphifofophifche Umſchau. 


handelt fih um Berfude, die ein Mitglied der Gefell- 
ſchaft, Sanitätsrat Dr. Brud mit einer Frau Elifabeth 
3., stud. med., angeltellt hat. Das Medium foll da- 
nah imjtande geweſen fein, die Diagnoje eines Falles 
aus Dr. Br.s Praxis, an den diefer im Augenblid des 
Verſuchs dachte, richtig zu Stellen, fogar in einem zweifel- 
haften Falle eine Differentialdiagnofe 3u geben. Ferner 
foll fte in einem anderen Verſuche prophetifhe Diagnojen 
gegeben haben, indem fie die drei Fälle, weldye an dem 
dem Merfucdstage folgenden Morgen zuerit in die 
Spredjftunde des Dr. Br. tamen, im voraus ridtig 
geihildert haben fol. Ich muß geltehen, daß mid) die 
Berichte nicht überzeugt haben. Im legten Falle fehlt 
3. B. durdaus bie Beitätigung unbeeinflußter und ver- 
trauenswürdiger Beugen dafür, daB die drei prophe- 
zeiten Fälle wirfli in der angegebenen Reihenfolge 
eintrafen. Í 


Ein Zeichen der Zeit ift die Feftrede, die Prof. Dr. 
Shauinsland, der verdienftvolle Leiter des 
Bremer Städtifhen Mufeums und unfer langjähriger 
Bundesfreund, zur Feier des 60jährigen Beltehens des 
dortigen naturwifjenichaftlihden Vereins gehalten hat. 
Bor zwanzig bis dreißig Jahren wäre ſie ſchwerlich 
ander als mit eiligem Schweigen und einem gewiſſen 
überlegenen Lädeln begrüßt worden. Heute ift fie 
fiherlid mit großem Beifall aufgenommen worden. 
Der Redner gibt darin einen furzen, aber febr um: 
faffenden Weberblid über alle großen Fortſchritte der 
Naturforfhung feit etwa 1900. Er ſchildert die wunder: 
vollen Ergebniffe, die hauptſächlich die neuere Phyſik 
aufzumweifen hat, er gibt aber auch eine Kritik von 
Theorien, die nicht gehalten haben, was fie verſprachen. 
Ganz befonders wendet er fi) gegen den Nur:Darwinis- 
mus, wobei er freilich meines Eradjtens über das Ziel 
ein wenig hinausſchießt. Crit recht würde ich prote: 
ftieren gegen den Sap, daß die geſamte Abjtammungs- 
lehre nur „eine dee der theoretiſchen Biologie fei, die 
zwar für die wiffenfchaftlide Arbeit von bisweilen be- 
deutendem Nutzen fein könne, aber in Wirklichfeit dod 
meiter nichts wie eine Filtion fei”. Doch enthält die 
Rede befonders am Schluß ein fo echtes Empfinden für 
das große Wunder, das hinter der ganzen Schöpfung 
fteht, daß ich fie gern in den Händen unferer Pfarrer 
fähe als Zeugnis dafür, wie fih in der heutigen Natur- 
forihung wieder der Sinn für den höheren Gehalt regt. 
Hoffentlich nehmen fie ſich nicht gerade das heraus, was 
meines Erachtens doh nur 3u unzulängliden apologe- 
tiſchen Verfuchen führt. Die Rede ift gedrudt bei Iling 
und Lüten in Bremen, als Sonderabdrud der Abhand: 
lungen: des naturwiflenjchaftliden Vereins Bremen, 
Bd. 26, 1. 


Eine ausgezeichnete Pleine Schrift fei an diejer Stelle 
unferen Lejern dringend empfohlen, ich meine den Ub- 
drud des Vortrags, den unfer verehrter Bundestreund 
Rıofeffor Dr. Gruner:Bern auf der PBappenheimer 
Teiltonferenz der „Deutich-driltliden Studententonfe: 
renz“ 1921 gehalten hat. Der Vortrag, der im urde: 
verlag erſchienen ift, behandelt das DBerhälfnis des 
modernen phylitaliihen Weltbildes zum chriſtlichen 
Glauben. Gruner führt darin zunächſt mit feinem be- 


fannten Geſchick, auch Schwierigſtes in leicht verjtänd- 
liche Form zu bringen, die Grundgedanfen der Reıativis 
täistheorie aus, wobei er erfreulicherweife fehr ftar? be- 
tent, daß dieſelbe weit entfernt, einer relativiftiichen 
Philoſophie Vorſchub zu leiften, gerade umgefehrt die 
cbjeftive abfolute Realität des Weltſeins hervoitreten 
läßt. Den Kern der Darlegung bildet dann eine Aus: 
einanderfegung über einen etwaigen Verſuch, auf Grund 
der Einftein » Mintowstiihen Lehren nun erft redt 
einen Determinismus ftrengfter Richtung au be- 
gründen. Gruner zeigt, daß wir über die Natur der 
allgemeinen „Weltfunttion“ nichts wiffen. Sie tann 
vielleiht unendlidy vieldeutig fein und die Weltiinien 
unjeres Bewußtſeins Lönnen an unendlich vielen Stellen 
„Berzweigungspunfte” haben, d. h. in religiöfer Faſſung: 
„Bei. Gott ift der ganze Weltplan einſchließlich aller 
Möglichkeiten für alle Zeiten fertig da, aber 
welche diefer Möglichkeiten er für uns zur Wirklichkeit 
werden laffen will: das ift feine Sade. Die notwendig 
determiniftifhe Form, in der wir uns das phhfitalifche 
Weltbild denten müffen, um e3 verftehen zu fünnen, 
bat deshalb über die Frage eines wirklich objektiven 
Determinismus, die rein pbhilofophifch religiös zu De- 
antworten ift, gar nichts auszufagen.“ Zum Schluß 
geht der Vortrag auf die Jittlich:religiöfe Seite des Da- 
feins ein und zeigt aud hier, daß die „Nelativität“ in 
der modernen Phyſik nichts mit einem Relativismus im 
ſittlich-religiöſen Sinne zu tun hat. Nicht beitreten tann 
ih dagegen feinem Sage: „Es ift gut verjtändlid, dab 
die Erlöfung der Menfchheit, die abfolut und von uni» 
verfeller Bedeutung fein muß, ſich dodh eben konzentriert 
ın einem zeitlichen Ereignis auf einem Punkte diefer 
Erde”. (©. 28.) Gewiß ift „in dem allgemeinen gött- 
lichen Weltenplan aud der winzig Meine Brudjteil 
unjerer Menichheitsgeihichte enthalten, fomit auch ihr 
Erlöfungsplan darin vollgültig niedergelegt.” Aber 
daraus fann meines Erachtens nimmermehr etwas 














_ anderes gefolgert werden, als daß diefer Plan eben für 


diefe unjere Menichheit gilt. Bon einer kosmiſchen Er- 
weiterung desfelben wiffen wirnidts, und nichts 
garantiert uns, daß ausgerechnet wir der, wenn aud 
nicht förperliche, fo dodh geiltige Mittelpuntt des Uni- 
verfums fein müßten. Daraus, daß für die Menfchheit 
an diefem Punkte das Xbfolute faßbar wird (in der 
Sprade des Apoftels ausgedrüdt, daß für uns „Bott 
in Chrifto war”), folgt niemals, daß dies nun ohne 
weiteres auch für den ganzen Kosmo3 gilt. Diefe bei 
den rein geozentriichen Weltbild im Altertum freilich 
ſelbſtverſtändliche metaphyſiſche Enweiterung ift meines 
Erachtens heute eine unzuläſſige Verallgemeinerung 
eines an ſich — vom Standpunkte der Menſchheit und 
diejer Erde aus — ridtigen Sages. Man kann viel- 
leicht noch einen Schritt weiter gehen und in dem, was 
bier auf Erden geſchah, ein Typiſches und damit zeitlos 
Gültiges erfennen. Uber deshalb bleibt doh diefe e in- 
malige Geididte hier bei uns ein Einzelfall und hat 
nicht als folder, jondern nur durd das, was er an 
Ailgemeinem enthält, dieje typiide Bedeutung. Doğ 
darüber fann man weiter fi auseinanderfegen. Als 
Ganzes jei der tiefgehende Portrag wärmitens 
empfohlen. 


Neue Literatur. 99 





us." ZU — — 





ie in dieſer Zeitichrift beiprom. guten F Bücher beiorat jede Bumpandinne und die Sorfimentsabt. des A des m 


Baltian Shmid, Peitalozzi und wir. (117 ©., -Standpunft vertritt, gegen die anderen Kenner des Ge- 
Rösli und Co., Münjter. 1923.) Ein kleines Buh bictes, die zu einem anderen Schluß gefommen find, 
für Pädagogen, das Eintehr, Umkehr und Rückkehr auszujpielen: „Wir jahen oben, daß es nicht gerecht— 


z2 


predigt. Peſtalozzis uralte Grundforderungen find, bei 


— — — — 


— — — 


— —* 


allem Reformeifer unter einem Wuſt von Unnaktürlich— 
feit und Unmwahrhaftigfeit verjchüttet. Der Weg von 
uns zu PB. zurüd ift zugleich der „vom Intelleftualismus 
zur Harmonie”. Bejondere Behandlung erfahren, als 
eeignetite Mittel, der Unterricht in der Naturkunde und 
im Deutſchen. In der Wuseinanderjfegung mit den 
Problemen der heutigen Schulpädagogif erfreut die 
maßvolle Art, mit der der Verfaſſer vor dem über- 
triebenen Perſönlichkeitskultus eben vergangener Tage 
want. Peſtalozzi ift ein Weg und ein 
Hiel: durh Anſchauung zu Wahrheit, Gejchlolfenheit, 
Sittlihfeit und Gott. Umfangreide Anführnugen aus 
P.S „Abendſtunde eines Einfiedlers“ leiten das Büch— 
lein ein wie ein Bibelwort die Andacht eines Gläu— 
bigen. 

Baftian Shmidt, „Die Spradhe und andere 
Ausdrudsjormen der Tiere“. (Rösl und Co., Münfter, 
1923. 158 ©.) Mit Ddiejer kleinen Schrift, die aus 
jabrzehntelangem Umgang mit Tieren hervorgegangen 
it, will der Verfaſſer zur Mitarbeit an diefem neu: 
entitehenden Willenszweige anregen. Eine Fülle von 
Beobachtungen aus dem ganzen Tierreid), beſonders 
Haustieren und Inſekten, wird in anſchaulicher Spradje 
im Lichte diejer Frage behandelt. Ein Büchlein für 
denfende Tierfreunde. 

R. Tiſchner, Geſchichte der ofkultiftiihen (meta= 
pſychiſchen) Forihung von der Antike bis zur Gegen: 
wart. 2. Teil: Won der Mitte des Jahrhunderts bis 
zur Gegenwart. (Pfullingen, Baum, 1924. 371 ©.) 
Diefe Fortfegung der „Geſchichte der ofkultiftifchen 
Forſchung“ von Auguſt Ludwig ftellt fi) als eine 
fleißige, überſichtliche Arbeit dar, die dem Verfaſſer 
alle Ehre madt. Tiſchners Einftellung zu den okkul— 
tiſtiſchen ragen ijt befannt. Er ift Animiſt; von 
Haus aus Naturwiſſenſchaftler, hat er die Einfeitigkeit 
des naturalijtiiden Monismus erkannt und vertritt 
einen vitaliftiih gerichteten „empiriſchen Dualismus“. 
So beurteilt er die in Frage fommenden Erſcheinungen 
natürlich anders als einer, der durch eine moniftijch- 
poſitiviſtiſche Einſtellung von vornherein gewiſſe intellef: 
tuelle Hemmungen mit an die Wertung der Phänomene 
beranbringt So erkennt T. immerhin mandes im 
Gegenjag zu den Forfchungen feiner Vorgänger an, 
deren ablehnende Stellung er nah allem für unberech— 
tigt halt. Eine Tatjache ift jedenfalls auffällig: daß 
nämlich jeder, der den Dffultismus ernſtlich ſtudiert, zu 
einer mehr oder minder bejahenden Stellung gefommen 
it, mit einer Ausnahme: Moll. Doh T. jagt, es 
sehe niht an, diefen einzigen, der einen ablehnenden 


fertigt wäre, Moll eine ſolche Autorität zuzubilligen. 
Sa, bei Licht befehen, fann er überhaupt niht als ge- 
nauer Kenner des Gebietes gelten; meines Wiffens 
hat er mit feinem Der anerfannten bedeutenderen 
Diedien der lebten Jahrzehnte eine auh nur etwas 
längere Berjucdhsreihe angejtellt.” Bejonders berüd: 
ſichtigt T. die englifch-amerifanifhen Forſchungen, aber 
auch die anderen Länder, einjchließlih Deutſchlands, 
jind fo eingehend behandelt, daß das Werft T.s ein vor: 
zügliches Nachſchlagebuch bildet. 

Charles Baudouin, Die Macht in uns. 
(Dresden, Sibyllen-Verlag, 1924. 177 S.) Von der 
Nancyer Schule ift bei uns Emil Coué beſonders be- 
fannt geworden. „Es ift der Geijt, der fih den Körper 
baut!” Das ift die Loſung der Nancyer, und bejonders 
auf den Gebieten der Erziehung und der Medizin find 
fie richtungweifend geworden, ein neues Beien für 
die Abfehrung des Zeitgeiltes von der medaniftifchen 
Naturauffaffung der Hädelzeit. Der Titel des hier vor- 
liegenden Budes jagt jhon genug: B. zeigt, daß „den 
geijtigen Tätigkeiten viel mehr Macht und verläßliche 
Genauigkeit innewohnt, als wir je geahnt hätten“, er 
regt uns an, bier „den Quell der fittlihen Kraft, der 
Herrihaft über unfer Innenleben zu ſuchen“. Mand 
treffende Bemerfung enthält das Bud, fo bei der friti- 
jhen Betrahtung der erperimentellen Piychologie und 
ihrer Anwendung in der Berufsberatung, wo B. zum 
Beijpiel mit Recht meint, legten Endes fei dodh immer 
nur das Dnterefie, die Luſt und Liebe als Anzeichen 
des Triebes, der inneren Berufenheit, von ausſchlag— 
gebender Bedeutung. So hätte die Berufsberatung in 
ihrer gegenwärtigen Geltalt mehr die Aufgabe, Leute 
mit ungeeigneten Anlagen von einem Beruf fernzu: 
halten, jei aljo mehr in diefem negativen Sinne von 
Wert. (W Hugo zum Beilpiel hätte nah den Ergeb: 
nifjen der Reifeprüfung die befte Ausjicht gehabt, in 
den exakten Wiflenjchaften Herporragendes zu leilten, 
und pätte jomit eine techniſche Hochſchule beziehen müſ— 
ien; aber deshalb wird niemand behaupten wollen, er 
jabe feinen Beruf verfehlt, als er — gegen den Willen 
des Baters — der inneren Stimme folgte.) Wie jchon 
für Coué nicht der Wille, fondern die Einbildungstraft 
die Triebfeder des Handelns ift, fo fordert auh B. 
lo:gfältige Pflege der Phantajie, gerade mit Hinblid 
auf das tätige Leben; und dieje Pflege, deren beites 
Hilfsmittel die Kunſt ift, erfeheint jomit nicht mehr als 
bloßer Lurus, jondern als Lebensnotwendigfeit. 

Dr. Wilhelm Prag, Das Forfhungsgebiet des 
Dfkultismus, (Stuttgart, Streder und Schröder, 1924. 
163 ©., tart. 2,40 M.) Das Bändchen ift eine febr 


100 


fiare Weberjiht über die Tatfaden und NRätfelfragen 
des Oftultismus, aber ſelbſt für eine Einführung etwas 
fnapp gehalten. Man hätte lieber eine gründlichere 
Behandlung eines beitimmten Fragenkomplexes als 
dies Durchfliegen aller. Der Berfafier hat das wohl 
ſelbſt gefühlt; denn er weiſt feinem Lefer durch Lite- 
raturnachweife jelbft die Wege zu tieferem Eindringen 
in die einzelnen Gebiete. Wohltuend ift die fachliche 
. Haltung P.s, der die Gründe der Bejaher wie der Ber- 


neiner einer gleich vorurteilsiofen Prüfung unterzieht 


und ſchließlich die Entjcheidung offen läßt. 


KR. Hahn, Grundriß der Phyſik, Il. Teil für die 
Oberftufe höherer Lehranjtalten und für Fachſchulen. 
2. Aufl. mit 336 Fig. B. ©. Teubner, Leipzig und 
Berlin. 1924. — Diefes Phyſiklehrbuch ift meines 
Wiſſens das einzige, das entichloffen den Ergebniffen 
der modernen Forſchung auf allen Gebieten, ſoweit es 
für. die Schule möglid) ift, Rechnung zu tragen fih be- 
mübt. Es unterjcheidet fidh ferner von der übergroßen 
Mehrzahl der heutigen Lehrbücher dadurch, daß es nicht 
wie diefe das Erperimentelle und Techniſche, fondern 
das Logiſche in den Vordergrurd ſtellt. Es entwidelt 
die phyſikaliſchen Begriffe und Geſetze faft ohne Be: 
zugnahme auf jpezielle Apparate und VBerfudsanord- 
nungen. Das hat den großen Borzug, daß es den 


Lehrer febr wenig in erperimenteller Hinficht bindet; - 


natürlid aud den Nadteil, daB es für den Schüler 
vielfah ein wenig unanſchaulich und abitraft wirft. 
Doch wird diefer Nachteil wohl reichlich wett gemadt 
durch die treffliche Klarheit und Cinfachheit der hegriff- 
‚ lichen und mathematifhen Entwidlungen. Hahn ver- 
fteht es vorzüglich, überall den nächſten Weg zum Ziele 
zu finden und dadurch auch das Schwierigere verhält: 
nismäßig leicht zu machen. Auf der anderen Seite hat 
er febr vernünftiger Weife eine Unmenge entbehrlicher 
Einzelheiten und Breitheiten des üblichen Lebrganges 
geftriden oder doch Stark reduziert, um dadurh Plah 
für die neueren Forfchungsergebniffe zu gewinnen, eine 
Forderung, die Referent feit langem erhoben hat. Bon 
den leßteren, die Hahn in diefem Bude bringt, die aber 
in den meilten Schulbüchern heute noch fehlen, feien 
bier folgende angeführt: die finetifche Gastheorie bis 
zur Berechnung der Lofhmidtihen Zahl (8 36); Die 
erweiterte Zuſtandskurve der Gafe (nad) van der Waals, 
§ 56); der Garnotiche Kreisprogeß und der zweite 
Hauptfaß; die Strahlungsgefehe von Wien und menig- 
tens in graphifher Darftellung auh die Planckſche 
Kurve; die Formeln der oszillatorifchen Entladung; die 
Berechnung des Berhältniffes von e;m bei den Ka- 
thodenftrahlen; eine ausführliche Darftellung überhaupt 
der Korpustular- und Röntgenſtrahlung und Radio: 
aftivität; Jonentheorie der Entladungen in Gafen; 
eleftromagnetijche Lichttheorie;, Zeeman-Effekt; Spet- 
tralgefege einjchließlich folder der Röntgenfpeftren, und 
im Sclußkapitel Relativitätstheorie und Quantenlehre 


mit Bohrſchem Atommodell. Critere wird bis zur Ber- 


inderlicheit der Maffe und zur Maffenenergieformel 
gefördert; letzteres nicht volljtändig mathematiſch durd 
geführt, jondern nur fummarifch beſprochen. Weiterhin 
finden wir hier nod die Aſtonſchen Ergebniffe und 
Rutherfords Clementenabbau. So bringt das Bud) 


Neue Literatur. 


tatſächlich alles, was ein moderner Phyfiflehrer nur 
wünſchen tann. Ich ftehe nit an, es in Rüdfiht auf 
Stoflauswahl als das weitaus befte aller vorhandenen 
Lehrbücher zu bezeichnen. Nicht ganz jo völlig einver⸗ 
itanden bin ich mit der Art, wie der Berfaffer hier und 
ba feinen Stoff behandelt. An manden Stelfen ſcheint 
mir die Darftellung doh allzu abftratt, auch hatte ich 
einige kleinere ſachliche Bedenten. Da ih midh aber 
darüber mit dem Verfſaſſer dirett auseinandergejeßt 
habe, feien fie bier übergangen. Alles in allem darf 
dies Budh mit groer Freude begrüßt werden. 


Dr. A. A. Friedländer, Eigenes und TFremdes 
zu der Freud’ihen Pſychanalyſe. (I. A. Barth, Leipzig 
1923, 47 ©., 1 A). Eine verdienftlihe Zufammen- 
ftelung von Beiprehungen älterer und neuerer 
Schriften der pigchanalytiihen Bewegung, wie fie im 
Anſchluß an Freuds Lehre entitanden. F. nimmt 
einen im weſentlichen ablehnenden Standpunft zur 
Viyhanalgfe ein. Man glaubt es ihm wirklich, daß 
feine vornehme ſachliche Einjtellung „jo etwas wie — 
Entfagung“ verlangte; denn der Mift, den einige 
Schüler Freuds, ihres „Meiſters“ Anfichten populari- 
fierend und vergröbernd, verzapfen, ift geradezu 
fürdterlid. Scamröte erfaßt einen, wenn man lieft, 
welche etilen Schweinereien Leute wie Groddek in 
unfte ſchönen Märden wie Sneewittden hinein 
„deuten“. Man tann nur F. beipflidten, wenn er in 
der Seranziehung der Piychanalyfe zur Püdagogit 
ernfte Gefahren fieht; „die praftiide Anwendung der 
Pſychanalyſe durch Nicht-Aerzte,” fast er mit Redy, 
„it Kurpfufcherei.” Der Himmel bewahre uns und 
unfer Bolt vor den Analytilerinnen, die an der Spibe 
von Kindergärten ftehen, wie fe Melanie Klein 
gründen will! Mit Recht weilt bier %. auf die 
Schädigungen Hin, die dur ſchematiſche Pſychanalyſen 
mit ihrem unveränderliden feruellen Einſchlag ver: 
urſacht werden fünnen. Nun, glüdlichrweiie ift es noch 
nit jo weit, da — mie übereifrige Freudianer 
triumphierend behaupten —, die Pſychanalyſe „die 
Religion und den Gottesglauben überwunden hat.” 

Friedr. Schreyvogl, „Kalholiſche Revolution“. 
Leipzig 1924. Der Neue Geilt-Verlag, Dr. Peter Rein- 
hold. Brofchiert 2,40 M. Unter katholifher Revolution 
veriteht der Verfaffer den Willen zum Aufbau einer 
befferen Welt, und es foll die Aufgabe diefer Revolution 
fein, die Wirklichkeit ihrem ewigen Sinn anzunähern. 
Es handelt fih aljo um ein bewußtes Höherhinauf. Für 
Schreyvogl ift die geiftige Ummälzung eine fittlihe For- 
derung, und der fatholiihe Gedanke erjcheint ihm ge- 
eignet, fie — joweit das überhaupt möglid ift — zu 
verwirfliien. Das Schriftchen ift in einer erweiterten 
Form als Einführung in die „Staats: und Wirtichafts- 
lehre des Thomas von Aquin“ verwandt worden, und 
der doctor angelicus wird aud in die Beweisführung 
eingezogen. Mande Gedanten und Behauptungen des 
Verfaſſers können vom proteftantifhen Standpunkt aus 
nicht ohne weiteres zugegeben werden; wenn er anderer: 
feits in feiner Darftelung ſich bemüht, die katholiſche 
Politik ſcharf zu trennen von dem fathofifhen Ge - 
danten, jo mag man ihm vielfady beipflidten. 







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Schriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Aufſätze ſlehen die Verfafſer; ibre Aufnahme macht fie nicht zur Aeußerung des Bundes. 





XVIL. Jahrgang 


Mai 1925 


Het 5 














Die am 2. April in Caffe! tagende Kuratoren: 
verſamlung unferes Bundes hat jchwermwiegende 
Beratungen gehalten, von denen ih das Wid- 
tigfte und allgemein Snterefjierende hier mit- 
zuteillen und unjeren Bundesmitgliedern zur 
Stellungnahme vorzulegen habe. Wir wünjchen 
eine möglichſt weitgehende Beteiligung derjelben 
an einer Ausſprache darüber, und ich bitte, die 
Yeußerungen direft an meine Udreffe, Bielefeld, 
Kajtanienftr. 14 zu richten. Natürlich tann ich 
nicht veriprechen, daß all jolhe Aeußerungen 
bier zum Abdruck tommen, behalte mir aber 
vor, einiges nah Wunſch mit oder ohne Na- 
mensnennung zur SRennzeichnung der Stim— 
mung zu veröffentlichen. 

Der Materialismus ift tot. — So jagt man heute 
ellgemein, und es ift etwas Wahres daran. Die Ab- 
iage an ihn in der öffentliden Meinung ift ziemlid) 
einhellig außer bei denjenigen Kreifen, die fih ihre gei- 
fige Nahrung von den Leitern der „proletarifchen 
wreidenter“ und ähnlichen Organifationen vorjegen 
laffen, die aber, wenn fie auch die jozialiftifche Preſſe 


noh größtenteils und die fommuniltiiche fait ganz be: . 


berrichen, doh auh jhon innerhalb der deutſchen Ar- 
kiterídhaft auf ſteigenden Widerſtand ftoßen, wie zahl— 
teihe Erſcheinungen der legten Jahre gezeigt haben. 
Sn den fog. höheren Boltsidichten gilt es zweifellos 
heute bereits als unmodern, wenn man etwa nod für 
Haedel oder gar L. Büchner ſchwärmen wollte und 
ein verftändiger und zugleich wirklich religiäjer Menſch 
von heute bat meiltens jhon mehr mit der Abwehr 
alles möglidgen Aberglaubens als mit der des vor 30 
Jahren alles beherrichenden Unglaubens zu tun. 


Unter diefen veränderten Zeitumſtänden fonnte fid 
sie Leitung des Keplerbundes der Einfiht nicht ver- 
Idließen, daß die urſprünglich den Hauptcharakter des 
Keplerbundes ausmachende Kampfftellung gegen den 
Materialismus Haeckel-Oſtwaldſcher Richtung heute zu 
einem großen Teil entweder gegenſtandslos geworden 
it, oder doh ganz andere Methoden der Bekämpfung 


Bon Kepler zu Leibniz? rn a Bat 7 P 





P) 


bedingen würde wie früher. Denn dieſer Materialis: 
mus herrſcht heute eigentlih nur noh in weiten Kreis 
fen des arbeitenden Volles und ift hier von den geis 
ftigen Führern jo hoffnungslos mit politif hen und 
wirtſchaftlichen Motiven verquidt worden, daß uns, 
wenn wir den Kampf auf diefem Gelände aufnehmen 
wollten, nichts weiter übrig bleiben würde, als uns 
ebenfalls auf das politifhe Gebiet 3u begeben. Nun 
will ich feineswegs behaupten, daß folde Arbeit über: 
flüffig wäre. Aber fie würde ganz andere Mittel und 
einen ganz anderen Kreis von Mitarbeitern erfordern 
als fie unferem bisherigen Bunde zur Verfügung ſtehen. 


Es bleibt aber auh abgefehen hiervon genug 3u 
tun. Denn wenn der Keplerbund fih bisher im wejent: 
lien an Schichten gehalten hat, die bis zu einem ge- 
wiffen Grade an der Bildung unferer Zeit teil hatten, 
jo ift aud in diefen Schichten heute ſchon keineswegs 
alles fo beichaffen, daß wir unfere Aufgabe für erledigt 
angehen fünnten. Es ift wohl richtig, daß der alte 
Wiaterialismus ziemlich tot ift. Aber was wir an fei- 
ner Stelle in unferem geiltigen Leben jehen, ift ein 
nichts weniger als erfreulies Bild. Bei den von den 
Naturwiſſenſchaften und der Technik herfommenden 
geiftigen Führern herrſcht noh immer eine ſtarke Bor: 
liebe für einen zwar niht materialiftifh, aber pofi- 
tiviftifch begründeten Steptizismus, der den Sinn 
für alle höheren Werte faft noch ſicherer tötet, als der 
Haeckelſche Monismus, der doh wenigitens nad einer 
einheitlien befriedigenden Weltanſchauung ftrebte, 
wenn aud das, was er als folde anbot, nur ein Surro- 
gat war. Es ift fehr zu bezweifeln, ob es unfererjeits 
els reiner Gewinn zu buchen ift, wenn man heute in 
naturwiſſenſchaftlichen Kreijen allgemein über Ddiefen 
„Monismus” lädelt.e Denn man lädelt darüber lei: 
der viel weniger deshalb, weil diefer metaphyſiſche 
VBerfuh ein Verſuch mit untaugliden Mitteln war, als 
vielmehr deshalb, weil es überhaupt ein folder Ber: 
ſuch war. Mit anderen Worten, man lehnt in diejen 
Kreijen nicht etwa die materialiſtiſche Metaphufit und 
Weltanſchauung, fondern jede Metaphyſik und Welt- 
anſchauung überhaupt ab. Das aber ift falt ſchlimmer 
als das Ueberwundene, denn damit verneint man im 


102 BE EDER 


Grunde die. Exiſtenzherechtigung alles- Glaubens über- 
haupt, -oder:. 3m, wenigfteg,‘.- man billigt ihm 
feine objettice Geltung zu. Er ift von dieſem vornehm 
agnoſtiſchen Standpunkte aus beitenfalls eine zuläfiige 
„Fiktion“, von irgend einer objektiven Geltung der 
höheren Werturteile der Gittlicjleit, Religion uſw. ift 
auch hier, ja hier erft recht, zumeift feine Rede. — Auf 
der anderen Seite jehen wir heute eine große Schar 
von geiltigen Führern, die vornehmlich” von den og. 
Geiſteswiſſenſchaften herkommen und die nun, ebenfalls 
auf den pofitwiltifhden Grundcharakter der Natur: 
wiſſenſchaften podend, die letztere grundfäßlid und 
völlig aus dem höheren Kulturleben verbrängt und in 
Die Niederungen ber bloßen praktiſch zivilifatoriichen 
Aufgaben verwiejen willen wollen. Das Spenglerſche 
Wert hat in diefer Richtung verheerend gewirkt, und 
die allgemeine antiintelleftualiftiiye Strömung der 
Zeit, befonders in der Jugendbewegung, kommt diefen 
Tendenzen entgegen. Ginge es nad ihnen, jo fümen 
wir in abjehbarer Zeit dahin, daß die eratten Willen: 
haften als rein theoretifches Erkennen der Wirklich: 
feit und die Tedmit als praftiide Beherrſchung 
derfelben völlig als KRulturfaltoren beifeite- 
geihoben würden, daB man Leiltungen wie die von 
Newton oder Darwin, von Kepler oder Bohr, als 
überhaupt niht mehr zur „Kultur“ gehörig unbeküm⸗ 
mert ignorieren und fih dabei noh als Führer wahrer 
Kultur fühlen und oujjpieien dürfte. Unferen Feinder 
im Auslande könnte das gerade paffen, wäre es dod 
die „Rückkehr zum Geifte von Weimar“, jo wie fie 
fih diefelbe denten. — Neben diefen Strömungen ſehen 
wir in den breiten Schichten der mehr oder minder Ge. 
bildeten ein wahres Babel von neuen weltanſchaulichen 
Beitrebungen aller Art. Wohl nod nie, feit die Welt 
Steht, nicht einmal in den Zeiten der ausgehenden Antike, 
Hat ein ſolches Durdyeinander in philoſophiſcher und reti: 
giöfer Hinficht geherricht wie im heutigen Deutfchland. 

Aus diefer Gejamtlage ergibt fih wie mir fcheint 
nun zwangläufig die neue Aufgabenſtellung. Unfer 
Arbeitsgebiet bleibt — das ſchicken wir jeder 
Erörterung voraus — das Grenzgebiet der 
Naturwiffenfhaften gegen die übrigen 
Rulturgebiete, vornehbmlih gegen die 
PBpilofopdie und Religion. Denn Hier: 
durh allein Hat der Seplerbund feine Eriftenz- 
berechtigung neben dem Kosmos und anderen 
rein naturwiſſenſchaftlich eingeſtellten Unter⸗ 
nehmungen einerſeits und den rein alademifh ar- 
beitenden philoſophiſchen Gefellichaften, wie 3. B. der 
Rantgefellichaft, ſowie den kulturphiloſophiſch orientier- 
ten Bünden, wie 3. B. dem Euckenbunde, andererfeits. 
Es gibt außer dem Keplerbund nur noh eine Ber- 
emigung ähnlider Art, das ift die Mündener Gefell- 
haft „Natur und Kultur”; dieſe ift aber ſpezifiſch 
katholiſch⸗ konfeſſionell eingejtellt, während unfer Bund 
von Anfang an interkonfeffionell geweſen ift. An die- 
fer Weite beabfidtigen wir jedenfalls feitzuhalten. 
Wir wollen aber auf der anderen Seite 
nunmehr tiar betonen, daß nidt die 
Raturwiffenf daft, jondern die Welt 
anfhauung unfer eigentlidftes Ziel ift. 
Die Naturwiffenfhaft ift infofern für 


Bon Kepler zu Leibniz? __ 


uns rihtunggebend, als fie unfer Ar. 
beitsgebiet begrenzt. „In der Beichräntung 
zeigt fih erft der Meifter“, wir können und wollen 
nicht alle möglichen an fi febr intereffanten Kultur: 
probleme der Gegenwart in unferen Kreis ziehen, f on- 
dern nur diejenigen, die in irgend einer 
wenn aud lofen Beziehung zur Natur: 
wiſſenſchaft ftehen. Unfere Aufgabe auf diefem 
Gebiete ift dann von doppelter Art. Wir haben die Wege 
aufzuzeigen, die von der Natumviffenfchaft zu den an- 
deren Gebieten hinüberführen, und wir haben denen, 
die von diefen anderen Gebieten herfommen, zu zei: 
gen, in wie weit fie in naturwiſſenſchaftliche Erkennt: 
nis mit oder ohne ihren Willen mit verflochten find. 
Mit der erften Aufgabe wollen wir denjenigen Na: 
turwiſſenſchaftlern (Technitern, Aerzten uſw.) dienen, 
die ſich über die Enge ihres Faches hinaus nad) einer 
Einordnung desfelden in das größere Ganze der Qıl: 
tur fehnen, weil fie tlar fehen, daß nicht alle geltenden 
Urteile, wie der Haedelismus meinte, auf naturwifjen: 
ſchaftlichem Wege zuftande fommen. Mit der anderen, 
die natürlich der bisherige Bund auch in weitem Um: 
fange ebenfo wie die erjte erfüllt hat, wollen wir den 
Angehörigen anderer Fächer und Berufe, wie z. 2. 
dem Philologen, dem Juriften, dem Theologen, dem 
Vebrifanten und Kaufmann uſw. dienen, die an fo 
und fo vielen Stellen es merken, wie naturwiffenjhafl: 
(ide Erfenntnis entfcheidend in ihre eigene Tätigfeil 
eingreift und die deshalb unbedingt einer zuverläfiigen 
Dorlegung, die zugleich das Wichtige vom Unwidligen 
3u jcheiden verfteht, bedürfen. 


Darüber hinaus aber wollen wir allen, die überhaupt 
über die tieferen Fragen des Dafeins nachdenken, hei: 
fen zur Klarheit zu kommen, und das foll, wie es fat: 
ſächlich immer die eigentlichfte Aufgabe des Bun: 
des gewefen ift, jegt aud) in feinem Programm an der 
Spike ftehen. Wir entgehen dadurch zugleid dem 
Borwurf. der dem SKeplerbunde vom Beginn feiner 
Tätigleit an immer wieder gemacht worden ift, dem 
Vorwurf, daß wir „Naturwifienfchaft” fagten und 
„Weltanſchauung“ meinten und trieben. Sagen wir 
es aljo ehrlich und unmißverftändlich zu allererft: was 
uns zuſammenhält, ift ein gemeinfames Stre: 
ben nah einer dem Materialisgmus ent: 


-gegengefegten, alfo idealiftifh und re 


ligiös beftimmten Beltanfhauung. M 
diefem Ziele find wir alle, ob katholiſch oder evon: 
gelifh, ob orthodog oder liberal, immer einig gemein, 
und darin wollen wir einig bleiben. Inſoſern liegen 
die Dinge aber heute anders als früher, als es taum 
mehr nötig ift, in gebildeten Kreifen noch die Rot 
wendigleit oder das Redt folder Weltanſchauung 
darzutun, nad der fih ja alle Welt fehnt. Was mit 
beutebrauden,iftnihtdie Verteidigung 
des Rechtes folder Weltanfhauuns. 
jondern die Aufweifung der Wege, dit 
nun wirtlid in das erfehnte Land füh 
ren. Wenn je eine Zeit eine ſuchende genannt wel: 
den tonnte, dann gilt das von der unfrigen. Hier liegt 
alfo unfere pofitive Aufgabe, und id; glaube, diefe | 
an ſich erheblidy befriedigender als die negative blofet 
Abwehr. Was wir den zahllofen Suchern und Fio 


_Bon Kepler zu Leibniz? 


gern umferer Tage zeigen möchten, das ift der Weg, 
der zur wirtliden Zufammenfafjung 
allerKräfteunjeres Beiftes und Gemütes 
in einer harmoniſchen Einheit führt, 
ju einer Beltanfhauung, inder Gefühl 
und Hillen ebenſo ungeihmälert zu 
ihrem Rechte tommen, wie der erten: 
nende Berftand, den wir leineswegs 
beifeitefhieben wollen wie jene Ueber: 
tritifer des „Intellettualismus“, den 
pirabermitdenanderen Seelenträften 
zu einer wahrhaften Syntheſe bringen 
vollen,nidtnurzu einem notdürftigen 
Kompromiß. 

Dus ift ein febr hohes Ziel, und es ift uns Mar, 
dab wir dasfelbe nicht fertig unferen Freunden und Le: 
km vorſetzen fünnen, fondern daß es in ftiller, lang- 
ſamer Arbeit heranreifen muß. Diefe Arbeit wird in 
der Hauptfache philofophifcher Natur fein müffen. Selbft: 
veritändlic jegt fie voraus, daß aud das rein Wiffen- 
Haltlihe einwandfrei erledigt wid. Wir werden 
darum nadh wie vor es als eine der weſentlichſten Auf- 
gaben unferes Bundes betrachten, über die naturwiflen: 
haftlichen Forjhungsergebniffe nad) Kräften völlige 
Klarheit zu ſchaffen, und bei der Stoffauswahl nod 
mehr als bisher uns dabei von dem Geſichtspunkt lei- 
ten lafen, daß wir nur dasjenige bringen, 
was wirtlih von grundfäßlider Be- 
deutung iſt, dagegen an fidh intereffante, grundfäg- 
lich aber nicht gerade neue Dinge den Fadeitfchriften, 
Km Kosmos uſw. überlaſſen. M. a W. wir 
vollen das rein Naturwiffenfdaftlide 
einfhränten auf das, was in irgend 
tiner Beziehung zu anderen Kulturge 
bieten, vornehmlich zu philoſophiſchen 


oder religiöfen Fragen fteht oder über: 


haupt von irgend einem allgemeinen 
Inte treffe ift. Schon das ift weit mehr, als wir 
latſächlich erledigen fünnen, an Stoff wird es uns alfo 
auch bei diefer Beſchränkung niemals fehlen. Gerade 
damit aber hoffen wir den Bedürfniffen febr weiter 
Rreife von Nichtfachleuten entgegenzutommen; denn 
dieje wollen ja doh zumeift niht dieje oder jene fadh: 
oifenjhaftli) vielleicht febr intereſſante Einzelheit 
wilen, fondern nur das, wovon fie fid) irgend einen 
Gewinn für ihr allgemeines Weltbild verfprechen. Um 
ein paar Beifpiele anzuführen: die großen Fragen der 
Entwicklungslehre, die Probleme der Vererbung und 
Raſſenforſchung, die Grundlagen der heutigen Hhyjit, 
die Frage der Giltigkeit der. Naturgelege u. dgl., das 
find alles Dinge, über die jeder gern Bejdeid wiſſen 
mogte und Beſcheid willen muß, der fih wirklich ein 
zureichendes Bild von der Welt, in der er lebt, maden 
vil. SHierüber ein wirklich eraktes, einwandfreies 
Biffen weiteften Kreifen zugänglich zu maden, foll alfo 
nod wie vor unfere erfte Aufgabe fein. Auch unfere 
allgemein beliebte „midau“ foll diefem Zwede weiter 
nen Dazu wollen wir dann aber auh ganz dirett 
die wirhtigften naturphilofophifhen u. a. ragen be- 
handeln, um aud hier nah Möglichkeit Klarheit zu ver- 
breiten. Man kann aud diefe Arbeit recht wohl ohne 


t 


Voreingenommenheit und Tendenz betreiben. Dieſe Ob⸗ 


m 103 


jettivität zu wahren, wird aud ferner meine größte 
Sorge fein. Wenn idh vielen unferer Freunde, aud 
meinem verehrten PBorgänger, darin mandesmal des 
Guten zu viel getan zu haben ſcheine, fo bitte ich diefe 
Freunde, zu bedenten, daß auf teine andere Weife 
unſere Pofition innerhalb der Kreife der Naturmwiffen- 
ihaft felber zu halten ift. Denn, wo man Tendenz 
wittert, da wird man verſtimmt. Wir ftehen leider in 
der naturwiſſenſchaftlichen Welt und im großen Publi- 
tum da mit dem Stempel „kirchlich approbierte Natur: 
wiſſenſchaft“, ja folde Urteile finden fi fogar in 
wiſſenſchaftlichen Darftellungen moderner philofophifcher 
Strömungen. So unberedtigt diefes Urteil oder- Bor- 
urteil fein mag, wir müffen mit feinem Borhandenfein 
rechnen. Brechen werden wir es nur, wenn wir in 
langer geduldiger Arbeit wirtli Gutes, Objektives, 
SHaltbares und Wertvolles leiften. Dazu müffen dann 
freilich nun auch alle diejenigen mithelfen, die es fünnen. 
Wenn alle warten wollen, um „erft mal zuzufehen, 
was dabei herauskommt“, dann geſchieht überhaupt 
nichts, denn allein tann id) mit den wenigen Mitar- 
beitern, die wir jet befigen, die Aufgabe unmöglich 
leiften. Ob es gelingen wird, neue Kräfte mobil zu 
maden, muß die Zukunft ausweifen. Wir wollen 
unfer Möglidjites tun. 

Hier drängte fi) uns nun nod eine febr wichtige 
Frage auf. Sit es nicht vielleicht angebradjt, bei dieſer 
Gelegenheit die Welt nachdrücklich darauf aufmerfam 
3u maden, daß der Keplerbund ein grundfäßliches neues 
Arbeitsprogramm fih gefegt hat? Das würde am radi: 
falten dur eine Aenderung des Namens des Bundes 
bewirft werden, und wir haben deshalb ernſtlich er: 
wogen, ob wir uns für eine ſolche entſcheiden jollen, 
und welder neue Name etwa in Frage füme. Diefe 
rage fei hiermit auh unferen Mitgliedern und 
Freunden vorgelegt. 

In Betracht tommen unjeres Erachtens vor allem 
drei Vorſchläge. Der eine geht dahin, den Namen 
Keplerbund mit dem weniger engen einer „Keplergeſell⸗ 
haft“ zu vertaufhen. Dafür ſpricht die Beibehaltung 
cener gewiſſen Hiftorifhen Kontinuität, dagegen der 
Umftand, daß mit foldyer geringfügigen Uenderung im 
Grunde wenig gewonnen, fie aljo eigentlih dann ganz 
überflüflig wäre. Als zweiter Vorſchlag füme in Be: 
tradht die völlige Weglafiung eines Namenshelden und 
eınfader Titel, wie etwa „naturphilofophifche Gefell- 
Ihaft“ oder dgl. Gegen diefen Vorſchlag dien den 
meijten von uns erjtens 3u fpreden, daß damit unfer 
Charakter in der Oeffentlichkeit ſofort erheblich ver- 
waſchener und ausdrudslojer würde, zum andern, dab 
es jehr ſchwer ift, einen Titel diefer Art fo zu finden, 
daß er niht zu viel und nicht 3u wenig befagt. Der 
jceben angeführte klingt reichlich anſpruchsvoll, denn in 
diefer Weife pflegen rein wiſſenſchaftliche atademifche 
„Geſellſchaften“ fih zu bezeichnen, und eine folde zu 
ſein beanſpruchen wir weder, noch würden wir, wenn 
wir es zu werden beabſichtigten, unſere Aufgabe im 
Volksleben erfüllen. — Der dritte, und wie mir ſchien, 
tefte Vorſchlag geht dahin, ſtatt des Namens Kepler in 
Zukunft den Namen Leibniz zu wählen. Dies be— 
derf einiger näheren Begründung: 

Unfer bisheriger Namenspatton Kepler war nicht 


104 


nur ein großer Witronom, fonden aud ein findlid) 
frommer Mann und eine wundervolle, echt deutſche 
Perfönlichkeit, wie wir uns nur recht viele wünjdyen 
. fönnen. Aber eins war er nicht, er war fein Philo- 
ſoph, zum wenigiten fein guter. Was fi an philofo- 
phifchen Ideen bei ihm findet, ift reichlich phantaftifcher 
Natur und für uns Heutige völlig unbrauchbar. Der 
Erfinder der Differential: und Integralrechnung da— 
gegen und Entdeder des Energiejahes in der Medani? 
war nicht nur, wie dieje feine Leiftungen zeigen, einer 
ver großten Forſcher aller Zeiten, jondern er bejaß da- 
zu fait alle anderen Eigenfdaften, die zujammen den 
Begriff der Kultur im hödjiten und beiten Sinne des 
Lars ausmaden. Er war ein Weltmann und Diplo- 
niat son vollendeten Formen, ein Menjd von feinjtent 
äſthetiſchen Empfinden, felber tein ſchlechter Dihter, 
und er war irey alledem ein aufrichtig frommer Mann, 
deilen tiefes, religiöfes Gefühl 3. B. in einem febr 
ſchonen, noh heute in manden Geſangbüchern ftehenden 
PBaflionsliede zum Ausdrud tam. Das alles aber bil- 
dete — und das ift für uns die Hauptjadde — bei ihm 
niht ein unvermitteltes Nebeneinander, jondern wurde 
3u einer wahrhaft imponierenden inneren Einheit ver- 
bunden, weil Leibniz in erjter Linie Philofoph war und 
als folder nah der Harmonie und dem Ausgleidy aller 
einzelnen Seiten feines reihen Geijtes ftrebte. Wir 
biauchen feine Monadenlehre (die übrigens mit Unrecht 
von jolchen verjpottet wird, die ihren tiefen Sinn gar 
nicht verftanden baten), niht anzunehmen, ebenjo- 
wenig feine Löfung des Iheodizeeproblems für gut zu 
befinden; worauf es hier antommt, das ijt das Ideal ei: 
ner, joweit es Menjden überhaupt möglich ift, vollendet 
harmonischen Gejamtperjönlidgfeit, in der alle beiten 
Kräfte des menjcdlidyen Beiltes, einſchließlich der reli- 
giöfen, ſich zu einer vorbildlihen Einheit zufammen: 
fügten. Und diejes Bild ift auch von den Fleten rein, 
die leider einen anderen, ſonſt vielleicht nod) Größeren, 
den von Weimar, in einigen Punkten entitellen. Ob 
man nun troßdem aud an Leibniz, wie das ja nur na: 
türlih ift, dieje oder jene Menſchlichkeit auszuſetzen 
findet, ob man ihn vielleiht ouh ein wenig zu intellef- 
tualiftifh nennen möchte und mit Mahnde eine Ergän- 
zung durch Goethes ftarfes und warmes Erleben als 
wünſchenswert empfindet — für die Arbeit, die unfer 
Bund in der Gegenwart zu leiften hat, dürfte fid 
ſchwerlich ein befierer Namensheld finden. Denn dieje 
innere Einheit ift das But, das uns abhanden ge- 
tommen ift und das wir bewußt oder unbemwußt alle 
erjehnen. Wir willen heute, daß aud ein Leibniz erft 
am Anfang eines langen dornenvollen Weges jtand, 
den die europäiſche Menjchheit noh gehen mußte, vom 
naiven Glauben an das Objeft zur Bereinfamung des 
Subjetts und wieder zurüd zum wahren Objelt. Die 
„Aufklärung“, deren Vertreter er war, mußte im ver- 
offenen Jahrhundert erft noch ganz andere ungeahnte 
Weiten erreichen, ehe der moderne Kulturmenid dazu 
tommen fonnte, fid) wieder auf das zu befinnen, was 
trog aller Kritit und alles Relativismus unveränderlid), 
weil ewig giltig, befteht. Uber gerade darum dürfen 
wir mit Freude auf einen Mann wie unjeren Deutſchen 
Leibniz bliden. Wie anders ift das Bild, das er bietet, 
wenn wir ihn mit den franzöfiichen Spöttern und Ma: 


Bon Kepler zu Leibniz? 





terialiften, einem Qamettrie oder Boltaire, oder wenn 
wir ihn mit dem philiftröfen Engländer der Auftlärung 
vergleiden! An den fpäter auch in Deutjchland zutage 
getretenen Sünden diefer Art, vor allem in der fog. 
Leibniz-Wolffſchen Schule, ift L. felber ganz unſchuldig 
Er verhält fih zu ihr etwa jo wie ein Luther zu der 
fteifieinenen Orthodirie des 17. Jahrhunderts. Der Spott, 
den Goethe im Fauft über diefe Art Philojophie er- 
giebt, trifft nicht den von ihm zeitlebens fehr Hochge- 
fhäßten Leibniz ſelber, jondern feine ſcholaſtiſchen 
Nachbeter. 

Dies ſind die wichtigſten der in Caſſel geäußerten 
Gedanken. Wir bitten unſere Mitglieder alſo um eine 
recht eindringliche Ueberlegung und gegebenenfalls um 
Stellungnahme dazu. Entſchieden iſt noch nichts end- 
giltig, wir wollen zuerſt die Stimmung im Bunde 
ſelber in Erfahrung zu bringen ſuchen. 

In der äußeren Organiſation des Bundes iſt inſofern 
eine Aenderung eingetreten, als unſer langjähriger ver: 
dienter gefchäftsführender Direktor, Herr W. Teudt, 
nunmehr endgiltig fein Amt abgegeben hat, das er 
ihon in den legten Jahren nur nod gegen feinen 
Wunſch fortgeführt hat, weil tein Erfah da war. An 
feine Stelle tritt Herr Direftor Dr. Müller:Lage, der 
Schıriftleiter des „Naturfreundes”. Gleichzeitig ift der 
Vorſitz im Borftande an den willenjchaftliden Leiter, 
aljo an midh, übertragen und Herr Direktor Teudt ift 
zum ftellvertretenden Vorfigenden unferes Kuratoriums 
ernannt worden. Jn das Kuratorium felbft ift an 
Stelle des verftorbenen Oberſt Mende Herr Direktor 
Brandt in Caffel eingetreten. — Alle nicht die inneren 
(grundfäglien) Fragen betreffenden Zuſchriften wolle 
man gegenwärtig an die Gefcyäftsitelle des Bundes in 
Detmold richten. Jene dagegen ftets dirett an mid), 
damit feine WVerzögerungen eintreten, ebenfo alle re- 
daktionellen Zufchriften für „Unjere Welt”. 


Die örtliden Organifationen des Bundes, joweit 
ſolche nod beftehen, werden ſchon hier darauf aufmerf: 
jam gemadt, daß ihnen vor der Hauptverſammlung 
nod ein Schreiben zugehen wird, worin fie aufgefordert 
werden, ihr Weiterbejtehen ausdrüdlich zu erklären, an- 
fenft die Bundeszentrale fie als nicht mehr beftehend 
betraddten und gegebenenfalls am Orte neu zu organi- 
fieren verfuden wird. Diefer Schritt ift nötig, um eine 
rechtlihe Unterlage dafür zu ſchaffen, daß wir endlich 
den Ballaft zahllofer längjt eingejchlafener, nominell 
aber noh bejtehender Ortsgruppen ufw. loswerden, der 
uns nur hinderlich ift, wenn wir mit neuen Männern 
eine neue, ausſichtsreichere Arbeit beginnen wollen. 
Selbſtredend denten wir niht daran, das, was nod) 
irgendwie lebt, „abjägen” 3u wollen, freuen uns viel- 
mehr über jedes: Lebenszeichen, das uns zukommen 
wird. Die Bundesleitung muß aber, zumal nad) der 
Umſtellung des Arbeitsprogramms, eine gewiffe Hand: 
habe befitten, um fier zu gehen, daß nun aud neuer 
Geiſt möglichſt überall einzieht. Rechtsgiltig werden alle 
dieſe Beſchlüſſe natürlich erft durch die Watifizierung 
ſeitens der Hauptverſammlung, auf die wir wegen ihrer 
grundſätzlichen Wichtigkeit für das weitere Schickſal 
unſeres Bundes ſchon heute nachdrücklich hinweiſen. 
Von dort aus ſoll dann ein neuer Aufruf mit alten und 
neuen Namen in die Oeffentlichkeit hinausgehen. 


Intuition und Intuitionismus. 


105 


Intuition und Intuitionismus. Bon Univ.-Prof. D. Wilh. Bruhn. H 


Das Leid unferer Tage beginnt feine Segens- 
fräfte zu entfalten: die Umſtellung der befinn- 


licheren @eilter vom Fluffe der Erfcheinung auf 


die Dauer überfinnlider Wirklichfeiten. Ein 
tajtendes Suchen nah dem Unmittelbaren geht 
Durch unfer Bolt, fchlägt als Flamme hervor in 
neumgftiijder Dichtung und erpreflioniftifcher 
Kunft, im Rufe nah Metaphyfit in der Philo- 
fophie und in der Kriſis der Sugendbewegung 
und lodt als Irrlicht die Maffen zu den Spiri- 
tiften, Oftultiften und Anthropofophen. 


An dieſer fchijalgeborenen Wende nehmen 
auch die exakten Willenichaften teil. Ausgepräg— 
ter als je tritt das Beftreben hervor, an die 
feften Ergebniffe der Forſchung die naturphilo- 
ſophiſche Hypotheſe zu fchließen, welcher die Rich» 
tung von dem Bielfachen der Erfcheinung auf die 
Realität einer legten Einheit immanent ift. Wie 
man aber auf diefer Seite bemüht ift, mit willen: 
ſchaftlichen Mitteln dem nahezutommen, wovon 
der {fromme lebt, fo fucht auf der andern eine 
moderne Theologie in ehrlicher Arbeit das reli- 
giöfe Erlebnis zum Gegenjtand exakter pſycho⸗ 
logiſcher und gefchichtlicher Forfchung zu maden, 
um die Brüde zwifchen Erleben und Willen zu 
ihlagen. So hat der Drang der erfchütterten 
Seelen feine vielverfprechende Pflege gefunden, 
und vielleiht waren wir dem Biele der Ber- 
föhnung zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft noch 
nie ſo nahe wie jetzt. 

Aber zwiſchenein in dieſe beſonnene Arbeit 
drängt ſich das Ungeſtüm derer, denen jedes für 
ſich: Erkennen oder Erleben, zu wenig iſt, die 
beides auf einmal wollen. „Das Himmelreich 
leidet Gewalt.” Es foll erftürmt werden durch 
ein unmittelbares Zugreifen der Geele, welches 
zugleich erfchöpfend-abfolutes Willen fein wil. 
Diefe Methode der Ungeduld wird Intuition ge: 
nannt: Innenfchau, nämlich des Wefentlichen in 
ber Erſcheinung. 


Es hat wenig Wert, zu unterfuchen, was diejer 
Begriff dem MWortfinn nad) bedeuten müßte, 
noch, in weldyen Bedeutungen er tatjächlich heute 
ſchillert. MWertooller ift, herauszufühlen, was 
jene reife wirklich erjtreben, wenn fice ihr 
Suchen mit diefem Schlagwort etikettieren. Dies 
ſcheint aber dreifacher Natur zu fein. Zunächſt: 
man will nicht mehr nur an etwas glauben; 
man will vielmehr das Ueberfinnlihe als Beſitz 
und Kraft im tiefjten Wejen fpüren, es haben 
und es fein. Wiederum foll folches Erlebnis 
nicht nur fubjektiver Befig, ſondern objektive Er- 


tenntnis fein, und zwar nicht bloße Hypotheſe, 
ſondern abfolut:s Wilfen. Endlich will fih der 
Suchende nicht mehr mit der myftifchen Schau 
des Innen⸗Ich begnügen, fondern der Kosmos 
ift es, auf beffen verborgene Wirklichkeit der 
fauftiihe Drang gerichtet ift. Ein kosmifches 
Schau-Wiffen erjtrebt man, und das ummittel- 
bare Empfangen des befinnliden Ich foll die 
untrüglihe Methode dazu fein. 


Dies ift augenscheinlich der Zug der Zeit. 
Was wir bei Dfkultiften und Gteinerianern 
fehen, ift nicht Einzelerfcheinung, fondern nur die 
marfantefte Berdichtung der Feitatmofphäre. 
Mit der „Weſensſchau“ fegt es ſchon ein. 
Spengler jchaut das kosmische Wefen in der Ge- 
Ihichte, Keyferling den Ginn des Lebens in den 
Dingen, Barth dringt durch den Bibelt:rt ins 
Myſterium. Wenn das anthropofophifche „Beift- 
auge” die Gefamtjtruftur des Kosmos aus der 
„Akaſhachronik“ ‚herauslieft, ift dies nur bie 
traffefte Form eines kosmiſch⸗überſinnlichen Er: 
fenntnisdranges, der offenbar tief im Bedürfen 
der Zeit fißt. Hier ift mehr als Modefache, mehr 
als indifcher Importartikel, mehr auh als die 
bloße Wiederaufnahme der Gnofis; hier Ipricht 
der urmenſchliche Drang nad) dem Unmittel- 
baren, aus dem auch die Gnofis nur als einzelner 
Trieb aufichoß, jener Drang, der im Abendland 
zuerft in Heraflit, dem Dunklen von Ephefus, 
die intelleftualiftifche Dede durchbrach, der feit- 


‚dem nie aufhörte, die aus dem Altertum über: 


nommene Berjtandes: und Begriffstultur zu 
unterminieren, der feit der großen Ernüchterung 
nah Hegel jtärfer als je fih aufbäumte, mit 
Bergjon in die Willenfchaft einzog und heute ein 
vom Schickſal zermürbtes Geichleht im Sturm 
erobert. Liegen hier aber vernachläffigte menfd)- 
liche Bedürfnilje vor, fo fann auch eraftes Denten 
an der Bewegung der Zeit nicht vorübergehen, 
muß fih vielmehr fragen: Hat Wiſſenſchaft ein 
intuitives Erfajlen dr Realität anzuerkennen? 
Als Erlebnis? Und zugleih auh als Willen? 
Wo liegt das Recht, wo der Irrtum der Beit- 
Itrömung? 


In der Tat zeigt jedem von uns die unmittel: 
bare Celbitbefinnung Gegebenheiten auf dem 


Grunde des Bemwußtfeins, die weder mit den 


Sinnen, noh mit dem Denten etwas zu tun 
haben. Wir lernen uns in der äußeren Wahr- 
nehmung als Körper, in der inneren als fließende 
Komplere von Worftellungen, Gefühlen und 
MWollungen tennen; wenn wir troßdem um 


106 


unfer SIchfein als die Dauer im Wechfel wiffen, 
jo gefchieht es, weil wir vermöge eines irratio— 
nalen Organs, eben des intuitiven, imftande find, 
durch die fubjektive Erfcheinung der äußeren und 
inneren Wahrnehmung hindurch unfer eigenes 


Weſen als ein Transfubjeltives, Nichtfinnliches 


und Nicdhtrationales zu erfajlen. Nicht anders 
ftoßen wir erlebend durch die äußere Erfcheinung 
bindurd in das Weſen der anderen Perſönlich— 
teit, wird uns die wahrgenommene Raum: und 
Zeitwelt vermöge eines unmittelbaren Wirklich— 
feitsfinnes zu einer von den Bemußtfeinsfate: 
gorien unabhängigen Realität, offenbart fih uns 
ein überlinnlidyes Sein in Natur und Kunft als 
das Schöne und Erhabene, im Sittlichen als das 
Bolltommene, im Religiöfen als das höchſte But. 
In allen diefen Fällen liegt der Anſpruch auf 
das intuitive Erfaffen einer nichtfinnlichen Wirt- 
lichkeit vor, und die Wiflenfchaft muß anerkennen, 
daß diefer für fie unerflärliche Anſpruch als eine, 
foviel fie beobachten tann, allgemeinmenjdliche 
Tatfärhlichkeit gegeben ift. 


Indeſſen, befinnen wir uns recht, was denn ei- 
gentlich folchem Erleben gegeben ift. Jedenfalls 
nicht das Wefentlih an fidh, fondern das We- 
fentlide inderErfcheinung, denn von die- 
fer fommt das erlebende Ich, felber Erfcheinung, 
nie los. „Wann Gott in die Seele fpricht,” Tagt 
Eckhart, „ſogleich da es die Seele trifft, wird cs 
geteilt.” Nicht die Sonne felbjt ift es, die wir 
ichauen, fondern ihr im Spiegel! der Seele ge: 
brochener Strahl. Als Strahl aus einer anderen 
Welt aber werden wir nur dasjenige Erlebnis 


werten Dürfen, das unjerer auf die finnliche Er: 


ſcheinung gegründeten Erfahrung gegenüber als 
ein Ganz-Anderes auftritt, alfo das fehlechthin 
Nichtfinnliche, Ungeftaltete, Unausdrüdbare. Daß 
das geſchaute Objekt in feiner unantaftbaren 
Andersart als ein mysterium tremendum et 
fascinosum (Otto) verbleibt, ift das eine Mert- 
mal echter Intuition. — Das andere ift der Ber- 
sicht des fchauenden Subjekts auf alles Selbitge- 
ftaltenwollen. Denn da das Wefentliche der Çr- 
iheinung gegenüber das Ganz-Andere ift, fo 
fann es nur jo weit in die letere eingehen, als 
diefe ihren Erfcheinungscharafter abgelegt hat 
und felber Weſen geworden ift. Da nun das Ich 
feinen Erfcheinungscharafter nicht völlig ab- 
jtreifen fann, ohne fich felbjt aufzuheben, fo tann 
aud niemals das Weſentliche ungebrochen in 
dasfelbe eingehen, eine Tatjache, die zu über- 
jehen der eigentliche Fehler der Myſtik ift. Biel- 
mehr können wir nur fo viel fagen: daß in dem 
gleichen Maße, in dem es dem Sch gelinge, 
mejentlic) zu werden, auh das Weſentliche in 


Intuition und Intuitionismus. 


ihm Geſtalt gewinne. Das Höchſtmaß diefes 
Weſentlich-Werdens aber ift in der Intuition ge- 
geben als der unmittelbaren Eelbjtbefinnung, in 
welcher das ſuchende Ich als Erfcheinung feine 
Aktivität bis auf das Mindeitmaß der abfoluten 
Hingabe zur Empfängnis herabmindert: je mehr 
es das Gelbftgeftalten durch die geformte Bor: 
ftellung aufhebt und nur noch reines Empfangen 
geworden ift, um fo ungehemmter ftrömt das 
Objett ein. Demnach ift das reine, d. i. allem 
Borftellen gegenüber apriorifche Empfangen das 
fubjettive, die völlige Unbegrifflichkeit und Un- 
ausdrüdbarfeit das objektive Kennzeichen echter 
Intuition. 


Wo diefe Merkmale vorliegen, haben wir das 
Erreichbare: das Umſchloſſenſein eines Trans- 
fubjeftiven durch das Subjeft, ein unmittelbares 
Innemwerden nichtfinnlicher Wirklichfeiten im Ich 
und Nicht:Ich; ewiges Licht, wie es fih im Be- 
mwußtfein bricht und noh in den „Emotionen” 
des Individuums qualitativ und quantitativ 
anders fith brechen mag, dennodh ewiges Lidt, 
nicht erzeugt vom Subjekt, fondern aufgefangen. 
Wo aber nicht mehr das Myiterium als unaus= 
drüdbare Wirklichkeit gefehaut wird, fondern ein 
Begrifflich-Anfchauliches, ein Weltenaufriß, eine 
Weltanichauung, da ift das Objekt des Schauens 
nicht mehr das der Erfcheinung gegenüber Gang- 
Andere, alfo auch nicht mehr das Wefentliche, 
fondern das verendlichte Weſentliche. Das ob: 
jettive Merkmal echter Intuition ging verloren, 
weil die fubjeftive Bedingung nicht innegehalten 
wurde: das reine Empfangen wurde zu fubjet- 
tivem Geftalten. Sobald aber das Gubjeft die 
eigenen fchöpferifchen Kräfte fpielen läßt, ift auh 
die Sphäre des MWefentlichen verlaflen: wir haben 
es nun mit dem relativierten Objelt, mit dem 
Mittelbaren zu tun. Dann fchaut das intuitive 
Jh nicht mehr das Leben, fondern das Spiegel: 
bild des Lebens in feinem Intellekt. Ob es nun 
das gefegmäßig-Togifche Denken ift, welches feine 
Begriffe, Urteile und Schlüſſe an das unmittel-» 
bare Erlebnis bindet, oder ob es fih um ein Ge- 
fräufel von Gedanken und Bildern handelt, wie 
es fih unter der einfegenden Spontaneität einer 
traumbhaft-bildnerifchen Synthefe über den Tie- 
fen des Erlebnifjes bildet, immer ift es nur noch 
der Sintelleft, der feine Fäden aus dem Erlebten 
Ipinnt, und je mehr fih das Subjekt in fein Ge- 
Italten verliert, um fo mehr verfidert ihm auch 
die urfprüngliche Kraft zum MWefentlichen, bis es 
Ichließlick ratlos vor felbftgefchaffenen Berr: 
bildern Steht. Diefe Art der Selbftbetrachtung, 
welche Gedanken und Bilder für das erlebte Db- 
jett nimmt, weil der metaphyfifche Affekt ihr den 


Intuition und Sntuitionismus. 


— — — — — — 


Blick für die Grenzlinie zwiſchen Empfangenem 
und Dazugeſtaltetem ſtumpfte, iſt nicht mehr echte, 
ſondern unechte Intuition und das Schwelgen in 
ihr ein ungeſunder und unfruchtbarer Intuitio⸗ 
nismus. Denn ob es ſchon gut und notwendig 
ift, dap der Jntellett das Unausdrüdbare in feine 
Begriffe fpannt, um die ewige Kraft in den All- 
tag überzuleiten, fo ift es doh Selbſttäuſchung, 
wenn er die höchite Evidenz der reinen Empfäng- 
nis mit dem produltiven Rauſch des Selbſt— 
geftaltens verwechlelt, und Faljchmüngerei, wenn 
er die eigenen Erzeugniſſe für das Objekt an fih 
ausgibt. Dies Urteil trifft aber zwiefach auf 
jene ungejeßlid”formende Syntheje zu: was 
an einem Genius wie Heraklit auch dann noch 
groß und fruchtbar bleibt, weil diefem ein Gott 
gegeben hat, fein tiefer im Wejentlichen wurzeln— 
des Sein nod bis in die entlegenften Gedanten- 
ausftrahlungen hineinzutragen, fo daß ſelbſt feine 
Duntelheiten noch für uns andere Wegweifer 
zum Licht des Eigenlebens werden — das wird 
unerträglich, wenn es der Durchſchnittsmenſch iſt, 
der fi) im Ausipinnen feiner Erlebnifje gefällt 
ınd uns die Alltäglichleiten aus feinen Treib- 
häufern für Offenbarungen auftifcht. 

Kann demnadh die Willenichaft das Erlebnis 
des Ueberfinnlichen nur in gewijlen Grenzen als 
eine ſeeliſche Tatjächlichkeit von unmittelbarem 
Charakter und allgemeirimenfchlicyer Bedeutung 
anerkennen, fo wird fie noh zurüdhaltender mit 
dem Prädikat der objektiv-wifjenichaftlichen Gel- 
tung fein müffen. Denn ein folches tann für fie 
immer nur das Ergebnis eratter Forſchung auf 
Grund finnliher Wahrnehmung und ihrer logi- 
jhen Berarbeitung fein; was wollen wir aber 
mit Wahrnehmung und Logit gegenüber einem 
nichtfinnlichen und alogifchen Objekt ausrichten? 
Hier bleibt zulegt nur der Sprung ins Leere, den 
wir Dentnotwendigteit oder Hypothefe nennen. 
Selbit von einer allgemein-menfclicyen Tatfäch- 
lichkeit, wie fie das reine Erlebnis darftellt, tann 
zu der Realität immer nur der Schluß leiten, 
das ift die jubjeftive Nötigung, von der fein 
Menſch erweifen tann, ob fie im wirklichen Wefen 
der Dinge begründet oder eine dem Subjekt an: 
haftende Illufion ift; um wieviel mehr wird da 
eine träumende Metaphyſik an zwingender Ob- 
jettivität einbüßen, da fie nicht auf das ſeeliſche 
Urfaktum jelbft, fondern auf fein Spiegelbild im 
Intelleft des Efotorifers baut und Dielen Bau 
nicht mit der Syntheje des gefeßlichen Denkens, 
ſondern mit der freifchaffenden Kraft der Phan: 
tafie aufführt! Ein Geltungsnachweis fann für 
den Willenichaftler nicht in dem Glauben der 
Phantaſie an fih felber gelegen, fondern nur 





107 


inſoweit möglich fein, als für den unvermeidlid) 
legten Schluß vom Subjekt auf das Objelt das 
tragfähigite Fundament geſucht wird. Dies ift 
im Erlebnis des transfubjeltiven Schleins, der 
Cartefianifchen Grunderfahrung, gegeben, weil 
diefe mit der Eriftenz des Ich, dem Sicherſten 
von allem, unauflöslih verbunden ift. Hier 
haben wir es mit einer Erfahrung zu tun, deren 
Subjeftivität durch ihre unbejtreitbare empirijche 
Allgemeingültigteit in gewiſſem Grade objekti— 
viert wird, wodurch fie freilich immer noh nicht 
exaktes Wilfen, wohl aber zu einem Fundament 
geworden ift, von dem aus der Schluß auf die 
Realität eines Transfubjefiven fih am ehejten 
wagen läßt. Alle anderen Realitätserfahrungen 
bis hinauf zur Religion find für das unbeſtech— 
lihe Denten von der Ichexiſtenz ablösbar, fie 
ichweben alfo in der Luft und können Geltung 
nur in mittelbarer Weife beanjpruchen, nämlich 
infoweit als fie, unter den gleichen fubjeftiven 
Merkmalen der Unmittelbarfeit und höchſten 
Evidenz wie jene Grunderfahrung zuſtandege— 
tommen, fih analogifh auf die Geltung der 
legteren berufen dürfen. Eine andere Brücke 
vom Erleben zum Wiſſen als diefe des erfah- 
rungsmäßig fundierten Schluſſes vom Gubjeft 
zum realen Obj.tt gibt es nit. Wo mehr als 
eine derart bedingte Geltung für jubjeltives Er: 
leben beanjprucht wird, da tann es nur auf dem 
Wege geichehen, daß ein ungeduldiger metaphy- 
fiicher Uffekt jene gegebene Diöglichkeit ohne wei- 
teres durch die willfürliche Borausjegung lekter 
Identität von Subjekt und Objekt erjeßt: die 
künſtliche Notbrüde einer rationaliftifchen 
Wunſchmetaphyſik, weldye der vorfichtige For- 
ſcher nicht betreten tann. 

Iſt dies aber das Ergebnis wiſſenſchaftlicher 
Selbftbejinnung, fo erhellt, daß der Wifjenfchaft- 
ler der metapbyfifchen Gegenwartsftrömung mit 
ihrem Anſpruch auf ein intuitiv-fosmifches Wij- 
fen nur kritiſch gegenüberftehen tann. Wohl 
unterliegt es feinem Zweifel, daß dieje gejamte 
Bewegung aus einem großen und ſtarken Neu- 
erleben geboren ift, welches den Rüdichlag gegen 
eine intellettualiftiide Weberktultur und den 
Niederjchlag der erjchütternden Zeitereigniffe dar- 
jtellt, und daß das Weſen diefes neuen Lebens 
eben das ift, was wir als echte Intuition gezeich: 
net haben. Alle diefe auf ein unmittelbares Er- 
tennen gerichteten Theorien unferer Zeit, von 


der Wejensichau an bis hin zum anthropofophi= 


jhen Hellfehen, find nichts anderes als die intel- 
leftuelle Aeußerung einer vollzogenen Achſen— 
drehung dcs erlebenden Ich vom Eubjeft zum 
Objekt, die Rüdfehr von der Reflerion zu dem 
unmittelbaren Wirflichfeitsbemußtfeir des naiven 


108 — 


Menſchen. Die überwältigende Wirklichkeit des 
Kosmos ift es, Die den „Reiſephiloſaphen“ zum 
Propheten madt. Und gerade in den Steiner- 
ſchen Anfchauungen, mag man im übrigen über 
fie urteilen, wie man wolle, lebt die gleiche er- 
ſtaunliche Kraft innigjter Fühlung mit der Seele 
des Alls, wie wir fie bei Herallit bewundern. 
Dies ift aber ein Fattor, deffen Wert für den 
Neubau des Beiftlebens man nicht zu gering ver: 
anfchlagen foll. Iſt auh der Schauer der Chr- 
furdht vor den Geheimniffen des Kosmos erft 
der Vorhof zur KRunft, Sittlichkeit und Religion, 
fo führt doch ſchon der nächſte Schritt ins Heilig: 
tum. Wir find heute „arm am Geift” geworden 
und brauchen vorerft nichts fo dringlich wie den 
bloßen Halt im leeren Raum. Wer nun diefem 
ohnmächtig-fehnenden Gejchlecht die Tür ins tos- 
mifhe Myſterium auftut, tut Großes an ihm. 

Auf der anderen Seite ift nun aber eben dies 
das Verhängnis der heutigen Bewegung, daß fie 
ihre zeitgeichichtliche Sendung: in die Tiefen des 
Erlebniffes zu leiten, aus dem fie felbft geboren 
ift, unter dem Einfluß des metaphyſiſchen Affefts 
vertennt und aufs fchwerite beeinträchtigt. Wie 
einft {hon Heraklit das prophetiſche Erlebnis in 
ohnmächtig-dunflen Paradorien vom geftalten- 
den Urfeuer, dur; das fih im Kreislauf das 
Gegenfägliche eine und wieder trenne, verltrö- 
men ließ, jo wird auch das ftarfe Erleben der 
Gegenwart durh einen unverfennbaren Drang 
zur Berfinnlichung in die Niederungen des Be- 
grifflich-Anfchaulichen abgeleitet, in denen es Ge- 
fahr läuft zu verfidern. Man hat des Unend- 
lihen einen Hauch verjpürt, aber man ift nicht 
ftar? genug, es in feiner unantajtbaren Größe zu 
laffen. Unfähig, den horror vacui zu überwine 
den und ins Mejenlofe zu greifen, um dort das 
Mefentliche zu finden, hält man fih lieber an 
das Breifbare der intellettuellen Geitaltung und 
täufcht fih über ihren problematifchen Charafter 
durch fünftlihe Steigerung des gejtaltenden 
Subjetts hinweg. Echte Intuition geht unter im 
Intuitionismus fchwelgender Gedanken: und 
Bilderſchau. Eidetifche Einftellung wird Maſſen— 
artitel. Alle Innerlichkeit Schelerfcher Gedan— 
fen, alles Geiſtſprühen Spenglers, alle Weisheit 
Keyferlings dürfte uns nicht vergeffen machen, 
daß wir es hier nicht mehr mit dem erlebend- 
empfangenden Objekt, fondern mit der individu: 
ellzintelleftuellen Geftaltung fubjeftiven Sonder: 
erlebens zu tun haben, und daß das eritere 
immer noch höher als die leßtere bleibt, „foviel 
der Himmel höher ift denn die Erde”. Das 
Diltanzgefühl muß aber mit Notwendigkeit ver- 
foren gehen, wenn der Menſch erft einmal allzu 
pertrauensfelig feinem taftenden Denten nach: 


Intuition und Intuitionismus. 


geht; es ift verloren gegangen in den utopi: 
ſchen Traumbildern der Spiritiften und Anthro- 
pofophen. Hier ift die Apotheofe des Subjelts 
Syitem und Methode geworden: potenziere nad) 
beftimmtem Rezept dein Anfchauen und Denten, 
fo öffnet fih in dir das „Geiftauge“, und alle 
Beheimniffe des Kosmos liegen entjchleiert vor 
dir da. 

Wo aber das Denten einmal als konftitutiver 
Faktor in das Erlebnis hineingelaffen wird, da 
wird naturgemäß auch der ihm anhaftende — 
und auf feinem Gebiet des Sinnlichen auch 
berechtigte — Anſpruch auf objektive Geltung 
übernommen und von der logiſchen Funktion 
furzerhand auf die traumhaft - jgnthetifche über: 
tragen: mit dem Antuitionismus ift der Ra- 
tionalismus untrennbar verbunden. Bon die- 
jem Anfpruc hält fi auch die eidetiſche We- 
ſensſchau nicht frei, obſchon doch das unmittel- 
bare Innewerden des Wejentlichen unmöglich je- 
mals über die im höchften Falle allgemeinmenfch= 
liche Crfahrungsgeltung eines fubjeltiven Er— 
lebens hinaustommen fann. Für Spengler ift 
das Schauen geſchichtliche Methode. Keyferling 
will fchauend den NRealitätsbeweis des fosmi- 
ſchen Seins erbringen. Und wieder erreicht dies 
Abdgleiten aus der einen Sphäre in die andere 
feine markanteſte Erſcheinung in den Gteiner- 
ſchen Offenbarungen, die nicht weniger zu fein 
verjprechen als die Fortſetzung eratt-naturwiffen-= 
Ihaftlihen Ertennens Womit aber wird diefe 
Ungeheuerlicyteit begründet? Wer fih je mit 
Anthropofophen auseinandergefegt hat, tennt 
ihre ultima ratio: das efoterifche Erlebnis. Das 
Sonderbemußtfein der Einheit von Ich und ALL, 
die alte Brahman-Athman-Theorie, der Frei- 
pah für All-Ertenntnis von objektiv-wiſſenſchaft⸗ 
licher Geltung, Willen legitimiert durch imdivi- 
duelles Erleben, dazu ein vielfah widerfpro- 
chenes und alfo höchſt fragwürdiges Erlebnis. 
Denn uns anderen, die wir dodh auch unfer Cr- 
leben haben, zeigt die Intuition ein ganz anderes 
Bild: niemals ein Gottfelbftfein, immer nur ein 
Cottverwandtfein; niemals ift das fascinosum 
ohne tremendum, niemals die Scheidemand zwi» 
ſchen Subjekt und Objekt völlig aufgezogen. 
Selbſt aber wenn jenes Einheitserlebnis, wie die 
Anthropofophen behaupten, als eine allgemein- 
menfcliche Anlage ermwiefen wäre, was würde 
gewonnen fein? Immer nur ein allgemeingül- 
tiges Erlebnis-Taltum, wie wir es tatſächlich im 
Ichbewußtſein haben, niemals aber exaktes Wif- 
jen, und nur der Schluß bliebe wieder als lekte 
Notbrüde vom verallgemeinerten Subjekt hin— 
über zum Öbjelt. Wo aber das Nieszu-Bemei- 
jende willfürlich zur Vorausſetzung gemacht und 


— 


das Allerperfönlichhte für das WUllerobjektivfte 
ausgegeben wird, da treibt man TFalfchmüngerei, 
und Schlimmeres fann man einem um Klärung 
feines Erfenntnisdranges ringenden Geſchlecht 
nicht antun. 


So droht das Starte Neuerleben unjerer Zeit i 


in Intuitionismus und Rationalismus zu ver- 
fanden. Helfen tann p nur ſtrengſte Selbit- 


Die moderne Naturwitfenfhaft auf dem Wege zur Metaphyfit. 


109 





sucht wiſſenſchaftlicher Selbftbefinnung auf das 


Fürſichſein des reinen Erlebniffes gegenüber dem 
Intellektuellen fowohl in der pfychologifchen Cnt- 
ftehfung wie in der ertenntnistheoretifchen Gel- 
tung. Wo aber der Affelt eines metaphyſiſch 
überreizgten Geſchlechts diefe Schranken über- 
Ipringt, da wird der Wilfenfchaftler nicht ener: 
giſch genug proteftieren fünnen. 


Die moderne Naturwiſſenſchaft auf dem Wege zur 


Metaphyſik. Bon Dr. Sherwapfg. 


Die moderne Naturmwilfenfchaft, die in der fog. 
Renaiffance entftand, ift charatterifiert durch ihre 
empirifche Grundlage. Alles, was jenfeits des er- 
fohrungsmäßig Faßbaren liegt, fchien „unmiffen- 
Ihaftlih" und darum für die Naturmwilfenfchaft 
rerbotenes Gebiet. Der Umkreis der Erfahrung 
rerengerte fih aber im Lauf der Zeit immer 
mehr, fo jonderbar dies auh zunächlt erfcheinen 
mag. Gewiß, die Menge des rein ftofflichen 
Wiſſens wuchs ins ungeheuerlidhe, aber die — 
im Grunde von Hume zuerft vertretene — An- 
fiht, daB die Erfahrung nur auf der Grundlage 
der alltäglichen Ginneserfahrung beruhen dürfe, 
und daß das einzige (von Hume freilich auh an- 
gejochtene) verfnüpfende Band diefer Erfchernun- 
gen’ die mechanifche Caufalität fei, diefe Anficht 
verengerte das Weltbild auf die Außenfeite der 
Erfcheinungen. Alles, was jenfeits der medani- 
ſchen Caufalität lag (3. B. die Zielftrebigfeit und 
die Geſetze des Lebens) galt als unwiffenfchaft- 
lih, als Metaphyfit. Das fo entjtandene Weltbild 
hat faft ein halbes Jahrhundert (eigentlich weit 
länger) die Geifter beherricht. Es war einfach und 
vor allem jo fön handgreiflich deutlich: Darwin 
und Hädel (von dem noh ein weiteres zu tagen 
fein wird) „löften“ die Rätfel des organifchen 
(Hädel jogar des ganzen geistigen) Lebens durd) 
ein Mindejtmaß mechaniicher Kräfte; das Welt- 
bild von Kant-Laplace ließ das Sonnenfyftem in 
Idönfter Einfachheit aus freifenden Nebelfleden 
entitehen; die Geologie Lyells endlich erklärte alle 


) Anm. d Shriftleitung. Durd ein Ber- 
jehen ift in die Märznummer jhon der Aufſatz von Dr. 
Müller über das Dacquéſche Buch himeingefommen, 
der eigentli nidyt für „Unfere Welt“ fondern nur für 
„Naturfreund“ beftimmt war. Zugleich mit ihm folte 
in „U. W.” der vorliegende Auffab von Dr. Schyerwahty 
erjheinen. Id bringe nun den leßteren doh nod, 
weil er der Gade manderlei neue Seiten abgemwinnt, 
und füge eine etwas ausführlichere Kritit meinerfeits 
hinzu. Bavint. 


H) 


Veränderungen der Erdoberfläche durch eine un= 
unterbrochene Häufung kleinſter VBerfchiebungen 
feit Erfhaffung der Welt bis jegt. Jn derbiter 
gorm (immer von Hädel abgejehen) tritt dies 
Weltbild etwa um 1850 in den Schriften 
Büchners und Moleſchotts zu Tage. 


Und dodh war es nur eine Scheinwiflenfchaft, 
die die Geifter beherrichte (und heute teilmeife 
immer noh beherricht). Die „naturmiflenfchaft: 
lidhe” Erklärung des Lebens beruhte auf vor: 
ſchnellen Hypotheſen, vermechfelte das Benennen 
und Einregiftrieren der Erfcheinungen in wiſſen— 
ſchaftliche „Syſteme“ mit dem eigentlichen Er: 
tlären. Man fa h die eigentlichen Probleme teil: 
weile garnicht; der Weg von der bloßen Be- 
Ichreibung der Natur zur Deutung und inneren 
Erfaffung fien endgültig verrammelt. — Typi- 
iher Ausdrud diefer geiftigen Haltung ift das be- 
fannte Buh von Hädel: Die Welträtfel. Ich will 
im folgenden kurz verſuchen, es als Ausdrud 
einer Zeitanſchauung (ih möchte fagen Beit- 
geiftes, wenn eben diefe Zeit den Geift nicht fo 
ihonungslos befämpft hätte) zu erklären, die 
antimetaphyjfifch war. 

Als das Buch im Jahre 1899 erfchien, jchrieb 
der Berliner Philofophieprofefior PBaulfen das 
folgende, geradezu vernichtende Urteil: „Sch habe 
mit brennender Scham diefes Budy gelefen, mit 
Cham über den Standpunft der allgemeinen 
Bildung und der philofophifchen Bildung unferes 
Volles. Daß ein folches Buh möglidy war, daß 
es geichrieben, gedrudt, getauft, gelefen, be- 
wundert, gelobt werden fonnte bei dem Volke, 
das einen Kant, einen Goethe, einen Schopen: 
bauer befißt, ift ſchmerzlich!“ Trog allfeitiger 
Ablehnung durch naturmilfenfchaftliche Forſcher 
und Philofophen hatte das Buch um 1900 einen 
riefigen Erfolg. Dieſer Erfolg erklärt fih daraus, 
dah das Bud Ausdrud einer beftimmten Zeit: 
ftrömung war, die fih in ihm wiederfand. Wie 
einft Qameties l'homme machine, vor der 


110 


franzöfifchen Revolution jtand, fo erfcheint dem 
Betrachter, der feine Blide vom Jahre 1924 ins 
Jahr 1900 zurüdichweifen läßt, Haedels Buch 
als der Vorläufer jener großen Revolution von 
1918. Der Materialismus mit feiner völligen 
Zerſetzung aller geiftigen Werte I" in ihm am 
deutlichhten ausgeiprochen. 

Wie jede Zeit, fo hat auch die Bortriegszeit 
ihre bejtimmte Weltanfchauung gehabt. Für die 
Weltanfchauung der Wer Jahre ift neben den ein« 
gangs bereits erwähnten Zügen die Verwechſlung 
von Bildung und Wiffen charafteriftiih. Das 
Schlagwort „Willen ift Macht” beherrfcht diefe 
Zeit, und mit ihm der Typus des redynerifc 
kapitaliſtiſchen Menſchen. Damit wird auch die 
Wertwelt diefer Zeit aufs engfte begrenzt. Alles, 
was nicht materiell oder nüßlich jchien, wurde 
als Ballaft beifeite getan, und gerade da wirkten 
Haedels Welträtjel als ein Buch des Kampfes 
gegen die geiftigen Werte, wie fie Kirche und 

Chriftentum vertraten. 
= ©o ift es nicht verwunderlicd), daß alle die 
Kreife, die in Oppofition zur Gefellichaft ftanden, 
in Haedels Buch ein geiftiges Erbauungsbud 
fahen, in dem ein mutiger Mann ausiprad), was 
Taufende von Gebildeten und Gelehrten ebenfalls 
zu denten fchienen, aber verfchwiegen, damit dem 
Bolte die Religion erhalten bliebe. 

Haedels Buh wurde eben als Typus einer ver- 
gangenen Beit cdarafterifiert. Es erwudjs in 
einem Zeitalter des Spegzialiftentums. Eine un- 
geheuerliche Fülle von Willen fien die reh- 
nerifche Beherrfchung der Welt zu garantieren, 
und in der Naturmiffenfchaft war die „Weltüber: 
windung“ auf mechaniſchem Wege fcheinbar greif- 
bar nahe. Bei näherem Zufehen jedoch erweiſt 
fich diefe ungeheuerliche Betriebfamteit, die den 
fogenannten „Siegeszug der Technik” einleitet, 
als eine Aufftapelung reines Sadmiljens. An 
die Stelle der eigentliyen Werte find Surrogate 
getreten, Schlagworte wie „Menjchheit“, „Grand 
être“ u. a. m., deren Berlogenheit man nicht 
fab oder nicht fehen wollte. Die Welt wird von 
technifch-praftiichen Problemen beherricht, neben 
denen es andere Probleme einfach nicht gibt. 

Diele ganze Zeit ift durch den Weltkrieg bis 
ins Innerfte aufgewühlt und umgeltaltet worden. 
Er brachte die eigentliche geiftige Krifis, in-deren 
Folgewirkung wir noh heute ftehen. Jn und mit 
dem Krieg ift ein neues Geſchlecht hochgefommen, 
das fidh in feiner feelifhen Eigenart von din 
Menjchen, die um 1900 lebten, grundmejentlich 
unterfcheidet. Und zwar liegt diejer Unterichied 
in der völlig neuen Einfjtellung zur Welt. Die 
rein religiöfe Grundjtimmung tritt immer deut: 


Die moderne Naturwiffenfchaft auf dem Wege zut Metaphefi. 


licher zutage, ohne daß fie fih fchon in beftimmte 
Formeln bringen ließe. Bon der Redensart, daB 
der Weltkrieg einen Bankrott des Ehriftentums 
bedeute, — die man nadh dem Kriege fo oft zu 
hören befam —, ift nicht die Rede mehr. Wohl 
aber ift der entfeßliche Irrtum erkannt, mit dem 
man zur Beit Haedels wirflihde Werte und 
Sceinwerte verwechſelte. Der Hunger nad 
wahren Werten ift Charafterijtitum der neuen 
Generation. Auf allen Gebieten, auf dem der 
Dichtung, der Wiſſenſchaft und Kunſt ringt ein 
zentraler Gedanke des Chriftentums nah Geftal- 
tung: der Gedanke der Gemeinfchaft, dabei tritt 
die innerlie Vermwandtichaft der neuen Be- 
wegung mit der der deutſchen Myſtiker immer 
ihärfer in den Vordergrund Nichts wäre frei- 
lih verkehrter, als in ihr eine gefühlsjelige 
Wiederbelebung der Romantik zu fehen, oder gar 
die. Bewegung für eine gelehrt-hiftorifhe Aus- 
grabung aus vergangener Zeit zu halten, nein, 
in den Schriften eines Scheler, Gundolf oder Otto 
werden die Myftiter nicht zitiert oder neu heraus» 
gegeben, fondern das Lebensgefühl in Dielen 
neuen Menfchen ift dem der Myftiter verwandt. 
Wie in der Myſtik ringt ein neuer Menjchentyp 
nad Geftaltung. An die Stelle des rechnenden, 
weltbeherrjhenden Menfchen will der hin— 
gegebene, offene Menfch treten. Nicht eine 
Summe von noch fo großem Einzelmiljen ift jegt 
das Endgiel, fondern die Zufammenfchau der uns 
geheuerlichen Stoffmengen zu einer inneren und 
höheren Einheit, mit einem Worte: die Meta- 
vhyſik, die Wiffenfchaft von der Totalität, erwacht 
cus langem Schlummer. 

Vielleicht ift nichts bezeichnender als ein Gegen» 
überftellen des Haedeljchen Buches mit modernen 
naturmiffenfchaftlichen Büchern, die ähnliche Ziele 
wie das Haeckelſche Buch verfolgen. Unjere Auf: 
gabe ift hier nicht, den maturmiljenfchaftlichen 
Wert folcher Bücher herauszuftellen und zu unter⸗ 
ſuchen. Worauf es hier anfommt, ift einzig 
diefes: die metaphyfifche Wendung, die für unfere 
ganze Zeit charakteriftifch ift, auh in Diejen 
Büchern wiederzufinden. Da ift die geiſtige 


 Befamthaltung diejer Bücher ent[cheidend, 


nicht der wilfenfchaftliche Wert der einzelnen Ce- 
danken. So betradtet, fünnen die Bücher von 
Sellinet: „Das Meltgeheimnis”, Bavinf: „Ergeb: 
nijfe und Probleme der Naturwiſſenſchaft“ und 
Dacque: „Urwelt, Sage, Menjchheit” als Sym- 
bole der ungeheuren geiftigen Wendung dienen, 
die wie die gefamte Zeit auh die Naturwilfen- 
ichaft ergriffen hat. Das Stroben nad) Syntheſe 
und Berinnerlichung ift das Hauptmerfmal auf 
tiefem Gebiete. Co ift das Jellinekſche Buch er- 


a a — 


[U m) ~ —— 


— — 


wachſen aus dem Drang nach Totalität. Ein rein 
wiſſenſchaftliches Buh wie das Bavinkſche endigt 
mit dem Bekenntis: „Der neue Idealismus, 
nach dem ſich alle Welt nach der langen Trocken⸗ 
periode des Materialismus ſehnt, er wird nicht 
neben und trog den realen Wiſſenſchaften, fon- 
dern durch ſie hindurch uns erwachſen.“ 

Die Höhe erreicht dieſe neue Bewegung in dem 
eben erwähnten Buche von Dacqué. Schon die 
Bidmung zeigt, wohin der Weg gehen foll; es 
ift denen gewidmet, die erfennen, daß wahres 
Veritehen Glaube ift. Wenn im Folgenden auf 
das Buch etwas näher eingegangen wird, fo ift 
aud) hier niemals an eine naturmwiljenkhaftliche 
Kritit gedacht (Bavint lehnt das Buch z. B. ab); 
es dient uns nur als ein #eichen der Zeit. 
Hedel und Dacque bezeichnen die beiden Pole, 
zwilhen denen die geiftige Entwidlung von 1899 
bis 1924 fih bewegt hat. Der Grundgedante 
tes Buches ift diefer: Ausgehend von dem Geſetz 
des Zeitgeiftes (Zeitgeift ift für Dacqu& der 
organische Baustoff einer beftimmten erdgefchicht- 
lihen Periode) fucht Dacque in Mythen, Sagen 
und Märchen einen erd- und menfchheitsgefchicht- 
lihen Kern, der es erlaubt, noch tiefer in die 
Vergangenheit einzudringen, als es bis jegt mög» 
lih erſchien. 

Jh will verfuchen, ein paar der wichtigften 
Gedanken Dacqués herauszuarbeiten. Nad der 
allgemeinen Anficht liegt die Geburtsitunde des 
Menfhen in der frühen Diluvialzeit. Jn eine 
frühere erdgefchichtliche Periode ift bis jet nur 
Klaatfh heruntergegangen. Dacqué ſpannt den 
Bogen außerordentlich viel weiter. Er fucht die 
Epuren der Menfchen bis in die — Steinkohlen- 
zeit zu verfolgen. Geftüßt auf die Ergebniffe der 
Prägeographie und der Sagen von Atlantis (und 
ähnliche) refonftruiert er für das Tertiär eine 
Periode der atlantifchen Intelleftualtultur, ein 
Zeitalter der geiftigen Religionen, beginnend mit 
echter Aftrologie und Sonnentultus; die immer 
mehr zunehmende Großhirnentwidlung gibt der 
ganzen Zeit ihr Gepräge und führt ohne Bruch 
in die Gegenwart über. Am Beginn der Be- 
ſiedlung der Atlantis fteht die „Noachitiſche Sint- 
Hut“, in der das Godmwanaland, ein jeßt ver- 
ſunkener Kontinent zwifchen Auftralien und 
Afrita, unterging. Diefe Gondwanazeit fegt 
Tacque auf Grund feiner vergleichenden Sagen: 
lorfhungen in die Kreide- und Jurazeit. Es ift 
en Menfchentypus mit fpreizbarer Hand (die 
puren des berühmten Handtieres werden von 
Dacqué in diefe Zeit verfeßt) und einem geiftigen 
Habitus, der vor allem durch „Naturfichtigkeit“ 
gelennzeichnet ift. Mus den Forſchungen von 


Die moderne Raturwiflenfchaft auf dem Wege zur Metaphyſik. n 


111 


Frobenius und den Ergebniſſen der Unterfuchun: 
gen über das Beiftesteben der fogenannten Primi- 
tiven auf der einen Seite und dem Berwerten 
des Gilgamefdhepos (das Dacqu& als uralten 
Nachklang aus diefen fernen Zeiten anjieht) auf 
der anderen Geite will Dacqué Licht in diefe 
weltenferne Zeit bringen. Er nennt diefe Zeit 
die Zeit der Mythen und der mythenhaften 
Könige und der Magier, die Zeit der Drachen» 
und Lindwurmkämpfe. Jn diefer Zeit fekt die 
Großhirnentwidlung ein und der Individualis- 
mus einzelner beginnt fih aus der Natur- 
verbundenheit zu löfen. Uber der Verfaſſer führt 
uns in noch grauere Fernen. Dem eben gefdil- 
derten Menſchengeſchlecht (Dacque& nennt nennt 
ihn den „Noachitiſchen“ Typus) geht noch eine 
Vorstufe voraus, der „Adamitiſche“ Menſch, den 
Dacqu& in die Perm- und Steinfohlenzeit ver: 
icht. Er befit amphibijchen 3,ubitus und ift noch 
völlig in die Natur eingegliedert, beſitzt alfo 
fteinerlei Individualität oder eigenes Denten. — 
Von Anfang an aber, das betont Dacqué mit 
aller Entjchiedenheit, tritt uns der Menſch als ein 
eigenes Weſen entgegen, das gwar körperlich) 
mit den Tieren verwandt ift, aber von Uranfang . 
an die „höhere Potenz” ift, die vielleicht Die 
anderen Stäme aus fih entließ, und eben dur 
die Entlaffung diefer Formen immer menfdlicher 
murde; der Weg geht vom Faun zum Apol. 


Ganz gewiß ift Dacque der legte, der in den 
eben ffigzierten Gedanktengängen fo etwas wie 
„ſtrenge Wilfenfchaft” gefehen willen will. Sein 
Bud trägt ja auch den bejcheidenen Titel: Natur: 
hiftorifch-metaphyfifche Studie. Alles was Dacque 
über das feelifche Eigenleben der von ihm anə 
genommenen Ürzeitmenfchen zu fagen weiß, ift 
ja legten Endes niht mehr Hypotheſe, fondern 
reine Metaphyjit. Und da liegt die Gefahr allzu 
nahe, der einſt Schelling erlag: eine Begriffs: 
dichtung zu geben, die den feiten Boden der Tat- 
ſachen völlig unter den Füßen verliert. Info: 
fern ift Dacqués Buch ftar? romantifch und fein 
rein naturwillenfchaftlicher Wert wahrſcheinlich 
nicht febr groß. Darüber haben die reinen Na: 
turforfcher das legte Wort. Für uns liegt die 
Bedeutung des Buches gerade auf philoſophiſch— 
religiöfem Gebiet: als Ausdrud einer ganz be- 
ftimmten Seitrihtung bat Dacques Werft den- 
felben typifchen Wert wie einft das Buch Haedels. 
Es ift der Erponent einer neuen Art Wiſſenſchaft, 
jener Art, die ich zu bejchreiben fuchte. Befonders 
charakteriftifch ift dafür, was Dacqué über das 
Verhältnis von Theorie und Wiſſenſchaft zu fagen 
weiß. Ein paar Züge feien darum noch hervor: 
gehoben Dacque ift feft davon überzeugt, daß 


112 


über die Witerphilofophie der vergangenen Jahr- 
zehnte der Weg hinführt von der Intellektualwelt 


zu der Gefühlswelt der lebendigen Religion. Das . 


Kaufalitätsproblem genügt nicht zur Erfaffung 
der lebendigen Wirklichkeit, fondern weijt über 
fih hinaus auf das Tinalitätsproblem. Die 
abendländifche Willenfchaft ſteht wieder vor der 
uralten Erfenntnis, daB Willen und Schauen, 
Willen und Glauben nur im Bunde miteinander 
eriitieren können. Gie fteht ferner vor der Er- 
fenntnis, daß nicht Die Herausarbeitung des 
Stoffes Teßtes Ziel ift, fondern nur Borberei- 
tungsdienft zu einem „allmählich erwachjenden 
Prieftertum, das mit feiner fauftifchen Innerlich- 
teit taum an ein epituräilches Genießen ge- 
mahnen, fondern die Blume der Tiefe öffnen 
und vielleicht bei einer Bergpredigt feine Er: 
füllung finden wird.” 


Ich betonte es ſchon öfters und möchte es zum 
Schluß noh einmal hervorheben: der natur: 
wiflenfchaftliche Wert des Buches von Dacque 
fteht nicht zur Disktuflion, das ift nicht Aufgabe 
dDiefes Auffaßes. Hier galt es nur zu zeigen, wie 
auh die moderne Naturmillenfhaft in das 
Zeichen der Metaphyfit tritt. Auch fie wird in 
iteigendem Maße von der großen geijtigen Um- 
mwälzung (die in ihrem Ausmaß und ihrer hifto- 
riſchen Bedeutung die politifyen Veränderungen 
weit hinter fih läßt, denn fie fchafft einen neuen 
Menfchen) ergriffen, die feit 1900 eingefeßt hat: 
der Wiederbefinnung auf die Werte des Geiftes! 


Anmerkungen zu vorjiehendem Aufjaß. 
Bon B. Bapint. 


Der Herr Berfaffer hat im Tert {hon erwähnt, daß 
ih das Buch von D. ablehne. Mehr als das: ih halte 
es für ein ähnlich gefährliches Buch wie es jeinerzeit 
die „Welträtſel“ Haedels geweien find. Wenn Die 
Metaphyſik und die religiöſe MWeltbetradhtung reden 
tönnten, fo hätten fie angefihts des Dacquejchen Budes 
alle Urſache zu rufen: Gott behüte mid) vor meinen 
Freunden, vor meinen Feinden will id midh foon felbft 
fhüßen! Es ift vorauszufehen, daß dieſes Bud in den 
Händen unzähliger „Apologeten“ ein taum wieder gut 
zu macdendes Unheil anrichten wird. Schon findet man 
es hier und da in den Häujern gebildeter Laien; die 
erste Auflage ift, wie der Berlag vor kurzem mitteilte, 
in fürzeiter Friſt vergriffen gewejen. Es ift aljo ohne 
Zweifel die naturwiſſenſchaftliche Senfation des Tages. 
Ebenſo zweifellos aber ift mir, daß die Wiſſenſchaft dies 
Buch im großen und ganzen, abgejehen vielleicht von 
einigen ſchätzenswerten neuen Gedanken, die cin be: 
Deutender Fachmann immer zu geben hat, rundweg ab: 
Ichnen wird? — ablehnen muß, wenn fie nicht alle 
ibıe guten Traditionen verleugnen will. Denn was D. 
da behauptet, das ift jo ungeheuerlih, daß es nur bei 
den zmwingendften Beweiſen geglaubt werden könnte. 
Non ioten ijt aber gar Feine Rede. Tas Ganze ift 


Die moderne Naturwiffenfchaft auf dem Meae zur Metaphofit. 


ein genial konzipierter Entwurf, deffen Grundlagen aber 
von vornherein in der Quft ſchweben. Zwei Grund- 
gedanfen durchziehen das Budh. Zum erften will D. 
eine neue Lehre über die Abitammung des Menfchen 
aufftellen. Er will feinen Stamm als gejonderte Bahn 
bis weit über das Tertiär hinaus, ja bis in das 
Paläozoikum (die Permzeit) zurüdverlegen. Dieſem 
Stamm follen- die übrigen Tierftämme fozufagen als 
blinde Aeſte zur Seite entiproffen fein. Er will zweitens 
als Beweiſe dafür und als Grundlagen näherer Er: 
mitllungen jener Berhältniffe in Urzeiten die befannten 
Sagen der Menfchheit durchmuftern und aus ihnen An» 
Hänge an Saurier und Draden, an das Amphibien- 
ftadium des „poradamitifhen“ Menſchen und dergleichen 
herauslejen. Mit der von ihm dabei befolgten Methode 
tann man mit Leichtigkeit alles beweilen. Man braucht 
nur ein halbes Dugend Sagen daraufhin durdaujehen, 
irgend etwas, was einen entfernten Anklang an die 
gewünſchte Behauptung Hat, herauszuholen, das übrige 
als fpätere Einkleidung und Zutat wegzulaffen, und man 
hat, was man will. Wer eine Satire auf D.s Bud 
ihreiben wollte, könnte mit Leidhtigfeit nad feiner 
Methode beweifen, daß der Menid) ehemals ein Bogel- 
ſtadium durchlaufen hätte, oder daß fein Stamm dereinft 
Zeuge des Froſchmäuſekrieges gewejen fei oder der- 
gleien. Das Gefährlide an folden Büchern ifi nun, 
daß fie die Laien blenden, weil fie eine große Menge 
an fih richtiger und längft der Wiflenjchaft betannter, 
dem Laien aber neuer Daten in fajt unlöslider Ber- 
mengung mit den gewagtelten neuen Thejen bringen, 
ganz ebenjo wie das 3. B. die Welteisiehre Hörbigers 
tut. Die Durchſchlagskraft, die jenen Beltandteilen mit 
Recht zukommt, überträgt fih für den untritifhen Lefer 
dann unvermerft auf diefe höchſt angreifbaren Dinge 
mit, und fo entiteht ein ganz falſches Bild von dem, 
was fiheres oder wahrfcheinliches Ergebnis und dem, 
was fühnjte, womöglich längft als undurchführbar er- 
wiejene Hypotheſe ift. - 

Das Bud fann ih auh niht als emen Weg von der 
Naturwillenichaft zu einer neuen Metaphyſik anfehen. 
Es bedeutet vielmehr m. E. einen Rüdfall der Natur: 
wiſſenſchaft in ungellärte und vage metaphyſiſche Speku⸗ 
lationen, Naturmwillenichaft nad) metaphyfiicher Methode. 
Das ijt nicht der Weg, auf dem wir zu der neuen Meta- 
phyſik tommen. Warum mußte denn die alte feiten? 
Eben deshalb doch, weil fie ftatt auf dem Boden der 
\oliden Wirklichleit zu bleiben, aberwißige Gebäude 
reiner Spekulation aufführen wollte, die gegenüber dem 
eriten Anhaud der nüchternen Kritit zuſammenfallen 
mußten. Man dente an Hegels, mit Sceffel zu reden, 
„gediegenjten Mift“. Wollen wir dies Fiasko nod ein- 
mal heraufbeihwören? Und damit den Feinden aller 
metaphyiifchen und zugleich aller religiöfen Bertiefung 
— denn beides geht Hand in Hand — felber Waffen in 
die Hände fpielen? D. läßt an vielen Gtellen durd- 
bliden, daß eine wahrhaft tief gefühlte Frömmigkeit 
hinter feinen Worten ſteht. Das macht ihn unè fym- 
pathiſch, aber leider wird er erleben, daß gerade über 
icin Buch nun die Feinde aller Religion mit Hohn: 
Icchen herfallen werden. Und wir, die wir innerlid) auf 
jeiner Seite ftehen, wir müſſen ihn mit Bedauern preis: 
geben, weil wir jenen zugeben müſſen, daß fo etwas, 


Die moderne Raturwiffenfchaft auf dem Wege zur Metaphafit. 


wie D. es bietet, gegen alle willenjchaftlidden Grund- 
ſätze verftößt. Bon einer neuen umfaflenden natur: 
wiſſenſchaftlichen Hypothefe — ohne folde fommt gewiß 
de Wiflenfchaft niemals weiter — muß man das ver: 
langen, daß fie das bereits Belannte und durd die 
alten Lehren Erklärte mindeitens ebenjo gut, wenn nicht 
beffer erkläre als diefe; daß fie aber darüber hinaus 
neue weitere Einfichten eröffne. Wenn gelegentlih aud 
einmal die erfte Forderung fih eine Einfchräntung ge- 
fallen laffen muß (fo 3. B. bei der Bohrſchen Atom- 
theorie, die mit der bisherigen Eleftrodynamit in Kon- 
flitte gerät), jo muß dod ein folder nur als Proviforium 
zuläfliger Nachteil dann erfit recht durch ganz durd: 
ſchlagende neue Einfihten und Erklärungen wett ge- 
madt werden. Wie fteht e3 aber mit D.s Lehren? 
Man ift bisher allgemein der Anfidyt gewejen, daB der 
Menſch fider nit vor der Tertiärzeit auf Erden ge: 
geweſen ift. Selbit in der Tertiärzeit ift feine Exiſtenz 
bisher vielfad) angezweifelt. Die einzigen Spuren, die 
da etwa auf ihn hinweijen, die fogenannten Eolithe, 
find nicht mit unbedingter Sicherheit als Kunftprodufte 
zu ermweifen. Und ein anderes Mittel, uns von der 
Exiſtenz des Menſchen zu überzeugen, als das Auf: 
finden von Spuren intelligenter Tätigleit haben wir 
doch niht, es fei denn, man finde (wovon aber gar 
teine Rede bisher war) jogar Sfeletteile. Und nun 
kommt D. mit der Behauptung nod viel älterer „Men- 
ſchen“. Da tritt denn doch fofort die Frage auf: Welche 
Beweife gibt es dafür? Wie kommt es, daß nicht ein- 
mal im Tertiär, gejchweige denn darüber hinaus fichere 
Spuren menſchlicher Tätigkeit nachweisbar find? D. 
antwortet: Vielleicht oder wahrſcheinlich, weil der da- 
mals die Menſchen bergende jogenannte Gondwana: 
fontinent untergegangen ift. Eine billige Hilfshypotheſe, 
die verzweifelt an gewiſſe voreinfteiniche Verſuche der 
Erklärung des negativen Ausfalls des Micheljonver- 
ſuchs erinnert, die auch dadurch charatterifiert find, daß 
die Hypotheſe jelbit ihre eigene Berifizierbarfeit von 
vornherein ausjchließt. Es bleibt allerdings bei D. 
unklar, wie weit man bei jenen weit entfernten Men- 
jhen überhaupt auf den Nachweis von Spuren ent- 
widelter Intelligenz rechnen dürfte. Denn D. will die 
übermäßige Entwidlung der Intelligenz erft jpäter als 
Kennzeichen des „noadjitifhen” Menfchentypus eintreten 
laffen. Wodurd) denn nun aber die früheren Menſchen— 
typen ſich eigentlih als „Menſchen“ ausweiſen follen, 
fagt er nit. Cs genügt ihm das Poſtulat, dağ diefe 
ja, wie die jpätere Entwidlung gezeigt habe, die nötigen 
„Anlagen“ oder „Entwidlungspotenzen“ gehabt haben 
müßten. Cine ebenfo billige Rüdwärtsprojizierung 
deffen, was jpäter war, auf die Seit vorher. Die bis- 
berige Abftammungslehre, die D. befämpft, geht Darauf 


aus, die Urſachen zu ergründen, durch welde die Um: . 


mwandlung eines bis dahin tieriihen Weſens in ein 
Weſen mit alles andere überragender Gehirnentwid- 
lung wohl erfolgt fein könnte. Bei D. fällt ein foldes 
faujales Streben einfady fort. Die „Anlagen“ find ja 
da, das genügt, alle äußeren Bedingungen find nur 
„Anläfle“. D. ift aljo tonfequenter Anhänger eines 
jogenannten Cvolutionismus (hier im Gegen- 
iag zu der Lehre von der fogenannten Epigenefis — 
Reubildung). Bei ihm, wie bei einigen ihm verwandten 


113 


Deizendenztheoretifern, ift der ganze Artenbildungsvor- 
gang ledigli eine Entfaltung von etwas bereits als 
„Potenz“ Borhandenem. Ein bequemes Berfahren, das 
die weitere Urſachenforſchung überflüflig madt. Leider 
jind jene urjprüngliden Anlagen nichts anderes als die 
berüchtigten „qualitates occultae“ der älteren Phyſik. 
Man fegt einfa} das zu Erflärende als „Anlage“ oder 
„Kraft“ oder dergleichen voraus. Die Hauptjache aber 
ift dies: Hatten jene „adamitifhen“ oder „vornoadjiti- 
jhen“ Menjen wenig oder gar feine menjdlidye In: 
telligenz, fo ift beim beiten Willen nicht abzufehen, wie 
fi) unter ihnen Traditionen hätten fortpflanzen können, 
deren Spuren D. noh nadh Iahrmillionen in unferen 
Sagen wiederfinden will. Natürlich tann aud ein 
tieriihes Weſen feinen Nachkommen gewiffe Beral- 
tungsweifen dur‘ eine Art von „Erziehung“ über- 
mitteln, wie wir da3 jederzeit an höheren Tieren wie 
Säugetieren und Vögeln beobadten können. Außer: 
dem fünnen gewiſſe „Inſtinkte“ vererbt fein. Auf diefe 
MWeije könnte 3. B. die inſtinktive Schlangenfurdt der 
Menſchen erklärt werden. Aber das ift feine gei-. 
ftige Tradition. Solde ift notwendig geknüpft 
an begrifflides Denten und artitulierte Sprache, 
und gerade das foll es ja einjtweilen noh gar nicht 
oder faum geben in jenen Urzeiten der „Menſchheit“. 
So bleibt dieje Menſchheit trog aller angeblichen „Po- 
tenzen” doch das Nämliche, als was die bisherige Ub- 
itammungstheorie fie auh angefehen hat: Tier, aller- 
dings Tier mit der Fähigkeit, einmal Menſch zu werden. 
Warum das nun aber ein jo grundlegender Unterſchied 
von der alten Lehre fein foll, fieht man nidt ein. 

Tatſache ift, daß wir fihere Spuren des Menſchen erft 
aus den Anfängen des Diluvium3 haben. D.s Hypo- 
thefengebäude erklärt das nur mit Zuhilfenahme einer 
ganzen Reihe an. fih wenig einleudhtender Hilfshypo- 
thefen; das nädjitliegende bleibt dagegen immer wieder 
die einfahe Annahme, daß der Menj eben nidt 
weientlich älter als etwa das Tertiär ift. Nun könnte 
man, wie erwähnt, eine ſolche Schwäche gegenüber dem 
bisher Erflärten ähnlidh wie bei Bohrs Theorie ent- 
ihuldigen, wenn die neue Theorie dafür anderes in be- 
fonders großartiger Weife, wie das bei Bohr der Fall 
ift, ertlärte. Davon ift aber bei D. audy feine Rede. 
Vielmehr maht der neue Gedante, den er in die Debatte 
wirft, die Erflärung der Sagen, wie wir joeben jahen, 
nun erft recht unlösliche Schwierigkeiten, denn wie joll 
bei mangelnder Begriffs: und Spradgentwidlung eine 
Tradition zuftande tommen? Hier fegt D. abermals 
eine fühne Hilfstonftruftion, die Annahme einer früher 
in viel ftärferem Maße vorhandenen „Naturfichtigkeit”, 
einer Art dämonifcher oder wenn man lieber will, „of- 
tuiter“ Begabung ein, die nun alles das leijten foll, 
was die noch niht vorhandene Intelligenz eigentlid) 
leiten müßte. Mit folder Hypotheſenkonſtruktion tann 
man offenbar alles Möglide „erklären“. Es ift tein 
Wunder, daß D. ſtarke Sympathien mit Hördigers 
Welteisiehre empfindet. Etwas von dem fühnen Drauf- 
Iostonjtruieren Hörbigers ftedt auh in feinem Bude. 
Die nüdterne Wiſſenſchaft aber verlangt feine Phan: 
tafiebauten, feien fie auch noch jo glänzend ausgedadıt, 
jondern den Nachweis, daß es wirklich oder doch wahr- 


114 


iheinlid fo gewefen ift, wie die Hypothefe annimmt. 
Niemand hat, wohlgemerft, an ji) etwas gegen dies 
wiffenichaftlihe Phantafieren einzuwenden, im Gegen- 
teil, es ift ganz offenbar, daß darin zu allen Zeiten der 
eigentliche Hebel alles Erkenntnisfortfchritts gelegen hat. 
Aber da3 eben charafterijiert die Naturwiſſenſchaft im 
Gegenjag zu manden anderen geiftigen Betätigungen, 
daß fie mit diefer Phantafie fih niht zufrieden 
gibt, fondern darüber hinaus den Anfchluß an die Er- 
fahrung verlangt. Wer den nicht leitet, mag ein großer 
Künftler und als folder ein Genie fein, ein bedeutender 
Naturforſcher ift er nidt. Was einen Bohr und 
Pland, einen Darwin und Mendel ufw. auszeichnet, 
ift eben jenes Ineinander von kühnſter Phantafie und 
nüdternfter Kritit, von weiteſtem Ausblid und forg- 
fältigjter Rüdfiht auf das Einzelne, das die Erfahrung 
lehrt. Gewiß ift, wer nur das leßtere bat, nur ein 
wiffenfhaftlider Handwerker und tein Forſchergenie; 


ein joldyer ift aber immer noh nüßlicher für die Wiffen- 


Zu Bavinfs „Problem des Uebels in der Welt“. æ 


. Mader. 


Bon Ad 


Noch ganz unter dem Eindrud jtehend, welden die 
Lektüre der dur” mehrere Hefte von „Unſere Welt“ 
fih Hinziehenden Abhandlung, die die in der Ueber- 
chrift wwiedergegebene Bezeichnung trägt, in iym hervor: 
gebracht, möchte Unterzeichneter um die Erlaubnis bitten, 
niht um an dieſer Abhandlung etwas verändern oder 
verbeffern zu dürfen, jondern nur um zwei Zuſätze oder 
Erweiterungen vorzufchlagen. Die Ergänzungsvorſchläge 
betreffen nur zwei theoretiih ziemlich untergeordnete 
Punkte, die jedoh praftiich gar wohl ins Gewicht zu 
fallen fcheinen. Der eine betrifft die vermeintlide 
und wirtlide Bröße der Uedel der Welt, 
der andere die weientid ertenntnistheo- 
retifhde Behandlung der ganzen reli: 
gıöfen Frage, während diefelbe, mehr Hifto- 
riſch behandelt, noh in ein weit fdhärferes Licht 
gejeßt werden tann. 

Was Punkt 1 anlangt, fo ift anfcheinend allerdings 
der Anteil, den das Uebel in der Welt hat, ganz er- 
ſchrecklich groß. Unferer jeßigen Zeit mit ihren furcht— 
baren politiihen Erfahrungen erſcheint es ganz be- 
jenders jo. Aber auh jhon vor dem Weltkriege galt 
beinahe das gleiche, und das läßt die Frage nad) der 
Redtfertigung Gottes, des Allmädıtigen, die fogenannte 
Theodicee, jo befonders auf der Geele des modernen 
Menſchen lajten, und mit jedem Fortſchritt in der 
Erkenntnis (worin unſere forſchende und jedes Ber- 
tuſchen verdammende Zeit fo große Schritte getan hat) 
wırd dies Gewicht ſchwerer zu tragen, fo daß die mei- 
ften der Wiffenden an der Möglidyfeit einer leidlidyen 
Bilanz nachgerade verzweifeln und jagen: Nein lieber 
gar feinen Gott, als einen folgen, der mit dem Teufel 
unter einer Dede fpielt, lieber der blinde Zufall. Dann 
weiß man doh von vorne herein, weſſen man gewärtia 
jein muß. 
3m 18. Jahrhundert und noch bis zur Mitte des 


Zu DBapinte „problem des Uebels in der Welt“. 


ſchaft als ein Phantaft, der nur auf Abwege führt und 
Untlarheiten ftatt Klarheit bringt. Es ift zuzugeben, 
daß Dacques großzügiger Entwurf etwas Geniales Hat. 
Aber das tut es eben nidt. 

Der wahre Weg von der Naturwiflenfchaft zur Meta- 
phyſik Führt anderswo ber, als wo ihn D. ſucht. Rigt 
der Erſatz naturwiſſenſchaftlicher nüchterner Betrachtung 
durch metaphyſiſche, wenn auch an ſich packende Kon⸗ 
zeptionen, ſondern das Erſchauen eines tieſeren Sinnes 
hinter allem auch dem ſcheinbar nüchternſten und klarſten 
Geſchehen führt zur metaphyſiſchen Vertiefung. Davon 
findet ſich bei D. zum Glück auch ein gutes Stück, be⸗ 
ſonders in den Schlußkapiteln; es iſt aber ſehr ſchwer, 
dies Unangreifbare aus dem vielen höchſt Angreifbaren 
und Bedenklichen herauszuſchälen, und darum kann ich 
dem Laien nicht raten, D.s Buch zu leſen. Will er es 
aber leſen, ſo kann ich ihm nur raten, es mit ſehr viel 
Kritik zu lejen und das Ergebnis der wiſſenſchaftlichen 
Nahprüfung in Ruhe abzuwarten. 


19. Jahrhunderts war das anders. Da war die Na- 


turwiffenihaft mit ihren ſcharſen Forſcheraugen nod 


nicht jo weit entwidel. Da war aud) der Welt⸗Ver⸗ 


- fehr noh nicht jo allgemein und ausgebreitet, fo da 


man ſich von dem Tun umd Treiben fremder Bölter 
no Märchen erzählen ließ; da fafelte man nod von 
einer Uebereinitimmung, wenigitens am lebten (Ende, 
des Guten, Wahren und Schönen. Kur, man ließ 
Gott den guten Mann fein. 

Seht haben wir hinter den Vorhang geſchaut, jegt 
willen wir jo febr viel mehr, und natürlid können wir 
nicht zurüd m den Zujtand der alten jeligen Däm- 
merung, da die Theologen Gellert, Gleim, Krummacher, 
Zſchokke, Oberlin und Hebel die Literatur beherrichten 
und der auch in dieſelbe Richtung orientierte wealiftifche 
Schiller die Krone trug Die pompöfe Feier von des 
legteren Hundertjährigem Geburtstage war der Schluß: 
ftein dieſer märdenhaft optimiftiihen Periode in 
Deutihland. Danad) wurde uns dur) unfere mit Rie- 
ſenſchritten fortichreitende Crlenntnis nad der Mei: 
nung des neuen Beiltes der Star geſtochen. 


Aber ift es allein die Plarere Erkenntnis der wirt: 
liden Welt, die dem Modernen das Berlaffene als 
Köhlerglauben ericheinen laßt? Ift es nicht zugleich . 
eime Veränderung des Weltbildes in einem ganz an- 
deren, in einem mehr fubjeftiven Sinne? 
Denn, was man biologijh die Umwelt nennt, das 
rt ja gerade der Teil der wirfliden Welt, den wir 
zufolge der Geeignetheit unjerer Sinnesorgane zu er: 
fennen, mit dem wir uns in Beziehung zu feßen vermö— 
gen; und die hierbei in Betracht fommenden Organe des 
Meniden find ja nit bloß die Sinne, fondem ebenſo 
die Brillen, Mitroffope und Mikrophone, mittelft derer 
wir unjere an ſich nur ſchwachen Sinne zu verſtärken 
nelernt haben. Als notwendige Folgerung erſcheint 
die zunächſtliegende, daß der moderne Menſch gerade 


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dalent für diefe Beraubung verlangt. 


durch die weitgehende Potenzierung dieſer Hilfsmittel 
die größte Umwelt oder mit anderen Worten die beſte 
Erkenntnis der wirklichen Welt haben müßte. — 
Weit gefehlt. Die umfaffendfte allerdings, aber die 
treuefte, — und Hierauf fommt es an — feines: 


wegs. 

Zu der Verfeinerung unferer ſinnlichen Hilfsmittel 
gefellt fih nämlid die Ausbreitung aller Errungen: 
ihaften auf die große Maffe der dur Verbeflerung 
der Schulbildung rajh anwachſenden Snterefjenten, 
furz gejagt: die Demofratffierung der Wiffenfchaft. Das 
ZJeitungsmwefen, dann vor faum einem Men: 
icenalter der Film und in unferen Tagen ver 
Rundfunt vervielfältigen das menſchliche Willen 
ins bis dahin für unmöglich Erachtete. Aber ift das 
der Mafle Gebotene auh noh eine getreue Wieder- 
gobe der wirklihen Welt? Keineswegs. Diefe ge- 
ſchieht mit Auswahl und Geihmad und 
mitbemwußter Parteilichkeit. Dies ergibt fih 
am deutlichſten aus der folgenden Gegenüberitellung: 

Der von diefen Neuerungen wenig berührte Menſch, 
legen wir: der Bauer, erfährt nur wenig von dem, was 
in der großen Welt paffiert; aber fein eigenes beſchränk⸗ 
tes Leben ift eine brauchbare Durdyichnittsprobe von 
Dem, was diejes auh ſonſtwo zu enhalten pflegt: Ar: 
beit, Quft, Liebe, Unglüdsfälle. Dagegen in der papiere- 
nen Welt der Zeitungen und der neuen Anichauungs- 
und Hörapparate wid grundfählihdasbenor: 
3ugt, was die Senfationsluft der großen 
Waffe erregt. Mord und Totidjlag, Detettiviftifches, 
Unglüdsfälle aller Art. Dies ift fo, weil dur den 
Induftrieafismus, der mit all diefem technifchen Fort- 
jeritt verbunden ift, die Arbeit vereinförmigt und ihres 
perfünlidien Wertes beraubt wird, und der in der Fa- 
trit? Beichäftigte inſtinktiv nad) einem geiftigen Aequi- 
Nah dem 
Geſchmack der Kaufenden ridtet ſich die 
Ware, und fo erhält der Aermite in Zeitung, Schund- 
roman und Kino em gefälſchtes Weltbild, 
dünkt fih klüger als der Bauer und ift dodh in diefer 
Beziehung weit übler daran. Kein wirklich beobad): 
tender, fondem nur noh ein „papierener Menſch“. 
Œs ift diefes ein Zuftand, der bekanntlich bis in die 
Bahlergebniffe der ftädtifhen Einwohnerſchaft feine 
verderblichen Kreife zieht. 

Dies hält der Unterzeichnete für den wahren Grund, 
warum 3. B. der Schulmeilter, der fih weiſe düntt, 
weil er beffer reden fann, meift ein viel ſchlechteres 
Urteil hat als der Bauer in politifchen und vielen an- 
deren Angelegenheiten. Er weiß mehr, allerdings. 
Aber fein Weltbild ift gefälfcht und zwar nad) einer 
ganz beitimmten NRidytung hin, in der pejfimiftifchen. 
In feinem eignen Leben und dem feiner Familie und 
Nachbarn erlebt der Menih genug, um ein Urteil 
darüber zu haben, in welcher Weife Gottes Segen und 
Mißwachs, Geburt und Tod, Glüd und Unglück fidh 
die Wage hält, die Zeitungslejer aber und Filmbefucher 
werden überernährt und fchließlich ertränft in Nachrichten 
von Grubentataftrophen in Amerika, Sciffbrüden im 
Taifungebiet, Erdbeben und Feuersbrünſten in Japan. 
So bildet er fih ein, die Wage des Blüds müffe un- 
zweifelhaft nah der Seite des Uebels umſchlagen, ge- 


Zu Bavinks „Problem des Uebels in der Welt”. 115 


tade wie die Schyweden den Eindrud haben, die Deut- 
hen müßten alle wandernde Handwerksburſchen fein, 
weil man in Schweden fo vielen unferer Nation in 
diefer Tätigkeit begegnet, oder wie man früher bei uns 
von den „verrüdten Engländern“ ſprach, da in der Zeit, 
wo die Engländer noh zu uns tamen, die Origmalität 
der Bergnügungsreifenden Defer Nationalität uns 
auffiel. 

Es will mir vorfommen, als ob die ganze Frage der 
Rechtfertigung Gottes ein anderes und weit günftigeres 
Anfehen gewinnen wollte, wenn man defen, nur prat- 
tijh zu erfaffenden Umitand, der von den Theoretitern 
meiſt ganz außer Acht gelaffen wird, in Betracht ziehen 
wollte. Das Uebel in der Welt fpielt in ehrlichen Pro- 
genten gar nicht eime fo überwältigende Rolle, wie es 
nad) dem jet üblich gewordenen und fo in feinem 
Entitehen beleuchteten Urteil den Anſchein hat. 

Dasſelbe Rejultat ergibt fi) aud aus der genauen 
Lebensbetrachtung der tief Religiöfen, die am Ende 
ihres Lebens übereinftinmmend bezeugen, daß fie wohl 
ſchwer, aber niemals über ihre Kraft geprüft worden 
find, was, auch wenn man dieſes Endurteil als illufio- 
niſtiſch beanſtanden wollte, doch jo viel bemeilt, daß die 
Uebel alle noch erträgli” geweien find; und er: 
träglihe Uebel dienen pigchologifh für den Lebens» 
fünftler, zu denen gerade die Neligiöfen im höchſten 
Veritande diefes Wortes zu rechnen find, als dunfle 
olie, auf der fih die glüdlidyen Creigniffe in deſto 
glänzenderem Lichte abheben und pſychologiſch gewertet 
werden. 

Natürlid, wenn wir das, was jegt in Rußland vor 


ſich geht, mit deutfcher Empfindfamteit an unjerer 


Seele vorüberziehen laffen, fo erftarrt unfer Blut, und 
wir zweifeln ftellenweife an der göttlichen Gerechtigkeit. 
Uber wir vergejlen dabei, daß ruffiihe Nerven andere 
jind als umfere, und daß für ftumpfere Seelen vielleicht 
auch ſtärkere Eindrüde mötig find. 

Und ganz allgemein gejagt: die Umwelt des modernen 
Menſchen ift eine objektive, von fubjeltiven Färbungen 
möglichft gereinigte Welt, die eine vortrefflihe Grund- 
(age ift für die MWeitererforfhung diefer jelben Welt, die 
aber nicht über Glück und Unglüd enticheidet, in dem 
Sinn, auf den es bei umferer Unterfuhung antommt, 
d i. die perföonlide Empfindung, die bei dem 
öſtlichen Menſchen eine ganz andere, niht mit dem- 
felten Maßſtabe meßbare ift als bei dem weltlichen, 
3. B. dem indiihen Büßer im äußerften Gegenfag zu 
den vordringenden Pionieren in den Goldländern des 
weſtlichen Canada, und die daher zu gänzlich gefälfchten 
Bildern führt, wenn man die Erfahrungen des Einen 
in der Sprade des Anderen aufzeichnet, wie dodh im 
Intereffe der Gemeinverftändlichleit des Erreichten not- 
wendig erachtet wird. 

Dies alles in Betradyt gezogen, ſchließt der Unter- 
zeichnete a fortiori, daß die Rechtfertigung des 
einzigen für Alles verantwortliien Gottes dod 
woh! gelingen fünne, wenn wir im Stande wären, bei 
jedem Gefchehniffe alle Umjtände, Zeit Ort, Seelen: 
itärte in Betracht zu ziehen alfo in Webereinftimmung 
mit dem verdienten Scriftleiter von „Unfere Welt” und 
nur einen jeiner Beweisgründe kräftig unterftreichend. 


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— 


Der zweite Punkt, den Unterzeichneter hier zur 
Sprache bringen mödjte, betrifft wiederum niht Die 
Beweistraft der Bavinkſchen Erörterung, die ihm viel: 
mehr nad Inhalt und Umfang nahezu erichöpfend zu 
fein feint, fondern nur die Geeignetheit, Eindrud auf 
die große Maffe aller an eigenem Glüd, Boltswohl 
und nationalem Sinn Beteiligten zu weden. Schon 
mehrfach wurde unſrerſeits auf eine etwas abweidyende, 
praftiichere Propaganda für die gute Sade in dieſen 
Blättern gewiefen. Aber, wen beim erjten Klopfen 
nit aufgetan wurde, darf fi eine Wiederholung des 
Geſagten nicht verdrießen laffen, und der SHarthörige 
wird ſich dem auh bequemen müffen. 

Die Begründung Bavints ift umfichtig, tiefjinnig, ge- 
nau und ehrlich zugleich. Es ift unſeres Eradtens 
nidts daran anzumerfen. Aber wird fie von der 
Maffe veritanden werden? Wird fie in Sonderheit von 
Denen verjtanden werden, die meinen, jhon klüger zu 
fein, und fih gar niht die Mühe geben, fih in die 
Leſung (nad) ihrer Meinung) längft überwundener Ge- 
jihtspunfte und deren gründlide Ueberdenkung zu 
vertiefen? Das aber find die Allermeilten, und fie 
müflen ja fo viel liefen und bedenten den Tag über, 
das ihnen entweder wichtiger oder wenigitens unter: 
haltender erſcheint. 

Darum hat der Unterzeichnete es immer verſucht, die 
Angelegenheit von einem anderen Ende aus anzu: 
paden, nidt von dem der wiſſenſchaftlichen Wahrhaftig: 
teit der Zulänglidjteit, jondern von dem des (man 
ideue niht vor dem Worte zurüd) Nutzens. Wenn fidh 








beweiſen ließe, daß Religion nicht ift eine Sade des 


wiſſenſchaftlichen Bedürfniffes, fondern in erjter Linie 
der praftifchen Unerläßlichkeit, jo wäre zwar noch nicht 
deren Möglichkeit, aber mit der Wünſchbarkeit aud 
das Interefie der geduldigen Unter: 
fuhung auf wifjenidhaftlidhe Haltbar- 
teit gewedt. Damit wäre aber der Beilt erwedt, um 
gute Erläuterungen wie die Bavink'ſchen, mit großer 
Andacht zu tlefen, und wenn man dazu nidt die 
Faſſngskraft befigt, wenigitens autoritativ an deren 
wiſſenſchaftliche Begründbarfeit 3u glauben. Damit 
aber wäre gerade der entidyeidende Schritt getan. Es 
ift dies nicht der erfenntnistheoretijde Weg zur Wahr: 
heit, fondern der hiftoriihe. ener ift deutiche, diejer 
angelſächſiſche Weije, und idy meine, unjere Vettern 
jenfeits des Kanals haben mit feßterer — um es platt 
auszudrüden — gute Geſchäfte gemacht. 

Der moderne Menſch ift nämlid infolge der nun 
vollig aufgededten wiſſenſchaftlichen Unmöglichkeit 
vieler Dogmen beinahe regelmäßig der Anficht, daß 
Religion überhaupt felber eine überwundene, eine 
mittelalterlie Sache fei, die welfe Blüte einer über- 
mundenen Kultur und mithin abgetan. — Dem gegen: 
über fteht zu beweifen, daß fie Kulturbeltand- 
teil, altor der weiteren Entwidlung 
bedeutet, und als folde ebenjo wichtig oder wichtiger 
ijt wie Wiffenjhaft und Kunft. Diefen Beweis logiid) 
zu führen, hat fi der Schriftleiter von „Unſere 
Welt” unterzogen mit großem Geichid für den in diejen 
Lingen Erfahrenen, für den geduldigen Denfer. Aber ge- 
duldige Denfer gibt es eben nicht viele, und in unjerer 


Zu Bavints „Problem des Aebels in ber Welt“, 


demofratifhen Zeit zumal entideidet die Menge, die 
auch in wiflenichaftlidden Dingen die Minoritäten über- 
ftimmt, fobald es fi um volfstümlide Intereſſen 
handelt. So daß eine ganze Reihe von wiſſenſchaftlich 
anerfannten Sätzen immer wieder geradezu ertränft 
wird in dem ſcheinbar entgegengejegten allgemeinen 
Belang. 


Und dazu feint fi) in der Tat die vorläufige Ber- 
nadläffigung der Religion wicht allzu ſchwer zu rächen 
in der Lebensführung und dem Glüdsitande des ein: 
zelnen Menſchen. Es gibt Ungläubige in Fülle, die gute 
und feiltungsfähige Menfchen find und auh mit ruhigem 
Gewiflen in den Tod geben. Tlugs wird daraus das 
Vorurteil deftilliert, daß „man“ der Religion auch) ent- 
behren fünne, weil nicht beachtet wird, dab alle jene 
ausgezeichneten Ungläubigen noh in der Atmojphäre 
einer von Religion durchſetzten Geſellſchaft aufge: 
wadjfen find und in derielben noh atmen und leben, 
ja, daß viele ihrer Grundfäße, die 3. T. der Philoſophie 
entſproſſen fcheinen, bei näherer Unterfuhung ganz und 
gar religiöſes Gepräge tragen und nur zum Unter: 
ſchiede von den pojitiven Chriften von den Schlacken 
nunmehr überwundener kirchlicher Dogmen befreit find. 
Alſo beruht die üblide Folgerung einer Entbehrlichkeit 
der Religion auf einer unverzeihlichen Oberflächlichkeit. 


Mertwürdig, wenn es fih nur darum handelt, den 
nußbaren Effelt des Windes auf ein Segelidiff um die 
Hälfte oder ein Drittel zu erhöhen, jo wird das nad) 
den neuen Grundſätzen ausgejtaltete „Rotorboot“ zu- 
vor in hundertfach wiederholten und von Autoritäten 
fontrollierten Verſuchen erprobt, ehe man fih dazu 
aniidt eine mit der Flettne r'ſchen Entdedung 
ausgejtattete Flotte in See ſtechen au laffen. Ja, um 
einem Bauer eine beitimmie Düngung anzuraten, 
werden forgjältige, vielfady wiederholte Verſuche ange- 
ſtellt. Aber ein der Religion beraubtes Bolt will man 
teichtfertig feinem Schickſal überlaflen, obgleich nirgends 
in der Welt ein Beifpiel dafür vorhanden ift, daß jo ein 
Zujtand möglich ift. Seelenruhig läßt man die Bande 
reißen, die Kirche und Staat miteinander verfnüpften, 
bloß auf die Erfahrung Hin, daß die Kirche hie und da 
(wo eben ſchon ein Starter firdlicher Sinn in der Seele 
des Volkes Wurzel gefchlagen hat) fi auch ſelbſt zu 
helfen wußte. — Und auh wieder nicht merfwürdig 
für den, der das Weſen aller Demofratie in der Praris 
des Lebens erfaßt hat. 


Wenn man forgfältig zu Wert gehen wollte, müßte 
dod zunächſt die Frage aufgeworfen werden: fünnen 
denn ganze Völker ohne Religion leben? 
Damit find wir aber auf hiſtoriſchem Gebiet, und da er: 
gibt ſich jogleih das Jedermann zugänglide Nefultat, 
taß der Geſchichtsforſcher niemals en die Aufgabe Der 
Zergliederung einer Kultur und die Wertung eines 
Volkes herantreten fann, ohne neben Wiſſenſchaft, Ge- 
werbejleiß, Kunſt auh der Religion betondere Auf 
merfiamfeit 3u ſchenken. Mandymal allerdings auch 
mit dem Ergebnis, daß firdliche Dinge den allerſchäd— 
lichſten Einfluß auf die Entwidlung eines Voltes — wir 
brauden nur auf die Geſchichte Spaniens 3u bliden, 
um Dies mit Händen greifen 3u fünnen — gehabt 
haben. 


Dalier, Indogermanen und Germanen. 


Für unfern Zwed aber gleidwiel. Auch mit diefem ge- 
legentlich negativen Einfluß ift doh bewielen, daß 
Religion nit bloß ift: ein Symptom der Kultur, 
jendern eine wirfende Urjade, die für die 
weitere Entwidlung derielben gar febr in Betradt 
kommt. Nicht fterile Blüte oder Monitrofttät, fondern 
Frucht und Samen zugleih. Und ferner: fein Bolt 
ohne Religion, wie es bei einer bloßen Mon- 
itrofität der Fall fein würde. Und endlich: die Be- 
jiehungen der Religion zur Moralität und die 
Moral: die wichtigfte Sahe im Pölferleben. 

Diefe hiſtoriſchen Dinge, Hier nur in ihren Grund: 
linien angedeutet, find Jedem leicht verftändfih zu 
maden. Man braudt fie nur eben zur Sprade zu 
bringen, und deshalb erachtet es der Unterzeichnete als 
fo widtig, von diejer Seite her den Hebel anzuſetzen. 

Zwar ein jpringender Punkt bleibt noh zu erledigen. 
Denn, wenn aud dieje Einficht in den Nuten, ja felbit 
die Unentbehrlichkeit die Religion und der Vorzug 
der geläuterten chriſtlichen vor den anderen Belennt- 
niſſen erfannt werden follte, was ift damit gewonnen? 
Eine Religion muß doh auch ihrem dogmatiſchen Be- 
ftande nah geglaubt werden. Wie foll der große 
Schritt gemacht werden von Ueberzeugung der Nüp- 
lichfeit zur Ueberzeugung des Glaubens jelber. Sollen 
auh die Nicht-Gläubigen ihre Kinder lernen laffen, 
was fie jelber nicht glauben? Das wäre ja, wie er 
feibt und lebt, der berüchtigte englifche „Cant” oder die 
oberflächliche franzöſiſche Kloftererziehung! 

Der berüchtigte engliſche „Cant“ und jedenfalls der 
amerikaniſche, ift aber vielleiht gar nicht. jo ſchlimm, wie 
e: auslieht, und ift von uns deutfchen Doctrinären mit 
Zeidenihaft und daher allzu ſchwarz gefchildert worden. 
Das Denten unſerer angelſächſiſchen Bettern ift eben 
überhaupt vielmehr empiriſch und weniger ſtreng lo- 
giſch, jo daß ihnen die Heuchelei, die in dem jogen. 
Cant 3u liegen jcheint, niemals flar gum Bewußtfein 
tcmmt. Und dann gibt es ja viele Wahrheiten, und 
dazu gehören gerade die tieflinnigen religiöfen, von 
denen wir überhaupt nur — Bavin? hat das ja gerade 
fo ſchön gefagt — jtammelnd und in dunteln Worten 
reden fönnen, fo daß gar manderlei anfcheinend 
MWideriprechendes zur en gebradht werden tann, 








Dalier,  Indogermanen und Germanen. 


Ein neues Bild vom heutigen und urzeitlichen 


Raſſentheoretiſche Fragen ſpielen in den Kultur— 
ftrömungen der Gegenwart eine ziemlich bedeutende 
Rolle. Ueberall fteht im Mittelpuntt die Anfchauung 
con der Meberlegenheit „der“ hellen Raffe über die 
andern, mag es jih nun um Amerika handeln, wo die 
Bevorzugung der „nowiihen“ Menſchen die Einmande: 
tungsgefeggebung entjcheidend beeinflußt, oder um unfer 
eigenes Baterland, wo ſich eine befondere politifcje 
Partei (die nationalfozialiftifhde) von dieſem Kern- 
gedanken aus entwidelt hat. 


Nun jcheint es aber nah den J eines 
Privatdozenten an der deutſchen Univerfität Prag, daß 


117 


oder vielmehr könnte, wenn wir es vermöchten, was in 
der belieblen Ausdrudsweife ganz verſchieden lautet. 
Und unter Heudyelei follten wir überhaupt nur ver- 
ftehen die Entftellung der Wahrheit im eigenen 
egoiſtiſchen Intereſſe. Im Intereſſe der geliebten 
Anderen wird die Wahrheit vielfah mit reinem Ge: 
wiffen verjcdywiegen, von den Eltern bei der Erziehung 
ihrer Kinder, von dem Arzt am Kranfenbette und in 
anderen Fällen. Warum nicht auch gegenüber unjern 
ſchwächeren Boltsgenofien? Heuchelei jollte man fo 
etwas nidyt nennen, jondern nur Berjchleierung, womit 
natürlich nicht behauptet fein fol, daß es feine von 
Kirden geübte Heuchelei gibt oder gegeben hat im 
Imtereffe des Geldbeutels der Beſitzenden oder einer 
herrichfüchtigen Prieſterſchaft. 

Aber man braucht ſelbſt folde gut gemeinten Ber- 
ichleierungen nicht heranzuziehen. Die aus der Ge- 
ſchichtsforſchung hervorgehende, einem Jeden leidt 3u- 
gänglide Wahrheit der Bedeutung der Religion für 
das dauernde Glüd und Gedeihen der Bölter und die 
hervorragende Rolle des von feinen mittelalterliden 
Auswüchſen gereinigten Chriltentums in Diefer Rid- 
hmg tann jedenfalls dazu leiten, die Unter: 
fuhung nah dem Wahrheitsgehalte 
diefer Religion, die fonit als eine mühlame und 
wenig dankenswerte Arbeit erjcheinn, mit dem 
nötigen Ernft und der Energie aufzu- 
nehmen, die diefe geiltige Arbeit erheijcht; und in- 
fofern erfheinen dem Unterzeichneten die Zujäße, die 
er 3u den hochwillkommenen Erläuterungen des ver: 
ehrten Schriftleiters von „U. W.” zu maden vermodjte, 
als nicht unmelentlide Ergänzungen und (rweite- 
rungen. 

Alfo, noh einmal deutlid formuliert. Unſer Bor: 
ſchlag zielt weit weniger dahin, gegen den Modernis- 
mus eine väterlid jeſuitiſche Gegenreformation, die 
auch nad unjerem Dafürhalten ihre jehr bedentklichen 
Seiten haben würde, einzuleiten, als aus dem Umftand 
der hochbedeutenden Wichtigkeit die nötige Energie zu 
gewinnen, den Woahrheitsgehalt unferer Religion in 
Darftellungen, wie die des Schriftleiters von „Uniere 
Melt“ auf's Ernſtlichſte zu ftudieren. 


2 


@ 


Guropa. Bon Etudiendireltor Dr. Müller. 


es nicht nur eine einzige helle Langkopfraſſe gibt, fon- 
dern mindeltens zwei, und dab 3. B. — um das Haupt: 
ergebnis vorwegzunehmen — die germanilche Raffe eine 
Miſchung der beiden ift. 

Dr. Paudler — fo heißt der Gelehrte — hat feine 
Theorie bereits vor vier Jahren in der Zeitfchrift „An: 
thropos” dargelegt — unter dem Namen „Cromagnon: 
Studien“; jegt hat er fie in Buchform der Oeffentlich— 
teit vorgelegt: „Die hellfarbigen Raſſen und ihre Sprad): 
ſtämme, Kulturen und Urheimaten.“ (Heidelberg 1924, 
Winter, 275 ©.). 


Die Cromagnonrafie it nah Klaatih eine Miſchraſſe 


118 u 


der beiden Raflen des europäilchen Urmenſchen: des 
Neandertalmenjhen und des Aurignacmenjden; ihren 
Namen erhielt fie nadh einer 1868 aufgededten Fund- 
ftätte aus der jüngeren Hälfte der älteren Steinzeit in 
Frankreich. Aeußerlich ftellt fie fi) dar als eine ganz 
befondere Verbindung von Langkopf und Kurzgeſicht. 
Diefe Cromagnonraffe galt nun bisher als im grohen 
und ganzen ausgeltorben. Paudler zeigt nun, daß das 
feineswegs der Fall ift. Bon den beiden Formen der 
Cromagnonraſſe — in Nordafritfa und Südeuropa dunfel 
und klein, in Mittel- und Nordeuropa hell und groß — 
beleuchtet er insbejondere die letztere, die als zweite helle 
Raſſe zu der gewöhnlichen hellen („nordilchen”) Raffe, 
von Laien gern germanifche Raſſe genannt, gleichbered)- 
tigt hinzutritt. ; 


Nach der Landihaft Dalarna in Schweden, wu fie 
heute am reinften auftritt, nennt er jie kurz die „Dalifche” 
Raſſe. Wir Haben alfo neben dem „nordiſchen“ Men: 
ijden noch eine andere helle Raffe, eben die daliſche. 


Weles find nun die Hauptkennzeichen des daliſchen 
Typus? Jm Gegenjaß zu dem blauen Auge und dem 
(rotlofen oder rotarmen) Aſchblond des nordiſchen Men: 
ſchen bat der daliihde Menſch graues Auge und (ftart 
rothaltiges) gelbblondes Haar. Das ift der weſentlichſte 
Unterjcjied, den Paudler nun bis ins tleinfte verfolgt: 
das Auge der blauäugigen Raſſe „durchſichtig“, matt und 
feucht, das der grauäugigen Raſſe „undurchſichtig“, glân- 
zend und troden; das Kopfhaar der gelbblonden Rafle 
mwellig, nicht felten lockig, bei der aſchblonden Rafje aber 
mehr oder weniger fchliht; der Haarwuchs bei der 
dalifhen Raſſe entſchieden ſtärker, befonders was die 
Augenbrauen betrifft, die geradezu überhängende 
„Wetterdadhybrauen“ werden, wie bei Bismard; der 
Dberrand des Wugenhöhleneingangs falt wagerecht, 
der obere äußere Wintel faft rechtwinklig; bei der 
daliſchen Raſſe eine nad der Geſchlechtsreife raſche Ab- 
nahme des Tettpoliters, befonders an den Lippen, fo 
daß der Mund oft ausfieht wie ein Schlitz; alles in 
allem fehen die Männer mit zwanzig Jahren abgeradert 
aus, älter als fie find, verändern fi dann aber wenig 
und fehen im Alter eher jünger aus. Klarer als die 
Teihreibung bringt die Abbildung den Gegenfaß der 
beiden Raſſen zum Ausdrud: die gewöhnliche helle Raſſe 
fein und meidh, die dalifche derb und rauh im Gejamt- 
bild; fieht der Vertreter der gewöhnlichen hellen Raffe 
übrigens nicht etwas Hermann Löns ähnlih? Die 
„Idee“ der hellen Cromagnonraſſe ift Hier deutlich zu 
ertennen: eine gewiſſe Geradlinigfeit und digkeit, die 
das Ganze einem Holzbildwert ähnlich mad, oft einem 
verwitterten! Der Grundgedanke diefes Cromagnon: 
itils ift das Rechteck. Der Grundgedante des ſchlanken 
Körperltils dagegen ift die Ellipie. Diefer zweite 
Körperftil ift übrigens niht nur der gewöhnlichen hellen 
Kaffe eigen, fondern aud der — kleinen und dunklen 
— Mittelmeerraffe, die in Südeuropa und Nordafrika 
vorherriht und die, wie wir noch fehen werden, mit der 
großen hellen Raffe nahe verwandt ift. Zu den beiden 
bier verglichdenen Raſſen fommt dann bei uns nod als 
dritter Körperftil der unterjebte, der zwei afiatifchen 
Raſſen gemeinfam ift, der orientaliſchen (mit „jüdifcher” 
Gejichtsbildung) und der mongoliſchen (mit chinejischer 


Dalier, Indoaermanen und Germanen. 











Gefichtsbildung). Auf diefe beiden aſiatiſchen Raffen 
geht nadh P. der unterfehte Körperftil in Europa zurüd, 
obwohl man eine gewiffe Scheu hat, es offen auszu⸗ 
ſprechen. Der Grundgedante diefes dritten Körperftils 
ift der Kreis. Als Hauptmertmal im Charakter findet 
Paudler bei der dalifhen Raſſe zähes Teithalten am 
Alten. — 

Mande Widerfprüde in den Ausfagen der Raſſen⸗ 
forſcher über die Eigenfchaften der helfen Raſſe — oft 
geradezu entgegengejehte Behauptungen — erflären 
ih nah hm nun einfah dadurd, daß eben in Wirt- 
lichleit zwei Raflen vorhanden find, deren Züge man 
zufammenwarf. Es zeigt fih in der Tat, daß die eigent- 
lid) germanifche ZFarbenverbindung — rothaltiges Blond 
der Haare und blaues Auge — in Wirklichkeit auf einer 
Miſchung der beiden hellen Raſſen beruht; indem die 


‚Haarfarbe von der daliihen Raffe ftammt, die Augen: 


farbe von der nordiſchen. Aber nicht nur die germaniſche 
Farbenverbindung ift ein Gemiſch, fondem aum das 
ganze germaniſche Schönheitsideal. Denn in der Ju- 
fammenftellung der idealen Einzelheiten — gelbblondes 
Gelod, blitende Blauaugen unter bufchigen Brauen, 
helfe Haut und hoher Wuds, — find Welligkeit des 
Syaares, das durh den Glanz und die Trodenheit des 
Auges bedingte Bliken und die buſchigen Bruen dalifche 
Züge, Augenfarbe und Nafenform find nordiſche Züge. 
Auh die „germanishe Treue” und der „germaniſche 
Trog” find daliihe Grundeigenſchaften, auf dem oben 
erwähnten zähen Fefthalten der daliſchen Raſſe am Alten 
berubend. 

Die daliſche Raffe war nah Paudler die ältere; von 
der blauäugig-afchblonden jpäter zurüdgedrängt, hat fie 
fih nur in abgelegeneren Orten einigermaßen gut er- 
halten, fo in Schweden im Shupe der großen Seen und 
Wälder. In Deutichland ift ihr Kerngebiet das Wald- 
gebiet Weitthüringens und Dftheflens. (Ein Bortommen 
im öftlihen Mittelfteier erklärt ſich durch mittelalterliche 
Befiedlung aus der an die letztere Landſchaft angren- 
zenden nordbayerfichen Gegend, eines in Böhmen durch 
Ausftrahlung aus dem thüringifchen Gebiet felbft.) Die 
Schulfinderftatiftifen zeigen gerade in diefen Bezirken 
ein bejonders auffallendes Vorherrſchen der grauen 
Augenfarbe gegenüber der blauen fonft. Aud in der 
Laufig und in Anhalt finden fih Gebiete, wo die dalifche 
Raſſe noch verhältnismäßig rein anzutreffen ift. Aud 
hier zeigt fih als Raſſezug das zähe Feſthalten am 
Alten, auh an der alten Sprade. Dabei ift es frei- 
ih eine Ironie des Schickſals, daß die Tſchechen und 
Sorben diefer Spradinfeln jozufagen aus „germanifcher 
Treue” zäh am Slaviſchen fefthalten. In Anhalt wurde 
ebenfalls noh vor zwei Jahrhunderten ſlaviſch ge- 
ſprochen, alfo viele Jahrhunderte, nahdem ringsum 
alies ſchon deutſch geworden war; dabei ift das Slapifche 
natürlid auch hier erft fpäteres Kulturgut, an dem aber, 
als es einmal angenommen war, zähe feltgehalten 
wurde. 

Die helle Cromagnonraffe ift aber auch außerhalb 
Deutihlands anzutreffen, befonders auf den britiiden 
Inſeln, ja jogar auf den Kanariſchen Inſeln, wo die 
vorſpaniſchen Guanden der Forſchung Thon immer 
Rätfel aufgegeben haben, die fih nun im Lidte 
der neuen Forſchung löfen. Die Guanden ge- 


hören ſicher nicht zu der großen Bölferfamilie der Indo— 
germanen; aber die helle Cromagnonrajfe, die urjprüng- 
lihe Bevölkerung Weſteuropas, ift nicht nur vorgerma- 
niſch, jondern jogar vorindogermaniſch! So ift es aud 
wahrjdeinlich, daß das Piktifche der Bewohner Kaledo- 
niens feine indogermanijhe Sprade war, jondern eine 
vorindogermantihe (das [indogermanifhe] Keltiſche ift 
erst um die Mitte des lekten Dahrtaujends v. Chr. vom 
Teitland aus nad) England eingedrungen, In der 
Tatſache, daß eben 
die Helle Cro- 
magnonrafie, d. 
h. die dalijche, die 
porindogermani= 
ide Bevölferung 
Weiteuropas ift, 
würde aud eine 
Erklärung dafür 
gegeben feim, daß 
es gerade im Ger: 
manijchen bejon- 
ders viele Wörter 
gibt, die ſich nicht 
in den andern in- 








Dalier, Indogermanen und Germanen. 


119 
Der Südweften Frankreichs war noh in der Keltenzeit 
3. T. vorindogermanijch geblieben, wo die Basten eben 
noh heute das Zwanzigerſyſtem haben. Aber aud in 
Norddeutichland zählte man nah „Stiegen“, in Eng: 
land 3. T. nad) Scores und in Dänemark von 66 bis 99 
io wie in Frankreich — „mal zwanzig!” Auch das 
Albaniſche hat das Zwanzigerſyſtem. Hier jcheint über- 
all uraltes vorindogermaniſches Kulturgut vorzuliegen. 
Die zweite derartige Kulturerfheinung aus dem Bereid) 
der hellen Cro- 
magnonrafle ift 
das Ausmeißeln 
meißeln oder Aus⸗ 
fügen eines Kno— 
chenſtücks aus dem 
Gehirnſchädel als 
volksmediziniſche 
Operation, — die 
ſogenannte Trepa- 
nation. Dann fal— 
len hierher die 
ſteinernen Grab— 
bauten aller Art, 
ferner die Täto— 





dog rmaniſchen wierung, ſowie 
Sprachen wieder: die hoſenloſe 
finden. Sie gin— Extreme Geſichtstypen der beiden hellen Langtopf-Rafjen : Knierocktracht der 
gen eben auf die Iinfs der gewöhnlichen hellen Raje (Deutſchet), rechts der hellen Cro-Magnon-Raſſe Männer; fie iſt 

— — an ae Bi inalphotographien von Kollmann nod. u 
Sprache der dali- Aus Ripleys „Races of Europe, auf ar a ginalphotograp Hochichottland zu- 
ihen Raſſe zurüd, hauſe, auh uns 


müßten fih alfo im Piktiſchen wiederfinden, deffen Wort: 
ihat meiſt im keltiſchen Gewande überliefert ift. Tat- 
ſächlich finden fih nun vorindogermanishe Wörter des 
Germanifhen im Seltifchen wieder; dahin gehört das 
ältefte Wort für den Hering, „Schade“, im Keltiſchen 
heute noh Hering bedeutend (Sfadinavia — das n ift 
erft durch einen Schreibfehler hineingefommen — = die 
Schaden-Aue, d. h. Heringsinjel), und das Wort „Se: 
gel“. Auch die jtarfe Veränderung des Germaniſchen, 
die es verhältnismäßig früh gegenüber den übrigen ger- 
maniſchen Sprachen (außer dem Keltifchen) erfahren hat, 
ſcheint eine wiſſenſchaftliche Bejtätigung dafür zu fein, 
daß eine indogermaniihe Sprade durd eine porindo- 
germanijdje Bevölkerung (die dalifche!) umgejtaltet wur- 
de. MWielleiht beruht die germaniſche Worttonverſchie— 
bung auf dem Einfluß der nichtindogermaniſchen — da- 
liſchen — Urbevölferung. Auch das nichtindogermanifche 
Baskiſche dürfte auf die Cromagnonraſſen zurüdgehen. 

Nun gibt es aber noch gewille Kulturerjcheinungen, 
die zu dem eigentlid) Indogermaniſchen im Gegenjaß 
itehen und die ebenfalls durch die Theorie der dalifchen 
Kaffe als der nichtindogermaniſchen Urbevölferung 
Europas ſchön erklärt werden, zumal fie fih gerade auf 
den Gebieten am beiten erhalten finden, deren Be: 
wohner aud die daliſchen Wafjeeigentümlichkeiten am 
reiniten bewahrt haben. 

Da ift zunädft das Zählen nah) Zwanzigern. Sie 
ijt aus dem Franzöſiſchen geläufig: 80 heißt hier quatre- 
vingt: vier Zwanziger. Ein Parifer Armenhaus für 
300 Blinde heißt les quinze vingts: die 15 Zwanziger. 


der ſchottiſchen Kriegsgefangenen befannt, und liegt aud 
in Albanien zugrunde (woher die griechifche Fuſtanella 
ftammt). Für das Germanengebiet ift fie durch Sarg- 
junde aus Mooren der Kimbriſchen Halbinjel belegt. 

Somit ergibt fih für Nordweſteuropa diejes urzeit- 
lie Bild: Seit der älteren Steinzeit ift hier die („da= 
liſche“) helle Eromagnonraffe ureinheimiſch, entjtanden 
aus der dunklen Raffe mit demfelben Formenſyſtem oder 
einer gemeinjamen Borform. Sie blieb teils an Ort 
und Stelle, teils breitete fie fi nah Süden aus 
(Guanden), teils folgte fie der nad) Norden vordringen- 
den Pflanzen- und Tierwelt, — nad) Norddeutichland, 
Sfandinavien, England, Schottland. Ihre Kultur ift 
bi5 auf obige Reſte verjchwunden, ebenfalls die Sprache, 
die freilid noh in Hochſchottland und Irland bis ins 
Mittelalter hinein im Piktiſchen fortlebte und von der 
die nicht indogermanijden Wörter des Keltiſchen und 
Germaniſchen jtammen jowie die Zerrüttung des Baues 
diejer beiden Spraden. 

Nun zu der neuen Raffe und Sprade, die dieje alte 
„daliſche“ zurüddrängte. Es ift die nordiſche Raffe, die 
indogermaniihe Sprade. Ihr Eindringen juf aus der 
„vorgermaniſchen“ Welt die germaniſche. Welches ift 
die Heimat diefer Indogermanen? Es ift dies ja eine 
alte Streitfrage. Die Anſicht, Afien fei ihre Heimat, 
wird ja niht mehr jo vertreten wie früher; eine große 
Rolle jpielte aber noh die Theorie, daß die Sndo- 
germanen im Ditjeegebiet beheimatet waren. Im Süd- 
often der Ditjee ift der nordiſche (blauäugige) Typ in 
ser Tat einigermaßen häufig rein erhalten; am „nor- 


TO- oee e a 
diſchſten“ find von allen heutigen Völkern die Litauer, 
Retten und vor allem die Eiten. Nun zeigt P. aber, 
daß es fih Hier nur um ein Erhaltungsgebiet handelt, 
nicht um ein Ausgangögebiet (Fehlen einer felbitändigen 
urzeitlihen Bodenhinterlaffenihaft; Gürtelform und 
Randlage des Gebietes). Er kommt auf Grund feiner 
Unterſuchungen fchließlih dahin, die Länder im Now- 
weiten des Schwarzen Meeres als Heimat der Indo- 
germanen zu erfennen, worauf ja aud bereits ein Teil 
der Sprachforſcher hingewieſen bat. Ihre Kultur ift die 
iogenannte Tripolje-KRultur, eine Untergruppe der foge: 
nannten bandkeramiſchen Kultur. Bon bier aus, von 
„Südweltrußland”, wo im Often die Steppe, im Norden 
der Urwald, im Weiten das Gebirge entgegenitand, 
wandte H der Beovölterungsüberihuß dem offenen 
Süden zu und folgte der Donau aufwärts in die men- 
ſchenleeren Flußtäler und Ebenen. (P. erhofft von der 
indogermaniftiihen Drtsnamenforfhung und der Bor: 
seihichtsforfhung eine Beltätigung feiner Theorie.) 

Die Einwanderung eines indogermanifden Stommes 
in das nachmalige Germanengebiet, alfo die Entitehung 
Xr germanijchen Welt aus der vorgermanifchen, bered- 
net P. um das Jahr 900 v. Ehr.; fie ift in Deutichland 
früher als in Frankreich und ſpäter als in Italien er- 
folgt, alles in allem alfo doh verhältnismäßig fpät. 
Spradliche Tatfachen ſtützen dies (die germanifche Laut⸗ 
verfchiebung erfolgte erft Mitte des legten Dahrtaufends!). 
Diefer eigentlichen SIndogermanifierung unferes Bater: 
landes ging aber bereits voraus erftens die Indogermani: 
fierung Süddeutfchlands, wo durd dieje Vermiſchung die 
Kelten entitanden (die alfo in Süddeutichland ihre Ur- 
heimat hatten) und zweitens die Indogermanifierung Oft- 
deutſchlands durch die Illyrier, die Träger der fog. Lau— 
figer Kultur; fie brachten die TFeuerbeftattung mit.!) (Das 
Illyriſche ift ausgeftorben; der Name Wenden hängt mit 
dem der illyriſchen Veneter zufammen; Bineta, Benedig 
uiw. Gie find nad) Süden in die Donau, Alpen: und 
Karftländer abgedrängt. Dann erit wurden die Ger- 
manen Nachbarn der Raflen, auf die fie den Namen 
„Wenden“ ihrer früheren Ortsnachbarn nun übertrugen.) 

Durch die Beiegung von Ditdeutichland verlegte die 
laufigifch:illgrifhe Einwanderung dem Bevölferungsüber: 
ſchuß der daliichen Raſſe in Skandinavien den Hauptweg 
nad) Süden und Südolten, jo daß der — indogermanijche 
-— Bevölkerungsüberfhuß Ungarna nun endlid, ein 
Sahrtaufend nad) der Indogermanifierung Indiens, un: 
geitört den Weiten indogermanifieren konnte: Italien, 
Süd- und Mitteldeutichland, Frankreich, Nordweſtdeutſch— 
lond, Britannien, 3. T. die Pyrenäenhalbinſel; Nicht: 
indogermaniſches hielt fi zu Beginn unferer Zeitred: 
nung nur in Hodichottland, Irland, der Pyrenäenhalb— 
infel und im angrenzenden Teil von Frankreich, vielleicht 
auch auf Sardinien und Korſika (Iberiſch) und Reſte in 
Standinavien. Bon diefen vorindogermanijden Reiten 
hat die Römerherrſchaft das meiſte zerjtört, und heute ift 
nur das Baskiſche übrig geblieben. 

Nun verfuht P. auh eine Zurüdleitung der oft: 
europäifchen urzeitliden Welt bis in die ältere Stein- 
zeit. Er leitet die „nordiſche“ Raffe (die ja nun folge- 


1) Ueber die Laufiger Kultur bringen wir im über: 
nädjften Heft einen bejonderen Aufſatz. 


Dalier, Indogermanen und Germanen. 


richtig gar nicht „nordiſch“ heißen dürfte, fie ift ja — 
ofteuropüifch) her von der Menſchenform, die der Anthro- 
pologe nad) dem Fundort die von Laugerie-Bafle (in 
Frankreich) bezeichnet. Hat der Baum aljo in Südwelt- 
ruland gemwurzelt, der Same tft aus dem Weiten ber- 
übergemweht. Aus demfelben Samen erwuchs dann die 
mit der hellen (ſchlanken) im Formenſyſtem übereinftim- 
mende fleine dunkle Mittelmeerraffe. Dieſe ſtammt alfo 
nit von der Cromagnontaſſe ab! Bielleiht ift fogar 
die helle flante (— nordiſche) Raſſe unmittelbar aus 
der kleinen dunklen Mittelmeerraffe entitanden. Als die 
Zaugerie-Baffe-Leute nah Often abwanderten (Tem- 
peraturfteigerungen am Ende des ſogenannten Bühl- 
ftadiums!), wandte fi) bei Hrer Verdrängung aus dem 
unteren Teil der Donauländer ein Teil nad) lints (Süd- 
weitrußland), — die jpätere nordiſche Raffe. Auf dem 
waldarmen, frudtbarmen Boden früh zu ausgiebiger 
Tier: und Pflanzenzucht gezwungen, wurde lettere ſelbſt 
früh „domeſtiziert“; die Hellfarbigkeit ift eine Folge die- 
fes „Xebens neben der Natur”. Der Teil, der fi 
nad rechts wandte, ergab die Mittelmeerrafle. Ihre 
ſprachliche Schöpfung ift das Semitiſche.“) Danah müß- 
ten das Semitiſche und das Indogermaniſche aber ge- 
wiffe Uebereinftimmungen zeigen; und dus ift aud 
durdaus der Tall (Zehnerigitem, gramm. Geſchlecht 
ujw.) Im Weiten des Mittelmeergebietes dagegen blieb 
die teine und dunkle Cromagnonraffe vorherrſchend; das 
Mittelmeergebiet ift alfo ähnlich fo zwiſchen die beiden 
kleinen und dunklen (füdeuropäifh - nordafritanifdyen) 
Raflen aufgeteilt wie der Norden zwiſchen die beiden 
hellen Raflen der dalifchen und nordiſchen Leute. Aui 
Korſika ift im Innern nod die Meine und dunkle Cro- 
magnonraffe vorherrihend: Napoleon! 

So beruht daS Befondere des Germanentums auj 
einer Miſchung von „Vorgermaniſchem“ („Daliihem“) 
und Indogermanifhem („Noröifhem”);?) und zwar wäre 
aljo die Grundlage des jeßigen Nordifchen gar niht das 
„Nordiſche“, jondern das vorindogermaniide „Daliſche“. 

Jh habe mich darauf beſchränkt, Paudlers geiftvolle 
Darlegungen möglichjt getreu wiederzugeben, — unter 
Verzicht insbejondere auf die Bemweisführung, die mir 
durchaus einleudhtend erfcheint. Er legt feinen Unter- 
fuhungen über die heutigen MUeberreite der daliſchen 
Raffe für Schweden die berühmte große Soldatenunter: 
juhung „Anthropologica Suecica“ von Fürſt und Regius 
zugrunde, für Deutichland die Schultinderfarbenftatifti- 
fen; aber fein Bud enthält nicht jene „riefigen Zahlen: 
teihen, die, cum grano salis gejprochen, wenn fie fehlen, 
jeder vermißt und, wenn fie da find, feiner wirklich [ieft, 
geſchweige ſtudiert.“ So ift fein Budh auch dem Laien 
verftändlich und genießbar. Aber wichtiger ift, daß es 
tatſächlich der Raſſen-, Kultur und Sprachforſchung 
neue Wege weiſt und wertvolle Anregungen gibt. 


2) Die Juden dagegen ſind — Vorderaſiaten; dieſer 
Raſſe entſpricht der „alarodiſche“ Sprachſtamm, heute 
nur noch in den kaukaſiſchen Sprachen fortlebend. 

2) Aehnlich ift das Finnentum nah P. eine Miſchung 
von Inneraltaiſchem (Uraltaiſchem) mit (dazugelomme- 
nem) Indogermanifhem. Aber hier bildete fich ein ein- 
beitlider Mifchtyp; das Germaniſche hat ben idealen 
Typ nur ftellenweife verwirflidt. Jedenfalls wäre das 
Finniſche eine dritte „helle“ Raſſe. 





Kleine Beiträge. 


In Oeſterreich und vor allem in der Schweiz haben 
in den legten Monaten die Borträge des Nancy'er 
Bharmazeuten Coué großes Aufſehen erregt befonders 
our die geradezu wunderbar fcheinenden Syerlungen, 
die fidh ſowohl gleich bei feinen Vorträgen vollzogen, 
als aud unmittelbar anſchließend daran bei pünli- 
licher Ausübung der von ihm gegebenen Borfdriften. 
Seine SHeilungen betreffen niht blos nervöſe oder 
hyſteriſche Erkrankungen, fordern auh langwierige 
gichtifche Leiden und ſolche mit jhon beginnenden Or- 
ganveränderungen. Ciner feiner Schüler, Profeſſor 
Baudouin in Genf, berihtet fogar von Hauterkran— 
tungen, Warzen ufw. die jo geheilt worden feien. 

(Eigentlih neu ift die Sade nicht, denn bei Coué's 
Bortragsreifen m Nordamerita behauptete die dortige 
Rew-Thought-Preffe, das Verfahren fei ſchon feit 
etwa 1850 geübt und in einzelnen Kreiſen bis ins 
Einzelne ausgebaut geweſen. Aud die Fahrenſtock⸗ 
idhe „itatuvolenz;” war etwas Wehnlides. Die von 
den Nancyer Profefforen Liebault und Bernheim vor 
rund 50 Jahren veröffentlihte Suggeltions: Behand- 
(ung gehört ebenfalls etwas entfernter hierher.) 

Coué bezeidmet fein Verfahren, das fih ihm in der 
jetzigen Form am meiften bewährt habe, als „Gelbit- 
bemeijterung Dur” bewußte Autofuggeltion”. Man 
tann es auch Wach-Suggeſtion, nad) Wintler's Bor- 
Ihlag Perjuafion, Ueberredung, heißen. Coué betont 
die eigene Heiltätigkeit des Kranten; er will ihn ſchritt— 
weife zum Glauben an fih felbit führen, feinem zu 
Idywadyen Genejungswillen eine Stüße fein. Er hält 
es niht für gut, den Kranten in Schlaf zu verfeßen, 
um durch hypnotiſche Suggeltion die Autofuggeltion 
terbeizuführen. Zwei Eigentümlidjfeiten feiner Lehre 
icen hier erwähnt: eritens, der bewußte Wille müffe 
ausgeichaltet bleiben, denn nicht der Wille fei die vor- 
berrfchende Kraft im Menſchen, fondern die Einbildung; 
tei. einem Widerftreit des Willens und der Einbildung 
gewinne ftets die letztere. Die andere eigentümliche 
Vorſchrift ift, man müſſe fi den Gag: „mit jedem 
Tag geht es beffer in jeder Hinſicht“ morgens und 
abends vorjagen, niht blos in Gedanken, jondeın es 
müffen die Lippen dabei bewegt werden. Das muß 
ojt, 20 mal, hintereinander geichehen. Bei Schmerzen 
ſpricht man fidh) vor: es geht vorüber (ga passe). Wer 
fih näher über fein Verfahren unterrichten will, dem 
fteht ſchon eine ziemlich reiche Literatur 3u Gebot, 
etwa: Coué's Schriften, deutiy von Dr. Amann, 
Goueismus von Dr. Schulhof, Schriften von Neu: 
mann, von Drefier, ein lleines febr gutes Schriftchen 
son SHochſchulprofeſſor Dr. Winkler in Wien. Weitere 
Austunft erteilt gerne der „Baum-Berlag“ in Pful- 
lingen, Württemberg. i 

Durch den Coué'ismus ift uns die Frage des Ber- 
bältniffes von Leib und Seele, und von dem Unter: 
tewußtjein wieder aufs Neue nahegerüdt, wie er 
auch Erklärung für mande Rätſel bietet, 3. B. die 
Heilungen im Aschepios-Tempel in Eridauros, und 
in neuerer Zeit in Lourdes. Auch an die Worte Jefu 
jei ermnert, der bei manden feiner Syeilungen dem 





Kleine Beiträge. 














E 


Geheilten jagte: Dein Glaube hat dir geholfen. 
, Dr. 9. 

Ueber die Kirebsforihung des Kaifer Wilhelm: 

Inftituts berichtet O. Warburg („Naturwiffenfchaf: 

ten“ 1924, Seft 50) febr feſſelnd. Der genannte 





Forſcher ſuchte mit feinen Mitarbeitern die Frage zu 


beantworten, ob ein Unterſchied beſteht zwiſchen dem 
Stoffwechſel ungeordnet wachſender Krebsgefchwülfte 
und geordnet wadjlender Embryonen. Bei Ichteren 
findet eine febr ſtart vermehrte Atmung ftatt. Die 
Unterfuhung ergab dagegen, dap diefe bei Krebs- 
geihwülften ftar? verringert ift. Die Mutmaßung, dap 
dies auf Mangel an „Bremmmaterial” beruhe, beftätigt 
ji niht; denn ein foldes wie Buder bringt im Gegen: 
teil die Atmung der Geſchwülſte zum Verſchwinden. Es 
findet Hierbei eine Spaltung des Zuders ftatt, wobei 
Milchſäure entfteht, und dieje hemmt die Atmung. Es 
ijt zweifellos, daß diefe Zuderfpaltung ein febr tenn: 
zeichnendes Mermal der Krebszelle ift. Bei Sauer- 
ſtoffabſchluß bildet fie hundertmal mehr Milchſäure als 
das Blut. — Bei Sauerftoffzufugr ift die Sade ver 
widelter, denn dann (alfo bei Atmung) verbrennt die 
Mildyfäure wieder zu dem Kohlehydrat. So ift es 3. 8. 
aud bei der Arbeit des Mustels. Diefer VBerbrennungs- 
vorgang ift der Größe der Atmung entfpredyend. Iſt die 
Atmung ſtark, fo wird fie die Mildfäure zum Schwin⸗ 
den bringen, fo bei der Mustelarbeit; ift fie weniger 
ftart, fo wird die Mildyjäure nicht ſchwinden, wie bei 
der Hefe. Es ift nun ſehr wichtig, daß fih die Krebs: 
geſchwulſt wie letztere verhält. Bei ihr ift aljo die 
Atmung zu Mein im Verhältnis zur Zuckerſpaltung. 


Der Vergleich der Krebsgeſchwülſte mit gutartigen 
Geſchwülſten zeigt, daB letztere fih zwar ähnlich ver- 
halten, aber doch ſehr viel ſtärker die Milchſäure bei 
Atmung zurückbilden. Der Unterſchied iſt alſo kein 
grundſätzlicher, ſondern ein gradweiſer. Warburg und 
ſeine Mitarbeiter haben denn auch den Vergleich mit 
normal wachſenden Embryonen durchgeführt. Auch hier 
entſteht bei Sauerſtoffabſchluß reichlich Milchſäure. Dies 
iſt alſo offenbar eine allgemeine Eigenſchaft wachſender 
Gewebe. Bei Sauerſtoffatmung hingegen wird alle 
Milchſäure wieder verbrannt. Es ergibt ſich alſo, daß 
in der Tat zwiſchen dem Stoffwechſel geordnet und un» 
geordnet wadjjender Gewebe ein weſentlicher Unterfchied 
befteht: die Atmung normal wadjjender Gewebe reicht 
aus, um die Zuderfpaltung zum Verſchwinden zu 
bringen, die Atmung der Geſchwülſte dagegen nidt. 
Hierbei Handelt es fi offenbar um Störung des Ber- 
hältnifjes beider Vorgänge, der Atmung und der Zuger- 
jpaltung. 

Die Zuderjpaltung ſelbſt ift eine Eigenſchaft aller 
Gewebe, auch der ruhenden, bei denen fie durch hin: 
teihend feine Methoden fih auh noch nachweiſen Täßt; 
fie muß daher an fih eine biofogifche Bedeutung haben. 
Meyerhof und Hill halten fie bei Muskeln für 
die Energiequelle der Musteltraft, und fo wird in ihr 
aud wohl die treibende Energie des Wachstums liegen. 
Trog diefer großen Bedeutung tann nun aljo die 


122 


Zuderfpaltung dod dann verderblid” werden, wenn ihr 
nicht ein genügendes Maß von Atmung gegenüberjteht, 
durch welche die entitandene Mildyfäure wieder verbrannt 
wird. Warburg fapt die wertvollen Ergebniſſe diejer 
Unterfuhungen dahin zufammen: Die embryonalen Ge- 
webe am Anfang der Entwidiung haben eine febr große 
fauerftoffreie Zuckerſpaltung und eine auf dieſe abge— 
ſtimmte Atmung; im Laufe der Entwicklung ſinkt die 
ſauerſtoffreie Zuckerſpaltung auf den zehnten Teil und 
es beſteht eine im Verhältnis große Atmung. Bei der 
Bildung von Geſchwülſten aber ſteigt die Zuckerſpaltung 
wieder auf das Zehnfache, ohne daß die Atmung dem- 
entiprehend folgt. Als einen letzteres bewirfenden 
„Reiz“ fiet Warburg Sauerftoffmangel an, der 
dur Drud, Sklerofe der Gefäße, Bakterien uſw. ver: 
anlat wird. €. Dennert. 


Das Zwilhenproduft bei der Kohlenftoffaffiimilation 
der Pflanzen. 


(Bol. dazu den Auffag von Tormann: „Aus der 
Geheimwerkſtatt der grünen Pflanze”, „Natur: 
freund“ 1924, ©. 303.) 

Die Pflanzen benuben die Rohlenfäure (CO2) der Luft 
ober des Waſſers, um mit Hilfe des Sonnenlidjtes, des 
grünen Farbſtofſes und des MWaflers SKohlehydrate 
(Zuder, Stärke) herzuftellen. So leicht nadyweisbar die- 
feı Vorgang ift, jo Unficheres läßt fih von dem eigent- 
ligen Weſen des Affimilationsprozefles fagen. Noh 
immer ließ fih trog vieler Verſuche bedeutender Forſcher 
(3. B. Willftätter) der eigentliche chemiſche Borgang 
der Aflimilation in der Pflanze nicht erperimentell zer- 
gliedern. Bor ungefähr fünfzig Jahren Hatte Baeyer 
die Hypotheſe aufgeftellt, daß die Zuderbildung über den 
. Formaldehyd (C Hz O) geht, der ja als Desinfettions- 
nd Schnupfenmittel befannt ift. Bom chemiſchen Stand- 
punfte aus ift die Bildung des Formaldehyd aus C O: 
und Waffer leicht begreiflid), und weiter gelang es dem 
berühmten Chemiter Emil Jif her in den Produlten 


Ausſprache. 


Zum Thema: Enlwicklungslehre und Religion. 


Gewiß bedeutet für den in den herkömmlichen Aus- 
Deutungen von Unſterblichkeit erzogenen Chriften es 
eine Schwierigfeit, wenn er fih das Menſchengeſchlecht 
aus Lebewejen hervorgegangen denten fol, denen er 
feine „Uniterblichkeit der Seele” zuſchreibt. Und es ift 
gut, dab Mayer diefe Scmierigleit zum Anlaß 
nimmt, den Begriff der Unſterblichkeit daraufhin zu 
unterfucdyen, was eigentlid” mit ihm gemeint fein könnte. 
Es ijt mir auch ſympathiſch, daß er in diefem Zuſam— 
menhange daran erinnert, daß „Beit” möglicherweife 
nur unfere Borftellungsform ift, und daß er diefe Mög- 
lichfeit anwendet auf den Gedanfen einer unendliden 
Zeitdauer, einer „unſterblichen“ Geele. Aber die Art, 
wie er im Einzelnen diefje Anwendung vollzieht, ſcheint 
mir nicht ebenfo richtig zu fein. Selbſt wenn man zu: 
gibt, daß die Seitvorjtellung in verjchiedenen Tier- 
familien (den Menſchen eingeredynet) ganz verſchieden 
fein tann, verichiedenen Rhythmus haben tann, jo ſcheint 





Ausſprache. 


— — — — — — — — — — — 


polymerifierten Formaldehyds richtige Zucker aufzu⸗ 
finden. Damit ift aber nicht geſagt, daß der Aflimila- 
tionsprozeß in der Pflanzenzelle derart verlaufen muß. 
Neuere Erperimente gingen nun darauf aus, die Formal- 
dehydhypotheſe auf Grund zweier Verfudhsmöglidleiten 
zu ftüßen. Sabalitſchka (veridiedene Arbeiten in 
der Biochemiſchen Zeitihrift Bd. 144, 145, 148) benußte 
zu diefem Zwede die Formaldehydfütterung, indem er 
die ſchon öfter unterfucdhte Frage prüfte, ob die Pflanzen 
Formaldehyd als Nährftoff verwenden fünnen. Wenn 
Waſſerpeſt, Kapuzinerkreffe, Belargonien im Dunte'n ge- 
halten und von der Kohlenjfäure abgejchloffen wurden, 
und man den blattragenden Teilen dafür Formaldehyd 
reichte, dann zeigte fidh eine erhöhte Buder- bezw. Stärke⸗ 
bildung, und das Trodengewiht nahm zu. Diefe Stei- 
gerung wird auf eine Umwandlung (Polymeriſatien) des 
Sormaldehyds zu Kohlehydraten durch die Pflanzenzelle 
zurüdgeführt. Klein (Botaniſche Abhandlungen 1924) 
ichlug einen anderen Weg ein. Wenn der Formaldehyd 
die Zwifchenftufe darftellen foll, dann muß er fi wäh. 
rend des Affimilationsprogeffes nachweiſen laffen. Will: 
jtätter war das nicht geglüdt. Klein gelang es 
nun, mit Hilfe des Stoffes Dimedon den Formaldehyd 
in geringen Mengen bei der Waſſerpeſt fejtzujtellen. Es 
war aber nun die Trage zu beantworten, ob der Formals 
dehyd auch wirklich beim Affimilationsprozeß und nicht 
durch einen anderen chemiſchen Vorgang zuftande ge- 
tommen war. Bei zerriebenen Blättern und Pflanzen, 
die im Dunteln und im fohlenfäurefreien Raum gehalten 
wurden, ließ fih fein Formaldehyd nachweifen, im ſchwa⸗ 
den Lichte zeigten fi faum Spuren; wenn aber den 
Pflanzen Kohlenfäure und reiches Licht zur Verfügung 
itand, trat das Formaldehyd leicht nachweisbar auf, ò. 9. 
aljo dann, wenn die Pflanzen affimilierten. Die Reſul⸗ 
tate beider Forſcher ſind neue Stüßen für die Baeyer- 
fde Formaldehydhypotheſe. 
Albert Pietfd, Menfidendorf. 


a 





u 
mir doch damit nichts gewonnen für die wiſſenſchaftliche 
Sicherſtellung eines Unterfdjiedes von Menjh und Tier 
hinfichtlich der. Frage nah der „Unendlichkeit“ der fie be⸗ 
treffenden „Zeit” und mithin nad) der „Unfterblichteit” 
eder jonftigen Dauer ihrer „Seelen“. Denn mir Shirt, 
daß es gleichgiltig ift, wie groß der Faktor. ift, zu dem 
id) als anderen Faktor „unendlich“ feke: es müßte 
jedesmal das Produkt „unendlih” fein. Mithin wäre 
mit der Tatjadje eines verichiedenen Rhythmus der 
Zeitvorftellung noch nichts über die verfchiedene Dauer 
der betreffenden Seelen entjdjieden. 

Id) meine, man wird nod vorſichtiger fein müflen, 
cls Mayer es ift, wenn man die Gedanken über Seele 
und ihre Uniterblichteit mit dem geltenden Naturbild 
rereinigen will. Man wird bei dem ftehenbleiben 
müjlen, was Mayer auch erwähnt, worüber er aber 
unglüdlider Weije zu einer neuen Metaphyfit der See- 
icndauer hinausgeht: daß nämlid die Möglichkeit, 
Zeit fei nur eine Vorftellungsform, überhaupt jeden 


Berfuh finnlos madt, von unendliden „Objekten“ 
mnerhalb diefer Borftellungsform zu reden, wie ja 
jede Objektivierung diefer Anfchauungsform dann ſchon 
ein Fehler ift. Diefe Einficht befreit mid) ein für alle 
Mal von der Angft, ic müßte mih im Kampf der Gei- 
iter irgendwie für die objeftive Unfterblichleit der Seelen 
erbigen, als fei im Kampfe um fie mein Glaube in 
Gefahr. Denn nun weiß id), daß das innerfte Ce- 
heimmis, das ih mit diefem Worte eigentlich meine, 
ganz abfeits von jeder Frage nad) Zeitdauer liegt 
Denn id fann nun mit ihr einzig meinen eine Rätiel: 
haftigkeit meiner feldit, für die die Anſchauungsform 
der Zeit felbit jhon ein Ausdrud ift, und zwar ein 
uneigentlicher. 

Dieſe Gewißheit vollendet fih, wenn idy mid) erinnere, 
tab der Begriff „Seele“ wiſſenſchaftlich garnicht zu 
handhaben ift im Sinne einer objektiven, abfeits von 
meinem Bewußtfein beitehenden Größe. Was ich mit 
ihr einzig meinen fann, find gewiſſe tiefite Inhalte, 
tie mir im Gemüte gegeben find, bejonders beitimm!e 
fittlide Nötigungen und Wertungen und gewille, nod 
überfittlihde Schauer und Ehrfürchte. Und wenn id) 
meine Aufmerffamtfeit auf fie richte, fo merte ich, daß 
ih fie zwar nur in der Zeit tenne, eben in meinem 
Bewußtfein, daß fie aber in ihrer Inhaltlichkeit mit 
der Anſchauungsform der Zeit nit notwendig zu: 
fammenhängen. Mit Seele meine ic) alfo meine Ge- 


bundenheit an diefe neben der. Zeitanſchauung mir ge- 
gebenen Inhalte. „Uniterblichkeit” ift aljo etwas Ge— 
genwärtiges und meint einzig folde zeitbefreite 
Gegenwart und feine mehr oder weniger lange „ob: 
jeftive“ Zukunft. Und fo gerade fommt die religiöfe 
Urmemung 3u ihrem Rechte. Religiös widtig ift 
bi’ der Trage nad) der „Unfterblichfeit” nicht die Sta: 
ttierung irgend einer Metaphyfit, ſondern einzig die 
Stage, ob ih jet — gebunden bin an die an: 
gedeuie‘en Inhaltlichkeiten, die ich als in der Zeit und 
doch als zeitfrei erfahre. 

Bom Auftreten der „Unfterblicyteit” im Entwidlungs- 
nangen der Menfchen zu jprechen, hat alfo erft von da an 
Sinn, wo jene gebietenden majeftätifhen Inhaltlich: 
feiten anfingen, fi im Bemwußtfein eines Lebeweſens 
Geltung zu verichaffen. Das tann und wird zunädjft 
fehr trübe und beſcheiden geſchehen fein; auch jegt find 
fie (aufs Ganze geſehen) noh nicht mehr, als eben ein 
glimmender Dodt, den Er miht auslöfchen laßt und 
der nur in wenigen zur hellen Flamme lodert. — Aber 
von diefen Borausfegungen her find die Schwierig-— 
keiten überwunden, die der herfömmlidye Seelenglaube 
bat, wenn er ſich mit dem Entwidlungsgedanten befaßt. 
Und idy meine, daß da nichts von dem lebendigen Ur- 
geltein deffen preisgegeben ift, was uns als unfer re: 
ligiöfes Sein gewährt ward. 

Würdenhain. 





Müller, Pfarrer. 


Nolurwiſenſcheftiche und nafurhiofonhiche Ufer 


— — — —— 


a) Anorganiſche Nalurwiſſenſchaflen. 


In der engliſchen Zeitſchrift Nature Hat kürzlich eine 
löngere Debatte über die Theorie des Hörens ftattge- 
finden, über die Phyſ. Ber. Heft 5, ©. 311 berichtet 
wid. Ein Forfher namens Scripture hatte 
de Helmholtzzſche Reſonanztheorie des 
Hörens angegriffen, insbejondere behauptet, der von 9). 
angegebene Verſuch, daß ein in das Klavier gefungener 
Bota! als Botal nadklingt, gelinge nur, wenn die 
Saiten ungedämpft find und auf Lonitanter Tonhöhe 
gefungen wird, nicht jedod, wenn der Botal gleitend 
gefungen oder nur kurz geiproden wird. Demgegen: 
über Stellten Paget und Wilkinſon feft, daß der 
Verſuch auch unter diefen Bedingungen gelingt. Auf 
andere Beanftandungen Scriptures gegen die Reſo— 
nanztheorie erwidert in der gleichen Zeitihrift Hart- 
ridge. 

Ein ſtatiſches Modell des Heliumatoms hat H. St. 
Allen in den Proc. Edinb. Soc. 44, 116 (Phyſ. 
Ber. 5, 316) deichrieben. Er nimmt an, daß der Cou- 
lombſchen Kraft zwiſchen Kern und Elektron das 
Gleichgewicht gehalten wird durch eine „Quantenkraft“, 
die mit dem Radius der Quantenbahn direkt, aber dem 
Rubus der Entfernung umgefehrt proportional ange- 
nommen wird. Dabei foll der Radius der Quanten- 
bahn ſelber nadh einem dem Bohr’fchen nachgebildeten 
Anſatz fih berecynen. Das Ergebnis foll einigermaßen 





mit den Berechnungen des Bandenfpeltrums des 
Heliums übereinftimmen. 

Der berühmte Kältephyfiter Kamerlingh 
Onnes bat neue. Unterfudungen über die von ihm 
zuerft beobachtete fog. Supraleiffähigleit' der Me: 
talle angeftellt, über die er in einem dem 4. inter: 
nationalen Kongreß für Kälteforfhung in London 1924 
eıltatteten Referat berichtet Hat. Danach jtehen alle 
Metalle, die die genannte Fähigkeit annehmen können, 
um eine beitimmte Stelle des per. Syitems herum, 
und die Supraleitfähigteit wäre beichräntt auf folde 
Metalle, deren VBalenzelektronen nicht mit ihren Bahnen 
in einander greifen. 

Sehr intereffante neue Entdedungen jcdeint X. 
Shüfarew (3S. f. phyſ. Chemie 113, 441; Phyſ. 
Ber. 5, 332) gemadt zu haben. Er hat das Auftreten 
eleftriiher Ströme in fierten magneliſchen Feldern 
innerhalb eleftrolytiicher Löſungen beobachtet. Stellt 
man wei gleihe Platineleftroden in ein Neaftions- 
gemifh aus Eiſenchlorid und Jodkaliumlöſung, fo zeigt 
fih Thon ohne Magnetfeld ein Strom, der von der 
größeren zur fleineren Eleftrode geht. Steht nun die 
eine derſelben in einem fräftigen Magnetfeld parallel 
zu den Kraftlinien, jo wird plößlid ein neuer Strom 
erzeugt, wobei die im Felde befindliche Elektrode pofi- 
tio wird. Nod interefjanter ift ein anderer Verfud: 
Gebt ein Strom durd) einen Elektrolyten und ftellt man 
ſenkrecht zu ihm ein Platinplattenpaar auf, fo geht 


124 


zwiſchen diefen ein Strom über, jobald in der dritten, 
zu beiden ſenkrechten Richtung ein magnetiſches Feld 
erregt wird. (Der Verſuch erinnert an den befannten 
„Halleffett“. Doh wird diefer Querftrom nur in 
nächſter Nähe der Elektroden erzeugt). — Die Verſuche 
verdienen es, möglichſt umfaffend weiter geführt zu 
werden. 


b) Orsaniihe Naturwiffeniaften. 


Eine WAblenkungstherapie ftellt der Petersburger 
Pſychiater W. Bechterew (Bd. 94 d. Zeitichrift 
f. d. gef. Neurologie u. Pſychiatrie) der Pſychoanalyſe 
gegenüber. Diejelbe foll bejonders dort Anwendung 
finden, wo der jtörende Affeft nicht im linterbewußt: 
fein des Patienten „eingeklemmt“ ift, jondern umge: 


tehrt das Bewußtfein allzu ftart auf ſich konzentriert. . 


Solde Tyälle liegen vor allem vor in den lafterhafter 
Gewohnheiten, wie der Trunkſucht oder den ſexuellen 
Verirrungen, bei welden die Triebvoritellung das Be- 
wußtfein des Menſchen fo gefangen hält, daß derfelbe 
feine Gedanken nit von ihr losreißen fann und 
ſchließlich gegen die beiten Vorſätze die Iafterhafte 
Handlung dodh wieder begeht. Uber aud feelilche 
Störungen wie Angſt- und Depreflionszuftände find 
oft auf eine derartige Konzentration des Bewußtſeins 
auf einen Inhalt, das erſchütternde Erlebnis, zu: 
rüdzuführen. In folden Fällen tann es alfo, wie 
Bechterew ausführt, nicyt darauf antommen, den Sm: 
puls erit aus dem Unterbewußtfein pſychoanalytiſch 
berauszuheben, ſondern er ift vielmehr durch eine fugge- 
ſtive Hinlentung des Bemwußtieins auf andere Tätig: 
feiten oder Eindrüde aus dem SKonzentrationsfeld 
binauszurüden. 

Bon dem Einfluß der Konzentration auf die Perjön- 
lichkeit handelt in demſelben Heft auh der Auffah des 
Würzburger Piychologen K. Marbe „Ueber Perjön- 
lichkeit, Cinftellung, Suggeſtion und Hypnoſe“. 
Marbe deutet hier jede ſeeliſche Einjtellung als Be- 
wußffeinseinengung und findet damit den Uebergang 
zwiſchen der Aufmerfjamteitseinjtellung des Normalbe: 
mußtjeins, der Wachfuggeftion und der Hypnoſe, in 
weldem Fortgang diefe CEinengung immer höhere 
Grade erreiht und dabei auch zu Verfchiebungen des 
Terjönlidgleitsbewußtfeins führt. 

Benugung der Pathologie zur Berufsberatung er- 
itrebt ©. 3. Roffjolimo - Mostau „Piychotedhnif 
Pſychologiſches Profil und Konftitution”, in dem: 
jelben Band der erwähnten Zeitſchrift). NRoffolimo 
Ichnt es ab, die Berufsberatung grundfählid nad 
den Mapitäben des normalen Seelenlebens einzurichten, 
da dodh gerade die Minderbegabten eine folde bejon- 
ders nötig hätten. Er weilt dabei eritens darauf hin, 
daß mit gewiffen Begabungsdejetten febr oft ein aus: 
oleichendes Weberragen auf anderen Gebieten verbun: 
den ift und gefteht dann manden pathologiidyen Ver: 
anlagungen fogar einen Vorzug innerhalb einiger Be: 
rufsbetätigungen 3u. So halt er die erhöhte Neal: 
tivität der Hpfterifchen dort für vorteilhaft, wo es fid 
um ein jchnelles Orientieren, feines Verftandnis und be- 
deutende Suggeftibilität handelt. Oder Konftitutionen 
mit Zwangsvoritellungen erjdyeinen ihm innerhalb der 


~ Naturwiffenfchafttiche und naturphilofophifche Umſchau 


` 


— — — ——— — — — — — — 


Berufe als nützlich, in welchen eine pedantiſche Ge: 
nauigkeit gefordert wird. | 

Eine weitere Abhandlung in diefer, Robert Sommer 
gemwidmeten Nummer der erwähnten Zeitihrift be 
ſchäftigt fih mit dem Problem der Willensfreihelt. 
Otto Wiener berichtet zunädft über die Verſuche, 
bei Lebewefen wie bei einem phylitaliiden Syſtem 
de Wreiheitsgrade der Betätigung ſeſtzu 
ſtellen. R. Goldſchmidt hat fo die Zahl der Frei- 
heitsgrade beim Spulwurm auf rund 100000 abge: 
ihäßt, indem er die in Zemielben vorhandenen Gang: 
iinienzellen zählte und unter Berüdfichtigung ihrer ver- 
'hiedenen Funktionen mit einander fomdinierte. Beim 
Menſchen füme man auf dieje Weile zu einer Zahl 
von freiheitsgraden, welde mit 1 und 6000 Nullen 
geſchrieben werden mußte, alfo unvorftellbar groß ift. 
Aus ihrer Größe ließe fid) wohl das Gefühl des Men- 
ſchen erklären, in feinem Handeln frei zu fein. 
Tiefer Gejamtheit der Freiheitsgrade ftellt Wiener in 
feiner Abhandlung „Die Freiheit des Willens” dann 
aber eine „Freiheitsbereitſchaft“ gegenüber; das ift die 
Neigung zur Benußung diejer Freiheitsgrade, die febr 
itar? von perfönlier PBeranlagung, Stimmung. Pe- 
wußtfeinslage und Körperbefinden (Vergiftung, Tram: 
tfenheit etc.) abhängig ift. 

Die flüffige Seele erfährt in einem Aufſatz des Würz 


burger Piydiaters Rieger über das Thema „Wie 


gcht es im Gehirn 3u?” (Heft 2 und 3 des gleichen 
Bandes der Zeitſchr. f. d. gef. Neurol. u. Pſychiatrie) 
eine Art von Wiederbelebung. Bwar wird von R. die 
alte Galen-Destartes’ihe Auffafiung von der dur die 
Nervenröhren jtrömenden Seelenflüffigteit abgelehnt, 
allein ihm jcheint doh ein Liquidum als Grundlage der 
ſeeliſchen Gefichehniffe viel annehmbarer als das Soli- 
dum feiter, nur durch eleftrifche Beeinfluffungen mit: 
einander in Verbindung ftehender Nerventlümpden. 
Die Tätigkeit der Zellen beitehe ja dod) auh innerhalb 
des übrigen Körpers in der Abfonderung von Säften, 
welde fih miſchen und chemiſch verbinden und dadurch 
neue Wirfungen auf den Organismus ausüben. Des 
halb fei auch als Tätigkeit der Hirnzellen vor allem 
eine Abjonderung von Säften anzunehmen, welde in 
unerdlih mannigfaltige Mifcyungsperhältniffe 3u ein- 
ander treten können. Als folde Miſchung chemiſch 
entſprechend beeinflußter Säfte fcheint Rieger die Ber: 
bindung der verfchiedenen Empfindungen 3u der Quali: 
tät einer aus ihnen hervorgehenden Stimmung oder 
eines fie zufammenfafjenden Gedankens viel leiter 
verftändli zu fein, als durd die Annahme irgend: 
welcher Ueberleitungen zwiſchen ftarren, in die Nerven: 
funftanz hineingeſenkten Eindrüden. 

Schließlih fei aus dem fo reichen Anhalt des er- 
wähnten Bandes der neurologiſch pſychiatriſchen Beit- 
ſchrift noh auf die Erfahrungen mit der jekt fo viel er 
mähnten GEncephalographie hingewiejen. Dieſes Ber: 
fahren zur Teititellung von Hirngeſchwulſten bejtebt 
in der Einführung von Luft in die Hirnhöhlen 
(Ventrifeln) unter Abzapfung der diefelben erfüllenden 
Flüſſigkeit, wodurch Kontraftwirtungen gegen fih etwa 
in diefe Höhlen vorſchiebende Gehimmaflen erzeugt 
werden, ſodaß diefe dann auf der Röntgenaufnahme 


Raturwiffenfchaftliche und naturphilofophifche Umfchau. 


deutlich hervortreten und Anhaltspunfte für eine Ope- 


r:tion ergeben. Die Gefährlichkeit diejes diagnoſtiſchen 


Terfahrens für den unterfudgten Patienten ift nadh den 
bisherigen Ergebniffen relativ gering. Fleiſchhauer— 
G:eben gibt hier in feinem Auffag „Zur Encephalo- 
giahie“ eine Sterblidykeit von 1 Proz. bei gehirntranfen 
Sudividuen an —, der CErmitielungswert des Ver: 
j»Hıens hat fih demgegenüber als febr bedeutend er- 
w.efen. 

Das Arhiv f. d. gef. Piychologie bringt in feiner 
legten Nummer (Heft 3 und 4 des 1. Bandes) eine 
Abhandlung Wilhelm Steinbergs „Ueber die 
Raumvorftellung der Bilindgeborenen.“ . Die pſycho— 
legiiden Forſcher Golditein und Gelb hatten zu 
dviefem Problem ihre Unterſuchungsergebniſſe an 
einem Geelenblinden beigetragen, welder unter vor- 
wiegender Benußung feines Tajtjinnes zur Erkennung 
der ihm optiſch unertennbaren Gegenſtände zweifellos 
3u feiner Borftellung ihrer Räumlichkeit tam, und 
hatten daraus den Schluß gezogen, daß aud die Blind: 
geborenen feine Raumporftellung befiten. Demgegen- 
über erjdeint Steinberg die Forderung, welde der 
Seelenblinde an feinen Taftjinn ftellt, doh allzu ver- 
ihieden von dem Gebraud), den ein “Blindgeborener 
von ibm madt, um derartige Schlüffe zu rechtfertigen. 
Der Seelenblinde, der die Gegenſtände wohl fieht, aber 
nicht 3u erfennen vermag, ſucht durch fein Taſten ein- 
zeine Merkmale an denfelben aufzufinden, durch welde 
er fie mit den ihm nod gebliebenen anſchaulichen oder 
begrifflichen Vorſtellungen identifizieren tann. Der 
Blinde aber juht nad) Beobachtungen Steinbergs durd 
fein Taſten nit nur einzelne Erfennungsmertmale an 
dem Gegenftand zu entdeden, fondern feine Geſamt— 
form, alfo aud feine Räumlichkeit, aufzufaffen. 

Rum Hauptbeweisftüd gegen den pſfycho⸗phyſiſchen 
Parallelismus in Drieſch's Belämpfung desjelben 
bringt Ernſt Mally-: Graz in den angegebenen 
Heften des Pſychol. Ardios eine Entgegnung 
aus den Grundfäßen der Mengenlehre. Drieſch 
itelt nämlihd in feinem Buh „Leib und Seele“ 
den pſycho⸗phyſiſchen Parallelismus deshalb als un 
möglid hin, weil die Mannigfaltigleit des Pſychiſchen 
eine viel größere fei, als die mechaniſtiſch denfbare 
Mannigfaltigteit des Phyſiſchen. Zu einem Erlebnis: 
inhalt, weldem nad) dem Parallelismus eine Gehirn: 
tonftellation als Korrelat entjprede, gäbe es immer 
noch einen möglichen Aft feiner Erfaflung, zu welchem 
dann fein entipredyender phyſiſcher Sadperhalt mehr 
eriltiere. Die Gefamtheit möglicher phyfiiher Korrelate 
jei alfo [don von einem Teil des Pſychiſchen „bededt”, 
jodaß eine durchgängige Zuordnung des Pſychiſchen 
zum Phyſiſchen nicht mehr möglid) fei. Diefen Ausfüh: 
rungen jet Mally den Hinweis entgegen, daß aud die 
Mannigfaltigkeit der phyſiſchen Konftellationen als 
unendlich groß anzuſehen ift und daß nad) der Mengen: 
lehre die Annahme unberedtigt ift, weil eine unendliche 
Menge fi auf einer Teilmenge einer andern Menge 
abbildet, könne fie nicht die gleiche Mächtigkeit befigen, 
aljo die Möglichkeit, ihre Glieder ein — eindeutig 
denjenigen der andern Menge zuzuordnen. Das foll 
befagen, daß fi zu allen Anordnungen phyſiſcher Eie- 
mente, welde Korrelate für Erlebnisinhalte find, dodh 


125 


immer noh Ronftellationen denten laffen, welche den 
Erfafjungsaften diejer Erlebniffe entipreden. | 

Bu der jekt ſoviel erörterten Frage nach Der 
Aöglileit außerfinnlihen Wahrnehmens bringt das 
14. Heft der „Umſchau“ ein bedeutfames Refe— 
rat über Verſuche des Biologen Chr. Schröder 
Derjelbe fuggerierte fenjitiven Perjönlichkeiten auf einen 
unter 6 gleichen Objekten enthaltenden Gegenitand 
gend ein Merkmal: auf einer Karte jollte ein Bild 
dergeitellt fein, in einem Fläſchchen ſich ein Duftftoff 
befinden etc. Die Aufgabe der Senjitiven war dann, 
diefen ſuggeſtiv beeindrudten Gegenjtand wieder zu er- 
fennen, ò. h. ihn aus der Zahl der ihm — abgejehen 
von diefem fuggerierten Merkmal — völlig gleichen 
Cbjekte herauszufinden. Auf die Ausichaltung aller 
Hilfen, fogar telepatifcdyer Uebertragungen, wurde größ- 
ier Wert gelegt. Troßdem ergaben fi 85 richtige 
auf 25 falide Angaben. Die MWahrfcheinlichkeit, dah 
diefes Ergebnis nicht dur) ein Wiederertennen, jondern 
durch Raten zuftande gefommen ift, beträgt nad) Be: 
rehnung Schröders 1 : 36 Septillionen; man müßte 
36 Geptillionen mal raten, bis man einmal diefes Ber- 
juchsergebnis zuſtandebrächte. 

c) Naturphilofophie und Weltanfhauung. 

In dem diesjährigen eriten Heft der „Pſychiſchen 
Studien” finden wir einen Auffaß des bekannten Bio- 
logen Drief h: „Die melapſychiſchen Phänomene im 
Rahmen der Biologie.“ Drieſch entwidelt in diefem 
Auffag zunächſt kurz zufammengefaßt die Gründe für 
feinen Bitalismus und für feine Ablehnung der 


Theorie des pſychophyſiſchen PBarallelis- 


mus. Cr Hält es dadurh für erwieien, daß die rein 
mechaniſtiſche Theorie ſchon bei der Erklärung der nor: 
malen Lebenserjdeinungen verfage. Tür die Wir- 
fungsweile der von ihm zur Erklärung eingeführten 
Entelehien bezw. Pſychoide findet er drei Möglich— 
feiten: die Entelechie könne ein materielles Syitem 
zunächſt „drehen“, ohne feine Energie zu verändern, fie 
tünne zweitens den Bewegungen der Materie Wider- 
ſtände leiften (beffer wäre der Ausdrud: Bahnen vor: 
zeichnen), wodurd die Atome ujw. gezwungen würden, 
beftimmte Bahnen einzwichlagen oder zu meiden, endlich) 
tonne die Entelehie nad) Drieſch's eigener „Suspen- 
lionstheorie” das Geichehen eine beitimmte Zeit Hindurd) 
einfach jupendieren (Energieausgleiche bis zum geeig: 
neten Augenblid aufihieben). Bei allen drei Theorien 
bleibe das Energieprinzip gewahrt, und aud das Prin- 
zip der Eindeutigfeit des Naturablaufs könne als be: 
ſtehen bleibend angenommen werden, man müffe nur 
zur eindeutigen Borausberedynung der Natur nit nur 
die materiellen, jondern aud) die entelechialen Elemente 
vollftändig kennen. Jn einem leider ziemlich furz ge- 
ratenen Schlußabjchnitt fommt Dr. dann auf das eigent- 
lide Thema, wie fi in den Rahmen Ddiejes feines 
Vitalismus die offulten Erjcheinungen einordnen wür— 
den. Es bleibt hier bei dem nicht neuen Gab, daß das 
mediale Unterbewußtſein in ähnlicher Weife die Materie 
der Umgebung leite, wie die Enteledyie oder das Pſy— 
choid den Organismus. Ich fann nicht finden, daß 
mit einer folden allgemeinen Behauptung irgend etwas 
gewonnen ijt. 








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Ule in dieſer Zeitſchtift beipcod. guten Büchet beſotgt jede Buchhandlung und die Sorfimentsabt. des Kepierbundes 


W. Liepmann, Weltihöpiung und Weltanihau- 
ung. Volksverband der Büdjerfreunde, Wegweijer: 
verlag, Berlin. 8 Abbildungen im Tert und 11 Ub- 
bildungen auf befonderen Tafeln. 248 © — Da 
der „Verband der Bücerfreunde“ im gebildeten Publi- 
` Pum eine ziemlidy) weite Verbreitung hat, jo ift es von 
bejonderem Intereſſe, was er an MWeltanjchauungs: 
literatur feinen Mitgliedern bietet. Ein einziges Bud) 
tann bier viel Segen, aber auch viel Unheil jtiften. Die 
Gefühle, mit denen ich das vorliegende Bud aus der 
Hand lege, find zwielpältiger Natur. Der Berfafler, 
der auf dem Titelblatt als Univerfitätsprofeffor bezeit- 
net ijt (melher Fakultät ift leider niht gejagt), bejitt 
offenbar eine ziemlid; ausgedehnte Kenntnis der moder- 
nen Naturmwiffenichaften, insbejondere der biologijden, 
während ihm auf dem phyſikaliſch-chemiſchen Gebiete 
bier und da Meine Irrtümer unterlaufen. Aber nidt 
die rein ſachlichen Kenntniffe, die es vermittelt, geben 
diefem Buche fein Gepräge, jondern der ftarte ethiſch— 
idealiftiihe Ton, der die ganze Darftellung durchzieht, 
und der freilich vielfady zu einigermaßen unklaren Ber: 
gleihen, Bildern und Analogien verführt. Der Ber: 
faffer jteht in bewußtem Gegenſatz zu Hcedel und allem 
materialiftifhden Morismus. Er will diejen den Dualis: 
mus von Materie und Geſetz (Logos) entgegenjegen 
und ordnet nun, dem lebteren Begriff alles Höhere, 
Steale unter. Daneben zeigt das Bud einen jtarfen 
Einſchlag von Erotif. Das „Polaritätsproblem”, das 
er von den pofitiv und negativ elektriſchen Urbeftand- 
teilen der Materie über die jeruelle Differenzierung bis 
zu den höchſten jozialen Differenzierungen verfolgen 
will, fpielt eine beherrſchende Rolle in dem Bude. Ge: 
rade dadurch wird es auf viele Lejer, vermutlich be- 
ſonders die weiblichen, einen gewiffen Reiz ausüben, 
dem jchärfer kritiſch geſtimmten Lefer dagegen wird 
manche diejer Erörterungen allzu verſchwommen und 
oberflächlich erſcheinen. Auch in den einzelnen be: 
bandelten Problemen vermißte ih vielfad) die nüchterne 
tritifche Klarheit. Das Körperjeeleproblem 3. B. wird 
zwar ausdrüdlic behandelt, der Materialismus wird 
dabei ſcharf abgelehnt, aber wo die eigentliche Schwierig: 
teit ſteckt, das erfährt der Lejer aus diejem Kapitel nidt. 
Die breit ausgeführte Lehre E. Beders vom „über: 
individuellen Seelif hen“ löſt doh das eigentliche 
Problem dom wahrhaftig niht, jondern ftellt nur einen 
befonderen Fall vor. Ganz ähnlich erging es mir mit 
dem Kapitel 8, weldjes das Leidensproblem behandelt. 
Es ift ja gewiß richtig und gut, daß der Verfaſſer hier 
auf die Tatſache — entgegen dem Peſſimismus Hardels 
und anderer — nachdrücklich aufmerfjam madıt, daß 
gerade die Größten der Menſchheit, ein Rembrannt, ein 
Spinoza, ein Dante ujw., durch tiefites Leiden hindurch 
ihre unfterblien Werte hufen. Die Darftellung nähert 


ih hier ftart dem Kernpunkte der chriftlihen Belt: 
anſchauung. Aber alle folde an fidh ſicher richtige Er: 
mwägungen fünnen dod über die grundfäglide Schwer 
des Problems der Dysteleologie nur hinwegtäuſchen, 
wenn fie allein bleiben, ebenfo wie aud das Problem 
des Böfen im befonderen niht damit abzumaden it, 
daß man es, wie der Berfaffer als bloßes Zurüd in ie: 
Entwidlung erklärt. Es ift befonders anzuerfennen, doh 
der Berfaffer ſich an dieſer Stelle ſehr vorteilhaft von 
dem uferlofen ethiſchen Optimismus der landläufigen 
Fortſchrittsvorſtellung unterſcheidet. Er fieht flar und 
hebt es hervor, daß der Sat „Der Menſch ift gut” eine 
Unmwahrheit ausfpridt. Ebenſo verdient feine nüchterne 
Beurteilung des pazififtifhen Problems alles Lob. Und 
doch — bei aller Zuftimmung zu vielem, was er in 
diefen Schlußfapiteln jagt — ich vermißte eines: ds 
ijt die tiefere metaphyſiſche Grundlegung folder Gegen 
jäge, wie gut und böfe, ſchön und häßlid Hier bleib 
nad meinem Gefühl der Verfaſſer doh im Bord) 
ſtehen. — Alles in allem darf man aber trog mange: 
Bedenten im einzelnen fih doc wohl darüber freuen, 
daß heute ein ſolches Bud) wieder auf einen ausgededn 
ten gebildeten Leſerkreis rechnen tann. Es ift eines der 
Symptome dafür, daß die Menſchheit den Materialis: 
mus und das Eritiden in bloßer verftandesmäßige 
Kühle gründlich) fatt hat. Der religiöfe Grundzug if 
unverfennbar. 

W. Ernjt, „Der moderne Menſch“. Zwölf Frog 
und Antworten. (Halle a. S., 1925, Ev. foz. Preh 
verband für die Provinz Sachſen.) Die zwölf Frager 
diejer bedeutjamen Neuerjheinung find geftellt von eme: 
Perſönlichkeit, welche die Sehnſucht des heutigen Men 
iden nad) einer einheitlichen, zum Kern der Erſcheinun— 
gen vordringenden Weltanfhauung nicht als ein afo 
demifhes Problem betrachtet, jondern fie brennend in 
ſich miterlebt. Sie werden beantwortet von einem 
Denter, der ebenjo wenig der Wiſſenſchaft äußetlig 
gegenüberfteht, jo daß er ihre Ergebniffe als in fih ab 
geſchloſſene Einzelheiten hinzunehmen oder abzulehnen 
hätte, der vielmehr von dem Geift der wiffenjhaftlihk" 
Forihung aus ihren Behauptungen den Wahrheit‘ 
gehalt zu entnehmen vermag, melder in ihrem Yorigang 
erſt nah und nah an die Oberfläche tritt. Bon diek! 
Einjtellung zur Wilfenjchaft aus erörtert der Verfall! 
hier die wiſſenſchaftiichen Aufftellungen, welde fo of 
der Vertiefung unjerer Welt: und Lebensauffafjung we 
unüberwindliche Hinderniffe im Wege geſtanden haben‘ 
den Darwinismus, den Entwidlungsgedanten, den 
Hcedelfhen Monismus, die mechaniſtiſche Aufoflun 
des Naturgefhehens ufw. Er erblidt dabei in MM 
Entwidlungsgedanten eine wiſſenſchaftliche Ertennin“ 
von bleibendem Wahrheitswert, betont jedod), daß $ 
beim rechten Verftändnis feiner inneren Notwendigtete 


— — —— 


— ui we — 





—E 


Reue Literatur. 


zu den entgegengeſetzten Folgerungen führt, als ei zus 
erft zu haben dien. Der Entwidlungsgedanfe fordert 
die Ablehnung der mechaniſtiſchen Geſchehensauffaſſung 
und die Anerlennung geiltiger Geftaltungsträfte in der 
Welt. Freilich dürfen diefe dabei niht auf menſchliche 
Mapitäbe zugeidmitten fein. Wir müffen uns felbft 
auf die Höhe des Beiltes erheben, wenn wir da3 Geiltige 
in der Welt finden wollen. Zum Ausdrud diefer For- 
derung findet der Berfafler bejonders in feinen Ant- 
worten auf die Fragen nad „totem Zufall oder gött: 
licher Borjeyung”, nad) der Möglichkeit des Wunders 
und nad) der Notwendigfeit einer göttlichen Offenbarung 
beionders eindringlide Worte. Wir müflen uns in 
unferer ganzen Lebenshaltung für das Geiſtige ent- 
iheiden, dann finden wir auh das Göttliche in der 
Melt, deffen Offenbarungen wir fonft niht verftehen 
oder in das Menſchliche und Untermenſchliche verzerren. 
Diefe Ueberzeugung, daß es an un liegt, ob die Welt 
einen geiftigen Inhalt Hat oder nicht, führt den Ber: 
fafler zu einer freudigen Lebensbejahung und zu einem 
feften Bertrauen in den Sinn der Gedichte, die aud 
unfer Bolt durch Nacht wieder zum Licht geleiten wird. 

Die Aſtronomiſche Zeitfegrif, herausgeg. von 
A. Stenzel, eigener Berlag Hamburg, legt uns 
drei Probehefte vor, auf Grund deren wir diefelbe 
gern den aſtronomiſch intereffierten Lefern empfehlen. 
Die Nummer enthalten u. a. Beiprechungen der neuen 
Ralenderpläne, der lebten Marsbeobadhtungen mit zwei 
pertrefflien Bißtafeln, wertvolle geſchichtliche Bei- 
träge uff. 

H. Keller. Die Die Halllofigleit der Relativi- 
Sätstheorie. Verlag D. Hillmann, Leipzig. Geh. 1.20 M. 
Der beigegebene „Wadjzettel“ lautet: 

„Diefes Wert erbringt den ımanfechtbaren Nachweis, 
dah die Grundbegriffe, auf denen fih die Einftein-The- 
orie aufbaut, in ein leeres Nichts zerfallen, und eben: 
fowenig beweifend find auch bei näherem Zuſehen alle 
die jogenannten glänzenden Beitätigungen, die fie im 


Laufe der lekten Jahre durch praktiſche Forſchung er: . 


fehren haben will”. 
Na affo, warum maden denn die Phyfiler immer 
nod jo viel Aufhebens davon? 


A. Helffenftein. Das Weſen der Stoffwelt. 
Uundamentalertenntnifie, Verlag Fr. Deutide, Le. u. 
Wien. Der Berf., der fi darüber beidywert, daß die 
Kritik fein früheres Werk über die „Energie und ihre 
Formen“ abgelehnt habe, will feine Grundgedanten 
bier näher ausführen. Wie ausgezeichnet ihm das ge- 
lungen ift, beurteile der Lefer an folgenden Proben: 
„SAofidyte ift die Stoffmenge in der Raumeinheit. 
Gravel ift die Stoffdichte des Punktes. Gravital ift 
der Kreuzungspunft von Stoffbewegungen . . . Atom- 
tern ift das aus einer Mehrheit von Gravitafen durd 
eine felbftändige gemeinfame Bewegung entitehende 
Gebilde” uff. in dulce infinitum. Fett angeftrichen 
heißt es auf ©. 72: „Es knüpfen die Schwerlinien von 
der Sonne ausgehend, mit den Fäden der Planeten- 
ſchiffchen tagein tagaus im Raume eine Unendlichkeit 
von Knoten ..... Das Verbinden und Löfen der 
Knoten zeigt fi im Flimmern der Siere, hin und 
wieder reihen größere Stofftnäuel, eine Sternfchnuppe 
leuchtet auf und veridwindet lautlos.” 


127 


T. R. Deiterreih. Das Weltbild der Gegen- 
wart. 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage 
E. Mittler u. ©. Berlin. 7.50, geb. 10.— M. Dies 
beroorragende Bud, deffen erfte Auflage leider ms. 
Ws. in U. W. nit zur Beiprechung vorgelegt ift, 
verdient die wärmite Empfehlung und zwar trog des 
Bedentens, das die Neigung des Berfaflers zum Otkuf- 
tismus erwedt. De. hat es verftanden, fein ganz fabel- 


haftes Untverjalwiffen Hier für die Gebildeten aller 


Stände fruchtbar zu maden. Es ift taum ein Gebiet 
ſawohl der Natur: wie der Rulturwiflenfchaften, in dem 
er fi nicht als gründlider Sachlenner erweilt. Gin- 
zelne kleine Irrtümer, die ihn hie oder da untergelaufen 
fein mögen, haben gar feine Bedeutung Das Beſte 
an dem Bude ift das legte Kapitel „Die lebten Pro- 
bleme”. Hier entwidelt der VBerfafler in meifterhafter 
Klarheit auf dem Grunde eines entichloffenen ertennt: 
nistheoretifhen Realismus im Sinne Meinongs und 
Huflerls eine umfaffende Wertphiloſophie und endet 
mit der Frage nah Herkunft und Sinn der Welt und 
des Lebens. Wenn er diefe au nit in fo pofitiv 
religidfem Sinne beantwortet, wie id) gewünfdyt Hätte, 
jo zeigt er dodh fo Mar den Punkt, wo die Religion an- 
zuſetzen bat, daß er tauſenden unferer Gebildeten, denen 
der herfömmlide kirchliche Weg verbaut ift, ein Führer 
werden fann. Daß er in ühnlihem Sinne wie Den- 
nert u. a. den Okkultismus als den wiſſenſchaftlich 
eratten Nachweis der Eriftenz des Weberfinnliden an- 
nimmt und darauf weiterbaut, bedaure ih zwar aus 
den mehrfach in dieſer Zeitichrift dargelegten Gründen, 
aber zum Glüd ift ja der Weg zum geiltgen Gehalt 
der Welt auh von anderswoher zugänglicy und Oeſter⸗ 
weih ift fiher der legte, der dieſen anderen Weg 
leugnete. Das Bud) fei als Geſchenkwert, insbejondere 
für die mit den Weltanfhauungsnöten ringenden jum- 
gen Menſchen von 18—25 Jahren, dringend empfohlen. 
Es hat meines Willens im der deutfden Literatur der 
Gegenwart nit feines leiden, denn die anderen 
parallelen Berfude, 3. B. der von Liepmann 
(Beipr. auf vorhergehender Seite) können fi) mit diefen 
nicht entfernt an ſachlich wertvollen —— und Weite 
des Ueberblicks meſſen. 


D. Mahncke. Leibniz und Goethe, die Harmonie 
iger Weltanfigten. Berlag Stenger Erfurt. Heft 4 
der Folge „Weisheit umd Tat“ herausgegeb. v. A. Hof: 
mann. 2.75 M. 

Der Berfafler, unferen Qefern fein Fremder, der jebt 
verdientermaßen den Weg von der Schule zur Uni: 
verfität gefunden hat, entwidelt in diefer Schrift, die 
ihrer Borgänger durchaus würdig ift, nicht etwa im 
Sinne eines „deutihen Aufſatzes“ Parallelen zwiſchen 
Goethe und Leibniz, fondern er gibt weit mehr. Als 
herooragender Leibnigforfcher zeigt er, was für Schähe 
aud für das modernfte philofophifhe Denten, ja gerade 
für diefes in Leibnizens jo oft verjpotteter Monadologie 
tiegen. Mahnde ift von Haufe aus Mathematiker, 
man merkt auf Schritt und Tritt feine genaue Kenntnis 
der neueſten mathematiichen Forſchungen. Er hat aber, 
wie er felber in einem ebenfo treffliden Aufſatz in den 
„Unterridtsblättern für Mathematit und Naturmwiflen- 
ſchaft“ jüngft dargelegt Hat, den Weg „Bon Hilbert 
3u Huſſerl“ gefunden, ò H. er ift einer der wenigen, 


128 Ä Bu Neue Literatur. 


und vollftändigen modernen Willens zur metaphyfijchen 
„Meiensihau” vorzudringen. . Sein Ergebnis faßt er 
in die Worte: „Leibnizens Monadenlehre vereinigt 
mit dem objettiviftiiden Unmerfalismus dod) bereits 
einen qualitativen Pluralismus und ſubjektviſtiſchen 
Individualismus. Sie bereitet damit jhon die große 
Syntheſe vor, die dem Geilte der Gegenwart als feine 
höchſte Aufgabe geitellt ift: die Leberbrüdung der tie: 
fen Kluft zwiſchen den univerfal geſetzlich erflärenden 
Naturmwiflenidyaften und den individuell beichreibenden 
GBeifteswiffenichaften ... und damit zugleich die Ueber- 
windung des Maffenden Weltanſchauungsgegenſatzes 
3wilchen der rationalen Geltungsphilofophie und der 
irrationalen Lebens: und Erlebnisphilofophie”. Im 
Schlußabſchnitt zeigt er, daß Leibniz allerdings dodh 
etwas einfeitig die eine Seite der Gade, die univerjal: 
mothematifche, bearbeitet hat und daß er deshalb durch 
Goethe, den Lebenstünjtler und Typus der freien Per- 
jenlicyfeit 3u ergänzen ift. — Die Lektüre diefes Bu- 
des war mir ein ebenjo großer Genuß, wie die des 
„Willens zur Ewigkeit” (vgl. U. W. 1922, ©. 266). 
Mögen recht viele unferer Lefer fih an ihm ebenjo er: 
bauen. Solde Philojophie ift es, die wir brauchen. 

Dr. med. Fr. v. Kügelgen, Die Mangel- 
krantheiten (Avitaminofen). Verlag C. Pahl, Dresden. 
Geh. 2.40, geb. 3.20. Der Berfaffer, offenbar ein 
heroorragender Sachkenner auf dieſem neuentdedten 
Gebiet der Ernährungswiſſenſchaft, verfteht unter Man- 
gelfanfheiten die Folgen ungemügender Zufuhr jener 
merfwürdigen Stoffe, die man zumeijt heute mit einem 
wenig glüdliden Ausdrud Bitamine nennt. Wenig 
giüdlid) deshalb, weil nämlich nur einer davon, das 
von Fun? fogenannte Vitamin B, die in der orga: 
niiden Chemie mit dem Namen Amin angedeutete 
Atomgruppe N Hz» enthält; die anderen Stoffe will der 
Berfaller deshalb lieber Ergänzungsitoffe oder Kom- 
pletine nennen. Er zeigt im einzelnen, welde Krant: 
heitsbilder durch Mangel der einzelnen Kompletine 
altein oder durch gleichzeitigen Mangel derfelben und 
gewiffer Nährfalze, vor allem des Kalts, entitehen. 
Tas Bud wird vorausfichtlid) zu einer neuen Offen: 
barung für viele werden, leider jteht zu befürchten, 
daß jegt die Vitaminitis die weitelten Kreife verjeuchen 
wird. Uber daran ift nicht der Berfafler ſchuld, fon: 
dern der Unpverjtand der Menden. Sein Bud hat 
tatfächlich vielen viel zu jagen, auch den Werzten. Es 
ftcht völlig auf wiſſenſchaftlicher Höhe und darf nidi 
mit den üblidyen populären G@ejundheitsbüchern ver: 
mechlelt werden. 

Fr. Brave, Das Chaos als objeftive Weltregion. 
MW de Grunter, Leipzig-Berlin, 250 M. Der Ber: 
faffer, der Thon im dritten Bande der „Beiträge zur 
Philoſophie des deutfhen Idealismus” eine furze Dar- 
legung feiner Hauptgedanten gegeben Hat, entwidelt 
in diefem Buche ausführlider feinen Verſuch, von der 
Kantifchen Erkenntnistheorie aus 3u einem transcen- 
dentalen Realismus der Metaphufit vorzudringen. 
Cı fegt febr richtig auseinander, daß bei Kant zwar im 
Grundſatz die Verankerung der Erfenntnis auf zwei 
gleichberechtigten Tragpfeilern, dem jubjeftiven und 
dem objektiven, fejtgehalten, daß aber praftiih nachher 


. funden und kranken Tagen. 








alles Allgemeingiltige doch völlig auf die jubjeftive 
Seite gefchoben jei, fodaß für das unerfennbare „Ding 
an fih” überhaupt feinerlei Beitimmung mehr übrig 
bleibe. Brave will nun zeigen, wie in den apriorijchen 
Formen Kants in Wahrheit legte Wurzeln der Dinge 
felbjt zutage kommen, die ebenjomohl dem Subjeft 
wie dem Objeft angehören. Sie gründen fih in einer 
Meltregion die „unterhalb“ dieſer Spaltung liegt, 
welche ſich erft im Ertenntnisaft vollzieht. Dieſe Re- 
gion nennt Grove die chaotifche, ihre vier Element: 
gruppen find die Qualität, die Dimenfion, die Geſtaltung 
und die Bildung. Dieſen entiprechen die vier Reiche 
des Stoffes: der Kriftalf, die Pflanze, das Tier und 
der Menih. Die Durdführung diefes Stufenbaus 
ſyſtematiſcher Viergliederung ift für meinen Geihmad 
reichlich myſtiſch. „Gemöhnlid meint der Menih, 
wenn er nur Worte hört, es müfle fih dabei doch et: 
was denten laffen”. Das jagt derfelbe Goethe, in deffen 
Beilte der Berfaller das Reih der „Mütter“ zitiert. 
Jun, der Alte von Weimar hat ja auh — und viel- 
leiht mit gutem Bedacht — allerlei in feinen Fauft 
hineingeheimnift. Das Bud aber will ebenfalls, wie 
es in der Einleitung Heißt, feine wiflenichaftlide Er: 
flärung, fondern eine „Zuſammenſchau m Sinne 
Platos“ fein. Soldye Verſuche find an fih zu begrüßen 
man muß freilich die große Gefahr dabei nie vergeifen. 
daß das metaphyfiihe Gebäude den Boden unter den 
Füßen verliert oder in reine inhaltsleere Wortverbin- 
dungen ausartet. Ganz feint mir der Berfaller diefer 
Gefahr niht entgangen zu fein. Man fann aber trog: 
dem allerlei aus feinen Gedantengängen lernen. 

Dr. med. I. Fincth. Schlaf und Traum in ge- 
(Verlag der Aerztlichen 
Rundihau, Otto Gmelin, Münden 1924. 38 St. 
Preis 1 A). Die Abficht diejes in der Sammlung 
„Der Arzt als Erzieher” erfchienenen Heftes ift weniger 
die, wilfenichaftlihe Theorien über Schlaf und Traum 
in ihrer größeren oder geringeren Wahrjcheinlichkeit 
darzulegen, als vielmehr hinzumweifen auf die mannig- 
ialtigen Erfcheinungen, melde Schlaf und Traum im 
Wechſel von Gefundheit und Krankheit bieten, uno jo 
die Unterlagen für die Bejeitigung der unerwünjdten 
unter ihnen zu ſchaffen. Befonders bei der Beiprehung 
der Schlafpemmungen gibt die Abhandlung bedeutjame 
erzieheriiche Hinweiſe. 


Druckfehlerberichligung 
©. 90, Spalte 1, 3 .8 v. o., lies: „Etalon“ ſtatt 
Elaton. 
©. 91, Spalte 2, 3.3 v. o., ſtreiche das Wort „man“. 
©. 91, Spalte 2, 3.9 v. o., ftreihe das Wort „Bon“. 





Schluß des redaktionellen Teils. 


Deutihe &lepperboote am Nordpol. 
Amundfen nimmt zu jeinem, anfangs Mai beginnen: 
dem Fluge nah dem Nordpol in jedem feiner Flug— 
3euge ein Klepperboot mit. 


Diefem Heft liegt ein Projpeft bei der Firma H. U. 
Wiechmenn, Münden. 


— — —— — 





annann 
Ev. Pädagogium : 


Godesberg a. RG. m. Derhen a. d. Gieg | 
und Realpeogpinnaftum 

— 

INN: 


Dirett.: Prof. O-Rüpnein Dodesberg — 
fliegt im bejegten, Heren im 


pr 
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XVII Jahrg. Detmold, Juni 1925 Hett 6 






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Schriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Aufjäbe ftehen die Verfafler; ihre Aufnahme maģi fie nit zur Yeuberung des Bundes. 








XVIL. Jahrgang 





Juni 1923 


Heit 6 











Leibnizens Gegenwartsbedeutung. 


I 


Dah Leibniz, der Erfinder des baroden Sy- 
jems der präftabilierten Harmonie und Bater 
der längft verftaubten rationaliftiichen Auf- 
tlärung in Deutfchland, für das GBeiftesleben des 
2. Jahrhunderts von Bedeutung fein foll, wird 
vielleicht nicht wenige Leſer unwahrſcheinlich, ja 
unglaublich dünken. ber für den Tiefer- 
Llidenden mehren fih die Anzeichen, daß der 
Geiſt des erſten deutſchen Denkers von Weltruf 
berade gegenwärtig — trotz der zwei Jahrhun— 
derte, die ſeit ſeinem Tode verfloſſen ſind — in 
Philoſophie und Wiſſenſchaft zu neuem Leben 
erwachen will. Schon äußerlich ift eine ftarte 
Zunahme des Intereffes für ihn an dem ge- 
waltigen Anfchwellen der Zeibnizliteratur in den 
legten Jahrzehnten zu bemerken. Seit um bie 
Jahrhundertwende faſt gleichzeitig und ganz un- 
“bhängig von einander in England, Frankreich 
und Deutichland drei große neue Leibnizdar- 
ſtellungen (von B. Ruſſell, L. Couturat und 
€. Caſſirer) erſchienen find, die in feinen philo- 
ſophiſchen Werten und Handfchriften ganz über- 
lehene Iogifche und erfenntnistheoretifche Tiefen 
aufdeten, und feit im Jahre 1901 die inter- 
nationale Affoziation der Afademien die immer 
noch fehlende neutrale Gefamtausgabe feiner ge- 
drudten und ungedrudten Scriften und Briefe 
endlich zu ſchaffen befchloffen hat, find von der 
unermüdlich fortfchreitenden Leibnizforfchung 
mmer neue, wichtige Ergebniffe ans Licht ge- 
bracht worden. Ich nenne nur die allgemein 
geiftesgefchichtlichen und individuell entwicklungs— 
gelhichtlihen Unterfuhungen von W. Dilthey, 
B. Rabig und P. Beterfen, die Wiederentdedung 
der innigen Beziehungen Leibnigens zur reli- 
giöfen Myſtik durh J. Baruzi und H. Heim- 


Bon Dietrich Mahnte, 


Greifswald. H 


joeth, endlich die tiefere Erkenntnis der har- 
moniſchen inheit aller verfchiedenen Geiten 
feiner univerfalen Gedankenwelt durch W. Win- 
delband, P. Köhler und H. Pichler. Auch ift 
1923, nah langen, mühevollen Jahren der Bor- 
bereitung, bejonders P. Ritters, der erfte große 
Band der Gefamtausgabe erichienen, enthaltend 
den allgemeinen, politifhen und hiſtoriſchen 
Briefwechſel bis 1676, von dem volle zwei Drittel 
bisher noch nie veröffentlicht waren; es ijt jekt 
allerdings ein rein deutfches Wert geworden, 
nahdem der Weltkrieg die internationale Bu- 
jammenarbeit der Gelehrten, befonders der fran- 
zöſiſchen mit den deutichen, aufgehoben hat. 


Aber wichtiger nod ift, daß dies eindringende 
Leibnigjtudium, je tiefer es fidh in den Geiſt dcs 
großen Denters der Vergangenheit ver: 
ſenkt hat, diefen in umfo größere Nachbarſchaft 
zu unſerer Gegenwart gebracht und ihn uns 
immer vertrauter und lebendiger gemacht hat. 
Es ift fajt unbegreiflich, wie viele gerade jetzt at- 
tuelle Probleme diefer Mann — der freilich 
feinen Zeitgenoſſen ein unbegreifliches Wunder 
war (pro monstro erat) und den fie garnicht 
oder hödjftens ganz äußerlich verstanden — fchon 
vor 250 Jahren in feinem weitblidenden Geiſte 
vorausgeſchaut und zu löſen verſucht hat. Leib— 
niz iſt noch nie ſo „modern“ geweſen wie heute, 
denn erſt der gegenwärtige Stand der Forſchung 
befähigt uns überhaupt voll und ganz, die Fra— 
gen zu verſtehen, mit denen er ſich gequält, und 
die Antworten, die er vorahnend darauf ge— 
geben hat. 


Gewiß, Leibniz war auch ein Kind ſeiner Zeit, 
und man hat ihn mit gutem Recht als den ty⸗ 
piſchen deutſchen Barockphiloſophen bezeichnet. 
Aber auch das iſt, tiefer geſehen, kein Beweis 


130 


gegen, fondern für feine Verwandtſchaft mit der 


Gegenwart. Denn gerade jekt beginnt man ja 
eingufehen, wie unrecht es war, in der Kunſt des 
Barot nichts als ſchwülſtige Künftelei zu finden, 
während fih in Wahrheit in feinen dekorativ 
überladenen Bauten und feinen alles auflöfen- 
den, nicht Scharf abgrenzenden Monumental: 
gemälden die Freude am Spiel aller Kräfte, das 
Streben nah geiteigerten Aktion und ein un: 
befriedigtes Sehnen ins Unendliche auslebt. Es 
ijt das ewig gleiche fauſtiſche Weſen des mo- 
dernen, germaniichen Menfchen, das, wie in den 
Gemwändern aller andern Beitalter der deutfchen 
Geſchichte, fo auch im künftlerifchen Stile des 
Barodjahrhunderts zur Erfcheinung kommt. 
Und fo ift es im legten Grunde auh der edhte, 
alte und immer neue deutjche Geift, der in den 
verfchnörfelten Syſtembauten des „konſtruktiven 
Rationalismus” (wie Dilthey fagt) und ins- 
bejondere in der Leibnizſchen Monadologie le- 
bendig ilt. 

Wölfflin charakterijiert in feinen „Lunftge- 
Ichichtlichen Grundbegriffen“ den Unterfchied der 
Barod- von der Renaiſſancekunſt unter anderm 
durch die Gegenfäße 1) des malerifch verjchmel: 
senden Helldunfels zur tfolierenden Umrißzeich 
nung, 2) der offenen, fast aufgelöften Form zur 
geichloffenen, klaſſiſch ſtreng gefügten Tektonik, 
3) der Einheit des Motivs zur Vielheit gleich— 
berechtigter Teilſtücke, 4) der drängenden Bewe— 
gung nach dem Hintergrunde, in die Tiefe, zur 
Ruhe des flächenhaften Nebeneinander. In 
ollen dieſen Ausdrucksformen gehört auch der 
Leibnizſche Gedankenbau offenſichtlich dem Ba— 
rockſtil an. Denn 1) auch in ihm find, wie in 
Rembrandts Malerei die fcharfen Grenzlinien der 
distreten Einzelwejen verwiſcht durch das Prin- 
gip der Kontinuität alles Geins und Gefchehens. 
Snsbefondere auf piychologifhem Gebiet löſt 
Leibniz die feiten Umriffe der felbjibewußten 
Einzelfeele auf durch die „petites perceptions“, 
die unendlich) ſchwachen Empfindungen, ſozuſagen 
die Empfindungsdifferentiale, in denen fidh unter 
der Schwelle des individuellen Bemwußtfeins das 
ganze übrige Univerfum geltend madt. 2) Auch 
die atektonifche Form oder vielmehr Formilofig: 
tcit ift bei Leibniz, 3. B. in der Kompojition fei- 
ner Schriften, leicht wieder zu erfennen. Nir- 
gends finden wir ein gejchloflenes Syitem, fon- 
dern immer wieder neue Cingzelprobleme, mit 
einer verſchwenderiſchen, faſt überladenen Fülle 
von Kenntniſſen und Gedankenblitzen erleuchtet, 
aber nie endgültig gelöft. Ich dente etwa an das 
Wer? Leibnizens, das dem Geifte feiner Zeit am 
beiten entiprad), an die Theodizee. Welden 


Leibnizens Gegenwartsbebeufung. i 


Reichtum von intereſſantem Wiſſensſtoff jchüttet 
er da aus, wie weite Ausblide eröffnet er nad) 
allen Geiten, aber wie formlos und unfyfte- 
matifch ift das Ganze angelegt! Und doch ift 3) 
diefe unüberfichtliche Mannigfaltigkeit eine große 
Einheit, zujammengehalten durch die gleiche 
Grundjtimmung und das einheitliche Grundmo- 
tiv. Alle für fih bedeutungslofen Einzelheiten 
jind auf denfelben majeftätifchen Gefamteindrud 
hin geſchrieben: alle follen gottes= und weltfrobe 
Begeifterung weden für die Lehre der Harmonie 
des Univerfums, in deren Dienft alle Individuen 
ftehen, jedes an feinem befonderen Plage. End- . 
lih 4) gehören Leibnizens Lebensftil und Welt- 
anfchauung auch imfofern dem Barot an, als in 
ihnen an die Stelle der Statik die Dynamit. an 
die Stelle der flaffiichen Ruhe die moderne At- 
tivität, der unendliche Schaffensdrang, das Seh- 
nen und Streben nach immer neuen Dimenfionen 
des Wirkens getreten ift. Der Begriff der Kraft 
und Energie Steht im Mittelpuntt der Leibniz. 
ſchen Naturmwiflenfchaft und Philofophie, wie auch 
der rajtloje Tätigfeitstrieb den Grundcharakter 
feines perfönlichen Lebens ausmacht. 

Die legten Punkte aber zeigen deutlich, daß die 
Einreihung der Lebens: und Denkart Leibni- 
zens in das Baro? (im Gegenfate zur Re- 
nailfance) eigentlih etwas ganz anderes und viel 
Zieferes bedeutet als ihre Zugehörigkeit zum 
Ausdrudsftil einer bejtimmten, eng be- 
grenzten kunſtgeſchichtlichen Epoche. Es handelt 
ji) dabei vielmehr um eine allgemeine Charat- 
terifierung feines Geiftestygpus, in dem die 
jeelifhen Eigentümlichkeiten der modernen, ger= 
manijchen, nicht der (in der Renaiſſance wieder 
erwedten) antifen, griechiſchen Kultur aufge: 
wiejen werden. Es ift dasjelbe, was Worringer, 
nicht nur in der Kunft, fondern aud) in der Did 
tung und Mujit, das „Botifche” nennt: die un: 
unterbrochene Steigerung, die unendlice Melo- 
die, das unruhige Drängen und Sehnen nad) der 
Höhe, wie es in den himmelanftrebenden goti- 
jhen Türmen und fo vielen anderen Aeußerun— 
gen des germanijchen Wefens zum Ausdrud 
fommt. Auh Epengler hat eigentlich genau das 
Gleiche im Auge und erweitert es nur auf alle 
Gebiete des Geifteslebens, wenn er in feiner 
Morphologie der Geſchichte die Weſensverſchie— 
denheit der fauftiihen von der apolliniicdyen 
„KRulturfeele” herausarbeitet. 


Leibniz, der Barockmenſch — das bedeutet alfo 
im Grunde, daß er dem fauſtiſch-germaniſchen, 
nicht dem apollinifch-griechifchen Seelentypus an— 
gehört. Und in der Tat: feine Mathematit ift 
nicht die euklidifche Geometrie der endlichen, 





itarren Figuren, fondern die Infinitefimalred;- 
nung der fließenden Funktionen, feine Phyſik ift 
nicht materielle Atomiftit, fondern Dynamit 
oder richtiger Energetik, feine metaphyfifchen 
Grundeinbeiten find nicht ruhende, distrete Sub- 
tanzen, fondern Geſetze kontinuierlicher Ber- 
änderungen, feine ganze Arbeitsweife ift nicht 
der vollendende Ausbau arditeftonifch ge- 
ſchloſſener Werte, jondern die Konzeption gran: 
dıofer Ideen, deren Ausführung die Menjchen- 
fraft weit überfteigt. Sch dente 3. B. auf prat- 
tiſchem Gebiete an feine ungeheuren Pläne zur 
miffenichaftlichen, religiöfen und überhaupt ful- 
turellen Organijation der ganzen Erde und 
Menſchheit, oder auf theoretifhem Gebiet an 
feine gewaltige Idee der Univerfalmathematit, 
ja der scientia generalis, d. h. eines mit ab- 
foluter logiſcher Strenge aufgebauten Syftems 
aller möglichen wiſſenſchaftlichen Syiteme, 
das die relativ wenigen in der Waturvermwirf- 
lihten Syiteme als ein paar ganz fpesielle 
Einzelfälle in fih begreifen foll. „Fertig“ wer- 
den können Ideen diefer Art natürlich nicht, aber 
fie auh nur gu planen, erweitert ſchon den Blig 
des Menſchen ins Unendliche und befriedigt fein 
fauftifches Sehnen, ſoweit dies überhaupt zu be- 
friedigen ift: „3m MWeiterfchreiten find er Qual 
und Glüd, Er! unbefriedigt jeden Augenblid.“ 

In all dem ift Leibniz zwar Barockmenſch, aber 
zugleich viel mehr als das, nämlidy ein Typus 
des fauftifch-germanifchen Menfchen überhaupt. 
Er gehört damit dem großen, einheitlichen Strom 
der eigentümlich deutfhen Weltanjchauungs: 
bewegung an, die fih (wie bejonders eindrüd- 
lid H. Heimfoeth gezeigt hat) um 1300 auerft in 
der deutſchen Myſtik des Meifter Edhart nieder- 
gejchlagen hat, die dann durch Nikolaus von 
Rues und feinen Bopularifator Giordano Bruno 
auf die ganze europäifche Philofophie gemirtt 
bat, in Deutfchland jelbjt aber von Männern wie 
Paracelfus, Balentin Weigel und Jakob Böhme 
weiter gepflegt worden ift und hier auh endlich 
ihren Höhepunftt im Zeitalter des Ddeutfchen 
Sdealismus und der Romantik, durch Denter wie 
Fichte, Schelling und Hegel, auh Krauſe und 
Schleiermacher, erlebt hat. Als typifcher Ber- 
treter dieſes deutſchen Idealismus ift Leibniz 


nicht mehr ein bloßes Kind feiner Zeit, jondern. 


Repräfentant eines überzeitlich bedeutjamen 
Geiſteslebens. Manche Aeußerlichkeit feiner Qe- 
bens: und Dentweile, die uns fonderbar düntt, 
mag barode Dekoration, eine Ausdrudsform 
feines fpeziellen Rulturzeitalters fein. Aber es 
ift leicht, dies zeitgefchichtlich bedingte Ranten- 
wert abzulöfen und dahinter die großen Linien 


Zeibnizens Gegenwartsbedeutung. — 


main von Raspe veröffentlicht wurden. 


131 


des univerſell und ewig Gültigen bloßzulegen 
— wie man auch ſein Bildnis nur von der ent— 
ſtellenden Allongeperücke zu befreien braucht, um 
den eigentlichen, wahren Menſchen wieder zu 
finden, der ebenſogut auch noch heute unter uns 
leben könnte. 

Darum iſt es verſtändlich, daB Leibnizens Welt- 
anfehauung nicht nur einmal, als fie zuerſt ans 
Licht trat, fondern noch ein zweites Mal in der 
deutichen Geiftesgejchichte Epoche hat machen tön: 
nen und daß fie fogar, wie mir fcheint, bald noch 
ein drittes Mal Epoche machen wird. Leibniz ift 
ja zunächſt zwar der Vater der rationaliftifchen 
Aufllärung in Deutichland geworden. Aber ei- 
gentlich waren es Doch nur wenige, meift ero- 
terifche Schriften von ihm, die zur Hauptgrund- 
lage des Geifteslebens des 18. Jahrhunderts ge- 
worden find, während die große Menge feiner 
efoterifchen Werte ungedrudt und unbekannt in 
der furfürftlichen Bibliothef zu Hannover fchlum: 
nıerte. Ein ganz neuer, tieferer Leibniz offen- 
barte fih der erftaunten Nachwelt, als 1765 die 
Nouveaux essais sur l’entendement au 

ür 
Kant wurden diefe der Anftoß zur Schöpfung 
feiner neuen Bernunfttritit — und dadurch zu: 
gleich zum Fundament für die ganze weitere 
Entwidlung der Bhilofophie. Leſſing und Her: 
der wurden durd fie in der Ausgeftaltung ihrer 
eigenen Weltanfchauung bejtimmend beeinflußt. 
Und die von ihnen bei Leibniz wiederentdedten 


und meitergeführten Lehren vom unbemwußten 


Geelenleben und vom geſchichtlichen Entwid: 
lungszufammenhange der Menjchheit bahnten 
dann den Weg über die Auftlärung hinaus zum 
Zeitalter des Sturmes und Dranges, der Klajjit 
und Romantik, von dem die irrationalen Tiefen 
und Die geitesgefchichtlihen Bindungen der 
Seele wieder entdedt wurden. Nicht nur Shil- 
ler, fondern auch Goethe bekannte fih, was man 
oft überfehen hat, zur Leibnizſchen (Individuali: 
tät und harmoniſchen Zufammenhang vereini- 
genden) Weltanſchauung. Fichte erflärte dann 
Leibniz fogar für den einzigen leberzeugten 
und mit Recht Ueberzeugten von allen Philo- 
fophen, und Schelling hielt ebendamals die Zeit 
für gefommen, um feine Philofophie aufs neue 
mwiederherguftellen.. Denn er habe „in fih den 
allgemeinen Geift der Welt, der in den mannig: 
faltigften Formen fih felbjt offenbart und, wo 
er hinfommt, Leben verbreitet.” 

Neue Lebensfeime, die von Leibniz jtammen, 
find auch in der philojophiichen Entwidlung des 
19. Jahrhunderts immer wieder emporgefproßt. 
Leibnizianer waren vor allem Herbart und 


132 Leibnizeng Gegenwartshedeutung. 


Bolzano mit ihren zahlreichen Schülern (unter 
denen 3. B. Robert Zimmermann geradezu von 
einer „MWied-rerwedung Leibnizens” in jener 
Zeit gefprochen hat), dann einige Jahrzehnte 
Ipäter Weiße und Trendelenburg, endlich, wieder 
etwas fpäter, Loge und Wundt, deren erfterer 
bejonders in der Tiefe, deren leßterer befonders 
in der Univerfalität feiner Gedantenwelt an 
Leibniz erinnert. (Weitere Zufammenhänge 
Wundts und Leibniz’ und den von ihm ausge- 
henden deutfchen Idealismus hat fürzlich P. Pe- 
terfen, Wundt und feine Zeit, ©. 285—288, þer- 
ausgearbeitet). 

©o ift es denn tein Wunder, daß aud in der 
jüngften Bcrgangenheit wiederholt an. Leibniz 
angefnüpft worden ift, und zwar gerade von 
führenden Dentern. Schon die Hauptvertreter 
der Marburger Kantſchule haben vielfadh, 3. B. 
mit ihrer Syntheſe von Sinnlichkeit und Ber- 
nunft, Individualität und Univerfalität, über 
Kant auf Leibniz zurüdgegriffen; ich erinnere 
an Cohens Logifierung der Anfchauung und 
Natorps Verſchmelzung der Monadologie mit 
der „allgemeinen Logik“. 
Neukantianern hat Windelband nicht nur Leib- 
nizens Philoſophie Hiftorifch als die allfei- 
tigjte und umfaſſendſte in der ganzen Geiftes- 
geichichte gewürdigt, fondern feine Monadologie 
auch ſelbſt ſyſtematiſch fortgebildet, durch 
Anwendung auf ein neues Gebiet, die Ge— 
ſchichtsphiloſophie (ſ. ſeine Einleitung in die 
Philoſophie, S. 88—92, 343—346). Auch 
Troeltſch hat Leibniz für den „eigentlich führen— 
den deutſchen Denker“ gehalten und iſt nur, bei 
ſ inem eigenen hiſtoriſchen Relativismus, durch 
Leibnizens mathematiſchen Abſolutismus abge— 
halten worden, tiefer auf ihn einzugehen. Da- 
gegen hat Hufierl, der Zertrümmerer des fubjet- 
tiviſtiſchen Piychologismus und Begründer der 
objektiv gültigen Phänomenologie, in feiner 
„reinen Logit” mit bewußter Abficht Leibniziche 
Gedanken zu Ende gedacht und fühlt fih über- 
haupt nach allen Seiten hin als Erfüller Leib: 
niafcher Intentionen. Endlich greifen auh unter 
den Metaphylitern der Gegenwart W. Stern 
und H. Driefch vielfady auf Leibnizens organo- 
logifches Weltbild zurüd. Kurz, überall fieht 
man die unvertennbaren Anzeichen einer be- 
ginnenden Leibniz-Renaifjance. 

II. 

Aber — fo fragt vielleicht mander natur- 
wilfenfchaftlidy orientierte Leſer — ift denn eine 
ſolche Erneuerung der Leibnizichen Philoſophie 
heute, nad) den ungeheuren Fortfchritten der 
craften MWelterfenntnis und befonders nad) den 


Unter den Badener 


ummälgenden Entdedungen der legten Jahr- 
zehnte überhaupt noch möglih? Allerdings. 
Ja, ich wage zu behaupten, fie ift gerade heute 
überhaupt er ft möglich: denn die prinzipiell bc- 
deutfamjten ortfchritte des 19. Jahrhunderts, 
die Energetit und die Entwidlungs: 
lebre, bat Leibniz für feine Perfon bereits 
150 Jahre eher gemacht als die Allgemeinheit, 
in einigen andern Punkten aber, wo die natur: 
wiflenichaftliden Grundanſchauungen des 19. 
Jahrhunderts zu denen Leibnigens in Gegen- 
ja ftanden und darum auh der Anerkennung 
feiner Philofophie hinderlich waren, hat zu Be: 
ginn des 20. Jahrhunderts Leibniz gefiegt, und 
infolgedeffen wird gerade jet auch feine Philo- 
fophie wieder befonders aftuell. Leibniz hat 
nämlich mit allem Nachdrud gegenüber Newtons 
Lehre vom abfoluten Raum, der abfoluten Zeit 
und Bewegung die Relativität diefer Na- 
turphänomene behauptet und in feiner imma: 
terialijtiichen Metaphyſik grundfäßlich zur Gel: 
tung gebradt. Troßdem ferner gerade er Die 
Kontinuität des Naturgefchehens zum er- 
ten Mal ihrem ganzen Umfange nah erfannt 
und durch die Differential- und Integralrech— 
nung exakt bererhenhbar gemacht hatte, hat er 
daneben doc) auch die relative Berechtigung der 
diskreten Zerlegung des Realen anerkannt. 
Indem er aber hierbei die ftofflichen Atome 
richt als die legten „Unteilbaren“ anſah, fon- 
dern ihrerfeits wieder als „Welten“ noch tiei- 
nerer, nicht ſtofflicher Elemente auffaßte, hat er 
jhon etwas von unferer heutigen Eleftronen: 
und Energiequantentheorie vorausgeahnt, ja 
bereits den hierdurch hervorgetretenen Gegen: 
fat zwifchen kontinuierlich-dynamifcher und dis- 
kretsftatiftifcher Gefegmäßigkeit (wie Pland for- 
muliert) fonthetifch zu überwinden verfucht. Ich 
will diefe vier Punkte etwas näher ausführen, 
da fie erft. wenig, zum Teil noch garnicht be- 
tannt find. 
1: 


Daß Leibniz bereits den modernen Energie: 
begriff und das Gefeß der Erhaltung der Energie 
bef-ffen hat, haben gelegentlich ſchon €. du 
Bois-Reymond (1870) und H. Poincaré (1881) 
behauptet. Aber erft in den legten Jahrzehnten 
ift es allmählich durch Caffirer, Gerland, Haas, 
Wundt u. a. in immer weiterem Umfange er: 
fannt worden, ſodaß Siegel in feiner Geſchichte 
der deutichen Naturphilofophie die moderne Ener: 
geti? geradezu als Neubelebung der Leibnizſchen 
Dynamit hat bezeichnen und darüber hinaus von 
dem „Leibnizichen Beifte” hat Iprechen können. 


—— — — — — 
— kn 


der in der modernen Naturphiloſophie lebendig 
ſei. 

Das ganze 18. Jahrhundert freilich hat hier- 
von noch nichts geahnt; auch in der damaligen 
berühmten SKontroverje zwilchen den Gartefi- 
anern und ZLeibnizianern über das „wahre 
Kräftemaß“ (mv oder mv?) ift die eigentliche 
Abliht Leibnizens völlig verkannt worden. 
d’Alembert und der junge Kant glaubten näm: 
lih den Streit durdy die Unterfcheidung zweier 
Fälle Ichlihten zu können, in deren einem es 
beffer fei, die Kraft mit Descartes durch die „Be: 


mwegungsgröße” zu meffen, in deren anderem ° 


mit Leibniz die „lebendige Kraft“ vorzuziehen 
jei. Für Leibniz dagegen handelt es fih (wie er 
in einer Abhandlung der Acta eruditorium 1690 
susdrüdlich gefagt hat) keineswegs um einen 
„Wortjtreit” darüber, ob man die Kraft fo oder 
je Definieren und meffen folle, fondern um eine 
„fachliche Kontroverfe darüber, was erhalten 
bleibt, die Bewegungsgröße oder vielmehr 
die Quantität der Kräfte in dem Sinne, wie er 
von mir angenommen wird, nämlih propor= 
tional dem Produkt aus Gewicht und Erhebungs- 
höhe“. Leibniz fragt alfo vielmehr danach, wel- 
che exakt beitimmbare Größe ausnahmslos bei 
feinem Naturvorgange verändert wird und daher 
geeignet ift, die gejeßliche Einheit in der Man- 
nigfaltigkeit des Gefchehens evident zu machen. 
Und diefe Streitfrage enticheidet er endgültig 
durch den Nachweis, daB im Falle fih hebender 
und fentender Gewichte nah dem Huygensichen 
Schwerpunttsprinzip und den Galileilchen Fall- 
geſetzen nicht die Bemwegungsgröße fonitant ift, 
freiliġh auh niht die lebendige Kraft (wie 
man ſpäter Leibniz untergeſchoben hat), fon- 
dern die von ihm fogenannte aftive Kraft 
oder potentia agendi, die Fähigkeit Wir- 
tungen hbervorzubringen, die er gang 
richtig als die Summe der lebendigen Kraft und 
der Spanntraft (elastica potentia) oder, wie 
wir jet jagen, der finetifchen und potentiellen 
Energie erfennt. Wie tlar er fih ſchon über die 
hierbei Stattfindende Verwandlung der Bewe— 
gungs- in Lageenergie und umgekehrt war, 
zeigen deutlich feine Vorfchläge zur Walfermäl- 
tigung in den Harzbergwerfen (1678 und 1685) 
mit Hülfe von Windmotoren, die bei günftigen 
Windverhältniffen das Waller in höher ge- 
tegene Baffins pumpen follten, damit in ungün— 
ftigen Seiten die dort aufgejpeicherte Energie 
zum meiteren Treiben der Pumpen verwandt 
werden könnte. 

Auch in der Stoßlehre behauptet Leibniz durd- 
aus nicht, wie man fälfchlicy gemeint hat, die 


_ Leibnigend Gegenwartgbedeutung. 


133 


einzig: und allgemeine Gültigkeit des Huygens- 
ihen Prinzips der Erhaltung der lebendigen 
Kraft, fondern er kennt daneben auh das Ge- 
jeg der Erhaltung der relativen Geſchwindig— 
teiten und das des Fortichritts des Schwer: 
punftes und erklärt ausdrüdlich, daß nur beim 
elaſtiſchen Stoß alle drei Gejege gültig feien, 
beim unelajtifchen Stoß aber allein das legt- 
genannte: Wenn er nun trogdem auch im leb- 
teren Falle an der „unverlegbaren Wahrheit 
des Gefeßes der Erhaltung derjelben Kraft in 
der Welt” feithält, fo tann damit unmöglidh die 
lebendige Kraft gemeint fein, die ja bier nad 
feiner eigenen Erklärung veränderlidy ift, fon- 
dern nur die Gefamtenergie im allumfalfenden 
Sinne, die beim unelaftilchen Stoß wie bci der 
Reibung noch in einer dritten Form zur Cr- 
ihyeinung fommen tann, nämlid als Wärme 
oder Molekularenergie. Jn der Tat fagt Leib- 
nig ganz deutlich, daß hierbei die „totale Kraft”, 
d. h. die Bewegungsenergie der Körper als gan- 
zer, „durch die kleinen, die Maffe zufammen» 
ſetzenden Teile abforbiert” und in „innere Be- 
wegungen” umgefegt fei. „Es ift nur dasfelbe 
wie bei der Umwechslung von großem Geld in 
feines geſchehen.“ Alfo auch die Ummanbdel: 
barkeit der mechanifchen Energie in Wärme hat 
Leibniz als erjter entdedt, wie er fi) auh um: 
getehrt über den Arbeitswert der Wärme, ge: 
legentlich feiner Mitarbeit an der Papinſchen 
Dampfmafchine und feiner eigenen Erfindung 
des Heißluftmotors, völlig tlar geworden ift. 

Aber nicht nur naturwiſſenſchaftlich, fondern 
auch philoſophiſch ift Leibniz durch diefe Cnt- 
dedungen weit über Descartes hinausgekommen. 
Er hat nämlich auf Grund davon die alte paffi- 
viſtiſche Korpustularphilofophie durch die attiv- 
dynamiftifche oder, in unjerer Sprache, die en:r- 
getifche Naturauffaffung erfegt und fo von der 
Phyſik her eine Pforte zur Metaphyfit eröffnet. 
Vis est vera substantia, die tätige Kraft oder 
Energie ift die wahre Wirklichkeit, das Ding an 
fih. Hinter der fcheinbar toten Materie verbirgt 
jih überall eine fchöpferifche Lebendigkeit, eine 
Wirkenstraft, die dem Geifte und bemwußten 
Willen v2rwandt ift, infofern als auth ihr inner: 
fites Weſen das unendliche Streben nach immer 
neuer Tätigkeit ift. In dieſer Hinficht ſteht 
Leibniz volltommen auf dem. Etandpunfte der 
Goethifchen und unferer heutigen W It: und 
Lebensanfiht: „Im Anfang war die Tat.” 
„Die Gottheit ift wirffam im Lebendigen, aber 
nicht im Toten; fie ift im Werdenden und fih 
Gerwandelnden, aber nicht im Gewordenen und 
Eritarrten.” 


134 


„Es foll fih regen, fchaffend handeln, 
Erft fih geitalten, dann verwandeln; 
Pur fcheinbar ftehts Momente ftit. 
Das Emge regt fih fort in allen; 
Denn alles muß in nichts zerfallen, 
Wenn es im Sein beharren will.” 


Und dann gilt auch für den Menjen, den 
„feinen Gott” oder den „Ichaffenden Spiegel” 
der großen Schöpfung (wie ihn Gocthe nad) 
Reibnizens Vorgang nennt): „Nur ratlos be- 
tätigt fi) der Mann.” „Die Tätigkeit ift, was 
den Menſchen glüdlich madıt.” 

„Kannſt du mich mit Genuß betrügen, 

Das fei für mid) der legte Tag! 

Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, 
So ſei es gleich um mich getan!“ 

Oder wie Leibniz immer wiederholt hat: „Die 
Unruhe, die uns tätig macht, iſt für das Glück 
der Kreaturen weſentlich. Denn dies beſtehi 
niemals in einem vollkommenen Beſitz, der ſie 
unempfindlich und ſtumpf machen würde, ſon— 
dern in einem beſtändigen, ununterbrochenen 
Fortſchritt zu größeren Gütern.“ 


In der letzten Aeußerung Leibnizens verbindet 
jih die dynamiſch-energetiſche Weltanſicht mit 
einer andern modernen Aufaſſungsweiſe der 
Welt- und Menſchheitsgeſchichte: der evolutio— 
niſtiſchen. Auch in dieſer Hinſicht hat man Leib— 
nizens wahre Anſicht oft völlig mißverſtanden. 
Zwar iſt altbekannt, daß er die verſchiedenen 
Klaſſen von Weſen, die das Univerſum bilden, 
als ein einziges kontinuierliches Stufenreich be— 
trachtet hat, deſſen einzelne Glieder, Menſchen, 
Tiere, Pflanzen, Foffilien und ſcheinbar lebloſe 
Körper, durch Mittelglieder in ſtetigem Ueber— 
gang miteinander verbunden ſind und ſozuſagen 
eine einzige lückenloſe Kette bilden. Aber es iſt 
immer wieder gemeint worden (niht nur von 
fatholifcher Seite, fondern auch 3. B. von Dilthey, 
der fonft die zentrale Stellung des Fortſchritts— 
gedanfens für Leibnizens Weltanichauung nad): 
. drüdlich hervorgehoben hat), er habe hierbei nur 
die beharrende Stufenfolge der „ormen“ im 
Auge gehabt, die fhon Ariftoteles und die Scho- 
lajtit gefannt hätten, und habe vor der Cnt- 
widlungslehre im heutigen Sinne halt gemadıt. 
In Wahrheit aber hat er nicht nur immer wieder 
von dem unendlichen Fortichritt der Natur- und 
Menjchheitsgefchichte im allgemeinen gejprochen, 
jundern auh im befonderen auf geologijchem 
und paläontologifchem Gebiete die bejtändige 
Umwandlung der Erdoberfläche ſowie der Tier- 
und Pflanzenarten gelehrt, und zwar nicht im 
Sinne der Cuvierſchen Kataftrophentheorie, fon: 


Leibnizene Segenwartsbebeutung. 
dern bereits der ftetigen Leyllichen und Lamard- 


Amerikas und den unfrigen zeigen“. 





ſchen Entwidlungslehre.. Schon in feiner Pro: 
togaea (verfaßt 1691, volljtändig veröffentlicht 
erft 1749 dur” Scheidt) erflärte Leibniz für 
durchaus glaublich, daß die Veränderungen der 
Erdoberfläche „auch die Arten der Tiere meift 
umgeftaltet hätten.” Später maht ihm dann 
die genauere Beichäftigung mit neuen foffilen 
unden vollends zur Gewißheit, Daß „die Arten 
jehr ftar? verändert werden können fomohl durch 
die Länge der Zeiten, wie durch den Abftand der 
Orte, was viele Unterfchiede zwifchen den Tieren 
Jetzt ent: 
Ihied er fih aud für eine Vermutung, die er in 
der Protogaea noh als allzu fühn, der ' Bibel 
wider|prechend und an fih unwahrſcheinlich ab- 
gelehnt hatte, nämlich daß aus den Walfertieren 
der Urzeit, in der noch die Erde größtenteils vom 
Meere bededt war, allmählich mit dem Berlaufen 
der Fluten Amphibien und fchließlid des Waſ— 
fers ganz entwöhnte Landtiere geworden feien. 
Man dürfe keineswegs annehmen, daß alle Welt- 
förper und auf diefen alle Arten von Lebeweſen 
auf einmal gefchaffen feien; ein foldyes Wunder 
er abrupto würde dem Sage vom zureichenden 
Grunde widerfprechen; vielmehr feien die ge- 
genmwärtigen aus den urfprünglichen Gefchöpfen 
erft durch zahlreiche Veränderungen und Prä- 
formationen entfprungen. Ja, in den (bisher 
ungedrudten) Vorarbeiten zur 2. Auflage feiner 
Sugendfchrift über die juriftifche Unterrichts: 
methode formulierte er fogar einmal den ganz 
modernen Gedanken, die Eidographie, d. h. die 
Syſtematik der organischen Formen, könne 
erft durch die Unterfuchung des Urfprungs 
der Arten im Zufammenhange mit der „Ge: 
fhichte der Welt als eines Individuums” zur 
Bolllommenheit gebracht werden. 

Auch diefe naturmilfenfchaftliden Einſichten 
hat Leibniz nicht nur im beichräntten fpeziali- 
jtifchen Sinne gemeint, fondern alsbald auf an- 
dere Seinsregionen ausgedehnt, ja auch ganz all: 
gemein, bei der Ausgeſtaltung feiner philo- 
ſophiſchen Weltanfchauung, verwertet. Die Pro: 
togaea, die Lehre von den „Inkunabeln unferer 
Melt“, war nämlich uriprüngli gedadht als 
Einleitung zu feinen umfangreihen Anna: 
les imperii occidentis Brunsvicenses (ver: 
öffentlicht erft 1843 von Perk), in denen er auf 
Grund forgfältigiter Handjchriften und Urfun: 
denforſchungen die mittelalterliche Gefchichte des 
deutfchen Reiches auf eine neue, wiſſenſchaftlich 
fefte Grundlage zu Stellen ſuchte. Mit diefer in- 
nigen Verbindung der Natur- und Menjchheits- 
geichichte, die hier als ftetig miteinander ver: 


bundene Glieder einer großen, einheitlichen 
Weltentwidlung erfcheinen, nimmt Leibniz [hon 
den philoſophiſchen Grundgedanten von Herders 
Ideen zur Philofophie der Geſchichte der Menfch- 
keit vorweg, die auch die „MWeltgefchichte” nicht 
erft mit der Bildung der Menfchheitsitaaten, 
fondern mit der Entjtehung der Planeten und 
dem allmählichen Aufitieg der organiichen We- 
jen, unferer „älteren Brüder”, beginnt und dann 
erft als höchſtes und leßtes Glied der unend- 
lihen Kette die Gefchichte der verichiedenen Böl- 
fer anſchließt — wobei jedes Glied, obgleich nur 
Zeil des unüberfehlichen Ganzen, doch auch für 
jih ein Ganges, jedes Zweck feiner felbft und 
zugleich Mittel zu höheren Zmweden ift. 

Die teleologifche Entwidlungseinheit der gan- 
zen, die förperliche und die geiftige Wirklichkeit 
umfaffenden Welt gehört fhon zu den Grund- 
ideen der Leibnizſchen Weltanfchauung. Er be- 
geiftert fih mit religiöfem Pathos für den fte- 
tigen, unbegrenzten Tortfchritt nicht nur des 
Menfchengefchlechts, fondern des ganzen Uni- 
verjums dem großen Ziele der göttlichen Welt- 
barmonie entgegen und vertritt einen erhabenen 
tosmifchen Optimismus — freilid) feinen ſeich— 
ten Optimismus der Zufriedenheit mit dem Ge- 
gebenen, aber einen tiefen Optimismus des un- 
endlichen Werdens und Schaffens. „Ich glaube, 
daB die Welt beftändig an Vollkommenheit zu- 
nimmt und nicht etwa eine Kreisbewegung voll- 
führt; denn dann fehlte eine Zwedurfache. Das 
Beharren in demfelben, wenn auh nod fo aus- 
gezeichneten Zuſtande würde nicht Freude, fon- 
dern Langeweile erzeugen. Das Glüd fordert 
einen beftändigen Fortfdritt zu neuen Freuden 
und Vollkommenheiten. Das Univerfum gleicht 
einer Pflanze oder einem Tier, das zur Reife 
jtrebt, nur mit dem Unterfchiede, daß es niemals 
den höchſten Grad der Reife erreicht und auch 
niemals zurüdichreitet oder altert“. „Denn we- 
gen der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums 
bleiben im Abgrunde der Dinge immer nod) 
Ihlummernde Teile übrig, die erwedt und zu 
Größerem und Belferem, mit einem Worte zur 
höheren Kultur erhoben werden follen. Und 
deshalb tann der Tortichritt nie ein Ende 
nehmen”. 

Wie modern Leibniz in diefem Puntte dentt, 
zeigt fi) noch bejonders darin, daß er fih in 
einem ungedrudten Fragmente (das Dilthey 
einmal benugt hat) fogar mit cinem Problem 
auseinanderfeßt, deffen Löfung Wundt vom 
Standpunkt der Gegenwart bei Leibniz vermißt 
und feinerjeits durch die Unterfcheidung der phy- 
ſiſchen Natur, in der das G:feg der Energie- 


I Leibnizens Gegenwartgbedeutung. 


135 











konſtanz gilt, und der Geiſteswelt, in der nach 
dem Prinzip der ſchöpferiſchen Syntheſen oder 
Reſultanten immer neue geiſtige Werte erzeugt 
werden, zu löſen geſucht hat. Jn Wahrheit geht 
Leibniz in diefer Hinficht fogar noh über Wundt 
hinaus, indem er beide Grundjäße, das Geſetz 
der Erhaltung der Energie und das axioma 
perfectionis, in beiden Welten, der phyjifchen 
und piychifchen,, für gültig und miteinander 
verträglich erflärt. Immer und überall erhält 


fi) nah dem genannten Fragmente Ddiefelbe 


Quantität von Aktion und Kraft, nämlich die 
größtmögliche, aber dabei tann doh beftändig 
der Grad der Bolllommenheit wachſen, nämlich 
die Mannigfaltigfeit der Formen und die þar- 
monifche Ordnung der Einzelweſen. Obwohl 
die Menge der Materie und Encrgie konſtant 
bleibt, lernt doh die Welt, indem fie ihre An: 
lagen entfaltet, immer vollftommen ihren Ur- 
heber ausdrüden: denn das Enthaltenfein ift dem 
Entfaltetfein nicht gleichwertig (neque involu- 
tiones evolutionibus aequipollent). 


3. 
Während in den beiden bisher erörterten 


Punkten Leibniz die naturwiſſenſchaftlichen und 


philofophifchen Weberzeugungen des 19. Jahr- 
hunderts vorwegnimmt, erhebt er fih in gwei 
anderen noch darüber zum Standpunft des 20. 
Jahrhunderts. Der fcharffinnige Ariomatifer 
der relativiftifhen Raum-Zeit-Lehre, H. Rei- 
chenbach, hat fürzlich in den Kantjtudien (Bd. 
29, ©. 416 f.) von der hiftorifchen Ungeredtig- 
feit geiprocdhen, daß Nemtons abfolutiftifche 
Lehre von Raum, Zeit und Bemw:gung niht nur 
jahrhundertelang die Anerfennung der viel fort- 
ichrittlicheren, fogar der Kantifchen weit über- 
legenen Leibnizſchen Lehre hintangehalten habe, 
jondern daß die erjtere felbft in der Gegenwart 
noh wieder für die Ausbildung der Einfteinfchen 
Relativitätstheorie, wenn auh nur durch Heraus— 
forderung des Gegenjaßes, von Bedeutung ge- 
worden fei, während Leibnizens Einficht in die 
Relativität der Bewegung, die dem Denten fei- 
ner Zeitgenofjen fo ungeheuer weit vorausgeeilt 
und darum zu feinen Lebzeiten natürlich nicht 
verftanden worden fci, felbjt heute noch völlig 
unbefannt und unwirkſam geblieben fei. 

Um ibm nun endlich „die [huldige Anerken— 
nung nachzutragen“, macht Reichenbach auf eine 
Abhandlung Leibnizens aufmerffam, in der die- 
fer, ganz wie jet Reichenbach felbit, Zeit und 
Raum als etwas Gefundäres, nämlich als das 
bloße Drdnungsichema der primär gegebenen 
faufalen Beziehungen zwiſchen den Dingen defi- 
niert, und gwar zunächſt oie Seifaige als Ord- 


136 


nung der faufalen Abläufe, dann erft, nach Ge- 
mwinnung des ®leichz itigkeitsbegriffs, den Raum 
als Ordnung der Entfernungen des Koegiftie- 
renden. Ferner weift Reichenbah auf den 
Briefwechfel Leibnizens mit dem Nemwtonianer 
Clarke hin, der fih faft wie eine „moderne Dis— 
tuffion über Relativitätstheorie lefe“. Hier 
leugnet Leibniz fonjequent, daß Raum und Beit, 
losgelöft von den Dingen, überhaupt eine Rea: 
lität bejigen; fie feien bloß id:ale Schemata der 
Vernunft für die möglichen Beziehungen 
des Neben- und Nacheinander zwiſchen den allein 
mwirtlihen Dingen, etwa wie ein gene» 
alogifrher Stammbaum off nbar auh feinerlei 
Realität an fich befiße, fondern nur dem Gene- 
alogen als geiltiges Drdnungsichema für die re- 
alen Abftammungszufammenhänge der Indi- 
viduen diene. Darum hat es nach Leibniz aud 
feinen Einn, außer der r lativen Bewegung der 
Körper gegeneinander etwa noh eine abfolute 
Bewegung gegen einen vermeintlicy außer ihnen 
beftehenden abfolut n Raum anzunehmen. Be- 
wegung gibt es nur da, wo eine beobadt- 
bare Xerönderung Stattfindet; da nun die fo- 
genannte abfolute Bewegung durch feine Beob- 
atung fe'ftellbar ift, fo gibt es überhaupt tine 
ſolche. Leibniz bebauptet dies ausdrüdlid) auch 
für die Rotationsbemegung, bei der Clarke mit 
Newton tie Abfolutheit von der NWelativität 


turh das Auftreten der Zentrifugalfraft glaubt. 


vnterfch iden zu können. Reichenbach meint 
. allerdings, Leibniz habe wohl behauptet, 
diefen Cinwand durd eigenartige Anfchauungen 
über die Natur der Körper widerlegen zu können, 
ohne aber die Widerlegung wirklich durd- 
zuführ n, und fei an diefer Etelle von der 
relativiftilchen Kinematif doch wieder zu einer 
abjolutiftiihen Dynamit übergegangen. 

In Wahrheit ift Leibniz aber noh viel mo— 
derner, als Reichenbach erfannt hat. Das ergibt 
jih mit aller Bejtimmtheit (wie ich [yon in m'i- 
ner Echrift über „Leibniz und Goethe”, ©. 39 
und Anm. 66, Erfurt 1924, gezeigt habe) aus 
mehreren Ausführungen im zweiten Teile des 
Specimen dynamicum und der großen Dyna- 
mica de potentia et legibus naturae corporeae, 
der n Beröffentliung Leibniz unterlaſſen þat, 
weil er mit dem erften Teil des Epecimen bei 
ſeinen Zeitgenofien gar fein Berftändnis gefun- 
den hatte, und die deshalb crit 1860 von C. 3. 
Eerhardt getrudt worden find. Hier widerlegt 
Leibniz Newtons Einwand durd die Feſtſtellung, 
dağ die fcheinbar: Fentrifugaltraft nicht nur 
durch die Rotation des betreff nden Körpers, 
jondern ebenfo gut durch die entgegengejeßte Ro- 


Leihnizens Geaenwartebedeufung. 


tation des umgebenden WUethers erklärt werden 
tönne. Er löft alfo die Schwierigkeit ganz ähn- 
(ih wie fpäter Mad, der die Zentrifugalfraft 
relativiftiich als dynnamijche Gravitationswirkung 
der rotierenden Tirfterne deutet — nur daB 
Leibniz, feiner grundfäßlichen Stellungnahme 
entiprechend, eine Nahewirkung ftatt einer Fern- 
wirfung zur Erklärung heranzieht. Aud in dy- 
namijcher Hinficht jteht Leibniz demnad) auf dem 
Standpunkte des Relativitätsprinzips. Ja, er 
ift von deffen univerfeller Geltung fo feft über: 
zeugt, daß er es zur Grundlage der Ableitung 
aller dynamifchen Gefege behauptet maden zu 
fönnen und daß er ferner auch fine Metaphyſik 
damit zu begründen verfudt. Er jchließt näm- 
lih aus der Relativität der Bewegung, daB diefe 


nichts abfolutes, wahrhaft Wirkliches fein könne, 


fondern daB tem phyfifhen Phänomen der 
räumlichen Qageveränd rung in Wahrheit etwas 
Unräumliches, Untörperliches, nämlid) eine piy- 
chiſche oder doch Jeelenähnliche Tätigkeit einer 
Kraftfubftanz zugrunde liegen müffe. Ja, nod) 
mehr. Er findet hierin eine „wunderbare* Be— 
ftätigung feiner bedeutfamen Lehre von ter 
„Benfterlofigkeit“ der Monaden (oder Kraftein- 
heiten), nach der „jedes paffive Verhalten eines 
Dinges in Wahrheit fpontan ift, d. h. aus einer 
inneren Kraft, freilicy bei Gelegenheit einer äu- 
peren, entipringt”. Denn wenn 3. B. ein ver— 
meintlich ruhender Körper durch einen vermeint: 
li bewegten beim Stoß ein Quantum finetifcher 
Energie erhält, jo fann man nad dem Rela: 
tivitätsprinzip mit gleihem Rechte behaupten, 
daB eigentlicd) der erjte bewegt ift und der zweite 
von ihm finetifche Energie empfängt. In Wahr: 
heit aber haben beide Hypothefen nur phäno- 
menale Bedeutung. An fih ift weder der eine, 
noch der andere räumlich bewegt und von 
außen beeinflußt, fondern den ihnen zugrunde- 
liegenden Kraftfubftangen fommen beiden rein 
innere, feelifche Energien zu, jede ift Die voll aus- 
reichende Urſache aller ihrer Lebensprozefle und 
bedarf feines Anftoßes von anderer Eeite — 
ganz wie Goethes „enteledilche Monade“ oder 
individueller „Damon“ fih rein aus fih felbjt 
entwidelt und fein Lebensichidfal voll und ganz 
aus der eigenen „angeborenen Kraft und Gi- 
genheit” vorausbeftimmt. 
4. 

Doch ich will midh jegt nicht zu weit in meta- 
phyſiſche Grörterungen einlaffen, die zu ihrer 
binreihenden Begründung mehr Pla erfordern 
würden, als mir zur Verfügung Steht, fondern 
lieber zu dem zweiten Punkte übergeh 'n, in dem 
Leibnizgens naturmifjenfchaftlihe Einfichten der 


@egenwart bejonders nahe ſtehen: zu feiner 





turauffafjung. Man tennt Leibniz bisher nur 
als den Begründer und fonfequenteiten Ver- 
treter der Gtetigkeitstheorie alles Geins und Ge- 
ichehens, der mit d:r Differential- und Integral: 
rechnung zugleich das wunübertrefflihe mathe- 
matiſche Hülfsmittel zur eraften Berechnung 
der fontinuierliden Naturvorgänge gejchaffen 
habe, und meint daher, die moderne Quantcn- 
theorie zwinge zum Berlaffen der von Leibniz 
eingelchlagenen Bahnen. Aber auh in dieſer 
Hinſicht ijt die Gegenwart noch nicht grundfäß- 
lich (wenn aud natürlich febr viel in der Cingel- 
ertenntnis der Tatfachen) über Leibniz hinaus 
gefommen, fondern fann im Gegenteil vielleicht 
von ihm fogar noh Richtlinien für ihre zufünf: 
tige Weiterentwidlung empfangen. 

Leibniz ift nämlich fein’swegs ein einfeitiger 
Tertreter des Kontinuitätsgedantens, jondern 
ertennt daneben fehr wohl das Recht Diskreter 
Gliederung an. Er leugnet freilich die Realität 
von Atomen, d. h. abfolut unzerl gbaren ma: 
teriellen Elementen, die voneinander durch ab- 
folut leere Zwiſchenräume getrennt wären. Aber 
wie in dem nad) feiner Weberzeugung tonti- 
nuierlich mit Aether erfüllten Raume doch deut- 
lih abgrengbare, alfo relativ diskrete Weltförper 
ſchweben, fo hat es auch ein gewilles Recht, die 
einzelnen Körper aus gefondertin Korpuskeln 
bejtehen zu laffen, zwiſchen denen der Aether 
ftrömt oder — was nach dem Relativitätsprinzip 
auf dasf Ibe hinaustommt — die im Aether 
ſchwimmen. 3. B. führt auch Leibniz felbft die 
Spanntraft des Waſſerdampfes auf einzelne 
Stöße teiner Teilchen zurüd, die aus dem 
Waſſer aufpuffen. Aber freilich), wahre „Atome“ 
find das nicht. Denn jedes folde Teilchen läßt 
fih doh wieder in noch kleinere Elemente ger- 
legen. Es klingt wie eine Borahnung der Clef- 
tronentheorie, wenn Leibniz (in der Jugend⸗ 
fchrift Hypothesis physica nova, 1671) das Licht, 
das von der Gonne ausftrahlt, auf innere Be- 
mwegungen zurüdführt, bei denen gemilje feine 
Bartitelhen „in gerader Linie nach außen ge- 
fchleudert werden” und dann weiter ausführt: 
„Das meifte, was wir im Großen wahrnehmen, 
würde ein Scharffihtiger proportional im Kiei- 
nen wieder finden; wenn dies ohne Ende fo 
weiter geht — was ficher möglich ift, da das 
Kontinuum bis ins Unendliche teilbar ift — fo 
wird fih jedes Atom gemiljermaßen als 
eine Welt von zahlreichen Gebilden heraus» 
ft:lten, und es wird WelteninWeltenbis 
ins Unendliche geben.” 


Leibnizeng Gegenwartsbebeufung. 


137 


Diefe Annahme der Zerlegungsmöglichkeit je- 
Synth fe der kontinuierlichen und diskreten Na- 


des Ganzen in fleinere Teile, aber auch diefer 
Teile wieder in noch kleinere uſw. zeigt, daß 
Leibniz die distrete und kontinuierliche Auf: 
faffung nicht als abfolute Gegenſätze anfieht, 
fondern jede für relativ berechtigt hält. Die ge- 
naue Unterjuchung eines jcheinbar |prunghaft er- 
folgenden Vorgangs ergibt immer, daß es fit, 
etwa bei der plößlichen Bewegungsübertragung 
durch einen Stoß, in Wirklichkeit doch um eine 
allmähliche, nur auf einen kurzen Moment zu: 
jammengedrängte Umwandlung der finetifchen 
Energie des ftoßenden Körpers zuerſt in elaftifche 
Energie und dann in finetifche Energie des ge- 
jtoßenen handel. Um aber die hierbei auf- 
tretende Elaſtizität zu verjtehen, die nad) Leibniz 
auf der Störung der inneren Bewegungen der 
fontinuierlid durch den Körper ſtrömenden 
Metherflüiffigkeit beruht, muß man den Aether 
als aus feiten, distreten Kügelchen von kleinerer 
Größenordnung zufammengefegt betrachten. 
Damit diefe aber elaftiich wirken können, müffen 
fie abermals von einer kontinuierlichen Ylüfligkeit 
durchftrömt fein uſw. So wedjfeln Feſtigkeit 
und Flüffigkeit, Distretheit und Kontinuität pe- 
riodifch miteinander ohne Ende. 

Am nädjften fommt Leibniz der modernen 
Distontinuitätsphyfit an einer ganz unvermu: 
teten Stelle, nämlic in feiner metaphyjifchen 
Monadenlehre. Nach diefer gibt es exakte Kon: 
tınuität überhaupt nicht in der realen Welt der 
eriftierenden Dinge, jondern nur in der id:alen 
Melt der Möglichkeiten, Eſſenzen oder Gedanten: 
dinge. Dementfprechend jchreibt Leibniz, feinen 
Zeitgenoff:n auch in diefer Hinficht weit voraus, 
den Differentialen ebenfalls tein attuelles Da- 
fein zu, fondern hält fie für bloße „nübliche Fit- 
tionen“ gur mathematifchen Rationalifierung 
der räumlich:geitlihen Erſcheinungen, ähnlich 
den imaginären Wurzeln, die man zur Verein: 
fachung algebraifher Rechnungen verwenden 
tann. (Obgleich es „in Wirklichkeit” feine Diffe- 
rentiale gibt, ift es wie Leibniz ausführt, doch 
praktiſch vorteilhaft, fo zu tun, „als ob” es Dife 
ferentiale gäbe; denn den dabei entjtehenden 
Fehler fann man durd „hinreichend“ weit fort- 
geführte Teilung „beliebig“ klein madhen.) Die 
metaphyfifhe Wirklichkeit ift nicht eine tonti- 
nuierliche Einheit, die fih beliebig in eine inde- 
finite Menge von Differentialen zerlegen läßt, 
fondern eine diskrete Vielheit, die tatſächlich aus 
attual unendlich vielen Monaden befteht, die al- 
fo mit Hülfe der Differentialrehnung höchſtens 
angenähert berechenbar ift. Ich glaube Leib— 
nizens Meinung in unferer heutigen Ausdruds- 


138 


weile am beiten zu treffen, wenn ich feine Mo- 


naden, fo weit fie in der phyſiſchen Natur zur 
Erſcheinung tommen, als Diskrete Energie- 
quanten begeichne. Denn das wahre Wefen 
der Dinge an fidh ift ja Kraft, d. b. Energie; 
wenn alfo die Welt nach Leibniz in Wahrheit 
nicht ein Kontinuum, fondern eine diskrete Men- 
ge ift, fo muß fie aus lauter einzelnen Kraft- 
teilchen, d. b. eben aus Energiequanten, zufam= 
mengejeßt fein. Nur handelt es fih für Leib: 
nizens Tpetulative Metaphyfit im Gegenſatze zu 
Plancks experimentell begründeter, theoretifcher 
Phyſik legtlich nicht um eraft meßbare räumlid)- 
zeitliche, fondern um nur innerlid) erlebbare 
jeelifhe Energien. Aber jedenfalls ver- 
tritt Leibniz in feiner Monadenlehre auh die 
diskrete, ftatt der kontinuierlichen Weltanfchau: 
ung, indem er das Univerfum aus abjolut ge- 
jonderten, felbjtändigen, fi) in unverminderter 
Wirtensfähigkeit erhaltenden Individuen befte- 
hen läßt. 

Doch genau bejehen, ergibt fih auch an dieſer 
Stelle fein einfeitiger Sieg der Disfretheit über 
die GStetigfeit. Was Leibniz gibt, ift vielmehr, 
feiner überall hervortretenden Bielfeitigkeit ent- 
iprechend, eine Syntheje der beiden Gegenfäße. 
Denn das reale Univerfum der Monaden ift nach 
ihm doh eine Verwirklichung wenigjtens eines 
Ausichnittes aus dem idealen Univerjum der 
Möglichkeiten, und zwar in der Weile, daß jedes 
Individuum das ganze Univerfum von einem be- 
fonderen Standpunfte widerfpiegelt, etwa wie 
eine ebene perſpektiviſche Projektion einen räum- 
lihen Gegenftand von einem beftimmten Pro- 
jettionszentrum aus darftellt. Da nun das ideale 
Univerfum Kontinuität befißt, jo muß aut je- 
des individuelle Spiegelbild — die Erlebniswelt 
jeder Monade — kontinuierlichen Charakter tra- 
gen. Und da ferner die verjchiedenen möglichen 
Standpunfte fih ftetig aneinanderjchließen, fo 
muß auch die Gefamtheit aller wirklichen Mo- 
naden wenigftens angenähert ein Kontinuum 
bilden, das allerdings, weil nicht alle Möglich: 
feiten verwirklicht find, an manden Stell:n 
durch Lücken unterbrochen wird. Trog der Dis- 
fretheit der realen Einzelwefen fommt alfo in 
Leibnizens Monadenlehre auh die Kontinuität, 
fogar in doppelter Hinficht, zur idealen Geltung. 
Und obwohl die Monadenwelt in Wahrheit eine 
transfinite Menge von aktual unendlich vielen 
CEnergiequanten ift, fo läßt fie fih doch mit hin- 
reichender Genauigfeit auh als eine indefinite 
Unendlichkeit von Differentialen der (unendlich 
großen) Weltenergie auffallen. 


Leibnizens Gegenwartsbedeutung 


Dieſe Leibnizſchen Spekulationen ſcheinen mir 
ein gewiſſes aktuelles Intereſſe für die gegen— 
wärtige Phyſik zu haben. Es haben nämlich 
kürzlich einige Vertreter der modernen Diston- 
tinuitätsphyſik (wie Schottky, Nernſt, auh Weyl) 
eine radikale Umſturzbewegung gegen die bis— 
her unumſchränkte Herrſchaft der ſtetigen dy— 
namiſchen Naturgeſetze anzuſtellen verſucht, wäh⸗ 
rend es vielmehr wünſchenswert iſt, durch ge— 
ſunde Reformen das Neue mit dem guten Alten 
ſynthetiſch zu vereinigen. Und eben für eine 
ſolche Syntheſe kann Leibniz als ideales Vorbild 
dienen. — Es handelt ſich in der gegenwärtigen 
Phyſik um folgendes Problem. Wenn das ein— 
heitliche Weltkontinuum ſich nach der kinetiſchen 
Gastheorie, der Elektronen- und Quantentheorie 
in lauter ſelbſtändige Individuen auflöft, in 
Mückenſchwärme rudweile fliegender Basmole: 
tüle und diefe wieder in Planetenſyſteme krei— 
jender Elektronen, die portionsweife Energie- 
quanten ausjdleudern, dann fcheint cine erafte 
Berechnung der Natur durch ftetige Funktionen 
überhaupt nicht mehr möglich zu fein, fondern 
es gibt in Wirklichkeit nur typiſche Durchfchnitts- 
regelmäßigfeiten oder ftatiftifche Wahrjcheinlich- 
teiten für große Zahlen von Eingelvorgängen, 
ähnlich wie in der Moralitatiftit der freien 
menſchlichen MWillenshandlungen. Es ſcheint 
alſo, als wenn an die Stelle der bisherigen dy— 
namiſchen Geſetze der kontinuierlichen Natur 
bloße ſtatiſtiſche Regelmäßigkeiten für zahlreiche 
disfrete Individuen oder individuelle Vorgänge 
treten müßten. Dagegen hat aber bereits Pland, 
und mir fcheint mit vollem Rechte, darauf hin- 
gewiefen, daß folche ftatiftiichen Geſetzmäßigkei— 
ten nur für eine beftimmte flafle von Na: 
turvorgängen in Betracht fämen, nämlich für 
die fog. irrevarlibeln Prozeſſe, während 
die rejervibeln Prozefje auch gegenwärtig nod 
durchaus durch kontinuierliche dynamiſche Geſetz⸗ 
mäßigfeiten erflärt werden müßten. Und auh 
bei den erfteren fei ihre (gegenwärtig allein mög- 
liche) wahrſcheinlichkcitstheoretiſche Erklärung 
aus den Durchichnitts: oder Mittelmerten großer 
Zahlen von Einzelvorgängen lediglich als vor- 
läufige Annäherung anzufehen; es bleibe eine, 
wenn auch vielleicht unendliche, Aufgabe der Zu: 
funft, diefe Gefamtvorgänge eraft aus den dy- 
namifchen Gefeßen der darin enthaltenen Elfe: 
mentarprozeffe abzuleiten; bei den ſtatiſtiſchen 
Regelmäßigfeiten endgültig ftehen zu bleiben, 
fei ſchon deshalb ausgefchloffen, weil das Be- 
Stehen von Wahrfcheinlichkeitsgefegen im Matro: 
fosmos unmeigerlich die ültigfeit dynamiſcher 


Die Welt der Pfahlbauten. 


Geſetzmäßigkeiten für die allerfeinften Mitros 
fosmen vorausfeße. 

Genau in der Richtung diejer Planckſchen Aus» 
führungen fcheinen mir auh Leibnizens Gedan- 
fengänge zur Synthefe der kontiunierlichen und 
distreten MWirklichkeitstheorie zu laufen. Auch 
er betrachtet jede diskret-ftatiftifche Zergliederung 
d.r Realität in endliche Atome oder Quanten 
als eine bloß vorläufige Annäherung an die 
endgültige Wahrheit, während für die „aller: 
feinften Mitrofosmen”, die Monaden, eratte 
fontinuierliche Gefeße gelten — genau fo gut, 
wie für die ideale Welt der Gedantendinge, de- 
ren Spiegelbilder fie find. Allerdings zwingt 
die Konfequenz feiner Gedanten ihn, dabei noch 
einen Schritt weiter als Pland zu gehen. Zu: 
nächſt darf man die Zerlegung der Materie in 


Diskrete Moleküle, die durch abfolut materiefreie 


Räume getrennt find, und der Bewegung in ein- 
zelne Nude, die durch Ruhezuftände getrennt 
find, niht als endgültig anfehen, fondern an Die 
Stelle radialer Sprünge mülfen immer allmäh- 
fie Uebergänge gelegt werden, jede Ede ift, 
genauer befehen, fein abgerundet, und jede „Be: 
wegung ift am Anfang und Ende Tchmwächer.” 
Aber auh die vermeintlich unvermittelte Emif- 
fion cines diskreten Cleftrons oder Energie— 
Guantums darf man noh nicht als legten Cle- 
mentarvorgang anfehen, fondern muß ihn aber- 
mals in eine, wieder um einen Grad kontinu— 
ierlihere, allmählid an- und abfchwellende 
Emiffion noch kleinerer Partikelchen oder Quänt- 
chen auflöfen. Leibniz würde auch die Elemente 
der heutigen Kleftronen- und Quantentheorie 
noh nicht als die abfolut legten Wirklichkeit 
atome gelten laffen, fondern auch fie wieder als 
Welten noch Bleinerer Elemente auffaffen. Je 
weiter man aber in der Zerlegung fortichreitet, 
dDeito feiner wird die Annäherung an die exakte 
Wahrheit: die ideale Kontinuität einer transfinit 
unendlichen Menge von Monaden, in der die 
beiden Ertreme: vollendete distrete Zerlegung 


Nie Welt der Pfahlbauten. 


Der Winter des Jahres 1853/54 war im Gebiete der 
Yipen fo falt und troden, daß fih ſelbſt die Greiſe eines 
ähnlichen nicht entfinnen fonnten. Die Quellen im Ge- 
birge froren ein, die Zuflüffe verfiegten, und die See- 
{pegel drunten im Tale ſanken fo jtart, daß weithin 
alter Seeboden zutage trat und am Stein von Stäfa 
am ſchönen Züridyer See die Waffergrenze noh um 
einen Fuß unter dem bisher tiefiten Pegelitrid von 
1674 ftand. Schiffer und Mühlenbejiter hatten das 
Nachſehen und mußten wohl oder übel feiem. Die 


139 


und volltommener fontinuierlier Zufammen- 
hang, fih aufs innigfte berühren. In diefem 
idealen Grenzpunkte, der freilich von der phy- 


ſikaliſchen Wiſſenſchaft praktiſch nie endgültig er- 


reicht werden fann, würden dann aud die dis- 
fret-ftatiftifhe und die kontinuierlichdynamiſche 
Gefegmäßigkeit nit mehr im Gegenſatze zu: 
einander ftehen, fondern nur verſchiedene Auf: 
fajfungsmeifen derjelben wahren Wirklichkeit be- 
deuten, und fo wäre beiden ihr gutes, wenn auch 
begrenztes, Recht zuerkannt. | 
In diefen Leibniz'ſchen Gedankengängen ftedt 
gewiß noch viel Problematifches, vor allem durd 
die Bezugnahme auf das fo unendlich ver- 
mworrene und verwirrende „Labyrinth des Kon- 
tinuums“, mit dem Leibniz fih lebenslang 
immer wieder gemüht hat, ohne zum lebten 
Ziele zu fommen. Aber auch wir haben ja den 
rettenden Ausweg aus dieſem Labyrinth nod 
immer nicht gefunden, troß unferer modernen 
transfiniten Mengenlehre, die uns durch die be- 
fannten PBaradorien von Ruſſell, Burali-Forti 
und Rihard nur in neue Schwierigkeiten ge- 
ftürzt hat. (Klingt es übrigens nicht wie eine 
Vorausnahme diefer Paradorien, wenn Leibniz 
gelegentlich einer Erörterung über den Wert der 
Quotienten 0 durch OO oder nidyts durch alle 
einmal erflärt: „Das alle, genommen als Die 
größte Zahl, ift ein widerfprudspvoller 
Begriffe”?) Jedenfalls glaube ich gezeigt zu ha— 
ben, daß die Problematik der Leibniz'ſchen Natur: 
wilfenfchaft der Problematit der gegenwärtigen 
Phyfit eng verwandt ift und darum noch ganz 
aktuelles Intereſſe befigt. Und damit fcheint 
mir auch meine weitere Behauptung fchon zum 
guten Teile erwiejen zu fein, daß die mit diefen 
naturwilfenfchaftlichen Theorien eng verflochtene 
Leibniz fhe Philofophie und MWeltanfchauung 
gleichfalls noch jet, ja vielmehr gerade jet erft 
recht, zu neuem Leben erwedt werden tann. 


(Schluß folgt.) 








Bon Dr. K. 9. Wels. 


Uferanwohner dagegen madten aus der Not eine 
Tugend und gingen fdmurjtrads ans Werk, das einmal 
freigegebene Land mit Beſchlag zu belegen und gegen 
ein erneutes Ueberfluten beim Steigen des Waffers zu 
fihern. In Eile wurden Ufermauern errichtet und das 
dahinter befindliche Gelände mit Geeletten, den man 
dem davor liegenden Seeboden entnahm, bis zur Ufer- 
höhe aufgefchütte. Dabei madte man am Dftteil des 
Züricher Sees, an einer kleinen Bud zwiichen Ober- 
meilen und Doliton füdlid) der Straße nad) Rapperſch— 


140 





wyl einen merkwürdigen Fund. Bei der Abtragung des 
jet trodenen Seebodens, deffen Material Hinter der 
neuen Ufermauer aufgejchüttet werden follte, legten die 


Arbeiter ein beträchtliches Stüd vom alten Ufer ent- 


fernt zahlreide Pfähle frei, die im Boden ftedten. 
Zwiſchen ihnen entdedte man ganze Haufen von 
Scherben, Hirſchgeweihen, Steingeräten uſw. Man 308 
den Lehrer von Dbermeilen zu Rate, der alsbald von 
dem Befund Mitteilung an die Züricher „Antiquarifche 
Geſellſchaft· madte und dadurd die willenfchaftliche 
Unterfudung dieſer Stelle veranlaßte. Die Schrift, die 
der Forſchungsleiter Ferdinand Keller noh 1854 über 
die „keltiſchen Pfahlbauten in den Schweizer Seen” ver- 
öffentlichte, lenkte zum erftenmal die Blide der ftaumen- 
den Gelehrten auf diefe jo eigenartige Siedlungsform, 
die, wie jhon damals der Berfafler nachweiſen konnte, 
feineswegs die einzige ihrer Art war. Man entjann fih 
jest älterer Fundftellen, die der von Obermeilen völlig 
gliden, man ging nun auf eine förmlide Jagd nad) 
neuen Pfahlbauten. Ueberall, wo die Finder von 
Pfählen im Seegrunde zu berichten wußten, die ihnen 
fo oft ihre Nege zerriffen und die man bei flarer Flut 
wohl gar jehen fonnte, oder wo der Volksmund von 
Ueberreften alter Zeuchttürme aus der Römerzeit fabelte, 
jpürte man nad, und die neuen Funde, fo gleich der 
vom Bieler See, übertrafen den Dbermeilener nod be- 
trächtlich an Neichhaltigkeit und Pracht der Fundftüde. 
Die Zahl der heute befannten Pfahlbauftationen ift er: 
ftaunlih gewachſen, und noch immer werden neue Ent- 
defungen gemadt. Ueber 200 Hat Die Schweiz geliefert, 
etwa 44 allein der Bodenjee umjpült. Dejterreid), 
Frankreich und Italien ftellen ein mehr oder weniger 
ſtattliches Kontingent, und felbjt bis nad) dem hohen 
Norden laffen fih vereinzelt Pfahlfiedlungen nachweiſen. 
Ja diefe merfwürdige Siedlungsform zieht fi jogar 
durch die geichichtlihen Zeiten bis in die Gegenwart 
hinein. Ein Flachrelief von Theben in Aegypten aus 
dem 7. Jahrhundert v. Chr. zeigt uns eine Pfahlhütte 
vom oberen Nil oder vom Roten Meere. Herodot, der 
Bater der griechiſchen Geichichtsichreibung (um 450 v. 
Ehr.), gibt uns eine anfchaulidhe Schilderung der Pfahl: 
dörfer der thrafifchen Päonier im Prafiasjee. Vergeblich 
mühen fih die Griechen ab, die Waſſerfeſten zu be- 
zwingen. „Mitten im See ftehen auf hohen Pfählen 
3ujammengefügte Gerüfte, zu denen vom Lande nur 
eine einzige Brüde führt. In alten Zeiten richteten 
die Bürger die Pfähle unter den Gerüften gemeinfam 
auf. Später aber beitimmte ein Geſetz, daß für jede 
yrau, die einer heiratet, von ihm drei Pfähle aus dem 
Drbelosgebirge geholt und untergeitellt werden müjlen; 
fie nahmen aber jeder eine ganze Anzahl Frauen. Auf 
dem Gerüft hat nun jeder feine Wohnftätte und eine 
Yalltür, die auf den See geht. Die kleinen Kinder bindet 
man mit einem Fuß an einen Gtrid, damit fie nicht her: 
unterrollen. Pferde ımd Laftvieh befommen Fiſche als 
Butter (!). Davon haben fie jo viel, daß fie nur einen 
leeren Korb an einem Seil in den See 3u laffen 
brauchen, um ihn nad) kurzer Zeit ihon bis zum Rande 
voller File Hinaufzuziehen (!).“ Auch die Dater, die 
Kaifer Trajan befiegte, fannten Pfahlbauten, wie uns 
die Trajansjäule in Rom bildlidy zeigt. Ravenna und 
Benedig find aus Pfahlanlagen hervorgegangen. Nod 


Beute find bei vielen einfahen Völkern Pfahlfiedlungen 
anzutreffen. Man tennt ganze Dörfer diefer Art von 
Samoa, den Philippinen, von Neuguinea, von Malalta, 
vom Kongo, Orinoto u. a. 

Die Mertwürdigkeit diefer Siedlungsform, gegen 
deren Zwedmäßigteit ſich gewiß mandperlei einwenden 
läßt, — man lefe die humoriſtiſche Pfahlbaugeſchichte in 
Theodor Bilhers „Auch Einer“ — drängt die Frage 
auf, welde Gründe die Menſchen von der früheiten 
Vorzeit bis zur Gegenwart veranfaßten, ihre Häufer ge- 
rade jo anzulegen. Aus dem angeführten Bericht 
Herodots wie aus der Darftellung an der Trajansfäule 
geht deutlich hervor, daß das Schußbedürfnis die Men- 
ſchen oft zum Pfahlbau führte. Es ift alfo der gleiche 
Grund, der die Wenden dazu anreg’e, ihre Dörfer 
mitten in die Sümpfe hineinzufegen. Die Pfahlfiedlung 
ift alfo als MWafferfefte, als Pfahlburg gedacht. Dak 
diefer Grund für die Pfahlbaumenſchen der bewegieren 
jüngeren Zeiten der Vorgeichichte in der Tat maßgebend 
war, läßt fi oft genug unzweideutig an den Funden 
nachweiſen. Das berühmte Pfahldorf von Robenhau- 
jen, das zweimal Heruntergebrannt ift, war ganz offen- 
fihtlih eine folde Burg, die fogar noh durd eine 
Lendbefeltigung, den fogenannten Himmerich, gewiſſer⸗ 
maben ein Außenwerk, geihübt war. Auch anderwärts 
laffen fi) derartige Anlagen und Gteinwälle, oft deut- 
lihe Brüdentöpfe, ertennen. Dieje Erklärung leuch— 
tet aljo durchaus ein. Wie fonnte man fih beffer ge- 
gen einen feindlichen Ueberfall ſchützen als in emer 
Wafferburg? Mochte der Gegner fie auh, was da- 
mals faum vorgefommen fein dürfte, monatelang be- 
lagern, jo gebrah es doh niemals an Trintwaffer und 
Nahrungsmitteln; denn beides bot der See in Fülle. 
Und niemals war der Abihluß von der Außenwelt 
ein völliger; auf leihten Kähnen konnte man das Dorf 
jederzeit ungehindert verlaffen und wieder anlaufen. 
Da Winterfeldzüge im Altertum, ja bis in die Neuzeit 
hinein jo gut wie undurdführdar waren, war der 
Pfahlbau in der Tat nahezu unangreifbar, wenn er 
außer Pfeilfhußnähe lag. 

Aber diefer Grund kommt für die älteften Zeiten 
der Pfahlbauten nit ernftlih m Frage. Im den An- 
fangstagen diefer Giedlungsform, in der die Bevöl- 
ferungsdichte noh verhältnismäßig gering war und die 
menſchlichen Wohnſtätten noch recht getrennt lagen, in 
der mindeltens gerade im Alpengebiet die Zugangs- 
Idywierigfeiten infolge der Unmwegjamteit des Gebirges 
und der Dichtigkeit der Wälder noch ziemlich erheblich 
porzuftellen find, tann das Schußbedürfnis niht aus- 
Thlaggebend für die Pfahlanfiedlung geweien fein. 
Wir müffen aljo nad) einer andren Urſache ſuchen und 
finden fie in der Natur des damaligen Landichaftsbildes. 
Bis hart an die Seeufer reihte der Urwald heran. 
Dem gegenüber war der Menſch mit feinen unzuläng: 
lihen Geräten madjtlos. In der Ebene baute man 
ji an, wo die Heide den Wald niedergerungen hatte. 
Sich durch Rodimgen Pla zu ſchaffen, war nom 
niht möglid und befannt. Im Gebirge kämpften 
dic Seen gegen den Wald und bildeten jma- 
ragdgrüne MWafferoafen in den Baummüften. Hier 
jtellten aljo die ſchmalen Seeſchlickſtreifen an den Ufer- 
rändern der Seen und Flüſſe das geſuchte Freiland. 


Die Welt der _Pfahlbaufen. 


Hygieniſche Bedenfen werden dem Steinzeitler unbe: 
fannt geweien fein, da er, wo es anders nicht möglid) 
war, auh ins Moor hinein baute. Entſcheidend war 
für ihn allein die Trage der Nahrungsbeſchaffung, und 
diefe wurde hier in außerordentlihd günftiger Weile 
gelöft. Der nahe Wald bot feinen Wildbeitand, der 
täglich zum See hinab wedjlelte. Diefer lieferte reiche 
Fiſchbeute. Diefes glüdlide Zujammentreffen gab den 
Ausſchlag: nit auf der Höhe, wo fpäter auf faftiger 
Weide fein Vieh graft, fondern unien am Uferrande 
baut er feine Hütten auf, und zwar, wie wir heute 
wijfen, nit oder wenigſtens zumeiſt nicht in den See 
hinein, jondern auf deffen Sandſtrand. Die Erfahrungen 
lehrten ihn aber, daß der See in Hochwafferzeiten, 
bejonders zur Frühlingsſchneeſchmelze und zur Herbit- 
regenzeit, auch diefen Strand überflutete.e Dadurch 
war die Giedlungsform bedingt. Wollte der Bauer 
kin Hab und Gut nicht fortwährend der Waffersgefahr 
p:eisgeben, dann mußte er fein Haus über den Hödjit- 
waſſerſtand hinausrüden. Das geihah eben in der 
Weile, daß er es auf einen entiprecdhend hohen Pfahl: 
roft jete. 

Die Schweizer Forſchungsreiſenden Paul und Frig 
Saraſin haben auf Grund von Beobachtungen und Er: 
fundigungen bei den Pfahlbauleuten auf Celebes noch 
einen weiteren Grund ins Treffen geführt. Nach der 
eigenen Ausſage der Eingeborenen feien diefe aus 
hygieniſchen Gründen zur Pfahlfiedlung übergegangen. 
Die Anhäufung von Abfällen und Unrat in der Nähe 
der Wohnjtätten, der dadurch entitehende Geſtank und 
die Seuchengefahr habe fie. veranlaßt, ihre Häuſer jo 
arzulegen, daß die wegipülende Flut die Aufgaben 
emer modernen Kanalifation erfüllt. Für die älteften 
Piahlbauten fommt jedoch dieje Urſache niht in Frage, 
dı fie einen großen Teil des Jahres, und zwar gerade 
den warmen, vollitändig troden lagen. Anders ſchon 
ijt es bei den bronzezeitlihden Pfahldörfern.. Wir ma- 
den in den Alpen die merfwürdige Beobadtung, dah 
die Steinzeitbauten gewöhnlich unmittelbar am Ufer- 
rende errichtet find. Die Bronzexitdörfer dagegen 
treffen wir erft ein erhebliches Stüd feeeinwärts, oft 
bis 200 Meter und mehr. Der Yortichritt der Technik 
genügt nit zur Erflärung dieſer merkwürdigen Cr- 
jyeinung; denn fie wird taum ausgereicht haben, Pfähle 
von 6 bis 8 Metern Länge in den Eeegrund zu ram: 
men. Eine Aenderung in den Lebensbedingungen 
aber ift feit der Steinzeit nicht erfolgt; der Menſch 
lebt au jekt als Bauer, der nebenbei feinen Nah- 
rungsbedarf durch Jagd und Fiſchfang ergänzt und ab- 
wechſe lungsreicher gejtaltet. Bedenten wir, daß die 
Entitehung diefer Bronzepfahlbauten in die Seiten der 
größten nadeiszeitliden Trodenheit fällt, in Perioden 
aljo mit tiefitem Waflerjtande der Alpenfeen, jo wer: 
den wir nid fehlichließen, wenn wir in der Nähe die: 
jer Pfahlbauten den damaligen Uferrand fuchen. 

Merkwürdig ift freilich), weshalb man nit auf dem 
dımals dodh ausreichend breiten Strande bleibt. Ent: 
ſchied bei den Steinzeitlern der Plaßmangel zuguniten 
der Piahffiedlung, jo müffen bei den Bronzezeitlern 
run wirklich das Schugbedürfnis und vielleidt aud 
hygieniſche Erwägungen mitgeiproden haben. Die 
Welt war belebter, unruhiger, kriegerifher geworden, 


der Befig eines Bronzedorjes verlohnte fchon einen 
Heberfall. In der Tat laffen uns jene Zeiten mander- 
lei Bölferbemegungen erſchließen. So ſicher wir alfo 
in gewöhnliden Zeiten čen fteinzeitlihen Pfahlbau 
auf dem Lande zu juchen haben, fo wahrſcheinlich wer- 
den wir den bronzezeitliden von Waller umfpült den- 
fen müffen. War jener redt eigentlich Wohnftätte, 
je wird dieſer mehr zur Tliehburg, neben der man 
noh Landfiedelungen befißt, die für gewöhnlich be- 
nußt werden. 

Das Intereſſe weiteſter Kreife an den Pfahlbau- 
forſchungen und ihren Ergebniffen beruht nicht zum 
wenigiten in einer gemwiflen Romantif, die diefe Al- 
penjeedörfer umgibt. Freilich Hat die moderne For: 
[hung mandes davon zeritört; aber es bleibt nod 
immer genug übrig, und die landläufigen Bilder und die 
vielbewunderten Modelle von Pfahldörfern in den ſüd— 
deutſch-ſchweizeriſchen Mufeen haben ihn noch völlig 
bewahrt. Die befondere Bedeutung der Pfahlbauten 
für die Forſchung dagegen liegt einmal in der vorzüg: 
lidhen Ronfervierung aud) der vergänglichen Kulturrefte, 
dann aber in der Lüdenlofigleit der Kulturentwidlung 
eines beitimmten Zeitabſchnittes. Der Schlammboden 
hat zwar fritiflos, aber getreulid” alles aufbewahrt, 
was menſchliche Abficht oder Zufall ihm zugeführt ba- 
ben, Wertvolles wie auh Abfall. Wenn, was nid 
ganz felten eintrat, ein ganzes Dorf vom feuer ver- 
zehrt wurde und dann größere Teile mit Hab und Gut 
in die Tiefe janfen, dann jpülte der See fehr bald jei 
nen Schlid darüber und bewahrte es jowohl vor beute- 
gierigen Teindesbliden wie vor lüſternen Sammler- 
augen. Wie viel reichhaltiger ift demnad das See- 
grundarchiv als Grab und GSiedlungsitätte im Binnen- 
lande. Dieje, wenn fie nicht freiwillig geräumt und 
daher ihres beiten Inventars beraubt ift, ift ihon oft 
genug von älteren, jenes von jüngeren Raubgräbern 
heimgejucht worden. Einen Uebelſtand jedoch Hat die 
Pfahlbauhinterlaſſenſchaft im Gegenjat zu den Grab- 
funden: ibr Kulturbild ift an ſich flächenhaft und ent- 
behrt der Perſpektive. Dahrzehnte, ja vielleicht Jahr— 
hımderte Hindurdy find Kulturgüter und -abfälle in den 
Schlammboden gejunfen, Altes ruht friedli neben 
Neuem. Das Grab mit feinem Inhalt dagegen gibt 
einen zeitlid) mehr oder weniger begrenzten Ausfchnitt 
cus der Vorzeitkultur, freili” auh dem Umfange und 
der Auswahl nad) einen Abfchnitt, da man dem Toten 
eben nur das mitgab, woran im Leben fein Herz 
þing oder was man für wertvoll oder zwedmäßig hielt. 
Da wir nun aber die typologiſchen und «hronologifchen 
Ergebniffe der Gräberforfhung als Maßitab an die 
Hinterlaffenfchaft der Pfahlbauinventare anlegen tön- 
nen, find wir aud hier in der Lage, in das dadurd 
entitehende Flächenbild die zeitliche Tiefe hineinzutragen. 

Was aus dem trodenen Seegrunde an bauliden 
Reften emporragte, mochte dem fernitehenden Beob: 
achter dürftig genug vorfommen und faum der Bead- 
tung wert erjdeinen. Was dagegen aus der Kultur- 
Ihiht der Pfahlbauten in die Mufeen gerettet und dort 
mwohlgeordnet aufgebaut worden ift, nötigt jedem Be- 
ſucher einige QAufmerfjamfeit ab und gewinnt Leben 
und Sprade, wenn man fid eingehender damit beſchäf 
tigt. Wer die Scriftzüge diefer Urkunden zu deuien 


142 


verfteht, für den jteht das Pfahldorf wieder volljtändig 


da am knirſchenden Strande oder im feichten bläntern- 
den Waller der Ulpenfeen, umgeben von der gemal- 
tigen Bergwelt, deren ſchneeige Greiſenhäupter fo 
greifbar nahe und doch jo fern herniedergrüßen, um: 
rahmt von dunklen Wäldern, weltverloren und doch 
vom PBulsichlag 
fhaffenden Lebens 
durchklopft, von 
dem uns bis in 
das Alltägliche, 
Allzualltäglide die 
Funde Kundihaft 
geben. Da ilt’s 
dem Künftler nicht 
ſchwer, bildlich) oder 
plaſtiſch ferne Ur- 
zeiten uns wieder 
vor Augen zu 
rüden, und es 
gehört für uns 
nicht zu große 
Phantafie dazu, um 
uns ſelbſt Jahr- 
taufende zurückzu⸗ 
verfeben und im 
Geifte jene Ber- 
gangenheit mitzuer- 
leben. Tun wir’s 
getroft einmal! 

Nach mühjeliger 
Wanderung auf 
wenig geebneten 
- Pfaden blinft end: 
lich der See, der 
unfer Ziel ift, vor 
uns auf. Wed 
traulidyes Bild 
nad) der betlem- 
menden Urmwaldein- 
famteit. Wir über: 
Eliden aus geringer 
Höhe die jpiegel: 
blante Waflerfläche, 
on deren Rändern 
ſich mehrere Pfahl- 
dörfer Hinziehen. 
Auh am Strande 
ſelbſt bemerfen 
wir leihte Hütten, 
dahinter ſchmale 
Felder mit Getreide, gerade vor uns auf fattgrünem 
MWiefenplan eine Viehherde. Der fie hütende teine 
Spit, deffen jchafalartiges Aeußere feine Abjtammung 
nch unleugbar verrät, Hat uns fon gewittert und 
Ihlägt Lärm. Er ift ein treuer Warner, aber noh fein 
eigentlißer Wächter. Erit der Bronzewolishumd 
(Canis familiaris matris optimae) war imjtande, den 
Kampf mit dem ſchlimmſten Feinde der Herden, dem 
Wolfe, aufzunehmen, deffen Blut ihm ſelbſt in den 
Adern rollte.e Die braunen Rinder (Bos brachyceros, 
Torfrind oder Kurzhornrind) fallen uns durd ihre 







Detreidearten der 
Pfahlbauten 





Die Welt der Pfahlbauten. 
Bierlichleit und ihre kurzen Hörner auf und Haben 







Betreidemühle von Allensbach 


Oetreidebau und Sammeltätigkeil der Steinzeit - 





merfwürdige Aehnlichkeit mit dem malaiſchen Banteng. 
Auch das „Torfſchwein“, das unter dem Viehbeſtand 
des fteinzeitlihen Pfahlbauern emen wichtigen Plab 
einnimmt, fieht unferen heutigen grunzenden Gaus- 
genoflen dunhaus unähnlid. Man läßt es halbwild 

umberlaufen und 
tennt nod feine 
planmößige Mä- 
ftung. Darum fehlt 
ipm auch trog Ci- 
helmaft die be- 
liebte Leibesfülle, 
in der wir 
jebt den blinzeln- 
den Gefellen zu 
erjtiden ſuchen. 
Wenn uns der 
halbnackte Hüter: 
bub, der gerade zu 
uns tritt, nicht 
fagte, daß das dort 
„Torfſchaſe“ feien, 
wir hätten diefe 
3ierliden Tiere mit 
dem Hirſchköpfchen 
und den aufrechten 
Hörnern wahrhaftig 
für Ziegen gehalten 
und geglaubt, die 
Ertreme der Rule 
tur berührten fi 
in diefem Puntte. 
Wie anders fieht 
fpäter das Brome- 
ſchaf au. Tat- 
ſächlich klet tern 
auch einige „Torf⸗ 
ziegen“ umher, klei⸗ 
ner als unſere 
Hausziege, aber 
ibr im ganzen 
gleidh. Das Pferd 
vermilfen wir ganz, 
ebenfo die Kape. 
Kein Hahnenträhen, 
fein Taubengurren, 
fein Gänje- und 
Enten - Geichnatter 
wedt die Pfahl: 
leute des Morgens. 
Sie ſtehen troßdem mit den Hühnern auf und gehen 
mit ihnen zu Bett. 

Ein freundlicher Führer Hat fih zu uns gefellt und 
weilt voll Stolz auf die Getreidefelder. Wir entfinnen 
uns, in den Schaufäften der Pfahlbaumufeen zahlreiche 
im Torfmoor verfohlte Getreidekörner gefehen zu haben. 
Daß das nur leine Proben waren, hat uns vielleicht 
das Führerbüchlein verraten. Ganze Karrenladungen 
hat man davon 3. B. aus dem Robenhaufener Moor 
gehoben. Die gebräudlichen Getreidearten find nad 
heutiger Auffalfung noch etwas minderwertig; aber {don 





Obst- und Beerenfrüchte 
der Pfahlbauten 









Die Welt der Pfahlbauten. 
finden wir Weizen, Gerjte und Hirſe. 


Die Bronze- 
zeit gewinnt den Hafer Hinzu; der Roggen dagegen 
erreicht dieje Gegend während der Pfahlbauzeit über- 
haupt niht. Auch den Flachs, wie er noh heute als 
Wildpflanze in den Mittelmeergebieten zu finden ift, 
treffen wir hier bereits an. Bohnen und Linjen halten 





* 143 
waſſerzeiten Dorf und Land miteinander verbindet, 
vielleicht, weil es auch hier der gute Ton erheiſcht, daß 
man Gäſte nicht zur Hintertreppe emporleitet, vielleicht 
auh mit Rüdficht auf unfer modernes Salonſchuhzeug, 
das ihm weder für Knüppeldamm noh Moraff jonderlic) 
geeignet erſcheinen mag. Auf fnarrenden Bohlen nä- 


in der Metall: bern wir uns 
periode ihren der Giedlung 
Einzug auf dem und haben Mu- 
Piahlbauader. Be, fie einge: 
Bon der Be- hend 3u prüfen. 
wirtihaftung Welch ein Ge: 
des Bodens wire von Pfäh- 
hen wir im Bogen von Bodman len, auf denen 
Augenblid ge- das Dorf ruft. 
tade nidts. 60 000! nitt 
As uns aber unfer Begleiter 
jpäter unjer | uns gleidh- 
Gaftfreund im mütig zu und 
Dorje durch fein À s Ä empfindet gar- 
Anweſen führt, nicht unſer 
können wir in Staunen über 


einem Mintel 
auh die Ader- 
geräte in Au- 
genſchein neh: 
men. Da ift 
die Hirſchhorn— 
bade mit lan- 
gem Stiel (Fund 
von Scufien- 
ried =» Riedicha: 
den), wie fie 
ähnlich no 
heute in der 
Südfee und im 
Herzen Afrikas 
3u einfachem 
Hadbau ver⸗ 
wandt wird. 
Da ruht auch 
der Holzpflug, 
der, von Men— 
ſchenkraft ge- 
zogen, durch den 
Fuß des Pflü- 
gers in den 
Boden getreten, 


Entwicklungsreihe der Pfeil- 
spilze und ihrer Fassung 


Bodman 


wu 


Bodman Hallmau 
Angelhaien 


Stechhaken von Bodman 














Netzsenier von Unter-Uhldingen 


Pfeilspitzen z } 7 
die Leiſtung, die 
man hier (Bod- 
man) mit dem 
jiġ jo leicht ab- 
nußenden und 
immer neu 3u 
ſchärfenden 
Steinbeile her— 
vorgebracht hat. 
Und darüber die 
zahlloſen Quer— 
balken und Bret- 
ter. Welch eine 
Summe müh— 
ſeligſter Arbeit! 
Wo bleibſt du, 
goldener Traum 
von der guten 
alten Zeit! Un: 
ferm Geleits- 
mann leuchtet 
wohl Tlangjam 
ein, daß er uns 
als ausgemad)- 
ten Landratten 
hier allerlei 





% 


die Scholle auf- Neuigkeiten zei- 
reißt (und von gen und erflä- 
Bodman, voll: JAGD -UND FISCHEREIGERÄTE DER STEINZEIT ren fann. Das 
ftändig aus dem läßt er fi) wm- 
dan. Moor bei gern entgehen. 
Döstrup). Aud jteinerne Haden und Pflugidaren Er erzählt uns, wie die ſchweren Eihenpfähle, droben im 


verwendet man. 

Bir find inzwiſchen am Dorfe angelangt und müſſen 
feititellen, daß dieje „Wafferratten” tatfächlich vollftändig 
auf dem Trodenen figen. Wir fchreiten über feuchten 
tnirſchenden Seefand. Wo der Grund jchlammig ift, 
hat man Bretter und Knüppel gelegt, jo daß wir 
Ziemlich troden Hinüberfommen fönnten. Aber unjer 
Begleiter führt uns doh zum Brüdenftege, der in Hod: 


Walde gefällt und im Sommer herabgeflößt, im Win- 
ter auf Schlittenkufen herunterbefördert, mit mächtigen 
Holzjchlegeln eingerammt werden — freili recht un- 
regelmäßig und ohne Sinn für Symmetrie, wie wir 
Drdnungsmenfhen feititellen müffen. Wo der Boden 
3u hart ift, fihert man den Pfahl durch eine herum- 
geihichtete Steinpadung. Am oberen Ende lät man 
gerne zwei Aſtanſätze in Form von Traggabeln jtehn, 


144 
in denen der Querbaum feft und fiher ruht. (Fund im 
Moordorf Aihbühl bei Schuffenried). Aber auh Holz: 


nëgel und hölzerne Zapfen geben die nötige Feſtigkeit, 
und wo das nod nicht genügte, wird das Baltfeil ver- 
wandt (Fund von Budau:Dullenried), aus dem man 
einen haltbaren Knoten zu fchlingen verfteht. Auf dem 
fo gebildeten Eichenroft laftet nun die Plattform, die 
die Häuſer trägt. Was wir davon nun vor uns fehen, 
— an diejer Stelle wird die Befunddronit der Pfahl: 
bauten leider lückenhaft — erinnert uns an die Moor: 
dörfer, die wir im jekt völlig verſchlammten, einjt 12 
km langen Federſee fanden und die fih wieder mit den 
Anlagen von Niederwil und Robenhaujen deden. Das 
Moor ift ein trefflier Archivar, einer von der Art, 
die nichts wieder herausgibt, was fie einmal mit Be- 
ihlag belegt þat. Langjam ift es über Haus und Hof 
hingekrochen und hat darüber die Alten geichloffen. 
Erſt unjere moderne Spatentechnit hat fie wieder ge- 
öffnet. Was wir dort fanden, gleidyt der Sitte unferer 
ltammverwandten Pfahlbauleute genau. - 

Rechteckig Itehen die Hauswände zu einander, aus 
zmei Meter hohen, 4 bis 5 Zentimeter diden Spalt: 
brettern gebildet, Die man ſenkrecht aufgeltellt hat. Die 
Bauten fönnen an Rauminhalt mit manden neuzeit: 
lihen Siedlungshäufern durdaus in Wettbewerb tre- 
ien; fie mefjen 70 bis 80 Quadratmeter und umfaſſen 
außer dem geräumigen Borplat einen lleineren Ar- 
beitsraum und einen mwohnliden Schlafraum. Die 
Dede wird, wie wir uns fpäter dur den Augenfcein 
überzeugen können, durch Balten gebildet, die im Ab- 
jtande von etwa 60 Zentimetern gelegt find. Darüber 
ragt auf Sparren und Giebelftangen das hohe, an den 
Geiten tief herabhängende Schilfdady empor (Reſte in 
Schuſſenried-Aichbühl und Buchau-Dullenried gefun- 
den). Die Wände find innen und außen mit Lehm 
verfhmiert und dadurch zugleich feuerfiher gemacht. 
Fenſter fehlen; aus der Giebellufe kräuſelt bläulicher 
Herdrauh empor. Sein Tagesliht empfängt bas 
Pfahlbauhaus einzig dur die an der Giebelfeite lie 
gende Tür, auf die unfer Begleiter jebt zufteuert und 
über der uns ein Tierfhädel und ein tönernes 
Mondidol grüßen. 

Der Hausherr ift nicht daheim. Sein Weib treffen 
wir bei der Bereitung des Abendmahls. Leidt — wir 
meinen wohl recht leidt — geſchürzt, läßt fie die ſchwere 
Mahlkugel in gleihförmigem Taft über den Mahltrog 
gleiten, eine mühjelige, zeitraubende Arbeit ums täg- 
lie Brot, das fie in Fladenform auf dem Herde bädt. 
(Hunde von Robenhaujen). Unfer Erſcheinen läßt fie 
zwar innehalten; dodh behält fie ihre fnieende Stellung, 
um jofort die Siigphosarbeit fortzufehen. 

Bom Innern der Hütte jehen wir nicht viel; unfere 
Augen find an ihr Halbdunfel noh nicht gewöhnt, und 
der vom niedrigen Herde auflteigende Qualm hüllt das 
Ganze in fein brennendes Grau Da wir außerdem 
augenjcheinlidy jtören, treten wir lieber auf die Rampe 
zurüd, um den Anblid des Sees zu genießen. Ueber 
Stege und Brüden fchreiten wir zur Außerften Waffer: 
feite des Dorfes, zu der die Wellen noch gerade heran- 
reihen. Seemwärts vor uns in einiger Entfernung erhebt 
fid) ein aus Pfahlwerk und durchgeflochtenem Reifig er- 
itellter Wellenbrecyer, der das Dorf vor dem Anfturm 


Die Welt der Pfahlbauten. 





der Hochfluten ſchützen foll. In der Ferne erfennen wir 
einige Fifþherboote, jene befannten aus einem Eichen: 
ftamm ausgehöhlten ſchwanken Fahrzeuge, rechte See: 
Ienverfäufer, die aber von ihren Befigern mit großer 
Vertigfeit gehandhabt werden. Unſer Auge wird jedod 
porerft durd eine hodende Männergeſtalt abgezogen, 
die den Körper in irgendeiner rhythmiſchen Arbeit taft- 
mäßig bin und her wiegt. Was tut fie wohl? Wir 
tieten näher und bemerten, daß der Mann zwiſchen den 
Knieen ein jauber geichliffenes Gteinbeil feitgeflemmt 
hält, das er zu durdbohren ſucht. Ein kräftiger Röh— 
renknochen, dem das Belentende abgeſchlagen worden ift, 
ſodaß hier eine fcyarfzadige Bohrkrone entſtanden ift, 
dient als Bohrftab. Das obere Ende dreht fih in einem 
etwas ausgehöhlten Widerlager aus Stein, auf den der 
Arbeiter [hwer die Bruſt ftüßt. Um den Bohrjtab ift 
eine Tierfehne gejchlungen, deren Enden an einem Flik: 
bogen befeitigt find. Indem der Mann diejen hin und 
ber zieht, dreht er den Bohrer abwechſelnd rechts umd 
lints herum. Schon hat fi” die Bohrkrone ein be- 
trächtliches Stüd in den Stein hineingefreilen und einen 
Zapfen in der Mitte herausgearbeitet. Die Vollendung 
erheiſcht freilid) noh mandes Stündlein ſchwerer Ar: 
beit. Wird die Mühe Iohnen? Bielleidyt zerfpellt ein 
unfeliger Schlag nachher die Art ſchon beim erften Ge- 
brauch gerade an dieſer ſchwachen Stelle. 

Als wir wieder zum See hinausbliden, jehen wir 
die Bootsflottilie heimfehren. Ein Kahn nad) dem an- 
dern ftößt an die Gußerfte Pfahlreihe an und wird dort 
mit einem Strid angebunden. Die Männer reichen ihre 
Tiihbeute in Körben zur Rampe empor, ziehen ibre 
Neke herauf und hängen fie zum Trodnen auf. Sie 
tragen an der einen Seite die hölzernen Schwimmer, 
an der andern die tönernen Nebienter. Auch Angel: 
gerät wird geborgen. Zum Teil finden wir unfern 
Angelbafen, wenn auh aus Knochen, wieder, daneben 
aber aud fleine beineme, an den Eden geſchärfte 
Beinftäbchen, in deren Mitte, mandymal durd) ein Loch, 
das Ende der Angelſchnur gebunden ift. Wehe dem 
Fiſch, der mit dem lederen Köder fih diefes Querftab- 
dien einbeißt, das er niht wieder ausipeien tann! 
Freilich bemerken wir hier auch Filchereigerät, das un- 
fere jetzige Geſetzgebung verbietet: den Fiſchſpeer und 
den Stechhaken. Hier gilt noh jeder Vorteil; ift doch 
das Leben an fih ſchwer genug. 

Auch unfer Baftfreund ift endlid angelangt. Er 
tehrt von erfolgreiher Vogeljagd zurüd und ſchwingt 
uns grüßend® den großen Bogen entgegen (Fund von 
Bodman). Sein Boot überläßt er feinem “Begleiter 
und leitet uns 3u feinem Haufe, wo unjer inzwilden 
die Ubendmahlzeit barrt: gebadener Ladys, Hirfebrei 
und Brot, ein Stüd Hirfchleule vom Mittag her, als 
Nachtiſch Aepfel von der wilden Art, die uns nicht 
mehr reht mundet, als Getränt Milh und für Gaft 
und Gaftgeber Met. 

Nachdem fi) unjer Auge an die Dämmerung in der 
Hütte gewöhnt hat, können wir nm auch Umſchau hal- 
ten. Die Wände find, foweit fie fihtbar find, fauter 
mit Lehm verpußt und mit einer matten Erdfarbe ge- 
tündt. Der größte Teil ift mit Felen behängt, die 
auh den Boten in ein weiches Politer umgewandelt 
haben. Waffen und Geräte dienen zugleih als Bim- 


Die Welt der PDfahlbauten. 


merihmud. An einem Balten Hängen merfwürdige tul- 
penförmige Tongefäße ohne Standfläde, die typijche 
Pfahlbauferamit, die noh deutlich erfennen läßt, daß 
ihr Borbild der noh heute im Orient übliche Wajler: 
ſchlauch gewejen jein muß. Die Vorväter unjerer Pfahl- 
bauern verwandten als Aufbewahrungsort für Flüſſig— 
teiten den Ho- 
den- oder Ma- 
genjad — von 
Stier oder Schaf. 
Als letter Nad- 
tlang an jene 
Zeit fallen uns 
die zigenartigen 
Warzen auf, die 
jegt an den Ge: 
faßen der um- 
taflenden Hand 
fiheren Halt 
geben jollen. 
Daß man aud) 
ſchon andere 
Gefäße zu for- 
men weiß, be— 
weiſen die vor 
uns am Boden 
ſtehenden fla- 
chen Schüſſeln, 
der bauchige 
Krug und die 
Henkelkanne. die 
an ihrem Ober— 
teil ebenfalls 
mit jenen fenn- 
zeichnenden 
Budelmwarzen 
geziert ift. In 
einer Ede ent- 
deden wir aug- 





Unter-Uhldingen 246 





Bodman ?% 









von der Rechten in fortdauernder Bewegung gehalten, 
derweil die Linte den Faden aus dem Moden zupft. 
Neben ihr hodt der Knecht, einen hübſchen Korb fled- 
tend. Auch wir treten wieder ins Freie hinaus, denn 
noch ift man innerhalb der vier Pfähle nicht eigentlich 
heimiſch, jondern betrachtet fie mehr als jchüßenden 
Notbehelf. Da- 
her jpielt ſich 
das tägliche Le- 
ben auh im 
greien ab. Das 
bemerfen wir 
auh jekt zur 
Abenditunde. 
Ueberall regen 
ſich noch flei— 
ßige Hände. 
Nicht allzu fern 
iſt ein Mann 
damit beſchäf— 
tigt, mit ſeinem 
Druckſtab aus 
Hirſchhorn feine 
Feuerſtein⸗Säge 
zu ſchärfen, und 
dort drüben 
ihwingt eine 
grau die knö— 
herne Nähnadel 
mit dem Faden 
im Oehr, um 
ihrem Ehegatten 
etwas „am 
Zeuge zu flit- 
fen”. Aber 
ichnell verſinkt 
die Sonne þin- 
ter den Bergen, 
fattblau riechen 








Bodman 


Sipplingen 





den Mebftuhl, die Nachtſchat— 
an dem die ten aus den 
Hausfrau den Gründen empor. 
felbitgejponne- ar s r , Ueber dem See 
nen Flachs — * ee wabern die er- 
oder den Woll- * * — zn ten  Abend- 
faden zu feften Sipplingen Bodman Unter-Uhldingen Sippungen nebel. Da it's 
Stoffen ver: * ma niht behaglich 
mwebt. Was man mehr im freien. 


jpäter auf die- 
fem Gebiete zu 
leiſten imitande 
war, das lehren 
die Robenhaufener Funde, die jelbjt ein Fachmann an- 
fongs für moderne „Parifer Pofamentierarbeit“ zu 
halten geneigt war. 

Die Hausfrau Hatte an unferm Mahl niht teilge- 
nommen; das verbietet hier noch die untergeordnete jo: 
ziale Stellung des Weibes. Während wir drinnen nod) 
beim Flackerſchein einiger mit Fett geſpeiſten Ton- 
lämpdyen plaudern, ift fie draußen längjt wieder tätig 
und läßt die vom Wirtel beſchwingte Spindel fchnur: 
ren, die, den Faden drillend, langfam zu Boden fintt, 


STEINZEITIOPFEREI DER BODENSEEPFAHLBAUTEN 


Wir kehren ins 
Haus zurüd, und 
mährend Drau- 
ben der Mond 
in das gejpenitiihe Wallen und Ballen der Nebel: 
ſchwaden leuchtet, plaudern wir drinnen noh lange 
von Leben und Tod, von Gefpenitern, vom 
Medizinmann und WPrieftern, kurz von all dem, 
was das Herz erfüllt und was man doh nur 
mit einer gewillen Scheu andern anzuvertrauen 
wagt. Ob wir jhon zu müde waren zu folden tief- 
finnigen Gejpräden? Nur eine dunkle Erinnerung ift 
uns geblieben von dem Belenntnis der Geelennot un: 
jerer Pfahlbauleute. Kaum aber umfing uns der Schlaf 


— — 


146 


auf weichem Büärenfellpoliter, als uns auh jhon der 
Traum feltjame Bilder vorgautelte: Stummgeheul und 
MWogendrang, Zuſammenbruch des Pfahldorfes, Wieder: 
erjtehen beim dröhnenden Klange goldgleigender Bron- 
3eärte, herrliche Blüte einer neuen Pfahlbaukultur, 
Waffengeflirr und Feuersbrunſt — und dann grabende 
Forſcher, die den feuchten Seeſand durchwühlten und 
jedes Stüd, das aus ihm heraustam, mit prüfendem 
Blid mapen. Und ſchließlich waren wir E ON unter 


entnommen. 


Die Chemie der Nahrungsmittel und ihr Abbau im menfchlihen Körper. 


den Traumgeftalten und ftanden vor den Schränken 
und Vitrinen irgendwo in einem Pfahlbaumwfeum und 
fahen aus ihren Fundftüden das Pfahlbaudorf erftehen, 
das wir ſoeben bejucht Hatten. 

Die Bilderbeigaben diefes Aufſatzes find dem Bude 
„Die Pfahlbauten am Bodenſee“ von Hans Reinert 
(Verlag Dr. Benno Filfer, Stuttgart : Augsburg) 


Die Chemie der der Nahrungsmittel und ‚ihr Abbau im 


menschlichen Körper. Bon Gtudienrat Götze. 


Zur Erhaltung und zum Aufbau des menſchlichen 
Körpers ift eine Zufuhr von Nahrung nötig. Hun- 
ger und Durft regeln die Aufnahme. Da der menid- 
lie Körper fih aus Wafler, Mineralftoffen, Kohle- 
hydraten, Fetten und Eiweiß aufbaut, die ftändig in 
ihm umgeſetzt, aufgebaut oder auch ausgefchieden wer- 
den, fo ift es nötig, daß Erſatz gefchafft wird. Dies 
geichieht durch Aufnahme der Nahrung, die ſich aus den 
verjhiedenen Nahrungs: und Genußmitteln zufammen- 
jet. Die eriteren find für uns unbedingt nötig, wäh: 
rend man auf die leßteren — id) erinnere an Alkohol 
und Nitotin — mehr oder weniger verzichten rann. 
Nun pflegen wir die meilten Nahrungsmittel nicht roh 
3u genießen, fondern zubereitet als Speifen, in denen 
mehrere Nahrungsmittel zufammen vereinigt find. 
Die Erfahrung hat nämlid dem Menjen gezeigt, dap 
durd) das Zubereiten in den Speifen die Nahrungsmittel 
beffer verdaut und ausgenugt werden als im rohen 
Zuſtand. 

Von den genannten Nahrungsmitteln liefert uns die 
tote Natur das Waſſer und die Salze, während die le- 
bende Natur uns im Tier und in der Pflanze mit 
Kchlehydraten, Fetten und Eiweiß verforgt. Die lep: 
teren drei können nur im lebenden Organismus vor- 
tommen, und zwar ift allein die Pflanze befähigt, aus 
einfahen chemiſchen Verbindungen, die aus der Luft 
und dem Boden entnommen werden, mit Hilfe des Son- 
nenlidtes diefe kompliziert aufgebauten Stoffe bilden 
3u können. Durch die pflanzliche Koft gelangen fie in 
den tieriſchen und menſchlichen Körper, der fie nur um- 
geftalten oder zeritören tann. Bei der Umgeitaltung 
bildet der Körper die Stoffe, die er zu jenem Aufbau 
braudt, bei der Zerſtörung geht eine Verbrennung 
dur den Saueritoff vor fih. Der Saueritoff gelangt 
bei dem Einatmen der Luft in unfere Lungen, wo er 
fit; an die roten Blutkörperchen, das Hamoglobin, an- 
iagert und als Oryhämoglobin durch den Körper wan- 
dert. In den Geweben erfolgt die Berbrennung der 
durh das Blut dahin gebraten Nahrungsmittel, da 
fi) der Sauerftoff Teiht vom Hämoglobin befreien 
tann. Andererfeits erwächſt diefem Hämoglobin die 
Aufgabe, eines Diefer entitehenden Berbrennungs- 
produßte, nämlich die Kohlenfäure, zu binden und nad) 
der Zunge zurüdzuführen, wo diefe fih ebenfalls vom 
Hamoglobin trennen fann und ausgeatmet wird. Man 
tann an der Farbe des Blutes erfennen, welde Adern 


“ 


das Blut in die Gewebe oder zurüd nad) der Qunge 
führen. Das fauerjtoffreidye oder „arterielle Blut ſieht 
bellrot, das fohlenjfäurereihe oder „venſe“ Blut dun: 
telrot aus. Wir haben zwiſchen Pflanze und Tier oder 
Menſch folgenden grundlegenden Unterſchied: Die 
Pflanze bildet Verbindungen, in denen Sonnenenergie 
aufgejpeichert ift, im Tier und Menſch wird beim Ab- 
bau diefe Energie wieder frei in Geltalt von Wärme, 
die leicht in mechaniſche Energie umgewandelt werden 
tonn. Unfer Körper verbrennt — abgeiehen von den 
Eiweißftoffen — nur fo viel von den Nahrungsmitteln, 
um feine Temperatur auf derfelben Höhe zu erhalten 
und die verlangte Arbeit leiten zu können, den Reit 
Ipeichert er als Fett oder tieriſche Stärte auf, von de- 
nen er bei Krankheiten zehren tann. Wir könnten diefe 
Qebensvorgänge in der Pflanze einerfeits und im Tier 
und Menſch andererfeits mit dem folgenden befann- 
teren Naturvorgang vergleihen. Infolge der Erwär⸗ 
mung dur) die Sonne verdunftet auf dem Lande und 
dem Meere ftändig Wafler, wird durch die aufſteigende 
Luft emporgehoben und bildet in der Höhe die Wolken. 
Die Sonne hat diefe Arbeit geleiltet. Hiermit fönnen 
wir die Bildung der Fette, Kohlehydrate und Eiweiß- 
itoffe mit Hilfe des Sonnenlidtes in der Pflanze ver- 
gieihen. Wenn nun die Wollen fih abregnen und das 
Waſſer in Bächen und Flüſſen talabwärts fließt, fo 
tenn es wieder Arbeit leilten. Da der Menſch Ständig 
von emem Wluffe diefelbe WUrbeitsleiftung erzielen 
möchte, der Wafferftand jedoch in den einzelnen Jahres- 
zeiten großen Schwankungen unterliegt, fo legt man 
Stauweiher an, die den Ausgleich gewährleiſten. 
Hiermit laffen fi die Vorgänge im tieriſchen und 
menſchlichen Körper auf gleide Stufe Itellen, denn ein 
Teil der Nahrungsmittel wird zur Erhaltung der Kör- 
perwärme und zur Leiltung der Arbeit gebraudt, ein 
anderer Teil aufgejpeicdhert. 

Im folgenden wollen wir uns nun den einzelnen 
Nahrungsmitteln zuwenden, und zwar foll zunächſt die 
Trage: „Was find chemiſch unfere Nahrungsmittel?” 
und zum andern die Frage: „Wie baut fie unfer Körper 
ab?” beantwortet werden. 

Als Baufteine der verſchiedenſten Stoffe, die uns 
umgeben, find die Elemente anzufpreden. Vereinigen 
ſich zwei oder mehrere miteinander, fo entjtehen neue 
Stoffe, die Verbindungen. Aus den Elementen Waj- 
ferftoff und Sauerftoff beiteht das Wafler, das im 


Die Chemie der Nahrungsmittel und ihr Abbau im menfchlihen Körper. 


menſchlichen Körper mit 60—66% am Gejamtgewidt 
beteiligt ift. Die beiden (Elemente find Gafe, ihre Ber- 
bindung, das Waſſer, eine Flüffigfeit. Es dient im 
Blut als Transportmittel für die Nahrungsmittel und 
ihre Zerfallsprodufte. Ferner vermag es die Körper: 
fubftanz, das Eiweiß, in Quellung zu verfehen; Rüd- 
gang der Duellung durh Waſſerentziehung wird als 
Durft empfunden. 

Als Mineralftoff müflen wir befonders das Kochſalz 
unferen Speifen zufeßen, da es weder in den tierijchen 
und pflanzliden Nahrungsmitteln noh im Trintwafler 
im ausreidenden Maße enthalten ift. Chemiſch beiteht 
es aus dem Leichtmetall Natrium und dem Gafe Chlor 
und wird zur Bildung der Magenjäure, der Salzjäure, 
gebraucht. An anderen Mtineraljtoffen find nod der 
Kell und die Phosphate nötig. Den erfteren nehmen 
wir in der Form des lösliden doppelktohlenjauren 
Kaltes im Trintwafler auf, die lehteren als Alkali: und 
Kalziumphosphat in der pflanzliden und tierifchen 
Rahrung. Die Mineraljtoffe madhen etwa 5% des 
Körpergewichtes aus, davon entfällt das meifte auf die 
Knochen, die vorwiegend aus SKalziumphosphat (Cas 
(PO.):) beitehen. Außerdem find Bilarbonate und 
Bhosphate im Blute, in den Geweben und Sekreten 
enthalten, die die Aufgabe haben, alle fih bildenden 
Säuren fofort zu binden, jomit unſchädlich zu maden 
und infolgedeflen die ftändige Wirkung der Fermente 
in den Darmjäften und Zellen zu ſichern. Hat der Kör- 
per Mangel an diefen Mineralitoffen, fo treten als 
Krankheiten Skorbut, die engliſche Krankheit u. a. auf. 

Die bis jekt erwähnten Nahrungsmittel können wir 
als die anorganijdyen bezeichnen, ihnen gegenüber jtehen 
die organiſchen: die Fette, Kohlehydrate und Eiweiß: 
ftoffe. Wie wir bereits feftgeitellt haben, werden diefe 
letzteren in unferem Körper abgebaut und verbrannt. 
Die folgende Tabelle foll einen Ueberblid darüber ge- 
ben, wieviel beim Verbrennen eines Grammes diejer 
Stoffe an Wärmelalorien*) frei wird und wieviel Kilo- 
grammeter an Arbeit ihnen gleich find. Es liefert: 


1 g Fett 9,3 Kalorien — 3971 kgm 
1 g Eiweiß 4,1 PR — 1750 „ 
1 g Kohlehydrate 4,1 j — 1750 „ 


Ein Beijpiel foll uns dieje Tatfadye etwas veranichau: 
lichen. Es fol die Frage beantwortet werden: wie hoc) 
tann ein 75 kg ſchwerer Menſch jteigen, wenn jedes 
Mal 1 g Fett oder 1 g Eiweiß, bezw. Kohlehydrat 
verbrannt wird. 

Löſung: 1 g Fett [liefert 3971 kgm. Da der be: 
tieffende Menſch 75 kg ſchwer fein foll, jo wird diefe 
Reiftung aufgebradt, wenn er um =. m — 53 m 
emporfteigt. Genau fo finden wir für 1 g Eiweiß oder 
Kohlehydrat den Betrag von ca. 23 m. 

Bon den organiſchen Nahrungsmitteln follen nun 3u- 
nächſt die Fette beſprochen werden. 


— - 





*) Eine Kalorie ift die MWärmemenge, die ein Liter 
Wafer um 1° C erwärmt. An mechaniſcher Arbeit 
müflen 427 kgm geleijtet werten, um in einem Liter 
diefelbe Temperaturfteigerung hervorzubringen. Afo 
1 Kalorie — 427 kgm. . 


147 


Die Fette find eine Verbindung aus Glyzerin und 
den Tettläuren. Die widtigiten Fettſäuren find die 
Palmitin:, Stearin= und Deljäure, aber auh niedere 
Fettſäuren wie die Butter- und Kapronjäure können 
in ihnen vorhanden fein. Da das Glyzerin ein drei: 
wertiger Altohol ift, jo müllen drei Fettſäurereſte 
unter Wafferabfpaltung eintreten, wenn ein Fett ent: 
jtehen fol. 

C:Hs(OH%» + 3 (C»HsCOO)H = 


Blyzerin Balmitinjäure 
CsHs(CısHsCOO) + 3 H:O 
pett Waſſer 


Die drei wichtigſten Fettarten ſind: 
1) das Tripalmitin CaHCHaiCOO)a, 
puntt 61—62° C; 


Schmelz: 


2) das Triftearin CsHs(CrHsCOO), Schmelz- 
puntt 70° C; 

3) das Triolein CsHs(CoHsCOO), Schmelz- 
puntt —6° C. 


Die ette, die im Tier und in der Pflanze auftreten, 


find im weſentlichen ein Gemiſch diefer drei Fettarten, 


neben anderen Fettarten und freien Säuren. Ihre Be: 
ihaffenheit richtet fi) nah dem Anteil diefer einzelnen 
Beitandteile; fo unterjdeidet man drei Gruppen: 1. die 
felten, 2. die halbfeften, 3. die flüffigen Fette oder Dele. 

In der erjten Gruppe überwiegt die Fettart, die den 
bechften Schmelzpunkt Hat, nämlich das Trijtearin. Zu 
ihr gehören die Talgarten, wie Rindertalg und Sam: 
meltalg. Sie gerinnen jehr leidt. 

In den halbfejten Fetten gefellt fi) zum Tripalmitin 
und Trijtearin noh das Triolein, fodaß fie feymierbar 
werden. Zu ihnen muß man die Butter und die 
Schmalzarten zählen. 

Die flüffigen Fette, wie das Dliven-, Rüb-, Erdnuß:, 
Lein:, Mohn-, Rizinus-, Knochenöl und der Lebertran 
beitehen vorwiegend aus Triolein. 

Die ette der eriten zwei Gruppen liefern uns die 
Tiere, die der dritten Gruppe die Pflanzen und aus dem 
Tierreich die Fiſche. 

Da die Oele und Trane dem Menfden in genügender 
Menge zur Berfügung ftehen, an den beiden eriten 
jedoh Mangel herricht, fo hat man immer danad) ge- 
itrebt, die flüſſigen Fette in die halbfejten überzuführen. 
Diefe Abficht hat man in den legten Jahrzehnten ver- 
wirfliden können. Das beruht auf der folgenden de- 
milden Tatjade. Die Deljäure Cız Hs COOH ift 
eine ungejättigte Fettſäure, die noh Waſſerſtoff auf- 
nehmen und dann in die GStearinfäure Cı? Hs» COOH 
übergehen fann. Bergleiht man die beiden Formeln 
miteinander (H-Wafferftoff), fo fieht man, daß fie fih 
um zwei Atome MWafferftoff unterfdeiden. Diejes 
Härten der Oele ift bereits fabritmäßig durchgeführt, 
3.8. in der Bremer-Biefigheimer Oelfabrik, und man 
erhält Fette, die vor allem für die Geifeninduftrie ge- 
braudt werden. 

Die Fette find alfo Verbindungen, die fid zu 
16—771% aus Kohlenstoff (C), zu 11—12% aus Waſ— 
ferftoff (H) und zu 11—12% aus Sauerftoff (O) 3u- 
jammenjeben. Aus ihrem hohen Kohlenftoffgehalt ber- 
aus wird die Erſcheinung erflart, daß fie unter unieren 


148 
Nahrungsmitteln beim DBerbrennen die meilte Wärme 
liefern. Für die körperlich ſchwer Arbeitenden find fie 
unbedingt nötig. Man könnte nun glauben, dab der 
Menſch die Fette den anderen Nahrungsmitteln vor- 
zieht. Das geſchieht jedoch durchaus niht, denn wir 
find nur imftande, 50—100 g. Fett am Tage aufzu— 
nehmen. Dabei foll nod ein großer Vorzug der Fette 
den Kohlehydraten und Eiweißltoffen gegenüber er- 
wähnt werden. Sie enthalten als „accefloriihe Be- 
Itandteile” Phosphatide, das Cholefterin und die Bita- 
mine. Die eriten beiden werden vor allem zum Aufbau 
der Gehirnfubltanz gebraudt. Die Vitamine find den 
Eimweißftoffen verwandt und werden leiht durch Hike 
vernichtet. Bis jekt hat man fie noh nicht ijolieren 
fönnen, doh weiß man, daß bei ihrem Fehlen Çr- 
nährungsitörungen auftreten. Sie find unbedingt für 
die Kinder in ihrem Wachstum nötig. Butter und Gi- 
gelb enthalten fie in reidem Maße und find infolge- 
deffen unerfegbar. Es mag dem kaloriſchen Wert nad 
Butter und Margarine gleicywertig fein, aber der Mar- 
garine fehlen die wertvollen accefloriihen Beltandteile. 
Die Hauptbedeutung der Fette liegt jedoch darin, daß fie 
der Körper infolge ihrer Waflerunlöslichteit aufſpeichern 
und von dieſen Reſerveſtoffen bei Krankheiten zehren 
tann. Diefer Rejervevorrat an Fetten wird aus 
tieriihen Fetten oder aus Kohlehydraten, die fih in jene 
überführen laffen, ergänzt. Ter letere Vorgang im 
Körper ift noch ungellärt. Beſſer unterrichtet find wir 
darüber, wie die aufgenommenen ette aufgefpeichert 
werden. 

Da fie ja wafferunlöslid find, werden fie bereits im 
Magen dur em ſchwach fettipaltendes Enzym im 
Blyzerin und Fettſäure zerlegt. Reſtlos erfolgt dieje 
Umfegung im Dünndarm, wo die Fette durch die Galle 
und den Baudjipeichel fein zerſtäubt (emulgiert) werden, 
fodaß das fettſpaltende Enzym der Baudjpeicheldrüfe, 
das Steapſin, an einer großen Dberflähe angreifen 
und die Spaltung vollenden tann: 

CG;Hs(CrHsCOO) + 3 H:O = 


Triftearin Waſſer 

C:Hs(OH)s + 3 CrHsCOOH. 

Glyzerin Stearinſäure 
Dieſe beiden Zerfallsprodukte, das Glyzerin und die 
Fettſäure, können, da fie waſſerlöslich find, 
durch die Darmwand hindurchgehen. Tenſeits der 


Darmwand oder bereits in ihr können dieſe Teile 
ſich wieder zu Fetten vereinigen. Ein Teil da— 
von wird aufgeſpeichert, ein anderer verbrannt. Die 
Aufſpeicherung geſchieht hauptſächlich im Fettpolſter 
der Haut, in den Geweben um die Nieren und im Ge: 
tröfe und als Bindegewebe in den Muskeln. Da das 
Jett ein ſchlechter Wärmeleiter ift, fo vermindert es die 
MWärmeabgabe des Körpers an die Umgebung, ferner 
wirft es als Schuß an den Stellen, an denen der Kör- 
per einem Drud ausgefett ift. Die Verbrennung des 
anderen Teiles vollzieht fih nit im Blut, fondern in 
den Geweben. Dort gibt das Oxyhämoglobin den 
Swerftoff ab, und bei der Körpertemperatur von 
37° C geht die Verbrennung langfam vonftatten. Die 
Endprodutte derfelben, die Kohlenjäure und das Waſſer, 
fannte man bereits lange. Es tauchen alfo die Stoffe 
auf, aus denen die Pflanze mit Hilfe des Sonnenlidhtes 


Die Chemie der Nahrungsmittel und ihr Abbau im menfhlihen Körper 


die komplizierten organifchen Stoffe aufgebaut hat. Der 
Kreisring ift fomit geſchloſſen. Man ahnte natürlich 
daß die Verbrennung jtufenweife bis zu diefen End- 
produften erfolgt. Da fidh diefe Vorgänge im lebenden 
Körper vollziehen, fo ift es verftändlich, daß diefe Zwi⸗ 
fchenprodufte [hwer zu beobachten find, aber in letter 
Zeit hat fi) darin vieles geflärt. 

Wer nicht Chemiker ift, den bitte id) diefen Abſatz 
zu überfliegen, andererfeits mödte ich ihn nicht über- 
gehen, denn für manden wird gerade das von Intereffe 
fein. | 

Oben war gejchildert worden, wie die Fette in Giy- 
zerin und TFettfäure aufgejpalten werden. Ueber die 
Nerbrennung diefer beiden Zerfallsprodukte ift man 
jcgt gut über die der Tettfäuren, noh niht über die 
des Glyzerins orientiert. Man hat gefunden, daß die 
Orpdation an dem PeRohlenitoffatom der Fettſäuren 
einſetzt: 

R . CH: . CH». COOH + O = 
R . CO . CH: . COOH + H:0. 


Es entſteht neben Waſſer eine Ketonſäure, die jedog 
unbeftändig ift und fofort durch Hydrolyſe in eine 
Säure, die um zwei Kohlenſtoffatome ärmer ift, und 
in Effigjäure zerfällt: | 

R.CO.CH:. COOH + HO = 
R . COOH + CHs. COOH. 

Diefer Abbau vollzieht fi” genau fo wieder an der 
Säure R. COOH, bis legten Endes, je nachdem ob die 
Anzahl der Kohlenftoffatome des Alkylreſtes gerade 
oder ungerade war, nur Eſſigſäure oder Eifigfäure mit 
Ameifenjäure zufammen als Zerfallsprodukte auftreten. 
An diefen beiden geht dann die Drydation nad) folgen: 
den Gleichungen weiter: 

CH: . COOH + O = CH:OH . COOH. 

Es bildet fih die Oxyeſſig- oder Glykolſäure. Da 
dieje die primäre Altoholgruppe enthält, greift an ir 
die Orpdation an: 

CH:OH . COOH + O = COH . COOH + H:0O 

Es entiteht Wafler und die Glyorylfäure, bei der 
die Aldehydgruppe für Sauerftoff weiterhin aufnahme: 
fähig. ift: 

COH . COOH + O = COOH . COOH. 

Das Produft diefer Orydation ift die Dralfäure, die 
bei weiterer Sauerftoffaufnahme in Kohlenfäure md 
Ameifenfäure zerfällt: 

COOH . COOH + O = CO: + H . COOH. 

Zuletzt wird noh die Ameiſenſäure orpdiert: 

H.COOH + O = CO: + H:O. 

Mir fehen alfo, daß in der Tat als legte Jerfalls- 
produlte der Tettfäuren die Kohlenfäure und das 
Waſſer auftreten. 

Unter den Kohlehydraten verfteht man eine Gruppe 
von Stoffen, die die Zuder und ihnen nahe verwandte 
umfaßt. Dan nennt fie deshalb Kohlehydrate, weil fie 
an den Kohlenftoff den Wafferftoff und den Sauerftoff 
in demfelben Verhältnis wie im Waſſer gebunden ent- 
halten. Sie werden in drei Klaſſen eingeteilt: die 
Monofacharide, die Difaccharide und die Polyſaccharide. 
Zu den Monofachariden, die die Formel Ce Hız Os 


Die Chemie der Nahrungsmittel und ihr Abbau im menfchlihen Körber. 


haben, gehören der Trauben- und der Truchtzuder. 
Beide trifft man in den Weintrauben, den Erdbeeren, 
Eiadelbeeren, Johannisbeeren uſw. an, im menfdlichen 
Korper den Traubenzuder im Blut und den Gewebe- 
fäften und bei Zuckerkranken im Urin. Die Difac» 
charide von der Formel Cız Hz On umfaffen den 
Rohr: oder Rübenzuder, den Milh- und den Mak: 
zuder. Infolge feiner ſtarken Süßigfeit ift der aus der 
Zuderrübe oder dem Zuderrohr gewonnene Zuder ein 
wichtiger Beitandteil der menicdliden Nahrung. Der 
Milchzucker ift in der Milh jtillender Mütter vor: 
banden, der Malzzuder bildet fih aus der Stärke der 
Gerjte beim Malzprozeß. Zu den Polyfachariden 


C x{H: O)y, deren Formeln noh niht einwandfrei feft- 


geſtellt find, gehören die Stärke, die Zellulofe und die 
tierifche Stärfe oder das Glykogen. Das legtere jpeichert 
unfer Körper, da es waflerunlöslid) ift, m der Leber und 
den Mustelin auf. Bon den Kohlehydraten find die 
Zuderarten ımd die Stärke für den Menden gut ver- 
daulich, unverdaulid die Zellulofe. Da die Wände der 
Pflanzenzelle aus Zellulofe beitehen und von ihnen nod 
wertvolle Nahrungsitoffe eingejchloffen werden, jo mwer- 
den fie durch Kochen zerftört, wodurch eine beflere Aus- 
nugung der Nahrungsmittel erzielt wird. 

Die Koblehydrate haben für die Vorgänge im or- 
ganiſchen Koͤrper eine febr wichtige Stellung inne, denn 
fie liefem im ruht: und Traubenzuder den Grund: 


fein, auf dem fi alle anderen Stoffe im pflanzlichen 


und tieriihen Organismus aufbauen. Die Pflanze ift 
nämlich imftande, unter Mitwirkung des Sonnenlidtes 
und des Chlorophylls, aus der Kohlenfäure der Luft 
und dem Waſſer zunächſt das Formaldehyd zu bilden, 
wobei Sauerftoff frei wird. 


CO: + H:O = CH:O + Oa:. 


Bon diefem Formaldehyd ſchließen fih jofort fechs 
Moleküle zu einem Monojacharid zufammen: (C H2 
O)s = Cs Hai: Oe. 


Durch weiteren Zuſammenſchluß können fidh daraus 
die löslichen Difacharide oder die unlöslide Stärke und 
Zellulofe bilden. Man findet deshalb die Stärke in den 
Frühen und die Zellulofe im Gerüjt der Pflanze. 
Außerdem muß die Pflanze nod die Fähigkeit be- 
fiten, von den Zudern aus die Eiweißftoffe und die 
Jette aufbauen zu können, dodh find die Zuſammen— 
hänge in diefer Richtung noh micht gellärt. Als Be- 
weis dafür fei an die Majt der Schweine erinnert. 
Ihre Nahrung fekt fi ja im weſentlichen aus Kohle: 
hodraten, nämli der Stärke der Kartoffel und des 
Getreides, zufammen, und trog diefer einjeitigen Koſt 
vermag der Körper des Tieres große Fett- und Eiweiß: 
mengen zu bilden. 


Die Kohlehydrate find der Menge nad) die wichtigiten 
menſchlichen Nahrungsmittel. Als Stärfe werden fie 
in unjerem Brote und den Kartoffeln aufgenommen, 
als Zuder im Ruhen ujw. Im Munde beginnt der 
Abbau diefer Kohlehydrate durch die Abjonderungen der 
Speiheldrüfe mit der Spaltung der Gtärfe in 
Malzzuder. Diefe Arbeit verrichtet das in ihnen ent- 
haitene Ferment Ptyalin. Vollendet wird fie erft im 
Darm durch den Pankreasſaft Hieran fchließt fidh fo- 


149 


fcrt der weitere Abbau durd die Maltafe des Darm: 
faftes vom Malzzuder zum Traubenzuder. Chemiſch ift 
der Prozeß eine Hydrolyſe: 
CrH201 + H:O = 2 CeH1Oe. 
Malzzuder Waſſer Traubenzuder 


Aus der unlösliden Stärke ift alfo dur die Wir- 
tung der Fermente ein löslides Monoſaccharid ent: 
Itanden, das die Darmwand durchdringen und in den 
Blut: und Lymphſtrom gelangen tann. Die für den 
Menihen unverdaulide Zellulofe wird als Kot abge- 
fchieden. 

Der ins Blut gelangte Zuder wird nun auf dreierlei 
Art benut. Erſtens tann er, da der Yudergehalt im ge- 
funden Körper immer gleich ift, als überflüffiger Zuder 
in die unlssliche tierifhe Stärke, das Glykogen, über- 
geführt werden, das als Vorrat in der Leber aufge: 
jpeidert wird. Bei weiterem Ueberſchuß wird zweitens 
ein Teil in Fett umgewandelt, und endlid) wird ein gro: 
Ber Teil in ten Zellen abgebaut und durch den Sauerftoff 
des Oryhäamoglobins verbrannt. Dabei wird Wärme frei, 
die der Körper aud in mechaniſche Arbeit umſetzen 
tann. Der Abbau vollzieht fih in zwei großen Giufen, 
und zwar zerfällt der Traubenzuder zunädft in Ab: 
weienheit von Sauerftoff in Mildfäure, und dann 
wird dieje in den Zellen durd den Gauerftoff zu 
Kohlenfäure und Wafler verbrannt. Es treten alfo die: 
jelben Endprodufte wie bei den Fetten auf. 

Auch hierfür foll dur die Formeln der ftufenweife 
Abbau wiedergegeben werden. Durch Embden ift der 
Abbau des Zuders in Milchſäure dahin aufgeklärt 
worden, daß im Mustel fih das Laftazidogen, eine 
Verbindung aus einem Molekül Traubenzuder mit zwei 
Molefülen Phosphorfäure, kefindet, das durh ein 
Enzym in zwei Moletüle Mildyfäure und zwei Mole: 
tüle Phosphorfäure aufgeipalten wird: 


CeH::Os . 2 HsPO: = 
Laktazidogen 
2 CH:CHOH . COOH + 2 HPO.. 
Mildyjäure Phosphorfäure 


Er konnte feine Annahme damit ſtützen, daß der 
Raltazidogengehalt in einem arbeitenden Muste! mit 
der Zeit immer lleiner wird, ferner dadurd, daß die 
ſchnell arbeitenden und zu großen Leiltungen be- 
ſtimmten „blaffen“ Musteln viel Laftazidogen, die zu 
Iengjamer, aber andauernder Arbeit beitimmten „ro:en“ 
Musteln wenig davon befiten. Bei diefem Zerfall 
wird bereits etwas Energie frei, die freilich nicht be: 
trächtlich ift, viel größer ift die Energie, die durd den 
crydativen Abbau der Milchſäure entfteht. Diefer ſetzt 
an der fefundären Altoholgruppe der Mildyjäure ein, 
es bildet fi) die Brenztraubenfäure: 

CH: . CHOH . COOH + O = 
CHs . CO . COOH + H:O. 

Die Brenztraubenföure tonnie man nod nicht im 
Körper faffen, aber ein Ferment im menſchlichen Blute, 
das die Brenztraubenfäure in Acetaldehyd und Kohlen: 
fäure zu zerlegen vermag: 

= 0 


CH» . CO . COOH = CH:C Sp} + CO: 


Der Aldehyd geht durch jofortige Oxydation in Eilig: 
ſäure über, die ebenfalls nachgewieſen werden fonnte. 


150 


Damit ift man zu demfelben Abbauproduft wie bei den 
Detten gelangt und der weitere Abbau vollzieht fih nun 
genau jo wie dort. Als Zwiſchenprodukt konnte noh 
die Dralfüure nachgewieſen werden, die Endprodufie 
find wieder Kohlenfäure und Waſſer. 

Die im Glykogen vorhandenen Stärfedepots werden 
bei Hunger oder ſchwerer Arbeit vor den Tettdepots an- 
gegriffen, gefpalten und als Traubenzuder ins Blut 
gebracht. Sie können dabei völlig verihmwinden und 
werden bei gerügender Ernährung wieder aufgefüllt. 
Gie find alfo dem Körper leichter zugänglid als die 
Tettlager. 

Die legte Gruppe unjerer Nahrungsmittel find die 
. wichtigen Ciweipftoffe. Ihrer prozentualen Ju- 
janmmenjegung nad enthalten fie 50—54% Kohlenftoff, 
6,5—7,3% Waſſerſtoff, 15—17,6% Stickſtoff, 21,5—23,5 
Proz. Sauerftoff und 0,3—2,2% Schwefel. Für das 
Eiweiß ift es noch niht gelungen, eine dyemilche Formel 
anzugeben. Nur jo viel weiß man, daß die Baufteine 
der Eimweißitoffe die Aminoſäuren find, aus denen je 
nad Zuſammenſchluß der verfchiedeniten Aminofäuren 
recht verjchiedene Eiweißſtoffe entjtehen fünnen, wie das 
Albumin, Globulin, Fibrin, Hämoglobin ufw. Diefe 
einfahen Baulteine, die AUminofäuren, vermag nur Die 
Pflanze aus den anorganifden Stoffen zu bilden, 
während die weitere Bildung der Eiweißſtofſe aus den 
Aminofäuren neben der Pfanze auh dem Tiere möglid 
ift. Für beide find die Eiweißltoffe äußert wichtig, 
denn die Stoffe, an die fi) die Lebensporgänge knüpfen, 
3. B. das Chlorophyll in der Zelle der Pflanze, die 
Blutförperden, die Mustel- und Nervenitoffe und vor 
allem das Fleiſch, beitehen vorwiegend aus Eiweiß. Wir 
braudyen es alfo unbedingt, um unjeren Körper aufzu- 
bauen. Ein beitimmter Teil davon muß in unierer 
Nahrung vorhanden fein. Ein fräftiger Mann braudjt 
täglich etwa 110 Gramm Eiweiß. Einen Teil davon 
liefert uns unfer Brotmehl, — denn in 500 g Mehl 
jind 50 g Eiweiß, — den Reit das Fleiſch, Cier, 
Milch uw. Die Kriegszeit hat deutlich gezeigt, 
dah ein Bolt niht längere Zeit unter einem Mirndeit- 
fat von Eiweiß und aud Fetten bleiben tann, ohne 
große Schädigungen an feiner Gejundheit zu erleiden. 
Das ſtarke Anwadien der Sterblidyleitsfälle durd 
Tuberktulofe während und nad) dem Kriege ift auf den 
Mangel an diefen Lebensmitteln zurüdzuführen. 

Da die Eiweißſtoffe mit Wafler nur folloidale Lö— 
jungen geben, jo müjlen fie bei der Aufnahme durch den 

















— — 


a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften. 


Bon Behrde ift eine zuſammenfaſſende Darſtellung 
feiner Kritik der Relativitätstheorie im Verlag Meußer— 
Berlin erſchienen, welde eine ganze Reihe gejammelter 
Scriften des Berfaflers enthält. In dem Referat, das 
Buderer darüber m den Phyſ. Ber. 7, 421 eritattet, 
füllt die Notiz auf, daß der amerikanische Aſtronom 
St. Sohn, deffen Ergebniffe bisher eine der Haupt- 
fügen der Gegner der R. Th. bildeten, heute auf Grund 
eigener Beobachtungen das Bejtehen der von der Theorie 


Raturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifhe Umſchau. 


menjdliden Körper zuerſt derartig abgebaut werden, 
daß Stoffe entjtehen, die fih im Waſſer völlig löſen 
und fo dur die Wandungen des Darmtanals hindurd) 
in das Blut eindringen können. Diefe Umwandlung 
des Eiweißes beginnt im Magen durch das Pepſin und 
wird durch das Tropjin der Baudyipeicheldrüfe bis zu 
den Aminofäuren fortgefeßt. Diefe können durch die 
Darmwand diffundieren. Aus diefen Aminofäuren 
tann nun der Körper wieder Eiweiß aufbauen, und 
zwar wird es in größerer Menge zur Zeit des Wachs 
tums gebraudt, während es ſonſt nur als Erfaß für die 
Berlufte durch den Stoffwechſel eintreten muß. Alles 
andere wird reitlos innerhalb 24 Stunden verbrannt, 
da feine Eiweißdepots angelegt werden. 

Der Abbau der Eimweißftoffe, den wir jhon bis zu 
den Aminojäuren verfolgt haben, fegt fih bei diejen 
weiter fort. Gemwille Fermente können die Amino: 
jäure in eine Oryfäure und Ammonia? auffpalten: 


R . CHNH: . COOH + HOH = 
R . CHOH . COOH + NH: 


An den Oryfäuren tann der Sauerftoff wieder an- 
greifen, ſodaß Ketonſäuren fih bilden: 
R . CHOH . COOH + O = 
R . CO. COOH + H:0. 


Dieſe Borgänge find nachgewieſen worden. Das bei 
der Aufſpaltung entitandene giftige Ammoniat muß 
natürlich ſofort unfhädlicd) gemacht werden, und zwar 
geihieht es in der Leber durd die Syntheſe des Am— 
moniats und der Kohlenjäure zu Harnftoff: 

CO: + 2 NH: = CO (NH: + He: O. 

Der Harnſtoff ift das eine Endproduft des Eiweibab: 
baues, in dem der Stiditoff ausgeſchieden wird. Etwa 
30 g Harnftoff finden fih in dem im Laufe eines 
Tages abgeſchiedenen Urin. l 

Andererjeits müſſen wir noh dem Abbau der Keton- 
jäuren nachgehen. Dieſe zerfallen in einen um ein 
Kohlenitoffatom ärmeres Aldehyd und Kohlenfäure: 

R.CO.COOH=R.C TI + CO. 

Der Aldehyd geht dur fofortige Sauerftoffaufnahme 
in eine Yettfäure über, jodaß der weitere Abbau fih 
genau fo geitaltet wie bei diefen. Sind an dem Aufbau 
des Eimeißes auh Aminofäuren des Benzolringes be- 
teiligt, jo muß dieſer bei der Drydation gejprengt 
werden. Darüber find jedoch Einzelheiten noh niht be- 
tonnt. 








Naturwiffenfhaftfiche und naturphifofophifhe Umfchau. 








geforderten Rotverſchiebung für wahrſcheinlich anerkannt 
habe. 


Eine neue Erklärung des berühmten Midhelfon- 
verfuhs verſucht L. Strum 35. f. Ph. 24, Nr. 1. 
(Phyſ. Ber. 7, 465) Wie bier jhon berichtet, hat bie 
letzthin ausgeführte Wiederholung des Verſuchs das 
meifwürdige Reſultat ergeben, daß eine VBerfchiebung 
der Interferenzitreifen tatſächlich ftattfindet (im Gegen: 
jag 3u den Grundlagen der Rel. Theorie) jedod nur zu 
einem Zehntel des Betrages den die Abſoluttheorie 


(Ae:hertheorie) ergibt. Strum macht nun die der Rig- 
jen nahefommenden Annahme, daß die Geihmindig: 
feit des von einer bewegten Lichtquelle ausgehenden 
Lichtes glei) der Normalgeſchwindigkeit co plus einem 
Bruchteil der Geſchwindigkeit der Lichtquelle fei (ähnlich 
wie bei der Fizeauſchen „Mitführung”). Er fegt alfo 
c — Co + a.v wobei « eine Zahl zwiſchen 0 und 1 
ift. Das oben angeführte (Milleriche) Verjuchsergebnis 
erbält man dann, wenn man a — 0,29 annimmt, wäh: 
rend die Annahme a — % oder a — 1 feine Ber: 
idiebung ergibt. 
niffes erſcheint febr wünſchenswert. 

Auf einem anderen Wege verjuht Solá (Spanien) 
der Schwierigkeiten der Strahlungsiheorie Herr zu mwer- 
den. In einer Arbeit in der „Scientia” (Phyſ. Ber. 
6, 397) entwidelt er eine Art Kombination der 
Emiffions-: und Wellenhypotheſe. Die 
ausgeichleuderten Lichtteilden nennt er Proto: 
dynen, fie follen eine erheblich Fleinere Maffe als die 
Elektronen Haben und ſich mit Lichtgeſchwindigkeit vor: 
wärts bewegen, jedod) infolge ihrer gegemfeitigen An: 
ziehung und Abſtoßung nidyt einen geradlinigen Strabi, 
fondern eine Sinuslinie bilden, die wie ein geipanntes 
Seil {dwingt mit einer Periode, melde nad) der Bohr: 
iden Atomtheorie fih durd die Anzahl der Umläufe 
der Elektronen bejtimmt. Durch diefje Theorie follen fid 
e:flären laffen: der Michelſonverſuch, die Aberration, 
Disperfion und Bredung, die Fizeauſche Mitführung, 
der Strahlungsörud, die Rotverfchiebung und die Strah: 
lenkrümmung im Schwerefelde, jowie der energetiiche 
Maffendefett. 

Eine febr wichtige neue Arbeit jcheint der engliiche 
Thyfiter U. Bramley (Phil. Mag. 44, 720, 1922, 
Phyſ. Ber. 6, 396) geliefert zu haben, die leider erft 
jest befannt wird. Auf Grund der Annahme, daß die 
Energie Maſſe befigt, entwidelt der Berf. die 
Strablungsgefeße allein mit Hilfe der 
mehanijhden und eleftromagnetijden 
Brundgefecehte und berechnet, was das Merkwür: 
digſte ift, die Größe des Plandihen Wirkungsquanfums 
eınerjeits aus der Gleichgewichtsbedingung für die Ro: 
tation des Elektrons, andererfeits aus der Wirkung 
auf ein Bolumelement unter YZugrundelegung des 
Wertes für den Atomradius. Nimmt man diefen gleidh 
15 . 10-'° cm, fo erhält man im leßteren alle für 
du Wirtungsquantum 6, 57 . 10-°°, während die erite 
Beredhnungsart 5, 92 . 10-°” ergibt. Beide Werte fte- 
ben in guter Uebereinitimmung mit den anderweitig 
bekannten Werte des Quantums (6,50 . 10-7 nad) den 
neueften Beitimmungen). Das furze Referat, das mir 
zur Berfügung Steht, laßt leider nicht erfennen, in wel: 
der Weife der VBerfafler im einzelnen gerechnet hat. 
Wenn es aber niht täufcht, fo bat derfelbe ein ganz 
jundamentales Problem teilweiſe gelöft, nämlid) das, 
die unverbunden nebeneinanderitehenden Grundtonitan- 
ten der gegenwärtigen Phyſik in einen inneren Ju: 
Jammenhang 3u bringen. 

Den ameritaniihen Phyſikern Bowen und Milli: 
fan ift es gelungen, eine Reihe von Gefemäßigleiten, 
die im Rönfgenipefttum gefunden waren, im Gebiet 
der opflihden Speftren, insbejondere der leichten Metalle 
wiederzufinden. Es beftätigten ſich Dabei aufs neue die 


Naturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifche Umfhau. 


Nähere Nachprüfung diefes Ergeb: 


151 


von Sommerfeld u. a. entwidelten relativiftifhen 
Formeln für die Feinftrufturen. (Phyſ. Ber. 6, 
407 aus Phyſ. Rev. 24, 209 ff) 

Viel Kopfzerbrechen madt den heutigen Phyſikern 
der fogenannte Compfoneffelt (vgl. U. W. 1924, 547) 
der eine Hauptfjtüße der Quantentheorie der Strahlung 
bildet. Die amerikaniſchen Phyfiter Clar? und Du: 
ane haben für die von Clark beobadıteten 
Strahlen größerer Wellenlänge, welde bei der Streu: 
ung von Röntgenftrahlen beobaditet wurden, 
eine ganz andere Erklärung als Compton gegeben. Sie 
ichreiben Ddiefelben der Wirkung ausgelöjter Photo- 
elettronen zu. Dur febr genaue Meffungen der ge: 
forderten Verſchiebungen haben aber Kallmann 
und Mar? in Dahlem, wie fie „Naturwiſſenſchaften“ 
Mr. 14, 297 mitteilen, jüngjt die Comptonſche Formel 
eeftätigt, während ihre Ergebniffe mit der Theorie von 
Duane und Clark niht ftimmten. Andererfeits hat Du: 
cne in Verbindung mit einigen anderen Amerikanern 
i1 mehrerern Arbeiten, über die Phyſ. Ber. 6, 407 be: 
richtet wird, gezeigt, daß die beobachtete „weidere 
Etreuftrahlung” von der benußten Apparatur berrührte. 
Sie verſchwand nämlich, mwenn man die Rückwand des 
kenußten Kaftens entfernte. Duane erklärt das Ber- 
fuchsergebnis jo, daß die an dem Holz (Elemente C 
und O) entitehende jogenannte tertiäte Strahlung 3u: 
fällig den gleicjen Wellenlängenabjtand von der Primär- 
ftrahlung des unterſuchten Molybdäns hat, wie die 
von der Comptonſchen Theorie geforderte „Rückſtoß— 
ſtrahlung“. 

Rönigenſtrahlen äußzerſt kurzer Wellenlänge hat 
Thibaud (C. R. 170, 165, Phyſ. Ber. 8, 536) da- 
dur ausgemeifen, daß er die Energie der von dieſen 
cusgelöften Elektronen feſtſtellte. Es handelt fi um 
Strahlen von Ra B und Ra C. Die erhaltenen Wellen: 
langen betrugen 2,05 bis 0,704 . 10-'° cm, das ift etwa 
10 Oftaven höher als Wellen, deren Länge etwa 
den Atomdurchmeſſern gleichkommt und niht weniger 
cls ca. 18 Dftaven höher als die äußerſten pioletten 
Strahlen des fihtbaren Speftrums. 

Kriftalle find bekanntlich nad) der neueren Phyſik 
gitterartige Anordnungen der Atome. Der japaniſche 
Phyfiter Damada hat nun gezeigt, daß die Be- 
grenzung derfelben durch ebene Flächen um 
das fogenannte Gefehderrationalen Achſen— 
abjchnitte notwendige Folgen der Kleinheit des 
Wirkungsbereichs der Atomträfte find. Im einer neu: 
eren Arbeit (Phyf. Ber. 8, 510, Phyf. ZS. 25, Nr. 12) 
zeigt er weiter, daß die wirklichen Begrenzungsformen 
ji als Formen minimaler Oberflächenenergie im vor: 
aus beredmen laffen. Für das einfache kubiſche Gitter 
findet er als dadurch gegebene Begrenzung den Würfel, 
für das flächenzentrierte kubiſche Gitter den Oftacder: 
mwürfel (Flußipat), für das raumzentrierte kubiſche 
Bitter das Rhombendodetaeder, für das Diamantgitter 
das Oktaeder. Damit feint eins der ältelten Probleme 
der Kriftallographie endgiltig und vollitändig gelöſt zu 
jein. 

Die Frage der Derwandlung des Quedfilbers in Gold 
hat eine Menge weiterer Arbeiten veranlaßt. Während 
Miethbe und Stammreich annahmen, die Um: 
wandlung erfolge dadurd, daß der Kern des Hg-Atoms 


eine poſitive Ladungseinheit verliere und dadurd ein 
Jiotopes des Goldes entjtehe, nimmt Soddy neuer: 
dings an, daß umgefehrt in den Kern ein Elektron ein- 
drmgt und dadurd) die pofitive Kernladung um eins er- 
niedrigt wird. Ein anderer engliiher Forſcher, Saits, 
ſtellt entſppechende Verſuche mit anderen Metallen als 
Duedlilber (Blei, Wismut) in Ausficht, die er jhon früh: 
her angefangen, aber erft nah dem Befanntwerden der 
Mietheidyen Unterjuhung wieder aufgenommen hat. 
(Nature 114; Phyſ. Ber. 8, 507, 508) — Nahe hiermit 
zufammen hängt die Unterfuhung der Iſolopen des 
Quedfilbers. Bronſted und Hevejy haben eine 
Trennung derfelben mit Hilfe einer Deitillationsmethode 
bis zu einem Didjteunterichted von ungefähr einem Hal: 
ben Promille erreicht (Phyf. Ber. 8, 507). Die Frage, 
ob die Seinjtruftur des Queckſſilberſpek— 
trums durch Motope veranlaßt wird oder auf Grund 
der Bohr-Sommerfeldfhen Theorie zu erklären ift, hat 
neuerdings Nagaoka wieder angegriffen. Er findet, 
daß die aus letterer Theorie berechneten Linien jo 
zahlreich mit den beobadjteten übereinitimmen, daß die 
größere Wahricheinlichteit für die lebtere Annahme 
ſpricht. Phyſ. Ber. 8, 569). 

Neue Ifotopentrennungen bei Li, Be, Ne, Cd,Te, Bi 
berihten Afton und ©. P. Thomfon (Phyi. Ber. 
8, 508, 506) | 


Ueber die Ausbreitung der Lufferfhäfterungen bei 
großen Erplofionen hat Billard gelegentlich der Er: 
plojionen ‚von La Courtine intereflante eft- 
ſtellungen gemacht (C. R. 179, 617; Phyſ. Ber. 7, 433) 
Die Hauptenergie ift nicht, wie man zumeilt glaubt, in 
den hörbaren Schallwellen, jondern in ganz langjamen 
Schwingungen von ta. 1 fec. Schwingungsdauer ent- 
halten, die nah einem von Dufour aufgenommenen 
Diagramm in Paris im ganzen etwa 3 Sekunden (alfo 
drei volle Schwingungen lang) 3u bemerken waren und 
icit genau finusförmig verliefen. Im diefer nicht Hör: 
baren Schwingung find die 3u beobadhtenden jtarfen 
mechanifhen Wirkungen, wie Zerjpringen der Fenſter⸗ 
ſcheiben ujw. begründet, und daher erklärt es fi aud, 
daß man diefe Wirkungen beobadjtet an Orten, wo die 
begleitenden febr viel ſchwächeren Schallwellen gar nicht 
mehr gehört werden. Durch diefe Feſtſtellung finden 
viele bisher rätjelhafte Beobachtungen eine Aufklärung. 

In einem fih über vier Nummern der „Naturwiſſen— 
Ihaften“ erjtredenden ausführlichen Aufſatz berichtet 
R. Walden über Vergangenheit und Gegenwart der 
Stereohemie“. Man verfteht darunter die von van't 
Hoff begründete Lehre, daß die vier Valenzen (Wer— 
tigteiten) des Kohlenitoffatoms räumlich um das Atom 
herum fo angeordnet find, wie die Berbindungslinien 
des Mittelpunfts eines regelmäßigen Tetraeders mit 
jeinen Eden. Auf Grund diefer feinerzeit äußert ge- 
wagt ericdyeinenden Annahme vermodten Le Bel, 
van't Hoff, Wislicenus u. a. eine große Reihe 
von merkwürdigen Erſcheinungen der organilchen Che: 
mie 3u erklären und neue vorauszufagen (vgl. den Auf: 
lab von W. Eitelin U. W. 1921, Sp. 177 und unjere 
Umſchaunotiz in Nr. 3, ©. 68 1925). Mit Redt hebt 
der Verfaſſer am Schluß des Aufjates hervor, wie wun: 
derooll fi) die genialen een van't Hoffs wie feines 


aturwiſſenſchaftliche und naturphilofopbiihe Umſchau 
Meilters Kekulé durch die modernen röntgenolo: 


nm — 


giſchen Forſchungen beitätigt haben. 

Die phyſikaliſchen Konftanten des fläffign Heliums 
wurden von Ramerlingb Onnes md Bots nad 
einen Bericht auf den internationalen Kongreß für Käl- 
teforfhung 1924 beitimmt. Belonders bemerfenswert 
ift, daß ein ausgeprägtes Dihgtemarimum bei 
2,29° abj. vorhanden ft. Die Dichte betrug bei diefer 
Temperatur 1/818 von der des gasfürmigen Heliums 
unter Normalumftänden. (Phyſ. Ber. 6, 415). 

Ein neues Inftrument zur eraften Beitimmung des 
Zaupunfis hat Holtzmann (Ph. 35. 25, 443; Phyj. 
Ber. 7, 487) angegeben. Bei den üblichen Injtrumenten 
ijt die Beitimmung der wahren Temperatur der Fläche, 
die zur Kondenfation dient, im Augenblide der leßteren 
ziemlich ungenau. Holtzmann läßt mum durd) ein hoch 
poliertes Kupferrogr eine Flüſſigkeit ſtrömen, deren 
Temperatur einige Grad unter dem zu erwartenden 
Taupunkte liegt. An dem der Eintrittsjtelle der Flüffig- 
teit gegemüberliegenden Ende wird das Rohr durd eine 
darum gelegte Spirale eleftriiy angewärmt. Dann 
bildet fih in der Mitte eine jcharfe Kondenjationsgrenze 
und dur Regulierung des Heizitromes laßt fih er- 
reihen, dah diefe genau an eine vorgeſchriebene Stelle 
3u liegen fommt, wo ein angelötetes Thermoelement 
eine genaue Beitimmung der Temperatur, die hier zeit: 
lich konſtant ift, geftattet. 

Eine wertvolle Zufammenftellung der neueren Be: 
ſtimmungen des abfoluten geologlihen Alters von Ge- 
fteinen auf Grund ihrer Radioaktivität hat unfer hoch: 
verehrter Bundesfreund, Prof. W. ÇE itel Königsberg 
in Nr. 17 der Naturmiffenfchaften gegeben. Nady der 
von Eitel gegebenen Tabelle beträgt das Alter der um- 
terſuchee prätambrifden GBefteine rum 
1100—1200 Millionen Jahre. Für devonide Mine- 
ralien fand fi) ein Alter von rund 400 Millionen Jah⸗ 
ren. Doch ſchwanken alle Zahlenwerte febr, es fand 
ih 3. B. auch bei gewiſſen präkambriſchen Geſteinen 
nur ein Alter von etwa 200 Millionen Jahren. 

Ueber die Geſchwindigkeit der Erdbebenwellen und die 
elaſtiſchen Konftanten der oberen Erdihichten Handelt 


ein Beriht von B. Gutenberg in Wr. 17 der Ra- 


turwiflenichaften, aus dem wir insbejondere hervorheben, 
daß die Beobachtungen des japaniſchen Erdbebens vom 
September 1923 eine verſchiedene Tortpflanzungs- 
geihwindigkeit der Wellen über den Ozean und über 
die Kontinente ergeben haben. 


Zeichnet man die Häufigkeit des Vorkommens der de- 


‘mijden Clemente als Funktion ihrer Atomnummer 


graphiſch auf, jo erhält man einen Kurvenzug, aus dem 
die Edelgefe durch ihre ganz unverhältnismäßig große 
Seltenheit ganz herausipringen. Bur Erflärung diefer 
Erſcheinung jtellt A fton (Nature 114, 786 Phyſ. Ber. 
8. 508) drei Hypotheſen auf: 1) Die Menge der vor- 
handenen Edelgaſe fei tatjächlid größer, als man ge: 
wöhnlihd auf Grund ihres Gehalts in der Quft an: 
nimmt. 2) Die Seltenheit beruhe auf einem bejonders 
leihten Zerfall des Atomterns 3) Die Erde habe die 
demifch niht 3u bindenden Edelgafe an andere Welt: 
körper, die in die Nähe tamen, insbejondere die Sonne, 
verloren. 


Raturwifenfchaftlihe und naturphitofophifche Imfchau. 


Die Trage der grünen Nordlidtlinie ift immer nod 
nit endgiltig geklärt. Vegards Zurüdfirhrung der: 
ſelben auf feften Stidftoff ift von Cario, 
Me Lennan u. a. angegriffen worden. Begard ver: 
teidigt feine Theorie auf Grund neuer Erperimente. im 
Leydener Kättelaboratorium (Phyf. Ber. 8, 534 ff; 569). 

Dem ameritanifhen Aftronnmen Hubble fit es ge- 
lungen, im Andromedanebel zahlreide veränderliche 
Sterne vom Typus ô Cephei zu entdeden. Da für der- 
artige Sterne die bekannte Beziehung zwiſchen Periode 
und abfoluter Helligkeit beiteht, die Shapleys be: 
rühmten Unterfuhhungen über die Kugelhaufen (U. W. 
1922, ©. 220, 232) zugrundeliegt, jo tann man darauf: 
hin die Entfernung diejer Sterne im Andromedanebel 
berechmen und findet den enormen Betrag von rund einer 
Million Lichtjahren. Andererfeits ift es Gubble aud 
gelungen, mit einem Riefenipiegeltelestop den Rand des 
Rebels in Myriaden von ſchwachen Sternen zu 3er- 
legen. Beides zufammen macht febr wahrſcheinlich, daß 
der Andromedanebel eine unferem 
Milhfitraßeniyitem foordinierte andere 
„Wettinfel“ ift. Aehnliche Ergebniffe erhielt 
Hubble auch bei den Spiralnebel Meffier 33. 


b) Organiſche Naturmwifjenichcäten. 

In einem Auffat über Mendel und Darwin in Nr. 17 
der Naturmwiffenichaften nimmt 3. Groß ziemlih tem: 
peramentooll Stellung gegen jene neueren "Biologen. 
die terfuchen, die Leiftungen Darwins vollftändig hin: 
ter denen des Mendelismus zurüdtreien zu laffen. Er 
meint, Mendel verhalte ji in Wahrheit zu Darwin 
wie ein Jupitermond zur Sonne. Mendels Arbeit 
„Berfudye über Pflanzenhybride“ fei deshalb fo lange 
unbefannt geblieben, weil fie einem Monde ühnlidy tein 
eigenes Licht ausgeitrahlt habe; erft Weismanns Keim: 
nlasmalehre habe den Mendelſchen Berfuchen ihre 
erundlegende Bedeutung verſchafft. Un mehreren 
Stellen macht Groß ironiide Bemerfungen über den 
„Dunklen Untergrund der Feindſchaft gegen den Dar- 
winismus” oder über die „dunkel adaptierten Augen“, 
denen das neu am Firmament der Wiſſenſchaft aufge: 
gangene Licht (Mendels) jo ſehr wohlgetan habe. Im 
übrigen ift der ganze Auffa eine Verherrlichung des 
Sarwinismus, dem nad) ihm nur deshalb Heute eine ge: 
ringere Zahl von Anhängern zukäme, weil feine großen 
Gedanten immer nod nicht AUllgemeingut geworden wä- 
ren, dem aber die Zukunft troßdem gehöre. Auch Men- 
del habe ſchließlich weiter nichts geleiltet, als was den 
Derwinismus beftätige, denn durch feine Ergebnifie fei 
der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenſchaften 
der Boden vollends entzogen und damit einer der wid- 
tigften Einwände gegen die Zuchtwaähllehre endgiltig 
entträftet. Die Logik diefer Beweisführung ift nieder- 
ſchmetternd. Meier und Müller prozeffieren um ein 
Haus. Das Gericht erklärt die von Meier vorgemiejene 
Beiißurfunde für unecht, wie Müller immer behauptet 
hatte. „Seien Sie froh”, fagt Meiers Rechtsanwalt 
34 ihm, „damit wird einer der mwidtigiten Einwände 
gegen Ihre Anſprüche aus der Welt geſchafft“. Es ift 
ein Glüd für den Darmwinismus, daß feine Aktien nid)t 
io fchlecht ſtehen, wie fie nad diefem Verſuch erjcheinen 
müffen. Die Schriftleitung der Naturwiſſenſchaften hat 


bei der Aufnahme diefes Aufſatzes ausnahmsweife ein: 
mal feine glüdlihe Hand gehabt. 

Eine mehr als „amerikaniſch“ klingende Nachricht 
bringt Kammerer in Nr. 3 der „Moniftifhen Mo— 
natshefte”. Bei feiner diesmaligen Einfhiffung in 
Bremen habe er den dortigen Bogelzüdter K. Reid 
befucht, deffen Auffehen erregende Kanarienzudtergeb- 
niffe in Amerika bereits befannt feien, in Deutjchland 
aber durch den Dogmatismus der Herridenden Verer— 
bungstbeoretifer totgejdywiegen würden. Reih hat nad 
Kammerers Angaben Kanarienhähne, die mit Nachti— 
gallen zuſammen aufgewachſen waren und dadurch fidh 
einen dem Nadtigallenichlag ähnlichen Schlag ange: 
wöhnt hatten, zur Nachzucht benußt und dann bei den 
Nachkommen dieſer den gleiden nadtigallähnlidgen 
Schlag erzielt, ohne daß diefe irgendwie wiederum mit 
Nachtigallen oder ihren ähnlich fingenden Vätern zu: 
ſammengeweſen wären. Damit hätten wir dann den 
ihönften Beweis der Vererbung erworbener 
Eigenfhaften, den man fi nur wünjchen könnte 
— wenn’s ridtig ijt!? 

In der gleihen Notiz berichtet Kammerer von neu: 
eren Verſuchen Wiesners, eines Schülers von 
Steinad, die ebenfalls febr intereffant find, und 
zum Glüd nicht ſolchen Bedenten begegnen, wie Die 
eben erwähnten. Wiesner gelang es, Eierjtöde von 
Rattenweibden dadurh andauernd am Leben 
3u erhalten, daß er fie jedesmal, wenn der Trä- 
ger alt geworden war, in ein ganz junges Tier, dem 
vorher die eigenen Eieritöde entfernt waren, über: 
pflanzte. Bisher Hat der transplantierte Cierjtod drei 
folder Wirtstiere überdauert und ift noch immer an: 
fheinend ungeſchwächt zeugungsfähig. Das ift ein 
neuer Beweis zugunften der Lehre von der „potentiellen 
Unfterblichteit” der Zellen. 

Die feit Weismann heftig umitrittene Frage der 
potentiellen, d. h. in der Anlage vorhandenen, Unfterb- 
lichkeit der Einzellee hat nunmehr durch Verſuche K. 
Belars mit dem Sonnentierden Actinophrys ihre 
endgültige Beantwortung erfahren (Arh. f. Protiſten— 
funde 46 und 48, 1922 u. 1924; Naturwiſſenſchaften, 
14, 1925). Ihm gelang es, die Sonnentierden 2% 
Jahre zu züchten, während denen fie fih nur durd) 
Zweiteilungen vermehrten, ohne daß ein der Befruch— 
tung ähnlider Vorgang —, bei der jtets ein Teil des 
Zellkerns jtirbt, — beobachtet werden konnte. Damit 
ift nachgewieſen, daß der Eintritt des Todes bei Ein: 
zellern niht in der Natur des Organismus begründet, 
fondern eine Folge ungünftiger Außenbedingungen ift. 
Aehnliche Ergebniffe hatte zwar {hon früher Hart: 





‚mann mit dem grünen Geißelinfujor Eudorina 


gehabt, doch ließen fih dagegen immer noh die Cin- 
wände erheben, es könnte irgend ein geſchlechtlicher 
(aljo mit teilweilem Zelltod verbundener) Vorgang 
überfehen worden jein, ferner die Ergebniffe mit einem 
pflanzliden Wejen dürften niht auf tieriſche Cinzeller 
übertragen werden. Dieſe Einwände werden durd) 
Belars Unterſuchungen entfräftet. 


Seiner Zeit erregten Verſuche von Ricca über die 
Reizleitung bei der Sinnpflanze großes Aufjehen. Sic 


154 


zeigten, daß der durch Anſengen eines Blättchens þer- 
porgerufene Wundreiz auch fortgeleitet wird, wenn der 
Sproß durchſchnitten und die beiden Teile durch ein 
weflergefülltes Haarröhrdyen verbunden werden. Ricca 
309 daraus den Schluß, daB die Weiterleitung des 
Wundreizes dur) vom Saftitrom mitgenommene Reiz- 
itoffe — Hormone — beforgt wird. Man begegnete 
diefen Verſuchen mit ziemlidem Mißtrauen, aber mie 
wir den Naturmwiflenichaften, H. 14, entnehmen, werden 
fie Durh neue Berfudhe von Snom (Proc. of the roy. 
soc. of London 96, 1924) volltommen bejitätigt, der vor 
allem nachweiſt, daß die Geſchwindigkeit der Reizleitung 
mit der Geſchwindigkeit des Gaftjteigens durchaus im 
Einklang Iteht. 

Ebenfalls auf das uns einitweilen noh recht geheim: 
nisoolle Gebiet der Reize und Reizbeantwortung be- 
jiehen fi Unterfudungen von Cholodny (Ber. d. 
deutſch. bot. Gef. 42, 1924; Naturwiſſenſchaften 15, 
1925), deren meitere Verfolgung wichtige Aufſchlüſſe 
über dies Gebiet verjpridt. Sie beftätigen nicht nur 
wieder, daß es fih auch bei der Leitung des Schwer⸗ 
fraftreizges um Reizſtoffe handelt (vergl. U. W. 1925, 
©. 95), jondern fie zeigen auch, daß diefe Reizftoffe fo: 
wohl bei der pofitiven Erdwendigfeit der Wurzel als 
auch bei der negativen Erdwendigkeit der Sproife, ja 
auh bei Pflanzen verſchiedener Ordnungen diefelben 
jein müffen. Ob ein Organ auf den Scdmerfraftreiz 
durch Abwärts: (pofitto) oder durch Aufwärtstrümmung 
(negativ) antwortet, hängt nur von dem Bau des Dr: 
gans ab. 

An die Entvedung Bopoffs von der Möglichkeit 
der Hebung des Ernleerirags durch Zellreizung, das 
heißt durch Behandlung des Saatguts mit tleinften 
Mengen bejtimmter Stoffe, fnüpft fih ein Gelehrten- 
itreit zwiſchen Popoff und dem deutihen Forſcher 
Loew, der [hon vor Popoff, von anderen Voraus: 
jegungen ausgehend, die Möglichkeit, den Ernteertrag 
durch Reizmittel zu jteigern, entdedt hatte. Popoff be- 
itreitet demgegenüber, daß Loew jhon die Reizwirtung 
dicjer Stoffe erfannt hatte. Aus den Veröffentlichungen 
Loews feint aber dodh) hervorzugehen, daß es fidh Hier 
um einen der in der Geſchichte der Natumviflenichaften 
häufigen Fälle handelt, daß gewille Gedanten in der 
Luft liegen und gleidgeitig in verjchiedenen Köpfen 
fruchtbringende Formen annehmen. Im Biol. Zen- 
trelblatt, Heft 2, 1925 nimmt Kern erneut zu der 
Frage Stellung Wichtiger aber als diefer Streit ift, 
daß er bei jeinen Verſuchen wieder günftige Ergebniffe 
durch Behandlung der Pflanzen mit kleinſten Mengen 
für gewöhnlich giftiger Stoffe erhalten hat. 

Alfred Kühn, dem neben 8. v. Friſch und R. 
Pohl der Ruhm gebührt, den Farbenſinn der Bienen 
nachgewieſen 3u haben, wendet fidh jekt (Biol. Zentral: 
blatt 3, 1925) mit D. Ilſe dem Farbenfinn der Tag- 
fclter 3u. Aus ihren Verfuchen geht hervor, daß aud 
die Tagfalter Farbenſinn befißen und daß die Tagfalter 
durch beitimmte {Farben beſonders angelodt werden, 
ohne daß fie jhon Erfahrungen über Verbindung diefer 
Farben mit Futter gemadht haben. Dieſe Farben find 
fiir die einzelnen Arten ganz veridhieden, jo fliegt der 
Kohlweißling inftinttio bejonders auf Rot und Purpur, 
der Zitronenfalter auf Blau und Purpur, während auf 


Raturwifenfhafttiche und naturppitofophifhe Umfhau.______ 


das Pfauenauge Gelb und Blau bejonders jtart wirken. 
Aus den Verſuchen geht allerdings noch nidyt hervor, 
daß die Farben als ſolche erfannt werden, obſchon das 
nad) den Erfahrungen mit Bienen und noiis Ber: 
ſuchen mit dem Taubenihwanz wahricheinlid ift. Wie 
früher für die Bienen bleibt die Möglichkeit beftehen, 
daß die Tagfalter nur den SHelligkeitsunterijchied der 
Farben wahrnehmen. Weitere Verſuche darüber werden 
in Ausficht geitellt. 

Nachdem Matthes jhon früher Geruchsvermögen 
bei den Molden unter Waller nachgewieſen hatte, hat 
er jekt dur) neue Beobadtungen (Geitſchr. f. vergl. 
Phyſ. I, 24; Naturwillenichaften 17, 1925) auch den 
Nachweis für das Gerudsvermögen der Mole bei 
Aufenthalt an Land erbradt. Erſt damit ift eigentlich 
das Gerudhsvermögen bei Molcdyen fichergeitellt, denn 
nad einer allerdings umitrittenen Definition foll man 
nur bei luftförmigen Stoffen von Rieden jpreden 
können. Es ift grade die über den befonderen Fall hin- 
ausgehende Bedeutung der Arbeit von Matthes, daß fic 
die Berechtigung diefer Definition erjcyüttert, denn es 
it taum anzunehmen, daß dasfelbe Organ am Lande 
zum Riehen, unter Waffer zum Scymeden dient. 

Die Milz gehört zu den Organen, über deren Funt- 
tion wir nur unfidere Kenntniffe befiken. Abgeſehen 
von Ihrer Eigenſchaft als Drüje mit innerer Sekretion 
wird fie als das Grab der roten Blutförperchen te- 
zeihnet. Nun find neue Milzforfhungen, über die 
Barceroft in Naturmwilfenichaften 16, 1925 berichtet, 
geeignet, diejer Auffafjung erft zu ihrem wahren Sinne 
zu verhelfen. Den Anftoß zu diefen Forſchungen gab 
die von Barcroft und andern gelegentlidy einer Reife 
nad) Südamerifa gemadte Entdedung, daß mit Iteigen- 
der Temperatur die Blutmenge und die Menge der 
roten Blutkörperchen wädjlt, während fie mit fallender 
wieder abnimmt. Dies brachte Barcroft darauf, nadh 
einem Geheimſchatz des Körpers an roten Bluttörper: 
hen 3u fuden, und den fand er in der Milz aufge- 
itapelt. Die Milz ift, wie die angejtellten Verſuche er- 
gaben, ein Speicherorgan für rote Blutkörperchen. Hier 
liegen diefe Schiffen für den Gastransport im Hafen 
vor Anter, um, wenn ein unvorhergejehener Bedarf 
entiteht, zum Beilpiel wenn bei Kohlenorydvergiftungen 
die auf Fahkt befindlicyen mit dem giftigen Kohlenoryd 
„bejeßt” find, in den Kreislauf des Blutes hinauszu- 
iteuern. Dementjpredend zeigte fih, daß Tiere, deren 
Milz entfernt war, bei Kohlenorydvergiftung merflid) 
ichneller ftarben, als Tiere mit Milz. 

F. de Quervain beipridt in H. 14 der Natur- 
wiffenijhaften C. Fintbeiners Bud: „Die Pre- 
tiniſche Entartung.“ Finkbeiner unterſuchte das Skelett 
der Kretinen und verglich es mit dem der Weddas und 
vorgeſchichtlicher Menſchenraſſen wie der Pygmäen und 
Neandertaler. Auf Grund hiervon kehrt Finkbeiner 
wieder zu der alten Theorie zurück, daß der retinis- 
mus ein Rüdihlag auf vorgeſchichtliche Menſchenraſſen 
und feine Krankheit fei. Quervain lehnt diefe Anſicht ab. 

Mar Rubner erörtert in der Dtſch. med. Woden- 
ihrift Nr. 7, 1925 (Natumiffenichaften 14, 1925) die 
Ernährungsmögligleiten der Menihen und ihre Be- 
grenzung. Cr jtellt fejt, daß das Bedürfnis der Völker 
nad) den einzelnen Nahrungsitoffen durchweg gleich ift. 





Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifche í Umſchau. 


mm — — — —— — 


Nur im Fettbedarf zeigen ſich Verſchiedenheiten, während 
der Verbrauch an Kohlehydraten und Eiweiß derſelbe 
iſt. Alle Länder beziehen den größten Teil ihrer Nah— 
rungsſtoffe aus der Pflanzenwelt. Mit dieſem gleich 
artigen Bedürfnis der Völker vergleicht Rubner die ver- 
idiedenen Grmährungsmöglidyleiten der einzelnen 
Länder. Er kommt endlid zu dem Schluß, daß die Cr- 
nährungsmöglichteit des Menſchen auf der Erde begrenzt 
ki, was ſchließlich zu einem „wahrhaft kraſſen End- 
tempf der Menſchheit um das Dafein“ führen werde, von 
dem uns „nicht mehr ungemeffene Zeiträume” trennen. 


c) Naturphilofophie und Wellanſchauung. 

Wie Herr Studiendireftor Dr. Müller mitteilt, ſprach 
vor einiger Zeit Herr Profefjor Berweyen-Bonn, der 
(frühere?) Wanderredner des Moniitenbimdes, in 
Detmold in einem vom Monijtenbund veranftalteien 
Abend über das Thema „Natur und Kultur“. In der 
Debatte madte fi) Profeffor Verwegen in ganz auf- 
felliger Weile zum Anwalt des Idealismus, dem wir 
alein alle Großtaten des Menichengeiftes verdantten, 
jo daß fih Herr Dr. Müller veranlaßt fah, an den 
Redner die Frage zu richten, wie fih das denn mit 
dem Programm des Moniftenbundes vertrage; in einer 
der lebten Nummern der Moniftifhen Monatshefie 
habe doch gerade ein febr temperamentooller Aufſatz 
geitanden, der den Materialismus als das einzig 
Wahre pries, — Meaterialismus fogar in einem ſehr 
meiten Sinne (als Pofitivismus, alfo mit Ablehnung 
jegliher Ertenntnistheorie und philof. Bejinnung)! 
Prof. Verweyen ermiderte, es gehe natürlich nicht an, 
alle Artitel der Zeitfchrift als programmatiſche Aeuße 
tungen des Bundes anzufehen. Er felbit teile gerade 
lie Meinungen des erwähnten Artikelſchreibers durd- 
aus nit. Ihm gefalle überhaupt in lebter Zeit vieles 
in moniſtiſchen Kreijen nit, und er babe feine 
Konſequenzen gezogen! Daß der Vortrag des 
Abends unter der Flagge „Moniftenbund“ fegle, fei ge- 
gen feinen Willen geidehen, er jpräde trog des Auf- 
druds auf den Einlaßkarten rein als Privatmann. 

d) Verſchiedenes. 

In der Apriinummer der Münchener Zeitſchrift „Na- 
tur und Kultur” finden wir einen hödjft auffallenden 
Auffah des Herausgebers Dr. Süßenguth über die 
prenkifche Unterrichtsreform. Die Zeitichrift verfolgt im 
allgemeinen ähnlihe Ziele wie „Unfere Welt“, ift jedoch 
konfeſſionell katholiſch eingeftellt. Dies brauchte nun an 
ih femeswegs zu hindern, daß ihr Leiter ebenfo wie 
das zahllofe andere hervorragende katholiſche wie evan: 
geliſche Natuwiſſenſchaftler, (3. B. Reinte und Dennert) 
getan haben, tliar erfennte, dap dem Materialismus 
keineswegs dadurch zu fteuern ift, wenn man die Natur: 
wiſſenſchaften aus dem Lehrplan unferer höheren Sdu- 
len möglichft herausdrängt. Alle hervorragenden Na- 
turwiſſenſchaftler, die zugleich eine pofitiv freundliche 
Stellung zur Religion hatten, haben vielmehr bisher 
immer wieder betont, das nur eine genügend 
vertiefte naturwifjenfhaftlide Bil- 
dung den Schaden wieder gut maden 
tann, ımd daß der Haeckelismus nie ſolche Dimen- 
fionen hätte annehmen können, wenn man nidyt die na- 
turwifienfchaftlihe Unterweifung mit Gewalt der von 
Baftion Schmid mit Recht jo genannten „naturwiffen- 





155 


ſchaftlichen Hintertreppenliteratur” überlaffen hätte, ftatt 
fie der einzigen von Natur dazu bejtimmien Stelle, der 
Schule, zu übertragen. Es ift Herrn Dr. Süßenguth 
vorbehalten geweien, in dem harten Kampfe, den heute 
die Vertreter des realiftifden Unterrichts gegen das Her- 
ausdrängen ihrer Fächer aus der höheren Schule führen, 
d:cjen feinen Fachgenoſſen in den Rüden fallen. Denn 
feine Verherrlihung der preußiſchen Reform, der Um- 
wandlung des NRealggmnafiums in ein neuſprachliches 
Gymnaſium ufw., feine giftigen Ausfälle gegen Män- 
ner we Poste, auf die die gefamte Fachwelt mit 
Ehrfurcht blidt, müflen als ein joldes Indenrüdenfallen 
mirten und werden von den Gegnern des naturwiffen- 
ſchaftlichen Unierrihts mit Jubel begrüßt worden. 
Hoffentlihd maden recht viele katholiſche Fachkollegen 
Herm Dr. Süßengutd den Standpunft unzweideutig 
tiar. 

Ferienkurſe in Jena. Aus dem wiederum fehr reid- 
haltigen Programm der biefes Jahr vom 3.—12. Auguft 
ſtattfindenden Kurſe feien folgende Vorträge und 
Uebungen aus dem Stoffgebiet unſerer Zeitjchrift be- 
fonders hervorgehoben. 

Naturmwiffenfhaftlide Themen: „Das 
moderne Weltbild auf der Grundlage der Relativität 
und der Energetik“ (Prof. Dr. Auerbach), „Populäre 
Aftronomie” (Prof. Dr. Knopf), „Zeit: und Orisbe: 
ftimmungen mit praktiſchen Webungen“ (Prof. Dr. 
Knopf), „Aſtrophyſit“ (R. Kißhauer), „Aſtrophyſikaliſche 
Uebungen“ (R. Kißhauer), „Die Kohle und ihre Ber- 
wendung in Haushalt und Induſtrie“ (Prof. Dr. 
Eller), „Bakteriologie und Hauswirtſchaft“ (Prof. Dr. 
Taul Hiridh), „Qebensmittelhemie” (Prof. Dr. Fr. 
Schulz), „Phyfiologie der Verdauung und des Gtoff- 
wechſels des Menſchen“ (Prof. Dr. Schulz), „Die Bio- 
logie im botanifhden Schulunterriht” (Prof. Dr. Det: 
mer), „Anleitung 3u botaniſch mikroſkopiſchen Unter: 
fuhungen” (F. Krumbholz), „Zoologie, Entwidiungs: 
und Bererbungsiehre” (Prof. Dr. Franz), „Zoologiiche 
Mitroftopier- und WPräparierübungen” (Prof. Dr. 
Tranz), „Erperimentelle Pſychologie“ (Prof. Dr. Ziehen: 
Halle), „Pädagogiſche Pſychologie“ (Prof. Liz. h. c. 
Dr. Sellmann:SHagen), „Das normale und franfhafte 
Geſchlechtsleben des Kindes“ (Prof. Dr. Gtrohmerer). 

Weltanfhauungsfragen: „Naturphilo- 
ſophie und idealiftiihe Weltanfhaumg” (Prof. Dr. 
Deimer), „Tragen der Lebens: und Weltan—⸗ 
ſchauung“ (Prof. D. Weinel), „Weltanſchauung 
und Lebensanihauung in Erziehung, Beruf und 
Leben“ (Dr. Graf von Meitalozzi-Berlin), „Pro- 
bleme des neuzeitlihen Religionsunterrichts“ (Dr. 
Reukauf-Coburg), „Einleitung in die Philofophie nebit 
einem Ueberblid über ihre Geſchichte“ (Prof. Dr. Linke), 
„Die hauptſächlichſten philoſophiſchen Strömungen des 
19. Jahrhunderts“ (Freiherr von Gleichen-Rußwurm), 
„Die materialiftifhe Geſchichtsauffaſſung“ (Dr. Dannen- 
berg). Außerdem finden noh Vorträge und Uebungen 
aus folgenden Wiffensgebieten ftatt: Pädagogik, Bolts- 
wirtfhaft, Staats- und Gefellichaftsiehre, GBeiltesge: 
Ihich!e, Literatur, Kunſt, Fremde Spraden. 

Programme und nähere Auskünfte durd das Gefre- 
tariat: Frl. El. Blomeyer Jena, Carl Zeißplatz 3. 





Dr. frang Xaver Kiefl, „Leibniz und die 
teligiöfe MWiedervereinigung Deutihlends“ (zweite, 
weſentlich umgearteitete Auflage, Regensburg 1925, 
Verlagsanftalt vorm. G. I. Manz). 

Diefes Bud des bekannten katholiſchen Gelehrten 
wird unjere Lejer befonders im Hinblid auf die UAn- 
regungen von Prof. Bavinks Aufſatz „Bon Kepler zu 
Leibniz?“ in der lebten Nummer diejer Zeitichrift inter- 
ejfieren. In diefem Zufammenhang find natürlid von 
weit größerer Bedeutung als des Berfaflers eingehende 
biftorifche Unterfuchungen über den Berlauf der Gini- 
gungsverhandlungen feine Ausführungen über die Be- 
weggründe der von Leibniz faft während feines ganzen 
Lebens fortgefetten Veſtrebungen zur MWiedervereini- 
gung der driftlihen Kirchen; gewähren fie uns dod) 
einen Einblid in die tragenden Kräfte der Perfönlichteit 
von Lebniz ſelbſt. Denn daß Leibniz dieje Verſuche 
nicht aus perjönlidem Xedürfnis, fontern nur von 
Amts wegen, im Intereffe der Hannoverjhen Hauspoli- 
tit, unternommen habe, wird von K. mit aller Ent- 
Ihiedenheit abgelehnt. Er erblidt vielmehr hinter feinem 
firhlihen Friedensplan jo tiefe und edle Beweggründe, 
daß er fih zu einem Urteil über ihn wie dem folgen- 
den veranlaßt fühlt: „Derfelbe ftellt fi uns dar als der 
treibende Wurzelftod der größten Entdedungen und 
Entwürfe des univerjellften Geiltes in der Geſchichte 
Europas, als eine der größten menſchlichen Kraft- 
(eiftungen, welde je einem erhabenen Ziele geweiht 
wurden, als Dentmal deutſcher Vaterlandsliebe, welches 
an edler Reinheit und Tiefe feinesgleihen ſucht.“ (St. 
15). Den SHauptantrieb in den Leibniz'ſchen Beitre- 
bungen zur firdliden Einigung Europas findet 8. in 
der Religiofität ihres Urhebers und die Zahigkeit, mit 
welcher fie immer wieder von ihm unternommen wurden, 
erideint ihm als ficherer Beweis dafür, daß diefe Re- 
ligiofität in Leibniz keineswegs die flache, bequeme Auf- 
tärungsmeinung war, als welde fie oft angejehen 
wird, fondern eine verpflichtende und im Kampf mit 
den Schwierigkeiten auch wieder tragende und unter: 
ftügende Kraft. Bei diefem Nachweis findet der Ber: 
faffer häufig Gelegenheit auf Meußerungen von Leibniz 
binzumweifen, welde die Wärme feines religiöjen 
Empfindens zu vollem Ausdrud bringen, wie 3 .B. jene 
Stelle aus dem Briefe an Pelliſſon, mit welder er fein 
Buch fließt: „Ic bin überzeugt, daß es nichts jo Aus: 
gezeichnetes gibt wie die Religion Jefu Chrifti und daß 
uns nädjit der Reinheit diefer Religion nichts jo jehr am 
Herzen liegen muß, wie die Einheit der Kirche Gottes“ 
(St. 187). Aus der Ueberzeugung von der Bolltommen- 
heit der driftlihen Religion erwudhs für Leibniz ohne 
weiteres das Ideal einer einzigen kirchlichen Darjteilung 
derjelben, an deffen Verwirklichung zu arbeiten er 3u- 
gieih als fittlihe Verpflichtung empfand. Dann aber 
itedt hinter den Einigungsbemühungen von Leibniz nad) 
Kiefls Anficht vor allem auh ein echter, ftarfer Patrio- 
tismus, die Sehnſucht nah einem durch feinen Zwie— 





jpalt der Weltanfchauung mehr zerrifienen und in feiner 


Einigkeit jtarfen deuten Bolt. Die Reunionsperfuche 
des Leibniz, jo unglüdlih in ihrem Ausgange, behalten 
ihren idealen Wert als Dentmale edelften, deutjchen 
Patriotismus und verweifen uns auf das fefte Binde- 
glied, deffen die Konfeflionen auh im tiefiten Zwieſpalt 
der Weltanjchauungen ftets fih bewußt bleiben fünnen 
und follen” (St. 10). Das find Worte, welde bejonders 
in der gegenwärtigen Lage unjeres Volkes und gegen: 
über der Anregung einer Umwandlung unjeres Kepler- 
bundes in einen Leibnizbund höchſte Veachtung ver: 
dienen. Und im Hinblid auf diefe Anregung ſei ſchließ— 
lid aud noh eine Aeußerung Kiefls über die Vedeu— 
tung von Leibniz für unfer deutſches Geiftesleben ange- 
führt, welche einen noh weiteren Ausblid gewährt. 
„We ganz anders ftände es heute mit dem deutjchen 
Geijtesleben, wenn nicht der von Englands Philoſophie 
abhängige Kant, jondern Leibniz mit feinem lebendigen 
Gottesglauben der Führer des deutſchen Idealismus 
geworden wäre!” (St. 11). 

Nachtrag zu der Beiprehung des Budes von Fr. 
Grave. Das Chaos als objektive Weltregion in der 
legten Nummer. 

Zur Vermeidung von Mißverftändniffen über den 
ſachlichen Aufbau des Buches, welche durch unjere Pe: 
ſprechung entitehen könnte, bringen wir gerne folgende 
Einfendung des Berfaflers: 

„In der Rezenfion fteht, daß den vier chaotijchen 
Reihen die vier Reihe des Stoffes entipräden (Kri— 
ftali, Pflanze, Tier, Menſch). Dies dürfte nit ganz 
die Meinung meines Budes treffen. Diejelbe gebt 
vielmehr dahin: 

1. Das Chaos enthält die vier Reihe Qualität, Di- 
menjion, Geftalt und Bildung. 

2. Das Reih der Bildung enthält wiederum vier Un- 
teritufen von Bildungsformen, nämlich: Subftantialität, 
Bajlivität, Neutralität, Aktivität. 

3. Diejen vier Bildeformen (aljo niht den daotijchen 
Reichen) entſprechen die vier Naturreicdye: 

a) Stoff 

b) Krijtall 

c) Pflanze 

d) Tier einſchl. Menſch. 

4. Ich nehme aljo erftens niht vier Reiche des Stof- 
fes an, fondern vier Reihe übergreifender „Natur“; 
und zweitens faffe ih den Menſchen niht als beſon— 
deres Naturreich, jondern halte es hier mit der Zoo— 
logie, die ihn dem Tiere angliedert.” 


Druckfehlerberichligung. 
Folgende Formeln auf Seite 150 eines Teiles der 
Auflage ſind durch Druckfehler entſtellt. 
1. Formel 
R .CHNH: . COOH + HOH = 
R . CHOH . COOH + NH: 
3. ormel 
CO: + 2 NH = CO (NH:?} + He: O. 








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XVII. Jahrg. Detmold, Juli 1925 Heft 7 










Schriftleitung: 
Professor 
Dr. Bavink 
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bedeutung. Von Dietrich Mahnke. (Schluß.) ® Kampf und gegenseitige 
Hilfe in der Natur. Von Professor O. Prätorius. ® Die Kohlenlager der 
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Zahistellen für Auslandsbeiträge 
Oesterreich: Postsparkasse Nr. 15603b. Schweiz: Keplerbund-Postscheckkonto: Zürich Nr. VIII. 10638. 
Molland: Dr. W. van der Elst, Utrecht, Julianalaan 13, Postrekening 52198. Mexiko: M. Lassmann. 
Apartado 349 Mexiko D. F. 
Alle Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. Verlag od. Geschäftsst. des Keplerbundes, Detmold. 





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Stoffes. Von Prof. D. Dr. Dennert. ® Von den Sonnenprotuberanzen. Von Prof. Riem. ® Reizvolles aus 
dem Raupenleben. Von Dr. Bergner. ® Häusliche Studien. ® Kleine Beiträge. ® Der Sternhimmel 
im Juli. ® Aussprache. ® Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur 


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Die Lifte der Vorträge geben wir im nächſten Heft 
befannt, bitten jedoch unfere Mitglieder, fih jest 
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Herausgegeben vom Naturwiſſenſchaftlichen Verlag des Keplerbundes e. V. Detmold. 


Poſtſcheckkonto Nr. 45744, Hannover. 


Scriftleitung: Prof. Dr. Bavint, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Aufläge ftehen die Derfaffer; ihre Aufuahme mapt le mit zur Aenherung des Bundes. 
en ann, 


XVIL. Jahrgang 





Juli 1923 


Heft 7 








Bom Relativen zum Abfoluten. Bon 3. Bavint. 








Borbemerfung: Der nadjftehende Aufſatz war 
größtenteils ſchon fertig entworfen, als dem Verfaſſer 
Plands geeich betitelter Feſtvorirag (ogi. die Umſchau 
m Rr. 3) in die Hände fam. Ter Gedantengang be: 
rührt jih an manden Stellen mit dem diejes Vortrages, 
und jedenfalls darf ic) zu meiner Genugtuung feft- 
ltellen, daB die Grundtendenz völlig die gleiche ift. Im 
übrigen bezieht fih jedod das folgende mejentlic) auf 
Gebiete, die Pland nur flüdtig einmal geftreift hat. 
Die Ueberwindung des wiſſenſchaftlichen Relativismus, 
die Plancks Hauptziel darftellt, ift mir nur der Aus- 
gingspunft für weiterführende Gedanten gemweien. Was 
ich 3u dem erfteren Thema zu fagen hatte — und was 
li in der Hauptjade mit Plands Anficyten dedt, — 
tet in den Auflägen in Nr.i u. 7 von 1923, auf die ich 
hier zurüdverweife. Es war dort jhon angefündigt, dap 
fih aus dem für die Wiſſenſchaft Geltenden vielleicht auch 
wichtige Sclüffe oder Analogien für andere Gebiete 
ergeben. Auf diefe foll hier eingegangen werden. 

Das Thema „Relativismus“ ift in unferer Zeit 
bejonders auf die Tagesordnung gefommen, 
als die Einfteinfche Relativitätstheorie alle 
Köpfe beichäftigte. In der öffentlichen Meinung 
ift vielfach die Anficht verbreitet, daß diefe Theo- 
rie gleichbedeutend mit einem fchrantenlofen 
philoſophiſchen ‚und wiffenfchaftlicyen Relativis- 
mus fei. Diefe Anficht ift weſentlich dadurch mit 
genährt worden, daß Einftein felber, ſowie 
einer feiner eifrigften Anhänger, der Bofitivift 
Pegoldt, die Nelativitätstheorie als jogu- 
fagen Phyfit gewordenen Relativismus angu- 
jehen geneigt find, ferner dadurch, dap auch die 
Gegner Einſteins niht müde wurden, das Publi- 
tum dadurch vor der Theorie graulen zu machen, 
daß fie fie ebenfalls als „Bolfchewiftenphyfit“ 
ulm. hinſtellten. Ich fann mid) nun hier nicht 
näher auf die Darlegung deffen einlaffen, daß 
diefe Beurteilung der Relativitätstheorie den 
Kern der Sache gar nicht trifft, daß vielmehr die 
‘ Relativitätstheorie, wie jede andere phyſikaliſche 
Theorie, nur ein Schritt dazu iſt, an die Stelle 











eines bis dahin irrtümlich für endgültig und ab- 
lolut Gehaltenen, das fie als nur relativ giltig 
erfennt, das wirklich Endgiltige und Abfolute zu 
jegen. Jn unübertreffliher Klarheit hat M. 
Geiger diefen Sadjverhalt in feiner Brofchüre 
über die philofophiiche Bedeutung der Relativi- 
tätstheorie entmwidelt, und auh Bland hebt in 
dem oben genannten Vortrag dasfelbe ftar? her- 
vor. Bei diefen möge man alfo das Nähere 
rachlejen. Hier handelt es fih nun aber nicht um 
die Relativitätstheorie, fondern um den irrrüm- 
ih mit ihr identifizierten Relativismus 
jelber. Man verjteht darunter bekanntlich die 
Lehre, daß alle unfere Urteile, ſowohl die theo- 
retiichen, wie die fünftlerijch-äfthetiichen, wie die 
jittlicyereligiöfen, fozialen oder dergl., nur rela- 
tive Giltigkeit beanfpruchen fünnten. Dies tann 
nun an fidh vielerlei heißen, wird aber zumeift in 
dem Sinne gemeint, den die Sophiften des Altere 
tums mit dem Sake verbanden, daß „der Menſch 
das Mah aller Dinge fei“. Man will alfo damit 
jagen, daß es nichts abfolut oder an fih Wahres, 
Schönes, Gutes oder dgl. gäbe, jondern daß diefe 
Präditate gewiſſen Dingen oder Säßen immer 
nur vom Standpunfte beitimmter Menfchen oder 
Menfchenklaffen aus zufämen, vielleicht aud) 
vom Gtandpunfte aller Menfchen, die ja erfah- 
rungsgemäß in fehr vielen Eigenfchaften über- 
einjtimmten, aber damit fei doch noch nicht ge- 
jagt, ob nicht auh etwas, was für alle 
Menjchen wahr, gut oder ſchön fei, für andere 
Weſen vielleicht doch falfch, böfe oder häßlich fein 
fünne. Kurz: man ftreitet fämtlichen Urteilen den 
Charakter abjoluter, fchlechthiniger Giltigfeit 
von vornherein ab und läßt nur „relative“ Gil: 
tigkeit zu. Ganz befonders wird zumeift noch 
darauf hingemwiejen, daB ſolche Urteile fich im 
Laufe der Zeiten zu ändern pflegten und da- 


158 N 


durch bejonders deutlich ihren relativen Cha- 
rafter befundeten. Wie fchon das eben ange- 
führte Beifpiel der griechiihen Sophiften zeigt, 
ft der Relativismus in diefem Ginne febr alt, 
fajt fo alt, wie das jelbjtändige Nachdenfen der 
Menfchheit über fih ſelbſt und die Welt über: 
haupt. Die zu feinen Gunſten fprechenden 
Gründe liegen jo auf der Hand, daß es fih fait 
erübrigt, fie noch bejonders anzuführen. Jn der 
Tat zeigt ja ein einziger Blid in die Gefdichte 
Des Denfens, der Kunſt oder der Religion und 
Moral, ſowie ein einziger kurzer Ueberblick über 
olles das, was von verfchiedenen Völkern an ver: 
Ichiedenen Orten und zu verfchiedenen Zeiten für 
wahr, gut und ſchön gehalten worden ift und 
noch wird, wie unendlich mannigfaltig die Ur- 
teile über diefelben Gegenftände find, wie an- 
ſcheinend unmöglih der Verſuch wäre, aus 
diefem unglaublich vielfeitigen Chorus von 
Etimmen der Bölfer auch nur ein paar allerfeits 
anerfannte Urteile herauszuhören. Und was für 
die verichiedenen Völker gilt, gilt erft recht für die 
einzelnen Individuen. 

Man hat zwar andererfeits ebenfalls ſchon feit 
der griechifchen Zeit ſtets geglaubt, in gewiſſen 
Zweigen der menjchlichen Geiltestätigfeit emen 
über alle menfchlicye Relativität erhabenen, un- 
abänderlihen Befig nachweiſen zu fönnen; vor 
ollem hat als folcher die Mathematik gegolten. 
Seitdem der moderne durchaus relativiſtiſch ein- 
geftellte „Pofitivismus“ jedoch die Erkenntnis» 
theorie beberricht, ift auch dies zum mindeften 
ftrittig geworden. Jn feiner Konfequenz liegt 
die bejonders in Amerika ausgebildete Lehre des 
iog. „Bragmatismus”: wahr ift überall (audh in 
der Mathematit) das, was für zutreffend zu 
halten biologifch zwedtmäßig ift. Es wäre offen- 
bar für ein lebendes Weſen, das wie der Menſch 
auf Berftandestätigfeit angewiefen ift, höch't un— 
amwedmäßig, niht anzunehmen, daß die Gerate 
der fürzefte Weg zwiſchen gwei Punkten fei, oder 
nicht 3u glauben, daß zweimal zwei vier fei. 
Ebenfo wäre es für die Gattung höchſt unvnrteil: 
haft, wenn alle Individuen fo egoiſtiſch wären, 
daß dadurch ein foziales Leben unmöglich ge- 
macht würde uſw. Aus diefen Gründen ift es 
durchaus begreiflih, daß die Meajorität über: 
all ganz beitimmten Sägen den Vorzug vor 
ihren Gegenteilen gibt und daß fie auh Die 
Jugend in diefen Sätzen erziehen läßt, um ihnen 
ben größten Teil des eigenen Durchichadenflug: 
werdens abzunehmen. 

Sn Deutichland find die Grundgedanfen tiefes 
relativiftiihen PBofitivismus bauptlächlich durch 
Ernjt Mach verbreitet worden. Auf feinen Ein: 
fluß ift es zurüdauführen, daß der Relativismus 


Vom Refativen zum Abfoluten. 


en Et ru 


in ſtärkſtem Maße die wiſſenſchaftliche Welt, 
ganz beſonders die Naturwiſſenſchaft, beherrſcht. 
Im übrigen liegt ſelbſtredend auch ſchon von 
Hauſe aus dem Wiſſenſchaftler ein gewiſſes 
Mak ſolches Relativismus nahe, weil er ja 
immerfort mit der Kritik des früher Gefundenen 
beſchäftigt ift und weil tatſächlich aller Dogmatis- 
mus in der Wiſſenſchaft vom Uebel iſt. Wir 
werden unten noch ſehen, warum das durchaus 
nicht zu einem grundſätzlichen Relativismus zu 
führen braucht, warum vielmehr gerade der 
wiſſenſchaftliche Forſcher auch ſehr zwingende 
Gründe hat, an der Erreichbarkeit eines wirk— 
lichen Wiſſens feſtzuhalten, doch müſſen wir an 
dieſer Stelle zunächſt einmal zu verſtehen ſuchen, 
wie es zu einem ſolchen Ueberwiegen des Rela— 
tivismus in der modernen Welt kommen konnte. 

Derſelbe würde ſchwerlich auch in der 
Wiſſenſchaft fo ſtarke Reſonanz gefunden haben, 
wenn nicht zugleich auf dem allgemeineren Ge— 
biete der Weltanſchauung ihm eine mächtige 
Zeitſtrömung entgegengekommen wäre. Hier ift 
der Führer Fr. Nietzſche. Obwohl deſſen 
Lehren, genau genommen, auch durchaus über 
den Relativismus hinausführen können, hut er 
doch insbeſondere in der Jugend und in allen 
künſtleriſch intereſſierten Kreiſen ſehr ſtarl in 
relativiſtiſchem Sinne gewirkt. Das liegt an 
einer ganzen Reihe ſeiner zwar mehr aphori— 
ſtiſchen als ſyſtematiſchen, aber dafür um fo wirt: 
famer formulierten geiftreihen Ausſprüche, in 
welchen er glatt . das Beftehen einer objeltiven 
Wahrheit verneint. Jn feinem Haß gegen alle 
überlieferte Autorität hat er vielleicht mehr gejagi, 
als in der eigentlichen Ronfequenz feiner Grund- 
gedanten lag, tatfächlich hat er jedoch auf dicſe 
MWeife in weiteſten Kreifen dem rüdfichtslofelten 
Relativismus VBorfchub geleiftet. 

Wenn Niebfche der Führer des Relativismus 
vor allem in künſtleriſch intereffierten Kreifen 
und in der Jugend geworden ift, wie Mad 
innerhalb der exakten Wiſſenſchaften, fo ift neuer- 
dıngs auf dem Gebiete der Beifteswiffenfchaften 
ein noch wirffamerer Vertreter dem Relativis— 
mus in Spengler erftanden. Seine Lehre, 
daß Kultur nicht etwa die Schaffung gemilfer cb- 
jef:iver, d. h. allgemein verbindlicher Werte (des 
Wahren, Guten und Schönen) bedeute, jondern 
daß es nur einzelne Kulturen, d. b. gewiſſe ınnere 
Stil inheiten einer Epoche bezw. eines Bolles 
gebe, die fidh in allen ihren fog. „Kulturwerken“ 
auspräge, fommt ebenfalls auf einen durch 
gebenden Relativismus hinaus. Der früheren 
Betrachtung der Kultur war diefe doh immer 
ter Inbegriff beftimmter Inhalt: Wenn 
man einen Newton oder Ariftoteles, einen Leo: 


Bom Relativen zum Abfoluten. 


nardo oder Beethoven, einen Sefajas oder Paur 
lus als Rulturträger und Schöpfer bezeichnete, 
fo hatte das den Sinn, daß fie diefe oder jene Art 
von allgemeinen Werten (hufen. Nach Spengler 
beiteht Dagegen das Weſen ſolcher Rulturträger 
ausichließlich darin, daß fie die „Sulturfeele” 
ihrer bejonderen Art zum volltommenjten Aus- 
drud bringen. Er gebt in diefer Behauptung be- 
kanntlich fo weit, daß er jelbft Archimedes und 
Leibniz als zwei einander in ihrem mathema: 
tifchen Denten völlig unvergleichbare, auf diefem 
Gebiete die Belonderheiten ihrer fpeziellen Rul- 
turfeele zum Ausdrud bringende Größen gegen» 
überjtellt und jede über beide hinausgreifende 
gemeinfame „mathematifche Kultur”, an der fie 
beide teil hätten, leugnet. | 

Diefe ganz turze und felbjtredend höchſt un: 
vollftändige geichichtliche Ueberſicht follte nur eini- 
ge der in neuefter Beit befonders hervorftechenden 
Gipfelpuntte der relativijtilchen Strömung tenn- 
zeichnen. In Wirklichkeit handelt es fidh bei 
ihnen nur um die gegenwärtig leten Ausläufer 
einer allgemeinen Bewegung, die, bereits im 
Altertum begonnen, im Mittelalter zeitweife 
völlig zum Stillitand gekommen, feit der Re- 
naiffance in immer breiterem Strome das euro- 
päifche Denten beeinflußt. Es ift der Pro: 
Rek der Loslöfung des Individu— 
ums vonden Bindungen, diees als 
gegeben vorfand, als es zum Be- 
mußtlein feiner felbft erwante. 
Diefer Prozeß mußte fih, wie die Dinge einmal 
tagen, notwendig in der Form eines hartnädigen 
und zähen Kampfes gegen diefe überlieferten 
Bindungen volßiehen und zwar auf allen Ge- 
bieten des Kulturlebens von der Wiſſenſchaft bis 
zur Religion, wie unzählige Male dargelegt 
worden ift. Durch diefe Kampfitellung war es 
aber wiederum bedingt, daB die Vertreter des 
Nelativismus, oder wenn man lieber will, der 
neu gewonnenen #reiheit, den Krieg nunmehr 
nicht nur den gerade vorliegenden Autoritäten, 
3. B. dem Ariftoteles oder der Kirche, anfagten, 
fondern der Autorität überhaupt, wie das ja 
auch heute noh immer wieder geichieht, wo 3. B. 
die Jugend fih von den bisher beftehenden 
Autoritäten losfagt. Das ift ein Teil der großen 
Tragit des Menfchendafeins, die Goethe in dem 
Worte ausſpricht: „Wenn wir zum Guten diefer 
Welt gelangen, dann heißt das Beffre Trug und 
Bahn.“ Denn „dem Herrlichiten, was auch der 
Beift empfangen, drängt immer fremd und 
fremder Stoff fih an“, kommt dies aber auf einer 
fpäteren Stufe dem Menfchen ſchließlich zum 
Bemußtfein, fo läßt er nur zu leicht jenes „Herr: 
lichfte“ fetber entgelten, was eigentlid”) Schuld 


159 


diefes „fremden Stoffes” ift. Ohne dichterifche 
Einkleidung ausgedrüdt: Die Menfchheit bejaß 
eine große Reihe der wichtigſten und höchſten 
geijtigen Güter bereits, ehe fie anfing, darüber 
nachzudenfen, woher diefe gekommen feien und 
mit welchem Rechte fie eigentlich Geltung bean- 
ipruchten. Ihr unmittelbar einleuchtender unge- 
heurer Wert hatte denjenigen Perſonen, Einrich 
tungen, Schriften ufw., in denen fie zu finden 
waren, bis dahin eine unbedingte Autorität ver- 
Ichafft. Bei der nun einfeßenden fritifchen Ber- 
gliederung mußte jedoch unvermeidlich zutage 
ftommen, daB auh bei diefen Autoritäten 
Menfchliches-Allzumenfcliches in großer Menge 
zu finden fei, und dah diejenigen Vorgänge, wel- 
che in alter Zeit die fraglichen Werte hervorge- 
bracht hatten, ihr Gegenftüd auch heute noch ha- 
ben fönnen und tatfächlich haben. Die Erfchütte- 
rung, welde für das innere Leben von diefer Cin- 
fiht ausgeht, ift etwa der zu vergleichen, welche 
das Kind erlebt, das bis dahin in dem harmlofen 
Glauben gewefen ift, daß alles, was die Eltern 
tun, recht und billig ift, und das nun bei irgend 
einer Gelegenheit merkt, daß diefe Eltern auch 
mit menſchlichen Fehlern behaftet find. Auch 
das führt nur zu oft zu einem völligen Um- 
tippen ins Gegenteil, zu einer grundfäßlichen Ab⸗ 
fage an alle Autorität überhaupt. Es bedarf der 
ganzen Weisheit und des ganzen Taftes der Ci- 


tern, in ſolchem Falle das Kind allmählich zu ei- 


ner wahren „Pietät” zu führen, die fih [ehr wohl 
mit klarer Einficht in die menfchlichen Unvoll- 
fommenbheiten aud) des pietätvoll Berehrten ver- 
trägt. Diefen Prozeß hat die chriftlich abendlän- 
difhe Kulturwelt durchgemacht, fie fteht noch 
mitten darin. Wenn jedoch nicht alles trügt, fo 
bedeutet der Weltkrieg eine neue Zeitenwende in 
dem Sinne, daß fie nunmehr den Weg von der 
bloßen Verneinung und dem bloßen Relativieren 
zur höheren Bejahung und zum wahren Abfo- 
luten zurüdfinden wird. Diefen Gedanten etwas 
näher zubegründen, tft die Aufgabe diefer Zeilen. 
Wir wollen verfuchen, den angegebenen Bor- 
gang auf den verfchiedenen Gebieten der Kultur 
zu verfolgen und beginnen mit demjenigen Ge- 
biete, das feit der klaſſiſchen Zeit immer die Füh- 
rung!) gehabt hat, der Wiſſenſchaft. 

Das relative Redt alles Relati- 
vismus läßt fih dahin zufammenfaffen, daB 
esfein Gebiet menfhliden Geiſtes— 
[ebensgibt,indemnidtdiemenjd- 
lihe Unvollftommenbheit fid ftörend 
bemertbar macht. Diefelbe bedeutet dreier- 


1) Dies Wort ift hier zunächſt nur zeitlich, nid wer: 
tend gemeint. 


160 


lei: erſtens Unvollſtändigkeit, zweitens Ge- 
bundenfein an notwendige Eigenarten der 
menfchlichen Organifation und drittens dirette 
Irrtümer und Fehlgriffe, (einfchließlid mora: 
lifher). Daß in allen diefen drei Beziehungen 
die Willenfchaft, d. i. das theoretifche Erfennen 
relativ ift, bedarf feines weiteren Nachweiſes. 
Aus diefer .Einficht aber folgt dann, daß jeden: 
falls in der Wiffenfchaft alles Feſtkleben an vor- 
gefaßten Meinungen und Dogmen verfehlt ift, 
daß nur bei unbefchränfter Freiheit jenes fortwäh- 
rende Sichlelberfontrollieren, welches die Wilfen- 
ſchaft übt, gedeihen fann. Dies gilt auh für die- 
jenigen Wilfenfchaftszweige, welche fih mit den 
Grundlagen des Wiffens felber befaffen, in erfter 
Linie die fog. Ertenntnistheorie. Die Entwid- 
lung hat gezeigt, daß auch hier der Verſuch ver: 
fehlt war, Endgiltiges und Unabänderliches ein 
für allemal fejtgejtellt jehen zu wolfen (wie das 
mande heute nody vor allem bei Kant ſuchen). 
Es bedeutet nun jedoch abermals eine viel zu 
voreilige Dogmatifierung, wenn man daraufhin 
Den Gak aufftellen zu tönen meinte, „jede wılfen- 
ſchaftliche Wahrheit fei demnad nur ein Irrtum 
von heute”. Denn an fih ift es febr wohl dent- 
bar, daß trog aller Irrtümer und Schranfen dod, 
wenn auh langfam, Wahrheit gefunden und 
trog aller Subjeftivität doch allmählich Ueberein- 
ftimmung in gemwilfen objektiven Urteilen erzielt 
werde. Selbſt aber, wenn dies leßtere nicht 
möglich fein follte — und es fcheint ja Gebiete zu 
geben, wie 3. B. die Philofophie, bei denen man 
bisher taum einen allgemein anerfannten Sag 
angeben fann — fo wäre damit immer noch nicht 
die Eriftenz des Wbfoluten ſelbſt als eine Illuſion 
erfannt, fondern immer erft bewiefen, daß wir 
als Menſchen zum wenigften in gemwillen Ge: 
bieten zu einer eraften Definition desfelben- d. 
h. zu einer reitlofen Dedung von Subjekt und 
Objekt, nicht gelangen fünnen. 

Darum fönnte jedoch immer noh der Glaube 
an die Eriftenz der abfoluten Wahrheit über- 
haupt zu Recht beitehen, ja fogar notwendig fein, 
wenn man überhaupt den geiftigen Zuftand der 
Menfchheit begreifen will. So liegt die Sache 
nun m. €. wirflich und bier fann, glaube ich, ge- 
rade die Kritik der Wiſſenſchaft bahnbrechend 
wirfen. Wir haben in dem darauf bezüglichen 
Aufſatz (Nr. 7,1923) gefeben, aus welchen Grün- 
den der neuere fritifche Realismus nicht nur den 
Glauben an einen wirklich eriftierenden objet- 
tiven Sachverhalt (das „Ding an fiy“), fondern 
auch an eine, wenn auch unvollfommene und ge- 
trübte Erfennbarfeit desfelben zu ftüßen vermag. 
Das [chlagendfte Argument zu feinen Gunften ift 
das dort angeführte Konpergenzargu- 


Bom Relativen zum Abfoluten. 


ment. Die vielfach geradezu verblüffend wir: 
tende innere Mebereinftimmung der auf den ver- 
ihiedenften von einander unabhängigen Wegen 
erzielten Ergebniffe und allgemein die „rüd® 
wirkende Berfeftigung” (Boltmann) aller Teile 
des Syftems der wiſſenſchaftlichen Erfentnis ift 
das ftärffte und im Grunde unmwiderlegbare Ar- 
gument zugunften der Annahme, daß diefe eben 
nicht fubjeftive Konftruftion, fondern Erkenntnis 
objeftiver Sachverhalte ift. Das Nähere muß 
man bei den Meiftern der neueren Erfenntnis: 
theorie, bei Becher und Huſſerl, Meffer und Külpe 
nacdhlefen. Die Wiflenichaft — und zwar nid 
etwa nur die Naturmiffenichaft, ſondern aud die 
Geſchichtswiſſenſchaft, überhaupt jede „reale“ 
Wiſſenſchaft — zeigt per exemplum jedem, der 
fih hineinvertieft, jenen eigentümlichen Zuftand 
ichwebenden Gleichgewichts, der gleich weit ent- 
fernt von totem Dogmatismus, wie von alles 
vernichtender Stepfis ift. Am beiten läßt fidh 
diefer Zuftand mit dem dynamiſchen Gleichge⸗ 
wicht beim Radfahren vergleihen. Der Rad- 
fahrer fällt eigentlich immergu, bald nad) rechts, 
bald nad links. Dadurch aber, daß er jedesmal 
nach der gleichen Seite hin fteuert, wohin er 
fällt, veranlaßt er (durch die Wirkung der Träg- 
heit) ein Umfippen des Rades nad) der entgegen: 
gejeßten Seite. Somie er dies merft, fteuert er 
obermals umgefehrt ufw. (Man erkennt diejen 
Sachverhalt deutlich beim Anfänger, der jedes» 
mal erft noch überlegen muß: jet hierhin, jebt 
dahin fteuern! Später geht es mechuniſch). 
Dies Gleichgewicht ift alfo ein fog. 
dynamifdhes,nihteinruhender dw 
ftand, fondern ein fortwährendes 
„Sih ins Bleihgewidt ſetzen.“ So 
ähnlich fteht es alfo auch mit der Wilfenfchaft. Sie 
hat fih fortgejeßt vor dem Umkippen nad) redjts, 
in den Dogmatismus, und vor dem nad) Iints, 
in die Skepfis, zu wahren und befindet fih dabei 
im ganzen, wie man fieht, außerordentlich wohl. 
Man tann die ältere Erfenntistheorie (bis zu 
Kant einfchließlich) geradezu mit den Verſuchen 
nergleichen, ein Fahrrad zu fonftruieren, das 
ihon zum voraus im ftabilen Gleichgewichte 
fein fol. Solche gibt es befanntlih auch; fie 
müffen mindeftens drei Räder haben und find 
ſehr ſchwerfällig. Kant und alle Erktentnistheo« 
retifer vor ihm fuchten fozufagen nach folchen 
Stabilitätsbedingungen der Wiffenichaft. Es er- 
ſchien ihnen unerträglich und undenkbar, daß 
Wahrheit herausftommen könnte ohne folche fta- 
bile Grundlagen. Wiefönnteauslauter 
bloßen Wahrſcheinlichkeiten jeo 
mals Gewißheit werden? Dieer Ge 
Dante, fo beitechend er ift, ift aber tatfächlich 


Vom Relativen zum XUbfoluten. 


fein anderer geweſen als der der mödilchen 
Kosmologie: Die Erde muß irgendwie feltge- 
halten werden, damit fie nicht herunterfällt, alfo 
rubt fie auf einem Elefanten, diefer wieder auf 
einer Schildfröte ufw. Cs ift fein Wunder, wenn 
aud die Erfenntnistheorie fchließlich zu den Cr- 
gebnis tam, daß diefer Elefant nirgends 
aufautreiben ift. Die vielberufene fog. toperni- 
kaniſche Wendung” hat deshalb in Wahrheit gar- 
nicht Kant, jondern erft die neuere Erkenntnis— 
theorie vollzogen. Gie gleicht der Kosmologie, 
die eingefehen hat, daB das Meltigitem feines 
„tragenden Untergrundes“ bedarf, (weil nämlich 
die Begriffe Oben und Unten hier gar feinen 
Sinn mehr haben). Es ſchwebt frei im 
Raum und iftnur in ſich jelber ver: 
feftigt. So ftebtaudhdas Syſtemder 
Wahrheit fretauffidfelber. Cs hat 
gar keinen Sinn, nach Kriterien zu fuchen, ge- 
mäß denen a priori entjchieden werden fünnte, 
ob es Wahrheit gibt und was Wahrheit ift. 
Wahrheit ift das, was zu einander 
paßt. Bemweifen, daß es fo etwas geben muß, 
fann man fdjlechterdings niht. Uber er- 
leben, daß es das gibt, fann jeder, 
derfiddieMühbemadt, eineausge- 
baute Viffenfhaft zu ftudieren. 
Das Ergebnis diefer anfcheinend ziemlich ab- 
ftraft theoretiihen Betrachtung ift nun meiner 
Ueberzeugung nad) von ganz fundamentaler 
Wichtigkeit. Wenn die Geichichte der Willen- 
ichaft jo unverkennbar lehrt, daß es wirklich 
Wahrheitsertenntnis gibt, fo ift damit eine 
außerordentlid ftarfe Inſtanz zu— 
gunftendes Glaubens andie Objek— 
tivität unferer Ideale überhaupt 
gewonnen. Denn mwenn das beal der 
Wahrheit tatjäcdhlich keineswegs Dazu verur- 
teilt ift, ewig in gleicher unnahbarer Ferne zu 
Ichweben, vielmehr „die Wahrheit die Ajymptote 
der Forfchung ift”, fo ift fein Grund einzufehen, 
warum wir es nicht mit dem Glauben an eine 
ähnliche Lage der Dinge auch bei den anderen 
Idealen zum wenigften verjuchen follten. Es 
mag einer Zeit, die ihr Heil in der Abwendung 
von allem „Intelleftualismus” fucht, zwar jchwer 
entommen, aber es nichts deito weniger wahr: 
Jn der rihtigen Beurteilung der 
Reiftungsfähtigfeit unferes Ber- 
ftandesliegtderSchlüffelzum gan- 
zen Werteproblem überhaupt. Das 
foll nicht etwa einen „Primat des Verſtandes“ 
ſchlechthin bedeuten, ich bin vielmehr durchaus 
der Meinung, daß in der Rangordnung 
der Werte den fittlich religiöfen die oberſte Stelle 
gebührt. Aber das ganze Werteproblem entjteht 


161 


ja gerade dadurch, daß der kritiſche Verſtand fih 
diefer Werte als „Objekt“ bemädtigt. Wir 
fönnen ihm das nicht verbieten; das würde gar 
nichts nügen, denn jedem foldyen Verſuche würde 
unmeigerlich fofort der in feiner Art ebenjo wie 
alle anderen fategorifche Imperativ: „du follft 
Tıchen, die Wahrheit zu erforfchen” entgegen: 
itehen. Wir fönnen nichts tun, als das Problem 
folgerichtig zu Ende denten, und da ift es offen- 
bar angezeigt, zunächſt mit demjenigen Gebiete 
zu beginnen, wo die Berhältniffe am einfachiten 
und klarſten liegen. Das ift aber eben das Ge- 
biet der theoretiichen Vernunft. Wenn auch nicht 
in der endgiltigen Rangordnung, fo muß 
dieſes Cebiet deshalb doch in der logifchen Ord- 
nung zuerſt tommen. In diefem Sinne hat 
Goethe Recht, wenn er den Mephifto von Fauft 
fagen läßt: „Berate nur Vernunft und Wilfen- 
Ichaft, tes Menfchen allerhöchlte Kraft... . fo 
hab ich dich (hon unbedingt”. Wenn reines und 
unbeft:chlicyes Wahrheitsitreben mit Notwen: 
digkeit von höheren Sdealen und damit von Gott 
wegführte,, jo wäre Gott nicht Gott. Denn es 
liegt in dem Begriffe Goti, daß er felber die ab- 
ſolute Wahrheit ift. Und darum fann und muß 
das, was wir auf dem Gebiete der theoretifchen 
Vernunft als giltig erfennen, auh zum mindeften 
cine gewiffe Bedeutung für die anderen Wert- 
Gebiete haben. 

Nun will ih mit diefen Worten nicht etwa 
fagen, daß wir mechaniſch ein Schema von dem 
einen, dem intellettuellen Gebiete, auf alle 
anderen Gebiete übertragen könnten und follten, 
cifo etwa das abfolut Schöne in demfelben 
Einne als die Aſymptote der Kunſt, das abfolut 
Gute als die der Moral ufw. ohne weiteres ein- 
rühren könnten. Sp einfad) liegen die Dinge 
nicht, denn jedes der in Frage ftehenden Gebiete 
hat feine eigenen inneren Gefege. Uber lernen 
fönnen wir von der Erfenntnisfritit doh 
eine ganze Menge, fie gibt uns nicht nur ein 
Ichlagendes Beifpiel für den wirflicyen Wert alles 
unferes Werteftrebens, fondern fie gibt uns aud) 
manhe WUnalogien an die Hand, die uns viel: 
leicht in dem ſchwierigen Gelände des allge- 
meinen Wertproblems Führerdienfte tun fünnen. 
Wir wollen einiges davon hier Plarzujtellen ver- 
juchen. Ä 

Zunächſt zeigt fi auf dem Gebiete der Er: 
fenntnis am eindeutigften und unmwiderleglichiten 
die Selbftaufhbebung jedes radıfa- 
len Steptizismus. Der Sak: „Es gibt 
feine abfolute Wahrheit,” hebt fih tatjächlich 
jelber auf, wie leicht einzujehen ift (da er ja 
felber Wahrheit zu fein behauptet). Auf diejen 
Grundgedanken verweift auh Plang in dem 


162 


zu Eingang erwähnten Vortrage, wenn er her- 
vorhebt, dap alles Relative notwendig ein Ab— 
iolutes als Antnüpfungspuntt vorausfeßt, daß 
man nichts bemeijen tann (auh feine Relation) 
ohne einen Gak, den man fon hat uff. Man 
tann nun freilich diefen Sachverhalt nicht etwa 
chne weiteres auf jeden ebenfo radikalen Stepti- 
ismus auf den anderen Gebieten übertragen. 
Denn nehmen wir beifpielsmweife den Gag des 
moralifchen Steptizismus: „Es gibt feinerlei ob» 
jettive ſittliche Maßſtäbe,“ fo wif ja diefer Sap 
jelber fein moralijches Gebot, fondern eine theo- 
retifche Wahrheit fein, gehört alfo jelbft nicht zu 
dem Gebiet, von dem er handelt, fondern in die 
theoretifche Philofophie. Hier fann alfo jener 
innere Widerjpruch, der dem theoretifchen radi- 
talen Steptizismus anhaftet, niht ohne weiteres 
zultande fommen. Er tritt jedoch fofort auf, 
wenn unfer Skeptiker nunmehr dazu übergeht, 
zu fordern, daß der fraglide Sak etwa in 
den Schulen gelehrt werden folle, wenn er fih 
fittlih darüber entrüftet, daß die „Dunfelmin- 
ner” ihn beftreiten ufw., denn nunmehr legt er 
felber offenfichtlih eine moralifhe Forde- 
rung zugrunde, nämlih die, die „Wahrheit“ 
(d. h. das, was er dafür hält), nah Möglichkeit 
zu verbreiten. Wenn es keinerlei objeftive mo- 
raliſche Forderung gibt, fo beiteht audy diefe nicht 
su Redt, und der Kampf des Aufklärers gegen 
feine Gegner wird in fih finnlos. Die Abjurdität 
ift hier alfo eine prattifche, feine theoretifche. Wie 
dort das Denten überhaupt, fo wird hier das 
Hondeln überhaupt aufgehoben. In beiden Fäl- 
fen löſt fih der Widerſpruch durch die Einſicht, 
daß es feinen Sinn hat, das zu leugnen, was die 
Borausfeßung überhaupt dafür ift, daß wir als 
dentende und handelnde Weſen eriftieren. Db es 
einen ähnlichen Widerfpruch auch auf dem Ge- 
biete der WUefthetit gibt, bedürfte noch näherer 
Unterfuchung, doch wollen wir hierauf nidyt näher 
eingehen. 

Ein zweiter Gefichtspunft, den uns die Willen: 
ſchaft und ihre Kritit an die Hand gibt, verdient 
es jedoch, ausführlicher auch auf diefem Gebiete 
ins Auge gefaßt zu werden. Wir fahen, daß die 
wiffenfchaftliche Wahrheit durch „Konvergenz” 
zuftande fommt. Einstein hat einmal gefagt, 
das fchönfte Los, das einer phyſikaliſchen Theorie 
befchieden fein könne, fei dies, daß fie in einer 
neuen, höheren und allgemeineren Theorie auf 
ginge. (Er meint das mit Bezug auf feine „ſpe⸗ 
zielle Relativitätstheorie”, die in der Tat in der 
zehn Jahre fpäter entwidelten „Allgemeinen Re» 
lativitätstheorie” als Spezialfall aufgeht, etwa fo 
wie die Akuftit in der Mechanik oder die Plani- 
metrie in der allgemeinen räumlichen Geometrie.) 


Bom Relativen zum XAbfoluten. 


Diefes Aufgehen der fpezielleren Theorie in der 
allgemeineren bedingt nun in allen Fällen in der 
Wilfenichaft zugleich) eine präzifere Abſteckung 
der Grenzen, innerhalb deren die fpezielle (ältere) 
Theorie gilt. Man nehme als Beilpiel etwa den 
Energiefag. Zunächſt wurde diefer innerhalb 
des rein mechanijchen Gebietes aufgeftellt als fo- 
genannter Sag von der lebendigen Kraft (L e ib- 
nig) Diejer Sag gilt 3. B. angenähert beim 
Pendel, allein er gilt eben auch nur angenähert. 
Wir willen nun feit Robert Mayer, daß in 
Wahrheit da, wo mechanische Energie fcheinbar 
verloren geht, Wärme oder fonft eine andere 
Energieform dafür auftritt. Der Leibnizſche Sat 
wird alfo in den allgemeinen Sag von der Er: 
haltung der Energie als Spezialfall eingeordnet. 
Damit wird zugleich fein Gültigkeitsbereich ge- 
nauer umgrenzt. Er gilt für Syfteme mit in 
der Hauptſache jogenannten fonfervativen Kräf— 
ten. Aehnlich verfährt 3. B. die „Allgemeine 
Relativitätstheorie” mit der Newtonfchen Gravi: 
tationstheorie. Die Nemtonfchen Formeln folgen 
aus den allgemeineren Einfteins durdy Speziali- 
jatipn auf den befonderen Fall, daß man ſich bei 
einer gewilfen Reihenentwidlung auf das erfte 
Glied der Reihe befchränten darf. Jn diefem 
Falle gelten dann für die Planetenbahnen die 
einfachen Keplergefeße. Darf man jedoch bei den 
tatfächlich vorliegenden Größenverhältniffen der 
betreffenden Maffen, Bahnradien ufw. diefe erfte 
Annäherung niht als genügend anfehen, fo er- 
gibt die genauere Einjteinfche Formel nunmehr 
auch die fogenannte Perihelbewegung des Pla- 
neten (die in der Newtonfchen Formel fehlt). Die 
erweiterte Theorie zeigt alfo gleichzeitig nicht nur 
den vollftändigeren Sachverhalt, fondern aud) die 
eraften Grengen, innerhalb deren die alte Theorie 
ohne merklichen Fehler als ausreichend genau 
angefehen werden darf. Und fo ähnlich liegt Die 
Sache in der ganzen Wiſſenſchaft. Der Fort- 
Ichritt der Erkenntnis forrigiert nicht nur die ges 
machten Fehler, er zeigt auch, woher die Fehler 
tommen, und unter weldyen Bedingungen die- 
ſelben mertlich find. 

In diefer Einficht nun liegt m. ©. ein weſent⸗ 
liches Hilfsmittel für das Verſtändnis auh auf 
dem Gebiete der äfthetifchen und der fittlichen 
Entwidlung der Menjchheit. Auch hier gilt, zum 
wenigjten ficher auf dem moralifchen Gebiete, Der 
Sat, daß die höhere Wahrheit die niedere nicht et- 
wa aufhebt, fondern in fich einfchließt und zugleich 
begrenzt. Wer einen einzelnen moralifchen Sag 
aus dem Zufammenhang der ganzen Sittlichkeit 
überhaupt herausreißen und zum abfoluten Ge: 
bot oder Verbot machen will, fündigt gegen den 
wahren Geift der Sittlichleit genau fo wie ders 








jenige, der einen einzelnen Gag der. Wiſſenſchaft 
zum abjoluten Dogma madhen will, fih gegen 
den Geift der Wilfenfchaft verfündigt. Darin, 
daß jedes einzelne Gebot an fih nicht den Cha- 
ratter abfoluter Geltung hat, hat alfo der Rela- 
tivismus Redt. Er hat aber Unrecht, wenn er 
daraus die Folgerung ziehen zu fünnen meint, 
demnach fei die ganze Sittlichkeit als folche über- 
haupt nur relativ gültig. Dies folgt fo wenig 
aus der Relativität des einzelnen Gebots, wie in 
der Wilfenfchaft aus eben diefer Relativität des 
einzeinen folgt, daß es überhaupt feine Wahr: 
heitserfenntnis gäbe. Das Gegenteil ift richtig. 
Benn ein Gebot des „Sittenge: 
iebes” wirklich mit Recht (d. h. mit innerem, 
fttlihen Redt) in beftimmten Füllen 
slsnidtgiltigerfanntwerden[Joll, 
oiftdasnurdadurdh möglid, daß 
es einem höheren und allgemeine: 
ren Gefeg untergeordnet wird, das 
dann zugleih beftimmt, inmwelden 
vVällen und wie weit jenes niedere 
Gefeg gilt. Je weiter diefer Prozeß fort: 
ſchreitet, defto elaftifcher wird gwar auf der einen 
Seite die Moral, defto überzeugender werden 
cber auh zugleich ihre Grundprinzipien. Nichts 
anderes als ein Teil diefes Prozeſſes ift es u. a., 
wenn die Bergpredigt dem „Ihr habt gehört, 
daß zu den Alten gefagt ift” das „Ich aber fage 
Cuh” entgegenftellt, dabei aber betont, daß das 
Gefeb „nicht aufgelöft, jondern erfüllt werden 
folle”. In der Tat geht das ganze „Geſetz“ ohne 
Reit in der von Jefus geftellten Forderung einer 
innerlichen Gefinnungsmoral auf; feßtere ift aber 
unendlich viel höher als das bloße „Geſetz“, fie 
enthält zugleich die Möglichkeit für die Fälle in 
ih, wo das alte Gefeß verfagt. Den legten über: 
haupt erreichbaren Gipfelpunft zeigt das Wort: 
Ihr follt vollfommen fein, wie Euer Bater im 
Himmel volltommen ift”. 

Erheblich mehr Schwierigkeiten madt nun je 
dod die Uebertragung unferes Grundgedantens 
auf das Gebiet der Aeſthetik. Um das zu 
begründen, müſſen wir etwas weiter ausholen 
und dürfen uns nicht ſchematiſch an Analogien 
binden, die uns feicht auf Irrwege verloden 
tönnten. Zunächſt ift allerdings das eine tlar, 
dah es auch auf dem Gebiete der Aeſthetik einen 
Sah von der Weberordnung der 
Berte gibt. Wie die höhere Wahrheit die 
niedere umfaßt und begrenzt und das höhere 
Eittengejep das niedere zugleich aufhebt und er- 
füllt, fo gilt auh in der Kunft, daß das Niedere 
dem Höheren dienftbar ift. Was für fih allein 
häßlich ift, tann im Zufammenhang eines größe- 
ren Ganzen ſchön fein und umgekehrt. Allein 





Bom Relativen zum Abfoluten. 163 


mit diefer Analogie ift nicht viel gewonnen. Es 
fteht vielmehr febr ernitlich die Frage zur De- 
batte, ob nicht, wenn auch auf allen anderen 
Gebieten ein Nurrelativismus ausgefchloffen 
wäre, doh di: Runft als reine „Ausdrudstultur” 
gerade ihrem eigentümlicen Wefen nad) das 
ſchlechthin Relative fei und fein müſſe, weil es 
eben ihre Beftimmung wäre, ledigli Form fub- 
jettiver Zuftände und Erlebniffe zu fein. (Die 
Sache läge hier dann alfo umgekehrt wie bei der 
Religion, die ihrem Weſen nadh der Zug zum 
Abfoluten ift. Siehe unten.) Jn der Tat berricht 
diefe Auffaffung in der heutigen Kunſt wohl all- 
gemein vor. In früheren Zeiten fragte man 
nach den objektiven Kriterien, an denen gemeffen 
werden fönnte, ob ein vorliegendes Werk ein 
Kunſtwerk fei oder nicht. Heute dagegen pflegt 
man in fünjtlerifch interefjierten oder tätigen 
Streifen allgemein über ſolche Naivität zu lächeln. 
Man fragt bier nicht mehr nah den Kriterien 
eines Kunſtwerks, fondern lediglich nad 
denen eines Künftlers. Daß ein folcher ausge- 
Iprochener Subjettivismus Plaß greifen konnte, 
ift verftändlih. Denn da die Kunſt, im Gegen: 
fag zu der nah Objektivität ftrebenden Wiſſen— 
Ichaft ja gerade aktive Geſtaltung ift, fo wird fih 


der fünftlerifch Tätige ftets durch jeden Verſuch, 


„objektive“ Kriterien des Schönen aufzuftellen, 
in feiner Schaffensfreiheit beengt fühlen. Wir 
wollen nun aber zufehen, ob in diefem reinen 
Subjettivismus, fo vieles an ihm berechtigt fein 
mag, nicht doh ein Fehler zu finden ift. 

Da kann uns nun zunächft der Umftand jhon 
ftußig madyen, daß auch in dieſer [ubjektiviftifch 
relativiftilchen Strömung eine offenbare Paral- 
fele zu der gleichzeitigen geichichtlichen Entwid: 
fung der Erfenntnistheorie zu erkennen ift. Dem 
naiven Realismus der alten Erfenntnistheorie 
entipricht offenfichtlich der ebenfo naive Glaube 
an ein gegebenes, vom Künftler nur fozufagen 
zu findendes oder zu erfchauendes objeftives 
Schöne, von dem die antite Kunft fichtlich erfüllt 
ift. Wenn in gewiffen modernen gefchichtlichen 
Romanen einem Phidias oder Sophofles das 
moderne reiheitsgefühl des Künftlers beigeleat 
wird, fo ift das mindejtens ſehr mit Vorſicht zu 
genießen, wenn nicht dirett eine gefchichtliche 
Unmöglichkeit. Die Emanzipation des Subjefts 
beginnt vielmehr erft ernftlic mit der Renaif- 
fance — von einem Anlauf in der helleniftifchen 
Beit abgejehen. Erſt das Chriftentum mit feiner 
Betonung des individuellen Wertes der einzel: 
nen Geele hat die Augen für den Mitrofosmos 
des Inneren geöffnet. Die Antike hatte dafür 
nur geringes Berjtändnis, daher die außerordent: 
lih geringe Produktion 3. B. an echter Lyrik 


| 





164 Vom Relativen zum Abſoluten. J 


gegenüber dem Epos, an echter Porträtkunſt 
gegenüber der Darſtellung von Göttern, Helden 
uſw., d. h. Typen oder Ideen, an Muſik, die in 
vieler Hinſicht die ſubjektivſte Kunſt iſt, u. a. m. 
Nun iſt jene Emanzipation des Subjekts aber 
offenbar nid auf die moderne Kun ft beſchräkt, 
es entfpricht ihr vielmehr in der Ertenntnis 
theorie durchaus die Entwidlung von Lote bis 
zu Kant, in der in immer fteigendem Maße die 
Kriterien der Wahrheit aus dem Objekt weg in 
das erfennende Subjeft verlegt werden. Wenn 
nun aber auf diefem Gebiete heute ganz deutlich 
die Wendung vom reinen „Idealismus“ (das ift 
bier natürlich nur erfenntnistheoretifdy zu ver- 
ftehen) zum geläuterten „tritifchen Realismus“ 
fih anfündigt, fo wird man mindeſtens ernſtlich 
erwägen dürfen, ob nicht vielleicht aud) in der 
Aeſthetik eine ſolche Wendung in abjehbarer Beit 
bevorfteht. Und das feint mir in der Tat der 
Tall zu fein. 

Die Frage, um die fidh unfere Erörterung zu- 
nächft zu bewegen hat, ift alfo diefe: Kommt man 
auf dem Gebiete des Schönen mit der nurjub- 
jeftiviftifhen Auffaffung durch, oder fommt man 
mit ihr nicht fchließlich ebenfo in eine Sadgaffe, 
wie es offenfichtlid auf dem Gebiete der Cr- 
fenntnistheorie fih herausgeſtellt hat? Mir 
icdheint nun, daß man diefe letere Frage bejahen 
muß. Die Gründe dafür will ich kurz entwideln. 
Sie gruppieren fih um zwei leitende Gedanten: 
erftens widerfpricht die rein fubjettiviftiiche Auf: 
faffung der Aefthetit dem gefchichtlichen Befunde, 
und zweitens mwiderfpricht fie der Tatſache, daß 
nicht nur die Kunft, fondern aud die Natur 
zwingende äjthetifche Eindrüde erzeugt. 

In erfterer Hinficht beweiſt nämlich die Ge- 
Ichichte dies, daß die Kunſt keineswegs die un: 
beichränfte Freiheit in der Wahl ihrer Mittel 
hat, die der bloße Nelativismus vorausfeßt. Es 
liegt hier in den darauf bezüglichen Gedanken 
der meiften modernen Xefthetiter ein Trugſchluß 
vor, wie er einem nicht ſtreng mathematiſch 
geſchulten Denken leicht unterläuft. Ein ſolches 
Denten verwechſelt nämlich zumeiſt die Begriffe 
„unendlich viele“ und „alle“. Weil niemand zu 
bezweifeln wagen wird, daß Die Runft immer 
wieder neue, d. i. alfo unbegrenzt viele 
Musdrudsmittel finden tann und finden wird, 
fo glaubt man, damit bewiefen zu haben, daß 
fie demnach in der Wahl diefer Mittel völlig 
„unbeichräntt“ fei. Das ift aber ein Irrtum, 
wie man leicht an folgendem Bilde einfieht: 
Wenn man auf einer Geraden in Abftänden von 
ie einem Zentimeter je einen Punkt angibt, fo 
gibt es „unendlich viele” Punkte diefer Reihe; 
das find aber längſt nicht „alle” Punkte der Ge- 


raden, vielmehr nur ein unendlich kleiner Brud: 
teil derfelben, da es ja fogar zwifchen je zweien 
diefer Punkte noh unendlid viele Zwiſchen⸗ 
puntte gibt. Man wende diefes Bild auf die 
Mittel der Kunſt an. Sit es wirklich wahr, dah 
diefelbe fchlechthin alle Variationen ihrer Mittel 
beliebig anwenden darf und fann? Die Ge 
Ihichte zeigt das Gegenteil. Ein einziges Bei: 
fptel möge bier und muß leider megen des be: 
Ichränften Raumes genügen. Jn der Mufit ver: 
wenden wir als Mittel Töne (wir bleiben bei der 
reinen Mufit). Töne haben viererlei Unter: 
fchiede: 1) den der Tonhöhe, 2) den der Tonftärte. 
3) den der Tondauer und 4) den der fogenannten 
Klangfarbe. Iſt die Mufit innerhalb des Kreiſes 
diefer Mittel unbefchräntt? Folgendermaken 
liegt die Sache in Wirklichkeit: Unbefchräntt fo: 
mwohl in der Theorie wie in der Praris ift die 
Tonftärke, auf welcher die fogenannte Dynami! 
der Mufit beruht. Wir können vom zarteften 
Pianiffimo bis zum Tauteften Fortiffimo jede 
Nüance verwenden und tun das auh. Unbe: 
ſchränkt könnte ferner in der Theorie vielleicht die 
Klangfarbe fein. Wir können das niht feft 
ftellen, weil wir praftifch darin befchräntt find 
durch die Wahl der einmal gebräuchlichen Jr 
ftrumente, deren jedes einen bejtimmten Klang | 
charafter hat. Hier alfo ift die theoretifh fon: 
tinuierliche Mannigfaltigteit {hon praktiſch eine 
distontinuierliche und fogar nur eine endlich - 
große. Uber fehen wir von diefen beiden Cle 
menten ganz ab, wie fteht es dann mit der 
Tonhöhe und der Tondauer? Diele bet 
den Clemente madhen zufammen die Melodie 
den Rhythmus und die Harmonie aus. Sind ; 
wir darin unbeichränft? Die Gefchichte fost 
jedenfalls bisher ein deutliches Nein. Die gang! 
bisherige Mufit hat fih auf eine getrennte Ton: 
folge, alfo eine distontinuierlihe Mannigfaltig: 
teit der Tonhöhe befchräntt. Warum? Barum 
niht auh mit einer gleitenden Tonfolge, 3 8 
einer Heuffirene, „Mufit” maden? Ur der 
Rhytmus! Gibt es überhaupt Mufit ohne Rhatt- 
mus? Er fei noch fo fompligiert, wie 3. B. heut 
bei Strauß oder Hindemith, es ift doch auch Rint F 
mus. Rhythmus aber bedeutet Einfehräntung d1 

an fidh beliebig veränderlichen Tondauer auf gor? 
beftimmte einzelne Werte, alfo Einſchränkung de! 
Freiheit. Und dasiftebendasCharaf 
teriftifhe,daßindiefer Einſchrän— 
tung der Freiheit durd das Belet 
gerade der fünftlerifde Charafter 
befchloffen liegt. Das Gleiche gilt für di 
Tonhöhe. Unfere ganze Mufit ruht auf der fog: 
diatonifchen Tonleiter, die fpäter zur fog. temp" F- 
rierten (ausgeglichenen) chromatiſchen Tonleitet 


























































Bom Relativen zum Xbfoluten. 


erweitert wurde. Auf diefer aber ruht auch alle 
Harmonie, d. i. das Zufammenfein mehrerer 
Töne. Und innerhalb diefer Harmonie gilt nun 
eine neue Beſchränkung der abfoluten Freiheit. 
Man jtellt doch eben nicht alle beliebigen Töne 
sufammen, fondern man benußt in ganz über- 
wiegendem Maße ganz beftimmte „Akkorde“, 
d. h. beſondere Tonverbindungen. Ift das nun 
alles Zufall oder bloße konventionelle, durch Ge- 
mwöhnung von einer Generation auf die andere 
übertragene Willlür? Das glaube doch, wer 
fann! Man verfucht es ja heute, diefe Befchrän- 
tungen der abfoluten Freiheit (Willtür) durch 
das Geſetz zu verneinen. Neuere „Romponiften“ 
wollen die Biertelton- oder fogar Achteltonftala, 
ja womöglich die gleitende Tonfolge in die Mufit 
einführen, andere ihresgleichen jeden Rhythmus 
abſchaffen. Solche Berfuche mögen immerhin 
innerhalb gewiſſer Grenzen neue Ausdrudsmög- 
teiten eröffnen. Vielleicht tann man damit die 
Berrüdtheit unferer Zeit recht gut zum Ausdrud 
bringen. Aber glaubt man im Ernft, durch 
folche Mäbchen, die doch höchitens als gelegent: 
lih dazwiſchen gefeßtes Scherzo diabolico in 
stage tommen fünnen, würde die europäifche 
Menſchheit von der Mufit, wie fie Bah und 
Beethoven, Mozart und Wagner gemacht haben, 
abgeführt werden? Nein, die Sache liegt erficht- 
fi ganz anders. Die einfache diatonilche Ton- 
leiter ift tief in der Natur unferer afuftifchen 
Fähigkeiten überhaupt begründet. Man erkennt 
das am deutlichſten daran, daß bereits ganz 
Beine, nod nicht einjährige Kinder, wenn fie nur 
mufitalifch veranlagt find, eine einfache Melodie 
in diefer Tonleiter völlig rein nachſingen können. 


Man fann dagegen auch nicht einmwenden, daß’ 


dies lediglich auf vererbter Gewohnheit berube. 
Denn erworbene Fähigkeiten diefer Art werden 
nicht vererbt. Eben dasfelbe gilt aber aud für 
die einfachen Clemente der Harmonie. Daß der 
normale Dur-Dreillang wohlklingend ift, — und 
das ift doch gleichbedeutend damit, daß er äfthe- 
tiſch „ſchön“ ift —, ift nicht durch Konvention zu 
erffären, fondern beruht, wie fon die Pytha— 
goräer ahnten und wir feit Helmholtz' klaſſiſchen 
Unterfuchungen willen, auf ganz beftimmten phy- 
fifalifchen, alfo objektiven Gründen. Man fann 
jagen, was man will: es läßt fih die Tatfache 
nicht aus der Welt fchaffen, daß diefer Dreiklang 
als folcher, ganz abgefehen von feiner VBerwen> 
dung in der Verbindung mit anderen Akkorden 
einen bejtimmten äfthetifchen Wert befikt. Wer 
ihn zuerſt erfand, der muß dabei tatfächlich eine 
ganz ähnliche Freude gehabt haben, wie ein For- 


icher, der eine große neue Wahrheit entdedt, oder 


ein Technifer, der eine neue geniale Konftruf: 


165 


tionsidee findet. Wenn nun ein ſolches als ſchön 
empfundenes Element aber durch eine ganz be— 
ſtimmte phyſikaliſche Beziehung ausgezeichnet iſt, 
ſo heißt das eben, daß hier das Schöne 
einen objektiven Untergrund hat, 
unddaßesfolglid nihtinunferem 
Belieben gelegen hat, den Drei: 
flang C-E-G [dhön, die Jufammen- 
tellung C-Fis-H dagegen fheuß« 
lid zunennenoder umgelehrt. Sol: 
cher Tatſachen gibt es nun aber, wie man bei 
genauerem Zuſehen leicht findet, eine ganze 
Menge, und zwar in jeder Kunft. Der Verſuch 
ift feineswegs ausfichts[os, eine allgemeine fünft- 
ferifche „Formenlehre“, d. i. eine fyftematifch ge- 
ordnete Zufammenftellung aller in der Kunft 
verwendeten und verwendbaren formen zu 
unternehmen. Oſtwald hat neuerdings da- 
mit einen vielverfprechenden Anfang gemacht. 
Eine ſolche würde durch ihr bloßes Dafein zeigen, 
daß die Kriterien des Schönen niht nur im 
Subjekt liegen, fondern auh durch das Objekt 
mitbedingt find. 

Sch will natürlich nicht behaupten, daß ein 
vorliegendes Wert nun darum ſchon ein Kunft- 
wert fei, weil es gewiſſe foldye objektive Cle- 
mehte enthält. Da, ich will nicht einmal be- 
haupten, daß man mit Sicherheit ein Wert das» 
raufhin als Kunſtwerk ablehnen könne, weil die 
bisher befannten Regeln diefer Art darin nit 
zu finden find. oder gar verlegt werden. Das 
wäre die unverfälfchte Bedmefferei, die Wag- 
ner in den Meifterfingern fo wundervoll tari- 
fiert hat. Aber Wagner hat auh gewußt, daß 
eine Kunſt völlig ohne Geſetz nichts als ein hilf- 
lojes Geftammel ift. Darum muß fih in eben 
diefem Werke der zunächſt rein fubjektiviftifch ein- 
geftellte Walther von Hans Sachs eine derbe 
Lektion fagen laffen, deren Grundton am Schluß 
wiederfehrt in dem befannten Wort: „Berachtet 
mir die Meifter nicht und ehrt mir ihre Kunſt.“ 
Die Mufit zeigt vielleicht am deutlichften von 
allen Künſten die Exiſtenz gewiſſer, zwar beweg⸗ 
licher, aber doch andererſeits gegebener, nicht 
willkürlicher Grundformen und Grundgeſetze. Es 
iſt keine bloße philiſtröſe Intellektualiſierung, 
wenn man, im Beſitz einiger grundlegender 
Kenntniſſe der Harmonielehre, ſich den Aufbau 
eines größeren Muſikſtückes klarmacht, ſondern 
das gehört zum vollen Verſtändnis eigentlich un— 
bedingt hinzu. In dieſer Hinſicht iſt der Nichts» 
als⸗Subjektivismus natürlich erheblich bequemer 
als die von uns vertretene Anſicht. Denn wenn 
doch alles nur auf die inneren Gefühle — der 
moderne Kunſtjargon ſagt „Erlebniſſe“ — an: 
kommt, die ich beim Anhören eines Muſikwerkes 


166 


habe, jo brauche ih mir jene Mühe des Verftänd- 
niffes ja gar nicht erft zu machen; fie ftört nur 
den Genuß. Wer aber hinter diefe Dinge fieht, 
dcr weiß, Daß gerade darauf die größten Wir- 
tungen in der Mufif beruhen, daß der Künftler 
in volllommener Freiheit und dod) innerhalb des 
volltommenen Bejeßes gefchaffen hat. Das eben 
ift es, was ihn fozufagen zu einem Gott im 
fleinen madjt, der gerade diefe Kunft auch in 
feiner ganzen Schöpfung betätigt. 

Damit fommen wir zu dem zweiten Puntt: 
die rein fubjektiviftifche Runftauffaffung verjagt 
auch angefichts der Tatfache, daß nicht nur ein 
Kunftwert, fondern auch die Natur äfthetifche 
Eindrüde von übermwältigender Kraft erzeugen 
tann. Dan tann nun zwar vor der Anerken⸗ 
rung dieſes Umftandes fih zu drüden verſuchen, 
und das tun tatfächlich die meiſten Subjelti- 
viften in der KRunft, mit denen man fih in eine 
Debatte diefer Art einläßt. Sie behaupten näm- 
lih einfach, fie genöffen die Natur gang anders 
als ein Kunſtwerk, oder aber fie erflären, daß 
ja auch beim äſthetiſchen Natureindrud das Sub- 
jeft, nämlich das Subjekt des Belchauers, an: 
mefend fei, daß in diefem alfo die Quellen des 
äfthetifhen Eindruds zu fuchen feien. Diefe Uus- 
wege find aber weiter nichts als Ausflüchte. Denn 
erftens fagt die unmittelbare Erfahrung jedem, 
ter nicht mit einem Dogma an die Dinge heran: 
geht, daß der äfthetifche Natureindrud dem We: 
fen der Sache nah in nidyts verfchieden ift von 
dem, den ein Kunftwerf erzeugt. Die wunder: 
vollen „KRunftformen der Natur”, die 3. B. Haedel 
ebgebildet hat, oder die lieblichen Genrebilder 
aus Dennerts „Naturidylien” find tatlſächlich 
faum unterfchieden von Kunftproduften, und id) 
wette, daß, wer es nicht weiß, nicht imftande fein 
wird, viele fünftliche Ornamente von vielen jener 
Naturformen bei Haedel zu unterjcheiden. Das- 
jelbe gilt aber auh von anderen äjthetifchen Na: 
tureindrüden. Eine weite Landfchaft kann tat- 
fadylid eine ganz ähnliche Wirkung erzeugen, 
wie 3. B. ein übermältigender Chor aus einem 
Oratorium oder ein großes Baumerf; fie ift von 
diefen nicht mehr und nidyt weniger unterfchieden 
als diefe untereinander. Steht aber die grund- 
fügliche Gleichartigfeit der Eindrüde in beiden 
Fällen außer Zweifel, jo verfagt auh die zweite 
Ausflucht; die Quelle des Aeſthetiſchen liege eben 
im Befchauer oder Hörer der Natur. Denn ge- 
rade der Gubjettivift behauptet doch, daß im 
walle des Kunftwerts der Künftler das Beite ge- 
tan hätte, er wird doch dem das Kunſtwerk Ge- 
nießenden höchſtens eine reproduzierende Rolle 
zuerfennen. Wer triebe einen ftärferen Per- 
jonentultus als gerade die neuere Kunftiünger- 





Vom Relativen zum Abfoluten 


haft? Gut alfo, wenn alles Weſentliche, was 
die neunte Symphonie zum Kunſtwerk macht, 
aus Beethoven ftammt, woher ftammt dann das 
Mefentliche, was den äfthetifchen Eindrud einer 
Alpenlandfchaft oder eines norwegiſchen Fjords 
ausmacht? Soll es nun hier auf einmal aus 
dem Empfänger ftammen? Mit jenen Aus» 
flüchten ift es alfo nichts. Wer fih auf den 
Standpunft ftellen will, daß der äſthetiſche Na- 
tureindrud lediglich vom Beichauer in die Dinge 
hineingetragen werde, muß folgerichtig auch dem 
Genießer eines Kunſtwerks die allein ausichlag- 
gebende Rolle zuertennen, d. h. behaupten, daB 
nicht Bach ſchuld daran ift, wenn die Matthäus- 
paffion ſchön ift, fondern er, der Herr Meyer 
oder Müller felber, der fie anhört. Das ift offen> 
barer Unfinn. Sieht man dies aber ein, fo bleibt 
nichts anderes übrig, als anzuerfennen, daß in 
der Natur ein ähnlicher äfthetifcher Geftaltungs- 
trieb waltet, wie er fih im genialen Künftler 
offenbart. Und ift das denn fchließlich jo uner: 
hört wunderbar? Stammt denn nid diefer 
Menſch felber aus eben diefer Natur her? Wie 
find jene diluvialen Mammutjäger denn darauf 
verfallen, ihre MWohnhöhlen auszumalen, ihre 
Gefchirre, foweit fie ſolche hatten, zu verzieren 
ufw.? Sollte es nicht das Nädjitliegende und 
Einfadjfte fein einzufehen, daß in allem diefem 
wie auch in dem höchſten künſtleriſchen Schaffen 
eines Goethe, Michelangelo oder Beethoven 
lebten Endes ganz derſelbe Grundzug der 
Schöpfung waltet, der es veranlaßt, daß die or- 
ganifche Natur uns in fo taujfenden und aber: 
taufenden von Geftalten entgegentritt? Man 
jagt, tie Natur fei in Wahrheit nur ſchlechthin 
da, weder fchön noh häßlich, weder gut noch 
böfe, das feien vielmehr nur Begriffe, die wir 
Menſchen an die an fih neutrale Natur heran- 
trügen. So verbreitet diefe Anficht ift, jo ver- 
ehrt und — unmürdig ift fie. Richtig ift daran 
nur foviel, daß für eine wiffenfhaftlidhe 
Betrahtung die Natur nur fchlechthin Objett, 
reines Dafein ohne jeglie Wertung, ift und 
bleiben muß, wenn die Wiſſenſchaft nicht ver: 
fälfcht werden foll. Wer jenen „Geftaltungstrieb” 
(den Elan vital Bergfons) zum Erflärungs:» 
prinzip in der Biologie madhen will, der fällt aus 
der MWiffenfchaft heraus und verfällt Kants Ur: 
teil über die „faule Teleologie“. Uber ein ende- 
res ift es, ob diefe wiſſenſchaftlich nüchterne Be- 
trachtung ausreicht zu einem befriedigenden Ber: 
ftändnis der Welt als Ganzes genommen. Die 
Wiffenfchaft verfagt, wie wir früher fahen. na: 
turgemäß bei der Fragt, weshalb iiberhaupt eine 
Welt da ift und zwar eine folche, wie fie ift. Ge: 
rade hier liegt aber das Recht einer äfthetifchen 


Bom Felativen zum XAbfoluten. 


(und auch natürlih einer ent|prechenden ethi- 
Ihen) Betrachtungsmeife der Welt. Was natur: 
willenichaftlich angejehen reine Sache, Kaujfal- 
zufammenhang ohne jegliche Wertbetonung ift, 
tann deshalb dodh gleichzeitig febr wohl auch 
unter dem anderen Gefichtspunft betrachtet 
w.rden, daf fih in diefem unendlichen Kauſal— 
nerus ein übermältigender Geftaltungs- und 
Formentrieb offenbart. Sm Grunde Tiegt ja 
diefe Auffaffung gerade den fünjtlerifch veran- 
lagten Menfchen fehr nahe. Wenn fie faft alle 
zum PBantheismus neigen, fo fommt das aus 
dem Starten Gefühl für das Recht diefer Betrach—⸗ 
tıng ber. Dann müßten fie aber folgerichtig 
eigentlich auch von der Exiſtenz eines objektiv 
Schönen in der Natur überzeugt fein. Gerade 
fie müßten rückhaltlos den Worten des Philo- 
fophen Defterreich zuftimmen: 

„Die Welt muß nicht nur bloß fo nebenher, 
jondern ganz ernithaft als Kunſtwerk eines 
ihönheitsfchaffenden Gottesgeiſtes verjtanden 
werden... . Es gehört zum Weſen der Welt, 


Daß ſelbſt das Furditbarjte noh Träger äfthe- . 


tiſcher Werte fein tann. Und aud die Sünde 
fleiner Dimenfion tritt oft noch im Ecwande der 
Schönheit auf und ift, was noh merfwürdiger 
ift, auch im inneren Erlebnis zum Teil von äfthe- 
tiſchen Raufchgefühlen begleitet . . . Wir mögen 
das Aeſthetiſche noch fo tief unter das Gittliche 
- Stellen, es ift ein die Welt durchwaltender Wert, 
der überall in der Schöpfung im Größten und im 
Unfichtbarften eine bis in die legten Struftur- 
feinheiten hinein beherrichende Stellung bejißt 
und deshalb auch in Gottes Wefen von Bedeu: 
tung fein muß.“ 

Defterreich weiſt auch m. €. völlig mit Redt, 
darauf hin, daß die Edwierigleiten des Pro- 
blemsder Theodizee auf dem äjthetikchen 
Gebiet faum in nenneswertem Grade beitehen. 
Daß die Welt von einem abfolut guten Gott 
gekhaffen fein foli, das fällt fehr ſchwer zu 
glauben. Daß fie von einem fünitlerifch emp- 
findenden und wirkenden Gott heritammt, fteht 
ihr dagegen ſozuſagen fait an der Stirn ge- 
fhrieben. — Wenn das aber anerfannt wird, 
dann ift die Furcht wirklich grundlos, die offen: 
bar unfere Künſtler immer wieder auf die fubjet- 
tiviftifche Seite hinübertreibt, die Anerfennung 
folches objektiv gegebenen Schönen fünne der 
Kunft unerträglie Felfeln anlegen. Diefe 
Furcht fteht dann auf derjelben Höhe, wie etwa 
Die eines Forſchers, die Anerkennung eines ob- 
jeftiv gegebenen Sachverhalts fünne die Freiheit 
der Forſchung beeinträchtigen. 

Wenn es wirklich wahr wäre, daß das Schöne 
einen objektiven Wert voritellt (ähnlich wenn 


167 


niht ganz ebenfo wie das Wahre), fo dürfte 
vielmehr der Künftler bei all feinem Schaffen die 
beglüdende Ueberzeugung haben, daß er, jofern 
er wirflich ein wahrer Künjtler ift, ein Teil der 
Ihaffenden Weltjeele felber ift, und das Gefühl 
des „Inſpiriertſeins“, das bei Künftlern vielleicht 
noch lebendig.r ift, als bei den großen Propheten 
und den großen Forichern, beftände bis zu einem 
gewilfen Grade zu Redt. So hat es zweifels- 
ohne aub Goethe mit dem befannten Aus- 
ſpruch über Bad gemeint: es fei, als ob fich die 
ewige Harmonie mit fidh felber unterbhielte. 

Die tiefe innere Wahrheit diefes Ausfpruchs 
wird uns noch deutlicher, wenn wir nunmehr 
noh auf das Berhältnisvonunftund 
Wiffenf haft etwas genauer eingehen. Bei 
aller Verfcyiedenheit der Art des Schaffens hat 
der große Künftler doch ganz offenfichtlich et- 
was dem ganz großen Forſcher nahe Ber- 
wandes. Am klarſten wird das, wenn man nidht 
gerade die Naturmwillenichaften, welche die vbjef- 
tivjte aller menfchlicden Geijtestätigkeiten bilden, 
herangieht, fondern diejenigen Willenfchaften, in 
denen die fruchtbare Phantafie eine ganz wefent- 
lih größere Rolle als in diefen fpielt, 3. B. die 
Geſchichte oder die Philofophie. Hier kommt 
offenbar zu der reinen fachlichen Erkenntnis nod 
etwas hingu, was den Schriftfteller oder Redner 
auf dieſem Gebiet erft aus einem bloßen Hand- 


werter zu einem wahrhaften Könner macht. Der 


große Hijtorifer oder Rulturphilofoph, wie 3. B. 
ein Treitfchle oder neuerdings Dilthey, 
Scheler u. a. feſſelt unfer Intereſſe nicht in 
erjter Linie durch feine Kenntniſſe der „pofitiven 
Tatſachen“ (die verjteht fih immer von jelbft), 
londern durch die große Linie, die er vor unferen 
Augen erjtehen läßt. Daher fommt es auch, daß 
weitaus die meijten unter denen, welche fih den 
hiftorifchen Fächern widmen, ftar? künſtleriſch 
interefjiert zu fein pflegen. Der Pofitivismus 
geht gewöhnlich mit einem ironifchen Lächeln 
über folches Beftreben hinweg. Für ihn heißt 
„Wilfenfchaft" nur, was fih in „eratter“, nüd: 
terner Tatjächlichteit fo vorrechnen läßt, daß es 
der plattejte Verſtand begreifen fann. Wllein 
diefe philiftröfe Auffaffung verjagt in Wirklich: 
teit fchon in den fog. eraften Wilfenjchaften 
jelbft. Das Belte, was fie zu geben haben, wird 
ebenfalls nit durch eine nüchterne NRechnerei, 
fondern durch ein der fünjtlerifchen Phantafie 
aufs engſte verwandte Genialität gefunden, na: 
türlich wird dieſelbe hier aufs ftrengfte gezügelt 
durch die fortwährende Kontrolle an den Tat: 
fachen. Aber eine Art von Nachſchaffen des 
Naturgegebenen im Geijte ift die Phyſik aut. 
Nur daß hier das Objekt durchaus die Führung 


168 E 


hat. In der Gefchichte liegt die Sache im Prinzip 
gwar nicht viel anders, bei der ungeheuren Ber- 
wideltheit und der Einmaligfeit des Objefts aber 
fommt es hier viel mehr als dort auf die fruct: 
bare Phantafie an. Der Forſcher muß hier fogu- 
Tagen das Befte jelber tun, er muß die zufammen- 
faffenden Begriffe erft fchaffen, die ihm in der 
Naturwilfenichaft durch das Objekt mehr oder 
weniger aufgedrängt werden. Das ift aber nicht, 
wie viele Wijlenjchaftstheoretiter gelehrt haben, 
ein MWefensunterfchied, fondern nur ein Grad» 
unterjchied. Gewiſſe Begriffe drängen fich auch 
in der Geſchichte ganz zweifellos ohne weiteres 
durch das Objekt auf, trog aller Kompliziert⸗ 
heit desfelben. So wird 3. B. niemand den Be- 
griff der „franzöſiſchen Revolution“ oder den der 
„Reformation“ oder den des „MWeltkrieges” als 
bloße Schöpfung hiftorifcher Theoretiter anjehen. 
Bon diefen zu den anderen, bei denen das 
weniger jicher ift, führt aber eine ganz fontinu- 
ierliche Stufenfolge. Und die eigentliche Geniali- 
tät eines Hiftorifers zeigt fih nur darin, daß er 
folche bisher noch nicht bemerkte hijtorifche „Ge⸗ 
italten”, wenn ich diefen Ausdrud gebrauchen 
darf, fiebt. Dann Steht er in einer Linie mit dem 


großen Forfcher in den Naturwijlenfcyaften, der 


einen durchgehenden Zufammenhang, wie 3. B. 
das Energiegefeg oder eine grundlegende neue 
Hypothefe, wie 3. B. die Bohriche Atomiſtik, zum 


eriten Male gefehen hat. — Bon diefer Art des 


Hiftoriters ift es nun nur noch ein weiterer 
Schritt in derfelben Richtung zu der Urt des 
Künftlers. Diefer jteht tatfächlih der freien 
Schöpfertätigkeit Gottes am nächſten, ift am 
wenigjten durch das Gegebene gebunden. 
Aber ich beftreite eben, daß diefe Freiheit im 
Sinne des Relativismus eine vollfommene ift. 
Auch er ift vielmehr in einem gewiſſen Umfange 
doh durch das Objeft gebunden, ift auch nicht 
völlig freier Schöpfer, jondern mehr oder weniger 
Schauender. Der Eindrud, den ein ganz hervor: 
ragendes Kunjtwert macht, hat deshalb auh in 
der Tat etwas außerordentlidy nahe Verwandtes 
mit dem, den eine ganz große wilfenfchaftliche 
Leiftung macht. 

Wie die lettere unter Umſtänden einen febr 
ſtarken äjthetifchen Wert vorftellen fann, fo hat 
ouch umgekehrt die große fünftlerifche Leiftung 
etwas von der theoretifchen Ueberzeugungskraft 
der großen Torjchungsergebniffe. Sie wirft 
durchichlagend, mit elementarer Gelbitverftänd- 
lichleit wie diefe. Wer die moderne Atomiftit in 
jih aufnimmt, der tann gar nicht anders, er muß 
eusrufen: ja, ficherlich, fo ungefähr muß es fein, 
es ift einfach undentbar, daß dies alles Täufchung 
fein follte. Gin fo wunderbares Ineinander—⸗ 


VLom Relativen zum Abſoluten. 


greifen ift nur denkbar, wenn in der Hauptfache 
Wahrheit vorliegt. Ebenſo wirkt aber auh ein 
großes Kunftwert Wer es hört oder fieht oder 
lieft, möchte auch ausrufen: Jawohl, fo und nicht 
anders muß es gejagt, gemalt, komponiert 
werden, anders geht es gar nicht! Jedes große 
Kunſtwerk ift in feiner Art und an feinem Pla 
überhaupt  unübertreffbar: der Mofes von 
Michelangelo, die neunte Symphonie von Beet- 
boven oder die H-moll-Meffe von Bad, der 
Fauſt oder die Antigone oder der dreiundzwan- 
zigſte Palm, fie wirken in ihrer Art und an ihrer 
Stelle mit diefer unentrinnbaren Selbftverjtänd- 
lichkeit. Und das follte auf bloßer Konvention, 
Erziehung zu einem beftimmten „Geihmad“, 
bloßer Stärfe der jubjektiven Ausdrudsfähigteit 
beruhen? Nein, umgekehrt: Derjenige ift der 
größte Künftler, der als Subjekt hinter feinem 
Werk völlig verjchwinden tann. Sener Mofes, 
das ift eben nicht Michelangelo, fondern ein 
Wert, das dauert, wenn diefe PBerfon, fie fei fo 
itart, wie man immer wolle, gemwejen, längjt ver- 
geffen ift. Was weiß man heute nod von der 
Perfönlichleit des Phidias oder des Prariteles, 
und mer fragt noch Danach, wenn er ihre herr- 
lihen Statuen fieht? Lediglich die Dogmatik des 
modernen Subjektivismus veranlaßt die Kunſt⸗ 
ſchwärmer von heute, wenn fie die Neunte hören, 
ji) fur Beethovens perſönliche „Stärke“ ufw. zu 
begeiftern. In Wahrheit dentt fein einziger von ` 
ihnen in dem Augenblid, wo er hört und genießt, 
ar den Mann, jondern das Wert ift es, was ihn 
gefangen nimmt und daß der Mann hier 
im Werteaufgehbt,dasebenijtjeine 
Größe, ift das, was diefe Kunſt zur „klaſſi⸗ 
chen“ d. b. Beit und Raum überbrüdenden 
maht. Man fann geradezu fagen: alle Kunſt, 
die weiter nichts als im Sinne des nadten Rela- 
tivismus Ausdrud für fubjeltive Stimmungen 
oder dergl. ift, ift von vornherein dazu verurteilt, 
bloße Tagesproduftion zu bleiben. Was dagegen 
ein Kunſtwerk zum Zeiten überdauernden Werte 
macht, das ift gerade das daran, was über diefen 
rein jubdjeftiven Gehalt hinaus an allgemein 
Menſchlichem oder — Böttlichem darin ftedt. 
Sieht man das ein, fo wird man auh zugeben, 
daß es der Gipfel der Geſchmacksverderbnis ift, 
wenn ſowohl das Publikum wie die Künftler der 
reproduzierenden Fünfte, vor allem alfo in der 
Mufit, aber auh in der Dichtung, zumeift für den 
größten Künftler denjenigen halten, der in das 
vorzutragende Werf möglichſt viel von „Eige— 
nem” hineinlegt (nur beim Schaufpieler ift es 
anders). Das Gegenteil ift richtig. Derjenige ift 
der größte Künjtler, der am meiften aus dem 
Wert herausholen fann. Uber für das liebe 


Leibnizens Gegenwartebedeutung. 





Publikum ift es natürlich viel bequemer und faß- 
licher, wenn man fidh ftatt an das Wert an die 
Perſon des Pianiften, Rezitators, Dirigenten 
uſw. hält und eine Preffe, die feine Ahnung da- 
von hat, daß deutich fein heißt „eine Sache um 
ihrer felbfjt willen tun“, nährt diefe Bequemlich- 
feit durch maßlofe Verhimmelungen der betr. 
PBerfönlichteiten. 

Ich will hiermit nicht behauptet haben, dah 
die in Rede ftehenden Werte der Kunft, insbe- 
fondere die mufitalifchen, keinerlei Beziehungen 
auf fubjeftive Gemütszuftände hätten. Es ift ja 
gar feine Trage, daB man tatfächlicy dieſen 
Mikrokosmos des Innenlebens auf keine Weife fo 
zur Darjtellung bringen fann, wie eben durd) die 
Kunft, insbefondere die lyriſche Dichtung und die 
Mufit. Es gibt alfo zweifellos fubjettive Kunſt 
und Gubjeltives in der Kunft. Bon den Kompo- 
niften find 3. B. Chopin und Lilgt, vielfach auch 
Schumann, Start fubjettiv bejtimmte Künitler, 
während umgefehrt Mozart und Händel fait rein 
objektive Mufit bieten. Die ganz großen aber, 
Beethoven und Bad, verbinden beides in uner- 
reichbarer Vollkommenheit und hier bedeutet es 
deshalb eine Verkümmerung der Auffaffung, 
wenn man fo tut, als ob beifpielsmweife eine Beet- 
hovenfd;e Sonate wie die „Pathetique” oder „Ap⸗ 
pajjionata” lediglich deshalb fo bewundernswert 
wäre, weil fie einen ungeheuren „Weltichmerz” 


III. 
= „&eibnig umfaßte alle Bijfenfchaften 
und bildete fie in der Richtung fort, in der ihre 
Zufunft lag“ fo charakterifiert Dilthey die 
vielbejtaunte Univerfalität Leibnizens in ihrem 
feineswegs nur polghiftorifchen, ſondern durd- 
aus produftiv - genialen Weſen. Daß diefe 
Charafterijtit für Leibnizens naturmifjenfchaft- 
liche Arbeiten wirklich zutrifft, das dürften die 
im vorigen Abſchnitte behandelten Beifpiele — 
die fich leicht noch vielfach vermehren ließen — 
hinreichend beweifen. Daß fie aber auch für feine 
anderen Arbeiten gilt, will ich wenigftens noch 
für das Gebiet einer zweiten Spezialwiffenfchaft, 
der Mathematit, an ein paar Beifpielen zeigen. 
Ic übergehe aud) hier wieder zahlreiche Einzel: 
entdedungen Leibnizens, wie feine Dyadit, die 
fih jet, wie er richtig vorausfah, in der Zahlen: 
theorie fo gut bewährt, oder feine „analysis 
situs“, die 9. Graßmann in feiner Aus: 
dDehnungslehre erneuert hat, und beſchränke mid) 
auf zwei Fortichritte von ganz allgemeiner, um: 


169 


oder dgl. ausdrüdte, gefchweige denn, 
daß man ſolchen kleinlich menfclich ſubjek— 
tiven Gefichtspunft an die Missa solemnis oder 
die H-moll-Meffe ufw. anlegen könnte. Auf 
ſolchen Höhepunkten wird vielmehr Objekt und 
Subjett eins, und das ift der wahre Grund, war: 
um foldye Kunſtwerke tatfächlidy eine Art erlöfen- 
der Wirkung haben (unter voller Wahrung des 
in dem v. Sodenfchen Auffaß darüber Gefagten). 
Das Subjeft, das hier feine eigenen inneren Zu: 
ftände in volllommener Weife ausgedrüdt findet, 
fühlt zugleich, daB eben diefe Zuftände einem ob- 
jettiven Großen, Unbegreiflichen zugehören, in 
dem es aufgehen und fih felbjt aufgeben möchte. 
Es erbebt vor feiner eigenen Kleinheit und der 
Größe diefes weit über feine eigene kleine Sphäre 
binausgehenden Objektiven, der „ewigen Harmo- 
nie, die ſich mit fih ſelber unterhält” und fühlt 
doch, daß umgekehrt auch feine eigene unbedeu— 
tende Stimme ein wenn auch winziger Bruchteil 
diefer Weltenfgmphonie if. Man muß einmal 
ein ſolches Wert nicht nur angehört, fondern 
jelber mitgefungen haben, um das ganz nad): 
fühlen zu fönnen. Dann aber verjteht man aud, 
weshalb die Natur äfthetiiche Eindrüde erzeugt: 
es ift derfelbe Bott, der im Künftler, wie in der 
Natur geftaltet und fih an feinen eigenen Werfen 


freut. 
(Schluß ” 


£eibnizeng Segenwartöbedeutung. Bon Dietrih Mahnte. (Stu) 


faffender Bedeutung, x wir ihm verdanten. 


Wenn ich unter — grundſätzlich 
wichtigen mathematiſchen Entdeckungen an 
erſter Stelle die von ihm ſog. „analysis infini- 
torum“ nenne, ſo brauche ich mich nicht auf eine 
neue Erörterung des unglückſeligen Prioritäts— 
ſtreites mit Newton einzulaſſen. Denn es ſteht 
gwar feft, daB die Anfänge von Newtons 
Fluxionsrechnung 9 oder 10 Jahre älter find als 


die erſten Entdedungen Leibnizens (in der 


analysis tetragonistica ex centrobarycis, 
25. Ott. bis 1. Nov. 1675). Aber felbft wenn wir 
davon abjehen, daß Leibniz feine Entdeduny 
von einer ganz andern ©eite her, alfo gewiß un: 
abhängig von Newton gewonnen bhat, und 
ferner, daB die TFortentwidlung der höheren 
Analyfis allein an Leibniz, niht an Newton an- 
geknüpft hat (weil nämlich erfterer fein neu ge: 
wonnenes wiſſenſchaftliches Handwerkszeug 
freigiebig der ganzen gelchrten Welt zur Ber- 
fügung ftellte, während leßterer es heimlich fir 


170 


fih behalten wollte), fo ift jedenfalls das unbe- 
ftreitbar, daß die gFrundſätzliche und afi- 
gemeine Bedeutung der neuen Methode zu: 
erjt von Leibniz erfannt worden ift, während fie 
für Newton nur ein Runftgriff zur Löſung 
fpezieller, meiſt phyſikaliſcher Probleme 
war. | 


Leibniz ift nämlich als erfter zu der flaren 
Einficht gelangt, daß es nötig fei, die alte 
Mathematit der distreten Zahlen und ftarren 
Figuren dur die moderne Mathematif der 
kontinuierlichen und veränderlichen Größen zu 
ergänzen. Er hat immer wieder auf die große 
Bedeutung des Kontinuitätsprinzips nicht nur 
in der reinen Mathematif, fondern auh in der 
Naturwiſſenſchaft hingewiejen und fich felbft der 
Entdedung der allgemeinen Gültigkeit dieſes 
Prinzips oft und gern gerühmt. Er ift ferner der 
Schöpfer des modernen Funktionsbe— 
griffes. Auch das Wort „functio“ hat er 
auerft, in einer Abhandlung der Acta erudi- 
torum 1692, in unjerm Sinne für eine ver- 


änderliche Größe, die von einer andern geſetz⸗ 


mäßig abhängig ift, eingeführt. Und die unge» 
heure Bedeutung der Differential- und Integral— 
rechnung beſteht nun eben nah Leibniz darin, 
daß fie das diefer neuen Art mathematifcher 
Größen, der fontinuierlien Funktionen, ange- 


meffene „novum genus calculi” darftellt und. 


daher überall in der modernen Mathematif und 
Phyſik unentbehrlich ift. 

Leibniz hat fih aber noch ein zweites un: 
ſchätzbares Berdienit auf Ddiefem Gebiete er- 
worben, indem er nämlid) die Differential- und 
Integralgeichen fo geſchickt erfunden hat, daß 
ihnen der rafche Fortichritt der höheren Analyjfis, 
ihon gleich zu Leibnizens Lebzeiten, zum gropen 
Teile mit verdantt wird; denn gut gewählte 
Rechenzeichen rechnen für den Menfchen. Daher 
hat die Leibnizſche über die Newtonſche Be- 
zeichnungs- und Berechnungsmweije auch in Eng: 
land bald den Sieg davongetragen und ift bis 
zur Gegenwart völlig unverändert beibehalten 
worden. 

Auch diefe Erfindung entfprang einer 
grundſätzlichen Einficht Leibnizens über 
den Wert fymbolifcher Berfahrungsweifen in 
der Mathematik, wie man aus feinen zahlreichen 
Arbeiten zur „characteristica universalis” 
leicht erjehen fann, wie es aber für unfer 
Ipezielles Gebiet noch befonders deutlich aus 
feinem Briefwechfel mit dem Grafen von 
Tſchirnhaus im Jahre 1678 hervorgeht. Diefer, 
obwohl auch ein tüchtiger Mathematiker, wollte 
von folhen neuen „monstra characterum“ 


Leibnizens Gegenwartsbebeufung. 


nichts willen, fondern behauptete die von 
Leibniz in Angriff genommenen Probleme auch 
mit früheren Methoden löfen zu können. Leibniz 
aber wies darauf hin, daß es fih ihm nicht 
darum handle, einzelne Aufgaben bald fo, bald 
fo zu löfen, fondern ein gemeinjfames Berfahren 
auszubilden, das eine gange, unendlich große 
Klaffe von Aufgaben auf einmal erledige. Und 
eben um die Zufammengehörigfeit und formale 
Gleichartigkeit diefer verfchiedenen Problem: 
löfungen zu zeigen, fei auch eine gemeinfame 
Bezeichnungsmweife nötig. Im Anſchluß daran 
ftellte Leibniz dann auh noch die weitere 
Hauptbedingung für eine gute Zeichenſchrift 
auf: fie müffe die Dentarbeit möglichft leicht und 
die Erfindung möglichft bequem machen, indem 
fie die innere Natur und die wahren Relationen 
der behandelten Objefte furz und bündig und 
Doch eraft zum Ausdrud bringe — eine Be- 
dingung, die Leibnizens Differential- und 
SIntegralzeichen, wie die Entwidlungsgeidichte 
ber höheren Analyfis zeigt, in befonders hohem 
Grade erfüllt haben. 
2. 

Damit find wir ſchon zu der zweiten allgemein 
bedeutſamen mathematifhen Entdedung Leib- 
nizens gelangt, zu der fiaren Erkenntnis des 
Weiens und Wertes der formalen und 
Iymbolifhen Mathematit im Unter: 
fchiede von der anfchauliden Mathematik. Schon 
die Griechen haben die Grenzen und Mängel der 
räumlichen Anſchauung bemerkt, wenn man aus 
der Betrachtung beftimmter Figuren allgemeine 
Süße induktiv zu beweiſen jucht; fie find deshalb 
auf den Gedanken gefommen, die Anfchauung - 
möglichft auszufchalten und das ganze Syitem 
der Geometrie aus einigen wenigen Ariomen 
formal:logifcy zu deduzieren, um fo durch Ab⸗ 
ſehen von allen ſubjektiv-ſinnlichen Beimengun- 
gen und durch Beſchränkung auf das objektive 
Begriffsgerippe wahrhaft AUllgemeingültiges zu 
gewinnen. Aber wenn aud bei Euflid die ganze 
Deduftion fon rein formal-logifh ift, fo 
werden dodh die Ausgangspunfte der Deduktion 
immer noh der Alnfchauung entnommen, 
und deshalb bleibt die Geometrie fchließlich doch 
von den ſpezifiſch menſchlichen Sinnesqualitäten 
und AUnfchauungsformen abhängig. Erft der 
modernen formalen Math:matif, wie fie Hilbert 
mit feiner axiomatiſchen Methode zur Boll- 
endung geführt hat, ift die völlige Ausfchaltung 
oller inhaltlich-anſchaulichen Qualitäten gelun- 
gen. Diefe definiert nämlich alle mathematifchen 
Syſteme, ohne von der anſchaulichen Bedeutung 
der in ihnen behandelten „Dinge“ überhaupt zu 


Leibnizens Gegenwarisbedeutung. 


ſprechen, rein logiſch durch Axiomgruppen, die 
zwiſchen den im übrigen gänzlich unbekannten 
„Dingen“ (oder eigentlich bloßen leeren Ding— 
formen) gewiſſe formal-begriffliche Beziehungen 
der Verknüpfung, Anordnung uſw. feſtlegen. 
Jede ſolche Gruppe von Axiomen — voraus— 
geſetzt nur, daß die in ihr zuſammengeſtellten 
einander nicht logiſch widerſprechen — definiert 
ein gültiges Gebiet der formalen Mathematik. 
Man jagt von ihm dann, daß es (im ideellen 
Sinne) „egiftiert”, d. b. daß es logiſch zuläffig 
oder denkmöglich ift. Die reale Eriftenz in der 
Anſchauungswelt dagegen ift der formalen 
Mathematik völlig gleichgültig. Ihre eigent- 
lichen Gegenftände find eben garfeine wirflich 
wahrnehmbaren, ja auch nicht in der Phantafie 
erſchaubaren Dinge, fondern bloße Begriffs: 
gerippe von Dingen, die erft durch Umkleidung 
mit dem Fleifch und Blut anfchaulicher Erleb- 
nisinhalte zu wirklichen Dingen werden fönnen. 

Dies formalelogifche deal der modernen 
Mathematit hat nun Leibniz bereits ganz klar 
vorausgef:hen. Hufferl hat fchon 1900 darauf 
bingewiefen, daB die fog. formale Mannig- 
faltigteitslehre des 19. Jahrhunderts in Leib- 
nigens Jdee der Univerfalmathematif 
als des Syſtems aller möglichen Syfteme mit 
rein formalen, vom „Inhalt unabhängigen 
Deduftiven Zufamenhängen bereits vollitändig 
enthalten fei. Auch Couturat hat 1901 diefen 
formaliftikhen Charakter der ganzen „scientia 
generalis“ Leibnizens, insbejondere feiner 
logifh - analytifdhen Auffaſſung der 
Mathematit deutlich herausgearbeitet und Die 
leßtere im Vergleich zu Kants anſchaulich— 
ſynthetiſcher WAuffaffung für weitaus 
moderner, ja allein mit der neueren Entwidlung 
der Mathematit verträglid crtlärt. (Im Zus 
fammenhang damit ift zwiſchen Henri Poincaré 
und Couturat ein jahrelanger Streit unter der 
Devije: hie Rant — hie Leibniz ausgefochten 
worden.) 

Aber fo richtig es ift, in Leibniz den Anfän- 
ger der modernen formalen Mathematik zu 
fehen, fo falſch ift es doch, ihn zum einfeitigen 
Bormaliften zu machen. Denn er ift fi aud 
über die Grenzen der formalen Vernunft völlig 
far gewefen. Damit nämlih eine Mannig: 
faltigfeit zufammen gehöriger Säße für ein 
objettiv gültiges  univerfal - mathematifches 
Eyftem erklärt werden darf, ift zweierlei nötig: 
Alle Sätze müffen aus einer endlihen Anzahl 
von Artomen rein logiſch deduziert werden, und 
diefe Axiome ſelbſt müffen als miteinander ver- 
träglid, d. h. logiſch widerſpruchslos erwieſen 


171 


werden. Die erfte Aufgabe kann die formal- 
analytifche Vernunft allein löfen, zur Löfung der 
zweiten aber, zum Nachweis der compossi- 
bilitas, wie Leibniz fagt, d. b. des Zufammen- 
möglichjeins der Ariome, ift der Rüdgang auf 
die, fonthetifche Anſchauung nötig. Leibniz hält 
es aber nicht für richtig, fih hierbei nun doch 
wieder der gewöhnlichen finnlicden Anfchauung 
der Wirklichkeit zu bedienen, deren Unzuver— 
läjligfeit ja gerade den Anſtoß zur Ausbilönug 
der formalen Mathematik gegeben hatte. Biel- 
mehr empfiehlt er, um dem abjtratten Denten die 
unentbehrlihe anſchauliche Lebendigkeit zu 
geben, die Schöpfung ganz neuer Symbole oder 
Charattere, d. h. konkreter Zeichen, die unter 
Ubftreifung der vermwirrenden Kompliziertheit 
der Sinneswahrnehmung nur die für den 
logischen Aufbau weſentlichen Beziehungen 
ſinnlich „repräfentieren“. Leibniz ift niht müde 
geworden, den Wert einer folchen „characte- 
ristica universalis“ zur anfchaulicyfyntheti- 
jhen Werlebendigung der formal-analytiſchen 
„mathesis universalis“ hervorzuheben, und 
þat fih auch felbft lebenslänglid) immer wieder 
um ihre wirkliche Ausbildung bemüht. Wir 
hörten Schon von der hervorragenden “Be: 
währung feiner Differential- und Integral- 
zeichen. Aber aud in der Algebra hat er Bietas 
Vorarbeiten ſyſtematiſch vollendet, hat in der 
„analysis situs“ einen Kalkül zu ſchaffen ver- 
juht, der die geometifhen La g e eigenfchaften 
ladygemäßer als Descartes! quantitative 
analytifche Geometrie darjtellen follte, und hat 
fogar die formale Logik ſymboliſch zu verfinn- 
lichen geftrebt, wodurch er, wie Couturat nad) 
gewiefen hat, der Vorentdeder des erft im 
19. Jahrhundert weiter ausgebildeten Logik⸗ 
faltüls geworden ift. 

Iſt es nun nicht eine glänzende Rechtfertigung 
diefer Leibnizfchen Ideen, daß auh Hilbert bei 
feiner jüngiten „Neubegründung der Mathe: 
matif” als unentbehrlide Hülfsmittel folche 
Jahl- und Formelzeichen heranzieht, die er teils 
der fombolifchen Mathematif, teils dem Logit- 
falfül entnimmt? In früheren Jahren hatte 
Hilbert den Berfuch gemacht, die Eriftenzbeweife 
aller mathematifchen Gebiete, d. h. die Bemeife 
der Widerjpruchslofigkeit ihrer Ariomenfyfteme, 
ohne Benußung irgend welcher anfchaulich ge- 
gebenen Inhalte zu führen. Dabei war es ihm 
gelungen, alle Eriftenzbeweife rein logifch auf 
einen einzigen zurüdzuführen, den ver 
Suthmetifa; den formalen Eriftenzbeweis der 
[eßteren aber hatte er 20 Jahre lang vergeblid) 
geſucht. Dieſe Erfahrung, verſtärkt noh durd 


172 


die Einwände, die von Seiten des „Intuitionis⸗ 
mus” überhaupt gegen die Zuverläffigkeit der 
rein formaliftifchen Begründung der Mathe- 
mati? erhoben worden find, hat nun in den 
legten Jahren Hilbert veranlaßt, einen anderen 
Weg zu verfuchen, und zwar im Grunde den 
gleichen, wie er bereits Leibniz vorgeſchwebt 
hat. Hilbert vermeidet jegt die frühere Cin- 
feitigteit des „Formalismus“, ohne aber in den 
Raditalismus der Intuitioniften Brouwer und 
Weyl zu verfallen, die nur foidhe mathematifche;ı 
Begriffe zulaffen wollen, die durch eine endliche 
Anzahl von Schritten anfchaulich „konftruiert” 
werden können. Er hält nämlich an feiner logi- 
Ihen Methode der Formalifierung und Ario- 
matifierung feft, ergänzt fie aber durch das an» 
Ihauliche Dperieren mit außerlogifchen, finnlich 
gegebenen Zahl- und Formelzeichen, und fo ge» 
lingt es ihm in der Tat, den Erijtenzbeweis der 
Arithmetit und damit der ganzen bisherigen 
Mathematik, einfchließlich der von Brouwer und 
Weyl angefochtenen Teile, in voller Strenge 
durchzuführen. Die jüngjte Entwidlung der 
Mathematik verläuft alfo genau in der Rich: 
tung, die Leibniz bereits vor 2% Jahrhunderten 
eingefchlagen hat: in der Richtung auf die Sy n- 
thbefe des Formalismus und SIntu” 
tionismus durch die ſymboliſche 
Mathematik. 
IV. 


Wenn wir nun zum Schluß, joweit es der be- 
ſchränkte Raum geftattet, nody einen kurzen Blid 
cuf Leibnizens metaphyfiihde Weltanſchauung 
werfen wollen, fo wird uns das dadurch [ehr 
erleichtert, daß uns von Leibniz niht wie von 
vielen andern Philofophen zugemutet wird, jeßt 
den feiten Boden der wiſſenſchaftlichen Forſchung 
zu verlaffen und zu phantaftifchen Luftichlöjfern 
der reinen Spekulation emporzufchweben. Biel- 
mehr bleibt Leibnigens Metaphyfit immer in 
enger Berbindung mit den Einzelmifjenfchaften, 
fteht alfo auh aus diefem Grunde der fpezia- 
liftifch orientierten Gegenwart viel näher als die 
meiften andern Syſteme des deutſchen Idealis—⸗ 
mus, Die eine von der Speztalforjchung ganz 
unabhängige, nur auf fih felbft beruhende Philo- 
ſophie zu ſchaffen ſuchen. Gewiß finden wir 
auch in Leibnizens Syſtem manche kühnen, ja 
überkühnen Gedankenkonſtruktionen. Aber fie 
ſtützen fih dodh immer auf das feſte Fundament 
mathematiſcher, natur: oder geiſteswiſſenſchaft⸗ 
licher Erkenntniſſe und bauen ſich von da lang— 
jam in die Höhe. Und wenn fie dabei in hypo- 
thetifhe Regionen geraten, fo werden Diele 
wenigjtens auh ausdrüdlich als hypothetiſch be- 


Leibnizens Gegenwartsbebeutung. 


zeichnet. 

Schon im II. Abfchnitt find wir wiederholt 
von der Phyfit aus zur Metaphyfit emporge: 
ftiegen. Die Dynamit bahnte uns den Weg zur 
Lehre von der Kraftjubjtanz oder genauer von 
der (geiftigen) Energie als Ding an fih; und 
die biologische Entwidlungslehre dehnte fih aus 
zu einer großartigseinheitlicdden Teleologie der 
„Welt”gefchichte (im umfafjenden Sinne diefes 
Wortes). Jetzt möchte ich noh in ähnlicher, 
eratt fundamentierter Weife zum eigentlichen 
Sentralgedanten der Leibnizſchen Metaphyfit 
hinaufführen, zur Lebre von der Univerfal- 
barmonie der individuellen Mo: 
naden, und finde den Schlüffel zu diefer fo 
oft mißverftandenen Lehre in Leibnigens Eyn: 
thefe der formalen und anfchauliden Mathe: 
matik durch die „characteristica universalis“. 

Das Wefentliche der Monadenlehre ift nämlid) 
niht etwa ihr einfeitiger Spiritualismus. „Ich 
würde nicht fagen, wie man mir unterjdjiebt, 
daß alle Dinge nur eine einzige Subftanz haben, 
und dah diefe Subftanz der G e ift fei. Es gibt 
ebenſo viele verfchiedene Subftanzgen wie Mo- 
naden und nicht alle Monaden find Geifter.” 
Co hat Leibniz noth in einer jener legten philo- 
fophifchen Aeußerungen, einem Briefe an Maf- 
fon, geic;rieben. Und auch wenn er in demjelben 
Briefe alle Monaden wenigitens für „le >» 
bende Weſen“ ertlärt und ihnen mindeltens 
unterbewußte Empfindungen und Strebungen 
zufchreibt, fo iſt dieſe Hypotheſe (die er aller- 
dings für äußerſt wahrfcheinlich hält, weil das 
Geſetz der Kontinuität die Fortſetzung der Reihe: 
vernünftiger Geijt, tierifche Seele, pflanzliche 
Reattionsfähigteit auch in das Reih der ans 
organischen Kräfte oder Energien verlangt) dod) 
nicht unaufhebbar mit dem eigentlichen Sinne 
der Monadenlehre verfnüpft.e Deren innerfter 
Kernpunft ift vielmehr die Synthefe des 
Montsmus mit dem Pluralismus 
oder genauer des mathbematild: natur: 
geſetzlichen Univerfalismus mit dem 
geiftesgefhidhtlihden Individua- 
!ismus und religiöfen Berfonalis- 
mus durd die Einficht, daß jedes Weltelement 
ihon ein fleines Univerfum ift und in 
feiner individuell befonderen Weife den ganzen 
Mafrofosmos „widerfpiegelt*“ oder „reprä- 
fentiert”. Db aber diefes „Repräfentieren“ 
des Univerfums ein fubjeftio » pfychologifches 
„Borftellen” ift wie im Geifte eines denfenden 
Menfchen oder nur ein objeftio-mathematifches 
„Darjtellen“, wie es ſelbſt völlig leblofen Teil- 
hen der Natur wegen der allgemeinen urſäch— 





lichen Verkettung des Weltganzen zugeichrieben 
werden muß, das ift für Leibniz erft eine fetun- 
däre Frage. 

Schon Kepler hat den Verſuch gemadıt, 


in der Lehre won der „harmonia mundi“ 


feine mpjtifch-religiöfe Weltanfchauung in erafte 
sorm zu bringen und mit der mathematifchen 
Naturwiſſenſchaft fynthetifch zu vereinigen. Den 
von Kepler eingefchlagenen Weg hat Leibniz 
(mit bemußter Anfüpfung an ſeinen Vorgänger, 
vgl. 3} B. Ars combinatoria I§ 33f.) mit nod 
arößerem Erfolge fortgefegt, indem er ſowohl 
das perjonaliftifch - religiöfe wie das univerfa: 
liftifchenaturwiffenfchaftlide Moment noh tiefer, 
jedes in feiner bejonderen Eigenart, zur Geltung 
gebracht und dabei dodh die Synthefe der fchein- 
bar unverträglihen @egenjäße noch inniger 
durchgeführt hat. Jn Leibnizens Lehre von der 
„Harmonie der Monaden“ find nämlich zahl: 
reihe Quellflüffe von beiden Geiten her (id) 
nenne als die wichtigjten nur die Lehren der 
chriftliden Myftit vom Menfchen als „Bilde 
Gottes” und von der „Selbftgenügfamteit“ der 
Seele mit ihrem Gotte fowie die erafte Erkennt: 
nis des funktionellen Zufammenhanges aller 
Weltelemente und den- mathematifchen Darftel- 
iungsbegriff) zu einem völlig einheitlichen Strom 
zufammengefloffen, in dem alle Gegenfäbe har: 
monifch verſchmolzen find. 

Leibniz definiert „Harmonie“ als die Verbin» 
dung größtmöglicher Einheit und Ordnung mit 
größtmöglicher Vielheit und Mannigfaltigkeit. 
Wenn er alfo der Welt härmoniſchen Charakter 
zufchreibt, jo bedeutet das, daß in ihr eine un- 
endlie Menge freihandelnder Einzelmejen zu 
einer einzigen u n i -verfalen (d. h. auf ein Ziel 
gerichteten) Weltgeſetzlichkeit zuſammengeſchloſ—⸗ 
jen ift. Wie eine Eynthefe dieſer Widerſprüche 
möglich fein foll, das ſcheint zunächſt unerfind- 
lich. Leibniz aber ſchafft ſich doch einen Weg 
zur Löſung dieſes äußerſt ſchwierigen Problems, 
indem er die neuen mathematiſchen Einſichten, 
die wir im III. Abſchnitte kennen gelernt haben, 
auf die Metaphyſik überträgt. 
Univerfalmathematit leiſtet nämlich eine ganz 
ähnliche Synthefe, indem fie zahlreiche anſchau— 
lih verjchiedene Gebiete einer und derſelben 
logifchen Form unterorönet und infofern ein ein- 
heitliches Uni -verjum aus ihnen madt. Darin 
beiteht ja gerade der praftilche (außer dem oben 
befprochenen theoretifchen) Wert der Formaliſa— 
tion in der Mathematik, dap zahlreiche, finnlich 
ganz unähnliche Gebiete, indem man fie als 
„formal äquivalent“ oder „logiſch ifomorph“ er- 
tennt, auf ein einziges begriffliches Gerippe gzu- 


Leibnigens Gegenwartsbebdeutung. 


.gung, Die 


Die formale 


173 


rüd'geführt werden, daß man alfo jekt nur dies 
eine Begriffsigftem mathematifch auszuarbeiten 
braucht und dann alle übrigen aus ihm durch 
bloße Uebertragung, nämlich durch Einjeßen der 
entjprechenden Tpeziellen Wusdrüde, gewinnen 
tann. So find, um nur eins der unzähligen Bei- 
fpiele zu nennen, mit der analytiichen Theorie 
der GSinusfunftion zugleich die geometrifche 
Theorie der MWellenlinie, die mechanifche Der 
Pendelbemegung, die atuftilche der Schallbewe- 
optiſche der eleftromagnetilchen 
Schwingung ufw, erledigt. Aber diefe überall 
gleiche univerfale Formgeſetzlichkeit ſchließt offen: 
bar die mannigfaltigjte individuelle Befonder- 
heit der Gebiete keineswegs aus, ſondern beläßt 
jedem durchaus feine einzigartige Eigentümlidy: 
teit. Die Fülle der verfchiedenen Veranfchau: - 
lihungsmöglichkeiten desfelben formal - mathe: 
matifchen Syitems wächſt noh, wenn wir nidht 
nur an die ihm „untergeordneten” Gebiete der 
anfhaulidhen Mathematik und Phyfit den- 
fen, fondern auch an feine vielfältigen finnlichen 
Darftellungen in der ſymboliſchen Mathe- 
matit. Diefelben Begriffe laffen ſich durch hör- 
bare oder fichtbare oder tajtbare Zeichen, durch 
Worte oder Schriften für Sehende oder für 
Blinde darftellen. Und auch innerhalb des glei- 
chen Sinnesfeldes — wie unzählige Ausdruds: 
möglichkeiten beftehen da noch in den Spradyen 
der verfchiedenen Völker, den Dialeften der 
Stämme, ja noh im Tonfall und der Laut- 
färbung der Individuen! Hier haben wir alfo 
größte Einheitlichkeit mit größter Mannigfaltig: 
teit, allgemeine Gefeglichkeit der Form und freie 
Willtür der anfchaulichen Einkleidung oder kurz: 
Univerfalität und Individualität in Harmonifcher 
Synthefe verbunden. | 

Und ebenfo dentt fih nun Leibniz im Kosmos 
überhaupt Einheit und Bielheit, Notwendigteit 
und Freiheit fonthetifch vereinigt. Zwei Prin- 
zipien ftehen, wie er der Königin Sophie Char- 
lotte von Preußen einmal fchrieb, in der Welt 
gleichberechtigt nebeneinander, die unifor- 
mité und die variété, die fih fcheinbar 
widerjprechen, die man aber doh verfühnen tann 
und muß, indem man die erftere auf das Wefen 
der Dinge, die legtere auf die Erfheinungs- 
weifen bezieht. Das eine objektive Univerfum 
verhält ſich zu feinen zahllofen [ubjektiv-indivi- 
duellen Elementen wie ein formal-mathemati- 
ſches Syſtem zu den ihm untergeordneten formal: 
äquivalenten, aber anfchaulich-differenzierten Ge- 
bieten der intuitiven und ſymboliſchen Mathe: 
matit. Alle Mikrokosmen find „lebendige Spie- 
gel” oder perſpektiviſche Abbildungen des gleichen 


174 


Leibnizens Gegenwartsbedeutung. 





Matrotosmos, nur von verfehiedenen Projet- 
tionsgentren aus, oder erafter ausgedrüdt, alle 
Monaden find Darftellungen derjelben objektiven 
Gejeßesordnung, nur in verfchiedenen Anſchau⸗ 
ungsformen und Sinnesqualitäten. Alle Cingel- 
weien haben fozufagen das gleiche formal-be- 
griffliche Knochengerüft, umkleiden es aber je 
nad) ihrer Individualität mit ganz verjchiedenem 
Fleiſch und Blut finnlicher Erlebniffe. Demiel: 
ben fosmifchen Univerfalgejeß ordnen fih alle 
individuellen Lebensgeſetze unter und variieren 
es nur in verfchiedenen Tonarten. Die einzelnen 
Monaden find frei in dem, was man ihre indi- 
viduelle Eigenart oder perjönliche Note nennt, 
dennoch harmonieren fie alle notwendig in der 
univerfellen Objeltivität, die in den vielfältigen 
. Erlebniffen der individuellen Subjette zwar in 
immer neuer Erfcheinung, aber doc) in völliger 
Weſensgleichheit zum Ausdrud kommt. 

Die hiermit ganz kurz ſtizzierte Leibniziche 
Synthefe des Univerfalismus mit dem (nicht nur 
quantitativ-mathematifchen, jondern auch quali- 
tativ-perfönlichen) Individualismus fcheint mir 
nun von höchſter aktueller Bedeutung zu fein für 
die Heberwindung des fundamentalften Welt- 
anfchauungsgegenfaßes unferer Tage, der gwi- 
ſchen dem biologifchen Pofitivismus etwa Niep- 
ides und dem logiſchen Idealismus der Mar- 
burger Neußantianer, zwiſchen dem hiftorifchen 
NRelativismus Diltheys, Simmels u. Troeltjchs 
und dem meathematifchen Wbjolutismus, fei 
es der exakten Naturwiffenichaften, fei es der 
reinen Logit Hufferls, ferner zwiſchen einer 
äfthetifch, religiös, vielleicht fogar myſtiſch 
verinnerlichthen Weltanfhauung und einer 
ftreng eraften Welterfenntnis oder allgemeiner 
zwiſchen einer intuitiv = irrationalen Philo- 
ſophie des individuellen Lebens und ſubjektiven 
Erlebens und einer rein rationalen Philo- 
fophie des univerfellen und objektiven Gel— 
tens aufgellafft ift. Denn Leibnigens harmo- 
nifhe Metaphyſik zielt auf die gleiche Ueber- 
brüdung diefer Gegenfäße, der auch das tiefſte 
Sehnen unferer Zeit zuftrebt, wie fih fchon 
äußerlich daran zeigt, dah viele der tiefften Den- 
fer beider Richtungen fid) bei dem Verfuche, über 
deren Einfeitigkeit hinaus zu einer allfeitigen 
Philofophie zu gelangen, mit vollem Bemwußtfein 
auf Leibnizens Monadologie berufen; ich nenne 
3. B. von der einen Seite Dilthey und Troeltfch, 
von der andern Natorp und Hufferl in den 
lebten Entwidlungsitufen ihrer „allgemeinen 
Logik” und „Phänomenologie“. 

In der Tat, bei Leibniz ift das Recht der 
individuell beichreibenden Geifteswiflenfchaften 


Geltens. 


ebenfo gut gewahrt wie das der univerfalgefeh- 
(ih erflärenden Naturmilfenfchaften und das 
Recht des mpyftifchen und religiöfen Grlebens 
ebenfo gut wie das des logifchen und ethiſchen 
Die große Bedeutung der logiſch⸗ 
mathematifh fundamentierten Geſetzeswiſſen⸗ 
Ichaften befteht nadh Leibniz darin, daß fie ſozu⸗ 
fagen das fefte Etelett des Gejchehens aus dem 
Schwanten der Erfcheinungen herauslöfen und 
das dauerhafte Berüft bauen, an dem fih das 
wechfelnde Erleben in die Höhe ranten kann. 
Aber diefer Vorzug ift doch zugleich ein Mangel 
oder bedarf winigftens der Ergänzung: alle 
mathematifch-naturmiffenfchaftlichen Definitionen 
und Grölärungen beziehen fih immer nur auf ein 
abftraftes Gerippe von erfchöpfend definierbaren 
„unpollftändigen Begriffen”, wie Leibniz 
jagt, während die konkrete Wirklichkeit erft durch 
„vollftändige Begriffe“ von unwiederhol⸗ 
baren, innerlich unendlichen Individuen beidrie 
ben werden fann. Und hier eben ift der Bereid 
der Geiſtes- und Individualitätswiſſenſchaften, 
die ſich das immer gleichbleibende Formgenifl 
des äußerlich fitbaren Naturgefhehens 
mit der immer neuen individuellen Lebensjülle 
der nur innerlich) nacherlebbaren „Geſchichte“ 
umkleiden fehen. 

Doch I:Kten Endes ift überhaupt jede Willen: 
Ichaft eine bloße Schematifierung der unerjhöpi: 
lichen Wirklichkeit, nötig und wertvoll als ihr 
ſicheres Fundament, aber eben doch noh nid! 
der Bau felbft, fondern fein bloßer Grundriß. 
Um die volle Harmonie des Kosmos erflingen 
zu hören, bedarf es — darüber ift Leibniz fid 
immer flar geblieben — niht nur des Er 
fennens, fondern auth des Lebens, nicht nur der 
reinen Theorie, jondern auch der praktiſchen Be 
tätigung, nicht nur der milfenfchaftlichen Ber 
nunft, fondern auch des fünftlerifchen und reli 
giöfen Gemüts. Erft im einheitlichen Zuſammen⸗ 
wirten aller vielfältigen Geiftesträfte erwächſt 
die unendliche Polyphonie des Dafeins, in der 
eine unerfchöpfliche Mannigfaltigteit des Ein 
zelnen einer vollkommnen göttlichen Zieleinkeil 
tes Gangen dienftbar gemacht ift. Ich tann diefe 
legte und höchſte Zufamenfhau von Lebens 
fülle und Mefensbeftändigkeit, die den tiefften 
Grund des Leibnigfchen Selbft: und Weltgefühls 
bildet, nicht ſchöner wiedergeben als mit einem 
Spruche Goethes aus den „Bahmen Xenien”: 

. ` u 
„Wenn im Unendlichen dasfelbe 
Sich wiederholend ewig fließt, 
Das taufendfältige Gewölbe 








Sich kräftig ineinander fchließt, 
Strömt Lebensluft aus allen Dingen, 
Dem Sleinft.n, wie dem größten Stern, 
Und alles Drängen, alles Ringen, 

Sit ew'ge Ruh’ in Gott dem Herrn.” 


1) Im eriten Aufſatze bitte ich folgende Drudfehler 
zu berichtigen: ©. 129a, 3. 11 v. u.: kritiſche (itatt 





Kampf und gegenfeitige Hilfe in der Natur. 


Kampf und gegenfeitige Hilfe in der Natur. 





175 


neutrale); ©. 129b, 3. 6 v. o.: durch P Nitter; S. 130a, 
3. 4: Barods; ©. 130b, 3. 11: hehre (ftatt Lehre der); 
©. 132a, 3 10: Wundts mit Leibniz und dem; ©. 133a, 
3. 16: Acta eruditorum; ©. 184a, 3. 7: Und darum; 
3. 25 v. u.: allbekannt; ©. 134b, 3. 1: Lyellfchen; 
3. 7: madte; ©. 137b, 3. 4 v. u.: mendlich; 3. 13 
v. u.: iit es, wie; ©. 138b, 3. 16 u. 317 v. u.: irre- 
verfibein .. . veverfibein; ©. 139a, 3. 5: kontinuier⸗ 
lichen. 


Von Profeſſor O. Prätorius. 


„Kampf ums Daſein'“ ift ein allbekanntes 
Schlagwort, ſeit Darwin 1859 fein berühmtes Wert 
über die Entitehung der Arten veröffentlichte. Vorher 
atie vielfach feit Roufjeau die Anficht geberrfdt: 
„Die Welt ift volltommen überall, wo der Menſch nicht 
bintommt mit feiner Qual.“ Aber gerade die ein- 
gehendere Beichäftigung mit der Natur mußte dem un- 
poreingenommenen Beobachtr bald zeigen, daß es aud 
dort nicht immer friedlich zuging, und Darwin zeigte, 
daß Kampf und Untergang für zahllofe Geſchöpfe un- 
rermeidlich fein muß; diefem Rampf wies er eine über: 
ragende "Bedeutung für die Entftehung neuer, immer 
rolltommenerer Arten zu. Denn, fo folgerte er, unter 
den Nachkommen jedes Geſchöpfes find ftets einige, die 
variieren, d. h. in einzelnen Eigenfchaften von den 
Citem abweichen; folde mit ſchädlichen Ab- 
weichungen gehen im Kampf ums Dafein zugrunde, 
während die mit vorteilhaften Abweichungen die meifte 
Ausfiht Haben, zu überleben. Durch Häufung folder 
verteilhaft wirkenden Abänderungen follen dann im 
Laufe vieler Geſchlechterfolgen neue, beffer angcpaßte, 
alfo volltommener orgenilierte Arten entitehen, ähnlich 
wie Züchter von Haustieren und Kulturpflanzen neue 
Raffen, 3. B. ſchnellere Rennpferde, milchreichere Kühe, 
jaftigere Birnen, ſchönere Rofen, ertragreichere Getreide: 
forten gewinnen, indem fie unter den tatjädhlid auf: 
ttetenden Bariationen die ihren. Zweden am meiften 
entjprecdenden auswählen. Diefe Auslefe oder „Zucht⸗ 
wahl“, die der Züdter bewußt im Hinblid auf be- 
ftimmte Zmwede vornimmt, follte aljo in der Natur 
der Kampf ums Dafein bewirken. Freilich war Darwin 
jo vorfidtig, auszufpreden, „ab die natürlide 
Zuchtwahl zwar das hauptfädlidfte, 
aber nidht das einzige Mittel zur Ab: 
änderung der Organismen gemwefen ift 
und fein wird.” Darwins Nadjfolger aber, die 
feine Zuchtwahllehre als willtommene Stüße für eine 
rein medanifde Betradhtungsweife der Lebens-, ja 
ſelbſt der geiftigen Vorgänge begierig aufgriffen und 
ausbeuteten, vergaßen diefe Einſchränkung und priejen 
die „Allmadt der Naturzühtung“ und den 
Rampf ums Dafein als alleinige Grundlage des Fort- 
ſchritts. Bon der Pflanzen- und Tierwelt ward diefer 
Gebantengang bald übertragen auf menſchlich-geſchicht⸗ 
lie Berhältniffe; auh hier follte der Rampf um die 
Dofeinsmittel bei jedem Menſchen gegen feine Mit: 
menden ein Naturgefeb und die Bedingung jedes Fort- 


Ichrittes fein, was naturgemäß zu einer Rechtfertigung, 
ja Berberrlihung der roheſten Selbſtſucht führte. 

War ſchon gegen Darwins Lehre und ihre Ueber- 
treibungen auf ihrem eigentlihen Gebiete, der Natur: 
wiſſenſchaft, alsbald wohlbegründeter Widerfprud er- 
hoben worden, bejonders von den Botanikern Wigand 
und Nägeli jowie dem Philoſophen v. Hartmann, fo 
erforderte erft redt ihre Uebertragung auf die menſch— 
lie Geſellſchaft eine Richtigſtellung. Hier war es ein 
rufifher Gelehrter, Fürſt Peter Kropotfin (aud 
als revolutionärer Polititer befannt), der es unter: 
nahm, angeregt durd einen 1880 gehaltenen Vortrag 
des Petersburger Zoologen Kepler und geftüßt auf 
ein reiches Beobachtungsmaterial, nachzuweiſen, daß 
„neben dem Geſetz des gegenfeitigen 
Kampfes in der Natur das Gefeh der 
jeitigen Hilfe walte, und daß diefes 
legte für den Erfolg des Kampfes ums 
Reben und bejonders für die fortfdrei- 
tende Entwidlung der Arten bei weitem 
wichtiger fei als das Geſetz des gegen: 
jeitigen Streites”, daß aber erft redht für die 
Entwidlung der menſchlichen Geſellſchaft, Kultur und 
Cthit „der gegenfeitige Beiftand, nidt 


gegenfeitiger Kampf den Hauptanteil 


gehabt Hat.“ Ohne nun auf Krotpotfins Aus: 
führungen über gegenfeitige Hilfe bei den Wilden, in 
den ältejten Dorfgemeinden, in den Städten des Mittel: 
alters und unter Menſchen unferer Beit einzugehen, 
foll hier berichtet werder, was er als „gegenfeitige Hilfe 
bei den Tieren“ dem Darwinfden „Kampf ums Da: 
iein in der Natu” gegenüberzuftelfen weiß. 

Zunädjft ift zu bemerfen, daß Darwin nicht in erfter 
Kinie an die Tiere dentt, die Fleiſchfreſſern zum Opfer 
fallen, obwohl dies zweifellos auh von Wichtigkeit ift; 
wir brauchen ndt nur an die eigentliden Raubtiere zu 
denfen jondern auch an Vögel und Raubinjeften als 
Kleintierfreffer, an die tierifden Schmaroger, wie 
Schlupfweſpen, deren Tätigteit bei Maflenvermehrung 
Ihädliher Raupen uns fehr bald wieder von folder 
Plage befreit, und pflanzlidger Schmaroter, bejonders 
Batterien, die als Krankheitserreger Menſchen und 
Tieren gefährlid werden fünnen. — Nur vereinzelt 
[pielt auch eigentliher Kampf zwiſchen Nebenbuhlern 
gleiher Art eine Rolle (Hähne, Hirſche) Darwin aber 
gebraucht, wie er ausdrüdlidh fagt, den Ausdruck 
Kampf ums Dafein „immweiten und meta: 


176 





phoriſchen Sinn“ für die Tatſache, daß von den 
vielen, oft zahllofen Eiern eines Tieres oder Samen 
einer Pflanze nur ſehr wenige zu erwachſenen Tieren 
oder Pflanzen werden und wieder Nachkommen hervor: 
bringen fönnen, da fonjt bald Platz, Luft, Licht und 
Nahrung nit ausreihen würden; er denkt alfo an 
einen Konkurrenzkampf gleihartiger Geichöpfe um diefe 
nur in beſchränkter Menge vorhandenen Lebensnot- 
wendigfeiten aus edm nur die Geeigneteren als über- 
lebende hervorgehen follen. 
Hühnerhof, wie die GStärferen und Gewandteren den 
anderen die beiten Biffen abjagen, zeigt jedes Saatbeet 
und jeder dichte MWaldbeitand, wie die fräftigiten Pflänz: 
hen oder Bäume die anderen überwucern und damit 
die einmal 
fchließlih zum Cingehen bringen. 

Daß aber diefer Kampf in der Natur fo allgemein 
und für die Weiterentwidlung fo wichtig oder gar allein 
ausfchlaggebend fei, wie Darwin und feine Nachfolger 
wollten, wurde von Kekler und Kropotfin 
wenigitens für das Tierreich beftritten; fie wiejen 
darauf hin, daß Darwin gerade diefen Kampf 
zwifhen Tieren gleicher Art nicht wie ſonſt alle 
jeine Behauptungen durch ®Beilpiele belegt, daß aber 
tatfächlich in weiten Gebieten wie Rußland und Wien 
Maffenvernidtung von Geſchöpfen vorwiegend wahl: 
105 dur Naturvorgänge, wie Schneeftürme, Blatteis, 
Fröfte im Mai und Auguft, Regengüffe und Ueber- 
ſchwemmungen erfolgt, und daß viele Tiere, weit ent- 
fernt, einander zu befämpfen, ſich vielmehr aus Zu: 
fammengehörigfeitsgefühl fammeln, einander helfen und, 
wenn wirtli Webervölferung und Nahrungsmangel 
droht, durch gemeinfame Wanderzüge diefem zu ent: 
gehen ſuchen (Renntiere, Büffel, Lemminge, auh Heu: 
fie fi) fo völlig vereinigen, daß das Ganze als eine 
ſchrecken und andere Infelten), daß aber gerade „Die: 
jenigen Tiere, die Bewohnheiten gegen: 
feitiger Hilfe annehmen, zweifellos die 
paffendften jind. Es beftehen für fie die 
meiften Möglidhfeiten, zu überleben, 
und fie erlangen in den betreffenden 
Klaffen die höchſte Entwidlung der In- 
telligen3 und körperlichen Organiſa— 
tion“. 

Die zahlreihen Beifpiele, die Kropotkin ausführt 
(wobei er Fälle bloßer Brutpflege abfihtlih aus: 
ichließt), beziehen fi) meift auf Säugetiere und Bögel. 
Wölfe und andere Raubtiere bilden Rudel, um fid 
beim Bemwältigen aud größerer wehrhafter Beutetiere 
zu unterftüßen; Pflanzenfreffer, 3. B. Bebras, Anti: 
lopen, weiden herdenmweife, fo daß die Aufmerkjamfeit 
weniger Wadhtpoften die anderen vor Meberfällen 
ſchützt; auch Murmeltiere und ihre Verwandten warnen 
einander bei Gefahr. Die Biber bauen gemeinjame 
Damme um den Wafferftand der von ihnen bewohnten 
Bäche zu regeln. Viele Vögel, 3} B. Reiher, Saat: 
krähen, niſten gejfellig, die afritanifhen Siedelweber 
einem gemeinfam erbauten Schutzdach; die Yugvögel 
fliegen zufammen oft in geregelter Ordnung, jo dab 
der Vorderſte nad) Ermüdung abgelöft wird; die 
Schwärme von Tauben, Staren u. a. verftehen im Flug 
militärij er Genauigkeit zu ſchwenken und zu landen. 


Tatſächlich zeigt jeder 


Zurüdgebliebenen zum Kümmern und- 


Kampf und pf und gegenfeitige Hilfe in der Natur. 
Aber aud in anderen Tierfreifen lät ſich gegenfeitige 


Hilfe beobachten, beſonders bei Inſekten; hier find 
Bienen und Welpen, Ameifen und Termiten betanntliġ 
3u einer Arbeitsteilung und einer förmlidyen Staaten: 
bildung gefommen; aber aud die Totengräbertäfer 
iharren ihren Fund gemeinfam ein, die Pillendreber 
helfen einander die Dungpillen fortrollen und vergraben, 
und fogar die niedrig organifierten Moluftentrebie jab 
Kropottin felbit im Aquarium ftundenlang abmühen, 
einem auf den Rüden gefallenen Artgenofien wieder auf 
die Beine zu helfen! Kropotkins Beiſpiele laffen fih 
aus der niederen Tierwelt, die ihm wohl weniger be- 
fannt war, noh vermehren: er erwähnt nicht die ge- 
meinfamen Gefpinfte vieler Raupen, die gejelligen Sied- 
lungen der Auftern, Miesmufdeln und der „See: 
poden“ genannten feitfihenden Krebstiere die Korallen- 
ftöde, deren zahlloſe Einzelwefen gemeinfame Ralf- 
ablagerungen und damit ganze Inſeln aufbauen, aber 
auch dur Verbindung ihrer verdauenden Körperhöhlen 
alle Nahrung gemeinfam verwerten, die ähnlich einge- 
richteten Polypenftöde und Moostierchentolonien, fowie 
die Staatsquallen, in denen viele Einzelweſen durd 
Arbeitsteilung verfchiedenartig ausgebildet und von ein- 
ander fo abhängig geworden find, daß das Ganze ein 
Individuum höherer Ordnung darftellt. Aud unter den 
einyelligen Algen- und Urtieren bilden mandhe Arien 
Kolonien, wie das Zackenrädchen (Pediastrum) die 
„Walzkugel“ (Volvox), die durch geregelte Schwing: 
bewegung der Wimpern aller Einzelzeller m Um: 
wälzung gerät: auch hier tann man die Gejamtheit als 
Individuum höherer Ordnung anfehen. Umgekehrt fann 
man fo 3u der Auffaffung tommen, daß die mehrzelligen 


Geſchoͤpfe, Pflanzen und Tiere, bis herauf zum Men- 


ſchen als Kolonien vieler Einzelzellen betrachtet werden 
können! Aber felbft ohne diefe Betradhtungsweife läßt 
ſich „gegenfeitige Hilfe“ auh im Pflanzenreich (das fonft 
Kropotfin dem Kampf ums Dafein preisgibt) nad)- 
weiſen. Was ift es anders, wenn die Gewalt des 
Sturmes, der den einzelftehenden Baum fnidt, ſich bricht 
am gefchloffenen Wald, am Wehrenfeld oder Schilf, 
wenn der Bannwald die Lawine aufzuhalten vermag, 
wenn Moosftengel und Wipenpflanzen im Polſterwuchs 
Schub gegen Wind und Wafferfluten finden? Und die 
Bäume des Waldes, die einander ja im Lichtgenuß 
beeinträchtigen, fo daß die unteren Weite abfterben und 
nicht wie bei der freiftehenden Buche oder Fichte eine 
bis unten reichende Krone bilden, ſchützen einander da- 
für au) vor der verderblihen Wirkung der Sonne, wie 
fi; zeigt, wenn am Rande einer fünftliden Lichtung 
diefer Schuß fehlt: wenn im Winter Sonnenbeftrahlung 
und Nachtfroſt wechſeln, tritt „Sonnenbrand“ auf, der 
durch künſtliche Beſchattung vermieden werden tann. 
GBegenfeitige Hilfe läßt fi außer bei gleichartigen 
Geſchöpfen aber aud unter verfchiedenen Arten nad- 
weilen. Jeder Jäger hapt den Häher, weil fein Ruf 
die anderen Waldbemohner warnt. Belannt ift, wie 
Infelten aus Blüten Honignahrung gewinnen und da- 
für Beſtäubung vollziehen. Oft führt folh gegenfeitiger 
Vorteil zu einem Berhältnis dauernder Gemeinſchaft 
(„Symbioſe“): Einfiedlerfrebs mit Seeroſe, Wollfrabbe 
mit Schwamm; Ameiſen halten Blattläufe wie Haus: 


Die Kohlenlager der Erbe. . 


tiere, füttern Käfer und andere „Ameifengäfte”, die 
ihnen offenbar angenehme Duftitoffe liefern. 

Andere Ameifenarten im Urwald Südamerifas, auf 
deffen Boden es zu feudht und fdhattig ift, legen fid 
Gärten hoch) oben in den Baumfronen an indem fie 
Erdflümpden binauftragen und Samentörner darin 
wachſen laffen, denen fie jo günltige Lebensbedingungen 
bereiten, zugleich aud für fih felbft. Bäume gibt es 
dort, die ihrerfeits Ameiſen in hohlen Stadyeln oder 
Stengelgliedern Unserfdlupf und zugleich in befonderen 
nahrhaften Auswüchſen Nahrung gewähren; dafür 
werden fie von ihren Mietern gegen andere ſchädliche 
Arten verteidigt. 

Eine befonders innige Genoſſenſchaft zu gegenfeitiger 
Hilfe (Symbiofe) bilden Algen mit Pilzen, mit denen 
einheitlihe Pflanze erjceint, die unter dem Namen 
Flechten allgemein betannt find. Bekannte Pflanzen: 
ſymbioſen find auch die „Pilzwurzeln“ der Waldbäume 
jowie die ftidftoffjammelnden Batterien in Wurzel: 
knöllchen der Schmetterimgsblütler und Erlen. 

Selbft in tieriihen Gejchöpfen leben Algen zu gegen- 
feitigem Nuken; ihnen verdanft der grüne Süßwaffer: 
polyp feine Farbe und  zugleih einen Teil feiner 
Nahrung. 





Die Kohlenlager der Erde. 


Die Frage, wann die Kohlenlager der einzelnen Län: 
der und der ganzen Erde bei dem ftändig zunehmenden 
gewaltigen Berbraud erfchöpft jein werden, hat {hon 
viele nachdenkliche Menſchen beſchäftigt und ift zuletzt 
ausführlich erörtert worden auf der Weltkraft— 
tonferenz zu London-Wembley. Diefe fand tm 
Juli vorigen Jahres ftatt und hatte zur Aufgabe, alle 
die Fragen zu behandeln, welde mit der Entwidlung, 
Verwendung und Erhaltung der Kraftquellen in den 
verfchiedenen Ländern in Zujammenhang ftehen. Auf 
ihr waren 35 Länder offiziell vertreten. Etwa 2000 
Mitglieder nahmen daran teil und 420 Vorträge waren 
darin eingereiht. 

Auf diefer Konferenz berichtete Sir R. Redmayne') 
(England) über die Kohlenlager der Erde. Nadh dem 
Bericht des 12. internationalen Geologentongreffes zu 
Toronto 1913 find die gefamten Kohlenporräte, be- 
ftehend aus Anthrazit, Steintohle und Braunkohle, auf 
rund 7,4 Billionen Tonnen gefhägt worden und wür: 
den danad für etwa 6000 Jahre reihen. Dabei ift 
abbaufähige Kohle bis 1800 Meter Tiefe angenommen. 
Nah NRedmayne reihen die Vorräte bei dem heutigen 
Verbrauh jedoh nur für 1500 bis 2000 Jahre, da in 
dem obigen Bericht niht abbaufähige Kohle mitgerech— 
net worden ift. An Diefen Sohlenvorräten find be- 
teiligt:?) 


1) Zeitfehrift für angewandte Chemie 1924/624. 
2) Zeitfchrift für angewandte Chemie 1924/609. 


on Dr. W. Lohmann. 


177 


Neuere Forſchungen laffen als gefichert erfcheinen, 
daß viele Inſekten Batterien in fih beherbergen, die 
für das Leben unentbehrlich find und oft abfonderlicye 
Nährftoffe 3. B. Holz für die Bortentäfer, Horn, für 
Bederlinge erft verdaulich maden. 

Kropottin hat alfo Redt, noh mehr als er glaubte: 
Gegenfeitige Hilfe ift in der Natur weit verbreitet und 
ipielt nit nur in der Terwelt und nicht nur zwiſchen 
Geſchöpfen gleicher Art eine große Rolle So falſch es 
indeffen zweifellos ift, den Rampf ums Dafein als all: 
beherrihenden Grundjag im Leben und in der Ent: 
widlung zu feiern, fo falf wäre es aud, ihn zu über: - 
fechen oder ihn für bedeutungslos zu Halten; ja gerade 
für diefen Kampf gewinnt jene gegenfeitige Hilfe viel- 
fah erft ihre Bedeutung. — Das gilt aber aud für 
menſchliche Berhältniffe: Kampf in jeder Form, als 
Krieg wie als Konkurrenzkampf ift da und wird fein: 
var nicht auszurotten fein, folange Menſchen und Natur: 
wefen find; aber wertvoller ijt die gegenfeitige Hilfe, 
die Menſchen einander leiſten nit aus Berechnung, 
jonòrn aus dem Gefühl der Zufammengehörigteit — 
in feiner edelften Form: aus driftlider Nächſtenliebe. 


* 











Deutſchland (1914) mit 5,7 % 
Großbritannien „ 26 % 
Deiterreich 08% 
Frankreich „02% 
Belgien „ 02 % 
Rußland „ 08% 
China „ 13,5 % 
Kanada „ 16,4 % 
Nordamerika „ 51,8 % 
Die übrige Welt „ 80% 


Die Berechnungen über die Lebensdauer der Kohlen: 
porräte führen zu dem Ergebnis, daß bei dem heutigen 
Abbau die einzelnen Länder etwa in folgenden Zeit: 
räumen erjchöpft fein werden: 


England in etwa 50 Jahren 
Frankreich (1914) „n » 150 „ 
Belgien si „» W , 
Saar mit Ruhrbeden „nn. WW u 
Bereinigte Staaten „ „ 1500 , 


Den gewaltigen Borräten und der Höhe der ted: 
niſchen Entwidlung entfpredyend produzieren die Ber- 
einigten Staaten heute bei weitem die größten Mengen 
an Kohle. So war vor dem Kriege an der Weltpro- 
Juftion beteiligt: ganz Europa mit etwa 50%, die Ber- 
einigten Staaten mit etwa 40%. Troßdem man ge: 
lernt hat, die Kohlen beffer auszunußen, und trog der 
fteigenden Verwendung von Erdölen und Wafferfräften 
zeigt der Kohlenverbrauch auf den Kopf der Beovölfe: 
rung bis zum Kriege eine ftetige Zunahme. So betrug 
3. B. diefer in den Bereinigten Staaten: 1870 etwa 
1 Tonne, 1911 etwa 4,5 Tonnen und 1913 etwa 5 Ton- 
nen. — Im Bergleid zu den Kohlen fpielen die anderen 


178 Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe | Umſchau. 


Brennftoffe nur eine untergeordnete Rolle. Die Tarf- 
vorräte Europas find von Profeffor Gibjon auf etwa 
gleichwertig mit 100 000 Millionen Tonnen Kohle ge 
Ihäßt worden. Prof. Lupton hat die Weltvorräte an 
Torf auf etwa 4 % der Kohlenvorräte geſchätzt. Als 
Brennftoffe tommen dann neben Holy und Schiefer—⸗ 
ölen, die nur eine untergeordnete Rolle fpielen, nod 
in Frage die Mineralöle. Aud hier jteht Amerifa an 
erfter Stelle. Es Liefert über 60 Prozent der Erdöl- 
produktion. Hier ift man der Erſchöpfung wefentlid 
näher als bei den Kohlen. Nad Schägungen amerita- 
nif der Sadperftändiger dürften die Petroleumvorräte 
in etwa 90 Jahren erfhöpft fein. Die von Ban Hije 
vorgenommene Schätzung jagt ihre Erſchöpfung ſchon 
bis längftens 1953 voraus. Die Vorräte im Kaukaſus 
laffen jhon heute die nahende Erjhöpfung erfennen. 
Es gewinnen daher mit der Zeit immer mehr die Ber- 
fude an Bedeutung, aus Kohlen, Braunfohlen, Oel- 
ſchiefer flüffige, für den Betrieb von Motoren geeignete 
Brennjtoffe zu gewinnen.’) 

Bon ünterefle ift es, zu überlegen, ob auf der Erde 
mehr Kohlenſtoff verbrannt wird, als die Pflanzen 
durh Affimilation in brennbare "Stoffe verwandeln. 
Prof. ShroedersKiel kommt zu dem Ergebnis, 
daß jährlich etwa 22mal foviel Energie von den Pflan- 
zen afktumuliert wird, als in der gleichen Zeit Kohle 
verbraudt wird. 

Menden wir uns jekt zu der Energiequelle, welde 
porausfichtiih mit der Zeit niemals fih verringern 
wird, und welde heute in gewaltig fteigendem Maße 
ausgenugt wird, der Waflerkraft, um zu prüfen, ob 
diefe imſtande ift, die aus der Kohle gewonnene Energie 
in Zutunft zu erfegen. Wohl ift die „weiße Kohle” 
bereits für die ſchwarze Kohle eme Konkurrenz geworden. 
So ftammen 3. B nad) dem Bericht von Direktor Han- 
len‘) im Jahre 1923 von den m ſchwediſchen Kraftzentra- 
len erzeugten 1 950 000 HP niht weniger als 1 400 000 
HP, das find 75%, aus Waflerturbinen. Troßdem 
ftept im Vergleich zu der aus Kohlen gewonnenen 
Energie die aus Waſſer erzeugte noh ſehr im Hinter- 
grund. Es ift überhaupt niht möglich, die gejamte 
beute erzeugte Energiemenge aus Wafferfräften zu ge- 





3) Wie weit Ausfiht dazu vorhanden ift, foll ein 
Ipäterer Auffaß zeigen. 
1) Zeitſchrift für angewandte Chemie 648. 


— — — — — 











Neturwiſenſchaſtiche und naturphilofophif 





a) Anorganiihe Nalurwiſſenſchaften. 

(Einen bedeutfamen neuen Beitrag zur Disfufjion über 
die Relafivitätstheorie hat wiederum der befannte ame: 
ritanifche Phyſiker Mihelfon (mit einem Mitarbei: 
ter Gale) geliefert, deffen in allen populären Darftel: 
lungen der Relativitätstheorie angeführter Interferenz: 
verſuch durd) fein negatives Ergebnis einen der Haupt- 
anftöhe zur Aufftellung der Relativitätstheorie gebildet 
hat. Bei diefem bereits „laffifch“ gewordenen Verſuch 
handelt es fi bekanntlich darum, daß ein Lichtitrahl in 
zwei Teile zerjpalten wird, weide nad Durdjlaufen 


Wafferträfte aus. 





winnen. Gelbit durch Ausnutzung aller Waſſerkröfte 
tonnen nur etwa 60% der durch die jetzige Kohlen: 
produktion gewonnenen Energie erhalten werden. Rad 
Arrhenius ftünden an ausnußbaren Waſſerkräften zur 
Berfügung: 
in Afien 236 Mill. HP oder 0,27 HP pro Kopf 
„ Afrika 160 „p nn m Innang, 
n Nordamerika 160 ” n ” 1,17 e⸗ " n 
„ Südamerita M „n n D pn,» 
„ Europa Ô n n nn 0 nn 
„ Auftralien 30 nn ID nun 
Es werden jedodh in temem Lande auch nur an 
nähernd die ausnußbaren Wafferfräfte wirtlih aus 
genußt. So könnten nad Gipſon in England 20% 
der erzeugten Gejamtenergie, melde im Jahre elma 
33 000 Millionen Pferdetraftitunden beträgt, durd 
MWaffertraft erzeugt werden. Zurzeit beträgt dieje 
Menge jedoch nur 2%, d. h. 109 der ausnußbaren 
Waſſerkraft. Norwegen, das befammtlich ſehr reih an 
Waſſerkräften ift, nut nad den Ausführungen von 
S. Klomann nur 12% aus. Die Schweiz jteht hierin 
wohl an eriter Stelle; fie mußt bereits 60% ihre 
Die auf den Kopf der Bevölferung 
im Jahre fallende Elektrizitätsmenge beträgt dort 750 
Kilowattftunden, während fie in den Bereinigfen 
Staaten 3. B. nur 450 Kilowattftunden ımd in Grof: 
britannien nur 145 KRilomattftunden beträgt. Melden 
Einfluß die zunehmende Verwendung von Waſſerkräften 
3 B. in der Schweiz auf den Kohlenverbrauh) 
gehabt hat, erfennt man am beiten an der Tatſache. 
daß die eingeführte Kohlenmenge, welde im Jahre 1913 
34 Millionen Tonnen betragen hatte, im Jahre 192 
auf 2,2 Millionen Tonnen zurüdgegangen ift. Es gib! 
jedod nur wenige Länder, welde bezüglich der aus 
nußbaren Waflerfräfte jo günftig geftellt find wie de 
Schweiz. Obwohl es der Technik gelungen ift, den 
Strom mit wenig ®erluften verhältnismäßig wette 
Streden fortzuleiten, können uns große verfügbare 
Waſſerkräfte vorläufig doch nod feinen Nupen dringen, 
weil fie weit abfeits von menſchlichen Kulturzentren 
liegen. Wir bleiben alfo bis auf weiteres auf die Kohle 
angemwiejen und müffen uns mit der Hoffnung begnügen, 
daß in zufünftigen Zeiten, wenn die Kohlenlager er 
ſchöpft jem werden. der Menſch gelernt hat, andere 
Naturträfte auszunußen, daß er Kohle nicht mehr 


nötig hat. 
e Umſchau. 











zweier zu einander ſenkrechter gleicher Streden und 
Neflerion über diefelben Streden am Ausgangsort zu 
Interferenz gebracht werden. Stellt man den Apparat ſo 
auf, daß die eine der beiden Ridytungen mit der momen: 
tanen Richtung der Erdbewegung um die Sonne zuſam 
menfällt, fo follte eine Berfchiebung des Jnterfereni: 
bildes eintreten, menn der ganze Apparat um 90 Gra 
gedieht wird. Der negative Ausfall diefes Verſuchs be 
mics, daß die ältere Abſoluttheorie oder Aethertheort 
nicht haltbar fei, und gab den Anlaß zuerft zur Auf 
ftellung der Lorentzſchen Kontraktionshypotheſe und der 


Naturwiffenfchaftlihe und naturphiloſophiſche Amſchau. 


Ritzſchen Emiſſionshypotheſe, ſodann zur Einſteinſchen 
Relativitätstheorie und — zu deren Vermeidung — zu 
den Wethermitführungstheorien von Lenard, Fride u. a. 

Der neue Michelſonverſuch unterjcheidet fih von dem 
alten nun weſentlich dadurch, daß die beiden Teile des 
Lichtitrahls nit in zwei zu einander ſenkrechten 
Richtungen hin ımd her, fondern in zwei einander ent- 
gegengeſetzten Umlaufsridtungen um eine Fläche von 
beiläufig etwa 24 ha Größe herumgeführt und dann 
zur Interferenz gebracht werden. Bom Standpuntte der 
Relativitätstheorie aus ergibt fi) dann ohne weiteres, 
dap hierbei ein Gangunterfchied der beiden Strahlen auf- 
treten muß, weil der eine in jeinem Umlaufsfinn mit 
dem Drehungsiinn der Erde um ihre eigene Adje über- 
einftimmt, der andere. demfelben entgegengeht. Man 
muh auf dieje Weife m. a. W. die Erdrotation 
ganz ebenfo auf optifhem Wege feft- 
ttellen fönnen, wie man fie durd den 
Voucaultfden PBendelverfuh oder die 
anderen befannten Berfuhe auf mechaniſchem 
Wege feititellt. Für die Nelativitätstheorie macht 
es von vornherein feinen Unterfchied, ob es fih dabei 
um medanifche oder optiſche Mittel handelt, jedoch ift 
bisher niemals ein derartiger Verſuch mit rein optifchen 
Mitteln angeftellt worden. Sehr viel ſchwieriger ift vom 
entirelativiftifchen Standpunkte aus zu fagen, was em: 
treten muß. Die Gegner Einſteins erflären den negati- 
ven Ausfall des erften Michelſowerſuchs bekanntlich 
durch die Annahme, daß der Aether in der unmittelbaren 
Umgebung der Erde in Bezug auf diefe fih in Ruhe be: 
finde, weil er ähnlich wie das Waffer in der unmittel- 
baren Nachbarſchaft einer m ihm bewegten Kugel von 
der Erde mitgeführt werde. Den Einwand, dab der 
Fizeauſche Strömungsverfud gegen eine folde Mit: 
führung dur) die Qufthülle fpreche, ſchneiden fie durd 
den Hinweis darauf ab, daß die Erde vermöge ihrer 
außerordentlich viel größeren Maffe ganz anders auf den 
Aether wirfe, als das geringe Luft: oder Waſſervolumen 
bei Fizeaus Verſuch. Wenn man fi) nun auf den Boden 
diefer Hypotheſe ftellt, fo follte der neue Verſuch eigent- 
lid) ebenſo wie der alte ein negatives Ergebnis zeigen. 
Er gab aber das von der Relativitäts- 
theorie vorausgefagte Ergebnis, der 
Gangunterfhied ift tätfählih genau fo 
groß, wie er fih aus der VBorftellung 
eines „optifden Foucaultpendels“ be- 
rechnet. Diefes Refultat zwingt die Anhänger der 
Aethertheorie, dem Lichtftrahl Trägheit in dem Betrage 
zuaujchreiben, den er auh nad) der Relativitätstheorie 
hat. Da aber nah der Uethertheorie der Lichtſtrahl ja 
weiter nichts als ein Zuftand im Aether ift, fo tann eine 
ſolche Forderung natürlid nur den Sinn haben, daß der 
letere felber Trägheit befigen muß. Man darf darauf 
geſpannt fein, wie fih die Anhänger der Uethertheorie 
3u dieſen Ergebniffen ftellen werden. Daß diefelbe damit 
ganz widerlegt fei, wie Runge in feinem Referat in 
den Naturmwiflenihaften Nr. 20 anzunehmen fdeint, 
möchte ich nicht behaupten. Aber natürlich vergrößert der 
neue Berfuh die Beweistraft der Relativitätstheorie, 
weil diefe ohne jede bejondere Hypotheſe das Ergebnis 
liefert, während die Aethertheorie erft wieder befondere 
Erflärungen benötigt. 


179 


In Nr. 21 der Naturwiffenicaften finden wir einen 
Auffaß von Thirring, der eine Reihe weitverbreite- 
ter mißverftändlider Einwände gegen 
die Relativitätstheorie in fehr Mlarer Weile 
zurechtſtellt. Es handelt fi befonders um die immer 
wieder zu findende Behauptung, die Aberration beweiſe 
trog allem, was Einſtein fagen möge, die abfolute Be- 
wegung der Erbe um die Sonne, niht der Sonne um 
die Erde, was doch nad der Relativitätstheorie damit 
gleichwertig fein müſſe. Thirring zeigt, daß der Fehi- 
ſchluß in der Nichtberückſichtigung des Koordinaten- 
inftems der Firfterne liegt, welches praftiich als Inertial- 
ſyſtem zu gelten hat. 

Einen febr tief ſchürfenden Aufſatz bietet der deutjche 
Phyſiker Mie in der neuen internationalen Zeitichrift 
„Scientia”. Er behandelt „das Problem der Materie 
und die Relativitätstheorie”. Der Grundgedante ift der, 
daß das neue phyſikaliſche Weltbild, das die gefamte 
Welt zu einer untrennbaren Einheit zuſammenſchweiße, 
in einem gewilfen inneren Gegenjat gegen das ftreng 
atomiſtiſche und rein rationalitifhe der Newton: 
Laplaceſchen Zeit ſtehe. Diefer Umſchwung in der Phyſik 
gehe parallel einem allgemeinen Umſchwung im geilti: 
gen Leben. „Die Menichheit hat die Gedanten des 
Nationalismus fertig durchgedacht, und jebt beginnen 
auf einmal Probleme, welche ihm fremd find, und welde 
die vergangene Epoche der Geiſtesgeſchichte garnicht be- 
merft hatte, vor unferen Augen aufzutauden ... Schon 
zeigt fih ein neues Gedantenbild, das Bild einer großen 
Einheit von wunderbarer Harmonie, zugleich fähig eines 
ungeheuren Reihtums in ihren Erfdeinungsformen.“ 
Solde Worte eines der führenden Phyfiter unferer Zeit 
verdienen es wohl, allgemein beadytet zu werden, zumal 
wenn fie als Zeichen deutſchen Beiltes in einer inter: 
nationalen Zeitfchrift ftehen. Man hüte fi nur vor dem 
Mipveritändnis, als ob die neuen Probleme, von denen 
Mie fpridt, und die jenfeits des Nationalismus nad 
feiner (und aud) meiner) Meinung liegen, mit Erfolg 
und mit gutem Redt beadert werden könnten von 
folden, weldye die „Gedanken des Rationalismus” nod 
teineswegs „fertig durchgedacht“ Haben, fih aber die 
Mühe diefes Durchdenkens fparen zu können glauben, 
weil der Nationalismus jene Probleme ja doch nicht 
löfen könne. So meint es Mie gewiß nidt. 

Rutherford hatte vor einigen Jahren bei feinen 
Atomzertrümmerungsverjuhen Strahlen beobadhtet, aus 
deren Reichweite er jchloß, daß fie aus einer Modifita- 
tion des Heliums mit dem Atomgewicht 3 beitänden. 
Er Hatte diefe Teilchen Xs genannt. Zwei andere eng: 
liide Phyſiker Bates und Rogers Hatten dann bei 
ühnlihen Verſuchen Teildyen noch größerer Reidyweite 
gefunden. Rutherford hat diefe Verſuche fortgefebt und 
ijt nunmehr zu dem Ergebnis gefommen, daß die frag: 
lichen Teilen mit den Reichweiten 9,3 und 11,2 cm 
a:Teildyen von der Maffe 4 d. h. aljo Heliumkerne) find, 
die vermutlich bei einem nod nicht näher unterfuchten 
Zerfall des Ra C entitehen. (Phil. Mag. 48, 509; 
Phyſ. Ber. 10, 703). 

Die hier in Rede ſtehenden Atomjtoßverfuhe find aud 
von anderen Forſchern nad) anderen Geſichtspunkten hin 
näher durchgeführt worden. Bon den auf eine Metall- 
folie (Al oder Mg) auftreffenden a-Teilden wird ein 


180 


Teil nad) den Seiten „geltreut”. Die relative Anzahl 
der in verfchiedenen Winkelbereichen abgelentten Strah- 
len läßt fi) berechnen, wenn man annimmt, daß die 
fliegenden a⸗Teilchen dur; den pofitiven Atomtern ab- 
gelenft werden, und für diefe Beredmung dabei zunächſt 
das gemwöhnlide Coulombſche Abſtoßungsgeſetz 3u- 
grundelegt. Die jo berechneten Brud'eile für die ein- 
zelnen Winkelräume ftimmen aber, wie Erperimente von 
Bieler (Proc. Roy. Soe. 105, 434; Phyſ. Ber. 9, 
620) ergeben haben, nit mit der Erfahrung überein, 
und B. hat deshalb, wie auh andere Autoren, die 
Hnpothefe gemadt, daß bei großer Annäberung an den 
Atomkern das Coulombſche Geſetz (umgefehrte Propor- 
tionalität der Kraft mit dem Quadrat der Entfernung) 
nicht mehr ftimme, vielmehr bei fehr kleiner Entfernung 
eine Anziehungstraft bemerkbar werde, die etwa mit 
1/r* proportional fei. "Bei diefer Annahme würden fi 
Abftoßung und Anziehung in einer beftimmten Ent: 
fernung vom Kern gerade aufheben. Diele Erklärung 
wird jedoch neuerdings von H. Betterfon - Wien 
beitritten, der durch VBerfuche ermittelt zu haben glaubt. 
daß die a-Teildhen tetlweife in den getroffenen Atomen 
ſtecken bleiben (Sitgsber. der Wiener Atad. 4. 12. 1924; 
Nw. 19, 420). 

‘Die außerordentlich) bemerfenswerte neue Theorie von 
Bohr, Aramers und Slater (diefe Umſchau Nr 10, 
1924), wonach fogar der Energiefa nur. noh die Be- 
deutung eines ſtatiſtiſchen Durchſchnittsgeſetzes haben 
jolle, ift von Bothe und Geiger in einer gründ- 
lien erperimentellen Unterfuhung des „Gompton- 
ejlefts“, der den Anlaß zu der neuen Theorie gegeben 
hat, nadygeprüft worden. Der Comptoneffekt beiteht in 
folgendem: Trifft ein Bündel Röntgenftrahlen auf 
materielle Atome, etwa Wafferftoff, jo wird ein Teil 
derjelben unter Abänderung der Wellenlänge „zerftreut”, 
der Borgang ift der gewöhnlichen Fluoreszenz ganz 
analog, es wird Strahlung höherer Schwingungszahl in 
jolde niederer umgewandelt. Hierbei wurde nun aber 
von C. gleichzeitig das Auftreten von frei gewordenen 
Eleftronen beobadtet und feine Meflungen ergaben, 
daß die Energie diefer fog. „Rüdftoßeleftronen” genau 
glei der Differenz h . m — h nz ift, unter ni und nz 
die Schwingungszahlen der auftreffenden und der ge- 
ftreuten Wellen verſtanden; h ift das Planckſche Quan: 
tum. Das bedeutet aber, daß die Energie des ausgelöften 
Elektrons gerade gleich dem in Energiequanten ge: 
meſſenen Energieverluft der PBrimärjtrahlung ift, woraus 
Œ. und Debye folgerten, daß die Strahlungsenergie 
geradezu wie die Energie fliegender Korpusteln den Ge- 
jegen des elaſtiſchen Stopes unterliege. Dieje auber- 
ordentlidy zugunften einer ftreng quantenmäßigen Phyſik 
ſprechenden Folgerungen vermeidet nun die neue Bohr- 
Kramers-Slaterſche Theorie, allerdings um den Preis 
des nid minder revolutionären Aufgebens der eraften 
Giltigteit des Energiefaßes Hiernach wird man er: 
mefjen, welde grundfäßliche Bedeutung allen erperi- 
mentellen Entſcheidungen zwiſchen diefen Theorien zu: 
fommt. Die alte (Compton-Debyeſche) und die neue 
Theorie unterfcheiden fi nun in einer ziemlich leicht 
erperimentell nadzuprüfenden Folgerung. Nach E.-D. 
muß bei jedem derart erfolgenden „Stok“ zugleid 
ein Wellenftrahl der verringerten Schwingungszahl 


Naturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifche Amſchau 


ſchon länger weiß, m einer 


— — 


u n d ein Rückſtoßelektron auftreten, nach Bohr-Kramers⸗ 
Slater dagegen muß nur im Durchſchnitt auf längere 
Zeit berechnet die Anzahl beider die gleiche fein. Darauf- 
hin prüften nun Bothe und Geiger mit Hilfe einer 
finnreid) erdachten Vorrichtung, wie oft dieje Koinzidenz 
tatjächlich eintritt. Ohme auf die Einzelheiten einzugehen, 
jei nur das Ergebnis angegeben: das Zufammentreffen 
war — tei Berüdijichtigung der unvermeidlichen Fehler- 
auellen — jo häufig zu beobachlen, daß die Entſcheidung 
3uguniten der Compton-Debreihen Auffafiung und 
gegen die neue Theorie ausfällt. (Näheres in den vor- 
läufigen Bericht der beiden Forjcher. Nalurw. 20, 441 
und der dort in Ausſicht geftellten Arbeit in der 





Phyſ. Zeitſchrift.) 


Nach dem vom periodiſchen ESyſtem geforderten 
Element Nr. 43, einem höheren Gegenſtück des 
Mangans, Haben Bofanguet und Keely (Phil 
Mag. 48, 145; Phyſ. Ber. 9, 606) vergeblich 17 Man- 
ganerze und »Präparate mit Hilfe der Röntgenfpeftro: 
ſtopie durchſucht, die im Falle des Hafniums zu einem 
fo raſchen Erfolge geführt hat. 

Das Weſen der Blaufäurevergiftung beiteht, wie man 
„negativ katalytiihen“ 
Wirkung, d. h. die Blaufäure bringt gewifle dyemifche 
Reaktionen zum Stillftand, die zur Erijtenz des Organis- 
mus unbedingt notwendig find, in erfter Linie die 
Atmung. Nach Unterfuhungen von Warburg und 
Toda (Naturw. 20, 442) im Kaifer Wilhelm Institut 
für Biologie fcheint es nunmehr erwiefen zu fein, Daß 
in allen bisher unterfudhten Fällen das Eifen als 
Katalyfator für diz betr. Reaktionen dient (bei der 
Atmung das Eifen des roten Blutfarbitoffs). Diejes 


Eiſen, das nur in winzigen Mengen anweſend zu fein 


Fraudt, um die Rerttion zu ermöglichen, wird durch 
die Blaufäure in eine unlöslihe Verbindung (Berliner: 
blau) verwandelt. 

Das Grundproblem der Lufteleffrifität behandelt 
Benndorf in einem Aufſatz in der Phyſ. Zeitſchrift 
26, 81 (Phyſ. Ber. 9, 616). Es befteht in der Frage, 
woher der dauernde negative Leitungs- 


Strom inder Atmoſphäre von der Erde hinweg 


zur fog. Stratojphä 2 fommt. Benndorf findet, daß von 
allen bisher diskutier.en Möglichkeiten nur die Annahme 
einer Ladungszufuhr durch kosmiſche negative (Katho- 
den) Strahlung in Betradht fommt. Er nimmt an, daß 
es fih um Strahlen fehr großer Geſchwindigkeit und 
demzufolge auh Durddringungsfähigfeit handele, Die 
vielleicht von primär auf die oberen Teile der Atmo- 
Iphäre auftreffender y-Strahlung (Röntgenjtrahlung febr 
furzer Wellenlänge) erzeugt würde. 

Auf der anderen Seite haben neue Meſſungen von 
Wigand erwieien, daß der in der Atmoiphäre vor: 
handene Radiumemanationgehalt niht aus dem Welt- 
raum, jondern von der Erde her ſtammt, da verfelbe 
rad) unten hin in dem hiernach zu erwartenden Maße 


zunimmt. (Phyſ. ZS. 25, 684; Phyſ. Ber. 10, 702). 

Im Jahrbuch für drahtloſe Telegraphie 25, 56 distu- 
tiert F. Aigner die Frage der Möglichkeil eines elet- 
triihen Fernfehers. Er fommt zu dem Ergebnis, daß 
mwerigitens auf dem bisher allein als möglich erſcheinen⸗ 
den Wege einer Zerlegung des Gefehenen im einzelne 


> 


181 











fleinere Bildpunkte das Problem nicht 
lösbar ift. 
b) Organiſche Naturwiſſenſchaften. 

Unter der Bezeichnung „Allelogeneſis“ ſtellt X. 
Labbe im Maiheft der „Scientia“ eine neue Baria- 
tionstheorie auf. Diefelbe gründet fih auf Verſuche 
mit den Eiern von Ruderfüßlern, aus welchen durd) ge: 
ifeigerten Salzgehalt des Waflers neue Arten hervor: 
gerufen werden fonnten. So will Labbé aus den Eiern 
des Ruderfüßlers Canthocamptus minutus vier neue 
Arten erziett haben, deren Eigenschaften ſich nicht auf 
die der Stammesart zurüdführen ließen und an die 
Nachkommen vererbt wurden. Als Urſache diefer Ba- 
riationen betradtet Q. den followalen Vorgang des 
Ausgleidyes zwiſchen der Konzentration von Wafferftoff: 
ionen innerhalb und außerhalb des Organismus. Da: 
mit erhalten beide, Lebeweien und Umwelt, entidei: 
denden Anteil an der Schaffimg neuer Arten. Die 
Aenderung der Umgebung erzeugt die „Möglichkeit der 
Variation“, der Organismus aber behält das Vorrecht, 
dic Art und Weile derfelben, ſowohl nad) Quantität 
wie Qualität, zu beftimmen. Der Beitimmungsfaftor 
in ihm darf dann aber auh nicht als irgend ein ge: 
beimnispoller Erbfompier gelten, jondern die „totale 
Potentialität”, von welder jene Beltimmung ausgeht, 


befriedigend 


‘ift wieder nichts anderes als eine beitimmte Konzentra: 


tion von Wafleritoffionen mnerhalb des Organismus, 
welde m Uebereinftimmung mit der Durdjläffigkeit feiner 
Zellen Steht. Daß diefe, allzu fehr auf die Verſuchs— 
ergebniffe zugefchnittene Theorie in diefer Form nur 
einen febr beſchränkten Anwendungsbereich bejitt, liegt 
auf der Hand. 

In dem folgenden Heft der gleichen internationalen 
Zeitſchrift trit W. Bechterem für eine „pathologiſche 
Reflexologie“ anitelle der jetzigen „Pſychiatrie“ oder 
„Pſychopathologie“ ein. Diefe Aenderung des Namens 
foll auf eine reftlofe Hinmwendung der betreffenden Willen: 
fchaft zu einer rein objeffiven Unterſuchungsmethode 
unter Ausſchluß jeglider Selbſtbeobachtung Hinweijen. 
Es foll dann in ihr aud) niht mehr von „Geiftestrant- 
heiten“ geſprochen werden, fondern nur nod von „Krant: 
beiten der Perjönlichteit”, weldye fidh in ihren anormalen 
Beziehungen zur Umgebung üußeın. Damit tommen 
zugleich alle Begriffe wie „Störungen der Empfin: 
Dungs- oder Vorftellungstätigfeit, des Willens oder Ge- 
Dächtrriffes, der Wöeenverbindung oder der moraliſchen 
Gefühle” in Wegfall. Unterfucht werden ausſchließlich 
die objettiv ſich darftellenden Beziehungen der Perfön: 
Lichheit zu ihrer Umgebung, welde fih ausdrüden in 
Sprade, Mimik, bewußten und unbewußten Bewegun: 
gen bis hin zu den einfaden Refleren. Zu den Grund- 
lagen diefer Erfcheinungen follen dann biochemiſche 
Unterfuchungen vordringen, da nah Bechterews Anſicht 
die Urſache der „Perſönlichkeitskrankheiten“ hauptfäd: 
fich im Störungen der SHormonentätigfeit innerhalb des 
Organismus (des „Hormonismus“) liegt. Auf diefem 
Wege glaubt B. alles „Metaphyſiſche“ aus feiner Wiffen- 
ſchaft herauslöfen zu fünnen. Jedenfalls muß feine Ub- 
grenzung zur reinliden Scheidung der Geſichtspunkte 
auch dem wertvoll fein, der die Ueberzeugung heat, daß 
man auf dieſem Wege objektiver Unterſuchung doch nicht 


alurwiſſenſchaftliche und _naturphilofophifhe Umfhau. 


in die lebten Rätfel der gefunden oder franten Perfön- 
liykeit eindringt. 

Wie könnte man ohne Selbitbeobadhtung 3. B. Thon 
in das Problem des Traumes eindringen, deffen Frucht⸗ 
barteit heute Doch bereits erwieſen ift? Zu dieſem 
Problem bringt in derfelben Nummer der „Scientia” 
ein Referat Ch. Baudouins über dıs Buch des cng- 
liſchen Pſychologen H. R. Rivers „Konflitt und 
Traum” neue Geſichtspunkte. R. bekämpft nämlidy die 
Freudſche Traumtheorie der Wunfcerfüllung und pe- 
zweifelt, daß überall, wo „jeruelle Symbole” auftreten, 
aud ein erotiſcher Wunſchtomplex vorhanden ift. Nadh 
jeiner Ueberzeugung ift der Traum viel mehr die Cr- 
iheinung und — in gewiller Weile — Löfung emes 
feeliihen Konfliktes als die Erfüllung foldyer geheimiten 
Wünfde. Zu diefer Leiftung ift der Traum befonders 
durd) jeine Affekttofigteit gegenüber gewillen Situationen 
befähigt wie durch fein Hervorholen unbewußten Wij- 
jens, das dabei jehr oft fi m kindlicher Form darftellt 
und dadurd) dem Trauminhalt das bekannte infantile 
Ausjehen verleiht. l 

3u dem damit berührten Problem des Unbemußten 
und feines Wiffensbefiges bieten neue Verſuche über 
das Gedädtnis im wachen und fuggeitiven Zuftand, 
über welde C. Qent! im Aprilheft der „Umſchau“ be: 
vidiet, neues wichtiges Material. Diefe Verjuche zeigen 
nämlich bei etwa gleichwertiger Aufnahmefähigleit des 
Gedädhtnilfes in beiden Zuſtänden ein weit befleres 
Haften des im Suggeltionszuftand eingeprägten Stoffes. 
Die unter Suggeltion erlernten Silben, Worte und 
Berje wurden viel leichter reproduziert als die im Wad: 
zujtand erlernten. Cine völlig befriedigende Erklärung 
d'eſer Erſcheinung ift wohl noch nicht zu geben, da der 
gerade hier fo ſtark hervortretende Unterſchied zwiſchen 
der Fähigkeit des Cinprügens und Behaltens die übliche 
Zurüdführung übernormaler Leiſtungen im Suggeftions- 
zuſtand auf eine verftärfte Konzentration an dieſer 
Stelle jedenfalls als ungenügend erſcheinen läßt. Jwet: 
fellos aber fpredyen derartige Werjuchsergebniffe ftart 
gegen die materialiltiiche Deutung des Erinerungsver: 
mögens für das Vorhandenfein überindividueller Kräfte 
als der Träger des gedädjtnismäßig Aufbewahrten. 

c) Naturphilofophie und MWeltanfhauung. 


Im Maigeft der Moniftiihden Monatshefte findet fid 
cre Auseinanderjegung zwiſchen Drews und dem be: 
fannten Haedelihüler Prof. H. Schmidt -Iena, die 
jo charakteriſtiſch iſt und fo viel unendlidy wertvolles 
Material für den Weltanſchauungskampf bietet, daß ic) 
alle Lefer bitte, wenn fie irgend fünnen, fih diefe Num: 
mer zu verichaffen, und für Diejenigen, die dazu nicht in 
der Lage find, hier wenigftens einige der widtigiten 
Aeußerungen von Drews zum Abdrud bringe. Die Bor- 
geſchichte dieſer Debatte ift die, daß Schmidt auf Ein: 
ladung der Hamburger Ortsgruppe des D.M.B. einen 
Vortrag über den „werdenden Gott” gehalten hatte, 
worin er entwidelte, daß diefer werdende Gott die ee 
der fih zu immer größerer Bolltommenbeit entwidelnden 
Welt fei. Einen Gott als Grund der Welt anzunehmen, 
jei deshalb widerfinnig, weil diefe Welt offenbar unvoll— 
kommen fei, es widerfpredje aber dem Begriffe Gottes, 
daß er unvolllommen fei. Drews zeigt nun zuerft, daß 
bier ein Fehlſchluß vorliegt, daß man die Prädifate 


182 


„Vollkommenheit“ oder „Unvollkommenheit“ nur von 
endlihen Teilen der Welt ausfagen können. Gott fei 
nicht der „Inbegriff aller Vollkommenheiten“, fondern 
der fie fegende und: beitimmende Grund, welcher madıt, 
daß es (im Endliden) Vollkommenes gibt oder dod, 
daß alles Endliche der Bervolltommnung zuftrebt. „Ein 
polltommener Gott, dem nichts mangelte, der mithin 
aud ein volles zuftändlides Genüge hätte, würde als 
folder gar teine Veranlaffung haben, die Welt ins Da- 
fein zu rufen“ „Die Unvollkommenheit der Welt, 
weit entfernt, gegen das Dafein Gottes zu zeugen, bildet 
vielmehr gerade die Beranlaflung zur Annahme eines 
Gottes, nämlid um die Mglichkeit einer Bervoll: 
fommnung der Welt zu begründen“ Drews zeigt dann 
weiter, wie der übliche entwidlungsfelige Optimismus 
des darwiniſtiſchen Monismus fih felber widerfpricht, 
menn er m einem Atem von Entwidlung ſpricht, aber 
den Zwed aus der Betradhtung der Natur ausschließt.“ 
„Ein zwedlofes Geſchehen ift ja gar fein Prozeß, fon: 
dern ein finnlofes Screiten in der Treimühle, bei 
melhem jeder Schritt glei” wertlos und bedeutungslos 
ft.” ... „Es ift unveritändlid, wie der Zweckge— 
dante bei einem bejtimmten höheren Zuftande der Natur 
jollte entjtehen können, wenn er nicht {hon in der Natur 
als folher irgendwie enthalten wäre.” Wer wie Schmidt 
den ganzen Naturprozeß als einen Entwidlungsprozeh 
enjieht, der bejchreibt ihn damit als Ywedvorgang und 
jegt eo ipso den Geilt als beherrſchendes Prinzip des 
Naturgejchehens, die Materie als bloßes Mittel dazu. 
Wenn er dann aber fih zu materialiftiichen Sägen be: 
tenmt, jo ift das ein Selbſtwiderſpruch, oder man verlegt 
eben einfach in die Materie, aus der fih der Geiſt ent- 
wideln fol, hinein, was nachher heraustommen foll. 
„Wir (Drews meint die idealiftifhen Moriften) wollen 
(dagegen) wilfen, wie die Materie, das bloße Spiel 
phyſikochemiſcher Vorgänge, fi) zum Geiſt entmwideln 
und den Begriff des Zwecks aus fih hervortreiben tann, 
der ihrem ganzen fonjtigen Wefen und Verhalten ent- 
gegengejegt ift. Wir vermögen uns nicht vorzuftellen, 
mie der Mechanismus des natürlichen Geſchehens ... 
fih als Leben äußern, Bewußtſein erzeugen, und im 
Menſchen den Zwedgedanten faffen und in den Dienft 
der MWeltvervolltommnung ftellen fann, wenn diefe 
nicht .. . im Wefen des materiellen Dafeins felber 


angelegt find: das ift aber nur in idealer Weile möglid, 


namlid fo, daß die Materie nur ein vom unbewußten 
Geift (bier ift Drews Hartmannianer) gefegtes Mittel 
ijt, um den bewußten Geift bervorzubringen.“ ..... 
„Der Atheiſt widerjpricht fih jelbit, wenn er in feinen 
weltanſchaulichen Vorausſetzungen die Bedingungen 
Icugnet, ohne welde von Entwidlung und Vervoll: 
fommnung überhaupt feine Rede fein tann “ 

„Alle Atheilten ſtimmen darin überein, für ihre Leug- 
nung eines Gottes einen Erfaß in dem Glauben en die 
Entwidlung . . . 3u ſuchen. Diejer Glaube aber jdywebt 
völlig in der Luft ohne die Borausjekung eines Zwede 
ſetzenden, alfo geijtigen und jene Zwecke mit Hilfe der 
Individuen verwirklichenden abfoluten Wefens, d. D. 
Gottes. Der folgeridytig durchdachte Atheismus müßte 
polltommener Miferabilismus, die gänzliche Ber- 
3weiflung am Sinn und Wert des Dafeins fein.” ... 
„Haedels Kunftformen der Natur find die Ihlagenöfte 


ſätzlicher Stellimgnahme verwecdfeln!) . . 


_Raturwiffenfehaftliche nud_naturphitofophifche Umſchau— 


Widerlegung feines Atheismus” „Ertenntnis der 
Wirklichleit ift (wie überhaupt das Ideal des Wahren, 
@uten und Schönen) nur unter der Vorausſetzung ihrer 
vernünftigen Beitimmtheit möglich. Der Glaube an die 
Vernunft der Wirklichkeit, das ift aber der Gottes- 
glaube” .. . . „Der Unglaube des Atheilten bezieht fidh 
hiernach gar nicht ſowohl auf Gott überhaupt, als viel- 
mehr nur auf eine einjeitige und unzulänglidde Gottes- 
auffaffung wie etwa diejenige des Theismus“ (hier wird 
Drews für unfere Auffaffung ungeredht, denn der 
Theismus des Chriftentums ift gar niht das Zerrbild, 
als das er ihm erfcheint. Was er jelber von Schmidt Hier 


. verlangt, follte er auch dem Chriſtentum zubilligen: nicht 


unzulänglide empiriſche Erjcdyeinungsform mit grund- 
„Ale Leug⸗ 
nung Gottes richtet ſich doch eben ſchließlich nur gegen 
eine als unhaltbar empfundene Auffaffung des leg- 
teren. Die Annahme eines Gottes als des abjoluten 
Grundes und geiltigen Weſens der Welt jedod, des 
Allgeijtes, zu dem fih die Welt... . als der Gottheit 
lebendiges Kleid verhält, widerſpricht der Wiflenichaft 
und Wirklichkeit nicht nur nidyt, fonden madt die 
erjtere vielmehr erft methodiſch möglich und verleiht 
der le&teren eine Bedeutung, die ebenfo den Berftand 
wie das Gemüt befriedigt, die Teilnahme des Men- 
[den an der Welt erhöht, fein Berantwortlichleitsge- - 
fühl ſchärft und ihm den einzig zwingenden Beweg- 

grund liefert, um fih freudig und opferwillig der Mit- 
arbeit am Weltprozeſſe zu widmen“. Im folgenden 
jegt fih Dr. noh mit dem Einwand auseinander, Kant 
habe alle Gottesbeweile unwiderruflich zunichte ge- 
madt, und zeigt zum Schluß, daß der Schmidtſche 
„werdende Gott” eine bloße Redensart fei, mit der 
weder philoſophiſch nod religiös etwas anzufangen fei. 
Auf Schmidts ausführlihe Erwiderung einzugehen ift 
nit der Mühe wert. Der Grundgedante ift der üb- 
lie: alles Heil fommt von der wiſſenſchaftlichen Ber- 
volltlommnung, fiehe 3. B. Peitferum, Blibableiter, 
Steinachs Verjüngung uſw. Hiermit glaubt Schm. 
Drews Theſe entkräften zu können, dab die Welt nie- 
mals volllommen fein werde, jener „werdende Gott“ 
aljo eine bloße Utopie fei. Es liegt fpeziell mir, wie 
die Lefer meines Auffaes über das Weltübel gemerkt 
haben werden, nichts ferner als die Verachtung jener 
von Schmidt gepriefenen Aulturfortigritte. Ich ftimme 
ihm darin durdaus bei, daß das landläufige Chriften- 
tum dazu ein ganz faljches Verhältnis hat. Aber fein 
an der Oberfläche haftender Blid fieht eben die meta- 
phyſiſchen Tiefen gar nidt, die hinter der Tatſache als 
folder fteden, Daß es einerfeits foldes Uebel in ber 
Welt, andererfeits aber daneben das Streben und den 
Wunſch es zu beieitigen, überhaupt gibt. Er Hält ſolche 
Probleme einfach für „blauen Dunst“, jede dahin zie- 
lende Betradtung für „metaphyfitverfeuht” und „des⸗ 
infeftionsbedürftig” und ergeht ſich in den heftigiten 
und gehäffigiten Ausfällen gegen Drews, der, mag 
man 3u feinen einzelnen Ergebniflen ftehen wie man 
will, immerhin ein fehr tiefer Denter und zur Zeit die 
einzige im Moniltenbunde noh vorhandene, wirkliche 
geiftige Größe ift (nachdem au Verweyen, wie 
es ſcheint, nunmehr hinausgeefelt worden ift). Im 
einem Punkte Hat Schmidt darum freilid m. €. Redt: 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umſchau 


Ein jolder Mann wie Drews gehört nicht in den 
Deutiden Moniftendbund. Was er jagt, könnte gut 
in „Unfere Welt“ ftehen (von einigen Punkten abge: 
gejehen), paßt aber in den heutigen Tenor der Mo- 
niftiiden Monatshefte wie — — ja, wie fagi man’s 
Farlamentarifdy? 

Welder eift dort heute berricht, Davon mal wieder 
eine fleine Stichprobe: In einem Auffa „Kreuz und 
quer durch den Kulturfampf”, der fich mit den neuer: 
dings von katholiſcher Seite in Bayern, Oeſterreich und 
anderswo erhobenen jdyweren "Bedenken : gegen die 
Yuswüdje moderner Körperkultur befaßt und der in 
zyniſcher Meile alle dieje Beitrebungen ledigli ins 
Lächerliche zieht, findet ji in den einleitenden Ab- 
icynitten folgender Paſſus: 

„Bott denkt und der Menſch lenkt. Dem Menſchen 
ijt es heute mehr denn je um die Erhaltung feines 
jündhaften Lebens zu tun und nicht um die Befolgung 
des göttliden Gebots der Keujchheit, und insbejondere 
die rau, dieſes Gefäß der Sünde, juht mit allen 
Sineften der Mode den Mann vom Pfade der Tugend 
abzulenten ... Es ift wirklid jchwer für den lieben 
Gott, die Befolgung feiner Gebote durchzuſetzen; feine 
Allmacht jcheitert an dem neumodifchen Klimbim. Kino, 
Bar und Radio treiben erfolgreihe Schmutzkonkurrenz, 
gegen welche die Baldadjinherrlichleiten der Kirche 
verblaflen, das Kokain hat die Nachfrage nah Weih- 
raud) erheblich vermindert, und die modernen Deteftiv- 
und Abenteurergeſchichten haben die gejammelten 
Werte von Jehovah vom Büchermarkte nahezu ver- 
drängt.” In diefem Stil geht es weiter. Ih mill 
mid damit Beineswegs zum Anwalt aller der ange: 
griffenen Kundgebungen gegen die Auswüchſe der 
Körpertultur maden, glaube vielmehr, daß in der 
Reattion gegen die zu weit getriebene Prüderie früherer 
Zeiten ein jehr guter Kern Itedt, und daB abusus non 
tollit usum, aber wer in diefer Weife über Die 
ihlimmiten Schäden der Gegenwart witeln tann, wem 
jelbft die Kokainfeudhe und die Schundliteratur redt 
ijt, wenn fie nur dem verhaßten Glauben Abbruch tun, 
der foll uns nicht mehr mit verlogenen Tiraden auf: 
Ipielen, wenn er, wie im {alle der Altoholfrage, zu- 
fällig an dieſer Stelle dem ebenjo gehaßten Kapitalis- 
mus eins auswilchen tann. In den Moniſtiſchen Mo- 
natsheften findet fi faft in jeder Nummer etwas 
Dabinzielendes. und es ift ja an fih febr erfreulich, 
daß ganz allgemein in der „proletarifchen” Bewegung 
eıne fo Starte antialtoholifde Strömung anzutreffen 
ift. Wenn aber die Scdriftleitung der Moniftifchen 
Monatshefte neben folgen begrüßungswerten Zielen 
derartige Unflätigleiten wie die zitierte aufnimmt, fo 
legt fie fih dem Vorwurf aus, daß ihr auch die höch— 
ften fittliden Güter anfcheinend nur Mittel zum Zwet 
der politifhen und antireligiöfen Verhetzung find, daß 
ïe mit der fittlien Forderung geht, wenn das in 
ihren Kram paßt (weil leider, wie männiglid) befannt, 
die Altoho.fiut aus kapitaliſtiſchen Quelen ftammt), 
dah fie aber ebenfo leicht fih über alle fittlidyen Forde- 
rungen hohnlächelnd hinwegfegen tann, wenn das ge: 
rade befjer austommt. Noch einmal fei es gejagt: ich will 
hiermit nicht ohne weiteres für alles von dem Verfaſſer 
jenes Schmutzartikels Ungegriffene eingetreten fein. Die 
orage einer neuen Einftellung der Religion 


u 


oder wenn man lieber will: der religiö— 
fen Gemeinſchaften zu den beredtigten 
dorderungen aud des Körpers bedarf viel- 
mehr febr ernitlidder Erörterung. Ich habe in Italien am 
eigenen Leibe erfahren, wohin die von der Kirde viel- 
fach gezücdhtete zu weit gehende Prüderie führt. Meine 
fonit jo guten und lieben Pflegerinnen dort hielten 
iih für verpflichtet, fiġd abzuwenden, wenn id) eine 
Sprige in den Arm, geichweige denn ins Bein friegte 
Der Würter mußte heran, damit das ſittliche Gefühl 
nicht verlegt würde. Jn Deutichland ift fo etwas wohl 
auch in katholiſchen Krantenhäufern unmöglid), aber 
es ift doh wohl niht abzuftreiten, daß niht die Bolts: 
art allein, fondern auh die kirchliche Erziehung ſchuld 
an folden Auswüchſen ift. Alfo reformbedürftig ift 
ba [don etwas. Aber das einfehen und mit Ernſt und 
Tatt erörtern, ift etwas anderes als den Libertinismus 
durch literariſche Sudeleien verherrlichen. 


d) Berichiedenes. 
Klimatologiide Tagung in Davos. 


In der Zeit vom 17. bis 22. Auguft veranitaltet das 
smftitut für Hochgebirgsphyfiologie und Tuberktulofe: 
forſchung in Davos eine mit etwa 50 Vorträgen aus: 
geitattete Tagung über den Einfluß des Höhenklimas 
auf die Lebensfunktionen. Führende Gelehrte aus 
allen umliegenden Ländern werden über die in diefer 
Trageftellung enthaltenen Cinzelprobleme ſprechen, 
über welde de nadjitehende Einteilung wenigitens 
einen furzen Meberblid gewährt. Die Vorträge um: 
fallen folgende Abteilungen: 

1) Allgemeines; 
2) Phyfitalifch-meteorologifhe Abteilung; 
3) Biologiſche Abteilung: 
a) Phyſiologie, b) Botanit; 
4) Kliniſche Abteilung. 

Teilnehmerfarte: rs. 20.—, mbegriffen die Kon- 
greßverhandlungen. De Kongreßteilnehmer 
genießen eine Reihe von Bergünftigungen (Er: 
aß der Bijumfpeien, erheblide Ermäßigung der Fahr: 
taren, — auf den Bünönerbahnen halbe Preiſe —). 
Günftige Untertunftsverhältnifle (drei Kategorien: Frs. 
10.—, 12.— und 15.— bei voller Penfion). nmel: 
dungen an das Inſtitut für Hochgebirgs-Phyſiologie 
und Tuberkulofeforfhung in Davos. 

Wir empfehlen unferen Leſern dringlich dieſe 
Tagung von fo weitreichender willenjdhaftlider und 
praftiicher Bedeutung. 


- Einladung zur 4. Apologetiſchen Fachtonferenz vom 


14.—17. September 1925 in Blantenburg in Thüringen. 

Vorausſichtliche Tagesordnung: „Der heutige Stand 
der Naturwillenihaft und feine Bedeutung für das 
Berhältnis von Naturwiſſenſchaft und Religion“ 
(Bıof. Hzering d. I. — Tübingen) „Die Verſenkungs— 
itufen in Religion und Myſtik“ (Lie. Gruehn-Dorpat). 
gerner: Die Bibelfrage, Die völkiſche Frage, Evan- 
geliſche und katholiſche Apologetit, „Wie tommen wir 
an den Wrbeiter beran?” 

Anſchließend bis zum 20. September eine Konferenz 
für Evangeliften. Beginn der Upologetentonferenz; am 
14. September, abends 8 Uhr. 

Anmeldungen erbeten an die Apologetiſche Zenirile, 
Berlin Dahlem, Alteniteinitraße 51. 











Der Werdegang der Entdedungen und Erfindungen. 
Unter bejonderer Berüdfihtigung der Sammlungen des 
Deutſchen Mufeums und ähnlicher wiſſenſchaftlich-tech— 
niicher Anitalten, herausgegeben von Friedr. Dan ne- 


mann. (Berlag R. Oldenbourg, Münden - Berlin. 


1922.) Bon der Sammlung „Der Werdegang der Ent- - 


dedungen und Erfindungen“, die der bekannte Hijtorifer 
der Naturwiſſenſchaften Dr. Fr. Dannemann herousgibt, 
liegen nunmehr vier Hefte vor. Jn dem eriten vom 
Herausgeber jelbjt bearbeiteten Heft „Die Anfänge 
dererperimentellen Forſchung und ihre 
Ausbreitung“ führt uns Dannemann in wllge: 
mein verftändlicher Darjtellung in die Gedanfenweit und 
in das Schaffen der Väter der Erperimentalphyjit ein: 
Galileis und feiner Schüler, William Gilberts und Dtto 
ton Querides. Mit Recht betont der Verfaffer — und 
das gilt für die ganze Sammlung —, daß das Studium 
des Werdeganges der Wiſſenſchaften, das Eindringen in 
die Arbeitöweife der großen Pfadfinder, denen wir die 
Erkenntnis der Naturgejeße verdanten, uns vor der 
Ueberſchätzung unjeres heutigen Willens bewahren wird. 
— Jn Heft 5 gibt Dr. A. Bart einen klaren gedrängten 
Veberblid über „Die Entwidlung der hemi- 
ſchen Großindufjftrie (fünftlide Farbitoffe, Heil: 
mittel, Sprengjtoffe ujw.). Das chemiſche Großgewerbe 
ijt ein Kind des 19. Jahrhunderts; feine Wiege jtand 
in Frankreich. Aber bei Gelegenheit der Weltausitel: 
fung in Chicago im Jahre 1893 mußte der franzöftiche 
Ausjtellungsleiter befennen, daß die deutſche chemiſche 
Industrie im Begriffe fei, auf allen Gebieten dyemijcher 
Erzeugung die erjte Stelle zu erobern. Den Gang der 
Entwidlung der verjchiedenen Induftriezweige hat Dr. 
Bart in großen Linien fejjelnd dargeitellt. — Bon der 
„Entwidlung der Chemie zur Wiſſen— 
ſchaft“ handelt Dr. W. Roth in Heft 9. Erit im 
17. Jahrhundert fann man von einer felbjtändigen che- 
miſchen Forſchung, die von wiſſenſchaftlichem Geiſte ge- 
tragen iſt, ſprechen. Der Verfaſſer entrollt uns ein 
farbenreihes Bild vom Fortſchreiten der Erkenntnis auf 
dem Gebiete der Chemie. Wir erfahren, wie Qavoifier 
die Bedeutung des Sauerjtoffes für den Verbrennungs= 
prozeß erkannte, wie die auf Dalton zurüdgehende mo- 
derne Atomtheorie fih entwidelte und erleben die An: 
Fänge der Elektrochemie, jowie die von Liebig herbeige- 
führte enge Verbindung zwifhen Wiſſenſchaft und 
Praris. — Im 3. Heft der Sammlung hat Dr. Franz 
Fuchs „Die eleftrifhden Strahlen und ihre 
Anwendung (Röntgentehnit)“ behandelt und mit 
großem Geſchick diefes niht ganz leichte Thema dem 
Verftändnis des Laien nahegebradt. — Allen Heften 
find Iehrreihe Abbildungen beigegeben, die zum Teil 
Gegenjtände aus den reihen Beltänden des Deutſchen 
Mufeums darjtellen. Die Sammlung eignet fih ganz 
bejonders zu Boltsbildungszweden: die Hefte werden 
jedem, der auf den Gebieten der Tednif, der Natur: 


wiſſenſchaften und ihrer zahlreichen Anwendungen tätig 
ifi oder fih auch nur dafür intereffiert, durch ihren gleidh- 
zeitig feſſelnden und gediegenen Inhalt Anregung und 
Belehrung bieten; ganz bejonders gilt das von dem Stu: 
dDierenden, den reiferen Schülern jowie ftrebjamen Ar: 
beitern. Ein ſolches Unternehmen fann aber nur durd 
großzügige Unterftügung feitens der Behörden, der 
Schulen und der Induftrie einen gedeihlihen Fortgang 
nehmen. Bei Maffenbezug gewährt der erlag die 
günftigiten Bezugsbedingungen. 

Georg Simmel, „Fragmente und Aufſähe 
Drei Masten -Berlag, Münden. 1923. (304 ©.) 
Wenn aud die in diefem Buche enthaltenen Schriften 
des Straßburger Philofophen bereits in Zeifſchriften 
erihienen find (Logos Bd. 71—10, Deiterreichiiche Rund- 
ſchau, Jahrgang 19, jo ift die Zujammenftellung diele: 
Tagebuchblätter, Fragmente und Aufſätze („Weber die 
Liebe“, „Der platonifcye und der moderne Eros“, „Die 
hiſtoriſche Formung“, „Gefegmäßigfeit im KRunftwert“, 
„Bur Philoſophie des Schauſpielers“, „Zum Problem 
des Naturalismus“) überaus dankenswert; denn jie find 
wertvolle Baufteine zu der Philojophie des Lebens, die 
S. vorſchwebte. Mit der ihm eigenen eleganten Dar: 
jtellungstunft, freifinnig und beredt, führt uns S. hier 
an die höchiten Probleme heran. Eine leichte Lektüre 
ijt das Budh gewiß nicht; e8 will erarbeitet fein. Kritiſch 
zu Simmels Philofophie Stellung zu nehmen, müffen 
wir uns im Rahmen einer Beſprechung natürlich Wr: 
jagen; wir begnügen uns in diefem Zufammenhang 
damit, — gleichzeitig als Koſtprobe —, eins der nad) 
gelaffenen Tagebuchblätter ſelbſt zu bringen: „Id halle 
es für durchaus bedauerlich, daß der moderne Menſch 
feiner Lektüre gegenüber (man fönnte vielleicht jagen: 
allen Runftwerten gegenüber) den kritiſchen Stand: 
punft als den jelbjtverftändlich erjten und oft einzigen 
einnimmt. Man jollte von einem Bud dankbar auf; 
nehmen, was uns fördert, und an dem andern einfa 
vorübergehen. Auf den Stuhl des Rihters jollte man 
fih nur feßen, wenn e3 aus Gründen, die außerhalb 
des unmittelbaren Verhältniffes von Bud und Leſet 
liegen, nötig ift. Warum muß man durchaus immer e 
„Urteil“ haben? — was, da urteilen feine leichte Sade 
ift, vor allen Dingen zu abfpredenden, negierenden 
Urteilen führt, die jedenfalls die leichteren find. M 
übrigen hängt unfer ganzer Zug zum Xritifieren m! 
der der Gegenwart gewohnten mechaniſchen Anſchau— 
ungsweife zufammen, für die ein Ganzes nur eine Zu— 
ſammenſetzung aus einzelnen Teilen iſt. Denn er pfleg 
ſich auf Einzelheiten zu richten, die Einwände 
gegen diefe werden zum Urteil über das Ganze; de 
Vorausſetzung der gewöhnlichen Kritik iſt die allem 
künſtleriſchen Weſen durchaus entgegengejeßte: daß de⸗ 
Ganze aus für fih beurteilbaren Teilen zuſammen— 
gejeßt ift.” N. 


* 





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Herausgegeben Schriftleitung: 
vom Professor 
Keplerbund Dr. Bavink 
Detmold Bielefeld 


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XVII. Jahrg. Detmold, August 1925 f Heft 8 N 


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Herausgegeben vom Naturmifjenfchaftliden Verlag des Keplerbundes e. B. Detmold. 


Boftichedtonto Nr. 45744, Hannover. 


Scriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Aufiähe itehen die Derfaffer; ibre Aufnahme macht fie nicht zur Weuberung des Bundes. 





XVI. Jahrgang 


Auguft 1923 


Heit 8 








Vom Relativen zum Abfoluten. Von B. Bavink. (Søns) A 





Doch wir müffen nun dies Gebiet der Aefthetit, 
jo verlodend es ift, verlaflen und uns endlid dem 
noch viel wichtigeren fittlichereligiöfen Gebiet zu- 
wenden. Daß es hier leicht möglich ift, aus dem 
Sachverhalt bezügl. der Wiſſenſchaft gewiſſe Ana- 
fegıen herauszuholen, haben wir oben ſchon ge 
feyen. Jn der Tat gilt, wenn irgendwo, dann 
insbefondere für das Sittlihe, der Sag von ber 
Mebereinanderordnung der Werte. Doh davon 
wear ſchon vben die Rede. Nunmehr müffen wir 
jedoch eine ganz neue, mit allem bisherigen nicht 
vergleichbare Gedankenreihe ins Auge faflen. 
Diefe ergibt fih aus dem Weſen des Neligiöfen 
telber. — Man fann Religion befanntlidy geradezu 
tefinieren als das Streben nah einem DBerbält- 
nig zum. Abfoluten. Diefe Definition ift zwar 
in wenig abftraft und blutleer, daß fie aber zum 
mindeſten einen zutreffenden Kern enthält, wird 
niemand beftreiten.. Wenn dies nun aber richtig 
ift, dann liegt die Sache im Gebiete der Religion 
von vornherein wefentlih anders — wenigſtens 
ericheint es fo — wie in den anderen Gebieten. 
Iſt Religion in irgend einem Sinne ein Haben 
oter dodh Habenwollen des Abfoluten, fo erfcheint 
folgende Alternative unentrinnbar: Entweder 
dieſer Aniprub beftehbt zu Redt, 
dann ift jeder Relativismus bier 
tem Wefen der Sache nah unmög- 
lid. Oder aber er beftept 
su Redt, dann bat die Religion 
überhaupt feine Eriftenzberedti- 
gung. Jn beiden Fällen habendie- 
jenigen Redt, die fagen: rela- 
tive Wahrheit, Schönheit, ſelbſt 
Sittlichkeit läßt fih ertragen, 
relative Religion it ein Wider- 
fprudb in fid. Die Religion fünnte es dann 
nicht nur ertragen, daß dies andere alles dem 


nicht; 











Relativismus ausgeliefert würde, fie hätte 
vielleihbt fogar ein Üntereffe 


caran, dag zu tun, weil fie felber dadurch um fo 
deutliher als der einzige wirflih zum Abfoluten 
führende Weg anerfannt und Far herausgeftellt 
roürde. 

Daß beide Anſichten mit Eifer verfochten werden, 
bedarf feines Beweiſes. Der moderne Monis- 
mug” bekämpft die Religion grundſätzlich gerade. 
deshalb, weil ſie jenen Anſpruch auf Abſolutheit 
erhebt. Es iſt ſehr charakteriſtiſch, daß heute im 
„Deutſchen Moniſtenbunde“ die poſitiviſtiſche Er- 
kenntnistheorie durchaus die Führung hat. An- 
dererſeits ſympatiſiert man in kirchlich religiöſen 
Kreiſen ganz offen mit dem gleichen Poſitivismus 
und Kritizismus, weil man hofft, dadurch die „nur 
relative” übrige Kultur gebührend in die Schranken 
zurückzuweiſen. Um nun bierin zur Klarheit zu 
fommen, ift eg durdaus notwendig zuerft zu er- 
lüutern, in wiefern jedenfalle auch auf dem Gebiete 
ter Religion ein gewiffes Redt zu relativiftifcher 
Betrachtungsweiſe befteht. Wir werden dann nad- 
ber darzulegen haben, in wiefern weiterhin dabei 
dodh der Charakter des religisfen Lebeng als eines 
Habens des Abfoluten beftehen bleiben Fann. 

Auch wenn die Religion tatfählih ein Haben 
des Abfoluten fein folte, fo ift doh nicht zu ver- 
fennen, daß fie uns durch Menſchen ver- 
mittelt und in menſchlichen Şor- 
men entgegengebradht wird. Man 
fommt zur Religion niemals an- 
ders als durch einen gefihidt- 
lihen Zufammenbang, mag diefer fein 
von welcher Art er immer wolle. Aud die großen 
Propheten und Schriftfteller der Religion waren 
Menſchen, und wenn der gläubige Chrift diefes 
Prädikat felbft von. dem Stifter feiner Religion 
nicht obne näheren Zuſatz ausfagen will, oder wenn 


der Mohammedaner dem Propheten Mohammer, 
der Buddhiſt dem Gautama Buddha ein Michtge- 
hundenfein an die Schranken der Menfchlichkeit 
zuſchreiben, fo fteht dod) das feft, daß die Urkunden, 
die von diefen Stiftern handeln, die Gemein- 
fdyaften, die das Zeugnis von ihnen weiter 
tragen ufw., in vielfaher “Beziehung irren Fönnen 
und geirrt haben. An diefer Stelle liegt nun eines 
der fchwerften religisfen Probleme der Gegenwart. 
Wie in fahliher Hinfiht das Problem des Uebels, 
fo bildet in formaler Hinfiht das Problem 
ber religiöfen Autorität den eigent- 
lichen Kern unferer fo überaus verworrenen reli- 
giofen Lage. ‘Beide greifen vielfady ineinander, 
und wir konnten deshalb in unferem vorigen Auf- 
ink aud die formale Frage der religiöfen Autorität 
ſchon nicht ganz umgeben. Wenn wir nun auf fie 
bier ausführlider eingeben, fo fann es nicht die 
Aufgabe diefer Zeilen fein, die Gründe ausführ- 
lich zu entwideln, die zur Auflöfung oder 
dod Einfhränfung der bisher geltenden Autori- 
täten, es fei nun die Kirde oder die Heilige 
Schrift oder die Belenntniffe oder was fonft immer, 
aeführt haben. jeder der ein wenig in die reli- 
giofen Kämpfe der Gegenwart hineingefehen bat, 
fennt einige der hauptfädhlichiten diefer Gründe. 
Die wichtigften und ausfchlaggebenden liegen aber 
niht, wie man oft meint, auf dem Örenzgebiete der 
Meligion und der modernen DMaturerfenntnisg, 
fondern auf dem der geſchichtlichen Forſchung. 
Wenn au die erften ſchweren Erſchütterungen der 
reltgiöfen Autoritäten von dortber gefommen find, 
und wenn aud, wie wir früher gefeben haben, die 
dort liegenden Probleme noch längſt nicht endgiltig 
geliit find, fo bat fih dodh die Kirche beider Kon. 
feffionen mit ihnen im allgemeinen abgefunden, 
und ein zur Virtuoſität durdpgebildetes Syſtem 
der „Apologetik“ forgt dafür, daß man auf di: 
meiften Zweifelsfragen diefer Art eine Antwort 
bereit hat. Anders liegt jedoh die Sache in Hin- 
fidt auf die Geſchichte. Die nüchtern fachliche 
Durdforfhung der geihichtlihen Quelen unferee 
relintöfen Lebens hat mit völlig unausweidlicher 
»Deutlichfeit ergeben, daß in ihnen Menſchliches⸗ 
Allzumenſchliches überall vorhanden ift. Wer das 
nicht hören und feben will, dem ift freilich nicht 
au belfen. Als Galilei die Jupitermonde entdedt 
hatte, erflärten ihm feine Gegner, die Dominikaner 
aud, die Fö nne es niht geben und daher braud- 
ten fie gar nicht erft ins Fernrohr zu fehen. Es 
gibt aub auf unferem Gebiete heute noh immer 
Nachfolger diefer Dominikaner genug. Wer jedod 
nicht zu ihnen gebören will, der tann mit einer 


1eden Zweifel ausfhließenden 
Sicherheit fih davon überzeugen, daß dir 
dachten Menfchlichkeiten überall anzutreffen 


Wom Relativen zum Abfoluten. 


find, in der Heiligen Schrift ebenfo gut wie in 
den „Bekenntniſſen“ oder Konfilbefchlüffen ufw. 


Wir haben im vorigen Auffag ein foldes Bei- 
fpiel, die Lehre des Apoftels Paulus über den Tod, 
ausführlicher erörtert; es gibt noch eine ganze Meibe 
folder. So ift es 3. B. außer jedem Zweifel, daf 
die erfte Chriftenheit das Weltende in febr naper 
Zufunft erwartet bat, und daß von diefer Auf- 
faffung zahlreiche einzelne Stellen des N. T. dharat- 
teriſtiſch beeinflußt find; fo ift, wie fchon im vorigen 
Auffag erwähnt, die Quelle der das fpätere 
Chriftentum ſtark beherrfhenden Teufelslehre in 
der perfifhen Religion nachweisbar, fo ift an vielen 
Stellen des Alten Teftaments die Gottesauffaf- 
fung durchaus unferem heutigen religiöfen Empfin- 
den widerftreitend ufw. Kurz: wer fih wirklich die 
Mühe gibt, einmal alle diefe Dinge mit aufric- 
tigem Streben nah Wahrheit und Klarheit nad- 
zubenfen, der muß, — er bat dabei ebenfowenig 


etwas zu wollen, wie beim Studium der Na- 


turwiffenfchaften oder der Profangeſchichte, — ein- 
feben, Dafi die äußeren Quellen aug 
unferer Religiondurh menfhlide 
Unvollfommenbeiten getrübt find. 
Die Frage ift für einen folhen dann niht mehr, 
ob fih durch irgend welde dialeftifhen Kunftftüce 
die Unfeblbarfeit derfelben doh nob in irgent 
einem Sinne retten läßt, fondern umgelehrt: wie 
trok diefer außer jedem Zweifet 
vorhandenen Fehlbarkeit doh in 
ibnendielebenbringendereligiöfe 
Heilswahrbeitfteden fann. Zur Be 
antwortung diefer Frage muß man fih nun ftete 
gegenwärtig halten, daß die feftgeftellte Relativität 
fih ja nur auf die Quellen der Religion, fo: 
fern fie äußerlich geſchichtliche Tatſachen find, be- 
zieht. Diefe gefhichtliben Quellen nennt der 
Glaube ‚„Dffenbarungen‘‘, er findet in ihnen bie 
Sprache Gottes. Die Frage ift alfo, ob fih der 
notwendige Abfolutbeitsharachter göttliher Offen- 
barung mit der Erkenntnis verträgt, daß die Mittel 
und Perſonen, deren fih diefe Offenbarung De- 
dient, menſchlicher Unvollkommenheit ausgefekt find. 
Wenn diefe Traae zu verneinen wäre, dann hätten 


wir in der Tat nur die Wahl zwifhen dem Un- 


glauben einerfeits (fofern wir ung von der nun 
einmal beitehenden Relativität jener Größen über- 
zeugt balten) oder dem blindeften Autoritätsglauben 
andererjeits. In Wirklichkeit liegt die Sade aber 
ganz anders. Der Abfolutheitsan- 
ſpruch der Religion fann fih der 
Natur der Sade nad etg nur auf 
Das bezieben, was wirklich un. 
mittelbar yon Gott fommte Wo Gott 








redet, da haben Menſchen zu fhweigen, das ift Far. 
Aber darauf bezieht fih ja aud die Kritif gar 
nicht, fondern darauf, daß von Menfchen behauptet 
wird, an diefer oder der Stelle habe Gott geredet 
und daß unbefehens die von Gott ale Mittel feiner 
Offenbarung gewählten geihichtlihen Größen mit 
ihm felber identifiziert werden. Diefe Kritik ift 
doch mindeftens ſachlicher Prüfung wert und fühig. 
Sie fließt ja auf der anderen Seite durdaus 
niht aus, daß Gott tatſächlich innerhalb diefer 
Mittel fi) geoffenbart habe. Abfolut ift dann 
eben dag daran, was wirflih gettlih ift, relativ 
das andere, dag rein Menfchlihe. Nun verlangt 
der modern fritifche Geit, daß man nicht obne 
Prüfung das Gefäß mit dem Inhalt verwecdhſle. 

Es it nun, wie fhon erwähnt, durchaus nicht 
meine Abſicht, foldbe Lefer, die fidh zu diefer Tren- 
nung nicht verftehen wollen und Fönnen, von ihrer 
Motmwendigkeit zu überzeugen. Diefe Zeilen find 
für ſolche beftimmt, die unmwiderruflid eingefeben 
haben, daß man unmöglidy den in Rede ftehenden 
aefhichtlihen Größen von vornherein und in Baufch 
und Bogen dag Prädikat „göttliche Offenbarung” 
obne jede Einfhränfung zuerfennen Fann, rnd zwar 
deshalb, weil ihre menſchliche Bedingtheit gefchicht- 
lih erwiefen it. Wer das einmal eingefehen bat, 
der fann zu jener alten Orthodorie keinenfalls zu- 
rüf. Sein Gewiffen verbietet ihm, weiterhin fehl: 
bare menfhlide Schriften, Einrichtimaen, Be- 
Eenntnifle und dergleihen an die Stelle der abfo- 
luten Autorität, die Gott allein zufommt, zu feßen. 
Aber wie entgeht dann ein folder dem reinen Sub- 
jeftiviemus und Melativismus? Bleibt eg dann 
nicht vollig dem einzelnen Geſchmack und Ermeflen 
überlaflen, was er nod alauben wil? Und Bar 
nicht in diefem Sinne die Orthodoxie der evangeli- 
fhen Kirche doch vielleicht gegenüber dem Liberalis— 
mus und die Fatkolifhe Kirche gegenüber der pro- 
teftantifhen „Freiheit Redt, wenn fie mit einem 
gewiſſen Hohnläheln auf die tatſächliche unglaub— 
liche Zerfplitterung der Meinungen innerhalb die: 
fes Liberalismus hinweiſt? DBeweift nicht diefe 
Erſcheinung, die doh eine offenbare Degeneration 
des religiöfen Lebens darftellt, daß die grofe Alter: 
native doch zu Redt befteht: entweder alles glauben 
oder nihts? Entweder blinde Unterwerfung oder 
völlige Loslöfung? Weir die Welt von folden 
Stimmen heute voll ift, weil infolge der Einſicht 
in diefe Sachlage Unzählige heute fib geraden nac 
diefem Autoritätsglauben zurücfehnen, zu dem fic 
deh aus Gewiſſensbedenken zumeift nicht zurück 
Fönnen, darum ift es unbedingt notwendig, reft- 
lofe Klarheit zu fchaffen. Und dazu fann nun 


meines Erachtens fehr wefentlih mithelfen der 


Vergleich unferer reliniöfen Lage mit der allge- 
meinen philofophifchen, den wir ſchon mehrfad an- 


= Bom Relativen zum Abfoluten. 


Bet 





gedeutet haben und nun etwas genauer ing Auge 
foffen wollen. 

Die Gefhichte der Philoſophie und insbefondere 
der Erfenntnistheorie zeigt, wie wir oben fon 
andeuteten, drei große Perioden, die in gewiſſem 
Umfange fih dem Hegelſchen Schema der Thefis, 
Antithefis und Syntheſis einordnen laffen. In 
der erften gilt der fogenannte naive Realismus, 
d. h. man nimmt obne nähere fritifhe Prüfuna 
die Dinge fo alg wirflih, wie fie ung erſcheinen. 
Das empfindende und erfennende Subjekt gilt in 
der Hauptfadhe nur als „Spiegel oder als Auf- 
nahmeapparat, der rein pafliv die von der Welt 
der Dinge ausgehenden Eindride regiftriert und 
ordnet. In der zweiten Periode, der Fritifch-fub- 
jeftiviftifchen, beginnt das Subjekt fih felber bei 
diefer feiner Tätigkeit genauer ins Auge zu faflen. 
Es findet, daß es felber an der Geftaltung diefer 
„Welt“ ſehr aktiv beteiligt it und kommt ſchließ— 
lich (bei Kant) zu dem Ergebnis, daß im Grunde 
genommen alles, was wirklich auf „Geltung“ An- 
ſpruch maden fann, aus eben dem Subjeft ftamme, 
das durch feine Anfchauungsformen und Kategorien 
„Erfahrung allererfi möglih made”. In der 
lebten Periode endlih, der gegenwärtigen, fieht 
man ein, daß man mit dieſem „erfenntnistheore- 
tiſchen Idealismus“ unweigerlih in die Sadgaffe 
des Illuſionismus und Solipſismus gerät, dafi 
demnad in dem ganıen Anfas ein urfprünglicher 
Sehler ftefen muß. Worin diefer befteht, das hat 
die neuere „kritiſch realiſtiſche“ Erkenntnistheorie 
mit aller wünſchenswerten Deutlichkeit klargelegt. 
Der Haupteinwand läft fih in die Form bringen, 
daß jene idealiſtiſche Erkenntnistheorie ſich minde— 
ſtens inſofern widerſpricht, als fie das fragliche 
Subjekt (einerlei, ob ſie das empiriſche Subjekt 
oder das allgemeine Subjekt Kants meint) zunächſt 
doch einmal als „eriſtierend“ im Sinne eines 
Realismus vorausſetzen muß. (Bei Kant ſetzt ſie 
dazu auch noch das „Ding an ſich“ als eriſtierend 
— aber unerkennbar — voraus). Für dieſen 
kritiſchen Realismus nun, der, mit Eduard von 
Hartmann, ſeinem Begründer, zu reden, „in die 
ganze Tiefe idealiſtiſcher Spekulation nur deshalb 
hinabgetaucht iſt, um keinen kritiſchen Angriff mehr 
fürchten zu müſſen“, bildet den Ausgangspunkt 
aller Erörterung die an fid beſtehende Doppel- 
feitigfeit des Verhältniſſes von Subjekt und Ob- 
jeft. Er verfucht von vornherein weder dag erfterc 
auf dag Tektere, nod umgefehrt zurüdzuführen, 
weil er einfiebt, daß dag nicht nur undurdführbar, 
fondern ein notwendiger Selbſtwiderſpruch ift, in- 
jofern jede derartige Erörterung felber obne diefe 
vorausgefeßte Doppelfeitigfeit gar feinen Sinn 
bat. Sein Beſtreben ift vielmehr nur darauf 
gerichtet, dies a priori alg gegeben hinzunehmende 


188 





Merhältnis in feiner näheren Befchaffenbeit richtig 
zu beſtimmen, d. h. alfo zu zeigen, inwiefern 
an der Erkenntnis dag Subjeft, inwiefern 
das Objekt beteiligt it. Die nähere Ausführung 
fünnen wir ung erfparen. 

Diefe Entwidlung bietet nun m. E. eine offen- 
fihtlihe Parallele zu der unferes religiöfen Lebens, 
wie unferes ganzen Fulturellen Lebens überhaupt, 
wie wir fchon oben mehrfach angedeutet haben. Aud 
im religiöfen Leben mußte die Menfchheit vom 
naiven (dogmatifhen) Realismus ausgeben, fo- 
dann den Weg des Fritifhen Subjektivismus bis 
ans bittere Ende verfolgen, um endlih zu der 
Syntheſe eines ‚‚Eritifh geläuterten Realismus” 
zurüczufehren. Die erfte Stufe wird innerhalb 
der Chriftenheit offenbar durd die mittelalterliche 
Kirche, die zweite durch den modernen Proteftan- 
tismus gebildet. Die dritte foll noh erft kommen. 
Die evangelifhe fogenannte „poſitive“ Nichtung 
nimmt eine eigenartige Zwifchenftelung ein. Sie 
ſchwankt zwifchen dem Nüdfall in den alten naiven 
Mealismus und dem Vorwärtsſtreben zu einem 
aeläuterten Realismus (und zwar fchon bei Luther). 
Das ift Fein Wunder, denn eg liegt im Wefen einer 
jeden ſolchen neuen Syntheſe, daß fie nur allzu 
leicht in eine der beiden Einfeitigfeiten, die fie aus- 
gleihen will, zurüdfällt, oder daß fie in einem un- 
verbundenen Nebeneinander, d. h. einem fhmwäd- 
lihen Kompromiß anftelle einer wirflichen inneren 
Einheit, ftefen bleibt. Und. dennoh führt nur 
diefer eine Weg aus umnferer gegenwärtigen rer- 
fahrenen Lage heraus. Wer das eingefehen hat, 
muß deshalb vor allem unfere heutige Theologie 
mahnen, endlich dag Bauen auf die Kantſche Philo- 
ſophie aufzugeben. Man bat Kant den Philo- 
fepben des Proteſtantismus genannt — zweifellos 
mit Redt. Aber man follte dann auch dabei fagen, 
dag es durchaus in der Konfequenz feines Syſtems 
lag, wenn bei ihm Gott, Ewigkeit und fittlihe Frei- 
heit zuleßt dob nur ale „Poſtulate der praftifchen 
Vernunft” erfheinen. Da Haben wir eben dic 
notwendige Folge der fubjeftiviftifhen Grundlage 
des Ganzen. Werauf das Subjeftfät, 
der wirdvom Subjektnichts anderes 
ale „Ideen“ ernten. Damit aber ift der 
Religion die objeftive Grundlage entzogen. Jeder 
wahrhaft religiöfe Menih (zweifellos aud Kant 
fefber) fühlt, daß eg eine contradictio in adjecto 
ift, wenn Gott ale bloße dee oder Poftulat des 
Subjekts erfheint. Umgekehrt: in dem Augen: 
biit, wo das Subjekt „Gott“ jagt, muß es, ftreng 
genommen, vor fidh felber völlig verſchwinden, muf 
es felber nidhts mehr und Gott alles fein, font 
ware diefer Gott nicht der Mühe wert, eine einzige 
Sekunde über ibn nadzudenfen. Der Grund- 
fehler des Murfubjektiviemus zeigt fid aber aud 


= one Reli an. UNO. 


ferner darin, daß auf diefem Boden tatlählih die 
Freiheit zur Willkür wird, fo daß jede Gemein- 
ſchaft des Glaubens ſchließlich zur Illuſion wird. 
Und das ift es, worauf die Orthodorie beider Kon- 
fellionen mit Redt hinmweift. 

Es bedeutet jedodh meines Erachtens nur eine 
völlige Verfennung der Entwidlung, die die Dinge 
einmal genommen haben, wenn man daraufhin 
nun einfach die „Rückkehr zur Autorität” predigt. 
Denn das heißt, den naiven Realismus er- 
neuern wollen, der bereits unwiderruflich erledigt 
ift und die Berechtigung der Kritif dodh nicht wieder 
aus der Welt fhafft. Der Weg fann vielmehr 
nur der fein, den ung die Analogie mit der philo- 
fophifhen Entwicklung deutlih genug vorzeichnet: 
Wir müffen zuerft ‚fo tief in die Kritif hinab- 
iauchen, daß wir feinen Angriff von daher mehr zu 
fürchten baben”, dann aber zu der Erkenntnis bin- 
durchdringen, daß beidem allen die Rolle 
des Objefts felbernob gar nicht be- 
rüdfidġdtigt it. Kant felber war ein viel an 
nüchterner Kopf, um die Unfinnigfeit eines „abſo 
luten Idealismus“ nicht einzufehen (er bat feiner 
Widerlegung befanntlih in der zweiten Auflage 
der Kritif eine befonderes neues Kapitel gewidmet, 
das aber eben deshalb fhon feine Zeitgenoffen ale 
nfonfequenz empfunden haben). Sein Spftem 
entbält ja tatſächlich aud die Anſatzpunkte für 
einen Realismus, wie oft genug bemerft worden 
ift. Er hätte feinem Sage „der empirifhe Inhalt 
der Anfhauung wird uns gegeben” nur ein 
Stück weiter nadzugeben oder fib die Frage 
vorzulegen brauden, ob er denn nicht felber den 
von ibm verpänten „transcendentalen Gebraud‘‘ 
der Kaufalitätsfategorie made, wenn er davon 
redet, daß das „Ding an fih” unfere Sinnlichkeit 
„affiziere”, um fo mit Motwendigfeit auf realifti- 
fher Babn weiter getrieben zu werden. Diefen 
Weg hat eben die moderne Erfenntnistheorie fort: 
gefent. (Mergleihe den Auffan von Wein- 
mann in Heft 4 diefes Jahrganges.) Kehren 
wir mit diefer Einſicht zu dem  religiöjen 
‘Problem zurüc, fo ift es Mar, wie wir aud bier 
dem Nichtsalsſubjektivismus entgehen können unt 
müſſen. Wir müffen ung aud bier auf den Boden 
des „kritiſchen Realismus’ ftellen, der lehrt, daR 
unfer Erfennen eben deshalb zu einem wirklichen 
pofitiven Ziele führt, weil unfere apriorifchen An. 
Ihauungsformen ufw. felber erft in der MWechfel- 
wirfung zwiſchen Dbjeft und Subjekt entftanden 
find. Sp wäre auh Religion nie entftanden, 
wenn nicht ihr Objekt, das Göttliche, die fubjektiven 
Fähigkeiten dafür felber bätte entfteben laffen. Die 
früber erörterten menſchlich gefchichtlichen Gebilde 
ind als folde menfchlich relativ, gewiß. Aber 
Die MenfhbeitwärenieaufdenGe- 





danken gefommen, in ihnen abfo- 
lIute Offenbarungzubefigen,wenn 
olhe nıht wenigftens in einem 
Zeile diefer Gebilde tatfählid 
enthalten wäre. Und unfere Aufgabe bleibt 
es, diefen Offenbarungsgehalt jelber erft näber zu 
beftimmen. Das gefchieht aber niemals durd eine 
außere Seftfesung über den Umfang deffen, was 
als Duelle folder Offenbarung zu gelten bat. 
Sagt jemand: das neue Teftament, fo fagt die 
Kritif: ja, aber da und dort fteben Widerſprüche 
und Menfchlichfeiten anderer Art darin. Sagt 
jemand Paulus, oder die Synoptiker oder wag es 
fonft fei, fo ift es immer dasfelbe. Ja felbft, wenn 
jemand, was febr oft der Fall ift, um nun doch nod 
eine folde gegebene” begrenzte Autorität zu haben, 
Dem entgegenbielte: Gut, aber Chriftus felber iſt 
doch Autorität ſchlechthin — fo wäre folder Wer- 
fuh abermals vergeblih. ‘Denn wir wiffen ja 
eben wieder Feineswegs fiher, was Chriftus denn 
nun wirklich gedacht, gefagt und getan hat. In 
fo und fo vielen Punften ſchwankt unfer gefhicht- 
liches Bild von ihm, es ift 3. B. febr {hwer zu 
fagen, wie er zu der das Urdhriftentum ftarf be- 
herrſchenden Enderwartung (Eschatologie) felber 
Seftanden hat, was er felber unter feiner Selbtt: 
bezeichnung „der Mienfchenfohn” verftanden wiffen 
wollte u. a. m. Kurz, wir mögen uns wenden 
wie wir wollen, der Rückweg zur äußerlich abgren:- 
baren Autorität bleibt ung verbaut, und das ift gun 
fo. Denn nun werden wir gezwungen, endlich 
wieber an die Aufgabe zu gehen, die die Chriften- 
beit feit ungefähr dreihundert Jahren faft ganz bat 
liegen laffen, nämlich das Syſtem unferes Glan- 
beng aus inneren Gründen fortzuentwideln, oder 
fagen wir lieber: ganz neu aufzubauen. Denn es 
i mittlerweile fo viel Neues in den Gefichtsfreis 
gerüdt, daß wirklih fat ganz von vorn ange- 
fangen werden muß. Diefe Aufgabe felbft bier in 
Angriff zu nehmen, ift natürlih nicht meine Ab- 
fiht. Mur über den Weg zu ihr wollte ich etwas 
fagen. Diefer gebt keinesfalls mehr von einer 
‚gegebenen‘ hiftorifhen Grundlage in dem Sinne 
aug, daß wir nur aus der Bibel oder fonftwoher 
dur „Auslegen“ fozufagen allerlei herauszudeftil: 
lieren hätten, was drin ſteht und was nidt drin 
fteht. Denn es ift ja nunmehr nicht ein einziger 
Sag nur deshalb gültig, weil er da oder dort fteht. 
Der Weg gebt aber auh niht aus dem rein fub- 
jektiven „Erlebnis“ heraus, wie man beute fo oft 
fordert. Denn damit fommen wir nie über uno 
felbft hinaus. Wir müflen vielmehr rein aus in 
der Sade felber liegenden Gründen jest 
an die Fragen berangeben. Wenn Paulus oder 
der vierte Evangelift etwas gejagt haben, was uns 
wertvollfte religiöfe Wahrheit zu fein dünft, fo 


WVonm Relativen zum Abfoluten. 


ne nn re a — — — 5 


muß fih das aud innerhalb eines Geſamtſyſtems 
hriftlihen Glaubens als notwendig und heilfam 
rechtfertigen laffen. Jene haben Redt, weil dag, 
was fie fagen, zutrifft, nicht umgefehrt. Kritifcher 
Realiſt fein, heißt, einen Sag nur aus in feiner 
eigenen Sphäre liegenden Gründen als gültig an- 
nehmen. Weder wir madhen die Wahrheit (mie 
der Apriorismus meint), noh wird fie uns fertig 
in einem wohlverpadten Paket überreicht, fondern 
wir müſſen fie fin den und wir werden fie finden, 
wenn wir fie „von ganzem Herzen ſuchen“. Wir 
erinnern noch einmal an das im vorigen Auffas 
berichtete Beiſpiel, die Lehren des Apoſtels 
Paulus und der chriftlihen Kirchen über den 
lod. An diefen Beifpiel ift es mit Händen zu 
greifen, daß uns die äußere Grundlage allein gar 
nichts nügt, daß eg aber auch mit der Einſicht in 
ihre menſchliche Melativität nicht getan ift. 
Denn dann fommt erft die große 
Srage, welden Sinn wir denn nun im Zu- 
ſammenhange unferes ganzen die Welt umipan- 
nenden religiöfen Fühlens und Glaubens dem 
Tode (wie dem Uebel überhaupt) beizulegen haben. 
Mur in diefem Zufammenbang des Ganzen bat 
dag Problem überhaupt einen Sinn. Das ver- 
fennt die alte Orthodoxie, wenn fie fi) damit be- 
gnügt, daß es ja da oder dort „ſo gefchrieben ſteht“, 
und der bloße NHiftorismus andererfeits ficht das 
Problem überhaupt nicht mehr, weil er nur 
immer die menfhliden Meinungen darüber als 
folde zum Gegenſtande feiner Forfhung madıt. 
Wer aber diefem Problem felber auf den Grund 
gebt, der findet dort auf dem Grunde das Abfolute, 
in das alles Relative diefer Zeit eingeordnet und 
von dem es im Grunde beftimmt ift. 

Man wird demgegenüber vielleiht das Bedenken 
erheben, daß ein folhes Verfahren den biftorifd) 
bedingten Charakter wenigftens unferer Religion 
verfenne und zu einem ziigellofen Draufloskonftru- 
ieren führen würde. Es ift zuzugeben, daß diefe 
Gefahr beftebt, aber ein möglicher Mißbrauch fann 
niemals den ridhtigen Gebrauh aufheben. Wer 
auf dem Boden des hier gemeinten Realismus” 
fteht, der ift ja gerade davon überzeugt, daß in der 
Geſchichte wirflih Gott fih geoffenbart bat, er 
wird alfo gar niht daran denken, fi über die 
„Klaſſiker“ der Religion, wenn diefer Ausdruck 
erlaubt ift, aus eigener Machtvollkommenheit vollia 
hinwegzuſetzen. Wo anders follte denn aud) ein 
Anhalt für dag, was wahre Religion ift, zu finden 
fein, wenn nicht bei denen, die notorifch die Führer 
der Menſchheit auf dieſem Gebiete gewefen find? 
Don einem fo unhiftorifhen Nationalismus, wir 
er zu Kants Zeiten Mode war, kann demnach gar 
eine Nede fein, wir werden im Gegenteil alle 
ins verfügbaren geſchichtlichen und eithnologiſchen 


Quellen fpringen laffen, um eine möglichft breite 
Grundlage zu baben und aud die Unterfuhungen 
der neueren Religionsſpychologie nicht beifeite ſchie— 
ben. Aber das alles bleiben doh immer nur Wor- 
arbeiten, und niemals fann aus einer gefchichtlichen, 
vergleihend - ethnologiſchen oder pſfypchologiſchen 
Unterfuhung dag Redt diejes oder jenes religiöfen 
Urteils zureichend begründet werden. Hierüber ent- 
jcheidet vielmehr allein ein innerer Wertmaßitab, 
den wir auh niht etwa fir und fertig bei une 
ragen, fondern den wir uns felber aus all dem 
vorliegenden religiöfen Leben erft herausarbeiten 
müflen. Wer fürdtet, daß das nicht genügen 
werde, dem ift niht zu helfen; er muß zu einer 
der überwundenen Autoritäten zurüdfehren, oder 
die Religion ganz an den Nagel hängen. Wer 
aber eingefehen bat, daß wir in der gleichen Lage 
überall find, den ſchreckt diefe Motwendigkeit durd)- 
aus niht, es gehört vielmehr für einen foldhen zur 
Religion felber dag Vertrauen darauf, daß Gott 
feine Sahe aud ohne die äußere Autorität durd- 
fegen wird. Man verftebt diefe an fid reichlidy 
abftraften Säge vielleiht beffer an einem be- 
ftimmten Beifpiel: Worauf beruhte eg, dag das 
Chriſtentum dag Judentum und den gleichzeitigen 
Hellenismus überwand? Auf der Autorität 
der neuen Apoftel und Propheten dod ganz gewiß 
nicht, denn diefe mußte fih dodh erft infolge des 
Sieges der neuen Religion bilden, fie war ja zu 
Anfang nod) gar niht da. Auf äußeren Verbält- 
niffen ganz gewiß auh nicht. Dieſe, insbefondere 
die ftarfe foziale Einftellung des Urdriftentums, 
mögen mitgewirkt haben zu feinem Siege, aber er- 
Flären, fo wie der Marrismus dag meint, Fünnen 
diefe fozialen Faftoren allein den Sieg des Chri- 
ftentums auh nicht. Die einzige zureichende Ant- 
wort, die man auf die geftellte Frage geben fann, 
ift vielmehr offenbar diefe: dag Ehriftentum ſiegte, 
weil eg eben tatfächlic eine neue, höhere, reinere, 
vollftändigere Religion war, alg diejenigen, die ee 
in der Welt bereits vorfand. Wir fühlen das alle 
angeſichts einzelner ganz beftimmter, für diefe neue 
Religion befonders charakteriſtiſcher Säge. Es 
bat 3. B. feine Religion vorber dag Wort zu 
prägen gewagt, daf Gott Licbe fei. Wer es aber 
einmal gebört bat, dem fagt eine innere Stimme: 
Ja, fo muß es fen und fo ft es. Dure 
feinen Öebaltanfoldben Wahrhei- 
ten allein bat das Chriftentum gee 
tegt und auf ibm beruht erft bie 
Autorität, die feine Propheten 
nadbbererlangtbaben. Wenn nun aber 
jene Zeiten ſchöpferiſch neue religiöfe Ideen unè 
Kräfte in die Welt bringen konnten, wenn in den 
erſten drei Jahrhunderten der Kirde das Chriften- 
tum keineswegs bloß immer die gleihe Tradition 


Wom Relativen zum Abfoluten. 


— — — — — — 





von einem Geſchlecht zum anderen vererbte, ſondern 
fortwährend neue Linien zog, neue Aufgaben ſich 
ſtellte und neue Formen bildete, wenn zur Refor- 
mationszeit abermals in zahlreichen neuen kirch— 
lichen Bildungen lebendiges religiöſes Leben neue 
Blüten hervortrieb, warum ſollten nicht auch wir 
nach einer neuen Zeitenwende imſtande ſein, über 
allen bloßen Hiſtorismus hinaus in der Sache 
der Religion ſelber einige neue Schritte zu tun? 
Freilich wird man ſagen: das läßt ſich nicht machen, 
ſondern das kann nur ein von Gott ſelbſt erweckter 
Prophet, ein neuer Heiliger bringen. Vielleicht 
iſt es ſo, vielleicht hat Gott es aber auch anders 
vor, er bindet ſich an kein geſchichtliches Schema. 
Wir haben jedenfalls nicht das Recht, bis dahin 
die Hände in den Schoß zu legen und zu warten, 
ſondern mindeſtens dem, was kommen ſoll und 
kommen muß, den Weg zu bereiten. Das tun wir 
aber nur dadurch, daß wir zuerſt einmal klarzu— 
ſtellen verſuchen, wo eigentlich unſere Not liegt, 
und das läßt ſich ganz klar und unmißverſtändlich 
jagen: wir brauchen eine neue Form 
Des Chriftentums, die die volle 
Breite moderner Welterfenntnis 
und moderner Weltbeberrfhung 
vereinigt mitder ganzen Tiefedes 
alten Ölaubens, Die erfte Forderung wird 
zum notwendigen Grab jeder äußerlihen Autorität, 
die zweite aber zeigt ung die ganze Leere und Kälte 
des Michtsalsliberalismus, der bisher niemals im- 
ftande war, eine wirkliche religiöfe Glut zu ent- 
iaden. Alle bloße „Aufklärung“ hat fih ale 
durchaus minderwertig gegenüber felbft den thev- 
retifh primitioften Formen echter Frömmigkeit er- 
wiefen; aud diefe gefhichtlihe Tatſache fteht feft 
und muß bei jedem DVerfud eines Meubaues be- 
rüdfihtigt werden. Was bleibt alfo anderes übrig 
als der Verſuch, den Bau der Religion ganz von 
vorn an nur aus in ihr felbft liegenden Gründen 
aufzurichten? Die Furdt, dabei werde etwas ande- 
res als echtes Ehriftentum herausfommen, ift grund- 
los für den, der als Chrift dodh davon überzeugt 
fein follte, daß fein Chriftentum die Wahrbeit ift. 
Wenn es das ift, fo wird auch bei dem Ber- 
fahren, dag wir einfhlagen wollen, fiherlih alles 
Wefentliche berausfommen.') Das ift ja das Be- 
rubigende an dem Standpunkte des kritiſchen 
Realismus, da er im Vertrauen auf die maf- 
gebende Rolle des Objekts felber es gar nit 
nötig bat, ängſtlich danach zu fragen, ob dag er- 
Fennende (bier: das religiös empfindende) Subjekt 
auch die richtigen Vorbedingungen erfüllt. Es 
it weiter feine VDorbedingung nö- 


) Es ift für den realiftiihen Charakter des Katbolizie- 
mus überaus bezeihnend, daß diefer Satz von ibm freis 
teftgebalten if. 


ne nn —— 








tig als die, daß das Subjeft fid 
nıdhts anderes vornimmt, als dem 
Dbjefte zu feinem Rehte zu ver» 
belfen. 

Unfere Frage, wie bei der nun einmal nicht 
mehr zu ändernden Einfiht in die Melativität 
unferer Religionsquellen dodh der der Religion 
eigentümliche Abfolutheitsaniprud) gewahrt wer- 
den könne, beantwortet fih fomit dahin: die ſer 
Anfpruh ruht auf feinen Fall in 
formalen Bedingungen über die 
Quellen, fondern lediglid in dem 
materialen Gehalt der Religion 
felber.. Der Unterfhied der Religion von der 
MWiflenihaft, der Kunft, der natürliden Moral 
befteht nit darin, daß diefe legteren nur auf rela» 
tive Gewißheit, jene aber auf abfolute Gewißheit 
von vornherein durd; die betreffenden Quellen an» 
gewiefen wären, es alfo für jene nur relative, für 
diefe aber ein abfolutes Sormalfriterium 
der Gültigkeit gäbe. Es ift vielmehr allen dieſen 
Gebieten gemeinfam, daß fie das Abfolute 
im Relstiven haben. Kunft, Wiſſenſchaft 
und Moral find keineswegs ‚nur relativ”, wie 
‚wir fahen, und umgefehrt ift in der Religion als 
geihichtlih ⸗pſychologiſcher Tatſache keineswegs 
alles abſolut. Der Unterſchied liegt vielmehr in 
der Art des Objekts ſelber, und in der Art, wie 
dieſes vom Subjekt ergriffen wird. Jn der Re- 
ligion -zielt alles von vornherein unmittelbar 
auf das Abfolute ab, für fie ift notwendig und 
ſelbſtverſtändlich ales Wergänglide nur ein 
Gleichnis“, fie telt den Menſchen dirett vor 
das Abfolute und zwar den ganzen Menfchen, fo- 
wohl den benfenden wie den fühlenden wie den 
wollenden. Sie Frönt fozufagen jene drei natür- 
lihen Arten des Werteftrebens erft, indem fie den 
Zielpunkt alles folhen Strebens aufzeigt, aber fie 
þat zu diefem Ziel — Gott — dabei dodh ein eigen» 
artiges Verhältnis, das nicht etwa eine bloße Ab- 
firaftion aus jenen drei anderen ift, fondern eine 
neue Art geiftiger Einftellung, wie fie in fo un- 
übertrefflih Farer Weife Otto in feinem Flaf- 
ſiſchen Buche über das ‚Heilige‘ aufgezeigt hat. 
Diefe unmittelbare Einftelung auf das Abfolute, 
die fih in intelleftueller Hinfiht als metaphnfifcher 
Abſchluß, in äſthetiſcher als Myſtik und Kultus, 
in moralifdher als Gefühl der unbedingten Wer- 
antwortung vor Gott uff. äußert, macht das eigen- 
artige Wefen der Religion aus. Daraus läßt fih 
aber offenbar nicht die Solgerung ableiten, daf 
man zu ihr auh in formaler Hinfiht nur auf eine 
ganz andere Weile gelangen Fünne als zu ben 
natürlihen Werten, anders gefagt, daß ber Ab- 
folutheitsanfprudh von Gott ohne weiteres auf die 
Mittel zu übertragen wäre, deren er fih bedient in 





Wom Relativen zum Abfoluten. _ 








EA i: 


der Geſchichte des Einzelnen und der Menfchheit. 
Dies wäre nur dann richtig, wenn es feftftände, 
daß in den normalen gefhichtlihen Erfcheinungen 
Feinerlet Abfolutes fih offenbaren Fünne. Dann 
freilich bedürfte es, um das Abfolute in diefe Se- 
Ihichte hineinzubringen, einer neuen befonderen 
Kategorie auh von Mitteln der Offenbarung. 
Aber davon fann Feine Rede fein. Denn weder 
fteht es a priori feft, daß mit den gewöhnlichen 
geihichtlihen Mitteln Gott fih nicht offenbaren 
könne, noh hat fih ein einziges derartiges Mittel, 
von dem behauptet worden ift, dap es aus dem Ge- 
Ihichtsverlauf herausgenommen werden müffe, als 
frei von gefchichtlicher Bedingtheit erwiefen. Wir 
femmen alfo zu dem Ergebnis, dap es Gott einmal 
gefallen bat, es den Menfchen nicht fo bequem zu 
machen, wie fie fih wohl mandmal gewünſcht 
haben. Kurz und mit einem einzigen Wort ge- 
fagt: Abſolut it niht der Vorgang 
der Offenbarung, fondern nur ein 
Inhalt, ein Dffenbartes Für die 
Grage aber, welches denn nun folde Inhalte find, 
gibt es Fein anderes Kriterium als dies: diejenigen, 
die durch ihre eigene innere Wucht überzeugen. Es 
gibt wohl eine indirekte nachherige Beſtätigung, die 
greifbarer Natur ift, das find die praftifchen Kräfte, 
die davon ausgehen und auf die Jefus in den all. 
befannten Worten verweift (Matth. 7, 16 ff.: 
Joh. 7, 17). Aber diefe verhalten fih zur Re- 
ligion felber wie etwa die indireften Beſtätigungen 
einer naturwiflenfchaftlihen Hypotheſe, 3. B. der 
Atomtheorie, zu diefer Hypotheſe ſelbſt. Sie fön- 
nen fo ftarf fein, daß fie jeden Menfchen über- 
zeugen, troßdem erfeßen fie nicht die direkte Be- 
gründung. Diefe liegt bei der Hypotheſe nur 
dann vor, wenn fie ihrem eigentlichften Inhalte 
jelber nad fih als zutreffend erweift, wenn man 
alfo direkt einfehen fann, daB es Atome gibt ufw. 
Daß folhe Hypotheſe dann auch außerordentlich 
„fruchtbar“ ift, verſteht fih von ſelbſt. So aub 
in der Religion. ‘Der rechte Glaube” (id meine 
dies nicht im Sinne intelleftueller Nedtgläubig- 
feit) ift „der Sieg, der die Welt überwindet”, 
aber das ift nicht etwa der Beweisgrund, 
auf den er fih erft zu flügen hätte. Das Chriften- 
tum ift nad einem befannten Worte von S o h m 
fehr vielfah auh nicht durch die Chriften, fon- 
dern trog der Chriften vorgedrungen. Denn das 
ift das Große, Erhabene an aller Wahrheit, daf 
fie unvertilgbar ift, daß fie, auch wo fie um dreißig 
Silberlinge verſchachtert wird an „praftifche Jne. 
tereffen‘‘, doh auch in der ärgſten Erniedrigung 
noh ftärfer ift als die fcheinbar triumphierende 
Lüge. (Darauf dürfen auh wir Deutſche in dem 
Wuſt von Lügen, den man in ber Welt über uns 
verbreitet bat, hoffen.) - 


192 








Sch Fönnte bier fließen, wenn nicht ein Ein- 


wand vielen aufrihtig fromm gefinnten Leſern 
längft auf der Seele brennte. Site werden fagen: 
dag, wovon du geredet haft, mag zum großen Teil 
wahr fein, das betrifft aber gar nicht die Religion, 
fondern nur die Dogmatik oder die Theologie. Diele 
mag immerhin in der Weife, wie es entwidelt 
wurde und ähnlich wie die übrigen Kulturwerte 
an die menfchliche Melativität gebunden fein. Aber 
Religion ift mehr als Dogmatik, fie ift innerfte 


Herzensfahe und als foldhe fann fie nur entweder 


auf einem felfenfeften Bewußtſein des Abfoluten 
ruben, oder fie ift überhaupt nidhts wert. 
diefem Einwande ift richtig erftens, dag Dogmatik 
nod lange Feine Religion ift, und zweitens, daß 
in der Zat eine Religion, die nicht von der Ab- 
folutheit ihres Gegenftandes völlig überzeugt ift, 
feinen Wert bat. Aber erftens ift der erfte Sag 
nit umfehrbar, im Gegenteil: eg gibt gar Feine 
Religion ohne Dogmatif und zweitens bedarf es 
nun doh febr entfchieden einer näheren Beftim- 
mung deffen, was denn nun an der Religion in 
diefem Sinne abfolut fein muß. Hierauf Eann 
ein wahrhaft fromm empfindender Menſch nur die 
Antwort geben: Abfolut ift für mid die Gewiß- 
beit der wirklichen religiöfen „Heilsgüter”, 
wie 3. DB. das Bewußtſein des Geborgenfeing in 
Gottes Liebe trog aller Uebel der Welt oder feiner 
Sünde vergebenden Gnade und dergleihen. Wenn 
man von dem Sage ausgehen will, daß edhte Re- 
ligion (die mehr ift als Dogmatik) feinen Relati- 
vismus vertrage, fo Fann ſich diefer Sag 
der Natur der Sahe nah zunädhft 
nur auf diefen innerften Kern der 
Religion bezieben. Wenn dann weiter 
das religiöfe Bewußtſein die Garantie eines diefer 
Heilsgüter in befonderer Weife in irgend einer 
gefhichtlihen Größe findet, fo fann es daraufhin 
natürlich für fidh felber auh weiter fchließen, daß 
in diefer Erfcheinung Gott fih zu dem betreffenden 
Heilszwede geoffenbart habe und für dieſes reli- 
giöfe Bewußtſein fann dann geradezu diefe ge- 
fhichtlihe Größe zum tragenden Edpfeiler der 
religiöfen Gewißheit werden, aber das hebt nicht 
auf, daß, logiſch und dogmatifh angefehen, dod 
diefe Gewißheit immer erft eine Gewißheit aus 
zweiter Hand ift, für die die Forderung der not- 
wendigen Abfolutheit niht in demfelben Sinne 
mehr gilt, wie für die „Heilsgewißheit“ im erften 
Sinne. Um bei dem angeführten wichtigften Bei- 
fpiel zu bleiben: man tann der Weberzeugung fein, 
daß Gottes fündenvergebende Gnade auf feinem 
anderen Wege als durd Chriftus tatſächlich zu fin- 
den fei und deshalb dem Sake: „es ift in feinem 
anderen Heil uſw.“ ebenfalls abfolute Geltung zu- 
zuſchreiben geneigt fein. . Aber man muß fih durd- 


Dom Relativen zum Abfoluten. _ 


An 





aus flar madhen, daf mit einem Auf- 
geben diefes Sages noh nidht der 
abfolute Charakter deg unbedingt 
Notwendigen alg foldhen hinfiele. 
Denn auh wenn man, wie z. B. fromme Juden, 
überzeugt ift, daß jener Sag nicht gelte, fo bleibt 
doh auch für folde immer noch die Forderung zu 
Redt beftehen, daß man ber Sünbenvergebung - 
als foldher nur entweder abfolut oder gar nicht ge- 
wif fein fann. Weil an diefer Stelle fo unge- 
heuer viel mit vorfchnellen Schlüffen gearbeitet 
wird, ift es unbedingt erforderlich, fih diefe Ber- 
bältniffe klarzumachen. Denn hieraus folgt, dag 
man aus jener als richtig anerfannten Forderung 
der Abfolutheit an fih niemals etwas anderes 
folgern fann, als daß die „Heilsgüter“ als foldye 
abfolut gewiß fein müffen. Jeder Schluß auf die 
Mittel, die zu diefen Heilsgütern führen, ift dem- 
gegenüber fchon ein indirefter, und man darf nicht 
mehr behaupten, daß der Charakter der Religion 
verloren ginge, wenn man diefe Mittel in irgend 
einem Sinne relativiert. Praktiſch fällt das in 
der Tat auch feinem Orthodoreften ein, denn er 
wird, mag er für feine Perſon aud nod fo felfen- 
feft von dem Sag: Extra ecclesiam nulla salus, 
überzeugt fein, doh niemals wagen, den anderen, 
die anders darüber denfen, die Religion als folde 
überhaupt abzufpredhen; aud bemweift ja die ganze 
Gefhichte, dag es Religion mit ganz verfchiedenen 
dogmatifhen Inhalten gibt. Ich denfe, mwohlge- 
merft, nicht daran, daraus in der Art des Vulgär⸗ 
liberalismus zu folgern, daß es demnad überhaupt 
feinen Sinn habe, nadh einer allgemein gültigen 
Wahrheit in der Dogmatik zu fuhen; ich behaupte 
uur, daß man aus dem Abfolutheitscharafter der 
Religion felber (d. i. der Motwendigfeit, des Heils 
abfolut gewiß zu fein) niemals die Abfolutheit für 
eine beftimmte Dogmatif ohne weiteres mitfolgern 
fann, daß hier vielmehr jener andere Weg „Dom 
Melativen zum Abfoluten‘ der einzig mögliche ift. 
Und darum muß entfchieden immer wieder dagegen 
Proteft erhoben werden, wenn man im Namen 
der „abſoluten Heilsgewißheit“ fordert, dap audy 
die Anerkennung gewiffer Säge über die Kirche 
oder die Perſon Chrifti oder die ‘Bibel ufw. an 
diefer Abfolutheit teilhaben müßte, wenn über- 
haupt wahre Religion zuftande kommen fole. Man 
fann fih febr ernftlid darüber unterhalten, wie 
viel aus diefen Süßen tatſächlich gefolgert werden 
fann und muß, aber eine unmittelbare 
Heilsgewißheit von ihnen gibt eg niemals, die gibt 
ce nur von dem erlebten Heil felber. Ganz zu 
ſchweigen von den nicht feltenen Verſuchen, auch 
beute noh eine unmittelbare Heilsgewißheit für 
Lehren wie die von der Berbalinfpiration oder der- 


- Dom Relativen zum Abfoluten. 


Pre ep ee me ur res RE Een E nern Zar ES Taten Summe esse seen Teer au TEE AEAN Ba mer Sen Zar ae EDER a nr armen Staat mus DOSE Be LESS ESSERES — 


gleihen zu behaupten (mir find tatfählih auch 
folge Fälle ſchon vorgefommen). 

Es ift alfo fhon richtig, daß echte Religion, die 
mehr ift als bloße Dogmatik, fiherlid nur auf dem 
feen Untergrunde eines Abfolutheitsbewußtfeins 
ruhen fann, aber gerade daraus folgt, wie vor- 
fihtig man fein muß, um niht unverfeheng diefen 
Anſpruch nun doch von diefem innerften Kernftüd 
der Religion auf die Schale, d. i. die Dogmatik, 
zu übertragen. Das mag vielen heute noh un- 
erträglich fcheinen, man muß aber dabei bedenfen, 
daß die Dinge jest auf dem Boden unferes friti- 
fhen Realismus ja nıht mehr fo ſtehen, 
taf Aufgeben des direften An. 
ſpruchs auf Abſolutheit fhon 
gleihbedeutend mit Aufgeben der 
betreffenden dogmatifhen Lehren 
überbauptmwäre Wir wiffen ja nun, daß 
wir das Abfolute auh im Melativen haben können, 
und daf die naive Alternative des alten Realismus 
und des fubjeltiviftifhen Idealismus falſch ift, 
man habe entweder abfolute Gewißheit oder gar 
feine. Wer alfo 3. B. der Meberzeugung lebt, 
dag nur innerhalb feiner Kirche das Heil wirklich 
zu finden fei, dem bleibt es auf unferem Stand- 


punfte unverwehrt, diefe Behauptung aus dem 


ganzen Syſtem der Religion als abfolute Wahr- 
heit zu begründen, und er fann und darf hoffen, 
daß fidh diefe dann ale Wahrheit mit innerer Not- 
wendigfeit durdfeßen werde. Aber er muß aler- 
dings davon abfehen, für die Anerfennung diefes 
Sages die gleiche unmittelbare Abfolutheit in An- 
ſpruch zu nehmen, wie für das von ihm in diefer 
Kirche erlebte Heil ſelbſt. Denn nur dies" Heil 
ſelbſt iſt die wirkliche unmittelbare Verbindung 
mit Gott; die Kirche ift und bleibt das Mittel, 
nicht die Sahe felber und dasſelbe gilt mutatis 
mutandis von anderen entfprechenden Sägen. 
Won bier aus ergibt fih nod ein bemerfens- 
werter Ausblid. Man fann in Debatten über 
religiöfe Dinge ebenfo oft auf der einen Seite 
hören, die Kirche fei Fein ‘Debattierflub, wie man 
auf der anderen die Forderung nad) vollftändiger 
fubjeftiver Freiheit erhebt, zu glauben, was man 
wil. Don unferem Standpunfte aus müflen wir 
ben erſteren Stimmen rebt geben. In der Tat 
wäre eine religiöfe Gemeinſchaft, die Feine Bin- 
dung an objektiv Gegebenes mehr anerfennte, fon- 
dern nur „jeden nad feiner Saflon felig werden” 
Infien wollte, eine innere Unmöglichkeit. Und es 
ift deshalb ganz verfehlt, wenn diejenigen, die auf 
Grund der Einfiht in die oben erörterten Relativi- 
täten der früher geltenden Autoritäten Reformen 
fordern, dies immer nur im Namen der „Ge 
wiffensfreiheit” oder dergleihen tun. Die Ge- 
wiflfensfreiheit befteht als Forderung der Religion 


— —ñ ⸗ 


an die äußere ſtaatliche und bürgerliche Ordnung. 


Eine religiöſe Gemeinſchaft aber muß der Natur 


der Sache nad eine Glaubensgemeinfhaft fein, fie 
fann ein gewifles Map von Subjeftivität ertragen 
und muß es auh, um nicht zu einfeitig zu werden, 
aber es muß im ganzen in ihr doh gelten: in 
neccessariis unitas und nur in dubiis libertas, 
Dagegen ift gar nichts einzuwenden, folange nur 
aus diefer Forderung Feine bürgerliche Intoleranz 
irgend welcher Art gefolgert wird. Dap die freier” 
Gerichteten dies nicht einfehen wollen, ift ein großer 
Sehler und bringt die von ihnen vertretene Sade 
immer wieder in Mißkredit. Dabei können fie 
nämlich febr wohl in diefer Sache felber Redt 
haben und haben es tarfächlich, fofern fie "jenen 
älteren Autoritäten die abfolute Geltung abftreiten. 
Denn damit vertreten fie in Wirklichkeit die ob- 
jektive Wahrheit und darauf, nicht aber auf bie 
fubjeftive Meinungsfreiheit follten und Fünnten fie 
fih berufen. Die Wahrheit hat es nicht nötig, um 
Duldung zu bitten, fie fann und muß Anerfennung 
fordern. Dafür wird gerade die fogenannte Ortho- 
doxie am eheften Verftändnis haben, denn fie ift es 
ja, die entgegen uferlofem Subjeftivismus an ber 
objektiven Grundlage fefthalten will. Wenn ich die 
flaren Gründe dafür eingefehen habe, wie eg, um 
bei diefem Beifpiel zu bleiben, mit der kirchlichen 
Lehre vom Tode fteht, fo fann ich für diefe Einficht, 
die jedem ebenfo wie die wiflenfchaftliche Wahrheit 
auf anderen Gebieten zugänglich ift, nicht nur Dul- 
dung, als einer möglichen „Anſicht“, fondern An- 
erfennung im Namen einer Religion felber ver- 
langen, deren Gott ein Gott der Wahrheit ift, und 
eg ift ganz verfehlt, ja es muß die Sachlage von 
Grund auf verderben, wenn man aud folde Fra- 
gen wie diefe nur auf dag Geleife der ‚‚Gewiflens- 
freiheit” fchieben will. Das wäre eine ſchöne Ge- 
wiflensfreiheit, die mir erlaubte, dies oder dag 
beffer willen zu wollen als Gott felber, in feinen 
Schöpfungsplan fozufagen hinterher hereinzuforri- 
gieren, nur weil mir die Sade fo, wie er fie ein 
mal eingerichtet hat, in meine Dogmatik nicht paßt! 
Die Gewiſſensfreiheit Eann fih nadh Tage der Dinge 
innerhalb einer religiöfen Gemeinfhaft nur auf 
diejenigen Tragen beziehen, welche fidh weder durch 
eine auf wiflenfhaftlihe Tatſachenerkenntnis ger 
ftügte Einfiht mit einiger Wahrfcheinlichfeit ent- 
fheiden laffen, noh in unmittelbarem Zufammen- 
bange mit der religiöfen „Heilsgewißheit“ ftehen 
und aus diefem Grunde, obwohl wiſſenſchaftlich 
unentfcheidbar, doh im Intereſſe der Glaubens- 
gemeinfhaft feftgehalten werden müffen. Die 
Grenze zwiſchen diefen letzteren und den freizu- 
gebenden ift natürlih ſchwer zu beftimmen, aber 
das darf nicht hindern, das Prinzip ale richtig an- 
zwuerfennen. Man fann, um ein Beifpiel zu nennen, 


194___ 


nicht gut verlangen, dag Chriften und Mohamme- 
daner oder Juden zufammen in einer religiöfen 
Gemeinſchaft fih vertragen follten, denn hier liegen 
allzu tiefgreifende Unterfchiede vor niht nur in 
der Bewertung der einzelnen „Heilsgüter“ felber, 
fondern auh in der der von Gott dazu gefeuten 
Mittel, 3. B. der Perfon Chrifti. Man fann aber 
febr wohl innerhalb etwa der dhriftlihen Gemein- 
fhaft Freiheit laffen über ſolche Fragen, wie z. B. 
die Wunderfrage, die auf alle Fälle, man mag fie 
entfcheiden wie man wolle, weder auf rein wiflen- 
Ihaftlihem Wege eindeutig zu löfen, noh aus dem 
Geſamtſyſtem der- hriftlihen rlöfungsreligion 
heraus unbedingt fo oder fo zu entfcheiden it. Ich 
leugne alfo niht etwa, daß eg überhaupt folde 
„dubia“ gibt, hinfichtlich deren die Forderung der 
libertas gilt. Ich wollte nur darauf hinmeifen, 
dag der Kampf um die Geftaltung unferes reli- 
giöfen Lebens von vornherein ganz verfehlte Bah- 
nen einſchlägt, wenn man fo tut, als ob es fih nur 
um ben Gegenfas zwifchen fubjektiviftiiher Freiheit 
und ftarrer objeftiver Bindung an äußerlich ge- 
gebene Autoritäten handelte. Jn Wirklichkeit hat 
die fogenannte freiere Nichtung viel mehr objef- 


Der Himmel auf Erden. Son Kurd Kißhauer. 


Gebraucht das groß” und Feine Himmelslicht, 

Die Sterne dürfet ibr verfhwenden, . . . 

So fhreitet in dem engen Haus 

Den ganzen Kreis der Schöpfung aus! 

Anfang Mai diefes Jahres wurde in Münden 
das Deutfhe Mufeum feierlich eingeweiht, jener 
Prachtbau, der die Meifterwerfe deutiher Wiſſen⸗ 
fhaft und Technik in feinen Mauern birgt. Seine 
drei Kuppeln find der Aftronomie gewidmet, und 
mit ihren Miefenfernrohren fann der Beſucher die 
Wunder des geftirnten Himmels direft auf fih 
wirken laffen. Wiele aber, die fih in die eigent- 
lihen Geheimniffe der Weltenförper vertiefen 
wollen, hatten bisher doh faum die Möglichkeit, 
tiefer einzubringen, wenn fie nicht die Zeit auf- 
bringen fonnten, eines der vielen ſchönen Werke, 
die eg darüber gibt, eingehend zu fludieren. Was 
den Laien dabei am meiften abichredt, ift die fo 
genannte mathematifche Geographie, die ung bie 
Bewegungen der Geftirne, vor allem der Planeten, 
lehrt. Um dem abzubelfen und aud weiteren 
Kreifen auf Teihte Weife eine Einführung in die 
fhönfte aller Wiſſenſchaften angedeihen zu laffen, 
hatte der Erbauer des Deutfhen Mufeums, Reihs- 
rat Dr. Oskar v. Miller, ein Planetarium 
geplant. 
Es bat aud früher fhon Verſuche gegeben, den 

geitirnten Himmel anſchaulich darzuftellen. Das be- 


Der Himmel auf Erden. 





—_ 





tive als fubjeftive Intereſſen und ihre Durd- 
ſchlagskraft beruht fogar ganz auf diefen. Mur ber 
allgemeinen relativiftifhen und fubjektiviftifchen 
Zeitftrömung ift es zuzuſchreiben, dab man das 
auf beiden Seiten faft ganz vergeflen fonnte. Jetzt 
ift es aber an der Zeit, endlich einzufehen, daß es 
fi gar niht um die Emanzipation des Subjekts 
von unerträglihen Bindungen in erfter Linie, fon- 
dern um die Befreiung der objektiven Wahrheit 
aus niht länger tragbaren Feffeln früherer Sub- 
jeftivitäten handelt. 

Wir find am Schluffe unferer Ausführungen. 
Es ift nur ein winzig Heiner Bruchteil deffen, was 
eigentlih alles gejagt werden müßte, den wir bier 
geben Fonnten. Ich bin zufrieden, wenn meine 
Lefer diefen Aufſatz mit dem Cindrud aus der 
Hand legen, dag wir tatfählih am Anfange einer 
neuen objektiven Einftellung zu allen hier ange 
deuten Fragen ftehen, daß es fih lohnt, darüber 
nachzudenken, wie auf allen verſchiedenen Gebieten 
unferes geiftigen Lebens fi der Umſchwung vom 
Nichtsalsrelativismug zu einem Eritifh nicht mehr 
anfehtbaren Realismus vollziehen wird und muß. 


— — — — — — — FREE — 


C 


Fanntefte diefer Kunſtwerke ift wohl der Gottorp- 
ſche Globus, in defen Innerem man den Anblid 
des geſamten Firfternhimmels genießen fonnte. Es 
war nämlih die Kupferhaut des Globus in ge- 
nauer Nachbildung der Sternbilder mit entfpre- 
hend großen Löchern verfehen, durd die das Tages- 
liht fiel. Ganz ähnlich angelegt, jedoch bedeutend 
größer als der nur 3,50 Meter im Durchmeſſer 
haltende Gottorpfhe Globus, war das Georama 
von Wyld, das im Jahre 1851 in London der 
Deffentlichfeit vorgeführt wurde. 

Keiner von diefen Fünftlihen Sternhimmeln be- 
rüdfichtigte jedoch die Planeten, da deren Anbrin 
gung und Weiterbewegung unter den Firfternen 
die ganze Anlage zu fehr kompliziert hätte. Mur 
ein einziges Modell ift befannt geworden, das ben 
vollftändigen Anbli des geftirnten Himmels ein- 
fhlieglih der Planeten zur Darftellung bragte. 
Es ftammt von einem Mann, der auh fonft er- 
findunggreih war, und deffen Haus als eines der 
fieben Wunder Jenas galt: Ehrbars Weigel. 
Diefes Planetarium war auf dem Dade des alten 
Schloſſes, an deffen Stelle heute der Univerfitäts- 
neubau fi erhebt, aufgeftellt und wird bei dem 
Fürſten und feinen Beſuchern genügend Bewunde- 
rung erregt haben. [Leider ift diefes intereflante 
Stüd nit erhalten geblieben, und wir wiſſen heute 





nur noh, dag Weigel die Planeten auf dem Tier- 
freisftreifen verſchiebbar angeordnet hatte. 

Ohne dag Herrn Dr. v. Miller diefe Einzel. 
beiten befannt waren, dachte er fi fein Plane- 
tarium in Form einer drehbaren Kuppel, die dem 
innenftebenden Beſchauer die Bewegung der Ge- 
tirne durh ihren Umſchwung verfinnbildlichte. 
Wegen der äußeren Aehnlichfeit mit einer Stern- 
wartefuppel wandte fih von Miller an die Firma 
Zeiß in Jena mit der Bitte, einmal ein vollftän- 
diges Planetarium durchzufonftruieren. Der Tange 
vor dem Krieg begonnene Entwurf blieb immer 
wieder bei der Darftellungsmöglichfeit der Pla- 
neten ftehen. Wenn man die Wandelfterne ent- 
iprehend der Anordnung der Modelle, wie wir fie 
in unferen Schulen benugen, an langen Stangen 
um den Mittelpunft herumführen wollte, fo hätten 
die dazu nötigen fünf bis adt oder noh mehr Meter 
langen Hebel doh nicht die gewünfchte Genauigkeit 
erreihen laffen. Außerdem mußten fih diefe 
fieben langen Arme reibungslos über- und unter- 
einander fortbewegen können. 

Da machte in einer der erften Beſprechungen 
Ende des jahres 1918 Dr. Walther Bauersfeld 
von der Gefhäftsleitung der Zeiß-Werkſtätten den 
Vorſchlag, die Planeten mittels Lichrbildapparaten 
von der Kuppelmitte her wiederzugeben. Einmal 
auf diefem neuen Wege, machte man ganze Arbeit 
und befchloß, die Firfterne auf die gleihe Art dar» 
zuftellen, alfo ebenfalls anzuprojizieren. — Sidt- 
bildapparate gibt es feit einigen Jahrhunderten, 
bier aber fam es darauf an, eine ganze Gruppe da- 
von mittels Präzifionsmehanif fo zu führen, daß 
eine möglihft getreue Nachbildung des geftirnten 
Himmels zuftande fam. — Don der erften bee 
bis zur endgültigen Löfung diefer ganz neuartigen 
Aufgabe war ein langer und befchwerliher Weg. 
Mur der unermüdlihen und tatfräftigen Förderung 
Dr. DBauersfelds, der die Leitung des Projektes 
dauernd in Händen behielt, ift es zuzu- 
fchreiben, daß ſchließlich alle die großen und 
Fleinen Schwierigkeiten reftlos überwunden 
wurden und das Planetarium das „achte 
Wunder Jenas“ und den Hauptanziehungs- 
punft im Münchener Deutfhen Mufeum 
bildet. 

Mit dem Uebergange zur Projektion 
fonnten einmal die langarmigen Geftänge 
fortfallen und wurde andererfeits die Be- 
wegung der Kuppel unnötig. Auch bier 
ſchuf Dr. Bauersfeld etwas Neues und 
erfann eine eigene Stabfonftruftion für 
die Kuppel. Der Aufbau ift dadurch 
außerordentliht vereinfacht; das Kuppel- 
gerippe wird, wie unfer Bild zeigt, 





Der Himmel auf Erden. 





außen und innen mit Sprißbeton überzogen. In 
diefer Art wurde die Verfuhsanlage auf dem Dad 
der Zeißwerfe errichtet und wird auh das neue, 
noh im Bau ftehbende Planetarium im Prinzeflin- 
nengarten hergeſtellt. Wenn die Innenſeite ber 
Kuppel den örtlihen Himmel über dem vertrauten 
Horizont zeigen follte, durfte der Gefichtsfreis des 
Stadtbildes nicht fehlen, und fo läuft die Silhouette 
der Stadt rund um die untere Kuppelwand. Auf 
dem Innenbild der Kuppel erfennen wir die Um- 
riffe der Türme und Kuppeln Münchens, für das 
das erfte Planetarium beftimmt war. Die dahinter 
auffteigende Kuppelwölbung ift weiß gehalten, um 
das Abbild des Sternendomes aufzunehmen. Merf- 
würdig ift es, dag man ſchon bei einfadher Be- 
leudhtung den Eindrud hat, unter einer im Scheitel- 
punft etwas abgeflahten Halbfugel zu ftellen, alfo 
genau wie in der Natur jelbft. 

Und nun zur Vorführung! Gedämpftes Liht 
berrfht in der hoben Kuppel, denn unfere Augen 
jolen fih an ſchwache Lichteindrüde gewöhnen, um 
ipäter auh die Eleinen Sterndhen und die zarten 
Umriffe der Milchſtraße in fih aufzunehmen. Bu- 
erft erfheinen Sonne, Mond und Planeten allein, 
ohne den Himmelshintergrund, damit wir mit ihrer 
Geftalt und ihren Eigenheiten vertraut werden, fo 
dag wir fie fpäter in der verwirrenden Fülle der 
Geftirne ohne Mühe wiedererfennen. Unfer Tages- 
geftirn ift an feiner hellen großen Scheibe und 
einem Strahlenfranz leicht kenntlich, ebenſo ber 
Mond an feinen wechſelnden Geftalten. Um bie 
einzelnen Planeten leicht voneinander unterfcheiden 
zu Eönnen, find fie nicht als die hellen Sterne 
wiedergegeben, als welche fie dem bloßen Auge in 
der Natur erfcheinen, fondern in mehrfaher Wer- 
größerung und teils auh noch mit befonderen Merk. 
malen ausgeftattet. Merkur ift als der Fleinfte 
Planet niht zu verfehlen; das große rein weiße 
Scheiben ftellt die Benus vor. Mars, et- 
was Fleiner, ift an feiner rötlihen Farbe fennt- 





Planetarium in Jena im Bau, 


196____ 





ne ae anap Te na I m 


lich; Jupiter ift durd feine, fonft nur im 
Fernrohr fihtbaren, Wolkenftreifen und Saturn 
durch feinen Ning gefennzeichnet. 

Bei den verfhiedenen Tagesumläufen bemerfen 
wir, daf Merkur und Benus fih ftändig in der 
Mähe der Sonne halten, während die drei übrigen 
Planeten aud die Oppofitionsftellung einnehmen 
und am mitternädhtigen Himmel erfcheinen können. 
Uebrigens find die beiden äußerften ‘Planeten, 
Uranus und Neptun, nicht mitaufgenommen, da 
fie am wirflihen Himmel für das bloße Auge un- 
fihtbar find. 

Die Sonne fehen wir zuerft an einem Sommer- 
tage in weitem und hohem Tagesbogen am Himmel 
entlangzieben. Die lange Tagesdauer und ihre 
faft ſenkrecht einfallenden Strahlen erzeugen im 
der Natur die fommerlihe Hike. Laffen wir bie 
Apparatur ein halbes Jahr überfpringen, fo be 
fohreibt die Sonne einen kurzen Bogen, der ihre 
Strahlen fhräg einfallen läßt und der Erde nur 
wenig Wärme zuführt. 

Ein Viertelftündden ift inzwifhen vergangen, 
unfere Augen haben fih eingewöhnt, und nahdem 
die Sonne unterm Horizont verſchwunden ift, 
leuchten plöglih die Sterne auf! Ein unbefchreib- 
lich ſhöner Eindrud! Niemand ann einen Aus- 
ruf des Entzückens unterdrücken. So oft aud ber 
Verfaſſer diefer Zeilen das Planetarium vorführte, 
immer gleich überwältigend wirfte das Aufflammen 
des Sternendomes in der Kuppel. Schneller zwar 
als in Wirklichkeit, aber dodh majeſtätiſch, ein- 
bringlih in feiner ehernen Geſetzmäßigkeit, fteigt 
der ftumme Reigen der Sterne im Often empor, 
um in fanften Bogen im Welten zum Horizont 
binabzugleiten.. Da kommt aud der Mond her- 
aufgezogen, feine faft zum Vollmond gerunbete 
Scheibe fhwimmt ruhig mit mildem Leuchten im 
Gewimmel der Sterne. Nun erfennen wir auh 
einzelne Planeten. Eben neigt fih der rötliche 
Mars zum Untergang, während der ringgefhmücdte 
Saturn im Often fhon auf halber Höhe fteht, und 
gerade ſchickt fih aud Jupiter an, über dem Hori- 
zont zu erfheinen. Regungslos gebannt folgen 
unfere Blide dem erhabenen Scaufpiel, find der 
Alltäglichkeit entrücdt und ganz dem reinen Ein- 
drud der vollfommenften Illuſion hingegeben. Die 
Kuppelwölbung ift verſchwunden, wir ſchauen in 
den unermeßlich tiefen Himmelsraum, aus dem die 
unendlich weiten Sterne zu ung bernieder fchim- 
mern. — Schon erfennen wir einzelne Stern- 
gruppen. Ein Kontaftdrud — leuchtende Tettern 
erfheinen, und wir lefen die wohlbefannten Namen 
der Mythologie, deren Geftalten eine finnige Volks⸗ 
poefie am Himmel verewigte. Deutlih hebt fid 
ber Tierfreis heraus, in dem Sonne, Mond und 
Planeten dahinwandeln, zwölf Sternbilder, deren 


Der Himmel auf Erben. 


Bezeichnungen vorzugsweife der Tierwelt entnom- 
men find. Hoc darüber unterfcheiden wir das be- 
fanntefte Sternbild, den Großen Bären, deffen 
Hinterräder auf den Polarftern meifen, den ruhen- 
den Pol in der Erſcheinungen Flucht! Laffen wir 
einen Tag in einer Minute fih abipielen, fo wird 
uns befonders deutlich, daß Caſſiopeja und Fuhr- 
mann, [Leier und Schwan und alle übrigen um 
diefen Polftern fih drehen. 

Schon in der beſchleunigten Tagesbewegung 
wurde ung mandes Mätfel gelöft, das wir am 
natürlihen Himmel nur dur langes Beobachten 
und Meflen hätten ergründen künnen. Wenn wir 
jest aber die Tagesbewegung bes Firfternhimmels 
ausfhalten und an dem ruhenden Sternenhinter- 
arunde die Planeten ihre ahresbewegung in Mi- 
nuten vollführen laffen, fo erfennen wir mit Cr- 
ftaunen die verfehlungenen Pfade, die fie wandeln. 
Merkur bewegt fih fo ſchnell, dag wir feine ge- 
ſchloſſene Bahn um die Sonne bireft ablefen Fön- 
nen. Bei Benus, die etwa dreimal fo langſam 
freift, genügen zwei Erfcheinungen, um aud bier 
die geſchloſſene Kurve erfihtlih zu madhen. Nur 
bei diefen beiden Planeten, deren Bahn innerhalb 
unferer Erdbahn liegt, Eönnen wir die Geſchloſſen⸗ 
heit des Umlaufes verfolgen. Die fogenannten 
„äußeren“ Planeten, von denen hier Mars, Jue 
piter und Saturn gezeigt werden, verhalten ſich 
Hanz anders. Ihr Lauf ftelle für den Augenſchein 
nicht eine ftändig fih wiederholende, ftets in gleichem 
Sinne geridhtete Kreisbahn dar, fondern ift durch 
Hin- und MWiedergänge und Schleifen ausgezeich- 
net. Diele eigentümlihen Schleifenbahnen, bie 
immer zu den Zeiten der Oppofition (Reihenfolge: 
Sonne — Erde — Planet) auftreten, find eine 
Folge des Umftandes, Laß wir von der beweg - 
ten Erde aus beobachten, die fih innerhalb ber 
Bahnen der Außenplaneten bewegt. 

Wie der Iagesgang, fo beſitzt auch der Jahres- 
gang drei verfchiedene Geſchwindigkeiten, deren 
fhnellfte hier ein Jahr in fieben Sekunden abrollen 
läßt. Diefer Gang wird nur benußt, um größere 
Zeitabfchnitte fone zu überwinden. Einesteils 
muß man ja die während der Vorführungen abge- 
laufene Zeitfpanne wieder zurüdftellen, anderer- 
feits bat man damit die Möglichkeit, etwa zu ge- 
ſchichtlichen Zweden den Himmel Homers oder bie 
Sterne zur Zeit der Geburt Chrifti aufzuzeigen. 
Ein Zählapparat geftattet die Ablefung des je- 
weiligen Zeitpunftes etwa auf ein Drittel- Tag ge 
nau. Bei dem Bor- oder Zurüdfchreiten über 
arößere Zeiträume wird aud) die Wanderung des 
Himmelspols unter den Firfternen auffällig. Zu- 
folge einer kreiſelförmigen Pendelung der Erd- 
adje um ihren Mittelpunkt befehreibt nämlich ber 
Himmelspol in 26 000 Jahren einen vollen Kreis. 





In der kurzen, nur etwa eine Stunde währen» 
den DBorführung fann man bloß die allerwicdhtig- 
ften Himmelsvorgänge eben fennen lernen. Zu 
einem tiefergehenden fhftematifhen Studium, wie 


man es etwa mit Mn oberen Klaſſen unſerer 


höheren Schulen 
betreiben würde, 
gehört eine be- 
fondere Vortrags⸗ 
reihe. Immerhin 
haben wir nun 
foviel des Shi- 
nen und Wiffens- 
werten in ung 
aufnehmen dür- 
fen, daß wir mit 
Recht Verlangen 
fragen, die wun⸗ 
derbare Appara- 
tur, die fo Cr- 
ftaunliches leiſtet, 
etwas näher zu 
betrachten. | 

Sn der Kup- 
pelmitte erhebt 
fih auf fchräg- 
ftebender Säule 
die Projeftions- 
apparatur von bi- 
jarrer, faft grio- 


tesfer Geſtalt. 
Wenn ‚„Konftru- 
ieren Dichten 
heißt”, wie die 


Ingenieure Hein- 

rih Seidel und Mar Epth uns lehren, fo ſtehen 
wir bier vor der eigenartigften und vielleiht wun- 
derfamften Dichtung der Technik! In gedrängtefter 
Fülle — auf knappſtem NRaume niht weniger 
als 81 Projeftionsapparate — birgt diefe geniale 
Schöpfung alle Wunder des Firmamentes. Big zu 
2,5 Metern ragt der Aufbau empor, fo daß die 
2 Meter bobe Horizontallinie den Mittelpunft der 
im oberen Zeil fihtbaren Firfternfugel mit den 
fegelförmigen Anfägen durchſchneidet. 

Ihrer Aufgabe angepaßt, gliedert fih die Appa- 
ratur in zwei Hauptteile, die fchon erwähnte Fir- 
fternfugel und den Planetenzylinder, denn es 
müffen, wie eingangs erwähnt, dem natürlichen 
Vorgang entiprechend, die Planeten auf dem Fir- 
fiernbimmel als ihrem Hintergrund ihre eigenen, 
unabhängigen Bahnen ziehen. Par 

Aus unferen Kindertagen wiflen wir von der 
Laterna magica, daß fie ebene Glasbilder befist, 
die wieder auf einer ebenen Fläche abgebildet wer- 


Der r Himmel auf Er Erden. 





Planetarium mit dem Planetenapparat. 


1907 





den müſſen. t Gii io vëni es r * bei jebi 
der bier verwendeten Projektionsapparate. Deg- 
halb mußte die Himmelsfugel in fo Eleine Flächen- 
flüfe unterteilt werden, daß jedes davon praftifch 
als Ebene angefehen werden fonnte. Stellt man 

fih einen Ster- 

nenglobus vor, fo 

wäre diefer in 32 

gleidh große Him- 

melsſtücke einzu- 
teilen. Jeder die- 
fer 32 Zeile ift 
auf einer photo- 
graphifchen Platte 
(Diapofitiv) auf- 
genommen und 
fibt als ſolche in 
einem der Fegel- 
fürmig zugefpiß- 
ten Projeftiong- 
apparate. Aus 
praftifchen Grün- 
den hat man frei- 
ih den Südpol 
des Himmels nicht 
mit abbilden ab- 
bilden können, 
denn - an dieſer 

Stelle mußte die 

Achſe durchgeführt 

werden, um bie 
ſich der Himmel 

iheinbar dreht; 
wir haben alſo in 

Wirklichkeit nur 
31 Lichtbildapparate zur Darftellung der Firfterne. 

Außer den Firfternen fehen wir am Himmel 
aber noh das zarte Band der Milchſtraße. Es 
hätte nahe gelegen, den Milchſtraßenzug auf den 
entiprehenden Firfternplatten mit aufzunehmen, 
in der Praris erwies fih das jedoch als undurd- 
führbar, da fih die verfhwommenen Umriffe der 
Milchſtraße nicht gleichzeitig mit den fcharfen 
Sternpünfthen abbilden liepen. Man mwar ge- 
zwungen, 11 weitere Projeftionsapparate eigens 
hierfür anzubringen; am Iinfen Rand der Fir- 
fternfugel find auf dem Bilde einige diefer mehr 
zulindrifchen und etwas kleineren Projeftionsanfäße 
zu erfennen. 

Die Fülle der dargeftellten Sterne — eg find 
etwa 4500 von der erften bis zur fechften Größe 
— wird es dem Laien ebenfowenig wie in der Natur 
erlauben, fih ſchnell darunter zurechtzufinden; des- 
halb mußte noh für die Wiedergabe einer Anzahl 
Sternbildnamen geforgt werden. Die widhtigften 


198 





ö— — 





find die fogenannten zwölf Tierkreisbilder, in denen 
Sonne, Mond und Planeten fcheinbar entlang 
wandern. Die bilden einen Gürtel, die Effiptif, 
und find hier durch weiße Namen ausgezeichnet. 
Außerdem find noh 18 andere Bilder und zwar 
in roter Schrift gefennzeichnet, wie der Große und 
der Kleine Bär, Caſſiopeja, Fuhrmann, Leyer, 
Schwan ufm. Der 

Stern, in deffen un- 
mittelbarer Nähe fidh 
der Himmelsnordpol 
befindet, der Tete 
Schwanzſtern des 
Kleinen Bär, ift 
durh einen roten 
Kreis beſonders ber- 
vorgehoben. Dieſe 
insgeſamt 30 Fleinen 
Projeftions- Apparate 
find nur etwa finger- 
lang und auf dem \ 
mittleren Zeil der 
Sirfternfugel recht Ekliptikachse Jo Polachse 
gut zu erfennen. 

Die gefamte Grup- ⸗ 

pe dieſer 72 Lidt- 

bildapparate wird 

von einer einzigen — 
Lichtquelle, einer 200 
Watt⸗Glühlampe, ge⸗ 
ſpeiſt, die etwa 400 
Kerzen erzeugt. Ein 
dunkler Vorhang 
ſorgt dafür, daß die 
„untergegangenen“ Geſtirne rechtzeitig abgeblendet 
werden. 

Der Aufbau und die Bewegung der Firftern- 
apparatur hat im Verhältnis noh am wenigften 
Mühe gemadt, ganz im Gegenfas zur Planeten- 
apparatur, die fih in dem großen Glaszylinder be» 
findet. Während der Firfternförper nur um bie 
eine, der Himmelsachſe parallele, fchrägftehende 
Achſe gedreht zu werden braudt, hat jedes von den 
ficken dargeftellten Wandelgeftirnen feinen eigenen 
Rhythmus. An der Skizze des Aufbaues find diefe 
Verhältniſſe befonders deutlich zu erfennen. Um 
die Polachſe dreht fidh der Firfternförper, um die 
Ekliptikachſe jeder Planetenapparat für fih, den- 
noh aber mitgenommen von der allgemeinen fäg- 
lihen Bewegung der Polachſe; die Planeten neh- 
men ja am täglihen Umſchwung des Himmels- 
gewölbes teil. 

Zu den Wandelgeftirnen gehören bier nicht nur 
die fünf großen Planeten Merkur, Venus, Mars, 
Jupiter und Saturn, fondern auh Sonne und 
Mond, da fie ebenfo unabhängig unter den Fir- 


Der Himmel auf Erden. 


fternen fih bewegen. Zwar Freifen in Wirklichfeit 






Pixsternkörper 


— 


die Planten um die Sonne und der Mond um die 
Erde, dem Augenſcheine nah aber ftellt es fi 
anders dar, und genau nad dem augenfcheinlichen 
Bilde fol ja die Wiedergabe erfolgen. 
Da man die Planetenapparate aus mehanifchen 
Gründen niht alle in einer Ebene anbringen fonnte, 
find fie, wie das "Bild 
zeigt, ſtufenförmig 
untereinander ange” 
ordnet. Zu oberft 
befindet ſich die 
Sonne, dann der 
Mond, und die Pla- 
neten in der Reihen- 
folge ihres Sonnen- 
abftandes. Für 
Sonne und Mond 
war bie Darftellung 
- wiederum noh ver- 
hältnismäßig einfady, 
dba fie ſich — jene 
ſcheinbar, diefer wirt- 
ih — um die Erbe, 
unfern Beobadhtunge- 
j ſtandpunkt, drehen. 
/ Es genügte alfo eine 
einfahe Mitteladhfe. 
/ Der Sonne find nod 
zur Erzeugung der 
Dämmerungserfchei- 


IT — — 
T OOS⏑⏑⏑—— nungen zwei beſon⸗ 
Pa od h a anga à í 
Aufbau des ProjeltionssPlanetariums. 


dere Drojeftionsappa- 
rate beigegeben, bie 
fie mit einem Strahlenfranz umgeben. Der Mond 
hingegen mußte eine Blendenvorrichtung befommen, 
die die Mondgeftalten, vom Neumond bis zum 
Vollmond, und wieder abnehmend, erzeugt. 


Dem Augenfhein nah fteht die Erde im Be- 
mwegungszentrum und wird von den Planeten um- 
Freift. Bei näherer Beobachtung aber erfcheinen 
die Bewegungsvorgänge der Planeten, wie wir 
wiflen, außerordentlih vermwidelt, da fie fih bald 
vorwärts, bald zurüd bewegen, zeitweilig ftille 
fteben und fogar Schleifen bilden. Um diefe vere 
fhlungenen Planetenbahnen wiederzugeben, hatten 
die Alten ein fehr verzwidtes Syſtem erfonnen, bei 
dem fih der Planet niht direft um die Erde als 
Mittelpunkt drehte, fondern auf einem Meinen 
Kreife faf, deffen Zentrum feinerfeits erft auf dem 
arogen Bahnkreis herummanderte. Die Genauig- 
feit, mit der man bei diefer Darftellungsart ber 
Natur nabe fommen fann, ift aber nicht übermäßig 
groß; deshalb wurde fie hier nicht verwendet. Das 
zunächſt Ueberrafchende ift, daß die größte Genauig- 


Der Himmel auf Erden. 


feit bei ftrenger Wiederholung des copernicanifchen 
Manetenfuftems erzielt wird. Ganz objektiv be- 
trachtet ift eg ja auh nicht anders möglich. 

Die fünf Planetenapparate find grundfäglich 
vollfommen gleich gebaut und zwar, wie fhon an- 
gedeutet, nadh dem copernicanifhen Spftem. Die 
Sonne ift jedesmal in der Mitte zu denfen; fie ift 


199 





— — —— — —— — — 


Die ſieben Wandelgeſtirne kreiſen verſchieden 
ſchnell; trotzdem war es möglich, fie durch eine ges 
meinfame Welle anzutreiben, indem man verjdie- 
den große Zahnradüberfegungen anwandte. Wäh- 
rend die Gefamtapparatur von einem Motor mitt- 
lerer Größe (auf unferem Bilde unſichtbar) in 
Umdrehung verfegt wird, genügte für die Sonder- 





— — 


Das Planetarium in Jena. 


nicht einmal durch einen Zapfen oder dergleichen 
vertreten, denn das Drehzentrum mußte — ein er— 
ſtaunlich geſchickt durchgeführter Kunſtgriff! — nach 
außen verlegt werden. Das deutlich ſichtbare Ge— 
Hänge mit den Querverſtrebungen ſtellt ihn dar. 
Natürlich mußten alle diefe Streben möglichft dünn 
gehalten werden, um die Lichtftrahlen nur verfchwin- 
wnd wenig abzublenden. Trotzdem hat die Wer- 
rebung nicht weniger als 1% Bentner zu tragen! 

Erheben wir von der Erde unferen Blid zum 
Simmel, fo fehen wir die Planeten auf dem Hine 
melshintergrunde fid abbilden. Es geht aljo eine 
gerade Linie von unferem Auge über den Planeten 
nad) dem Himmelsgewölbe. Genau fo find die 
Planetenapparate angeordnet. Cin Zapfen, ber 
die Erde darftellt, und ein Fleiner Projektionsappa— 
at, der das PM lanetenbild enthält, find fo mitein- 
ander verbunden, daß fie zwangsläufig in gerader 
Linie bleiben. So freifen fie gemeinfam um bie 

Onne als ihren Drebungsmittelpunft. Je nad- 
dem nun, ob Erde und Planet fih auf derfelben 
oder verfchiedenen Seiten der Sonne befinden 
(Konjunftion oder Oppofition), haben fie verſchieden 
großen Abftand. Diefer wird auf einfahe Weife 
durd eine fogenannte Nürnberger Schere, einen 
ieredigen Rahmen mit Scharnieren an jeder Ede, 
eingehalten. 





(Kuppeldurdmefler 25 m.) ` 


bewegung der Planetenapparate der Fleine Motor, 
der zwiſchen dem Planetenzylinder und deffen aus 
Einzelplatten zufammengefegtem Gegengewicht fidt- 
bar ift. Die Efliptif, in der fih die Planeten be- 
wegen, ift hier in unferer Mechanik zu einem breiten 
Reifen mit Zahnfranz geworden, der mitten zwi- 
ihen dem Firfternförper und dem Planetenzylinder 
fikt; an diefem Reifen gleitet der Planetenzylinder 
als Ganzes entlang, während die Planeten jeder 
für fih ihre Stellung innerhalb des Zylinders ein- 
nehmen. 

Am Fuß der Säule befindet fih die Schalttafel, 
mit deren Hilfe die einzelnen Apparateteile in Be- 
wegung gefeßt und die Sternbildnamen ein- oder 
ausgeichaltet werden Fünnen. 

Die Genauigkeit der Geftirnftellungen hat fih 
als ganz erftaunlic erwiefen. Nah Ablauf von 
einigen taufend Jahren ift der Fehler niht größer 
als zwei oder drei DBollmondbreiten. Da hätte 
denn füglih Copernicus und felbft Tycho Brabe 
getroft an diefem Fünftlihen Himmel beobachten 
und meffen können; folange man nur das bloße 
Auge dazu benust, ift die Präzifion der Mechanik 
vollauf hinreichend. 

Die Verſuchskuppel in Jena hat einen Durd- 
meffer von 16 Metern, während die Münche— 
ner Kuppel nur einen folben von 10 Metern 


200 





aufweift. Der Neubau im Prinzeflinnengarten zu 
Siena wird fogar 25 Meter Kuppeldurchmeſſer be- 
fiken. Schon im Rohbau läft fih die gute ardi- 
teftonifhe Wirkung des Aeußeren diefer neueften 
Anlage erfennen, was die hier beigefügte Skizze 
beftätigt. 

Das Projeftionsplanetarium bat fih als ein fo 
vorzügliches Lehr- und Bildungsmittel erwiefen, 
daß eine ganze Reihe von Städten fih zur Er- 
richtung eines eigenen Planetariums entichloffen 
hat. So wird es in etwa ahresfrift möglich fein, 
von faft allen Punkten Deutfchlande aus eine folde 





Zwanzig Jahre Höhbenflimaforichung. 


____ Zwanzig Jahre Höhenklimaforihung. 


— —— N —— 





Stadt leicht zu erreichen. Aber auch das Ausland 
hat den hohen Wert dieſer deutſchen Errungen⸗ 
ſchaft, dem auf der ganzen Erde nichts Gleich⸗ 
artiges an die Seite geſtellt werden kann, erkannt, 
und für einige Städte ſind bereits Planetarien 
projektiert. 

Möchte der Stolz auf dieſes Wunderwerk deut- 
ſcher Ingenieurkunſt, der die Teilnehmer der Cin- 
weihungsfeier des Deutfhen Mufeums in Münden 
erfüllte, in das Bewußtſein des ganzen Volkes 
übergehen! | 








Bon Prof. Dr. Dorno, Leiter des phofifalifch-meteorologiihen Dbfervatoriums in Davos. 


Die Klimatologifhe Tagung, vom 17. bis 22. Auguft 
diefes Jahres in Davos, an welder Autoritäten zahi- 
reiher europäifher Länder, Mediziner, Meteorologen, 
Phyſiker, Botaniker, Zoologen, die Bedeutung des Klimas 
nad der phyſikaliſchen, phyſiologiſchen und therapeutifchen 
Seite behandeln werden, lenft die Augen auch unferer 
Sefer auf den den meiften nur als Lungenfurplas befannten 
Ort und feine nftitute hin, deren Ruf die berühmten Ge- 
lehrten folgen. Auch diejenigen, denen in Erinnerung ge- 
blieben ift, daß Davos niht nur Lungenkranke aus allen 
europäifhen und nidhteuropäifhen Landen verfammelt, fon- 
dern aud die Wiege und bis zur Gegenwart einer der 
Hauptrepräfentanten der Winterfportpläge ift, ahnen nicht, 
welh ein geiftiges Zentrum diefe tief in bdie Bündner 
Alpen gebettete, in 1600 Meter Höhe gelegene Stadt 
bildet, die „weiße Stadt”, wie fie oft genannt wird, ba 
fünf Monate hindurch der zartefte weiße Schnee ihren 
Boden dedt. Schaut man auf die Karte der Alpenländer, 
fo findet man leicht eine Erklärung für diefe eigenartige 
Höpenniederlaflung: Nur im rhätifhen Hochlande finden 
ih ausgedehnte Täler mit breiten flachen Talfohlen in einer 
dem Gipfel der Scneeloppe und des Migi ähnlichen 
Höhenlage, und nur eines berfelben zeichnet ſich durch 
großen Windfhus aus, welcher auch in den flurmburd- 
brauften Uebergangsiahreszeiten Kranten und Mefonvales- 
jenten einen geeigneten Aufenthalt bietet — das Davofer. 
Der in Tallängsrihtung meilenweit freie Ausblid läft das 
Gefühl der Enge niht aufflommen, und ihm ift es zu 
danken, dafi viele Familien aus dem Flachlande übergefiedelt 
find in die ferne Höhe, meift aus Nüdfihten auf die Ge- 
fundheit eines Familienmitgliedes. Künftler und Gelehrte 
aller Länder reihen fih da die Hand und ziehen aus ben 
(meift lange anweſenden) Kurgäften und aud aus ihren 
Heimatländern Geiftesverwandte heran zu oft frudtbarer 
Zufammenarbeit, und eine intelligente, aufftrebende bei- 
miſche Bevölkerung unterftüßt diefe. 

Als im Jahre 1904 den Gründer und Leiter des Phy- 
flalifh-Meteorologifhen Obfervatoriums die Sorge um 
feines einzigen Kindes Gefundheit in die Schweiger Berge 
und bald nad Davos führte, hatte man gerade die grund- 
legenden Strablungsgefeße gefunden und Meßmethoden 
sum Gebrauch im Yaboratorium ausszuarbeiten begonnen. 
Die von ber Ebene augenfheinlid gany abweichenden 
Strahlungsverbältniffe des Hodgebirges reisten ihn, diefe 
Methodik in den Dienft der Meteorologie und Klimatologie 
zu flellen, und die Frage nah der Qualität der ultra- 
violetten Strahlung war bie erfte, weihe er in Angriff 
nahm, eben bie, welde heute die Phnficlogie der Pflan- 


zen und Tiere fo lebhaft beihäftigt, wobei fie nicht felten bie 
damals gewonnenen Zahlen zur Grundlage nimmt. We- 
nige Xabre zuvor waren die erften Arbeiten Rutherford's 
und Soddy's über die Radioaktivität erfhienen, und Elſter 
und Geitel legten die Grundlagen zur Erforfhung ber ger 
famten anorganifhen Natur auf ihre radioaktiven Figen- 
fhaften. Diele Forfhungen befruhteten aufs Neue bie 
ein wenig ins Etoden geratenen, von Wien ausgegangenen 
Unterfuhungen über die Lufteleftrizität und bedten ben 
engen Zufammenbang beider Saftoren auf. Angefihts alles 
diefes ergab fih für den erften Arbeitsplan des Obfer- 
vatoriums kurz gefaßt „die Unterfuhung des Strahlungs- 
Elimas des Standortes” (Davos), — Strahlung im weiteften 
Sinne, umfaffend ale Aetherſtrahlungen von ben Fur. 
mwelligen röntgenartigen über die ultravioletten, fihtbaren, 
ultraroten hinweg zu den ganz langwelligen eleftriihen 
und umfaflend auch bie korpuskulare radioaktive Straß- 
lung der Luft, des Erdbobeng, der Quellen. Die Refultate 
biefes erſten Arbeitsabfchnittes find niedergelegt in ber 
„Studie über Licht und Luft des Hochgebirges”, (Vieweg 
1911). Aus ihnen ift ausgefondert, was fpeziel den Arzt 
intereffiert, und niederlegt in Band 1, Heft 7, ber Ber- 
öffentlihungen der Zentralftelle für Balneologie“ unter 
dem Titel „Vorſchläge zum fuftematifhen Studium bes 
Si Luftflimas der den deutſchen Arzt intereffierenden 
rte”. 

Diefe „Vorſchläge“ paben mannigfahe Nachachtung ge- 
funden: Jn Deutihland, der Schweiz, den Vereinigten 
Staaten von Mordamerila bat man nah gleihem oder 
ähnlihem Programme das Lichtklima recht verſchieden ge- 
legener Orte unterſucht, Niederländiſch Indien, Braſilien, 
Argentinien ſchenkten ihm viel Beachtung. Die Aus- 
flattung des Obfervatoriums am Schluſſe biefer erften Ar- 
beitsperiode ift befanntgegeben in einer bei Wieweg 1912 
erſchienenen bilderreihen Beſchreibung. 

Aus der rein descriptiv eingeſtellten klimatologiſchen 
Frage: „Was kommt von den, letzten Endes von der Sonne 
ausgehenden, mannigfachen Strahlenarten am Berb- 
achtungsorte an?’ entwidelte ſich automatiſch die Frage: 
„Die erflären fib die Variationen, die im Tages 
und Tabreslaufe und im Laufe der Jahre beobachtet wer- 
den?“, und diefe Frage rollte die geophnfilalifhe Seite 
dee Problems auf, die Frage nah der Durdläffigleit der 
Erdatmofphäre, ihren Variationen und der Urfade der 
Variationen, und mit ibr bie aftrophufilalifhe Frage nad 
der Größe und Variation der ertraterreftriihen Sonnen- 
ftrahlung beim Eintritt aus dem Kosmos in die oberften 
Grenzen unferer irdifhen Atmoſphäre. Die atmofphärifde 








Polariſation, entdeckt ſchon 120 Jahre zuvor, ſyſtematiſch 
ſtudiert aber erſt in den letzten Jahrzehnten, bot hierbei 
das kräftigſte Hilfsmittel, und ohne Zögern wurde es unter 
dem klaren Hochgebirgshimmel in reichem Maße heran⸗ 
gezogen und verbunden mit Unterſuchungen der Helligkeits⸗ 
verteilung über den Himmel. Die Kombination ber 
Beſtimmung von Polarifation und Helligkeit, ausgedehnt 
über den ganzen weiten Himmelsdom, bei jebem Sonnen- 
frande und jeder Jahreszeit (ermögliht allein durd bas 
Dauerfundament eines richtig eingerichteten Obfervatoriums) 
ermöglichte die Feſtſtellung und Begründung des innigen 
Zufammenhanges beider Faktoren und ihrer Abbängigfeit 
nicht nur von den meteorologiihen Faktoren, fondern aud 
von der Sonnen- und Vulkantätigkeit. Zu Hilfe fam ber 

waltige Ausbruh des Katmai-Vulkans auf Alaska im 

pre 1912, welcher ausnahmsweife nit in eine Zeit ver- 
mehrter Sonnentätigfeit fiel, fodaß der tellurifhe Einfluß 
Mar geſchieden werden konnte von dem Tosmildh-folaren. 
lesteren vermochte man dann in den Jahren 1915/17 bei 
erneut einjegender Sonnentätigleit zu fludieren. Die 
Effekte ergaben fih leicht aus der Differenz, da ja bdie 
Mormalwerte ungeftörter Zeiten aus den “Jahren 1907 — 
1911 fchon vorlagen. Auf Grund diefer und den dauernd 
parallel gehenden Beobachtungen der Dämmerungserſchei⸗ 
nungen wurde im jahre 1917 die Theſe aufgeftellt, daß 
jede Einzelevolution der Sonne dur eine Veränderung 
der Durdläffigkeit der Erdatmofphäre, wenn auh an jedem 
Orte verfhieden, beantwortet würde. Die Driginalien 
diefer Unterfuhungen finden fih in den „Abb. d. Preuß. 
Met. Inf. Band V und VI“. 

Won der Durdläffigkeit der Erdatmofphäre hängt die Er- 
tinftions(— Auslöfhungs-)größe ab, eine der wichtigften für 
den Aftronomen, denn ihr unterliegt jedes Sternenliht. An 
empirifch feftgelegte Durchſchnittswerte hält fih der Aftro- 
nom, er weiß aber recht wohl, daß die wahren Werte häufig 
Rart abweihen und ſchnellen Schwanfungen während ber 
Dauer der Beobahtung unterworfen find. ‚Eine auf den 
momentanen Zuflend der Erdatmoiphäre nbftellende 
Methode zur Beſtimmung der Ertinftionsgröße” wurde ab- 
geleitet aus den in verfhiedenen Spektralteilen durchge⸗ 
führten Meflungen des Helligfeitsabfalles von der Sonne 
(Aftronomifhe Nachrichten 1919, Nr. 4999). 

Die Sonnenftrahlungsmeflungen hatten inzwiſchen foweit 
Verbreitung gefunden, daß die Gelegenheit der Sonnen- 
finfternis des 8. April 1921 ergriffen wurde, um eine grö- 
fiere Zahl von Dbfervatorien ber Schweiz, Defterreichs, 
Deutihlande, Hollands, Polens, Schwedens zu gemein- 
famer Beobachtung zu fammeln. [Leider war nur Davos 
vom Wetter begünftigt. Das Mefultat gipfelte darin, 
daf das um den Mondichatten fih legende Beugungslicht 
einen unerwartet großen Betrag liefert und der Theori: 
entſprechend im Rot einen größeren als im Ultraviolett — 
ein DMefutat- welches nad brieflihen Nachrichten durch 
amerifanifhe Beobahtungen während der Sonnenfinfternis 
dee 24. Januar d. J. beftätigt fein fol. Die auf diefe 
Weile zu Stande gefommene Organifation unterzog fid 
dann der Dauerarbeit ber Tageslihtmeflungen mittels bes 
zu dieſem Zwecke vom Davoſer Dbfervatorium ein wenig 
vervollftändigten Eder'ſchen Graukeilphotometers. Durg 
genaue Abſtimmungen und Kontrollen gelingt es, auch mit 
diefem einfahen Snftrumente einigermaßen fihere Ber- 
gleihswerte diefer nit nur für Medizin und Hygiene und 
Naturwiſſenſchaften, fondern aud für das ganze praftifche 
Leben fo äußerft widtigen Größe zu erhalten. England 
ſchloß fih mit 6, Italien mit 3, DBrafilien mit einer 
Station an; aug auf dem atlantifhen Ozean find Parallel- 
meflungen durdgeführt, Lappland und Finnland beteiligen 
fid in biefem Sommer. Jn der Meteorologifhen Beit- 
ſchrift 1925 it vom Davofer Obfervatorium hierüber be- 
richtet. 














Zwanzig Jahre Höhenklimaforſchung. 201 


Die rärfelhafte, aus dem Kosmos kommende, härter als 
die bärtefte radivaftive Etrahlung befundene fogenannte 
„durchdringende Strahlung” bildete gleihfalls jahrelang, 
zeitweife im Berein mit ſchweizeriſchen, öfterreihifchen, 
deutfhen und bolländifhen Obfervatorien den Gegenftand 
der Beobahtung. Die Sonnenftrahlung wurde im Berein 
mit dem Meu-Babelsberger Aſtrophyſikaliſchen Obferva- 
torium auf Furzperiodifhe, den Helligkeitsihwanfungen des 
Ô Cephei- Typus verwandte ntenfitätsihwanfungen unter- 
fuht. Nach Durchbildung der photoelektrifhen Bellen- 
methode von Eifter und Geitel wurde fie, wie in Neu⸗Ba⸗ 
belgberg zuerft in den aftronomifchen, fo in Davos zuerft 
in den meteorologifhen Dienft geftellt, und die Anpaflung 
der Methode an die Werbältniffe in der freien Natur 
bradte mande nicht ganz leicht zu löſende Aufgaben metho- 
dologifher Art. Dies reiste zu ihrem meiteren, erfolgreich 
durchgeführten Ausbau im Megiftrierdienft, welcher faft 
reftlos gelang. Die Ponfifalifde und Meteorolegifche 
Zeitfhrift enthalten die meiften der diesbezüglihen Publi- 
fationen. Vieweg's Sammlung „Die Wiflenihaft” Band 
63 führt den Lefer mühelos ein in dag ganze weite Gebiet 
der „Phyſik der Sonnen- und Himmelsftrablung”. Diefes, 
weitgehenden Bedürfniſſen Rechnung tragende Bändchen 
hat dem Obfervatoriumsleiter vielen Dant eingebradt. 

Trog des geophufifalifch-meteorologifhen Hauptcharakters 
des Obfervatoriums fehlte es nie an Beziehungen zwifchen 
ibm und ber mebdizinifhen Wiffenfhaft, insbefondere ber 
Phyfiologie. Die Bedeutung der ultravioletten Strahlung, 
voran die ophtalmologiſche, gab Anlaß zu zeitweife lebhaften 
Kontroverfen in mannigfahen medizinifhen Fachſchriften. 
„Klimatologie im Dienfte der Medizin”, in Viewegs „Ta⸗ 
gesfragen”, Band 50, erfhienen, enthält die in einem 
Tortbildungsfurfus für Aerzte an der Univerfität Züri 
gehaltenen Vorträge; beachtet wurden in ibm befonbers 
die Abſchnitte, welde die Luftfeuchtigkeit und die Strah- 
Tung bebandeln ſowie mande ganz neu aufgeworfenen tli- 
matologifhen Fragen. Einen gewiffen erten Abſchluß 
diefer Studien über „Spezifiſch-⸗mediziniſche Klimatologie‘ 
bildet die in der „Zeitſchrift für phyſikaliſche und diäteti- 
ſche Therapie” 1922 erfchienene Arbeit „Weber geeignete 
Klimadarftellungen” und die Konftruftion des die funda- 
mentale „Abkühlungsgröße” regiftrierenden „Davoſer 
Srigorimeters” (Meteorologifhe Zeitfhrift 1925). 

Im Sabre 1922 fam dann, von der Davofer Aerzte- 
ſchaft ausgehend, der Gedanke auf, an der Seite des Ob- 
fervatoriums ein „Inſtitut für Hochgebirgs-Phpfiologie und 
Tuberkulofeforihung” zu gründen, und er wurde in Kürze 
zur Tat auf breitefter Bafis. Tief veranfert im ganzen 
Schweizerlande ift der ftattlihe Bau, die führenden wiffen- 
ihaftlihen Vereinigungen der Schweiz, das Note Kreuz, 
die Gemeinde- und Kantonsregierung befinden fih neben 
großen Aerztelorporationen unter den Gründern, bedeutende 
fhweizerifhe Univerfitätsprofefloren fungieren als wiffen- 
fhaftliher Beirat. Des Bundes Hilfe it in naher Aus- 
fidt; dann erft fol die Abteilung für Tuberkuloſe aus- 
gebaut werden, zur Zeit ift nur die phufiologifhe im Be- 
triebe. In den faum 214 Jahren ihres Beftebens hat ihr 
leiter, Prof. A. Loewy, es verftanden, unter reger Mit- 
arbeit von Forſchern zahlreiher europäifher Länder febr 
wichtige und vielgeftaltige Ihemata erfolgreih zu beban- 
deln und dadurdh die Augen der ganzen Fachwelt auf dag 
junge Inſtitut zu lenken. Ernft und fleißig wird ſchon feit 
Jahrzehnten an der Erforfhung der phnfiologiihen Wir- 
tungen des Höhenklimas auf den gefunden und kranken 
Menihen gearbeitet, aber meift nur vorübergehend, oft 
nur als Ferienarbeit, obne einheitlihen Plan, ohne dau- 
ernden fiheren Stützpunkt, den die Arbeitenden umfo nő- 
tiger haben, je fubtiler die angewandten Arbeitsmethoden 
werden. Häufig wurden die Unterfuhungen auch am 
eigenen Leibe nah außergemöhnliden Strapazen, alfo 


2 EIER ER ORHEIEEEEN 


— — — — — =- — — —— 








unter ganz ungewöhnlichen Bedingungen, ausgeführt. So 
konnte es nicht ausbleiben, daß die Reſultate häufig wider⸗ 


ſprechend ausfielen und die Ueberſicht immer mehr litt. Dem . 


allen ift nun abgeholfen durh das 20 Arbeitsräume und 
viele Tierftälle bergende, in Davos in 1600 Meter Höhe 
liegende nftitut und feine mühelos mit der Bahn zu er- 
reichende, in 2500 Meter Höhe im Engadin auf Muottas- 
Muraigl gelegene Zweigftation. 

Die bisher angeftellten Unterfuhungen beziehen fid 
bauptfählih auf den Stoffwedfel, den Blutdrud und bie 
Veränderung des Blutbildes bei kurzem und langem Auf- 
enthalt in der Höhe, und die modernften chemiſchen und 
phufitaliihen Methoden find in den Dienft diefer Forſchun⸗ 
gen geftele. Alle beobadteten Erfcheinungen find unter 
dem Geſichtspunkt betrachtet, daß fie zweckmäßige Regulice- 
rungsvorgänge barftellen, welde geeignet find, den in ber 
Höhe drohenden Sauerftoffmangel binausjurüden. Bahn- 
btechend ift zweifellos der hierfür von Profeflor Loewy in- 
direkt erbrachte Beweis: Alle bisher fo häufig beobachteten 
und unter mannigfaltigen Derhältniffen genau in der Ruhe 
wie bei exakt beflimmter Arbeitsleiftung gemeflenen Wir- 
tungen ber Höhe, insbefondere Aenderungen des Stoff- 
wechſels und des DBlutdrudes, geben unmittelbar zurüd 
bei Fünftliher Sauerftoffatmung. Der intuitiv von den 
erften fib mit pbufiologiihen Wirkungen des Höhenflimas 
befhäftigenden Forfchern als verbunden mit der Luftver- 
dünnung vorausgefeste „Sauerſtoffhunger“ wird wieder 
sum Hauptfaktor, dem alle oder wenigftens der Hauptteil 
ber beobachteten Einzelerfheinungen als Folgeerfcheinungen 
unterzuordnen find, und es kommt Syſtem hinein in das 
große, in den legten Jahrzehnten zufammengetragene wert- 
volle, aber bisher unüberfihrlih gebliebene Material — 
wahrlid ein gewaltiger Erfolg des jungen Inſtitutes, ber 
allein fchon bie Berechtigung feiner Exiſtenz beweift. 

Unterfuhungen find zahlreih angeftellt, bie auf die Zef- 
ftellung abzielen, welde Flimatifhen Einzelfaktoren haupt- 
ſächlich phyſiologiſch wirkſam find, ob Temperatur, Luft- 
trodenheit, Tuftbewegung oder Strahlung, und falls leg- 
tere, ob fie direkt phyfifalifh oder, wie Profeſſor Keftner 
aus Taboratoriumsunterfuhungen gefchloffen, chemiſch wirt- 





Ausſprache. 


Zum Thema: Entwicklungslehre und Religion. 

In der Aprilnummer von „Unſere Welt“ behandelt Herr 
Adolf Mayer die Frage, wie ſich die Unſterblichkeit ber 
Menihenfeele mit der Abflammung des Menfhen vom 
Tiere vereinigen laffe, da man dod diefem eine unfterb- 
lihe Seele unmöglih zugefteben Fönne. Diefe Anregung 
it höchſt anerfennenswert, aber der Ausweg aus dem 
Dilemma, meines Eradtens, febr unglüdlih. Oder glaubt 
Herr A. M. wirflih, die Angriffe der Materialien und 
Nihiliſten durch Betrachtungen über die Melativität des 
Zeitbegriffs und der Unendlichkeit abfhlagen zu können? 
Wie etwa, wenn man durch folhe Betrachtungen die Un- 
serftörbarfeit der Maffe antaften wollte? Frog aller 
geiftreihen Unterfuhungen über die etwaigen Beziehungen 
zwifhen Maffe und Energie bleibt dodh die Tatfahe un- 
erihüttert, baf Maſſe weder entſteht nog ver 
geht. Tauſende von hemifhen Analyfen werden täglich 
gemacht und niemand denkt daran, falls einmal das Schluß— 
gewicht niht mit dem Anfangsgewicht flimmen will, es fei 
Maffe entftanden oder vergangen. Jeder weiß vielmehr 
in ſolchem Falle, daß er irgendwo einen Fehler gemacht 
bat! Herr A. M. fagt: „Unſer Faflungsvermögen ift be- 
Fanntlih begrenzt durch unſere Erfahrung, und erfahren 
baben wir nur, daß alle Dinge ein Ende haben. Der 


Ausſprache. 


— — — —— — — — —— —— — — 
= ee 


fam ift. Die Tiefenwirfung der Sonnenftrablung auf ben 
Menfhen und ihre Variationen fowie Abhängigkeit von 
meteorologifhen Faktoren wurde vom Inſtituts⸗ und Ob- 
fervatoriumsleiter gemeinfam in umfangreiher Arbeit ftu- 
biert als Grundlage für Sonnenkuren, für welde das 
Hochgebirgsklima erfahrungsgemäß ideale WWerhältnifle 
Bietet. 

An tuberkulöfen Kranken angeftellte Unterfuhungen 
baben widtige Beziehungen zwijgen dem Umfange des 
Stoffwechſels und manden Funktionen des Blutes umd 
der Schwere und dem Verlauf der Krankheit im Hog- 
gebirge aufgedbedt. Außer Medizinern arbeiten Zoologen, 
Phyſiker, Chemiker am Inſtitut; auf Muottas-Muraigl 
werden eingehende pflanzenphufiologiihe Studien betrieben. 
8 Publikationen zeitigte das erfte, 22 das zweite Arbeits- 
jahr; fie find in den verichtiedenften medizinifhen und bio- 
logiſchen Zeitfhriften Deutihlande und der Schweiz er- 
fhienen. Der im Selbftverlage des Inſtituts in deutfder, 
englifher und franzöfiiber Sprache herausgegebene Band I 
des Forfhungsinftituts, enthaltend die Abſchnitte: 1. An- 
gemeines aus Meteorologie und Klimatologie;, 2. Strap- 
lung; 3. Spezififh-medizinifhe Klimatologie und Höhen- 
tlima, bat in ärztlihen Kreifen viel Beachtung gefunden. 

Ueberbliden wir den Arbeitskreis der beiden Davofer 
Inftitute, fo ift es wohl keine Webertreibung zu fagen, daß 
e$ faum einen Zweig der Medizin und der eraften Matur- 
wiffenihaften gibt, zu dem fie niht Beziehung haben, und 
das Fundament derfelben bildet die Frage nah der Ba- 
riation der Erfheinungen mit dem Aufftieg in die Höhe 
unter der Wirfung der veränderten Flimatifhen Faktoren. 
Nahe lag es daher, Vertreter der Flimatologifhen Wiſſen⸗ 
ſchaft zufammenzubitten mit Vertretern der Taleidoffopartig 
mannigfahen biologifhen und medizinifhen Wiffenfhaften 
aus den verfchiedenften nördlichen und füdlihen, Eontinen- 
talen und Titoralen, Flag- und Hodländern zu gemein- 
famem Gedanfenaustaufhe vor der Deffentlihkeit. Die 
von hervorragenden Vertretern aller diefer Wiſſenſchafts⸗ 
jiweige zu erwartenden etwa SO Worträge und die anfchlie- 
fenden Diskuſſionen verfpreden eine WBereiherung ber 
Wiſſenſchaft. 


erſte Satz iſt gewiß falſch, denn ſonſt könnte ein Kind, 
das ohne alle Erfahrung iſt, nie etwas „Faf- 
fen”! Aug könnte nie ein neuer Gedanke auftauchen, 
nie eine neue Erfindung gemacht werden! Der zweite 
Sag ift ebenfo falſch, denn wie ih foeben erwähnt habe, 
wird durch millionenfahe Erfahrung beftätigt, daß bie 
Mafie „fein Ende” bat! Und da faft alle Dinge aus 
Mafie beſtehen, fo baben auh faft alle Dinge in biefem 
Sinne lein Ende — wenn fie aug fonft Jorm und Be- 
fhaffenheit ändern. Der Zerfall der Atome ift aub nur 
eine Veränderung; das Gewicht bleibt dasfelbe. Wir 
lernen daraus nur, daß die chemiſchen Elemente nog weiter 
zerlegt werten können, eine Tatſache, die eigentlid jeder 
Chemiker erwartet bat, obwohl alle früheren Erfahrungen 
witerfpraden! 

SR es nun nicht merkwürdig, daß wir totem Stoff 
unbedentlihb „Unfterblihkeit", d. 5. ewige Dauer, 
zugeftehen, die Tierfeele aber diefer „Ehre für un- 
bedingt unmwürdig balten und bei der Menfhenfeele 
aus dem Zweifel nicht beraustommen? So febr fiehen 
wir alle im Banne eines unbewuften Materiolismus! Wir 
follten dod wiflen, dag nur weil wir die Seele find, weil 
wir denken und ſchauen Fönnen, Erfahrung” und 
das von ibr Mermittelte eriftieren! Unfere eigene feelifche 





— — — — — 


Exiſtenz iſt alſo das Fundament des ganzen Gebäudes und 
es iſt ein Widerſpruch, ein oberes Stockwerk für un- 
erfhütterlih md dabei das Fundament als unfider an. 
zuſehen! 

Wie ſchwer iſt es doch für das naive Gemüt, zu er- 
fennen, daß unfer Körper, von deffen Eriften; wir doch 
felfenfeft überzeugt find, nur eine Erfahrung bdesfelben 
Seeliſchen ift, deffen Dauer, ja deffen Wirklichkeit wir 
bezweifeln! 
maden, daß er das Eeelifhe bloß für eine Funktion bes 
Körpers bielte, weil er nämlih die Frage nah der Seele 
mit der Abflammungsfrage verquidt. [Laffen wir einmal 
die Abſtammung vom Tiere ganz aus dem Spiel und be- 
fhränten uns auf ein Kind menihlider Eltern. Hat 
das denn feine Seele aud von diefen mitbekommen, als 
die Zellen, aus denen der Keim erwuchs, fih aus jenen 
Körpern Ioslöften? Ja, wenn die Menfchenfeele fo aus 
den Körpern ftammte, dann wäre fie aud Stoff wie fie! 
Wenn aber die Seele eine eigenwirklihe Wefenheit bat, 
fo fann fie doh nicht abhängig fein, weder im Entſtehen, 
nod im Vergehen, noh im Zufammen,,‚leben‘ mit biefem 
Korper, außer durh die Wechſelwirkung zwifhen ihm und 
ip. Seelen werden alfo nit gezeugt und die Frage 
nach dem erfien Menſchen in der auffteigenden Meihe der 
menſchenähnlichen Tiere beantwortet ſich höchſt einfah: Als 


— — — — 
ne ⸗ 











Naturwiſſ maate | und aturpbilof ophiſche Ui 


a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften. 

Das Ereignis des Tages iſt die Entdeckung der beiden 
höheren Homologen bes Elements Mangan durch die beiden 
deutfhen Forfher Noddad und Frl. Tade in Berlin- 
Dahlem. Man wird beim Lefen des Berichts, den die- 
felben in den „Naturwiſſenſchaften“ Mr. 26 geben, un- 
willfürlih an Oftwalds befanntes Wort erinnert, daß man 
Heutzutage eine wiflenihaftlihe Entdedung ähnlich wie ein 
Paar Stiefel auf Beftellung geben könne. In der Um- 
hau der legten Nummer berichteten wir von dem ver- 
geblihen Verſuch der Engländer DBoufanquet und Keely, 
die beiden Elemente Mr. 43 und 75 in Manganerzen auf- 
gafinden. Dap Modbad und Fri. Tade glücklicher waren, 
beruht in erfter Tinie darauf, daß fie das Problem zuerft 
nod gründliher nah allen Seiten theoretiſch durchdachten, 
ebe fie an die praftifhe Ausführung gingen. Auch bie 
beiden Engländer haben fih ganz richtig gefagt, daf bie 
geſuchten beiden Elemente als höhere Gegenftüde des Man- 
gans vermutlih in Gefellihaft mit diefem vorkommen wer- 
den (ähnlich wie das vor kurzem entdedte Hafnium mit 
feinem niederen Homologen, dem Zirkfonium, jufammen vor- 
kommt). Aber ber daraufhin angeftellte Verſuch, in aller- 
lei Manganerzen die Gefuhten aufzufinden, mißlang. N. 
und T. geben nun von folgender, dem periodifhen Syſtem 
entnommener Tabelle aus: 





8c TIV fer Mn Fe lo Ni eng Zn Gage As.. .. .. .... 







Y Zr Kb Mo — J RuRh Pd Ag f Cd In Sn 80 .. . . . . .. ..... 
La H Ta W — f Os ir Pt Au gH TI Ph Bi.. 
wo 0 


welde bie Elemente vom Scandium bis zum Uran unter 
Weglaffung der für das vorliegende Problem nicht in Be- 
tragt Fommenden enthält. Diefe Tabelle zeigt zunächſt, 
dap die beiden gefuchten Elemente, welhe an die Stellen 
der beiden Striche gehören, vermutlih äbnlih wie die 
benahbarten Elemente Y-La, Zr-Hi, Nb-Ta, 


Naturwiſſenſchaftliche und naturpbilofopbifhe Umſchan. 


Selbſt Herr A. M. könnte einen glauben 


203 


zum erften Male eine Menſchenſeele in dem Tier» 
Förper wohnte, da war der Menfh geihaffen! 
Heißt es nicht im zweiten Kapitel der Genefis: „Und Gott 
der Herr mahte den Menſchen aus einem Erdenkloß, und 
er blies ihm ein den lebendigen Odem in feine Nafe. Und 
alfo ward der Menih eine lebendige Seele. Cs bleibt 
bierbei unbeftimmt, in melher Weile Gott den Erbenfloß 
bearbeitete. Darüber find wir jeßt einigermaßen im Klaren: 
Wir willen jest, dap der Aufbau entwidelnd vor 
fi) ging, von ber Zelle bis zum höher und höher ent- 
widelten, vollendeteren Organismus. Was war jener Erden- 
kloß im Augenblid vor der Befeelung? Er muß doh ein 
durch und durch vollendeter Bau, das anatomifhe Wunder- 
wert des Körpers in betriebsfähiger Form geweſen fein! 
Wird das nun baburd herabgewürbdigt, daß wir es nicht 
mehr „Erdenkloß“ nennen, fondern als Probuft tierifdher 
Eltern erkennen? Der göttlihe Odem ift es doh, ber 
entiheidet. Und mwer þat fih je eingebildet, daß aug 
diefer vom Tier „abftamme‘’? 

Im übrigen meine ih, daß es den modernen Chriften 
nichts ſchaden Fönne, fih des alten geheimnisvollen Wortes 
von der „Miterlöfung aller Kreatur” durch Chriftus zu 
erinnern. Vielleicht gibt es Tierfeelen, die der Menſchen⸗ 
feele nicht ferne ſtehen? Große und weile Völker Haben 
dies geglaubt und glauben es nob. Prof. Dr. Dörr. 


— — -a 








— 


Mo-W, Ru-Os uſw. zuſammen vergeſellſchaftet vor- 
kommen werden, ſo daß es von vornherein zu erwarten iſt, 
daß man fie entweder beide zugleich oder keines von beiden. 
auffinden wird. Weiter erfheint es nicht wahrſcheinlich, 
daß beide befondere neue Mineralien bilden werden, fie 
werben vielmehr wahrfheinlih in bereits befannten Mine- 
ralien enthalten fein, jedoh in febr geringen Mengen. Nun 
léft fih für das vergefellfhaftere Vorkommen der hier an- 
gefhriebenen Elemente die Regel angeben, daß diefelben 
hbauptfählid in zwei großen Mineralgruppen vorkommen. 
Einerfeits bilden die in der Tabelle eingerabmten Cile- 
mente bie fogenannten Platinerze, andererfeits bilden die 
beiden außenftehenden Gruppen zufammen bie fog. Co- 
Iumbite, die jedoh auh noch die Elemente Cr, Mn und 
Fe enthalten, fo daß diefe drei den beiden Vorkommens⸗ 
freifen gemeinfam find. Won den beiden in Frage ftehen- 
den Elementen läßt fih wegen ihrer Stellung gerade auf 
der Grenze zwifhen diefen beiden Gruppen vorausfehen, 
daß fie ebenfalls ſowohl in den Platinerzgen wie in den 
Eolumbiten vorlommen könnten. rftere find gediegen, 
lestere orpdifher Natur. Auf Grund der Megel nun, daf 
Elemente mit ungerader Ordnungszahl im allgemeinen 
auf der Erdoberflähe etwa zebn- bis zwanzigmal feltener 
vorfommen, als die auf fie folgenden mit gerader Ord- 
nungszahl, läft fih vorausfehen, daß die Häufigkeit der 
fraglihen Elemente etwa ein Billionftel bis ein Zehn- 
billtonftel fein wird. Da das Platin etwa eine Häufig- 
feit von ein Milliardftel befist, fo läft fi hieraus vor- 
ausfehen, daß die Konzentration der Elemente 43 und 75 
im Platinerz ungefähr ein Taufendftel bis ein Zehntau- 
fendftel betragen wird. Cine äbnlihe Abfhäsung bei den 
Eolumbiten führt zu einem vermutlihen Gehalt von etwa 
ein SHunderttaufendftel bis ein Millionſtel. N. und T. 
überlegten nun weiter in derſelben Weife, wie es fdyon 
Mendelsjew beim Scandium, Galium und Germanium 
getan hatte, die vorausfihtlihen phyſikaliſchen und hemi- 
fhen Eigenfhaften beider Elemente und ihrer wichtigſten 
Verbindungen (Farben, Dichten, Schmelz- und Giede- 
punkte, Kriftallformen ufw.) und gingen dann daran, auf 


204 


Grund diefer vorauszufehenden Eigenſchaften durch geeig- 
nete chemiſche Trennungsverfahren aus ben Löſungen von 
Platinerzen bezw. Columbiten die beiden Elemente folange 


anzureihern, big bdiefelben mittels der Möntgenipektroflopie 


nahweisbar würden. Das Neue und Eigenartige an bdie- 
fem Verſuch war, daß im Anfange diefer Trennungen jede 
Kontrolle fehlte, weil die Konzentration der gefuchten Ele- 
mente, wie voraugzufehen, fo klein war, dap fie ſich einft- 
weilen der Feſtſtellung auh auf dem röntgenologifchen 
Wege entzogen. Erft nachdem die beiden Forſcher fozu- 
fagen im ‘Blinden eine ganze Reihe von analytifhen Ope 
rationen gemaht hatten — diejenigen nämlich, die man 
madhen mußte, wenn bie beiden Elemente die vorausge- 
fagten Eigenfhaften wirflid hatten — war die Komen- 
tration fo weit geftiegen, daß fie röntgenſpektroſkopiſch fap- 
bar wurden. Der höchſte erreichte Gehalt an Mr. 43 be- 
trug 0,5 Prozent, an Mr. 75 etwa 5 Prozent. Bei bie- 
fem Gehalte wurde nun in ber Tat eindeutig und ein- 
wandfrei das Worhandenfein der beiden Elemente mit 
Hilfe der carakteriftifhen Linien des Röntgenſpektrums 
(Mofelens Gefeg, fiche den Auffag von Möller in „Unfere 
Welt” Nr. 2 und 3, 1921) feſtgeſtellt. Die genauere 
Unterfuhung ber Eigenſchaften der Elemente ftebt noch 
aus, bis größere Mengen davon rein hergeftellt find. Bor 
5O Jahren wäre eine folde Leiftung als ein märdenhaftes 
Wunder beftaunt worden. Heute find wir ſchon fo daran 
gewöhnt, dag unfere phufifaliihen und chemiſchen Theorien 
in allen wefentlihen Punkten zutreffen, daß man aufer- 
halb der Fachkreiſe fhon faum mehr Notiz davon nimmt. 
Von einer Tatiahe aber verdient die weitefte Deffent- 
lichkeit Kenntnis zu nehmen. Am Schluß der Mitteilung 
der beiden Forſcher ſtehen folgende Säge: 

„Wir flagen für die neuentdbedten Ele 
mente folgende Namen vor: Für das Ele 
ment 43 nah unferer Otmar? den Nomen 
Mafurium (Ma) und für das Element 75 
nah dem deutſchen Rhein den Namen Rhe— 
nium (Re).” l 
. Das beißt deutfh geiprohen und gehandelt! Damit 
vergleihe man bdie läderliche franzöfiihe Eitelkeit, die es 
den franzöſiſchen Forſchern bisher nicht erlaubt, für das 
vor kurzem auf Grund der Bohrſchen Theorie entbedte 
Hafnium (Mr. 73) diefen von allen Kulturvölfern ange. 
nommenen Namen zu gebrauhen. Sie bleiben vielmehr 
bei dem Namen „Celtium“, weil angeblih zwei Sranzofen 
(Urbain und Dauvillier) dieſes Element entdedt hätten, 
die aber in Wahrheit, wie ihnen Hanfen und Werner nad. 
gewiefen haben, das bereits anderweitig bekannte Lutetium 
(Mr. 71) noh einmal „entdedt" haben. (Vgl. unfere 
Umfhau in Mr. 11, 1923.) | 

In den Tageszeitungen findet fih ein Artikel von 9. 
H. Krisinger über „eine unerwartete Wendung ber 
Einſteinſchen Theorie”, wonach einem Berliner Ober- 
ingenieur und Aftronomen namens Gramatzki es ge 
glückt wäre, mittels einer ganz neuartigen Mathematik 
die von ber Melativitätstheorie vorausgelagten aftronomi- 
ſchen Effekte (Ablenkung des Sirfternlihtes uſw.) vol- 
fommen abzuleiten, obne die Einfteinihen Vorausſetzungen 
binfihtlih des Zeitbegriffis. Diefe neue Mathematik 
fbeint allerdings nod) viel radifalere Zumutungen an unfer 
Abftraftionsvermögen ftellen zu wollen als die Relativitäts- 
theorie mit ihrer neuen Definition der Gleichzeitigkeit. Sie 
will nämlid das fonenannte Archimediſche Ariom auf- 
geben, wonadh jede Größe fo oft vervielfältigt gedacht 
werden Kann, daß fie jede andere ihr gleihartige Größe 
übertrifft. Indem Gr. diefes Ariom nit mehr wie alle 
bisherige Mathematik als Vorausſetzung unbewielen gelten 
lagt, fondern Abweihung davon zuläßt, Fommt er zu einer 
Maͤthematik, in der es den üblihen Begriff des Unend- 
lihen (und dementfprebend offenbar auh der unendlichen 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umſchau. 


Teilbarkeit) nicht mehr gibt, vielmehr eine abſolut größte 
und kleinſte Größe von vornherein feſtſteht. Offenbar iſt 
eine ſolche Mathematik von Natur mit der heutigen 
quantentheoretiſch beſtimmten Phyſik verwandter als bie 
alte Kontinuitäts- und Unendlichkeits(Differential)mathe⸗ 
matik, welche ihrerſeits völlig ber klaſſiſchen phyſſikaliſchen 
Auffaſſung bei Newton, Leibniz und Kant entſpricht. Leider 
war es mir bisher nicht möglich, mich näher über dieſe 
ſicherlich äußerſt intereſſante Frage zu unterrichten, ich 
hoffe aber, demnächſt Ausführlicheres darüber bringen 
zu können. Es ergeben ſich hier vielleicht noch 
viel weitertragende philoſophiſche Konſequenzen als 
bei der Relativitätstheorie. Gr. nennt ſeine neue 
Theorie „Limitentheorie“, er ſoll ſich nach Kr. mit Ein⸗ 
ftein ausführlich ausgeſprochen und dieſer fein beſonderes 
Intereſſe dafür gezeigt haben, was durchaus zu begreifen 
wäre, denn, wenn an der Sache wirklich etwas daran iſt, 
ſo liegt hier in der Tat eine ganz hervorragend wichtige 
mathematiſche Erfindung vor, die binnen kurzem ſich pu 
einem noch viel flaunenswerteren Gebäude auswachſen 
fünnte wie die Einſteinſche Theorie. 

Zu ber bereits mehrfah erwähnten Frage der „Sub 
eleltronen“ (vgl. die Aprilnummer) liegen wieder mehrere 
Beiträge vor, die zugunften der Konſtanz bes elektriſchen 
Elementarquantums und gegen Ehrenhbafts An- 
zweiflung berfelben ſprechen. Mattauch (Phyſikaliſche 
Zeitſchrift 25, 620; Phyſikaliſche Berigte 11, 769) be⸗ 
ſtimmte nah einer neuen Methode das Widerftandsgefeg 
für fallende Eleine Kugeln in Gaſen, welches eine weient- 
lihe Grundlage der Berehnung der Ladungen der Mili- 
kanſchen Tröpfhen bildet. Bär (C. R. suisses de phys.; 
Phyſikaliſche Berigte 11, 769) beftätigte von. neuem, daß 
die im eleftrifhen Funken zerftäubten feinen Metallteilden 
eine völlig abweihende Dichte gegenüber dem kompakren 
Metall befiken, z. B. Platin 0,8 bis 0,15, anftatt 21,4 
Durch diefe Dichteänderungen erklären ſich großenteils die 
iheinbaren Abweihungen vom Clementarquantum. Zwei 
beutfhe Forſcher, Ulrih und v. Gerbardt, haben 
ganz neueftens gezeigt, daB bie raſch befannt gewordene 
Mihelfonfhe Methode der Beftimmung von Firfterndurd- 
meflern ſich auh auf die bier in Rede ftehenden winzig 
Ficınen Teilhen anwenden läßt, und daf man fo eine vom 
Etofesihen, ſowie jedem anderen Fallgefeg unabhängige 
Größenbeftimmung für die Teilden befommt. Es fteht 
zu boffen, daß fo die Frage ihrer endgültigen Löſung näher⸗ 
geführt wird. (Maturwiflenihaften 24.) 

Ueber den für die Quantenlehre außerorbentlih wid- 
tigen Comptoneffekt (vgl. Mr. 6, 1925) unterrichtet fepe 
flar und leicht verftändlih ein Auffeg in Mr. 23 ber 
Maturwiffenfhaften, auf den wir alle für Phyſik inter- 
eflierten [Lefer dringend hinweifen. 

Vor einiger Zeit berichteten wir im Anſchluß an eine 
Kosmosnotiz über Verſuche einiger amerifanifher Forſcher. 
Wolframdräbte durh plöglide fehr ſtarke elel- 
trifhe Entladungen, bei denen Temperaturen von etwa 
15 000 Grad erreiht fein follten, zur Erplofion zu 
bringen. Die Forfher wollten dabei das Auftreten 
von Helium nachgewieſen baben und glaubten fo eine epe 
perimentelle Atomzertrümmerung gefunden zu haben. Jest 
find die Verſuche von einer Meihe von Engländern nag- 
gerrüft worden, es ergab fih aber dabei feine Spur von 
Helium. (Phrfikaliihe Berichte 11, 791; Journ. chem. 
soc. 127, 240.) 

Eeit langem befannt find die — Erſcheinun⸗ 
gen der Piezo⸗ und Pyroelektrizität an Kriſtallen (Ent- 
ſtehung eiektroſtatiſcher Ladungen an den Enden folder 
Kriſtalle durch Druck bezw. Erwärmung). Jüngſt bat 
Vrain (Proc. phys. soc. 36, 81; Phyſ. Berichte 
12, 839) nachgewieſen, daß ſich piezoelektriſche Wirkungen 
aud bei gewöhnlichen Iſolatoren (Hartgummi, Glas, 


Siegellack u. a.) erzeugen laffen. Br. fließt daraus, 
dağ diefen Stoffen eine ähnliche Bitterfiruftur wie ben 
Kriftallen zulommt, was fih durch röntgenographifhe Auf- 
nahmen beftätigte — Die Pproeleftrizität wurde bisher 
fat ausihliegid am Turmalin fludiert und gezeigt. 
£ucas (Journ. de phys. 4, 491; Pbyſikaliſche Berichte 
11, 780) zeigte, daß kräftige pyroelektriſche Wirkungen 
auch an den Fünftlih erzeugten Kriftallen des pP-Dime- 
tbylaminobenzylidentamphers zu erhalten find. 

Ein anderer, noh widhtigerer Erfolg in diefer Richtung 
des Erſatzes natürlider Kriſtalle durch Laboratoriums: 
produkte wedos Erzeugung gewifler, den Kriftallen eigen- 
tümliher Wirkungen ift anfheinend F. Stöber ger 
lungen. Seit Tabrzebnten leidet die Phyſikerwelt unter 
dem empfindlihen Mangel an binreihend großen, tlar 
burhfihtigen Kalkſpatſtücken. Die einzige Zundftelle der 
Welt, welche folde in dem erwünſchten Ausmaße liefert, 
land, it nahezu erſchöpft. Man gebrauht diefe Stüde 
dringend zur Anfertigung der (optiihen) Polarifationg- 
apparate, insbelondere der fog NRikolſchen Pris- 
men. (Ein befonders großes Kalkipatftüd, das einiger- 
maßen fehlerfrei ift, wird heute fat mit Gold aufge- 
wegen. Stöber gelang nun anfcheinend der ſchon oftmals, 
aber immer nur mit zweifelhaftem Erfolge unternommene 
Verſuch, einen künſtlichen, doppeltbrechenden Kriftall in 
größeren Eremplaren waflerflar berzuftellen. Er erzeugte 
Natriumnitratfriftalle, indem er die FEriftallifierende STüf- 
figleit von oben heizte und von unten abfühlte, um teine 
Konzentrationsftrömungen auflommen zu laffen. Aus 
einem ſolchen Kriftall von 4 Kilogramm Gewicht (!) ſchliff 
er dann eine geeignete Platte, die zwifhen zwei Glas- 
prismen eingelittet wurde. (Zeitihrift für Kriftalle 61, 
315; Pyfilaliihe Berigte 12, 860.) Diele Werfuhe 
verdienen, in großem Maßſtabe fortgefeßt zu werden; fie 
fonnen für die Phyſik von großer praftiiher Bedeutung 
werden. 

Eine vortreffliihd Elare und leicht verftändlihe Dar- 
elung der wefentlihen Grundlagen der berühmten Shap- 
leyſchen Entfernumgsbeflimmungen der Firſterne gibt 
Kienle in Nr. 26 der NMaturwiffenihaften unter dem 
Titel „„Aftronomie als angewandte Phyſik“. Durg ge- 
ſchickte Vergleiche gelingt es ihm, die ſchwierige Materie 
auch dem Laien reftlos verftändlih zu maden. 

In Mr. 25 derfelben Zeitihrift gibt Begard eine 
ausführlide Darftellung feiner Unterfuhungen über bie 
grüne Nordlichtlinie. 

b) Organiſche Naturwifienfchaften. 

Unter dem Titel „Das große Erperiment über Er- 
Faltung” berihtet K. Chodounsfy im Juliheft ber 
Sranffurter „Umſchau“ über die merkwürdige Tatſache, 
daß die Zahl der fogenannten Erkältungskrankheiten (Lun- 
genentzündung, Mandelentzündung und Gelentrbeumatis- 
mus) während des Krieges bei den Truppen des Feld- 
beeres 3. T. weit unter dem Durchſchnitt diefer Eckran- 
fungen bei Beſatzungsheer, Zivilbevöllferung und Friedens- 
peer geblieben ift, obgleih jene doch weit ftärfer den Fat- 
teren ausgefest waren, welde nad gewohnter Anfiht die 
Erkältung berbeiführen. Auch hat die Häufung und Per- 
manenz diefer Faktoren auf den lange beobachteten jahres- 
zeitlihen Rhythmus jener Erkrankungen feinen Einfluß 
ausüben können. Diefe Ergebniffe der Statiftif zwingen 
zweifellos zum Aufgeben vieler volkstümlicher Anſchau⸗ 
ungen über das Krankwerden durh Erkältung. 

Ehriftianfen-Weniger erörtert in Heft 20 
der Naturmiffenfhaften das Werhältnis der Biologie zur 
Matbematil. Seine Gedanken laffen ſich kurz folgender. 
mafen wiemmenfaflen: Wie in jeter Naturwiſſenſchaft 
muß auch in der Biologie das Endziel der Forſchung die 
mathematifhe Erfaflung der Maturgefeße fein. Die bis- 
berigen Verſuche in diefer Richtung haben aber nur zu 


Maturwiſſenſchaftliche und _naturpbiloforbifhe Umſchau. 


205 





matbematiihen Regeln der Maturerfheinungen geführt, 
nit zu Naturgeſetzen; höchſtens die Mendelſchen Spal- 
tungsregeln könnten als mathematifhes Naturgeſetz ange- 
fproden werden. Weberhaupt wird nah Anfiht des Ber- 
faflers das geftedte Ziel fters ein deal bleiben müſſen, da 
die Zahl der bei Lebensvorgängen wirkſamen Faktoren für 
eine mathematiihe Darftellung (oder, was dasfelbe ift, für 
eine vollftändige Erklärung) des Vorgangs zu groß ift. 
Daran ändert aud nichts, daB Kant das Gleiche von ber 
Chemie angenommen batte. Dagegen ift jederzeit die An- 
wendung der Mathematik als Hilfswiffenfhaft zur Ord⸗ 
nung der DBeobahtungsergebniffe möglich. 

Jn einem Aufſatz in Heft 24 der Naturwiſſenſchaften 
ınterfuht R. Fid die Grundlagen der modernen Ber- 
erbungslehren. Er fuhrt nachzuweiſen, dap alle Lehren, die 
die Ehromofomen in Zufammenhang mit ber Vererbung 
bringen, höchſt anfehtbare „Dogmen find. Als folge 
bigeihnet er die Theorie der Ehromofomenindividualität, 
das Getrenntbleiben der väterlihen und mütterlihen Chro- 
moſomen während ber Zellteilungen nah der Befruchtung, 
die als Synapſis bezeichnete Aneinanderlagerung der väter- 
lihen und mütterlihen Chromoſomen bei den Neifeteilun- 
gen und den gefchlehtsbeftimmenden Einflug der Ge 
ſchlechtschromoſomen. Daß Fid die Morganfhen Chromo- 
irmenfarten verwirft, it danach felbftverftändiihd. Wenn 
Fid nur den hypothetiſchen Charakter dieſer Lehren per- 
verheben wollte, wäre faum etwas dagegen einzuwenden. 
Er flellt fie aber als durdaus unzuläflig bin, da er ber 
Auſicht it, daß die Chromoſomen überhaupt nichts mit der 
Dererbung zu tun paben. Ein näheres Eingehen auf die 
vom Verfaſſer hierfür angeführten Gründe it bier natür- 
ih unmöglid; es fei nur darauf bingewielen, dap eine 
frühere, in den gleihen Bahnen fih bewegende Meröffent- 
lichung Fids von Bilar (Maturwiffenihaften 6, 25) 
ſcharf zurüdgewiefen worden ift. Die damals von bdiefem 
gemachten Einwände werden auh durd den neuen Auffas 
nicht entfräftet. 

Den heutigen Stand der nzuchtfrage behandelt eine 


. Ärbeit von Kronaher (Zeitfhrift für Tiersühtung 


und Zühtungsbiologie 2, 24; Naturmwiffenihaften 20, 25). 
Die in vielen Fällen günftigen Wirkungen der Inzucht be- 
werfen, daB Inzuchtſchäden feine Folge ber Inzucht als 
folher find, fondern daß die Inzucht nur bereits vor- 
bandene ſchädliche Eigenſchaften oder folde, die fig bei 
jeder Zucht einftellen, ſchneller ans Licht bringt. Hand in 
Hand mit der Inzucht muß alfo die Ausfheidung ber 
minderwertigen Invividuen geben, damit die Inzucht den 
gewünfhten Erfolg hat. Dagegen bedürfen die Tinzudt- 
tiere Feiner befleren Pflege wie andere. Für die Tier- 
zucht ift die Inzuchtfrage von der größten Bedeutung, da 
die Inzucht der ſchnellſte Weg ift, um reinraffige Bugten 
zu erhalten. 

W. Goetſch, über defen Verſuche zum Unfterblid- 
leitsproblem der Vielzeller bier jhon mehrfach berichtet 
wurde, ift neuerdings der Nachweis gelungen, daß bei 
Süßwaſſerpolypen der befannten Gattung Hydra jede 
Vermehrung, aug die durch Knoſpung, durd geſchickte 
Regelung der Nahrungszufuhr künſtlich unterbrüdt wer- 
den fann ohne. Schaden für das Tier. Alle Meubildungen 
bleiben dann alfo dem Einzelwefen erhalten, und da bie 
Hydroidpolypen faft ganz aus dauernd teilungsfähig blei- 
benden Zellen beiteben, die nah den Berfuchsergebniffen 
Erdmanns potentiell unfterblih find, ſchließt Goetſch 
mit Redt, müßten fih folde Individuen ewig” am 
Leben balten laffen. 

Immer mebr Unterfuhungen ber feelifhen Fähigkeiten 
der niederen Tiere zeigen, wie falfh die auf Descartes 
zurüdgebende Auffaffung ift, die in den niederen Tieren 
nur Maſchinen (Meflerautomaten) feben will. Immer 
mehr ſchon für Meflere gehaltene Reaktionen ftellen fig 


206 
als echte Inſtinkthandlungen heraus. Für den Bauinſtinkt 
der Köcherfliegenlarve, die ſich zum Schutz ihres weichen 








Hinterleibes aus Steinchen, Schneckenſchalen und Holy 


fplittern ein Gehäuſe baut, weiſt das Bierens de 
Haan (Biidragen tot de Dierkunde, Afl. 22; Matur- 
wiffenfhaften 17, 25) nah. Bei feinen Beobachtungen 
jeigte es fi, daß die Larve die Baumaterialien verfchieden 
wertet: ein und dasfelbe Material, dag, allein geboten, als 
Baufloff angenommen wurde, wurde, wenn gleichzeitig 
anderes zur Verfügung ftand, verfhmäht. Handelte es fid 
um einen bloßen Mefler, fo müßte das Material flets die 
gleihe Wirkung auf das Tier ausüben. 

Ueber den Tertiärmenih in England fhreibt Freu- 
denberg in Heft 21 der Naturwiſſenſchaften. Cr ver- 
tritt die Anficht, daß wir die beiden Piltdowner Funde ale 
Stelettrefte bes Menfhen der Tertiärzeit (Pliozän) angu. 
feben baben, des Derfertigers der zahlreihen Eolithe Süd- 
oft-Englands. 

Entgegen der bisher allgemein als ridhtig angenommenen 
Anfiht, daß den Gefäßen in der Pflanze nur die Waffer- 
leitung von unten nad oben, den Eiebröhren dagegen bie 
Leitung der in den Blättern bergeftellten Nahrunasftoffe 
in den Stamm ufällt, vertritt Diro.ı in einer Edrift 
über den Tranfpirationsftrom die Anfidit, daß die Gefäße 
auch die Leitung ber organifhen Beſtandteile nah allen 
Richtungen zu beforgen baben. 

Jn Heft 15 der „Natur 1925 berihtet W. Goetſch 
von nod nicht veröffentlihten Werfuhen von A. Schal⸗ 
ler über das Geruhsvermögen der Wafjerinfelten, deren 
Ergebnis die Erkenntnis ift, daß Waſſerinſekten nicht nur 
Seihmads-, fondern auch Geruchsſinn befisen, und daf 
beide Sinne in verfhiedenen Organen ihren Sig haben, 
ein neuer Beweis gegen die Nagelſche Anfiht, nah der 
MWaffertiere nur Gefhmadsfinn paben. 

Die überrafhende Entdedung, dab Megenwürmer zu 


Lautäußerungen fähig find, glaubt Mangold gemadt 


zu haben, wie wir einer, „der .fingende‘ Regenwurm“ 
überfhriebenen Notiz der Natur (14, 25) entnehmen. Es 
fol fib um flötende und ſchnalzende Laute ſowie fonar- 
rende Geräufhe Handeln, die auf vier Meter Entfernung 
noch hörbar find. Ob fih die Entdeckung beftätigt, wird 
abzuwarten fein. Wie auh die Schriftleitung der Natur 
hervorhebt, könnte es fih auch um Kratzgeräuſche der Bor- 
ften handeln. Falls die Entdedung ſich beftätigen folte, 
fo wäre das wieder ein Beweis, wieviel gerade bei den 
alltäglihften Tieren noh zu entdeden ift. 

Nach Anfihs vieler Geologen war die Themfe in ber 
Eiszeit ein Mebenflug des Rheins. Einen tiergengraphi- 
fhen Beweis für ben früheren Zuſammenhang von Rhein 
und Themfe führt v Benthem Juttiny in „Die 
Erde‘ 1, 1925, an. Don den 50 MWeihtierarten, die im 
Laufe des Rheins vorfommen, finden fih alle bis auf 4 
oder 8 Prozent auh in der Ihemfe vor, während in den 
feftländifhen Flüffen 17 oder 34 Prozent fehlen. Die 
Arten, die in der Themfe vorfommen, trifft man alle aud 
im Rhein an. 

c) Naturphiloſophie und Weltanfhauung. 

An Nürnberg þat vor einiger Zeit eine „Mudermann- 
woche” flattgefunden, während der der bekannte Sefuit 
und Raſſenhpgieniker eine Reihe von Worträgen über bie 
biologiihen Grundlagen der Volksgeſundheit hielt. Won 
Intereſſe war mir der Bericht, den Dr. E. Zeltner in 
der von Pfarrer Merkel in Mürnberg heraus- 
gegebenen (übrigens febr gediegenen) Zeitſchrift Chriften- 
tum und Wirklichkeit‘ darüber erftattet. Er greift darin 
befonders den zweiten Vortrag M.s über „Vererbung und 
Menſchenlos“ an. Darin feien zwar die WMWererbungs- 
geſetze meifterhaft und eindrudsvoll entwidelt worden, aber 
es babe fidh dabei doh „die ganze Armfeligleit der natur- 
miffenihaftlihen Betrachtung gegenüber den tieferen Fragen 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 


— — —— — 








des Lebens gezeigt. Z. entwickelt nun in eindringlichen, 
von ſehr warmem Gefühl diktierten Worten die vielen 
Gründe, die vom Standpunkt einer auf das Individuum 
eingeſtellten Ethik gegen eine naturwiſſenſchaftliche Sche⸗ 
matiſierung ber höchſten menſchlichen Beziehungen, insbe- 
ſondere der Ehe, ſprechen. Man muß ihm in vielem 
Recht geben, und doch hatte ich den Eindruck, als ob er 
an Muckermann vorbeiredet, und darum erwähne ich den 
Vorfall bier, weil er mir tyypiſch erſchien für die Art, 
wie noh immer die Dertreter der Religion und die ber 
Wiſſenſchaft (M. it in diefem Fale einer ber lesteren) 
an einander vorbeireden. Wielleiht liegt es an M.s 
Ihemafaffung, vielleiht hat er felber auch zu ftark in feinem 
Vortrag das individuelle Megifter gezogen, alfo feine Rede 
auf den Ton eingneftimmt, daß „ein junges Ehepaar”, um 
glüdlih zu werden, die und die biologiihen Einfichten be- 
rückſichtigen müfle. Aber jedenfalls bat 3. vergefien, daf 
dies offenbar im lebten Grunde nidht der Kernpunft von 
M.s Gedanken ift, fondern vielmehr der Geſichtspunkt der 
Volksgeſundheit, auch wenn er diefen nicht febr ſtark be- 
tont baben folte. Aub 3. kommt mit all feinen Aus- 
führungen nicht weiter als bis zu dem Gage: belfen könne 
uns Deutihen einzig und allein die ewige Wahrheit: einer 
trage des andern Taf. (Es fiebt alfo gar nicht, daß diefer 
gewiß für das Verhältnis von Menih zu Menih fundea- 
mental richtige und wichtige Sag gar nicht zur Debatte 
fiebt, wenn es fih um das Problem handelt, wie ber 
rafliihen Degeneration abzubelfen ift, die uns bedroht und 
vor der uns feine noh fo tief dringende 
Chriftianifierung unferes individuellen 
lebens allein rettet. Aug 3. glaubt in ber 
felben naiven Weife, wie die große Mehrzabl unferer 
freibenterifhen und fozialiftiihen MWolfeneglüder, an bie 
allmählihe Heraufzüchtung bezw. Herabjühtung des 
Volksdurchſchnitts dury pofitive oder negative ſittlich⸗ 
ſoziale Milieubedingungen, alfo gerade an die unfelige 
Lehre von ber MWererbung erworbener Eigenſchaften, die 
M. mit Redt bekämpft hat, wie aus 3.8 Referat ber- 
vorgeht. Er fieht immer noh nicht, daß man auf diefe 
Weile zwar wohl dem Invidiuum fein Dafein erleichtert, 
daß aber damit für die Gefamtheit niht nur nichts Be- 
wonnen wird, vielmehr gerade umgelehrt bie andauernde 
Gefahr der negativen Ausleſe befteht. 

Der Vorfall ift, wie geſagt, typiſch, denn es zeigt fió 
bier an einem Schulbeiſpiel, wie verberblih es werden 
fann, wenn das Chriftentum fo völlig indivibualiftiih ge- 
foßt wird, wie es zumeift geſchieht. Der Sag des Chri- 
ftentums „Was hülfe es dem Menfchen uſw.“ wird im 
Chriſtentum zumeift dahin umgebogen: „Was liegt an ber 
Welt, au der Volksgeſamtheit, wenn nur die einzelnen 
Seelen gerettet werden.” (Vgl. meinen Auffas über das 
„Problem des Uebels“.) Beftenfalls verfuht man, wie 
3. «8 auch tut, mit der Frage, was aus ber Geſamtheit 
werben fol, ſich dadurch abzufinden, daß man einfah er- 
HMärt: wenn nur die einzelnen Seelen nad 
Möglichkeit gefördert und gebeffert wer 
den, dann wird das Ganze von felber den 
Nutzen davon haben. Man fragt fih aber 
nıht, ob niht eben die zur Förderung des 
Einzelfeelenbeils ergriffenen Maßnah— 
men naturnotwendig die Befamtheit fo 
ſchädigen müffen, daß jene indbirefte gute 
Wirkung dadurch auf die Dauer dog illn- 
forifh gemacht wird Jo will ein beftimmtes 
Beifpiel feren, um es ganz beutlih zu fagen. Angenom⸗ 
men, aus 100 erblid minderwertigen Familien ſtammen 
300 erblih belaftete Kinder. Das übliche Chriftentum 
firdert nun weiter nights, als daß man von biefen 300 
Kindern möglihft viele noh rette”, d. b. zu Teiblih mit 
den ſozialen Forderungen fih noch vertragenden Menſchen 


— 


— — 70 — — — 





erziebe. Nebmen wir im günftigen Falle an, daß dies 
bei 10 Prozent derfelben, alfo 30, gelinge (die Zahl wird 
nicht zu niedrig gegriffen fein, es kommt aber auf ibre 
Größe nicht an). Die andern 270 mißraten aber und 
— ſoweit nicht zum Glüd die mit ftärfer werdender De- 
aeneration zumeist gefteigerte Unfruchtbarkeit das abänder: 
— erzeugen fie, fagen wir rund: wieder mindeftens 300 
erblih belaftete Kinder. Aber aud die „Geretteten“, fo- 
fern fie nicht mit Höberwertigen die Ehe eingeben, er- 
seugen feine erblich beffer veranlagten Kinder, fondern von 
ihren Kindern gerät aud nur ein Fleiner Bruchteil im 
Verhältnis zu dem in einer normalen Ebe. Daran fann 
ale nod) fo gut gemeinte Erziehung gar nichts ändern, 
denn die Gefege der Vererbung find nun einmal da und 
laffen fih weder durch mjeren guten, nod durch unfrren 
bojen Willen abändern. Demgegenüber fordert nun Die 
moderne Raſſenhygiene — ih weißt allerdings nihi, wie 
weit Mudermann felber bier miigebt —, daß man vom 
Standpunkte der Volksgeſundheit wenigftens ernftlih er- 
wägen jolle, wie den üblen Folgen folder Erbaltungs- 
velitit vorzubeugen fei. Denn es ift dodh Far, daß die 
jorgfältige Pflege, die vom driftlih - individualiftiihen 
Standpunkte aus den Minderwertigen zuteil wird, wenig- 
tens einem erheblich größeren Bruchteil derfelben das Fort- 
leben und damit auh die Fortpflanzung ermöglidt, als 
fenfit dazu fommen würde, daß alfo bier negative Aus- 
teje“ tarfahlih getrieben wird. Mit diefer Forderung 


foenn man nun nicht einfach fertig werden durch den er- 
ncuten Hinweis auf die vom Chriftentum geforderten indi- 
eiduellen Werte. Denn das kommt ſchließlich darauf bin- 
aus, dag man, um dem Gott des zweiten Artifels zu ge- 
nügen, dem des eriten jeine Schöpfung vor die Füße wirft. 
Hier liegtm. È. eines der Örundprobleme 


Neue Literatur. l | 207 











des heutigen Ehriftentums. Dürfen wir das 
lettere fo individualiftifh überhaupt faflen, wie es zumeift, 
und zwar im Proteftantismus noh mehr als im Katholi- 
zismus gefaßt wird? Liegt Gott das Wohlergehen ganzer 
DVölfer weniger am Herzen als das des einzelnen Men- 
ſchen? Geſchieht fein Wille wie im Himmel alfo aud 
auf Erden‘, wenn zugunften der legteren die erfteren aufs 
Spiel gefest werden? Solche Fragen unjeren driftlid 
gefinnten Zeitgenoffen, Theologen wie Laien, ins Gewiſſen 
zu fchieben, dazu find alle riftlih gefinnten Naturwiflen- 
ihaftler im befonderen Sinne berufen, und fo meint es 
vermutlihb auch im legten Grunde Mudermann, wenn er 
eg als firenggläubiger Katholik vielleiht audi nicht fagen 
will, da die katholiſche Kirche in mandem Betracht nod) 
weltabgewandter ift als die evangelifhe. Es ift aber im 
böhften Maße cdarakteriftiih für das gegenwärtige Ber- 
bältnis der beiden Kirchen zur Kultur, daß aud auf die- 
jem Gebiete ein Wertreter der katholiſchen Kirde eine 
führende Molle fpielt, während es zwar viele evangelijche 
Forſcher, aber meines Wiffens feinen einzigen offiziellen 
Vertreter der Kirche gibt, der mit folhen Fragen an die 
Deffentlihleit träte. Die evangelifhe Kirche, die weder 
durh eine (an fih völlig unnatürliche) politiihe Ehe mit 
der freidenferifhen Demofratie gebunden, noh durd eine 
ſtark asketiſch beeinflußte Tradition belaftet ift, die viei- 
mehr von Anfang an ein viel pofitiveres Werbältnis zu 
den natürlihen Aufgaben diefer Welt gehabt bat (Luther, 
Calvin) hätte alle Urſache, fih aud einmal auf dieje Seite 
ibrer Aufgabe zu befinnen. Statt deffen vergräbt fie fib 
beute immer tiefer in Gubjeftivismus und Myſtizismus 
und läßt die Führung der Kultur in erfhredendem Mafe 
aus den Händen gleiten. 





A. Müller, Einleitung in die Philofopbie. F. Dümm— 
lers Verlag, Bonn. 171 ©. 1. Band: „Leitfaden der 
Pbiloſophie“, herausgegeben von Dozenten der Univerfitäten 
Bonn und Köln. Ein ausgezeihnetes Werfen, einmal 
etwas ganz anderes als die übliben Einleitungen, die fid 
auf die Darlegung der verfchiedenen Standpunkte be- 
ihränfen. Müller, von dem wir jhon früber mehrfad 
Schriften bier angezeigt baben, ift einer der bisher nod 
wenigen aber tüchtigen Vertreter der Meinong-Hufferlichen 
Ari des Pbhilofopbierens. Er gebt auh in dieſer „Ein- 
leitung“ von der Gegenftandstbeorie aus. Was 
er [ier auf nur vier Seiten in zufammengedrängtefter 
Sorm bietet, ift geradezu erftaunlid. Man fühle fih mit 
einem Schlage in eine ganz andere Art des Philoſophie— 
rens verfeßt, als die ift, bei der wir unfere philoſophiſche 
Ausbildung erbielten. Hier „gibt es” einfah die vier 
Klaffen der finnlihen, der überfinnliben, der idealen 
Gegenftände und der Werte und bei den leßteren, von 
denen eg wiederum vier Arten gibt (Logifche, ethiſche, äftbe- 
tiſche und religiöfe), hält ſich M. auh nicht lange mit der 
Unierfubung darüber auf, ob man fie überhaupt zu Medi 
aufftellt, fondern er fagt einfah: „Werte laffen fib niht 
nachweiſen. Sie bedürfen aber auh eines Nachweiſes fo 
wenig wie die Eriftenz des Kölner Domes oder der Sonne. 
Sie lafen fib nur aufzeigen, aufweifen. Man fann, wie 
ih es mit dem Leſer noh tun werde, die Menfhen nur 
binfübren und fagen: Bitte, febt! Wer fie nicht fiebt, ift 





eben blind dafür.” Auf diefer Grundlage baut nun M. 
feine weitere Einteilung auf. Die beiden erften Kapitel 
behandeln die Struktur des logiſchen Wertes, d. i. die 
Logik, und die Leiſtung desfelben, d. i. die Erkenntnis— 
theorie. Es folgen die Problemfreife des ethiſchen, äfthe- 
tiihen und religiöfen Wertes, fodann nah einem das Ver- 
baltnis von Religion und Recht behandelnden Zwifden- 
tüd die Metaphyſik als Problemfreis der überfinnlihen 
Gegenftände (wobei man aber niht etwa an Gefpenfter 
und dergleihen, fondern an ©egenftände wie etwa Kau- 
ſalität und Subſtanz und dergleihen zu denken bat, ferner 
beipriht M. in diefem Kapitel die befannten Fragen Me- 
hanismus — Vitalismus, Körper — Seele ufw. Nach 
einem weiteren Abſchnitt, der den Problemen der Welt- 
anſchauung gewidmet ift, folgt am Schluß erft die Be- 
antwortung der Frage, was eigentlih Pbilofopbie fei. M. 
findet, daß fie in zwei wefentlih verihiedene Gebiete, die 
Lehre von den geltenden Werten und die von den über- 
feienden (metaphyſiſchen) Gegenftänden zerfällt, die beide 
niht gut in einer einzigen Wiſſenſchaft zufammengefaßt 
werden könnten. Er läßt eg aber dabingeftellt, welchem 
der beiden Teile fchließlih der Anfprub auf den Namen 
Philoſophie zufallen folle. — Es ift leider unmöglid, 
auf dem FEurzen, bier zur Werfügung ftebenden Maume 
einen Eindrud von der Fülle neuartiger Geſichtspunkte zu 
geben, die das Fleine Bändchen bietet. Es ift ein Genufi 
für jeden bereits der Philoſophie kundigen Lefer, die Sahe 





einmal von diefem, befonderg proteftantifhen Kreifen völlig 
ungewebnien Standpunkte aus dargeftellt zu finden. Ob 
freilich der Anfänger trog der zahlreihen Verweiſungen 
auf weitere Literatur die außerordentlih Enapp zufammen- 
aedrängten Süße des Werfaflers fo leicht verſtehen wird, 
mode ih nicht unbedingt glauben, empfehle das Büchlein 
aber dringend der Beachtung aller, die fon ein wenig 
Ahnung von philofopbifhdem Denten baben. t. 
Hans Dried, „Metaphyſik“ (Verlag von Gerd 
Hirt in Breslau, 1924. 100 Seiten, Preis 3 M.) In 
der „Jedermanns Bücherei“ gibt Driefh eine Einführung 
in jein metaphyſiſches Syſtem. Der Weg, weldhen er da- 
bei gebt, ift wiederum derjenige von der „Ordnungslehre“ 
zur „Wirklichkeitslehre“. Die erfte zeigt die Ordnung 
unter unferen Erkenntnisobjekten und wirft damit die 
Grage nadh dem Grund berfelben auf, weldhe dann von ber 
weiten beantwortet werden fol. Zur Verfügung fteben 
diefer dazu gewifle Methoden des Aufftiegs von der empiri- 
iden zur metaphyſiſchen Wirklichkeit, deren wichtigſte dic 
Induktion ift, fowie einige Säge und Poftulate. Die 
Anwendbarkeit derfelben fuht Driefh dann an einigen meta: 
phyſiſchen Sonderproblemen darzulegen, wie dem Problem 
des Raumes oder dem Freiheitsproblem, obne fie damit 
jedoch als beſonders frudhtbar erweifen zu Fönnen. Denn 
die Methode, eindrucksvolle Tarbeftände der Erſcheinungs 
welt auch als metaphyſiſch eriftierend anzuerkennen, — vgl. 
den neuen Gefihrspunft zum Freiheitsproblem „Ein fehr 
tart und deutlich ausgeprägter Weſenszug der empirifhen 
Wirklichkeit darf nicht metaphyſiſch als überflüffig ange- 
jeben werden — erbebt dodh aud die ihnen entgegengefeß- 
tea Erfheinungen zu derfelben lebten Wirklichkeit und ver- 
obfolutieri damit nur den egenfag der beiden, ftatt 
thn aufzuloien. Allerdings möchte Driefh über diefen 
Gegenfäßen die fie überfpannenden Ganzheitsfaftoren er- 
fennbar maden, um fdließlih zu der Gottheit als dem 
Urgrund aller Ganzheit aufzufteigen. Allein eine folde 
Darftellung, welde die das Problem erzeugenden Gegen- 
iage immer nur als die Pole derfelben inneren Spannung 
aſcheinen laffen, jedoh niemals zu iſolierten Tatbeſtänden zer- 
trennen dürfte, it in wiſſenſchaftlicher Sprade febr fchwer 
zu geben und in derjenigen Drieſch's vielleicht noch ganz 


befondere. tt. 
3. Neef, Der Geit der Wiſſenſchaft. Sammlung 
„Wiſſen und Wirken”, Verlag Braun, Karlsrube. 1925. 


2.— M. Eine von feinem Verſtändnis für die verſchie 
denften Zweige der Wiffenfchaft und forgfältiger Vertiefung 
in die große auf das Problem der Wiflenfhaftsabgren: 
zung bezüglihe Literatur zeugende Arbeit, die befonders 
wertvoll ift durd die vielen fhönen Zitate aus den Werten 
EHaffiiher und moderner Autoren. Nad einem erften 
Hauptteil, der in geſchichtlicher Darftellung die Entwidlung 
der modernen Wiffenihaft von der griehifhen Zeit an 
widnet, befpriht der Derfafler im zweiten „die Struftur 
der Wiſſenſchaften“. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die 
Vaturwiflenibaft Erkenntnis von Geſetzen, geleitet von 
dem Sireben nag Identität, die Geſchichtswiſſenſchaft Er- 
tenntnis des individuellen als intenfiv wirkenden Madıt- 
vellen und die Biologie, Soziologie und Kulturgefhichte 
Erkenntnis von Ganzheiten, geleitet vom Gefihtsrunft der 
teleologiihen Werbundenbeit, fei. Jm großen und ganzen 
find das befannte Formulierungen, auch it der Verſuch 
won oft gemacht, den Gegenfaß zwiſchen der Naturwiſſen⸗ 
ſchaft und den beiden anderen Gebieten dadurd zu mildern, 
daß man, fo wie eg der Verfaſſer im dritten Kapitel tut, 
aud das Muterielle nur als fozufagen erftarrtes Pſychiſches 
auffaßt, ribtiger: als ein Produkt des erfennenden Geiftes, 
der nad Rube im Fluß der Erfheinungen fuht und diefe 
in dem bleibenden Geſetz, der bleibenden Maßbeziehung ulm. 
findet. Ich muß freilih betonen, daf ih gegen diefe 
(idealiſtiſche) Umbiegung einer beftimmten Seinsart in eine 


Neue Literatur. 


. Begabung. 


— no — — — 


bloße beſondere Erkenntnisweiſe erhebliche Bedenken habe, 
empfeble aber das Büchlein trotzdem gern wegen ſeiner 
vielen feinen und treffenden Beleuchtungen ſowohl des 
naturwiſſenſchaftlichen wie des geſchichtlichen und biologiſchen 
Gebietes. 


D. Deſſauer, Leben, Natur, Religion. (Verlag 
Cohen, Bonn. 140 S.) Ein ganz ausgezeichnetes Buch, 
zu dem Beſten gehörend, was mir in der letzten Zeit vor 
Augen gekommen iſt. Der Verfaſſer iſt Profeſſor an der 
Univerſität Frankfurt, Leiter des dortigen Inſtituts für 
phyſikaliſche Grundlagen der Medizin, zugleich ſtark philo⸗ 
ſophiſch intereſſiert, außerdem aber Zentrumsabgeordneter 
im Reichstag. Man erſieht ſchon daraus feine vielſeitige 
Und dies Urteil beſtätigt ſich, wenn man dies 
wundervoll klare, von echteſter Wiſſenſchaftlichkeit ebenſo 
wie von warmem religiöſem Gefühl getragene Büchlein lieſt, 
das ich wie nur ganz wenige in unſerer Zeit geeignet halie, 
Suchenden und Fragenden aus dem Lager der Naturwiſſen 
ſchaften und vor allem der Technik den Weg zur Religion 
wieder zu bahnen. Es iſt faſt unmöglich, von dem reichen 
Inhalte desſelben eine ausreichende Vorſtellung zu geben, 
chne das halbe Bud abzuſchreiben. Beſonders glücklich er- 
ſchien mir das erſte Kapitel, wo der Derfaffer die Role 
der Religion im zeitgenöflifhen Leben caralterifiert. Den 
Grundgedanken bringt das zweite und dritte Kapitel. D. 
will bier, ähnlich wie Dennert mit feinem „Spiel- 
doſengleichnis“, zeigen, daß und warum die mehanifhe (tan 
fale) Geſetzmäßigkeit die Leitung” durch höhere Ziele nidi 
ausfchließt. Sehr anregend ift dabei feine Fiktion eines 
total unmuſikaliſchen Phyſikers, der, vielleiht von einem 
anderen Planeten fommend, bier bei uns ein Muſikſtück 
mit phyſikaliſchen Mitteln unterfuhen würde. Er würde 
niht nur (nah D.) die faufalen Faktoren der Tonerzeugung 
ufm. ergründen, fondern aud gewifle eigentümliche Regel- 
mäßigleiten der Tonfolge bemerken (das, was wir die 
„Melodie“ nennen), die er fih auf feine andere Weife zu 
erflären vermödte, als durch die Hypotheſe, daf nod) irgend 
ein ibm unbekannt gebliebenes böheres Geſetz diefe Ton- 
folge regele, falls er es nicht vorzöge, als „Agnoſtiker“ auf 
jede folhe Hypotheſe von vornherein zu versihten. (Ich 
babe zwar nit unerbeblide Bedenken gegen diefen Schluß, 
aber er it immerbin febr nachdenkenswert.) Weiterhin 
fiel mir ganz befonders die erihütiernde Darftellung des 
Iheodizeeproblems im legten Kapitel auf, we ſich D.s Ee 
danfengänge teilweife fat wörtlid berühren mit vielem, 
was ih in „Anfere Welt‘, insbefondere in den Nummern 
1 bis 3 diefes Jahres, dazu geäußert babe. Fünf mert 
ville Anhänge bebandeln im erften die Frage der eraften 
oder ſtatiſtiſchen Maturgefeslihkeit, im weiten ben ver- 
breiteten Denffehler des „Nur-Schluſſes“ (aus dem Easg: 
dies ift richtig, mat man den Sag: nur dies ift rihrig), 
im dritten die Melativitärsibeorie und den Laplaceſchen 
Weltgeift, in den beiden legten das Weſen der TIchnit. 
Tiefe Testen beiden find befonders wertvoll. D. definiert 
die Technik als „Fortſetzung der Schörfung‘ duro den be- 
wußten DVerftand des Menſchen, er zeigt deutlich, wie völlig 
unbaltbar die weit verbreitete Meinung ift, die Technik fei 
nichte als „angewandte Maturwiflenihaft” und fei ihrer 
Matur nah reiner Urilitarismus. Gerade, dağ er bier 
ein fo feines Verſtändnis für die böberen Gefihis;untte 
aller tehnifhen Arbeit zeigt, wird ibm hoffentlich audy in 
den Kreijen der Technik ſolche Lefer erweden, die aud feinen 
anderen Ausführungen millig zubören. Mur durd ſolches 
Verftindnis, nicht durd Schimpfen und Verächtlichmachen 
der niinderwertigen „bloßen Zivilifation‘ werden wir dazu 
kommen, Die tiefe Kluft zu überbrüden, die zu unferen: 
Verderben beute die Manner der erakten Wiffenihaft und 
ter fchaffenden Arbeit von den Wertretungen der höheren 
idealen Kulturmwerte, insbefondere der Religion, trennt. 
Ganz befonders in diefem Betracht it Deſſauers Bug eine 


— — Sue — — 


vorbildliche Leiſtung. Ich empfehle es befonders deshalb 
ule Geſchenkwert für folche im techniſchen ober wirtſchaft · 
liben Leben ſtehende Männer. (Es atmet überall männliche 
Kraft und ſtrenge Sahlichkeit, von konfeſſioneller Enge ift 
nicht die leiſeſte Spur darin. Ich hoffe demnächſt ein 
größeres Stück davon in einem beſonderen Aufſatz abdrucken 
zu können. 

Auf ganz anderem Boden ſteht €. 3Zſchimmer, Philo: 
iopbie der Technik. (Jenaer Volksbuchhandlung, Jena, 
1919. Preis 1 A.) Dieſes Buch batte ih auf Grund 
einer arten Empfeblung von kompetenter Seite zur Be- 
ſprechung angefordert. Der Derfafler, früher Angeftellter 
der Zeißwerke in Jena, it gegenwärtig Profeflor in Karls- 
rube. einer politifhen Einftelung nit nur, fondern 
auch feiner weltanfhaulih religiöfen nah fcheint er ziem- 
lich weit links au fteben, und ich Fönnte mir denten, daß 
‚ein Wert in den Kreijen des Deutfhen Moniftenbundee 
febr günftig beurteilt würde. Wenn ih es trotzdem aud 
hier zur Lektüre empfehle, fo geſchieht es deshalb, weil e> 
oentih wie das Deffauerfhe Bud vorzüglich geeignet ift, 
ſchiefe und falfhe Lirteile über das Wefen und die Be- 
deutung tehnifher Kultur zu zerftören. Der DBerfafler 
befampft in ibm aufs fhärfite das, was er den „Unſinn 
uber die Technik“ nennt (die Auffaffung, daß Technik weiter 
nichts als zu allerlei nützlichen Zweden angewandte Natur- 
wiffenihaft fei.) Das it fein gutes Redt, und um diefes 
Rechtes willen möge man fein Buch mit Aufmerkfamfeit 
liefen. Ueber das Ziel hinaus dagegen fchießt er, wenn er 
nun feinerfeits den Herren, die den deutſchen Idealismus 
gerachtet zu baben glauben“ und die von „der Wiſſenſchaft 
um der Wiffenfhaft willen‘ reden, die Theſe entgegenftellt, 
vle Wiffenihaft fei lediglih als Dienerin praktiſcher Ziele 
eriftenzberedhtigt, denn der Menih fei zum Wirken, nicht 
zum Mefleftieren auf der Welt. Tiefer unverblümte Prag. 
matismus wird dem Geifte der Wiſſenſchaft ebenfomenig 
gerecht wie bie von Zſch. bekämpften Aeußerungen feiner 
Gegner dem der Technik. ch laffe es an diefen Andeutun- 
gen bier genügen und boffe, aud über diefe Frage demnädjft 
einen ausführlichen Aufjaß bringen zu Eönnen. 

E. v. After, Raum und Zeit in der Eeſchichte der 
Philoſoehie. Möst u. Co., Münden. 150 ©. Kine 
bubſche gefdidilihe Unterfuhung, die mit dem „Apeiron“ 
d. i dem leeren Raume) der älteften griehifhen Philo- 
icobie beginnt und bei der Melativitätstheorie endet, und 
aug der man recht deutlich erkennt, welde wichtige Rolle 
dem MRaum-Zeit-Problem in der Gefchichte des geſamten 
Dentens zufommt. Ganz befonders gut gelungen fchien 
mir die DVDarftellung der Haflifhen Periode von Korernikus 
tis Descarses, Newton, Teibniz ufw. 


M. Wentſcher, Fechner und Loge. Geſchichte der 
Philofopbie in Einzeldarftellungen, herausgegeben von ©. 
Raffa, Verlag E. Reinbardt, Münden. (4 M.) Eine 
trefflihe Darftellung des Lebenswerfes von zweien unferer 
Beften, die leider infolge der allgemeinen antimetaphyſiſchen 
Zeitſtrömung Jahrzehnte lang faſt vergeflen geweſen find. 
Sür den wertvolleren halt W. mit Redt Lotze, deffen über- 
oug Mare, weit ausgreifende, ver feinem Problem zurüd- 
werhende Art aud unierer Zeit noh viel zu fagen bat. 
Tefonders intereflant war mir, wie am Schluß der Ber- 
tafler die religionsphilofopbifhen Ideen Loges Fritifiert und 
dabei zeigt, Daß mande darin entbaltenen Schwächen fid 
bi weiterer Entwidlung in der von L. felbft angegebenen 
Richtung wohl noch hätten befeitigen laffen, fo 3. B. bin- 
ihlih des Problems des freien Willens oder des der 
Theodizee. Das Büchlein fei warm empfohlen. Br. 

R. v Engelhardt, Organiſche Kultur, deutiche 
Vchbensfragen im Lichte der Biologie. Ver 
izg Lehmann, Münden, 1925. 3,20 .M, geb. 4,50 .M. 
Ser Yebmannfhe Verlag bat uns in den legten Jahren 
iden ſo viel Treffliches befchert, daB ich ſchon mit einem 





Neue Literatur. 





pi 209 
günftigen Vorurteil an prieg Bud heranging. Aber was 
ib les, übers.af weit mei: Erwartungen. Diefes Buch 


har ein Weifer geihrieben, einer von den ganz wenigen, 
die „zum Geben geboren, zum Schauen beftellt” find. 
Mahnde bat in feinem vorzügliben Auffas über Leib- 
nizens Gegenwartsbedeutung dargelegt, wie alle Probleme 
unſerer Zeit in der Frage gipfeln: Wie kommen wir zu 
einer Syntheſe der rationalen Erkenntnis mit dem über— 
rationalen Erlebnis? Von dieſer Grundfrage iſt auch dies 
Buch beherrſcht. Wenn fein Verfaſſer dabei den Bor 
rang der ſchöpferiſchen Intuition vor dem nüchtern redhnen- 
den Verſtand nach meiner Auffaſſung auch etwas zu ſtark 
beront, — bier kommt ein bisher anſcheinend nicht zu über- 
brückender Gegenſatz zwiſchen naturwiſſenſchaftlich und ge— 
ſchichtlich geſchulten Denken zutage —, fo ſtehe ih dod 
nicht an, zu erklären, daß er in dem, was er über die Nor- 
wendigteit einer Wertftufenfolge fagt, durchaus Recht bat, 
und daß die intelleftualifierung unferer geſamten Kultur 
unter Verluſt alles organiihen Eicdeinfüblens in die eigene 
Lebensgeſetzlichkeit — wie fie in Reinkultur heute der deut- 
Ihe Moniftenbund predigt — unfer Verderben wird, wenn 
wir uns nicht noh im legten Augenblid auf die echten, 
wurzelbaften Trieblräfte unferes eigenen deutſchen Weſens 
befinnen. In einer überaus padenden, an manden Stellen 
geradezu dichteriſch ſchönen Sprade führt der Verfaſſer 
diefen feinen Orundgedanten durch. Er gebt von der 
Wendung der neueren Biologie zum Vitalismus aus, um 
ih dann dem „Menſchheitsrätſel“, der intellektuellen Krifie 
der Gegenwart und. der Forderung einer organifhen Kul-- 
tur zuzumenden. Seine Auseinanderfegungen mit Berg 

fon, deffen Ideen er größtenteils verwertet, mit Troeltſch, 
Spengler, Keyſerlingh u. a. find hoch intereflant. ein 
Kuliurideal findet er in Goethe, das Gegenteil, den abfo- 
luten Sieg des rechnenden ntellefts und des blinden WiL 
lens zur Macht in der rufliiben Revolution. Kultur ift 
ibm „Wille zum Wert, Ihöpferiihe Tat, Geftaltung des 
Ungeftalteten . . . zu einem Werivollen, Einnvollen, zur 
Struftur.” Es find die wertvolliten Krafte und Gedanken 
des deutfhen Idealismus, die bier lebendig werden, und 
eigentlich follte jeder gebildete Deutſche ein ſolches Buch 
gelefen baben. Wenn ih troßdem zwei weientlihe Ein- 
wände dagegen zu erbeben babe, fo follen diefe nicht fo auf: 
gefaßt werden, daß fie das, was der Verfaſſer faqt, auf 

heben follten. Sie folen nur auf Punkte binweifen, wo 
meines Erachtens der Derfafler feine Gedanten hätte nod 
weiter ausbauen müflen. Zum eriten kommt offenſichtlich 
die von der Mathematik aeleiteie Naturwiſſenſchaft und 
Technik bier zu fchleht weg. Man merkt aus alien Wor 

ten des DVerfaffers jene gelinde Animofität gegen den „red: 
nenden! Verſtand beraus, die aud einen Goethe befeelt 
hat, trog feiner Worte über die Verachtung von „Vere 
nunft und Wiſſenſchaft“ (nah E. batte alierdings bei Goethe 
das Wort Vernunft einen anderen böberen Sinn als bei 
Kant). Als Vertreter diefer Seite der menſchlichen Geiſtes— 
tätigfeie muß ich fagen, dag der Verfaſſer die Mentalität 
eines modernen Maturforihers und Ingenieurs nicht ver- 
ftebt, und daß es mit feiner Abwerrung des bloßen Ver 

tandes niht getan ift. Eine wab hatte nene Kulturion- 

theſe, darin bat Mahnde viel tiefer weichen, fann midt 
darin befteben, dap Goetbe dem Nationalismus entgegen 

gefeßt wird, jondern darin, dap beide, mie eg bei Leibniz 
angenähert wenigſtens der Fall geweſen it und ubriaens 
and bei Goethe felbit von der anderen Seite ber ange 
näbert der Fall war, zu einer böberen Einheit verſchmol 

yen werden, bei der die in der rationalen Geſetzeserkennt 

nig vorliegenden hödften Wahrheitswerte ebenfo zu ihrem 
Rechte kommen, wie die im individuellen, mit Begriffen 
nie ausihörfbaren Leben wurzelnten Perſönlichkeitswerte, 
te die Beichichte bilden. Der Umstand, dan E. bei alter 
Klarbeit fur die letzteren daber den Anſchluß an die erfteren 


210 








verpaßt, wird notwendig zur Folge haben, daß er zwar ben 
Maihematifern und Phyſikern ufw., die ja aud Men.: 
ſchen find, jene andere (individuelle) Seite febr lebhaft 
zum DBewußtiein bringen Tann, fie werden aber dann erft 
recht innerlich zerriffen werden in der NHinfiht, daß ibre 
eigene Arbeit an diefe höchſten Werte dabei keinen An- 
ſchluß gefunden bat. Daß dies aber fo gekommen ift, 
liegt meines Erachtens an dem zweiten und SHauptfehler 
diefes fonft fo hervorragenden Buches: es läßt, wie das 
bei Goethe chen aud) vielfah der Fall ift, dod in religiöfer 
Hinfiht vieles zu wünfhen übrig. Die Anſätze dazu find 
überall vorhanden. Aber E. ſieht ebenfo wenig wie es 
Goethe felber Mar geſehen bat, daB die gefuchte Einheit 
von Matur und Kultur niht im Geifte des Menſchen ge- 
funden werden tann, der zwar Bürger zweier Welten, der 
naturhaft gebundenen und der der fittlihen Freiheit, ift, 
aber niht die Kraft bat, dieſen Gegenſatz auszugleichen, 
fondern daß diefe Einheit tatfählih nur geſucht werden 
fonn in einem Gott, der fowohl „Natur in fib, fih in 
Natur hegt“, wie oberfter Wertmaßftab und Richter ift, 
wie denn Leefe in feinem bier beiprohenen Schriftchen 
yur Kulturkrifis es ganz richtig formuliert hat, daß die 
Löſung, nahdem einmal der Zwiefpalt zwifhen naturhafter 
Gebundenheit und autonomer Freiheit eingetreten ift, nur 
in einer „Theonomie“ zu finden fei, die natürlich nicht 
Wiedereinfegung längft überlebter Dogmen, fondern neue 
lebendige und Leben ſchaffende Grundlage fein muß. 
Ich will mit diefer Kritik, wie gefagt, nit den Wert des 
hervorragenden Buches herabfegen. In allem weſentlichen 
ift bier das Beſte des deutfhen Geiftes in muftergültiger 
Klarheit und lebendiger Anſchaulichkeit herausgearbeitet 
negenüber allen Irrlichtern „weſteuropäiſcher“ fog. Kultur, 
die nichts als plattefter Utilitarismus it. Mit Redt ver- 
weit der Verfaſſer 3. B. auf den vollftändigen Bankerott 
der ganzen angeblihen „Wiederaufbaupolitik“ der Sieger- 
finaten, wohingegen in talien unter Muflolinis Regiment 
tatfählid eine neue organifhe Kultur zu erftehen beginnt. 
(Wenn man dahin kommt, it man tatſächlich erftaunt, wie 
beute in Italien, das bei uns noh immer als Fulturell 
ganz rüdftändig angefehen wurde, gearbeitet wird.) Für 
die endgültige Löfung des Kulturproblems aber kann id 
aus den dargelegten Gründen auch diefes tiefgründige Wert 
nicht halten. Denn fhon die naturmwiflenihaftliden Grund- 
tagen find in bohem Mape anfehtbar, der biologifhe Bita- 
lismus ift in der vom Verfaſſer bargeftellten Form feines- 
wegs endgültig erwiefen, trog Driefh und v. Hartmann. 
Das Kunſtſtück ift, den Eigenwert und die Eigengeſetzlich⸗ 
feit des Lebeng aud obne diefen zu begründen. Denn fonft 
weht der alte Streit cinfad weiter. Die Naturwiſſenſchaft 
errrägt keinenfalls eine Kulturſyntheſe, die ibr die Marſch— 
route vorſchreibt. 

Vier oklkultiſtiſche Schriften aus dem Verlag von 
W. Altmann, Leipzig, liegen zur Beſprechung vor, auf bie 
ib bier nur fur} eingeben tann. Zunädft eine von Dr. 
Bierens de Haan, aus dem Holländifhen überfegt: 
Die Bedeutung der Suggeftion und Hypnoſe für die Er- 
jiehung. Cie ift niht im engeren Sinne okkultiſtiſch, fon- 
dern gebt nur auf die beiden im Titel genannten Gebiete 
ein und behandelt in febr verftändiger Weife allerlei hier- 
ber gehörige Erziehungsfragen, insbefondere aud die der 
Erziebung geiftig anormaler Kinder. Der Yebrer und Er- 
sicher wird viele gute Anregungen aus dieſer Schrift 
ſchopfen. 

Recht brauchbar iſt trotz ihres dem Okkultismus ausge- 
wroden freundlichen Standpunktes auch die Schrift von 
X. Sigerus über „Die Telepathie“ (2. und 3. Auf- 
lage, 175 eiten), eine „gemeinverftändlihde Studie über 
Geſchichte, Weſen, Auftreten, Erklärung und Wichtigkeit 
der televathiſchen Vorgänge, fowie über erperimentelle Tele- 
pathie“.  Diefer Titel Elingt ein bischen anſpruchsvoll, der 


Menue Literatur. 











Verfaffer hält aber im weſentlichen, was er verfpridt und 
befleißigt fih dabei einer wohltuend wirkenden Saglig. 
keit, fo daß man febr viel lernen fann, wenn man aud 
weder alle behandelten Tatfahen obne weiteres anertennen, 
nod fih des Verfaſſers phyſikaliſche Erklärungshyrotheſe 
(die befannte Schwingungstheorie ber telepathifhen Er- 
fheinungen) zu eigen maden will. 

Weniger erfreulih wirkte auf mich die Kleine, 40 Seiten 
tarte Shrift von ©. Zeller: „Okkultismus und dent- 
ſche Wiſſenſchaft feit Kant und Goethe”, in der der Wer- 
fuffer einen kurzen geſchichtlichen Weberblid über das Ber- 
bältnis der deutfhen Wiffenihaft zum Okkultismus gibt, 
der nicht gerade von ſympathiſchen Gefüblen für die erftere 
diftiert ift. Es werden befproden: Kant, Goethe, Schopen⸗ 
bauer, Zöllner, Drieſch und Defterreihd. Den Abihluß 
macht ein Karitel „„Ausblide”, worin der Verfaſſer das 
Herannaben einer neuen Religion ankündigt, die fih auf 
offultiftifhder Grundlage aufbauen fol, und deren Weſen 
das „Einswerden des Jh mit dem Selbft, dem Gort in 
uns, den alle Myſtiker erleben”, fein fol. „Ein Mirt- 
leres zmifchen dem Kultus des Jh bei Nietzſche und ber 
Gottesverehrung der Kirche”, „eine Verbindung von Myftif 
und modernem Erkennen, weld legteres mit Schiller, 
Goethe und Kant das Göttlihe nur in feinen Wirkungen, 
nie in feinem Weſen zu erkennen glaubt”. Wohl be- 
fomm’s! 

Die vierte Schrift endlih ikt von Dr. Fr. Giefe, 
Privatdozent an der Techniſchen Hochſchule Stuttgart, und 
heißt „Die Lehre von den Gedankenwellen, eine parapſycho⸗ 
logiſche Erörterung. (8O eiten.) Cie gibt fih in 
ihrer ganjen Art als wiflenihaftlih orientiert und geih- 
net fib in der Tat durd eine bei okkultiſtiſchen Schriften 
zumeift ungewohnte wiflenfhaftlihe Höhenlage aus. Giefe 
erörtert in febr objeftiver, die negativen Inſtanzen ebenfo 
wie die pofitiven würdigender Weiſe die wichtigſten bisher 
vorliegenden parapſychologiſchen Erfheinungen, einſchließlich 
der fogenannten parapbufifafifhen, wie 4. B. der Verſuche 
Schrend-Mosings mit Willi Echneider, und verfuht zum 
Schluß eine Theorie der Erfheinungen, die in der Haupt- 
fahe auf die Annahme einer befonderen Energieform bin- 
ausfommt, in welde fih die phyſikaliſche Energie im 
Nervenſyſtem, und zwar im Epmpathilus, umfesen foll. 
Leider wird die Durchführung diefer an fih nicht üblen 
Hypotheſe nun höchſt ungenießbar durd die unglüdlihe Cin- 
fübrung des Begriffs Potential”, der „eine Art Ladung 
des Trägers mit diefer Energie‘ bezeichnen fol. So tom- 
men dann Säge zuftande wie der: „Wo fhwingt das Pe- 
tential des anderen beim Empfänger (teleyathiiher Wahr- 
nebmungen) oder an welcher Stelle beunrubige ih die 
Potentialität, den hypothetiſch momentan ftationären La— 
dungszuſtand?“ Als ih diefen Eag zuerft durch Zufofl 
lag, war ich geneigt, das ganze Schriftchen obne weiteres 
in den Papierkorb zu fteden. Denn er Elinge verzweifelt 
ähnlich jenen hochtrabenden Deduktionen Halbgebildeter, die 
alle Fremdwörter, von denen fie mal gebört haben, balb- 
menlihft in einer im Selbftverlag des Verfaſſers erichei⸗ 
nenden Schrift anbringen müflen. Die Lektüre der Schritt 
belehrt uns zwar darüber, daß Gieſe durchaus ernft zu 
nehmen it. Gerade darum follte er aber folge reihlich 
vagen Erörterungen vermeiden. Was ©. will, läft fip 
auh obne felge Webertragung von Wörtern, die in ber 
Pbyſik fhon einen ganz anderen und febr prägifen Sinn 
baben, ausdrüden. Im übrigen aber fei die Schrift als 
gute Darftellung des modernen wiffenihaftliden Offultis- 
mus emrſohlen. 

In das Gebiet des Okkultismus reiht binein auh cine 
antere Chrift aus dem Altmannfhen Verlag: E. Paul, 
Licht und Zarben im Dienfte des Volkswohls. Thera- 
veutifh-bugienifhe Studien unter Mitwirfung berufener 
Aerzte und Fachleute. Der Verfaſſer bezeihnet fih als 


Neue Literatur. 11 


„Leiter der Münchener Geſellſchaft zur Lichtforſchung“. Er 
will zeigen, welche ungeheuren, noch ungenutzten Werte zur 
Heilung der kranken Menſchheit in der Verwendung aller 
möglichen Belichtungstherapien liegen ſollen. Wenn man 
jedoch lieſt, wie „heftige Blutungen aus der Lunge“, Ge- 
birnentzündung („Cerebro⸗-Spinalmeningitis“) uſw. durd 
bloße Beſtrahlungen mit blauem Licht geheilt worden ſind, 
ſo erhebt ſich doch ein gewaltiges „Schütteln des Kopfes“. 
Das Buch gehört leider zu der weit verbreiteten krypto⸗ 
mediziniſchen Literatur, die von dem Glauben des großen 
Publikums an alles Mögliche lebt, was nur nicht „offizielle 
medisinifhe Wiſſenſchaft“ ift, fondern einen leicht myſtiſchen 
Anſtrich bat. Daß es daneben allerlei ſchätzenswerte An- 
regungen befonders binfihtlih der feeliihen Wirkungen far- 
biger Umgebung und dergleichen enthält, fei nicht beftritten, 
als Ganzes aber muß es meines Erachtens abgelehnt wer- 
den, weil die Gefahren derartiger Kryptomedizin befannter- 
mapen allzu groß find. 

A. S. Gräter, Das Welt: und Gottesrätfel, oder 
das Problem von Stoff und Kraft, Materie und Geift, 
Raum und Zeit, Leib und Seele, Leben und Bewußtſein, 
Tiesfeits und enfeits, Gefhöpf und Gott. (Im Selbft- 
verlag, Stuttgart, 1925. 6O Seiten, Preis 2 M.) „Es 
gibt dide Bücher und dünne Bücher“, fagt der an anderer 
Stelle erwähnte Zfhimmer, die einen find dide Wäl- 
jer, arm an Ideen, die anderen enthalten been, aber obne 
das nötige DBeweismaterial. Mach diefer Definition gehört 
die vorliegende Schrift zu den legteren,; die ganze Auf- 
machung ift fo, daß ich zuerft verfuht war, fie wie Dugende 
anderer Art ungelefen aus der Hand zu legen und die Be- 
iprehung abzulehnen. Wenn idy es troßdem nicht tue, fo 
deshalb nicht, weil fie in lobenswertem Unterſchied von fo 
mınden abnlihen Erzeugniflen, wenigftens eine durchaus 
tiare Problemftellung und eine im allgemeinen zutreffende 
ſachliche Kenntnis deffen verrät, was die Wilfenihaft von 
beute zu jagen bat. Außerdem enthält fie eine originelle 
Idee. Der Verfafler will das Körper-Seele-Problem durd 
die Hypotheſe löfen, daß die materielle Energie (die Materie 
it ja nad moderner phyſikaliſcher Auffaffung mit Energie 
identiſch) fih in Seelenfubftanz umwandeln, die er fih in 
„Pindonen‘ gegliedert denkt, wie jene in Elektronen oder 
Protonen. Diefe pſychiſche Subſtanz fol nun das feeliiche 
„Feld“ bilden, in dag jene materiellen Energiefnoten nur 
eingebetter find. Für fie folen die Säge der Pſychologie 
gelten, wie für jene die der Phyfit. Der Verfaſſer ver- 
mwerret weiterhin den modernen Dffultismus und entwidelt 
eine theologifhe Auffaffung, die unter ‘Beibehaltung der 
wichtigſten Grundlehren des Chriftentums doh mit manden 
Beſtandteilen der berfümmlihen Kirchenlehre, vor allem 
der Stellung zum Alten Teftament, fharf aufräumt. Wiel 
Erfolg wird der Verfaſſer mit diefer feiner Arbeit nicht 
baben. eine Seelentbeorie it allzu materialiftifh und 
erklärt im Grunde gar nichts, am wenigften den Unter- 
idhied des Körperlichen vom Seeliſchen. Doh enthalt fie 
mınden anregenden Gedanfen. 

J. Rüther, Auf Gottes Spuren. Joſefsdruckerei, 
Bigge-Ruhr, 3 M. Eine aus zwölf einzelnen Aufſätzen 
biftebende furze apologetifche. Arbeit. Der Verfaſſer fhil- 
dert im Anſchluß an Wanderungen in der Matur eine 
Meibe der dabei in ihm auftaudhenden Tragen, wie 3. B. 
die Frage der allgemeinen Maturgefeglihkeit, die der Un- 
zweckmäßigkeiten in der Welt (Theodizeeproblem) ufw. und 
ſetzt fih mir diefen vom Standpunkt einer warm empfun- 
denen Släubigfeit auseinander, der ein Fonfeflionell katho- 
liſcher Zug niht anbaftet, fondern die ebenfo gut fib bei 
einem Evangeliſchen finden fann, und tatlählih aud in 
terfelben Form bei vielen Evangelifhen fih findet. Vieles 
davon wird man von Herzen unterfhreiben. Und für cin- 
ſache Menſchen aus dem Volf wird eine ſolche Arcologesik, 
tic in wohltuend einfaher Sprache geichrieben ift, gan: 


fhliht die berfümmlihen Gedanken entwidelt, immer wirt- 
fam bleiben. Für den, der die Probleme tiefer fiebt, ift fie 
allerdings zu — einfah. Dem wirflid an die Wurzel 
aehenden Zweifel kommt man auf diefe Weife, wie bie 
Erfahrung Tängft gezeigt bat, nicht bei. ` 

J. Kühnel, Ziele und Wege Verlag H. Raud, 
Diesbaden. 173 ©. Ebenfalls eine aus katholiſcher 
Jeder flammende und ebenfalls nicht Eonfeffionelle, fondern 
rein religiöfe Sammlung von einzelnen Auffäsen. Der 
unferen Leſern bereits befannte Verfaſſer ſpricht aug bier 
mit der gewohnten Wärme von einer großen Reihe ein- 
zelner religiös-ethifher Fragen, wie z. DB. WWertrauen, 
Dankbarkeit, Liebe und Freundfhaft, Takt, Treue, Maht 
der Perſönlichkeit u. a., die er fämtlih in das Licht einer 
tief empfundenen Religion des Herzens ftelt. Als Ce- 
legenheitsgeſchenk ifi das Bändchen redt geeignet. BE. 

Siegfried Behn: „Die Wahrheit im Wandel 
der Weltanfhauung”. Eine kritifhe Geſchichte der meta- 
vhyſiſchen Philoſophie. (Verlag von Ferd. Dümmler, 
Berlin und Bonn 1924, 322 Seiten, Preis geb. 9.50 M.) 
Das Unternehmen diefes Budes ift fo groß, daf man 
ihwere Bedenken gegen feine Ausführbarkeit begen 
könnte. Denn es will die zahlreihen Weltanfhauungen, 


welche in unferer Geiftesgefhichte aufgetreten find, nicht in 


ihrer wecfelnden Eigenart darftellen, fondern verfuht von 
ihnen all das abzuftreihen, was ihnen nur. als vorüber. 
gebender, zeitgeihichtlih bedingter Wert anhbaftet, um fo 
die bleibende Wahrheit rein heraussulöfen. Da fann man 
denn wohl fragen, ob eine folde Beurteilung überhaupt 
möglih it, nahdem doh jeder DBeurteiler in feiner Zeit 
ftehbt und in feinem Denken von deren DBorausfeßungen 
abhängig ift. Wie beredhtigt jedoh im allgemeinen aud 
derartige Einwände fein mögen, bier hat jene Einftellung 
ein Wert geſchaffen, defen überragender Wert unabhängig 
von ber Webereinftinmung mit der Gefamtbeit feiner Er- 
gebniffe anerkannt werden muß. Denn bier bat fie dazu 
geführt, daß die philofophifhen Syſteme aus dem fdhör- 
ferifhen Erlebnis ihrer Urheber heraus nadgeftaltet und 
nicht nah ihrer logiihen Wereinbarfeit untereinander be- 
urteilt wurden. Dabei erfheint als die Urzelle des 
Mahstums fruchtbarer philoſophiſcher Gedanken immer 
wieder die Sehnſucht des Menihen nah einer Vollendung 
feiner Perfönlichleit in Gottes unendlihem Weſen, nad 
einer Krönung feines Willens um die Dinge der Welt 
duro die Erfahrung der ewigen Wirklichkeit. Daß bei 
diefer Darftellung des Verfaſſers die ſcholaſtiſche Philo- 
fophie, welde vielen von uns dodh ferner ftebt, ganz De- 
fonders zu neuem Leben gelangt, werden aud diejenigen 
ihm danken, die doh nicht wie er alles Heil für die Zu- 
funft von ibr erhoffen können. —tt. 
V. Ruſſell, ABC der Atome, überjegt von W. 
Hlod. Frantihe Verlagsbuhbandlung Stuttgart. Geb. 
2.60 Mart. Es könnte zweifelbaft erfheinen, vb in 
Teutibland, wo zablreihe gute volfstümlihe Darftellungen 
der modernen Atomtheorie bereits vorliegen, ein aus- 
landifhes Buh noh eingeführt werden mußte, dodh wider: 
legt die Teftüre des Schriftchens diefe Bedenken. Dis 
Bub des engliſchen Eelehrien zeichnet fih in der Tat dur 
eine qang beionders große Anſchaulichkeit und Lebendigkeit 
einerfeits, fowie andererfeits dadurch aus, daß es den Laien 
art lürzeſtem Wege mitten aud in die allerneuften Probleme 
nid Eihmwierigfeiten der Atomtheorie bineinfübrt. Die 
nenefien Ergebniſſe Bohrs fo gut wie die bisher ungelöften 
Probleme der Quanientbeorie werden darin vortrefilih Plar 
entwidelt. Daß freilih alles „aud dem Anfänger in der 
Phyſik verftandlih fei, wie der „Waſchzettel“ behauptet, 
fdeint mir zweifelhaft. Wer nie etwas von der Wellen: 
ıbeorie des Lichts, von nterferenzen, Spektra!inien, Sim 
Newtonſchen und Coulombſchen Geſetz uſw. börte, wird 
ſchwerlich afler Darlegungen felgen können. Aber danit 


212 


will ih den Wert des fonft trefflihen Büchleins nicht ber- 
abſetzen. Ich Halte es nur niht für richtig, wenn die Re- 
tlame Hoffnungen bei wißbegierigen, aber unvorgebildeten 
Tefern erwedt, die ſich dodh nicht fo ganz erfüllen dürften. 
Es fei indeffen gern hervorgehoben, daß die Ruſſellſche Dar- 
ftellung eine gang befonders populäre ift. Bk. 

Emil Mattieſen: „Der jenſeitige Menſch“. Eine 
Einführung in die Metapſychologie der myſtiſchen Er- 
fohrung. (Verlag von W. de Gruyter u. Co., Berlin 
und leipzig, 1925, 825 Seiten). | 

In den legten Jahren ift es aud bei uns üblicher ge- 
worden, zur Klärung des Wahrheitsgehaltes religiöfer Er- 
frhrung nicht nur metaphufiihe und erfenntnistheoretifche 
Ceſichtspunkte heranzuziehen, fondern aud anormale Seelen- 
vergänge mannigfaltiger Art zu berüdfihtigen (vergl. 3. B. 
MBobbermins Ausgabe von William James’ Die religiöfe 
Erfahrung in ihrer Mannigfaltigfeit"‘.) Allein mit einer fo 
umfoflenden Kenntnis des einfhlägigen Materials, mit fol- 
her Strenge und Vorſicht des Beweisganges ift dies bis- 
þer doh nod nirgends geicheben wie in diefem Buh von 
Mattiefen. Schritt für Schritt rüdt die Darftellung des- 
jelben von der Analyfe der religiöfen Erlebniffe mit ihrem 
Bewußtfein einer Ergriffenheit des Menſchen von jen» 


feitigen Mächten, einer Verlorenheit der Seele an die un- ' 


endliche Gottheit hinein in immer befremdendere Aeußerungs- 
weifen der religiöfen Erfahrung (Automatismen, Zwangs- 
handlungen, religiöfer Wahnfinn), durch welde diefelbe we- 
nigftens dem äußeren Anichein nad) in unmittelbare Nähe 
der Eranfhaften Seelenzuftände gerüdt wird. Die bier ent- 
ftesende Frage, wie weit man darnach beredtigt ift, bas 
religiöfe Leben diefen pathologifhen Zuftänden beisurehnen, 
wizd zu endgültiger Beantwortung hinausgeſchoben, bis die 
Frage beantwortet ift, ob nicht gerade anormale Seelen- 
vergänge eine befondere Eignung befisen, ung Erkenntniſſe 
zu verfchaffen, welde bas Diesfeits unferer Sinnes- 
wahrnebmungen überfteigen. Diefe Beantwortung erfolgt 
in eingehendfter, vorfidtigfter Prüfung der Berigte und 
Theorien über die Telepathie, das Hellfehen, die Pſycho⸗ 
metrie, das NHinnusverfegen des Bewußtſeins, die Ma- 
terialifation und den Mediumismus. Was der Derfaffer 
bier an Sammlung und Sichtung des Materials glaub» 
wirdiger und unglaubwürdiger Berichte, an Gegenüber- 
telung und Auswertung der möglichen Gefihtspunfte und 
Einwendungen geleiftet bat, madt fein Wert allein ſchon 
zu einem Hantbuh der Terfhung auf diefem Gebiet. Unt 
das Ergebnis diefer Forfhungsarbeit? Es liegt in einer 
Beſtätigung des Urbewußtfeins aller myſtiſchen Erfahrung, 
daß das Einzelfubjekt eingebettet ift in eine Geiftigfeit über- 
perfönlicher Art, die fo über dem Raum und der Zeit ftebt, 
daß fie auch das Kinftige und Bergangene in fih ein- 
ſchließt. Veſonders wohltuend wirkt es, daß der Verfaſſer 
son feiner Örundeinfiht aus immer wieder an der Ueber- 
windung des Spiritismus mit feiner Verzerrung aller Jen- 
jeitsprobleme arbeiten tann. Das Bub wird jedem unvor- 
eingenommenen Wahrheitsfuher eine große Hilfe fein. 

8. v. Friſch, Einnesphufiologie und „Sprade” der 
Bienen. (J. Springer, Berlin, 1924. 27 Seiten, Preis 
1.20 Mart). 

In diefer kleinen Schrift faßt der befannte Erforſcher 
des Farben, und Geruhsfinnes der Bienen die Ergebniffe 
feiner langjährigen Unterfuhungen zufammen. Nach den- 
jelben befigen die Bienen ein ausgeprägtes Unterfcheidungg- 
vermögen für Farben, wenn dasſelbe auh niht für alle 
Farbtöne aleih gut ift; fo fcheint ihr Auge auf der einen 
Seite für das in unferer Flora fo feltene Scharlachrot un- 


Neue Literatur. 








empfindlid zu fein, während feine Empfindlichkeit fib anf 


der anderen Seite bis weit in das Ultraviolett hinein er- 
ftredt. Der Verfaſſer deutet diefes Fehlen der Empfindlich 
feit für Scharlachrot als eine Anpaffung der Blumenfarben 
an die Blütengäſte, welche Deutung allerdings ert dann 
einleucdhtet, wenn man erwägt, daß umgelehrt in den Tre- 
pen, wo bie für Mot befonders empfänglihen Honigvögel 
die Beſtäubung ausführen, aud die ſcharlachroten Blüten 
febr häufig find. Jedenfalls ift diefe Beobachtung ein 
wertvoller Beitrag zur Frage nah den übergreifenden 
Zwedzufaımmenhängen in der Natur. Nah einer Dar- 
legung über das Geruhsvermögen der Bienen, welches nad 
des Verfaſſers Anfiht ungefähr. mit dem des Menſchen 
übereinftimmen wird, folgen dann in der Schrift nod man- 
herlei tierpſychologiſch bedeutſame Beobachtungen über die 
Art der gegenfeitigen Werftändigung der Bienen, die 
„Sprade”, mit welder fie fih die Entdedung einer er- 
tragsreihen Yutterftelle mitteilen. Jedenfalls bietet bie 
Heine Schrift dem für die biologifhen Probleme "inter- 
eflierten viel Wertvolles. tt. 

Heußner, Kleines Kant Wörterbuh. Mandenboed 
und Rupreht, Göttingen. 1925. 380 M. Der Ber- 
fofler, der ſich durh eine Reihe treffliher Schriften um 
die Popularifierung der Philofophie febr verdient gemacht 
bat, will mit diefem 150 Seiten ftarfen Schriften den 
Schwierigkeiten, die bei der erften Lektüre Kants erfab- 
rungsgemäß entftehben, ein wenig abhelfen. Wie weit das 
mit Hilfe eines folhen Wörterbuch gelingen wird, Fann 
nur bie Erfahrung zeigen. Alle Schwierigkeiten wer- 
den damit fiherlih nicht behoben, es ift keineswegs nur 
bie eigenartige Terminologie, die Kant fo ſchwer genieß⸗ 
bar madt. Aber immerhin wird der Anfänger aus diefem 
Büchlein mange Anregung gewinnen und an feiner Hand 
leihter fib in Kant bineinarbeiten können. 

Ad Damaſchke, Volkstümliche Redekunſt. Fiſcher, 
Jena. 1924. 90 ©. Der bekannte Führer der Noben- 
reform legt bier die Erfabrungen einer reihen Praris als 
Mortragsredner dar und ermweift fih dabei als geborener 
Pädagoge. Er zeigt dem Anfänger, wo die Klippen liegen, 
an denen fo mandher Redner fcheitert, gibt ibm die Mittel 
an, die zum Erfolge führen oder die über peinlihe Zwiſchen⸗ 
fälle binmweghelfen ufm. Natürlich kommt er auh bier auf 
fein Spezialthema, die Bodenreform, oft genug zurüd. Bk. 

Für die naturwiffenihaftlide Schülerbücherei bietet bie 
foeben erſchienene Lifte „Gute Bücher für die Jugend”, 
Auswahl der Deutfhen Zentralftele zur Förderung der 
Bolts- und ugendlektüre, Berlin SW. 61, Johanniter- 
ftraße 5, eine praftifhe Handbabe. Die Abteilung „Matur- 
funde” umfaßt 110 Bücher, gegliedert nah a) Erzählungen, 
b) Einführung, c) Selbftberätigung. Den einzelnen Büder- 
titeln find furze Beſprechungen beigegeben, die auch auf die 
Art der Darftellung, auf die geforderten Vorkenntniſſe bin- 
weifen. Die Zufammenftellung ift geeignet, Naturerkenntnis 
und Maturfreude zu fördern. Die Abteilung Matur- 
funde” wird ergänzt durd die Abteilung „Deutſches Land 


und Wolf”, die eine reihe Auswahl deutiher Wander- 


bücher bringt, fowie durdi die Abteilung „Reifen und Aben- 
teuer”. Auch piel, Sport und Gefundheitspflege it in 
befonderer Gruppe vertreten. Die Auswahl ift auf Grund 
der Gutachten eines Mitarbeiterkreifes erfolgt, der fid aus 
Lehrer und Lehrerinnen verfchiedener Schularten zufammen- 
fent. Bei dem Wiederaufbau der Schulbüdereien wird 
diefe Bücherliſte wertvolle Dienfte Teiften. Ein Probeftüd 
der Lifte wird für 25 3 verfandt, zweds Maflenverbreitung 
find ermäßigte Partiepreife angeſetzt. 


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Mitgliederversammlung 

statt, deren Ort und Zeit noch bekannt gegeben wird. 

Der Dorstand des Keplerbundes. |. A.: Bavink. 


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Scriftleitung: Prof. Dr. Bavint, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Auffäge ftehen die Verfaffer;ipre Aufnahme magt fie nicht zur Wenkeruug des Bundes. 








XVIL. Jahrgang 


September 1925 


Heft 9 








Denkformen der Naturvölker. Von Pro. Dr. R. Thurnwald. 


Unter den Klemantan, einem Stamm von 
Borneo (Sundainfel), ſucht ein Mann auf fol- 
gende Weife feinem Feind beizufommen: Er begibt 
fidh auf einen verborgenen Platz, auf eine Rodung 
oder ein Feld im Urwald, von wo aus er einen 
großen Ausfchnitt des Himmels überjehen Fann. 
Bei feinem Unternehmen bleibt er gerne unbe- 
achtet. Er geht daran, einige Bäumen zu fällen 
und daraus ein Pfahlgerüft von etwas über zwei 
Meter über den Boden zu errichten. Dann fchnist 
er ein robes Figürdhen aus Holz und gibt dem 
einige harafteriftifhe Züge feines Seindes. Dieſes 
Figürchen ftellt er zwiſchen die Pfeiler des Pfahl- 
gerüftes. Nun madt er ein Feuer an und gräbt 
eine kleine Grube, die er mit Wafler und eifen- 
haltiger Erde füllt, fo daß die Flüffigfeit in dem 
Heinen Tümpel rot erfcheint. Das ift der Blut- 
fee”. Nad diefen Vorbereitungen blidt der Mann 
nad einem Habicht aus. Erſcheint der Bogel, fo 
ruft er ihm zu: „Gib Fett in den Mund des 
MM. (des Feindes). Dabei wirft er felber die 
Puppe in das rote Wafler. Dann nimmt er fie 
wieder heraus und durdhbohrt fie mit einem Fleinen 
Speer. Er vergräbt fie hiernach und ruft wieder 
den Habicht an. Nın will er fehen, welde Wir- 
fung er mit feinem Borbildzauber erzielt. 
Biegt der Habiht im Flug nadh rechts ab, fo hat 
fein Beginnen keinen Erfolg, fliegt er dagegen nad) 
linfs, fo darf er erwarten, daß feine Todeswünſche 
gegen den Feind in Erfüllung gehen. j 

Der Vorbildzauber, wie er in dem geſchilderten 
Fal zum Ausdrud fam, gehört zu denjenigen Me- 
thoden, gewünfchte Wirkungen zu erzielen, die im 
primtiven Denken herrſchend find. Dadurd, daß 
der Derfchwörer eine Reihe von Handlungen im 
Eleinen mimiſch vormacht, glaubt er den Ablauf der 
Wirklichkeit in Bann zu fchlagen, er glaubt, ihr 


12) 


etwas fuggerieren, fie zur Nahahmung anregen zu 
fünnen. — In ähnlicher Weile wie mit Hand- 
lungen, fuht man durch Worte zu wirken. Statı 
die ganze Handlung, die man wünſcht, puppenhaft 
und fchaufpielartig darzuftellen, meint man es {hon 
dabei bewenden laffen zu fönnen, daß die betreffende 
Handlung einfah in Worten geſchildert oder in ein 
paar Worte andeutungsweife zufammengepreßt 
wird. jemandem zu fagen: „Stirb! ift ſchon fo 
viel, wie wenn man die Holzpuppe mit dem Speer 
durhbohrt oder eine Kröte ins Feuer geworfen 
hätte oder dergleichen. 


Wenn die Kai-Leute im Hinterlande des Huon- 
Golfes von Neu⸗Guinea an das Auspflanzen der 
Shößlinge der für fie lebenswichtigen Knollen- 
früchte, der Vams und Zaro, geben, fo ift allerlei 
Vorſicht nötig. Aber es genügt niht, daß die 
Pflänzlinge forgfältig behandelt werden, fondern 
es müflen ihnen aud entſprechende Worte mit auf 
den Weg gegeben werden. Bei einem foldhen 
Zauberjprud daheim, bevor man ing Feld geht, 
werden alle Yams - Sorten aufgezählt und dabei 
immer gemurmelt: „Brih hervor, Schößling, brih 
hervor!’ oder: „Werde lebendig!” ufm. Wor dem 
Auspflanzgen draußen auf dem Felde werden die 
Pflanzlinge abermals beiproden: „Rante empor!” 
oder: „Bobre dich hinein in die Erde!” — Aber 
man berührt die Pflänzlinge auh noh mit dem 
Knochen eines in einer tiefen Höhle erlegten WiL 
der. So- tief wie jenes Wild in die Erde ein- 
drang, fol aud die Damsmwurzel hinunterwachſen. 
Manche Kai - Leute gebraucen ftatt der Knochen 
einen Splitter des Niefenpandanus (Palme). Auf 
diefe Weife follen die Früchte, die der Baum ge- 
wiſſermaßen „vorgemacht“ hat, dag Wachstum der 
Damstnollen beeinfluffen. 


214 





Der Weg, auf dem eine Zauberwirfung erreicht 
werden fol, ift vor allem die Berührung. 
Wenn dabei von einem „Seelenſtoff“ gefprochen 
wird, der etwa zur Uebertragung gelangt, fo ift das 
ein Degriff, der nicht mehr finnlich genug gefaßt 
jeın dürfte. 
Kai-Papun in Berührung kommt, läßt gewifler- 
mafien etwas von feinem — wie ich lieber fagen 
möchte — „Ichſtoff“ zurüd. Er ſchwebt beftändig 
in Gefahr, daß fo diefen Teilchen feines Jh ein 
Leid zugefügt wird. Dadurch fann ihm felbft aber 
Schaden entftehen. Bleibt ibm auf dem Weg 
durh den Wald an einer dornigen Ranke ein 
Büchel Haar hängen, oder eine Safer feines Gür- 
telftoffes, fo gebt er nicht weiter, bevor er nicht 
jede Spur davon befeitigt hat. Darum wirft er 
auh nichts weg und hält den Dorfplag peinlich 
fauber. ft er in einem befreundeten Dorfe zu 
Saft, fo bebt er jede Betelnußſchale forgfältig m 
feinem Netztäſchchen auf, dag er ftets mit fih her⸗ 
umträgt, oder er wirft die Weberrefte ins Feuer. 
Denn mit folhen Abfällen Eönnte der gefürdhtete 
Meftezauber angeftellt werden. — Auh an 
dem Pas, an dem ein Menſch gefeflen bat, bleibt 
etwas von feinem „Ichſtoff“ zurüd. Dieſer wird 
dadurch befeitigt, daß man vor dem Weggang durd 
Stampfen mit dem Fuß oder durh Stoßen mit 
dem Stod die Wärme oder den Gerud, der von 
der Perfon zurücfgeblieben ift, zerftört, — ähnlich 
etwa wie ein Hund feharrt, wo er defäcierte. Aud 
Waller benugt man gelegentlich zu diefem Zwet, 


um den Platz zu befprengen, oder Blätter, um fie 


auf den Platz zu legen, den fie „kühlen“ follen. 


An diefem Verhalten jehen wir, in welcher Weife 
phnfifalifche Vorgänge der animalifhen Wärme- 
abgabe oder Erſcheinungen des phufiologifhen Ge- 
ruhe gedeutet werden. Hier liegen eheimniffe 
für den Maturmenfhen. Er fpinnt daran Hypo- 
thbefen. Der „Ichſtoff“ fann nämlich aud, meint 
er, übertragen werden, und damit gebf eine 
Uebertragunmg, wie man weiter theoretifiert, 
von Kräften und Eigenichaften vor fih. Was mit 
einem Menfchen in Berührung fommt, erhält etwas 
von feinem „Ichſtoff“ und umgekehrt. Eine Trag- 
laft wird auh fchmwerer durd die Berührung mit 
einem ſchweren Gegenitand. Die Fühigfeiten und 
Eigenfhaften, aber auh der Wille einer Perfon 
erfüllen feinen „Ichſtoff“. Diefer ift gut bei 
einem guten Menſchen, böfe bei einem böfen Men- 
ſchen; auch der in feinen Gliedern oder Augen 
wohnende „Stoff it eg dementſprechend. Daran 
knüpft fih vor allem der Glaube an den „böfen 
Blid”, der in dem indiſchen und iſlamiſchen 


Denn in allem, womit 5. B. der 


Denfformen der Maturvölfer. 





Kulturgebiet ganz befondere Ausbildung erfahren 
þat. 

Die Uebertragung folder Kräfte fann aud durd 
Mittelglieder erfolgen, fo 3. B. dadurd, 
dag ein Mann ein Steindhen vom Erdboden auf» 
hebt und damit eine Frau wirft und fie trifft. 
Durd das Steinen hat er etwas von feinem „Ich— 
ftoff auf die Frau übertragen. Nady diefem She- 
ma ftellt er die Theorie auf, daß eine Frau z. B. 
deshalb einen Mann Tiebt, weil diefer die Frau 
direft oder indireft berührt und dadurd „Ichſtoff“ 
auf fie übertragen bat. Diefe Deutung wird aber 
wieder benugt, um gelegentlih ein anderes Ber- 
fahren daran zu knüpfen. Merkt z. B. der Ehe- 
mann an dem veränderten Verhalten der Frau, 
dag fie ihm untreu ift und bringt den fchuldigen 
Mann in Erfahrung, fo Fann er den Verführer 
zur Zurüdnahme feines „Ichſtoffs“ veranlaflen. 
Der Ehebreher muß mit einer Zigarette erft die 
Grau berühren und dann fih felbft Beine, Arme 
und Leib damit ftreihen. Hierauf fpudt er die 
Zigarette an, zum Zeichen, daß er der Frau jest 
abgeneigt fei. Die Frau muß darauf an der Zi- 
garette rauhen. Dadurd zieht fie fih mit dem 
Raud angeblich die Abneigung des Mannes in fih 
ein, wodurch die bisherige Zuneigung abgetötet wird. 
Zum Schluß muß der Mann nod über die am 
Boden fisende Frau binmwegfchreiten. Dem Tiebes- 
sauber wird bier eine Tiebesentzauberung auf 
Grund desfelben Denkſyſtems entgegengefest. 

Diefer „Ichſtoff“ wird wie ein unfichtbares 
„Fluidum“ aufgefaßt und fann daber auh ein- 
gefangen werden, wie 3. DB. in Weftafrifa da- 
dur, daß man nad dem Schatten eines Worüber- 
gehenden in die Hände Elatfcht, wie wenn man eine 
liege fängt. Dies wird dann forgfältig nad 
Haufe gebraht und zur weiteren Zauberbehand- 
lung in einem Gefäß aufbewahrt. Andererfeits 
gewährt diefe Auffaffung den Vorteil, daß man fid 
aud) wieder ftofflih gegen gefährlide Einflüffe 
fhüsen fann, fo 3. B. in Neu-Guinea durch Cin- 
reiben mit dem Safte beftimmter Schlingpflanzen. 
' Wie oben an dem Beispiel des geworfenen 
Steinchens gezeigt, fann diefes zum Träger des 
„Ichſtoffes“ werden. Damit hängt der Feti- 
ſchis mus zufammen. Ich meine nicht letztlich 
in den pſychiſchen Untergründen, ſondern in dem 
rationaliſtiſchen Gedankenſyſtem, das wir bei ſehr 
vielen Naturvölkern in der geſchilderten Art aus- 
geprägt finden. Dem Fetiſch als folden wird Fein 
Wert zugeihrieben. Er befommt ibn durd den 
„Ichſtoff“ von einem Menfhen oder Geift oder 
ſonſtigen Weſen. Solche Fetifhe können daper 
alle möglichen Gegenſtände, Pflanzen oder Tiere 





werden. Der Unterarmknochen eines Toten, der zu 
Yebzeiten ein großer Jäger war, enthält von diefem 
ber feinen bejonderen Anteil am „Ichſtoff“ der 
Verftorbenen. Wer den Knochen nun auf der Jagd 
benust, auf den überträgt fih die befondere Kraft 
des Foten. Derartige Amulette ftellen ge 
viſſermaßen mit „Ichſtoff“ geladene „Leidnerfla— 
ſchen“ vor. Vermöge der angedeuteten Iſolie— 
rungsmethode wickelt man ſolche Amulette z. B. 
in Blätter ein, um ibre Kraft gut aufzubewahren. 

Man nimmt nun on, daß die „Ichſtoffe“ be 
indere Beziehungen untereinander unterhalten, 
wenn fie einander ähnlich find. Worauf baut 
man aber die Aebnlichkeit auf? Auf finnfälligen 
Erideinungen. Ein weißer Blatt von der Größe 
ind Form des Eis eines Großfußhuhns enthält, 
wie man denkt, den gleihen „Stoff“ wie diefes 
Ei ſelbſt. Eine ganz oberflählihbe äußerliche 
Nchnlichkeit genügt, um darauf die Annahme einer 
inneren, weientlihen Gleichheit aufzubauen, gerade 
ie wie in dem Falle des eingangs angeführten 
„Blutſees“ zwiſchen eifenbaltigem Wafer und 
Blut. Gebt der Mann in den Walt, um Eier zu 
ſuchen, ſo benust er das weiße Baumblatt, damit 
es, wie eine Wünſchelrute, feine Schritte zu den 
Ciern lenfe. Gleiher „Stoff ftrebt zueinander. 

Wenn aub nicht immer der Glaube an der- 
artige Hilfsmittel fo fet ftebt, daß eigenes Denten 
und Zun überflüffig wird, fo glaubt man dod 
andererfeits, ohne die Benutzung derartiger „Hil— 
en” zu feinem Erfolge zu gelangen. So durd: 
eben das ganze Leben der Maturvölfer Vorkeh— 
rungen gegen verfciedene Gefahren der ll 
oder des Außerlihen Schickſals. 

Unter den Burpaten der Uriandai Nordoſt 
Eibiriens nimmt man folgende Zeremonie vor, um 
cin Kind am Leben zu erhalten, falls ein früber qe 
berenes jung verftorben war: man nimmt das Kind, 
vertedt es unter den Kochkeſſel und legt darüber 
ein Ahnenbild aus Haſenfell. Dann formt mean 
ous Teig von Gerſtenmehl eine Figur, welde das 
Rind darftellen fol. Ein Schamane (Zauber: 
priehter) beginnt nun feine Zeremonien über 
ter Geſtalt aus Teig, wodurch angeblich diefe 
Seben befommt. Ihr Unterleib wird aufge: 
\hnitten; amgeblich foll das Blut aus der Teig 
figur zu fließen beginnen und das Teigfind unter 
den Schmerzen der Meſſerſchnitte fehreien. Der 
Körper des Zeigfindes wird in drei Stücke zer: 
idnitten und fern vom Haufe begraben. 

Eine äbnlihe Zeremonie finder bei den benach— 
tarten Diurbiut fatt. Dort wird das Kind 
on einigen Verwandten geſtohlen und unter dem 
Keſſel verftedt, während diefelben Verwandten 


Denkformen der Naturvolker. 





— E et E 





mittlerweile eine Puppe anfertigen und dieſe in das 
Zelt der Eltern werfen. Wenn die Eltern die 
Puppe finden, fo maden fie fo, als würden fie ibr 
leibhaftiges Kind tot fehen. Unter Aufwand von 
areßem Getue beweinen und begraben fie die Puppe. 
Damit fol nun der böfe Geit (Ehiftur) qe- 
tàufd t werden, er fol glauben, das echte Kind 
jci geftorben und begraben worden. Durch tiefe 
Täuſchung fol erzielt werden, daß er dem Kind fein 
weiteres Uebel zufüge. Dem erften Fall, der von 
den Uriandai berichtet wurde, liegt ebenfalls 
der Gedanke einer Täuſchung des böſen Beiftes zu- 
arunde, weil dag Kind unter dem Kochkeſſel verſteckt 
wird. Das Erſatzkind wird in dem Gedanken ge- 
tötet”, daß der Schamane an Stelle des Geiſtes 
das Kind felbft tötet. Diefe Gedanfengänge liegen 
den zahlreichen Formen der Erſattzzopfer m 
grunde. 

Bei vielen Naturvölkern, wie 3. B. bei den 
reiften papuaniſchen und melaneſiſchen Stämmen 
der Südſee, wird faft jeder Todesfall, fo 
weit er nicht einen gebrechlichen Greig trifft, als 
ein Ereignis angefehen, bei dem es nicht mit rechten 
Dingen zugegangen fein fann. Die Urfade für 
tie meiften Todesfälle glaubt man in dem Uebel- 
wollen irgend einer feindlihen Perfönlichkeit fuchen 
za müffen. Einerſeits wird man vom Miktrauen 
vegen die Nachbarn beberricht, andererfeits bat man 
fid) ebenſowenig mit: der phyſiologiſchen Tatſache des 
Todes, wie mit der Geburt abgefunden. Dazu 
kommt, daß eine endlofe Zahl von Krankbeits- und 
Todeszaubereien in Uebung ift. — Das Merkwürdige 
daran ift indeflen, daß diefe Zaubereien, die uns in 
ibrer ganzen Auffaſſung lächerlich und kindiſch er- 
ſcheinen, doch keineswegs ihre Wirkung in der Weiſe 
serfeblen, wie wir es annehmen würden. Zwar 
gibt es eine ganze Zahl von Giftzaubern, bei denen 
in unauffälliger Weiſe dem Opfer irgend welde, 
manchmal nur langſam mirfende Schädlichkeiten, 
wie z. B. mit Widerbafen verfebene winzige Bam- 
bushärchen oder echte Gifte beigebradt werden. 
Manchmal jedoch wirft ein an fih barmlofer Zan- 
ber dadurch verbeerend, daß das Opfer in derartigen 
Schrecken verfeßt wird, daß es fid unficher fühlt, 
ſich entſetzt und ſorgt, ſchließlich Ungeſchicklichkeiten 
begeht und wirklich ſtirbt. Der ganze Prozeß der 
Zauberhandlungen erſtreckt ſich mitunter über 
Moden und Monate und läuft vielfach darauf bin- 
oug, daß man iracnd einen Teil des „Ichſtoffs“ 
eingefangen bat und auf diefe Weiſe vom Teil ber 
(Gewalt über das Ganze gewonnen zu. baben meint. 
Die befonders dauerhaften oder der Verweſung 
nur wenig ausgefenten Teile des menſchlichen Kür- 
pers, wie Haare, Zähne und Fingernägel find dazu 


216 _ 








befonders geeignet. Außerdem aber verfchiedene 
Ausfonderungen: Schweiß oder Auswurf, Körper: 
ſchmutz der Haut ufw., ferner Speiferefte, Fußſpur 
und dergleihen, an denen Wärme oder Gerud 
haftet. Solde Teile oder Mefte behandelt man mit 
allerlei umftändlihen Zeremonien und fucht fie da» 
dur, daß man fie einwidelt, in ihrer Wirfungs- 
fraft zu erhalten. Durch Worbildhandlungen oder 
MWortbefehle wird ein foldes Päckchen verwertet, 
um die Wirkung auf den Menſchen auszuüben, über 
defen „Ichſtoff“ man Gewalt erlangt bat. 

Während fo in der Tat allerlei böswilliger 
Zauber geübt wird, trägt doch nicht an allen Tobes- 
fallen derartiger Zauber Schuld. Die Meinung 
jedoch, daß faft flets irgend ein Zauber einer 
Kranfpeit, einem Unglüd oder einem Todesfall zu- 
arımde liegen muß, führt teils zu einer Berängfti- 
gung, teils zu Rachetaten. 

Um ben vermeintlichen UWebeltäter ausfindig zu 
machen, fchreitet man nicht etwa an eine unvorein- 
genommene Unterfuhung des Falles, fondern man 
gebt fofort, mit Argmohn gegen beftimmte Leut: 
oder Dörfer, an das Stellen eines Orafels, 
z. B. in der Weife, daß man verfchiedene Dörfer 
und in diefen Dörfern die Namen einzelner Per- 


fonen berfagt und dabei beobachtet, wie ein balan. 


zierender Knochen oder ein Mufchelfcheibchen fid) 
verbält. Fällt diefeg bei der Nennung eines Namens 
um, oder fällt eg in einer beftimmten Richtung, fo 
bat man damit den MWebeltäter feftgeftelt. Daß 
dabei dem Vorurteil und der gehäffigen Einftellung 
desjenigen, der das Orakel veranftaltet, breitefter 
Spielraum gegeben wird, bedarf Feines Hinmeifes. 


Mit dem Gedanfen, daß der „Ichſtoff“ in be- 
ftimmten Organen des Menfhen manchmal in be- 
fonderer Weife Eonzentriert ift, hängen verfdhie- 
dene Formen dee Kannibalismus zufam- 
men. Denn bei feßterem werden haufig gewiſſe 
Teile bevorzugt. Bevor bei dem auftralifchen 
Stamm der Dieri der Leichnam eines Ange- 
borigen in das Grab gefenft wird, tritt der nächſte 
enwefende Verwandte des Berftorbenen beran und 
fchneidet alles Fett am Gefiht, an den Tenden, an 
den Armen und am Magen weg, und reiht es den 
Verwandten, die es verzehren. Und zwar gefchieht 
dies nadh einer beftimmten Ordnung: die Mutter 
sehrt von ihren Kindern, die Kinder von ihren 
Eltern, ein Mann ift von dem Gatten feiner 
Schweſter und von der Frau feines ‘Bruders ufw. 
Man fagt, daß die Verwandten von dem Fett ge- 
nicken, damit fie nicht mehr traurig feien. Ein 
anderer Stamm, die Tangara, fchleppen dic 
Ueberreſte ihrer DVerftorbenen mit fid und wenn 


Denkformen der er Maturvöller. 


ihrer ersehen: Angehörigen dir 
Trauer padt, fo effen fie immer ein Stück 
Fleiſch von ihnen, bis ſchließlich niht mehr 
übrig bleibt alg die Knochen. Wieder ander: 
Stämme, wie 3. B. die Kurnai Güde: 
Auftraliens, verzehren nicht ihre eigenen Ange- 
bärigen, fondern nur ihre Feinde, und nicht den 
ganzen Körper, fondern nur die Arm» und Bein- 
muskeln, die Haut der Lenden und der Körper- 
feiten, in denen der Sit befonderer Kräfte ver- 
mutet wird. 

Bei den Kopfjägerſtämmen fnüpft das 
Erbeuten der Schädel wohl an die grundfäklid 
gieihen Gedankengänge an; fie fuben bier jedoch 
ihre befonderen Wege und Fonzentrieren die Jb- 
finffe im Schädel. — Es muf nabeliegend er 
ſcheinen, daß bei Völkern, unter denen eine Íe- 
siale Shidhtung Mas gegriffen hat, dir 
Auffaffung verbreitet ift, daß die Fulturell über 
legene Schicht, ganz befonders aber der ausgezeich— 
nete Träger der oberften Macht, mit befonderen 
„Ichkräften“ ausgeftattet fei. Die Madır diefer 
Häuptlinge oder Fürften äußerte fid viel weniger 
auf dem Gebiete der Regierung, als in der Aus 
übung mopftifher Kräfte. Die großen Häuptling: 
von Samoa galten früber (big zum Eindringen 
europäifch-amerifanifcher Kultur als fo mit Heli 
feit geladen, daß alles, was fie berührten, davon ct: 
faßt wurde. Sie mußten daher in einem von den 
übrigen ifolierten Haufe Ieben. Denn man hielt 
ea für gefährlich, fih ihmen wegen des tötlihen 
Einfluffes zu naben, der von ihrer Perfon aus 
ftrahlte. Der Körper des verwegenen Eindring: 
lings würde anfchwellen und Tod die Folge fein. 
Diefe Fürften nahmen ihre Mahlzeiten getrennt 
von den anderen, weil alles, mas fie herührten, 
von ihrem potenzierten „Shftoff — Mana - 
infiziert wurde. Niemand durfte vor allem N 
Speifen, die fie zurüdaelaffen batten, ohne Gefahr 
für fein Leben verzehren. Aber auh niemand 
durfte unmittelbar neben ihnen fiken. Nur die 
höchſten Adligen Eonnten ihnen naben. ie waren 
mit den Attributen nicht eines Königs, fondem 
eines „Gottes“ ausgeftattet. Diefe Herrlichkeit 
hatte jedoch ihre Kehrfeite, die z. B. draſtiſch bei 
dem zentralafrifanifhen Stamm der Bakitara 
in Erſcheinung trat. Der mit myſtiſcher Madi 
begabte Fürft durfte nur gefund und kräfti— 
fein, nur fo ftellte er den befriedigenden Nepri 
fentanten feiner Hirtenfafte dar. Mabte ibm 
Krankheit oder Alter, fo erfehien der Oberzauberer 
bei ibm mit einem in einer Eiſchale ftets bereit 
gehaltenen Menge Gift. Der Fürft wußte dam 


fie wegen 


A, 








Der Lauſitzer Kulturfreis. 





was er zu tun hatte. Seine Stunde hatte geſchlagen. 
Ein gleihes Schickſal traf auch die erfte Dame 
des Landes, die „Königin - Mutter‘. Aud diefe 
jollte ein ftetslebendes Idealbild ſein, das 
nie erfranfte oder alterte. Auch fie mußte abtreten, 
wenn die Menfchlichfeit den Tribut von ihr for- 
derte. Cine andere nabe Verwandte des Königs 
wurde dann ausgeſucht, die höchfte Ehre, Prunf und 
Macht auf fie gehäuft, doh ſchwebe aud über ihr 
das gleiche Verhängnis. — .c.c.. 

An einer Reihe von Beifpielen wurde verfucht, 
einige Grundzüge des primitiven Denkens anzu- 
deuten. Micht die Logit des Denkens ift an fid 
eine andere, fondern nur die Denfeinbeiten, 
mit denen die Logif operiert, find verfchieden. Dieſe 
Einheiten find 1) Eomplere Gebilde, welde 
die Möglichkeit vielfaher Verknüpfungen eröffnen. 
2) Die Qualitäten, die von dieſen Einheiten þer- 
ausgegriffen werden, betreffen Sinnfälliges, 
wie das weiße Blatt in Farbe und Form dem Ei 


ähnelt und daher mit ihm in Verbindung gebradjt 


wird. Die Metaphern und Symbole 
ftellen Beftandteile dar, die je nadh affektiven Be- 
ziehungen aus dem finnlihen Bildfompler heraus- 
gegriffen find. Irrig wäre, bei Maturvölfern das 
‘Bedürfnis nah Aufftelung von Kaufalzu- 
fammenhängen zu leugnen. Diefe werden 
nur aus anderen Erfahrungseinheiten Fonftruiert. 

Man darf niht vergeflen, daß fih die Kenntnis 
von den Erfcheinungen und ihren Zufammenhängen 
in allen primitiven Kulturen trog Nachahmungen 
und Erwerbungen von Fremden aus einer verhält- 


— — — — — — — —— — — — 





Die bronzezeitliche Kultur des öſtlichen Deutfch- 
lands und der Nachbargebiete, die uns in zahl- 
reihen Funden aus Siedlungen, Gräbern und 
Befeftigungsanlagen vorliegt, weift eine fo offen- 
fundige innere Gefchloffenheit auf, dag wir fie 
einem einheitlihen Wolke zufchreiben müflen. Sie 
wurde der Forſchung zuerft aus den großen Gräber- 
feldern der Laufig befannt und ift deshalb von dem 
berühmten Rudolf Virchow nadh dem in der Bor- 
gefhichte üblihen Braud, Kulturen nad dem Ort 
der erften charafteriftifchen Funde zu benennen, als 
„Lauſitzer Kultur‘ bezeichnet worden. ‘Die zahl- 
reihen Grabungen der Folgezeit ergaben bald, das 
diefe Laufiser Kultur Eeineswegs auf die Lauſitz 
befhränft it. Ihre Weftgrenze beginnt nadh Kof- 
finna (Die Herkunft der Germanen, Leipzig, 1920; 


217 














nismäßig winzigen Erfahrungswelt 
ableitet. Das Weltbild iſt daher ganz aufer- 
ordentlih ortgebunden. Wenn fon dadurd 
eine Buntheit der Auffaflungen und der konkreten 
Syſteme bedingt ift, fo dürfen wir des weiteren 
auch nicht außer adıt laffen, daß ganz erhebliche 
Unterfchiede der Primitivität beftehen. Die Ted- 
nif der Hand und die Einfiht in die Zufammen- 
hänge der Vorgänge ift febr verfchieden etwa bei 
den Kubus im Innern von Sumatra einerfeits 
und bei nordweftamerifanifchen Indianern anderer- 
feits. Nichtsdeſtoweniger ergeben fih für die Per- 
ipeftive, aus der wir in dag Geiftesleben diefer 
Völker zu bliden verfuchen, gewifle Gemeinfam- 
feiten. Seien wir dabei aber aud) eingedenf, dnp 
das primitive Denfen in feiner Methode, die von 


den Aeußerlichkeiten und den finnfälligen Erfcei- 


nungen gefragen und von den Affeften des Wün- 
ſchens und der Furcht ftarf beeinflußt wird, aufer- 
ordentlid bequem ift und felbft in das Alltagsleben 
von uns noh weit hineinragt. 

Religion und Mythos wurden hier mit Abficht 
übergangen, weil mir fcheint, daß das unerjhöpf- 
lihe Bereich der „Zauberei“ tiefere Einblide in 
die Gedankengänge der Maturvölfer geftattet. 
Eine eingebendere Behandlung der in diefem Auf- 
fag angefchnittenen Probleme finden fih in ver- 
fhiedenen Artikeln des „Reallexikon für Vorge— 
fhichte‘‘, herausgegeben von Mar Ebert, 1925; 
namentlih unter den Stichworten: Eid, Fluch, 
Häuptling, Jdol, Jünglingsweihe, primitives Den- 
fen, Schwur, Talisman, Zauber. 








P) 








vgl. auh meine Germanifhe Vorzeit, Leipzig, 
1923) bei Wolgaft und verläuft etwa über Fried- 
land in Medlenburg, Prenzlau, Angermünde, 
Eberswalde, Berlin, geht dann fpree- und dahme- 
aufwärts ein Stüd nah Südoſten und fhwingt 
nun in großem Bogen zur Einmündung der Saale 
in die Elbe, wo fie bereits ein fremdes Kultur- 
gebiet, nämlid das der Kelten, berührt. Weiter- 
bin läßt fie fih längs der Saale und Weißen 
Eifter aufwärts bis zum Fichtelgebirge verfolgen 
und begleitet dann den Kamm des Böhmerwaldes. 
Selbftverftändlih ift diefe Völkergrenze niht als 
politifche Grenzlinie anzufeben, fie gilt überdies 
nur für die zweite Periode der Bonzezeit, alfo 
etwa für die Zeit von 1700 bis 1400 vor Chr. 
‘ferner war nad den bisherigen Funden das Ge- 


218 EEA 
biet der Lauſitzer Kultur niht zufammenhängend 
beſiedelt. Viekmehr treten die Weberrefte jener 
Frühzeit bier und da in größeren Gruppen auf, 
zwifchen denen weite Tandftreden öde lagen. So 
ift der füdöftlid der genannten Grenze liegende 
Teil des Kreifes Barnim, das engere Forfchungs- 
und Grabungsgebiet des Verfaſſers, damals 
berrenlofes Dedland gewefen. Das VBerbrei- 
tungsgebiet des Laufiker Typus umfaßt alfo 
die Oftteile von Pommern, Medlenburg, der Mart 
Brandenburg, ferner Anhalt und Sadfen, Böh- 
men, Schlefien und Pofen und erftredt fih über 
Ungarn donauabwärts in die Balkanländer; ja 
bis Troja laffen ſich Beziehungen feftftellen. 

Das Bild, das uns die Rulturfunde der 
Laufiker zu entwerfen geftatten, ift zwar feines- 
wegs Tüdenlos, aber dank der großen Zahl und 
der Meichhaltigfeit des Materials immerhin fo 
vollftändig, daß es vor unfern Augen greifbar deut- 
ih wird, ja daß eg uns fogar die geiftige und 
firtlihe Anlage der Träger diefer Kultur enthüllt 
und in Umriffen den Derlauf ihrer Gefhichte er- 
fennen läßt. Trotzdem fehlt ein zufammenfaffen- 
des Werf über die Laufiser Kultur nod) immer. 
Der Grund dürfte darin liegen, daß einerfeite 
die Funde der älteren Zeit erft teilweife veröffent- 
licht find und zuverläflige Sundberichte darüber zu- 
meift fehlen, andererfeits jedes Jabr zahllofe neue 
Sunde bringt, die unfere Kenntnis und Erfenni- 
nis vervollftändigen oder berichtigen, ja dag ein 
Gebiet, nämlih die Siedlungsforfhung, nod) in 
ihren Anfängen ftedt; endlih aber, daß das 
Verbreitungsgebiet diefer Kultur fo umfang- 
reih it, daß bei dem Mangel an gründlichen 
Vorarbeiten für die einzelnen Landesteile diefe 
Aufgabe die Arbeitskraft eines Forſchers bei wei- 
tem überfchreiten würde. Trotz diefer Schwierig— 
teiten ift eg für die Wiſſenſchaft wertvoll, wenn 
fie von Zeit zu Zeit die Ergebniffe der Sonder- 
forfhungen zufammenfaßt und einen Weberblicd 
über den Stand des Erreichten gibt. Cine ſolche 
Skizze will unfer Auffas fein. 

Bis zur legten Jahrhundertwende befhränften 
fid die Grabungen im Gebiete der Taufißifchen 
Kultur ausfhließlih auf die Gräber, und nur auf 
ihren Einfhlüffen baute fid das Kulturbild auf, 
das wir von jener Frühzeit entwarfen. Wo man 
Zote beftattet bat, müſſen aber aud) Lebende ge- 
feien baben, und wichtiger als die Pleine Aus- 
wahl von Tieblingggegenftänden, die man den Wer- 
ftorbenen mit ins Grab gab, muğ das fein, was 
ibm enf im Leben zu tüglibem Gebrauch gedient 
bat. Erft die durd die Limesgrabungen (d. D. 
tie Grabungen an dem römiſchen Grenzwall mut 


_ Der Lauſitzer Kulturkreis. 


` men. 


feinen Kaftelen und Heerlagern) gefhulte Technik 


bat es ermöglicht, daß die Siedlungen, die 
längt vom Erdboden verfhmwunden find, wieder- 
erftanden und das einfeitige Bild der Vorzeitkultur 
vervollftändigten. As Mufterbeifpiel diefer Art 
Sorfhung wurde. die Grabung Kiekebuſchs bei 
Budh an der Nordbahn vorbildlih, über die wir 
im Heft 7, 1924, berichteten.) Seitdem find 
zahlreihe andere Wohnftätten der Laufiker aufge- 
def worden, und immer neue werden folgen oder 
fih dodh wenigftens feftftellen laffen. Bud lehrte 
ung, was die ausgedehnten Friedhöfe der Taufiser 
Kultur bereits vermuten ließen, daß ihre Träger 
co liebten, in zufammenhängenden, wenn auch nidyt 
geichloffen angelegten Dörfern zu fiedeln. Das 
Haufendorf war alfo, wenigftens in den bis jekt 
befannten Gebieten, eine der Hauptfiedlungsfor- 
Eine folhe Anlage hat aud) vor den Toren 
Strausbergs, des Wohnortes des Verfaſſers, be- 
tanden, ift freilih im einzelnen nicht mehr zu er- 
mitteln, da die neuzeitlihe Bautätigkeit und die 
Garten- und Aderwirtfchaft die meiften Spuren 
längft zerftört bat. Die Häufer diefer Dörfer 
waren Pfoften- und Blockbauten, die mit einem 
Strob- oder Schilfdach gededt und mit Lebm- 
bewurf verpust waren. Zumeift beftanden fie nur 
aus einem Raum, fo daß für jeden befonderen 
Zweck aud ein befondereg Gebäude erforderlich 
war. Dod finder fid manchmal aud eine Wor- 
halle oder eine Kammer abgefhlagen, und ber 
Raum unter den zum Shuke der Pfoften weit 
berabhängenden Dächern wurde gelegentlih durd 
eine leichte Vorwand abgefhloffen und vermutlich 
als Holz- oder Vorratsfhuppen verwandt. Die 
zufammengehörigen Gebäude bildeten ein Geböft, 
dag mit einem Zaun umgeben war. Won allen 
find natürlib nur die dunklen Pfoftenlöder, die 
den Grundriß erfennen laffen, und Mefte des 
Lehmbewurfs übrig geblieben, aus dem man oft 
Schlüſſe auf die. Form und Stärfe der Balken, 
die DBenusung von Flechtwerk ufw. zieben tann. 

Die Einrihtung der Häufer ift teilweife nod 
gut zu ermitteln. Der Boden war gewöhnlich 
feftgeftampft, mandımal mit Felen belegt, fo in 
einem Haufe der Alt-Strausberger Siedlung, das 
der Verfaſſer ausgegraben bat. Längs der Wand 
lief oftmals eine Bank, die, vermutlih ebenfalls 
mit Fellen gepolftert, wohl zum Sißen wie zum 
Schlafen gedient bat. Im Kiüchenhaufe finden 
wir die mit Steinen ausgelegte NHerdgrube, da- 


1) In jenem Nuffas it leider ein ftörendes Drudver- 
jeben zu berichtigen. Abb. 1 (S. 175) ſteht auf dem Kopi 
und it, wie der beigefügte Manttab erkennen läft, von der 
Innenſeite den Heftes aus zu betrachten. 


Der Laufiger Kulturkreis. 


neben eine Afchengrube, bequem erreichbar die in 
die Erde gegrabenen großen Worratsgefäße, ge- 
wiflermaßen die Speifefammer der Bewohner. 
Dod lagen die Herde keineswegs immer im Haug- 
innern. Auch außerhalb habe ih folhe Anlagen 
aufgededt (3. B. in Gielsdorf bei Strausberg). 
Ob erftere zur Nahrungebereitung und leßtere nur 
als Brennöfen für bie Iöpfereierzeugniffe oder 
jene als Winter-, diefe als Sommerherde dienten, 
habe ich nicht ermitteln Fönnen. Im Srauenhaufe 
ebt über einer Grube der Webftuhl; bier 
ſchnurrte aud die Spindel, vom Wirtel befhmwingt. 
Zu dem erhaltenen Hausrat gehören ferner der 
Mahltrog, auf dem in mühfeliger Arbeit das 
Mehl bereitet wurde, vereinzelt auch einmal eine 
fleinerne Herdbanf, wie fie ein Buder Haus auf- 
wies. Was, wie wir fiher vorausfegen dürfen, 
an hölzernem Mobiliar vorhanden war, ift natür- 
lid) reſtlos vergangen. 

Im Dordergrunde jeder Lebensgemeinſchaft fteht 
die Frage nah der Nahrungsbeſchaffung; bie 
Magenfrage ift geradezu die Vorausſetzung für 
das gefamte Kulturleben. Wir dürfen alfo aud 
in diefem Falle an der Trage nah der Wirt- 
Ihaftsform der Laufiger nicht vorübergehen. 
Daf ihre dörflihen Siedlungen ohne ausgiebigen 
Aterbau garnicht denkbar find, ift von vornherein 
Mar. Talſächlich ift ein folder auch indireft er- 
weisbar. Fımde von teils fhuhleiftenförmigen, 
teils ſchmalen beilblattertigen Geräten aus meift 
fauber gefchliffenem Stein haben offenbar als 
Pflugiharen gedient. Das hölzerne Pfluggeftell 
it zwar nicht mehr erhalten, wird aber dem der 
Germanen geglihen haben, das wir aus ben 
Mooren von Döstrup bei Hobro und Dabergotz 
bei Neuruppin oder von ſchwediſchen Zelfenbildern 
lennen. Nachdem das Land mit diefen Geräten 
aufgeriifen worden war, wurde ihm die Saat an- 
vertraut. Funde zeigen wieder, daß u. a. beifpiels- 
weile der Binkelweizen angebaut wurde. Ge- 
legentlich haben fih angefohlte Körner händemweife 
erhalten; zuweilen find aud einzelne zufällig zwi- 
ſchen den Ton der Gefäße oder in den Wandbewurf 
der Häufer (Gielsdorf) geraten und fo als heute 
wertvolles Dokument auf uns gefommen. Die 
reife Frucht wurde mit den zahlreich gefundenen 
Bronzeſicheln geſchnitten, die in ebenfalls erhalte- 
nen Steinformen als Maffenartifel gegoffen wur- 
den. Die getrodneten und gereinigten Körner 
jerrieb man nun mittels Mahlfugeln in flachen 
Mahltrögen oder zwifchen zwei Mahlfteinen, von 
denen das Strausberger Mufeum ein unvollftändi- 
ges Eremplar befist. Der untere lag feft auf der 
Erbe. Jn feiner zentralen Durchbohrung drehte 
fih die Achſe der hölzernen Handhabe, die durd 
einen zuunterft gelegten flachen Stein, eine Art 


219 


MWiderlager, am tieferen Durchrutſchen verhindert 
wurde. Der obere, bewegliche Stein befist in der 
Mitte eine rechtedige Deffnung, durd die die hier 
mit quadratifhem Querſchnitt verfehene Achſe fo 
bindurdplief, daß zu beiden Seiten ein ſchmaler 
Raum zum Einfchütten ber Körner freiblieb. Diefe 
fanfen während des Mahlens bis auf den unteren 
Stein und famen an ber Seite als Mehl und 
Kleie wieder zum Vorſchein. 

Wenn aud die pflanzlihe Nahrung die Haupt- 
rolle fpielte, fo fehlte doch die fleiſchliche Feines- 
wegs. Sie wurde durch die Viehzucht gewonnen, 
von der wir bisher noh wenig Einzelfenntniffe 
aus diefer Kultur befigen. Daneben hat aud bie 
Jagd. die Kühe mit Speifen verforgt. Von dem 
Gräberfelde von Rüdersdorf bei Berlin, dag dem 
berühmten Kalkfteinbrud feinen Namen geliehen 
hat, befitt das Strausberger Mufeum mehrere 
Heine Rnocdenpfeilfpigen, die wohl als Vogelpfeile 
gedient haben. Ob die zahlreich auftretenden zier- 
lihen Bronzepfeilfpigen ebenfalls zur Jagd be- 
nugt wurden, läßt ſich nicht fiher beftimmen. Doch 
eriheinen fie als Kriegswaffe zu harmlos. 

Wo Aderbau und Viehzucht getrieben wirb, 
da find Gefäße zur Aufbewahrung und Zuberei- 
tung der Nahrung unentbehrlih. Gerade auf dem 
Gebiete der Keramik, der Töpfereifunft, haben 
die Laufiger Erſtaunliches geleifte.. An der Hand 
der Feramifhen Stilarten ift es der Forfhung 
möglih geworden, eine beftimmte Typologie md 
deren relative Chronologie (zeitliche Aufeinander- 
folge) aufzuftellen. Diefe Zeitbeftimmung geſchieht 
hauptſächlich auf Grund der Metallbeigaben, deren 
Solge bereits befannt ift. Beſonders wertvoll ift 
eg, wenn fih die relative Zeit aus der Ueberein- 
anderfolge von getrennten Fundſchichten ein- 
fah ablefen läßt oder wenn, wie am Burgwal 
von Oswitz in Sclefien, die einzelnen Fundplätze 
wenigftens von einander gefondert find, ohne bag 
fih ihre AZufammengehörigfeit verfennen Täßt. 
Neuerdings ift es fogar gelungen, für die Laufiger 
Keramik eine abfolute Chronologie, d. b. eine durch 
Jahreszahlen beſtimmte Zeitangabe feftzulegen. 

Das Kennzeichen der älteren Lauſitzer Periode, 
das ihre Träger noh in beutliher Beziehung zu 
den füdöftlihen Kulturen zeigt, find die nach der 
Hauptzierart der Gefäße benannten Budelurnen, 
nah der die ganze Kultur oft aud die Butel 
urnenfultur heißt. Sie fällt in die dritte Bronze- 
periode, alfo etwa in die Zeit von 1400 bis 1200 
v. Chr. Geburt. Ein Teil der Gefäße diefes Ab- 
Ihnitts, fauber aus freier Hand geformt und mit 
Standfuß und Hals verfehen, trägt am Baud- 
Enid, alfo dort, wo fie ihre größte Breite haben, 
teils von innen berausgedrüdte, teils von außen 
aufgefeste und daher mandmal leicht ablösbare 


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ſyſtemen umrabmt werden. 
ſchwankt zwifchen vier und fieben, gebt aber aud 


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14 








Budel, die gemöhnlih von Freis- oder halbkreis⸗ 
förmigen Furchen, Leiſten, Linien oder Linien— 
Die Zahl der Buckel 


gelegentlich weit darüber hinaus. So beſitzt das 
vom Verfaſſer geleitete Heimatmuſeum in Straus- 
berg ein Prachtſtück mit 14 Buckeln aus einem 
Grabe bei Goſen, Kreis Beeskow. Von einem 
zweiten iſt nur ein Buckelteil erhalten geblieben. 
Die Form dieſer Urnen deutet unverkennbar auf 
die Treibtechnik, die ſonſt an Bronzegefäßen geübt 
wurde. In der Stilart miſchen ſich die verſchie— 
denſten Einflüſſe. Die Beziehungen reichen über 
Thrakien und Ungarn bis in das Troja VII, das 
frühgriechiſche Iiien (etwa 1100 bis 700 v. Chr.), 
wohin nordländiſche Eroberer die Buckelkultur 
trugen, nachdem ſchon im Troja II (etwa 2500 
bis 2000 v. Ehr.), dem Ilion des Priamos und 
Hektor, deutlihe Anklänge erfennbar waren. 
Andererfeits drängen fih voffenfihtlihe Einflüffe 
eines jungfteinzeitlihen Stils auf, nämlich des 
von Walternienburg bei Magdeburg mit feiner 
ftraffen Gliederung und den Eleinen NHenfeln am 
Bauchknick und am Halsanfas. Ungarn erjceint 
als das Heimatgebiet diefer Kultur, die fih mit 
ihren Trägern längs der ‘Donau, Elbe und Oder 
nadh Nordweſten verbreitete und in allmählichem 
Dordringen die oben angegebenen Gebiete erfüllte. 
(Abb. 1.) 

In der vierten ‘Bronzeperiode (1200 bis 1000 
v. Cpr.) klingt die Budelzeit aus (Nachbuckelzeit). 
Die rötlich-gelben oder oderfarbenen Gefähe wei- 
jen in ihrem Schmud zwar noh gelegentlihe An- 


- Hänge an die Dergangenbeit auf, ſuchen aber im 


übrigen nah immer neuen Gejtaltungs- und Orna- 


mentierungsformen. Kennzeichnend find von jeßt 
ab die oft prächtigen Dedihüfeln, mit denen man 
sie Graburnen bededt. 


Der Laufiger Kulturkreis. 


Die Töpfe befigen ge- 


Tr „Ir — ir oe ind ns’, 
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wöhnlich eine ſehr breite Standfläche und ent 
iprehende Mündung und find, wenn fie für den 


täglihen Gebraud beftimmt waren, oftmals außen 


Fünftlih geraubt. Auf diefe Weife folte die fie 
haltende Hand fefter faflen können. Zumeilen 
tragen fie ftatt der hochſitzenden Henkelchen am 
Miündungsrande mehrere Erhöhungen, fogenannt: 
Nuppen, die das Abgleiten eines Bandes verhin- 
dern follten. Neben diefen Töpfen begegnen ung 
zahlreiche Eleine Näpfe mit Henfeln oder ohne fol- 
he, oft mit ſcharfem Bauchknick, und gefhmadvole 
Taſſen. Unter den Heinen Schalen, von denen 
mande vielleiht als Dellampen gedient haben, fal- 
len uns die mit Fühn aufwärts gefchrungenem 
Handhenkel auf. (Abb. 2.) Beſonders merfwür- 
dig find die bislang nod nicht allzu häufigen, aber 
über das ganze Gebiet gleichmäßig verteilten Fleinen 
Pokale. Als typiſche Metallbeigabe diefer Zeit 
erſcheinen in den Gräbern die fchon erwähnten zier 
lihen Bronzepfeilfpigen. 

Mit zunehmender Zeit werden die Gefäße im 
mer zierliher, ihre Gliederung nimmt an Schärfe 
zu, die Gefamtform wird im ganzen gefälliger. 
Standflähe und Mündung werden enger, ber 
Schmud wird reiher. Reben den bräunlicen 
oder rötlihen Gefäßen erfcheinen jeßt auh ſchwarje, 
deren Ornamente vielleicht ehemals weiß ausgelegt 
waren. Kennzeichnend ift der gedrehte Rand, ber 
offenbar die gedrilften Bronzehalsbänder (Tor 
ques) als Vorbild benußt. Die Verwendung des 
Henkels gebt zurüd. 

In der jüngften Periode (6. nordifche Bronze 
periode — ältere Eifenzeit, etwa 800 bie 500 v. 
Chr.) offenbart fih in der Laufiger Keramik deut- 
lid der Derfall. Auf der einen Seite herrſchen 
einfache, dickwandige, plumpe 
Gefäße mit geringer Verzie 
tung und ungefchidten Her 
feln vor, wenn folde über 
baupt vorhanden find. Der 
Oberteil wird gegliedert, die 
Mündung ladet zuweilen aus. 
Oft läuft in einigem Abftand 
unterhalb der Deffnung ein 
Kranz von Muppen um das 
Gefäß. Andererfeits ift dieſe 
Zeit gefennzeichnet durch jier” 
lichſte fpielerifhe Formen, 
wie fie zahlreih z. B. aus 
dem großen Gräberfelde von 
Billendorf in der Laufig zum 
Vorſchein famen. Eine 
zahl Fleiner und kleinſtet 
Schälden, Kännchen und Fläſchchen, Tonbörner 
doppelte und dreifache, aufeinandergefehfe Etagen 
aefähe (Abbildung 7). Räuchertöpfchen 











X 


Der Lauſitzer Kulturkreis. 221 


durchbrochener Wandung, Tiergeſtalten, die aber 
auch ſchon in älterer Zeit auftreten, Klappern und 
anderes mehr begegnen uns. Die geſamte Keramik 
verrät eine meiſterhafte Beherrſchung des Ma— 
terials, aber zugleich ein Tändeln mit der Form und 


ar Eee — 
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Smmerhin muß das Metall mindeftens in den 
nördlichen Taufisifhen Gebieten knapp gewefen 
und daher der Erhaltung für die Lebenden be- 
fonders wert erfhienen fein. Denn merfwürdiger- 
weife begegnen uns in den Siedlungen, feltener 





Tongefässe der 4.Bronzeperiode von Hüdersdorf. 


Abb. 2. 


ein Zurüdtreten des Weſenhaften und Zmedent- 
fprehenden. Zeitlih wird diefer Abſchnitt durch 
die Beigabe von Eifengeräten beftimmt. 

Hinter der erdrüdenden Fülle von Tonerzeugniffen 
treten die Metallge- 
räte auffallend zurüd. 
Das Kulturbild, das ung 
die Funde diefer Art ge- 
währen, ift geradezu dürf- 
tig zu nennen. Ein ganzes 
Gräberfeld wie das an 
Gefäßen fo reihe von’ 
Rüdersdorf hat noh fei- 
nen Schaufaften voll 
Bronzebeigaben geliefert. 
Zumeift handelt es fih 
um dünne Arm- und Fingerfpiralen, Fingerringe 
und Nadeln mit Knopf, Schwanenhalsende oder 
Spiralkopf. Seltener find Zierfnöpfe, Raſier— 
mefler und andere Mefler, häufiger die Eleinen 
Pfeilfpisen, die bereits erwähnt wurden. Auh 
aus den Siedlungen ift nicht viel mehr zum Bor- 
fhein gefommen. Das große Taufisifhe Dorf 
Bud bei Berlin hat nur 25 Stüde gebracht, dar- 
unter einige Nollennadeln und Knopfftiheln. Ein 
Hohlmeißel fand fih in der Strausberger Sied- 
lung. Ebenſo fehlt das Eifen faft ganz an den 
Sundplägen der Spätzeit. Die Urſache diefer 
Dürftigkeit ift wohl weniger im Mangel an Me- 
tall als vielmehr in dem herrfchenden Braud der 
Zotenbeigaben, fo weit es die Gräber, und der frei- 
willigen Aufgabe der alten Siedlungspläge, fo 
weit es die MWohnftätten anbetrifft, zu fuchen. 


in Gräbern, Feuerfteingeräte, die offenbar vielfach 
als Erfag benugt worden find. Won der Hod- 
entwidelten Technik der Steinzeit laffen fie nichts 
mehr erkennen. Sie find Dergröberungen einer 





Abb. 3. 


längft überholten Kunft, die man zwar zum alltäg- 
lihen Gebrauch noh nußbar madt, auf die man 
aber feine Sorgfalt mehr verwendet. 


Wir Angehörigen des Zeitalters der Kosmetit 
(Schönheitspflege) find leicht geneigt, die Kör- 
perpflege der DBorzeit zu gering einzufchägen. 
Daß diefe im Gebiet der Germanen hoh entwidelt 
war, lehren die entiprehenden Funde. Aud bei 
den Lauſitzern begegnen fie ung, wenn auch nicht 
fo zahlreih und vielſeitig. Wir erwähnten bereits 
die Mafiermeffer, die darauf fchließen laffen, daß 
die Männer das Kinn rafierten. Daneben tau- 
hen jene dharafteriftiihen Mippzangen auf, die bei 
den Germanen ftets zum Toilettenbeftef gehörten 
und offenbar zur Entfernung läftiger Haare dien- 
ten. Das Müpdersdorfer Gräberfeld hat zwei fol- 


222 


der zierlihen Zangen geliefert. Bon der Kleidung 
bat fi) bisher nichts entdeden laffen. Dod be- 
weifen die Funde von tönernen Spinnwirteln und 
MWebftuhlgewichten, daß Spinnerei und Weberei 
ausgiebig betrieben wurde, und wir werden faum 
fehlgehen, die Tracht der Taufiger, von örtlichen 
Abweichungen abgefehen, ung der der Germanen 
ähnlich zu denken, von der wir ftattliche Ueberrefte 
befigen. Zur Kleidung trat der Schmud, der teils 
aus Bronzeringen, teils aus Ton- oder Glas- 
perlen, teils wohl auh aus Bein beftand. 

Merkwürdig ift, daß bislang Waffen fo gut wie 
gänzlich fehlen. Selbftverftändlicd haben die Lau- 
figer folde befeflen; aber nicht einmal den reidh 
auggeftatteten Herrengräbern — den Inhalt eines 
ſolchen, im Volksmunde Königsgrab genannten, 
befist das Strausberger Mufeum — find diefe 
Abzeichen männliher Würde und edler Wehr- 
baftigfeit beigegeben worden. So weit wir bie 
jeßt urteilen Fönnen, find die Taufiger fein Triege- 
rifches, fondern ein- friedlih Aderbau- und Vieh—⸗ 
zucht treibendes Volk gewefen. Darauf deutet 
auh die Anlageibrer Siedlungen. Der 
Mas dafür wird ftets fo gewählt, daß er von 
Natur hinreihend gefihert it und durd die ört- 
lihen Verhältniſſe fih felbft verteidigt. Mit Wor- 
liebe fchmiegt man fi) hinter Sumpfgürtel oder 
Waſſerläufe, fegt fih auf Halbinfeln, möglihft auf 
erhöhte Plätze. Wer die Meptifhblätter zu Tefen 
und in die früheren Zuftände zurüchzuverfeßen ver- 
ftebt, der Fann ohne Mifbe die ehemaligen Sied- 
Iungsftellen herausfinden. Wo in dem gefenn- 
zeichneten Gebiet einerfeits Shug und andererfeite 
die notwendigen Lebensbedingungen — braud- 
bares Aderland und trinfbares Wafler — vor- 
handen waren, da darf man getroft eine einftige 
Dorf- oder Gehöftanlage der Taufißer annehmen. 
Bei der verhältnismäßig ftarfen Bevölkerungs⸗ 
dichte wird man felten fehlichließen. 

Nod ein anderer Umftand beftätigt unfere An- 
nahme, daß die Lauſitzer Fein Eriegerifhes Volk 
waren. Wo die natürlihe DVerteidigungsfähigfeit 
des Landes nidyt ausreichte, da wurde fie von ihnen 
fünftlih gefhaffen. So treffen wir überall in 
ihrem Lande auf die Burgmwälle, die zum 
großen Teil bereits der Taufisifchen Zeit ihren Ur- 
iprung verbanfen, zumeift fpäter von den Wenden 
wieder benußt worden find.) Teils handelt es fih 
um einfahe Schanzen, die gewöhnlid auf der Höhe 
einen Herrenfig trugen, — fo der fürzlid vom Ber- 
faffer unterfuhte Burgwal bei der Spismühle 
bei Strausberg —, teils ftellten fie gefchloffene 
Ummallungen dar, die entweder in Sichelform an- 


2) Ueber die wendiihen Burgmalle fell ein fräterer Auf- 
fag beridten. 


Der Laufiger Kulturkreis. 


Beherrſchte und Herrſchende. 


gelegt waren und ſich dann mit der offenen Seite 
an eine Hügelkette oder einen Sumpf oder Sve 
onlehnten oder gänzlih vom Erdwall umhegt wur- 
den. Das berühmtefte ‘Beifpiel der lebten Art ift 
die fogenannte Römerſchanze bei Potsdam. Durch⸗ 
weg finden wir diefe Burgmwälle dort, wo die natür- 
lihen Schusgürtel — Fluß- und Sceengrenzen — 
leichte Mebergangsmöglichkeiten boten. Daher fügen 
fih diefe Wallanlagen oft zu einem förmlichen Ber- 
teidigungsfpftem zufammen, ohne daf man bes- 
wegen eine Planmäßigkeit von höherer Stelle an- 
nehmen muß. 

Trogdem wäre es falſch, wenn wir ung bie 
Lauſitzer als eine politifh und fozial ungegliederte, 
nur durch gleiche Abſtammung und Kultur zu» 
fammenhängende Volksmaſſe vorftellten. Leider 
wiffen wir über diefe Derhältniffe naturgemäß nur 
wenig, da derartige Erkenntnis größtenteils ſchrift⸗ 
liche Weberlieferung vorausfest und folde aus der 
Vorzeit fehlt. Immerhin geben uns die Funde bier 
und da einige Fingerzeige über die foziale 
Gliederung. Wie fih in der Einfriedung der 
einzelnen Gehöfte das Vorhandenſein des Eigen- 
tumsbegriffs offenbart, fo zeigt fih in ber Anord- 
nung der Häufer und Gräber deutlich der Unter- 
fchied zwifhen Herren und Knechten. Während 
in Budh die meiften Häufer wie in den deutſchen 
Haufendörfern regellos angelegt waren, fanden fih 
einmal adt eng nebeneinanderliegende kleinere Hüt- 
ten, die zu einer größeren Halle gehörten. Offen- 
fihtlih hat hier ein Mächtiger feinen Untergebenen 
feinen Willen aufgezwungen. In dem erwähnten 
Königsgrabe bei Gielsdorf, Kreis Oberbarnim, 
deffen enge Grabfammer zwei Brandurnen, wahr- 
fbeinlih die des Mannes und der Ehefrau, auf- 
wiefen, jede von einer ftattlihen Anzahl Funftvoller 
Beigefäße umftellt, wurden in den oberen Stein- 
lagen fchlichte Mebenbeifegungen ganz rober Art 
beobachtet, zweifellos die der Knechte des Beftatte- 
ten. Aud die umliegenden Gräber diefes Fried- 
hofes, die zum Teil vom Verfaſſer aufgebedt wor- 
den find, wichen in Anlage und Ausftattung auf- 
fallend von jenem Hauptgrabe ab. Der Bolte- 
mund, ber bis zur Gegenwart die Bezeichnung 
„Königegräber” bewahrt hat, ohne daß Außerlid 
Unterfchiede erfennbar waren, dürfte alfo Redt 
haben. Schon damals fpaltete fi die Bevölke⸗ 
rung in Arme und Neide, Knete und Herren, 
Wie weit deren 
Machtbereich aing, ob fie untereinander Verbindung 
hatten, ob eine Obergemwalt beftand ufw., entzieht 
fi natürlich unferer Kenntnis. Vermutlich ift der 
völfifhe Zufammenhang ebenſo wie bei den jünge⸗ 
ren Germanen nur lofe gewefen, wurde aber dod 


Der Laufiger Kulturkreis. 


wohl durd die Eultifch-religiöfe Einbeit in gewiſſem 
Grade gewährleiftet. Wir merden nidt fehi 
ihließen, wenn wir wenigftens größere Kultver- 
bände annehmen. Der Mittelpunft eines folchen 
dürfte, nadh den Funden zu fchließen, bei Burg im 
Spreewald gelegen haben. 

Die geiftige Kultur der Laufiser fann 
nur durch weitgehendfte Heranziehung von ver- 
wandtem Vergleichsmaterial erfchloffen werden. 
Auf eigenartige religiöfe Anfhauungen 
deuten die oben beiprohenen Buckelurnen der 
dritten DBronzeftufe bin. Schon früh hat die 
Forſchung in ihrem plaftifhen Ornament eine 
Nahahmung der weiblihen Bruft zu erfennen ge- 
glaubt. Ein Forfher (Bebla) hat damit die Ber- 
mutung verfnüpft, die Buckelgefäße hätten als 
Brandurnen für Frauen und Mädchen gedient. 
Diefe Meinung ift fiherlih ein Jrrtum. Soweit 
die Budeluenen überhaupt zur Aufnahme der 
Brandrefte der Toten beftimmt waren, hat man 
ſie unterfhiedslos für Männer- und Frauenbeitat- 
tungen verwendet. Zumeift erfcheinen fie über- 
baupt nur als Beigabengefäße. Dagegen ift die 
Deutung der Buder als Nachbildung der Bruft 
zweifellos richtig. Sie führt ung näher in den 
Gedanfenfreis der religiös - fittlihen Anſchau—⸗ 
ungswelt der Laufiker hinein und eröffnet ung zu- 
leih eine weitreihende Ausfiht auf die Wer- 
bindung ihrer Kultur mit der der fübdöftlichen 
Nahbarvölfer und ihrer Abhängigkeit von diefen. 

Im ſpätmykeniſchen Troja finden fih, wie be- 
reits erwähnt wurde, ähnliche Buckelgefäße. Sie 
gehören der hiefigen fpäten Bronzezeit an, find 
alfo etwas jünger als die laufisiihen. Aber be- 
reits im fpätfteinzeitlichen bezw. frühbronzezeitlichen 
roja II treffen wir Gefäße an, die nit nur 
mt einem Buckelpaar, fondern häufig auch nod 
duch ein eulenähnliches, gewöhnlich mundloſes Ge- 
idt gefhmüct find. In den Henfeln find zumeift 
die Arme angedeutet. Mit naiver Deutlichkeit 
wird auch fonft das weibliche Geſchlecht kenntlich 
gemacht. Es fann garnicht zweifelhaft fein, dağ 
in diefen Gefihtsurnen, die übrigens merfwürdige 
Parallelen im nördlichen Europa der jüngeren 
Steinzeit befigen, das nadte Weib wiedergegeben 
werden fol. Neben diefen unbeholfenen Geſichts— 
Hfäßen fennen wir aus Troja-Hiffarlif auh vol- 
kommnere „Frauenvaſen“. Intereſſant ift ein 
etwa 20 Zentimeter hohes Eremplar, das auf dem 
Kopfe eine Schale, in den vorgebeugten Armen 
cne zweite mit zwei Henfeln trägt. Auch bier 
iſt das Gefiht wieder mundlos. Um den Hals 
6miegen fih mehrere Ringe. Eine ganz ähnliche 
rauenvaſe liegt uns aus dem engeren Yaufißer 
Kulturkreife vor, nämlih in der fogenannten 
Kultfigur von Decfel, Kreis Landsberg a. W. 


223 


Hier zeigt der Fleine Kopf fogar einen Mund. 
Der lange, fih nad unten verbreiternde Hals ift 
ftarf beringt. In den gebogenen Armen bält die 
Geftalt ebenfalls ein Gefäß, das mit dem Innern 
der Figur in Verbindung ftebt. (Abb. 4.) 
Don dem voll- 
ftändigen Frauen- 
bilde bis zur An- 
deutung durd auf- 
geſetzte Buckelchen 
ſind im altägä— 
iſchen Kulturkreiſe 
fat alle Entwid- 
lungs- und Ueber- 
gangsſtufen ver- 
treten. Ergänzend 
treten daneben 
weiblibe Idole 
aus Stein, Ton 
oder Blei, oft roh 
in der Ausfüb- 
rung, aber ftets 
in ihrer Abficht 
unverfennbar. In 
Verbindung mit 
diefen Darftellun- 
gen tritt häufig 
das Hakenkreuz 
auf, daß fih in Troja II auh oft an einem aus- 
fchließlich weiblihen Gerät, dem Spinnwirtel, fin- 
Net. Daß diefes Hakenkreuz ein uraltes Götter- 
inmbol ift, beweiſen jüngere Funde einwandfrei. 
Mährend es fih in fpäteren Zeiten auf den Son- 
nengott bezieht, gehörte es früher, wie Georg Wilke 
neuerdings dargetan hat, dem Mondgotte oder bef- 
fer der Mondgöttin an. Aber auh diefe Pe- 
ziehbung ift feine urfprünglihe. Auf einer nod 
älteren Stufe geotropiftifcher Weltanfhauung war 
das Hakenkreuz das Abzeichen einer mütterlichen 
Erdgottheit, die als Gebärerin der Naturgaben die 
weiblihen Geſchlechtsmerkmale, als Spenderin des 
Sruchtbarfeitsjegens die Schale trägt. Mod eine 
andere Erſcheinung weift auf diefelbe Deutung hin. 
Das ift das im kretiſch-minoiſchen Kulturfreife 
häufig auftretende Doppelbeil, das auf einem fre- 
tischen Tonfiegel zu vieren in Form eines Hafen- 
freuges angeordnet erfheint. Dieſe Doppelart, 
jpäter ein Mondiumbol, war ehedem vor der Er- 
findung des Pfluges ein Adergerät zur Auflode- 
rung des Erdbodens und als foldes ebenfalls 
Symbol der mweiblihen Gottheit als der Ent 
deferin und Schügerin des Hadbaues. Damit er- 
ihliept fih uns die Deutung der Budelornamente 
der engeren Yaufiger Kultur. Aud bier haben wir 
es augenfheinlih mit einer Symbolik der mütter— 


Kulkfigur von Dechsel. 





Abb. 4. 


224 


lihen Gottheit zu tun. Dann ift der Pudel- 
ſchmuck der Urnen als eine ornamentale Erftarrung 
eines Symbols aufzufaflen, das, nahdem die Dar- 
ftelung der weiblichen Geftalt auf diefe eine An- 
deutung zufammengefhrumpft war, nun unter dem 
Fünftlerifchen Zwange der Symmetrie rings 
um die Gefäße geſetzt wurde. In den 
Doppelgefäßen der Spätzeit darf man 
dann vielleicht die legte rein formale Ent- 
widlungsftufe der gefäßtragenden Frauen- 
figuren erbliden, aus denen alg weitere 
Spielarten die Drillinge- und Etagenge- 
fäße hervorgingen. 

Der Kult der Laufiser galt alfo einer 
Fruchtbarkeitsgöttin, zweifellos mindeftens 
urfprünglih der mütterlihen Erde. Als 
Schützerin des Aderbaues war ihr das Beil 
heilig, befonders das Doppelbeil. CErinne- 
rungen an feine fruchtbarfeitfpendende 
Kraft haben fih bis in die Gegenwart 
im Volksbrauch erhalten. So ift es in 
verfchiedenen Gegenden des altlaufigifchen 
Kulturgebiets noh Fürzlih Sitte gewefen, 
der Braut einen Hammer, möglihft fogar einen 
vorgefhidhtlihen aus Stein, in den Schoß zu 
legen.) Ein fo verwandtes Steinbeil bewahrt 
dag Strausberger Mufeum auf. Oder man legte 
ihn der Braut beim Betreten ihres neuen Heims 
auf die Schwelle. 


Mit der Verehrung der Aderbau- und Frudt- 
barfeitsgottheit darf man vielleiht aud die in der 
jüngeren Lauſitzer Kultur febr beliebten Zier- 
figuren in Verbindung fegen. Gewöhnlich zeigen 
fie Bogelgeftalt und find entweder als Lampen her- 
gerichtet oder dienen als Klappern oder erfcheinen 
gar als bloßer Zierat auf Iongefäßen und Bronze- 
geräten, befonders im NHallftattfreife. Auch da, 
wo der Bogel zum heiligen Tiere der Mondgott- 
heit geworden ift, faßt man ihn doh gewöhnlich 
als den Megenbringer und fomit als Nahrungs— 
fpender auf, als der er fogar in die chriſtliche Kunft 
übergegangen ift (die Taube als Hoftienbringer im 
Parzival, vielfah auh als Hoftienbehälter). Ein 
Fleiner Bronzefultwagen mit derartigen Vögeln 
fiammt aus dem Spreewalde. Solche Kultwagen, 
die uns aud aus der griechifchen Welt bildlih und 
Ihriftlih bezeugt find, bat man offenbar zu ful- 
tiſchen Umzügen benust. Das beweift ein Bericht 
über den in SKranon in Theffalien befindlichen 
ehernen Wagen, der, mit Vögeln und einer Am- 
phora ausgeftattet, bei Dürre über die Felder be- 
mwegt wurde. Dffenfichtlich handelt es fih um einen 
Megenzauber. Wie das Waller im Gefäße über 


) Aehnliche Bräuche Fannten aud die nordifhen Ger- 
manen, wie das Thrymslied in der Edda lehrt. 


Der Laufiger Kulturkreis. 


die ausgedörrten Aecker geführt wird, fo fol auh 
das Waſſer des Himmels auf fie herabfommen, 
herbeigerufen von den Vögeln. Endlih dürften 
die in der Laufiger Kultur häufigen Klappern, die 
ebenfalls oftmals Wogelgeftalt haben, mit dem Kult 





Tonrasseln von Rüdersdorf (rechts geöffnet.) 


Abb. 5. 


in Derbindung ftehben. (Abb. 5.) 

Die Sorgfalt der Beftattungsformen 
der Lauſitzer läßt auf einen ausgeprägten Ahnen- 
und Totenkult fchließen. Die Leihen wurden ftets 
verbrannt, die Knochenrefte aus der Afche gelefen, 
gefäubert und zerfleinert und dann in einer Urne 
beigeſetzt. Diefe ftellte man in eine Grabfifte, die 
feltener durch Steinplatten, meiftens wohl durd 
Planken gebildet wurde, von denen fih natürlich 
nichts erhalten hat. Darüber fhichtete man einen 
größeren oder Fleineren, flachen oder hoben Stein- 
hügel, ein Brauch, dem wohl die Furdt vor dem 
„Umgehn“ der Toten zugrunde liegt. Um das Grab 
wurde ein Steinfranz gezogen, der den heiligen 
Bezirk einhegte (tabu). Gewöhnlich find die Grab- 
anlagen nad der Windrofe orientiert, mandhmal, 
wie der Derfafler bei eigenen Grabungen beob- 
achtete, fo, daß ziemlich genau am Mordrande des 
Grabes ein die andern Kranzfteine überragender 
Felsblock aufgerichtet worden war. Dachte man 
fih, wie andere Völker und Zeiten im Werften, dem 
Lande der fterbenden Sonne, fo bier nah Mitter- 
nacht bin das Feuerreih? Stets ift die Urne von 
mehr oder minder zahlreihen DBeigefäßen umftellt, 
die wohl als Behälter der Totennahrung gedacht 
waren, aber Feineswegs, wie die häufige Schräg- 
ftellung ergibt, folde immer enthalten haben können. 
An weiterer Austattung treffen wir dürftigen 
Bronzefhmud, Spinnwirteln, Pfeilfpigen, Klap- 
pern aus Ion ufw. an. Seit der 4. Bronzeperiode 
treten die oft ſchönen Dedihüffeln auf, mit denen 
die Urnen bededt worden find. ine Sonderftel- 
lung nimmt das oben erwähnte Herrengrab von 


Der Laufiser Kulturkreis. 


Gielsdorf ein, in dem fih zwei Brandurnen in der- 
felben Grabfifte fanden und bei dem der äußere 
Steinhügel Mebenbeftattungen barg. Beſtand bei 
den Taufisern der aus Indien befannte Braud der 
MWitwenverbrennung und gab man dem Herrn audy 
feine Knechte mit ing Grab, diefe wie jene ja nad) 
antifer Auffaflung nichts als Kaufgut, alfo Teil 
feiner Tieblingsgabe? 

Das erſchloſſene Bild des religiöfen Lebens der 
Taufiger geftattet uns noch einen Ausblid auf ihre 
Wefensart Jn allen Punkten fcheidet diefe 
fie deutlich von der der nördlihen Germanen. Deren 
Lebensideal war der Krieg. Zwar trifft die Be- 
merkung bes Tazitus in der Germania (cap. 14), 
„Faulheit, ja Feigheit heiße es bei ihnen, mit 
Schweiß zu verdienen, was man mit Blut gewin- 
nen könne“, zweifellos nur auf den Kriegsadel zu 
und darf uns nicht darüber täufchen, daß auch die 
Germanen Bauern waren. Tatfählih aber be- 
weifen alle älteren gegenftändlihen und jüngeren 
fchriftlihen Quelen, daß für fie der Kampf das 
Lebengelement im Diesfeits und Jenſeits war. 
Kampf zwifhen Liht- und Dunfelgewalten durd- 
bebt ihren Götterhimmel, Kampf gilt ihnen ale 
höchſte Wonne, die fie fi in Walhall denken Fön- 
nen, Kampf Klingt durd ihre Namen, felbft die 
der Mädchen, Kampf it der Stoff ihrer Did- 
tungen von Göttern und Menfhen. Daher die 
enge Beziehung des Germanen zu feiner Waffe, 
bie er im öffentlichen Leben niemals aus der Hand 
läßt und die ihn ſchließlich ins Grab begleitet, 
ja die er fogar wie feine Kinder benennt. Dem 
Germanen hieß leben” kämpfen, ringen. Cine 
ganz andere Weltanfhauung zeigt der Träger der 
Laufiger Kultur. Ihm war offenfihtlic das Leben 
nicht ein „Kriegen“, d. b. im Kriege gewinnen, 
fondern ein im Frieden empfangen, und zwar 
empfangen um des bebaglihen Genuſſes willen. 


Sein Götterhimmel war nicht von fiegfroben We- 


fen bevölkert, die nur dem Shug und Hilfe ge 
währen, „ber das Fürdten nicht fennt”, und die 
den unter ſich nicht aufnehmen, der den Stroh- 
tod geftorben. Seine Gottheiten find vielmehr 
gütig fpendende Mächte, fruchtverleihende Natur- 
gewalten, deren Gunft finnlihen Genuß gewährt. 
ft der Aderbau dem Germanen mehr ein Mittel 
ju einem notwendigen Zwed, fo tritt er bier als 
Selbftzwed in den Mittelpunkt deg Tebensintereffes 
und macht fih die ganze Religion und ihren Kult 
dienftbar. Erlangung größtmöglidhfter Fruchtbar- 
feit und damit reichften Aderfegens zur DBereiche- 
rung der äußeren Lebensgeftaltung heißt bei dem 
Laufiger das Ziel. Das find Anfchauungen, wie 
fie ftets unter der füdlihen Sonne entftanden find, 


BE 


eine Ethik, deren Grundpfeiler „Nutzen und Ge- 
fallen‘ (prodesse et delectare) heißen, die 
zwar leicht zu fozialen, demofratifchen Tugenden er» 
zieht, aber wenig zur Erſchaffung der Perfönlich- 
feit geeignet it. In der gefchlofienen Siedlungs- 
form gegenüber der germanifhen Gehöftfiedlung, 
der Abgrenzung des Privateigentums gegenüber 
der Amende, in Kunft und Kult zeigt fih die ver- 
fhiedenartige Prägung zweier Wölfer, die, wenn 
auh raflenverwandt, notwendig ftammfremd ge- 
weſen fein müflen. 

Die Beobachtung führt ung zu der Frage, wer 
die Träger der Lauſitzer Kultur ge 
wefen feien. Es gibt zwar noh immer Gelehrte, 
die fie für Germanen halten. Wer aber ernfihaft 
ihre Kultur mit der der nördlihen Völker, die 
einwandfrei Germanen waren, vergleicht, wer vor- 
urteilslog die Unterfchiede zwifchen den bronze- und 
waffenreihen, aber an Keramik dürftigen Ger- 
manengräbern und den bronzearmen, aber Fera» 
mifch reihen Laufiger Grabftätten prüft, der fann 
fi) der Schlußfolgerung gar nicht entziehen, daß 
die Laufiger Feine Germanen waren. Dafür fpre- 
hen aud die Kulturzufammenhänge mit dem Süd- 
often. ine weitere ethnologifhe Beſtimmung ift 
freilich bisher noh nicht gelungen. Prof. Koffinna 
bat fie nah mehrfahem Schwanken für Nord- 
illyrier erflärt und damit die Verknüpfung ihrer 
Kultur mit dem des bonauländifh - myfenifchen 
wie auh des Hallftattkreifes begründet. Wenn 
auch in diefer Frage das legte Wort vielleicht nod 
nicht geiproden ift, fo wirft diefe Annahme dodh 
bereits ein Licht auf die Geſchichte der Law 
figer, die dur die Fundergebniffe durchaus be- 
ftätigt wird. Wir erkennen, daß die nah Süden 
und Südoſten drängenden Abmwanderungen aus 
dem fpätfteinzeitlihen und frühbronzezeitlichen 
nördlihen Europa eine nah Norden gerichtete 
Gegenbewegung hervorriefen, die allmählich bis an 
die Oftfeefüfte die entleerten Gebiete erfüllte. Lang- 
fam ſchoben fih die illyriſchen Vorhuten nah Nor- 
den und Welten vor, bis der Strom an der Grenze 
der Germanen und Kelten zum Stehen lam. 
Lange Zeit ift diefe Grenze gehalten worden, bis 
in der Hallftattzeit die Germanen fie auf der ganzen 
Linie durchbrachen und die Illyrier zur Aufgabe 
ihrer nördlihen Sige gezwungen wurden. Auf 
dem klaſſiſchen Gebiete von Hallftatt felbft, wo die 
Salzlager im Mittelpunft des Intereſſes ftanden, 
fheint eine DBerfhmelzung oder vielmehr Durch— 
dringung mit den Kelten ftattgefunden zu haben, 
die damals ihre welterfchütternden Wanderzüge 
(man denfe an die Gallier in Rom und in Delphi, 
die Gallater in Kleinafien und den Gallierfämpfe 


226 Dom Duftorgan der Honigbiene. 


nad bildenden Gigantenfries des berühmten Per- 
gamonalters in Berlin) antraten. Go leitet die 
Vorgeſchichte zur bekannten Geſchichte hinüber, 
zwar noh niht in allen Punkten flar erkennbar, 


aber doch fchon greifbar deutlih und ber weiteren 
Erbellung wert, die vor allem durd neue Funde 
des Sübdoftens und durch die Raſſenforſchung ge- 
bracht werden muß. 


Dom Duftorgan der Honigbiene. Von Dr. Werner Jacobs. & 


Jn Heft 12 vom 15. Jahrgang (1923) diefer 
Zeitfchrift war unter dem Titel: „Bom Mittei- 
Iungsvermögen der Bienen” ein Furzes Meferat 
über die legte Arbeit von Profeſſor v. Friſch er- 
fhienen. Es ift darin erwähnt, daß unter be- 
ftimmten Umftänden die Bienen fih zur gegen- 
feitigen Orientierung eines Duftorgans bedienen. 
Ueber dies Organ und feine Anwendungsweife 
mag Einiges mitgeteilt fein. 

Es war den Imkern ſchon lange befannt, daf 
die Bienen — es handelt fi) nur um Arbeiterin- 
nen — befonders im Frühling oft in einer eigen- 
artigen Haltung vor dem Flugloh des Stodes 
ftehen. Hierbei ift der NHinterleib, ftets vom Flug- 
lodh abgewandt, hoch emporgehoben, auf dem Rüden 
erfcheint zwifchen dem legten und vorlegten Hinter- 
leibering ein fchmaler, weißer Streifen, defen 
Oberflähe feucht ſchimmert; zugleih werden die 
Flügel leicht bewegt, fo dag ein einförmiger, ganz 
eigenartiger Ton erzeugt wird. Diefe ganze Cr- 
fheinung wird „Sterzeln” oder „Steißeln“ ge 
nannt. Um die bisherige Kenntnis hierüber abzu- 
fließen, unterfuchte ih auf Anregung von Prof. 
v. Friſch das an der betreffenden Stelle des Hinter- 
leibes Tiegende Duftorgan genauer und fammelte 


die bisherigen Erfahrungen über die Anwendungs- 


weife diefes Organs. 


Auf dem anderen Ende des Nüdenteils des 
legten Hinterleibsringes münden mehrere Hunderte 
einzelliger Drüfen; fie fondern den Duftftoff ab. 
Ihre Mündungen auf die Körperoberflähe find 
gewöhnlih von dem hinteren Teil des vorlesten 
Rückenſchildes bededt und werden nur beim Ster- 
zeln freigelegt. Durch befondere Vorrichtungen ift 
dafür Sorge getragen, daß einerfeits in der Ruhe 
der Duftftoff in einem befonderen Raum aufge. 
fpeichert werden, andererfeits beim Ausftülpen des 
Organs, alfo beim Sterzeln, der Duftftoff leidt 
verdunften fann. Das Verdunſten wird befonders 
durch das Flügelichlagen gefördert; der durch den 
Flügelſchlag erzeugte Luftftrom gleitet über das 
ausgeftülpte Organ hin, die Luft wird hier mit dem 
fruchtätherähnlichen, ganz charakteriſtiſchen Duft 
geſchwängert. Die Biene wirft fo eine ganze Duft- 
wolfe hinter fih; der Duft ift auch für unfere Ge- 
vuchsnerven noch in einer Entfernung von etwa 20 
SXentimetern gut wahrnehmbar. 


Man meinte bisher, daß das Welentlihe beim 
Sterzeln der durch den Flügelichlag erzeugte Ton 
wäre, und daß das Sterzeln in erfter Linie eine 
Affeftäußerung wäre. Durch bie Unterfuhungen 
von Prof. v. Frifh wiſſen wir aber, baf das We- 
fentlihe die Verbreitung des Duftes ift, und dağ 
diefer Duft zur Orientierung der Bienen dient. 
Es war Thon erwähnt, daß auf dem Flugbrett 
eines Stodes befonders häufig im Frühling, aber 
auh während des ganzen Sommers fterzelnde 
Bienen zu finden find. Sie find ale Wegweifer 
für die heimfehrenden Sammelbienen aufzufaffen. 
Diefer Fall dürfte der urfprünglichfte in der Reihe 
der vielen Fälle fein, in denen fih die Biene des 
Duftorgans als Drientierungsmittel bedient. Sonft 
fterzeln die Bienen no z. B. unter folgenden Uns 
ftänden: Beim Schwärmen fammeln fi die Bienen 
fterzelnd zu ber Schwarmtraube; ift etwa burd 
Verluſt der Königin der Schwarm gezwungen, 
zum Mutterftod zurüdzufehren, fo ziehen die Bie- 
nen fterzelnd wieder ein; flaudht man in einem 
Korb die Bienen auf das Bodenbrett, fo laufen fie 
Rerzelnd an den Wänden hoch; fängt man einen 
Schwarm ein, fo zieht der aufgefcheuchte Reſt, wo- 
fern nur die Königin mit eingefangen ift, fterzelnd 
in die neue Beute ein; nimmt man einem Boll 
die Königin und feßte fie nad) einiger Zeit in einem 
Käfig wieder zu, fo belagern ihn die Bienen fter 
selnd. Es ließen fih noch mehr Beifpiele anführen. 
Mit Ausnahme des legten erfcheint die Bedeutung 
des Sterzelng für die gegenfeitige Orientierung der 
Bienen ganz Mar. Der legte und nod einige nicht 
erwähnte Fälle zeigen andererfeits, daß unter Um- 
ftänden nod eine andere Bedeutung zugrunde liegt, 
die wir noh nicht erfennen Eönnen; wir fünnen 
aber wohl mit Sicherheit annehmen, daß die Er- 
zeugung des Duftes immer das AusichInggebende 
ift, daß das Sterzeln aber nicht lediglich ein Affekt 
ift. Wenn Iesteres der Fall wäre, könnten wir 
das Sterzeln mit einer Gefte. vergleichen, die dann 
aber für die Biene eine gewaltige Kraft- und 
Stoffverfhwentung bedeuten würde. 

DBemerfenswert ift das Sterzeln nun noh in 
folgenden Fällen: Füttert man die Bienen im 
Stod mit Zuderwafler, fo fterzelt die Biene, die 
das Futter zuerft finder, bei ihrer Rückkehr zu dem- 
felben; die fih bald einfindenden Bienen maden 


Etwas über Sterne und etwas mehr über einen Sternenfeber. 


es ebenfo; nad einiger Zeit it von der Bienen- 
traube bis zum Futternapf eine ganze Duftftrafe 
gebildet, längs der die Bienen bald bier, bald da 
fterzelnd ftehben. Verlegt man die Futterquelle 
nadh außerhalb, fo baben wir den Fall vor uns, 
bei dem Profeffor v. Friſch auf das Sterzeln auf- 
merffom wurde; die Sammlerinnen fterzeln an 
dem vollen Futterſchälchen und teilen fo den durd 
den „Zan; zum Ausfliegen veranlaßten Sud- 
bienen mit, wo das Futter zu holen ift. Da das 
Zuderwaffer geruchlos ift, find die Suder lediglich 
auf den Duft des Duftorgans als Orientierungs- 
mittel angewiefen. Geeignete Werfuche haben be- 
wiefen, daß dies Mittel ein ausgezeichnetes ift: 
denn die Geruchsorgane der Bienen find auf den 
von dem Duftorgan ausgehenden Duft gewiffer- 
maßen geeicht,; fie nehmen ihn noh in viel ge- 
ringeren Zufommenfegungen wahr als Blumen- 
düfte, für die ibr MWahrnehmungsvermögen nur 
wenig das des Menſchen übertrifft. Das erinnert 
an die bei Schmertterlingen fon lange befannte 
Tatſache, daß die Männchen aus Filometerweiten 
Entfernimgen von dem Duft der Weibchen ange- 
Todt werben. 

Diefe legten beiden Fälle des Sterzelns find 
aus mehreren Gründen befonders bemerfenswert. 
Erftens erfennen wir, daß der Inſtinkt des Ster- 
zelns plaftifch genug war, daß er fih an urfprüng- 
lih der Biologie der Honigbiene ganz fremde Be- 
dingungen anpaflen fonnte. “Denn das Füttern 
eines Volkes wurde erft mit der rationellen Bienen- 
zucht notwendig, um den geraubten Honig zu er- 
fegen. Zweitens fehen wir, daß der von Prof. 
v. Friſch mitgeteilte Befund fih in einen ganzen 
Kompler von Erfcheinungen zwanglos eingliedert, 
hier fogar nur eine untergeordnete Rolle einnimmt. 
Denn in der Tat bat noh niemand unter natür- 
lihen Bedingungen eine Sammelbiene außerhalb 
des Stodes etwa an einer Blume fterzeln fehen. 
In der Natur ift niemals eine fo reiche Sutter- 
quelle verwirklicht wie in den Verſuchsbedingungen 
mit dem vollen Futterſchälchen. 

Alle mitgeteilten Beobachtungen gelten nur für 
die Arbeiterin. Die Königin und die Drobne 
haben Fein Duftorgan. Diefer Befund ift von 
großer “Bedeutung für die Vorftellungen, die man 
fih von der ftammesgefchichtlihen Entftehung des 
Duftorgans gemacht hat. Zwei Wege find mög- 
Ih. Wir willen, dag das Duftorgan ganz im 





Etwas tiber Sterne und etwas 


mehr über einen Sternenfeber. 


227 


Dienfte des fozialen Lebens ſteht. Die ganzen 
fozialen nftinkte, die die Erhaltung des Bienen- 
ftantes gemwährleiften, liegen in der Arbeiterin. Wir 
haben ferner Grund anzunehmen, daß der Bienen- 
taat aus Anfängen, in denen es nur Männchen 
und Weibchen gab, durch allmählihe Herausbil- 
dung von Arbeiterinnen entftanden ift. Denkbar 
ift es daher, daß fih das Duftorgan gerade bei 
den Arbeiterinnen als Anpaflung an die foziale 
Lebensweife herausgebildet hat. 

Beachten wir aber, daß die Arbeiterin nichts 
anderes ift als eine rudimentäre Königin; daß zu 
Beginn des fozialen Lebens der ganze Feine Staat 
aus Männchen und mehreren Weibchen, einer 
Stammutter und mehreren Hilfsweibchen, beftan- 
den haben wird, die alle gleiche Inſtinkte Hatten, 
alle Eier ablegten; dap alfo die Stammutter der 
Kolonie, wie beute bei einem Hummelvolf, neben 
dem Eierlegeinſtinkt auh ale Neftbau- und Brut- 
pflegeinftinfte hatte; daß ferner faft überall, wo 
bei Inſekten Duftorgane vorhanden find, diefe fid 
nur bei einem Geſchlecht finden, und meiftens das 
Sihfinden zur DBegattung erleichtern folen: fo ift 
auch folgender Entwidlungsgang möglich. Mod 
vor der Bildung des Stantenlebens war das Duft- 
organ, vielleicht nicht fo gut ausgebildet wie jeßt, 
bei dem Weibchen vorhanden und diente der An- 
lofung des Männchens. Mit dem Beginn des 
Staatenlebens war es alfo auh bei den Hülfs- 
weibchen vorhanden und fonnte nun im Sinne des 
fozialen Lebens gebraudht werden. Das würde 
allerdings eine große Weränderlichfeit des Jn- 
ftinftes vorausfegen. Im weiteren Derlauf geben 
die fozialen Inſtinkte der Königin mehr und mehr 
verloren, häufen fi dagegen bei dem NHilfsweib- 
hen; diefe ihrerfeits verlieren den Sortpflanzungs- 
inftinkt, ihre Geſchlechtsorgane verfümmern fogar 
mehr und mehr. Angenommen, der Inſtinkt, das 
Duftorgan im fozialen Sinne zu verwenden, über- 
träfe den urfprünglichen, dann könnte das Duft- 
organ der lediglich zur Eierlegemaſchine gefunfenen 
Königin verloren gegangen fein, hätte fih dagegen 
bei den nunmehr zu richtigen Arbeiterinnen ge- 
wordenen Hilfsweibchen erhalten, oder gar vervoll- 
fommnet. Eine Entſcheidung in diefer reizvollen 
Trage fann vielleiht dadurch gefällt werden, daß 
man die Königinnen der ausländifchen, wildleben- 
den nächften Verwandten unferer Honigbiene unter- 
ſucht. 


Von C€. R. Vietor. 


Schon als Kind forgte ib mich, was wohl ein- 
treten würde, wenn einmal ein Komet mit unferer 
Erdfugel zufammenftoßen würde. Es wäre nit 


fo ſchlimm, wenn er, fozufagen, von binten Fame, 
d. b. in derfelben Richtung wie die Erde durd den 
MWeltenraum eilte und nur durd feine größere Ge- 


228 


ſchwindigkeit fie einholte und auf fie ftürzte. Das 
würde den Stoß ftarf vermindern, wie man leicht 
an fidh felbft ausprobieren fann, indem man einmal 
hinter der Elektrifchen herläuft, um in fie hineinzu- 
fpringen und einmal zu demfelben Zwecke ihr ent- 
gegenläuft. Und wenn es nun ein Komet mit der 
Erde fo machte, wie in lesterem Falle! Meine 
Sorge fteigerte fi, feit ich wußte, daß Laplace 
in feiner Darftellung des Weltfuftems, Bd. II, 
©. 64, „dieſen Fall’ fo fchilderte: „Es ift leicht, 
die Wirkungen eines folden Stopes auf die Erde 
fih vorzuftellen. Veränderung der Achſe und Um- 
drehungsbewegung der Erde, Austreten der Meere 
aus ihren vorigen Betten, um fih gegen den neuen 
Aequator hinzuftürzen, Erfäufung eines großen 
Zeil der Menfchen und Tiere in diefer allgemeinen 
Ueberſchwemmung oder Zerftörung derfelben durd 
die der Erde beigebradte, gewaltfame Erfchütte- 
rung, Vernichtung ganzer Gattungen, Zertrümme- 
rung aller Denfmäler des menfhlihen Kunftflei- 
Bes. Dies ift die Reihe der Unglüdsfälle, die der 
Stoß eines Kometen verurfadhen müßte!” 

Fat meine ganze Jugendzeit fland unter dem 
Drude der Angft, daß ih einmal mitſamt allen 
meinen Lieben einen ſolchen höchſt ungemütlichen 
Zufammenftoß erleben fünne! Wie danfbar war 
ih, als ein anderer Sternenfundiger mir diefe 
Angft nahm oder fie wenigftens auf ein Minimum 
zurüdführte durch folgende Feftftelungen, an deren 
Wiſſenſchaftlichkeit Fein vernünftiger Menih zwer- 
feln fann. Schon daß Uranus, Saturn, befonders 
Jupiter, ſich in einer viel größeren Gefahr eines 
ſolchen Zufammenftoßes als unfere Erde befinden, 
war mir tröftlih; es miſchte fidh fogar leider etwas 
Schadenfreude in diefen Troft hinein, die aber zu 
entſchuldigen ift, da diefe Planeten unferes Wiſſens 
fo unbewohnt wie der Mond find. 

Erheblich tröftliher war, daß nad) einer genauen 
MWahrfcheinlichfeitsberehnung des vorftehend er- 
wähnten Gelehrten ein folder Zufammenftoß nur 
alle 219 631 150 Jahre flattfinden Eönne, und 
dag nun meine — wenn's hoch Fommt, achtzig 
Lebensjahre, — nicht gerade in dag 219 631 150. 
Fahr des Unglüds fallen, ift wohl nit leidt- 
finnig, anzunehmen. Etwas häufiger ift allerdings, 
daß die Erde, wenn nicht mit einem Kometen fekbft, 
aber wohl mit der ihn umgebenden Atmofphäre zu- 
fammen trifft; das fann alle 8 oder 9 Millionen 
Fahre geſchehen. Das ift ja aud felten, — aber 
wenn der Menſch Unglüd haben fol! Gewig 
fommt es auh nur alle paar Millionen Jahre ein- 
mal vor, daß ein Adler eine Scildfröte raubt, 
mit ihr in die Luft fteigt, fie dann, weil fie ihm 
zu fchwer wird, fallen läßt und gerade auf den 
Kopf eines Mannes, der dadurd auf der Stelle 
ftarb. Und doh fam der größte Tragifer Aeſchy⸗ 


Etwas über Sterne und etwas mehr über einen Sternenfeher. 


los — feinem tragifhen Berufe entfprehend -- 
auf fo tragifhe Weife um das Leben. Sollten 
meine hiftorifhen Kenntniffe mich trügen, fo war 
es ein anderer Grieche. immerhin ift die Tatſache 
felbft beglaubigte. Aber trogdem wollen wir die 
Furcht vor dem Zufammenftoße mit der Kometen- 
Atmofphäre vor näher liegenden Gefahren vor- 
läufig in den Hintergrund treten laffen. 

Und wenn es gefhähe, würde es für Tagegeld- 
Bezieher fogar angenehm, für Monatsgehalts- 
empfänger dagegen übel fein. Denn wenn ein 
Komet, falls er fo groß wie unfere Erde wäre, fi) 
auf 13 000 franzöfifde Meilen der Erdbahn 
nähern würde, dann würde leßtere gegen die bis- 
þerige unter einem Winkel von 2° 4° 10” geneigt, 
alfo die mittlere Diftanz um **/10000 vermehrt wer- 
den. Wie mein Fluger Lefer leicht fih felbft fagen 
fann, würde dadurd das Jabr auf 367 Tage, 
16 Stunden und 4,48 Minuten verlängert wer- 
den. Diefe Folge wird alfo in Nüdfiht auf Ge- 
haltsempfänger teils erfreulich, teils das Gegenteil 
fein. Aber das Allertröftlichfte ift, daß die Ko- 
meten überhaupt gar Feinen oder nur einen winzig 
Heinen Kern befigen; meiftens befteben fie nur 
aus einer Dunſtmaſſe. Dap diefe giftige Stoffe 
enthalten folle, ift nad meinem Gewährsmann ein 
unbegründeter Verdacht gegen diefe ſchöne Natur- 
erſcheinung. 

So hat unſer Gelehrter zugleich mir, wie der 
ganzen Menſchheit, wenigſtens ſo weit ſie dieſes 
weiß, einen ſchweren Stein vom Herzen genommen 
und wir alle ſchulden ihm viel Dank dafür. 

Und noch zwei andere große Dienſte hat der Be⸗ 
treffende, der zugleich Arzt und Sternenſeher war, 
der Menſchheit geleiſtet, allerdings Dienſte, von 
denen bis zum heutigen Tage nicht einmal alle Ge⸗ 
bildeten Gebrauch machten. Er ſprach nämlich auf 
Grund vieler Unterſuchungen dem Mond reſp. ſei⸗ 
nem Scheine, jeden Einfluß auf ſogenannte Mond⸗ 
ſüchtige und Nervenkranke ab. Wenn ſich aller⸗ 
dings ein nervöſes Mädchen z. B. feſt einbildet, 
daß ein Herr ſie liebt, ſo kann dieſe Einbildung 
natürlich ihr Nervenſyſtem und ihre Stimmungen 
ſtark beeinfluſſen, aber das iſt nicht Schuld des 
Herrn. Ebenſo unſchuldig iſt der Mond an der 
Einbildung, die, zumal nervenkranke Leute, ſich 
über ſeinen Schein machen. Nachtwandler laufen 
auch bei Neumond und in mondſcheinloſen Nacht⸗ 
ftunden umber. 

Zum anderen wies er nad, daß der Mond fo 
gut wie überhaupt gar feinen Einfluß auf das 
Wetter hat. Bei Voll-, wie bei Neumond ift es 
warm oder Falt, trübe oder heiter, beftändig oder 
unbeftändig, oder das Wetter ſchlägt unerwartet 
um. Darauf hat der Mond ebenfowenig Einfluß 
wie mandher Meichstaggabgeordneter auf die Poli- 


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Etwas über Sterne und etwas mehr über einen Sternenfeher. 229 


tif. Aber auh damit find die Derdienfte unferes 
Tröfters noch nicht erſchöpft. Wielmehr hat er noch 
drei neue Planeten entdedt und dadurch unfer 
Leben. unendlich bereihert. Man fage nicht, daß, 
wenn er fie nicht entdeckt hätte, es wahrſcheinlich 
ein Anderer getan hätte. Zwar ift die Doppelheit 
der Fälle in der Wiflenihaft häufig, aber trotzdem 
bleibt der Grundfag beftehen: „Wer zuerft fommt, 
mahlt zuerſt.“ 

indem ich hoffe, durch das Geſagte das Jnter- 
efe des geehrten Leſers fo weit wacgerufen zu 
baben, daß er diefen verdienftvollen Mann näher 
tennen zu lernen wünſcht, erlaube ich mir, ihn vor- 
zuftellen ale Dr. Heinrih Wilhelm Matthias 
Olbers. Wie fo viele tühtige Männer, ging 
auh Olbers aus einem evangelifhen Pfarrhaufe 
und zwar am 11. Dftober 1758, hervor, in Ar- 
bergen, etwa drei Stunden von Bremen entfernt. 
Sein Bater unterrichtete ihn in Griechiſch, He- 
bräiſch und Latein. Mathematik mußte ber fireb- 
fame Knabe fih felbft beibringen. Er war das 
ahte Kind, dem aber nod adıt andere nadjfolgten. 
Merkwürdig ift, daß Obers von feinem zehnten 
Lebensjahre an bis in fein achtzigftes hinein immer 
diefelbe zierliche und orbdentlihe Handſchrift hatte, 
welches Mätfel die Handfchriftendeuter unferer 
Tage Töfen mögen. 

Der junge Olbers, der in Bremen die Hohe 
Schule befuchte, hatte auf mander nächtlichen, ein- 
famen Wanderung zu feinem Heimatdorf Gelegen- 
beit genug, die Geftirne zu beobachten. Zuerft fiel 
ihm dag Siebengeftirn auf. Er verfchaffte fidh 
aftronomifche Bücher und Himmelsfarten und gab 
fi) bald einem begeifterten Studium der Sternen- 
welt hin. Auch vertiefte er fi immer mehr in die 
Mathematik, ohne deren Hilfe fih leider niemand 
am Himmel zurechtfinden Fann. Schon mit fed- 


sehn Jahren Eonnte er den Lauf der Planeten ver- 


folgen, was ihm vor wie nachher nod niemand in 
dem Alter nad- oder vorgemadt hat. Der höchſt 
vernünftige Bater freute fi der Fortſchritte feines 
Sohnes in der Himmels-Kunde, mahnte ihn aber, 
der Erd-Kunde darüber nicht zu vergeflen. Und 
da man nun einmal auf diefer Erde fein täglich 
Brot haben muß, fo veranlaßte er feinen Wilhelm, 
als Lebensberuf den ärztlichen zu erwählen. Mit 
ganzer Liebe widmete der Sohn fih ihm fein Leben 
lang und im Laufe der Jahrzehnte gewann er fih 
in Bremen ungezählte Herzen. Ein Biograph, der 
Olbers als Arzt redt Toben wollte, berichtet, daf 
Olbers nur bei Nacht“ fih der Sternenfunde ge- 
widmet habe. Gern bereit, alle Verdienſte Ol⸗ 
berg’ anzuerkennen, fann ich die ſes dodh nicht 
größer finden, als wenn z. B. ein Sonnenforfcher 
immer nur am Tage” die Sonne beobadıtet. Zu 
anderen Zeiten fol er es wohl bleiben laffen. 


Olbers war von großer, ſchlanker Figur. Aus 
feinem bildfhönen, ebenmäßigen Geſicht Teuchteten 
große, gütige, blaue Augen. Es war, als ob fie 
etwas von dem ftillen Glanze der Sterne abbe- 
fommien hätten, nad denen fie fo oft geſchaut. Audy 
bei fteigendem Ruhme blieb er der befcheidene, Tie» 
benswürdige, gütige Mann. Wohl nie fam ein 
unfreundliches Wort über feine Lippen. Als ihm 
einmal ein reicher Bremer Kaufmann eine halbe 
Stunde lang feine eingebildeten Leiden vorgeflagt 
hatte, fagte Olberg kurz: „Ach was, Sie find wohl 
nicht flug! Ihnen fehlt gar nichts!” Dieſe har- 
ten’! Worte aus Dr. Olbers? Munde!!! fuhren dem 
Patienten derartig in die Glieder, daß er von 
Stund an genefen war. Es dauerte niht lange, 
fo befam Olbers allerlei Rufe nadh auswärts. 
Aber was, wie er felbft fchreibt, ihn an die afte 
Hanfeftadt feflelte, war die Liebe und der Gehor- 
fam der fonft ale falt und eigenfinnig verfchrieenen 
Bremer zu und gegen ihren Hausarzt. Wenn da- 
mals ein Arzt, fo babe ih mir erzählen laffen, einer 
80 Jahre alten, vornehmen Dame jeden Tag eine 
Stunde lang Seildenfpringen verordnete oder 
einem Leberfranfen täglich 8 Liter Kochbrunnen in 
Karlsbad verfehrieb, fo tat der Patient das trog 
aller Folgen unbedingt. 

Schon mit dreiundzwanzig Jahren nahm Dr. 
Dfbers feine ärztlihe Praris in Bremen auf und 
war bei Arm und Reih gleich zuverläflig in der 
Praris und infolgedeflen überall gleich beliebt. Am 
beliebteften war er allerdings bei Fräulein Dor. 
Elif. Köhne, die er in fein Haus an der Sand- 
firaße, diht am Dome in Bremen, zu kurzem Glüd 
einführte. Sie ftarb ſchon nad einem Jahre bei 
der Geburt einer Tochter. Nadh vier Jahren fand 
er ein neues, ehelihes Glück an ber Seite von 
Anna Lürffen, die eimmbbdreigig Jahre mit ihm 
durch das Leben wanderte. Die wahfenden Mittel 
erlaubten Olbers im jahre 1800, fein bisheriges 
Haus zu vergrößern. Als er fein Obfervatorium 
baute, verzichtete er auf einen hohen Turm, wie er 
fonft fi bei Sternwarten befinde. Wahrſchein⸗ 
lih, weil er dachte, daß die paar Meter, die er 
dadurch den Sternen näher wäre, aud nicht viel 
ausmadıten. Oder follten die Sternwarten etwa 
fo hoc) liegen, damit fie dem ‘Dunftfreis der Städte 
entnommen feien? Aber damals raudhten in der 
Handelsftadt Bremen nur überhaupt fehr wenige 
Sabrifihornfteine und in der Nähe des Olberg- 
fhen Haufes nun mal überhaupt gar Feine. 

Sein Obfervatorium beftand aus drei Stuben 
und einer Plattform, die fo gelegen waren, dag 
Olbers ungehindert nah allen Seiten hin das Heer 
der Sterne an feinem Auge vorüber ziehen laffen 
fonnte. Daneben lag ein Kabinett, in dem der un- 
ermüdlihe Mann Nachts ruhte, um immer gleich de 





230 


zu fein, wenn am Himmel etwas paflieren folte 
Es ift ebenfo befhämend wie bemundernswert,. was 
diefer Mann in feinem Leben Teiftete: jahrzehnte- 
lang fchlief er nicht mehr als vier Stunden die 
Naht. Den ganzen Tag übte er feine Praris aus, 
auh fofort nah Tiſch. Seine Beliebtheit als 
Arzt war fo groß, daf fih die Kranken in Pyrmont, 
wo er gern feine üblichen drei Wochen Ferien ver- 
brachte, aud dort an ihn wandten. Da gebrauchte 
er ein Mittel, um unbeläftigt zu bleiben, dag deut- 
lid zeigt, mit wie großem Recht Schiller die da- 
malige Menfchheit am Ende des 18. Jahrhunderts 
mit den Worten begrüßte: „Wie ſchön, o Menſch, 
mit deinem Palmenzweige ftehft du an des Jabr- 
bunderts Neige.” Denn Dr. Olbers machte 
öffentlih befannt, daß er in feinen Ferien von 
feinem Kranfen irgend ein Honorar annehmen 
würde. Das wirkte unter den damals fo „ſchönen“ 
Menſchen wie eine Bombe! Fortan fonnte Dr. 
Olbergs fih ungeftört erholen. Wie dies Wer- 
fahren wohl heute wirfen würde? 

Abends nahm er gern an fröhlichen Gefellfichaften 
teil, in denen er viel erzählte, nod lieber ftunden- 
lang Whift fpielte, — da er nah mathematifchen 
Grundfägen das Vergnügen betrieb, gewann er 
meiftens. Wenn Andere dann müde in das Bett 
fanfen, ftand er noh ftundenlang an feinem Fern- 
robr oder regulierte feine berühmte Pendel-Uhr. 

In der von ihm fo fehr geliebten Geſellſchaft 
„Mufeum” hat er zweiundadhzig Vorträge gehalten, 
die wegen ihrer Klarheit, ihrer Wiflenfchaftlichkeit, 
ihrer ſchönen Form von Herren und Damen gern 
gehört wurden. 

Bei alle dem hatte Dr. Olbers eine wahrhaft 
fromme Gefinnung; alles Gemeine lag ihm febr fern, 
er war ein edler Mann. 

Der Anfang des 19. Jahrhunderts war trübe. 
Feinde berrfchten im Lande. Olbers wurde, nad- 
dem Bremen franzöfiih geworden, von Napoleon 
in den gefeßgebenden Körper nah ‘Paris berufen, 
wohin er fehr gegen feinen Willen mehr als einmal 
reifen mußte. Im übrigen fah er dem Treiben mit 
viel Gemütsruhe zu. Es war, als ob er, der den 
Lauf der Sterne fo gut wie Fein Zweiter Fannte, 
deutlich voraus fah, daß Napoleons Stern bald 
wieder untergehen werde. Als es geihab, Außerte 
er gelaffen: „Das fab ih längft voraus!” 

Sein Ruhm als Sternenfeber mehrte fih, als 
er den fhon von Plazzi einmal entdedten, dann aber 
in Sonnenftrahlen verloren gegangenen Planeten 
Ceres wieder entdedte. Wenn man auf die Ent- 
defung der anderen beiden, der Pallas (28. März 
1802) und Delta (29. Mär 1807) zu fpreden 
fam, betonte der fonft fo befheidene Gelehrte gern, 
deß er fie nicht „zufällig entdeckt“ babe, fondern daf 





Etwas über Sterne und etwas mehr über einen Sternenfeher. 


ihre Auffindung „feinem tätigen Geifte und feiner 
Ausdauer” zu verdanfen fei. 

Dem liebevollen Water ging feine verhei- 
ratete Tochter im Dftober 1818, dem rüdfihte- 
vollen, forgfamen Gatten die FrauJanuar 1820 im 
Tode voraus. Seitdem ging fein Lebensftern lang. 
fam unter, obwohl er feine Einſamkeit in frommer 
Art, die ihm immer eigen war, trug. Je mehr er 
fih in der Sterne Lauf verfenfte, um fo mehr 
empfand er die Größe des göttlichen Geiftes, der 
in thm waltete. 

Zuerft gab er feire ärztliche Praris in der ent- 
fernter liegenden Meuftadt Bremens, dann in der 
Altftadt auf. Der allem Idealen und Schön 
geiftigen zugewandte Geift Olbers’ wohnte mert. 
würdigermweife in einer von Jabr zu Jabr ftärfer 
werdenden Leibes⸗Hülle. Dadurch wurde er eng 
brüftig und litt an Aſthma. 

Dann gab er aud feine Beihäftigung mit den 
Sternen auf. Er fürchtete, daß fein, wie er glaubte, 
abnehmender Geift Unrichtigkeiten auf wiflenfhaft- 
lihem Gebiete begeben könne. Auf feine alten 
Tage wollte er fih nicht noch vor der Welt blamieren. 

So war eg ganz gegen den Sinn dieſes demütigen 
Gelehrten, daß ibm am 28. Dezember 1830 zur 
Feier feines fünfzigjährigen Dr.-Jubiläums große 
Ehrungen dargebracht wurden, entipredhend der oft 
vergeflenen Wahrheit: Wer die Ehre fucht, den 
flieht fie, wer fie flieht, den fucht fie.” Nach alter 
Sitte überreichte ihm der Senat nicht nur eine 
Ehrengabe, beftehend in fünfzig Flafchen eines über 
zweihundert Jahre alten Mheinmweines aus dem 
Matskeller, fondern ließ aud eine marmorne Büſte 
von Dr. Olbers für die Stadtbibliothef anfertigen. 
Außerdem ftellte der Senat, was er nod nie getan 
für diefen großen, wenn nicht größten Bürger Bre 
mens, einen Platz in den Wall-Anlagen zur freien 
Verfügung für feine Marmorftatue. Der König 
von Dänemarff fandte ihm den Danebrog-, der 
König von England, refp. Hannover, den Welfen- 
Orden. Den roten Adlerorden 3. Klaffe fügte der 
überaus trefflihe, aber immer etwas langſame 
Friedrich Wilhelm III. acht Jahre ſpäter binzu, 
wahrſcheinlich, damit es nicht auf einmal zu viel 
würde. Die Univerfitäten Kopenhagen, Vom, 
Berlin, Göttingen machten ihn zum Ehrendoftor, 
die Bremer Aerzte überreichten ihm einen filbernen 
Ehrenbecher, die Gefellihaft ,Mufeum” Tieg fem 
Bild auf eine Bronce-Münze prägen, ufm. ulm. 
Das ganze ſchloß mit einem großen Feſtmahle m 
der Börſe. „Es war eine unverdiente Auszeich 
nung ganz über Gebühr‘ fagte der Gefeierte hinter 
ber. Merfwürdigerweife glaubte Olbers 1832, 
fur; nah Goethes Tod, mit voller Beftimmthert 
an feinen eigenen Heimgang. Einſam faf er m 
feinem Zimmer. Nicht einmal mochte er noh Kar 





ten fpielen, aus Angr, er möchte -dabei Fehler 
machen. Und „Nur im Alter Feine Fehler maden!” 
war gar gerade fein Hauptgrundſatz. Aber nod 
acht Jahre lebte er in feiner immer ftiller werdenden 
laufe. Diele Gelehrte befuchten ihn, aber fie 
konnten hinterher nur fih rühmen, „den alten OL 
bers auh nod gefehen zu haben.’ Er war ein 
liebenswürdiger aber ftiller Greis geworden. „Ich 
habe fo viel Gutes auf Erden genoffen, daß ich nur 
danfbar entfagen kann,“ fagte er in jener legten Zeit 
einmal. Sein Sohn, fpäter Senator, und deffen 
Samilie, waren faft fein einziger Umgang geworden, 
als er am 2. März 1839 fanft entichlief, „des Le- 
bens fatt, aber nicht überdrüſſig.“ 

Die Spezialität des Dr. Olbers waren die Ko- 
meten, Dann die Meteore und Sternfhnuppen. Ein 
Romet, der alle vierundfiebzig Jahr von der Erde 
aus fihtbar wird, heißt nadh ihm der Dlbers-Komet. 
1961 wird er wieder erfcheinen. 

Merkwürdigerweife wollte Olbers von Philo- 
ſophie nichts wiſſen, „deren Spradhe man erft ftu- 
dieren muß, um wiflen zu können, was fie fagen 
wil. Welcher Nichtphiloſoph denft da niht an 
das Wort: „Gefhäftiger Geift, wie nah’ fühl’ ich 
mih dir!” Troßdem war Olbers Mitglied von 
genau fünfundzwanzig wiflenfchaftlihen Vereini— 
gungen in ganz Europa, fogar eing der auswärtigen 
Mitglieder der Akademie der Wiffenfchaften in 
Paris, was damals eine, von feinem Beigeſchmack 
oder Mebengeräufch getrübte Ehrung war. 

Sm Jahre 1844 wurde der Grundftein zu dem 





Aus der deutfhen Kalffandfteininduftrie. 231 


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Marmordenkmal gelegt, das Steinhäuſer und 
Rauch verfertigten. Es ſtellt den großen Forſcher 
mit dem Fernrohre in der Hand dar. Das Relief- 
bild des Sodels zeigt ihn als Arzt am Kranfen- 
bette. Im Kreife der Aerzte und Naturforſcher, 
die damals gerade in Bremen tagten, hielt Prof. 
Hofrat von Mädler eine poetifhe Anſprache, die 
in den Ders ausmündete: 

„Drum fol bier fein Denfftein glänzen, 

Dod ein Denkftein Eünd’ es laut, 

Daf in unferer Bremer Grenzen 

Solh ein Mann das Liht geſchaut!“ 
An diefem feftlihen Tage feierten auf der Tagung 
zwei alte Herren, Dr. Chaufegie aus Hamburg und 
Geh. Hofrat Dr. Harnier aus Kaflel ihr SOjähr. 
ärztliches Dr.Jubiläum. Nachts um die zwölfte 
Stunde wurden nadh einem fröhlichen Seftmahle die 
beiden Herren noh einmal von einer großen Zahl 
Feiernder an den Denkſtein geleitet und zum ftrab- 
lenden Nachthimmel ftieg das: Gaudeamus igitur” 
aus vielen Kehlen empor. So außergewöhnlich 
ift eg, an einer ſolchen Stelle und Gelegenheit diefes 
Lied zu fingen: es paßte zu einem folhen Manne wie 
Olbers doh nicht ſchlecht. Wir aber können von 
ihm lernen, unfere Augen aus den Miederungen des 
Lebeng immer wieder hinaufzurichten zu den ewigen 
Sternen, die mit ihrem ftillen Glanze und uner- 
reichter Pracht dem fuchenden Menfchenherzen immer 
ein Abbild einer höheren, unfihtbaren Welt fein 
werden. 








Aus der deutfchen Kalkfandfteininduftrie. ar Aare Dertien 





Unter den jüngeren Induftriezweigen nimmt bie 
Ralkfandfteininduftrie wirtfchaftlih eine bedeut- 
isme Stellung ein. Im Jahre 1854 erfand Dr. 
Bernhardi die erfte Kalkfandfteinpreffe. Da- 
mit war der Grundſtock zu einer neuen nduftrie 
gelegt, die dann nadh der Erfindung der Dampf- 
bärtung durch den Chemiker Dr. Mihaelis 
in furzer Zeit fo ungeahnte Erfolge aufzumeijen 
bat. Die Urfache hierfür liegt darin, daß viele 
Gegenden Mangel an gutem Ton und Lehm haben, 
während Sand reichlich zur Verfügung ftand. Nad 
dem Kalkfandfteinverfahren, das im Laufe der Zeit 
durch ftändiges Prüfen und durch Erfahrungen be- 
deutende Verbeſſerungen erfahren hat, fann man 
aus dem Sand mit etwa 5 v. H. Zufas von Kalf 
vollwertige Mauerfteine herftellen. 

Gerade in diefer Zeit hat diefer erfiflaflige Bau- 
Hoff befondere Bedeutung. Ueberall da, wo Sand 
zur Verfügung fteht, fann diefer im Zeitraum von 
24 Stunden nad feiner Gewinnung an Ort und 
Stelle bereits als vollwertiger Mauerftein ver- 





wertet werden. Die SHerftellung geichieht meift 
automatifch, fo daß nur wenige Arbeitsfräfte ge- 
braucht werden. 

Alfo lediglih Sand und Kalk ohne fonftiges 
Bindemittel werden im Verhältnis von etwa 19 : 1 
gemifht. Eine neuere Abart find die aus guter 
Steinfohlen- oder Hochofenſchlacke unter Zufaß 
von Kalf in gleiher Weife gehärteten Schladen- 
fteine, von denen das Gleiche gilt, was von den 
Kalkfandfteinen gefagt worden ift. Hierdurd Fön- 
nen viele Abfallprodufte zu vollwertigem Maue- 
rungsmaterial werden. Die Aufbereitung diefer 
Dichftoffe verlangt eine gründlichfte Durdlöfchung 
des Kalkes und innigfte Vermiſchung desfelben mit 
dem Sand. Dies gefchieht entweder bei Fleinen 
Anlagen einfah durch Löſchung von Kalkfteinen 
und Dermifhung des gewonnenen Kalfhnödrates 
mit dem Sande. Worteilbafter find die Bern- 
bardifhen Siloverfahren. Der fein gemablene 
Kalt wird vorfehriftsmäßig mit dem Sande ver- 
mifcht, angefeuchtet und in einen Silo oder Lager- 


232 


behälter geleitet, wo das Kalfpulver inmitten des 
Sandes unter Wärmeentwidlung gelöfht wird, 
wobei er dem Sande die Feuchtigkeit entzieht. In 
wenigen Stunden hat man fo einen fertigen Mör- 
tel,der infolge der Einwirkung der Wärme eine 


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Aus der deutfhen Kalffandfteininduftrie. 


derart, daß der Verſchleiß äußerft gering, die Be- 
triebsficherheit aber vollfommen: ift. 

Es fann im Rahmen diefer Ausführung auf 
Einzelheiten der Bauart niht eingegangen wer- 
den. Neben normalen Baufteinen können natür- 





Bernhardiſche Dreiprefien-Anlage. 


hohe Prepfähigkeit erworben hat. Diefes Ber- 
fohren fann je nah den DBerhältniffen ganz oder 
teilweife felbfttätig ausgeftaltet werden. Bei felbft- 
tätigen Heiß-Silo-DVerfahren gefhieht die Aufbe- 
reitung noch gründlicher; es erfordert indes be- 
fondere Kraft und Dampf. 

Iſt das vorbereitete Material troden, fe kommt 
es unter die Preſſe. Wir zeigen in unferm 
Bild einige Kalffandftein - Prefanlagen von Dr. 
Bernhardi Sohn in Eilenburg, wie folhe im 
eigenen Lande und in allen Weltteilen im Gebraud 
find. Dieſe felbfttätig arbeitenden Anlagen wer- 
den für ftündliche Leitungen von 500 bis herauf 
zu 2800 Kalffandfteinen gebaut und ftellen wohl 
das Vollkommenſte dar, was es auf diefem Ge- 
biete gibt. Die Widerftandsfähigfeit ift durch tan- 
gentiale Tiſchdrehung mit Zentralführung, fenf- 
rechten Ausftoß ohne feitlihe Drudwirfung und 
bewegliche Laufbahn mit Hocdhaltung der Pref- 
ftempel und der bereits ausgeftoßenen Formlinge 


lih aud andere Formate, wie die großen auslän- 
difhen in Abmeſſungen von 29X14X65 Zenti- 
meter, Radialfteine für Schornftein- und Brunnen- 
bauten ufw. aus entfprehenden Formen bergeftellt 
werden. Hinweifen möchten wir auf die Kanten- 
verftärfung bei den Bernhardi - Preffen. Das 
Preßgut fällt zumeift vorwiegend in die Mitte der 
Formen und verdichtet fih dort, während es an 
den Eden und Kanten nur loje angehäuft wird. 
Mit einem zweiteiligen Preßftempel werden die 
Kanten derart verftärft, daß fie ein feſtes ficheres 
Gefüge bilden. Auh Hohlfteine Yaffen fih durd 
beſondere Vorrichtungen berftellen. 

Die geformten Steine gelangen dann zum Zweck 
der Erhärtung in den Keſſel, wo ſie der Einwirkung 
hochgeſpannten Waſſerdampfes ausgeſetzt werden. 
Diefe Spannung beträgt in der Regel aht Atmo- 
iphären, die etwa adt big zehn Stunden auf die 
Formlinge einwirfen. Der heiße Dampf fchliept 
bis zu einem Grade die Kiefelfäure des im Preg- 


Die Evolutionstheorie vor Gericht. 


ling enthaltenen Sandes auf und es entfteht mit 
der Verbindung der Kiefelfäure mit dem Kalt- 
hydrat ein Kalciumhydroſilikat, eine aus der ganzen 
Stoffmenge gebildete verfteinerte Maffe, die fo- 
dann alg dampfgehärteter Kalkfandftein fofort dem 
Verbraud zugeführt werden fann. Die chemiſche 
Verbindung nimmt eine Eriftallinifhe Form an. Wir 
paben alfo feinen einfachen, in der Natur erhärte- 
ten Kalkfandfteinmörtel, fondern eben eine fefte 
chemiſche Verbindung von außerordentliher Drud- 
fähigkeit, erhöhter Feuers, Froſt- und Wetterbe- 
ſtändigkeit. Deshalb wird der Kalffandftein auh 
viel zu Sabriffhornfteinen, Ningöfen zum Brennen 
von Ziegeln und Kalf, Keffeleinmauerungen, ja 
ls Erfag von Thamottefteinen verwendet. Da 
diefer Stein unter dem Einfluß der Witterung 
immer mehr erhärtet, alfo nicht vermwittert, ge- 
braucht man ihn vielfach mit dem beften Erfolg für 
Tiefbauten, Fundamenten, Waflerbauten, Berg- 


233 


werfsbauten uſw. Sein hauptfählichfies Wer- 
wendungsgebiet ift natürlihd der Hochbau, wobei 
ein Mörtelpug nicht erforderlih ift. Der Katt- 
fondftein ift als Derblendftein hervorragend geeig- 
net; man fann ibn auh durch Zuſatz kalkechter 
Sorbftoffe färben, fo daB man recht angenehme 
Wirkungen mit ihm hervorbringen fann. Natür- 
lih ift die Haltfeftigkeit des Mörtels an Kalkſand⸗ 
feinen größer als an Tonziegeln, da der Mörtel 
einen gleichartigen Stoff darftellt. 

Heute ift der Kalffandftein infolge der Einfach⸗ 
heit des Materials, der fchnellen, billigen Herftel- 
lung und DBielfeitigkeit der Anwendung in feinem 
Urfprungslande wie in allen Erdteilen weit ver- 
breitet. In Deutfchland ift ein hervorragender 
Induſtriezweig entftanden, der fih in verhältnis. 
mäßig furzer Zeit den Weltmarkt erobert hat und 
daher ein bedeutender Wirtfchaftsfaftor geworden 
ift. 


Die Evolutionstheorie vor Gericht. Von Dir. Dr. Müler-Lage. R 


Der „Affenprozeß“ im nordamerifanifhen Staate Ten- 
neflee lenft wieder einmal die Aufmerkſamkeit auf ben 
: Kampf für und wider die Entwidlungslehre, der in den 
Vereinigten Staaten mit unverminderter Heftigkeit tobt. 

Shen im Jahre 1923 hatte ih bei meinem Aufenthalt 
in den Vereinigten Staaten — einer Werbereife für den 
Keplerbund — Gelegenheit, perſönlich Einblid in diefe 
Kämpfe zu nehmen, die befonders in den einzelnen Fird- 
ligen Denominationen zu fchwereen Gegenſätzen zwiſchen 
linken” und „rechtem“ Flügel führten, alfo zwiſchen den 

nbängern der Entwidlungslehre, den „Evolutioniſten“, 
und den ftreng Bibelgläubigen, den „Fundamentaliſten“. 

Führer der letzteren war fhon damals W. J. Bryan, 
ehemaliger Sekretär Wilfons, der presbyterianifchen Kirde 
angehörig. Sein Ziel ging vor allem dahin, die Entwid. 
lungslehre in den Schulen zu verbieten. Seine bedeutende 
Nedegabe verfehaffte ihm eine gewaltige Anhängerſchaft, be- 
fenders unter den einfadhen Leuten. 

Kurz, ehe ich Amerika verließ, — Mai 1923 —, erſchien 
ein Aufruf von 40 prominenten Amerifanern, die klarlegen 
wellten, dag Wiſſenſchaft und Religion durhaus pu 


fommengehen, alfo keine Gegenſätze feien, daB man alfo an 


Gott und an die Entwidlungslehre glauben könne. Ent- 
worfen war der Aufruf von dem Phyſikprofeſſor Millikan, 
der Turg darauf den Mobelpreis erhielt. Unter den übrigen 
Unterzeihneen war u. a. der Biſchof Manning von ber 
Episcopalen Kirde; die Präfidenten der Univerfitäten Vale 
und Chicago; ber Admiral Sims; der Präfident der Na- 
tional Academy of Sciences; Prof. Osborn, der Leiter des 
Naturgeihihtliken Mufeums u. a. 

Hier eine Stelle des Aufrufs: 

„Zwed diefes Aufrufs ift, irrige Auffaflungen richtig zu 
ellen, die in gewiffen Kreifen zu herrſchen feinen; näm- 
lich einmal die Auffaffung, daß Religion gleichbedeutend 
iR mit mittelalterliher Theologie; ſodann jene, daf bie 

iſſenſhaft materialiftiih und irreligiös fei. 

iir Unterzeihneten bedauern febr, daf man in den 
fürzlihen Kontroverfen Wilfenfhaft und Religion bat als 
Gegenſãtze unverſöhnlicher Art hinſtellen wollen; beide 
tragen beſtimmten geiſtigen Bedürfniſſen des Menſchen 
Rechnung; fie ergänzen ſich, anſtatt ſich zu befehden. 


Zweck der Wiſſenſchaft iſt es, vorurteilsfrei und unvor⸗ 
eingenommen die Tatſachen, Geſetze und Vorgänge der 
Natur zu ergründen. Anderſeits iſt es die noch wichtigere 
Aufgabe der Religion, dem Gewiſſen, den Idealen und den 
höheren Gedanken des Menſchen Rechnung zu tragen. 
Beide bedeuten eine lebenswichtige Betätigung des menſch⸗ 
lichen Geiſtes, beide ſind notwendig für das Leben, den 
Fortſchritt und das Glück des Menſchengeſchlechts. Die 
Wiſſenſchaft gibt uns eine erhabene Auffaſſung von Gott, 
eine Auffaſſung, die im Einklang ſteht mit dem höchſten 
Ideal der Religion, wenn ſie Gott darſtellt als ſich offen⸗ 
barend durch unzählige Menſchenalter in der Entwicklung 
der Erde als Wohnſitz des Menſchen und in ber geſchlechter⸗ 
langen Cinflößung des Lebeng in die Materie, mit dem 
Höhepunft der Entwidlung im Menfhen mit feinem Geift 
und feiner gottähnlihen Magt.” 
fagt dazu nun W. J. Bryan? Hören wir ihn 
elbit. 

„Dies Schriftſtück ift gany bejeihnend für die foge- 
nannten Tiberalen. 

Gewiß fann Feine Wahrheit der Bibel fhaden, — 
feine Wahrheit fann das Chriftentum ſchädigen. Wir 
verwahren uns nur gegen baltlofe Vermutungen, die von 
MWiffenfhaftlern im Namen der MWiffenfhaft verbreitet 
werden. 

DBefonders verwahren wir uns gegen die Vermutung, 
daß der Menſch von den Tieren abftammen fol. Wir 
wenden uns beshalb dagegen, weil fie unbewiefen it und 
von demoralifierender Wirkung. Sie führe den Menſchen 
babin, dag er ſtatt nadh oben nad unten fchaut, um den 
Schlüſſel für fein Weſen zu finden. Der Aufruf verdunfelt 
das, worum es fih dreht. Wenn der Derfafler erklärt 
bätte, daB die angeblih „mittelalterlihe” Theologie ehrt, 
daf die Bibel wahr ift, daß Chriſtus Sohn einer Jung- 
frau war, für die Sünden der Menfchen litt und von den 
Toten wiederauferftand, dann bätten vielleiht einige ber 
Unterzeichner ihren Namen nicht hergegeben. 

Hätte er im legten Sah nit gefagt: „Gott offenbart 
fih in der gefhlehterlangen Einflößung des Lebens in bie 
Materie mit dem Höbepunft der Entwidlung im Men- 
(hen mit feinem Geit und feiner gottäbnlihen Magt”, 





234 





fondern hätte er einfach gefchrieben: „wir glauben, daß ber 
Menja nad feiner Abflammung ein DBlutsverwandter des 
Affen oder einer anderen niederen Form des Lebens ift”, 
dann Fönnten das die Leute verftehen. 

Wenn die Bierzig meinen, daB der Menih dem Tier- 
reih entitammt, warum laffen fie ihre hochtrabenden 
Worte nicht beifeite und brauden die Sprache des Alltags, 
die das Woll verfteht? Zeigen fie doch die Teile der Bibel 
auf, die fie verwerfen, und.das Wolf fann verftehen, worum 
der Streit geht! Die presbyterianifhe Generalverfammlung 
fprah für neun Zehntel der Chriften, als fie fih erneut für 
die Unfehlbarfeit der heiligen Schrift feftlegte, die jung- 
fraulihe Geburt Chrifti, fein Sühnopfer und feine leibliche 
Auferfiebung. Die Entwidlungslehre ift verderblih, weil 
fie das Ehriftentum untergraäbt. Warum eine unbewieiene 
Hypotheſe anftelle von Gottes Wort fegen?” 

Auf die inneren Spaltungen — befonders in den Reihen 
der presbyterianifhen und baptiftifhen ‘Denominationen — 
kann bier nit eingegangen werden, wenngleih fie in dem 
kirchlich überaus intereffierten Amerika großes Aufſehen 
erregten, zumal einige liberale Kanzelredner von der funda- 
mentaliftifhen Mehrheit gemaßregelt wurden und ibres 
Amtes verluftig gingen. Als Kuriofum fei erwähnt, daß 
liberale Kirchen die Entwidlungsichre im Film vor- 
führten, — in ber Kirde, — mit einer höflihen Einladung 
auh an W. J. Bryan. 

Am ſtärkſten ift der Einfluß der Fundamentaliſten im 
Süden. In Oklahoma ift es in den Etaatsihulen ver- 
boten, die Entwidlungslehre im Unterriht zu bringen. 
Dasfelbe gilt vom Staate Tenneflee. Jeder Lehrer in einer 
flaatlihen oder vom Staate unterftüsten Schule, fo befagt 
das Geſetz — der eine Theorie lehrt, „die die Geſchichte 
der göttlihen Schöpfung des Menſchen leugnet, wie fie die 
Bibel lehrt, und ftatt deffen den Menfhen von niederen 
Lebeweſen berleitet, wird mit 100 Dollar Strafe belegt.” 
Ein Zufagantrag, wonach auch die Kugelgeftalt der Erbe 
zu lehren verboten fei, fand keinen Anklang in der gefeg- 
gebenden Körperihaft. — In Florida empfiehlt die gefeg- 
gebende Körperfhaft den Kuratoren und Ausſchüſſen ber 
Säulen, teine Lehrer anzuftellen, die den Darmwinismus 
lehren; ein Antrag wurde eingebradht, nah dem folde 
Lehre einen Verſtoß gegen das Beleg bildet. — In Kentudy 
und Teras fdeiterte das Evolutionsverbot,. das das Unter- 
baus beidloffen Hatte, am Widerſtand bes Oberhaufes, 
wobei in Kentucky freilih nur eine einzige Stimme ben 
Ausihlag gab. In Kentudn geben die Baptiſten einer 
Schule, in der die Evolutionslehre vorgetragen wird, Feinen 
Zuſchuß. — In Miffiffippi, Georgia, Weftvirginien, Ar- 
kanfas, Illinois, Jowa, Norddakota, Minneſota, Arizona, 
Oregon, — in allen diefen Staaten find evolutionsfeindliche 
Gefepesanträge eingebraht worden oder follen in kurzem 
eingebradyt werden. 

In Georgia wurde der Biologieprofefior der Staats- 
univerfität feines Amtes enthoben, weil er fi zu der Evo- 
Iutionstbeorie bekannte. 

In Kanfas bat eine wütende Volksmenge vor kurzem 
ein Eremplar des „Boot of Knowledge” — einer Art 
„Kleiner Brockhaus“ — öffentlih verbrannt, das für bie 
Bücherei der dortigen Schule angefhafft worden war und 
das die Evolutionslehre erwähnte. 

Die Gegner der Sundanıentaliften find in zwei Körper- 
fhaften vereinigt. Dieſe Proteftorganifationen, bie alfo 
in lester Linie für Freiheit der Wiffenfhaft und ibrer 
Lehre kämpfen, find die American Association for the 
Advancement of Science und bie Science League of 
America, legtere Auguft 1924 von Maynard Ehipley ge- 
gründet. 


Die Evolutionstheorie vor Gericht. 


Bei dem jüngſten „Affenprozeß“ nun handelt es ſich 
weniger um den Tehrer Jobn Scopes aus Dayton, Ten- 
neflee, der im naturgeihichtlihen Unterricht die Entwid- 
Iungslehre erwähnte, als vielmehr darum, feftzuftellen, ob 
das Geſetz, das foldes verbietet, überhaupt verfaffungs- 
mäßig zuläffig ift. Die Eleine Stadt Dayton ift über 
Nacht berühmt geworden und hat auch ſchleunigſt daraus 
Kapital geihlagen; ein Leben und Treiben entwidelte fi 
dort, als gäbe es Luther auf dem Meihstage in Worms 
su fehen. Eine eigens angebradte Radioſtation ermög- 
lihte eg dem ganzen Lande, den Prozeß mit anzuhören. 
Den herzlich unbedeutenden Herrn Scopes verteidigten 
Ameritas berühmtefte Rechtsanwälte, — er fol ſich fogar 
an den englifhen Schriftſteller H. G. Wells mit der Bitte 
um Verteidigung gewandt haben; während W. J. Bryan 
die Behörden von Tenneflee auf der Gegenfeite unterftügte. 

Als Sachverftändiger, der den Geſchworenen die Eyo- 
Iutionstheorie erflären follte, fungierte Prof. Metcalfe, Bio- 
loge an ber Johns⸗Hopkins⸗Univerſität, Baltimore. 

©. ift ſchließlich doch zu 100 Dollars Geldfirafe ver- 
urteilt worden; man hat freilih ſchon 10000 Dollars für 
ihn gefammelt! Die Verteidigung bat zudem Mevifion ein- 
gelegt, ber aber wahrſcheinlich nicht ftattgegeben wird. Der 
Kampf geht trogdem weiter. Bryan allerdings wird nicht 
mehr dabei fein, denn er ift plötzlich verftorben. 


Nachwort: Die vorfiehenden Ausführungen unferes 
verehrten Bundesfreundes und geihäftsführenden Direftors 
Dr. Müller -Lage find leider durh ein Verſehen nur 
in die Auguftnummer des „Naturfreund“ gelommen; fie 
folten auh in „Unfere Welt” erfheinen. ch darf aber 
wohl annehmen, daß fie auh in ber vorliegenden Sep- 
tembernummer nod intereflieren. Wie ih zu der Sahe 
felber ftebe, bedarf für die Lefer von „LUniere Welt” wohl 
feiner Darlegung mehr. Von Intereſſe für uns Deutide 
ift ganz befonders die Frage, ob aud bei uns in ber 
deutfhen Demokratie Ausfihten für eine folge Rückkehr 
zu mittelalterlihden Methoden beftebt. Es gilt dem deut- 
foen Spießbürger ebenfowohl wie dem fozialiftiihen Ar- 
beiter befanntlih als Glaubensſatz, dag monardifhes Re- 
Himent und. kulturelle Reaktion einerfeits,.. demokratiſche 
Verfaſſung und Geiftesfreiheit andererfeits fozufagen not- 
wendig zufammengebörige Dinge feien. Seit den Zeiten 
der fogenannten Meftauration in der erften Hälfte des ver- 
gangenen Jahrhunderts ift diefer Glaubensfag faft un- 
unerfhüttert geweien. Das Beifpiel Amerikas zeigt, wie 
es damit tatfählih ſteht. Ih Hoffe, demnähft Zeit und 
Gelegenheit zu einer ausführlideren Unterfuhung der eben 
aufgeworfenen Frage zu finden. Worläufig nur dies: Die 
Ausfiht, daß über fur} oder lang aud bei ung einmal eine 
äbnlihe Knebelung der Tehrfreibeit fih durch Volksabſtim⸗ 
mung durdfesen Fönnte, it m. E. nicht fo gering, wie man 
zumeift glaubt. Wenn es, worauf mange Zeichen bin- 
deuten, in Bälde dazu kommen follte, daß unfere Arbeiter- 
ſchaft in größerer Zahl fih wieder der Religion, und zwar 
dann nicht der bisherigen Kirche, fondern Selten mit anti- 
kapitaliſtiſchem Einſchlag zuwenden follte (wie denn z. B. in 
Rußland bereits eine derartige neue „lebendige Kirche” mit 
Unterftüsung der Sowjets gedeiht), fo wird auch in Deutid- 
land, und zwar gerade wegen bes bemofratifhen Megimes 
vieles möglid fein, was man jeßt noh weit von ber Hand 
weit. — Soviel it fider: Der Glaube, daß allein bie 
Demofratie den Kulturfortihritt garantiere, hat einen argen 
Stoß erlitten. Bavink. 


Kleine ‘Beiträge. 





Archive der Pflanzengeichichte 
tann man die Moore nennen. Wie eine alie Stadt in 
ihren Arhiv die Dokumente ibrer Geſchichte aufbewahrt, 
io birqat ein Moor die Zeugnifte für die Pflanzengeſchichte 
einer Gegend. Diele Dokumente find die abgeitorbenen 
Baume und Pflanzen, die im Moor, vom Kauerftoff der 
Cuit abgeihnitten, die Jahrtauſende uberdauern, und der 
Blütenſtaub der Bäume, die einft die Gegend befiedelten. 
Dem jogar der Blütenftaub bleibt erbalten. Der 
Regen von Blütenſtaub, der allfenımerlih auf den Wald- 
boden niederriefelte, wird vom Moor in treue Obhut ge 
nemmen und barrt in feinen verihiedenen Schichten des 
Forſchers. Der Forſcher entnimmt dem Moore Boden- 
zroben aus verfchiedenen Tiefen und unterjucht fie mikro— 
ſtoriſch. Und da der Dlütenftaub eines reden Baumes 
icine eigene, nur dieſer Baumart zufommende orm bai, 
tann er aus der prozentualen Haufigkeit einer beitinnmten 
Blütenſtaubart in einer Moorihiht auf die Haufigkrit 
des Vorkommens diefes Baumes jhliehen und aus Dem 
Webjet der Arten in den veridiedenen übereinanderlirgen- 
den Schichten auf die wechſelnde Waldzuſammenſetzung in 
den aufeinanderfolgenden Zeiten. Dieſe Arbeitsweiie, die 
man Pollenanalpfe Unterfuhung des Blüten- 
ttaubes nennt, it als zuverläſſig erprobt worden. Sie bat 
bereits zablreihe bemerkenswerte Ergebniffe gezeitigt. So 
hat Starf feltgeftellt, daß dert, wo beute im Echmwary- 
wald Die boben Fichten ihre dufteren Schatten werfen, in 
einem auf die Eiszeit folgenden Zeitabihnitt nur Kiefern, 
Werde und Hafelfträuder vorfamen. Darauf muß wieder 


eins warmere Zeit gefolgt iein — wieder, denn der Cis- 
seit geht eine Heißgeit voraus —, in der an Etelle der 
bentigen Fichten Linden und Eichen den Wald des 


„Schwarz“waldes qufammenfesten. And für die Dftalyen 
ergaben Moorforihungen das zeitweilige Vorkommen von 
Buchen in der Höhe von 1990 Metern, einer Höbe, in 
ser man beute keine Buchen mehr finder. Alles das Fann 
der Forſcher aus den im Archiv des Moores aufbewahrten 


Dokumenten leſen. L. Linden. 
Vom Grauwerden des Holzes. 
Aeltere Pfähle, Planken, Schindeln, Scheunen und 


Hütten aus Holz nehmen manchmal nah längerer Zeit eine 
ihöne filbergraue Kurbung an, beionders wenn ce fid um 
Kichten- oder Kiefernholz bandelt. So eryablt aud Doflem 
in jeiner OÖftafienfahrt, tak die Holzbauten der Japaner 


Naturwiſſ enſchaftliche und 


a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaſten. 

Dice zuerſt mit großem Aufſehen aufgenommene, dann 
ra angegriffene und vielfach verſſorieie Madridi von der 
Verwondlung dcs Queckſilbers in Cold durch die Ein 
wirkung elektriſcher Entladungen ſcheint ſich nun doch zu 
beſtärigen. Die beiten Forſher Wireibe und Stammi— 
reich in Berlin, Die aut der Zunsbrucker Naturforſcher 
verſammlung ziemlich ſchlecht abgeſchnilten batien, vers 
cifentlichen jest (Natfurwiſſenſchaften Mr. 20) neue aus 
ſuhrlichere DBeobadtungen vber de Bedingungen, mier 
denen Die Umwandlung cinten. Miere macht qam pra 
yic Angaben darüber, jo dak Me game Zade durchaus 
den Eindruck made als ob nad den angegebenen Vor- 
I@.inen jeder mit den geeigneten Appaäraten unter gleichen 
Dedingungen die gleichen Reſultate erbalten wird. Außer 





Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 


einen wunderbar feinen ſilbergrauen Ton in die Landſchaft 
bringen. Es erſcheint nicht ausgeſchloſſen, da hier im 
beiden Fallen dieſelbe Urſache zugrunde liegt. M. Mö- 
bius (Beridt der Deutſchen Botaniſchen Geſellſchaft, 
Bd. 42, H. 2) unterfuhte beimifhes Holz und fand auf 
mikroſkopiſchen Schnitten, daß das Holz außen zunächſt 
aus etwa fünf Lagen von Holzzellen (Traheiden) mit gan; 
farblofen Wänden beftand. m dem Jnnern der Zellen 
aber befanden fidh regelmäßig Zellgruppen eines rußtau— 
artigen Pilzes. Die nun folgende etwa doprelt fo ſtarlke 
Schicht feste fid zufammen aus Tracheiden mit braungelb 
gefärbten Wänden. Hier fanden fih niemals Pilze. Der 
beobachtete Pily beitebt aus einem fadenfürmigen Lager 
0,003 — 0,004 Millimeter dider Zellen. Die Fäden liegen 
oft ineinandergefrümmt als Ballen in den langgeitredten 
Holziellen.. Die Membranen der Pilzzellen find umbra- 
braun gefärbt. Wie kommt aber nun die filbergraue Far— 
bung auftande? Unterſuchungen an der grauen Rinde der 
Motbube und des DBergaborns, an der glänzend grauen 
Sumenoberflide von Caesalpina Bonduc, an der Jar- 
benerfheinung beim Tintenpilz (Coprinus) haben gezeigt, 
daß die graue Farbe im Pflanzenreih vielfah dadurd er- 
zeugt wird, daß eine farblofe durchſcheinende (nit durd 
fihtige) Schicht auf einem dunklen Hintergrund (fog. Tape 
tum) liegt. So beftebt die Rinde der Rotbuche aufen 
aus abaeftorbenen, leeren Korkzellen mit farblofen. Wän- 
den und Lufträumen dazwiſchen, die alfo die durchſcheinende 
Schicht bilden. Dahinter liegen Korkzellen mit rotgelbem 
Inhalt und die grünen Mindenzellen, die als dunkles Tace 
tum wirfen. Auch der Rand des Hutes vom Tinten, ih 
erbält fein filbergraues Ausfeben, weil die dunkelbraunen 
Sporen durd die dünne, mit Lufträume durchſetzte Hut 
ſchicht hindurchſcheinen. Aehnlich verhält es fid nun mit 
der grauen Farbe des Holzes. Obwohl der Pilz von umbra. 
brauner Farbe ift, wirken die Kolonien als dunkler Hinter- 
grund und die farbloſen Holzzellen als durchſcheinende 
Schicht, fo daß nidts mebr von dem Braun zu erfennen 
ift, fondern ein grauer Ton zuftande kommt. Man tann 
künſtlich ahnlice WBerbältniffe idaffen, wenn man z3. 2. 
die dunklen Sporen des Tintenyilzes auf qummiertes, an: 
gefeuchtetes Papier fein verftreut aufträgt. Beim Trodnen 
it das Papier dann nit brann, fondern grau gefärbt. 


Albert Pietie. 
® 





dem gibt aber Profeflor Magaoka in Tokio, der be- 
deutendſte javaniſche Phyſiker, in Mr. 31 der leihen Zeit 
ſchrift ebenfalls febr genaue Mitteilungen über das gleiche 
Ergebnis. Er bat das Gold dadurch nachgewieſen, dak 
er eg ın Me Glaswand des Gefaſßes einſchmolz. Ks ent: 
ſteht dann eine darafteriftiibe roie Farbung, Die von Pob 
loidalem Gold berrübrt und dieſes laki nb unter Dem 
Mitreitep in eingelnen Eleinen Teilchen nachweiſen. Mad 
dieſen Mitteilungen darf man wohl faum mebr aweifeln, 
Bay: der alte Alchymiſtentraum tatlachlih durd die moderne 
Phpſik und Chemie verwirklicht iſt. Miethe wirft idon 
die weiterſuhrende Frage anf, welches Iſotop des Queck— 
ſeibers die Umwandlung in Hold erleidet. Einſtweilen iſt 
dieſe Frage nod nicht ſpruchreif. 

Eine vortreffliche klare Darſtellung der Gründe für das 


236 
periodifche Syſtem, die fi aus ber modernen Atomtheorie 
ergeben, gibt Landé in Mr. 27 der Naturwiſſenſchaften. 
Warum bat das pyeriodifhe Syftem die 
Deriodenlängen 2, 8, 8, 18, 18, 32?) Jn ber 
Sauptfahe find es die Bohrſchen Ideen über die Haupt- 
und Mebenquantenzahlen, auf die er fih ftüßt, doh gelingt 
es ihm in febr einfaher Weile, das Wefentlihe daran von 
allem unnötigen Beiwerk befreit berauszuftellen, jo daß 
aud der weniger Eingeweibte fih ein gutes Bild maden 
fann. í 

Zur Melativitätstheorie liegen einige intereflante neue 
Beiträge vor. Tomaſchek (Annalen der Phyſik 74, 
136; Phyſikaliſche Berichte 14, 944) bat eine ausführ- 
lihe Unterfuhung über die Bedeutung der Aberration für 
die Melativitätstheorie angeftellt, die zu dem Ergebnis 
fommt, daß diefelbe fid dodh im ganzen nur ſchwer mit 





der Melativitätstheorie in Einflang bringen läßt. An— 


dererfeits bat Raluza (Phnfilaliihe Zeitfhrift 25, 604; 
Pyſikaliſche Berichte 14, 947) gegenüber einem febr oft 
gegen die Melativitätstbeorie ing Feld geführten Einwand 
gezeigt, daB man die Definition der Gleichzeitigkeit aud 
ohne die Bevorzugung eines fpeziellen phyſikaliſchen Bor- 
ganges, nämlih der Tichtausbreitung, geben Fönne, wenn 
man niht zwei, fondern drei gegeneinander bewegte Syſteme 
der Betrachtung zugrunde legt. Zum Schluß muß dann 
freilich zur Entfheidung zwiſchen zwei möglichen Källen 
doch wieder das Lidt herangezogen werden, was ja aud 
jelbftverftändlih ift, da in den Formeln der Melativitäts: 
theorie eben die Lich t gefhwindigfeit eine fundamentale 
Rolle fpielt. Ueber die geunbfäglihen ragen der Zeit- 
mefjung hat Vogtherr eine Unterfuhung in der Phy- 
ſikaliſchen Zeitihrift 25, 609 (Phyſikaliſche Berichte 14, 
947) angeftellt. Er kommt zum Ergebnis, daß eine ab- 
folute Meffung der Gleichzeitigkeit auf Grund des fog. 
Artioms der identifhben Veränderungen 
möglih fei, und daß alle fheinbar nötige Willtür in der 
Beftimmung der Gleichzeitigkeit entfernter Ereigniffe auf 
falfhen Borftellungen von dem Zufammenbange der Er- 
eigniffe oder auf der Unvolltommenbeit unferer praktiſchen 
Hilfsmittel, nicht jedoh auf grundfäßlihen Unvolltommen- 
heiten des Verſtandes und der benusten Zeitariome be- 
rube. Diefen der Melativitätstbeorie entgegengefeßten 
Standpunft babe ich früher auh eingenommen; es ift mir 
aber zweifelhaft, ob er ſich angefihts der neueren Unter- 
fuhungen beionders Reichenbachs aufreht erhalten 
läßt. 

Sehr intereffant ift eine Arbeit von Maneff über 
„Die Gravitation und das Prinzip der Wirkung und 
Gegenwirkung“ (Zeitihrift für Phyſik 31, 786; Phnfita- 
liſche Berichte 14, 950). M. entwidelt auf Grund einer 
Nethberabfoluttrbeorie unter Hinzuziehung des 
Prinzips von der Trägheit der Energie und 
tes Einfteinfben Aequivalenz - Prinzips 
(träge — ſchwere Mafie) eine Theorie der Fortpflanzung 
von Oravitationsfeldftörungen. eine Formeln ergeben 
dann, in Reiben entwidelt, als zweite Näherung die der 
ſpeziellen Relativitätstheorie. Sowohl die Lichtablenkung 
wie die Peribeldrehung erſcheinen in dieſer Theorie mit 
dem richtinen Betrage; fhließlih Führt fie zu merkwürdi— 
aen Eosmologiihen Solgerungen: die Yichtgeichwindigfeit 
wählt vom Miiielpunts der Welt — die Welt bat bei WM. 
einen „naturlichen Mittelvunkt“ — nah außen bin ing 
Unendlibe. An der Grenzfläche, die im Endliben liegen 
fann, wird jede Bewegung abgebremit, fo daß der Welt 
feine Maffe verloren geben tann. 

Eine Beziehung zwiſchen den univerjellen Konftanten 


der Phpſik, dem Planckſchen Quantum, der Lichtgeſchwin- 


digkeit, der Gravitationskonſtante, der Klektronenladung 


Naturwiffenihaftlihe und _naturphilofopbifhe Umſchau 











und fo weiter verfuht Rice (Phil. Mag. 49, 457; 
Phyſikaliſche Berichte 14, 945) zu finden. Er gelangt 


ihließlih zu der Gleichung Re — a 


gae?” in welder 
R den Krümmungsradius ber Einfteinihen Welt, r den 
elektrifhen, o den Gravitationsradius bes Elektrons, h, c 
und e die befannten Bedeutungen haben. Hieraus be: 
rechnet er R zu etwa einer Billion Parfet. (1 Parfef. if 
die Entfernung eines Sternes, deffen Parallare gleih einer 
Minfelfelunde fein würde, d. b. von dem aus gefehen die 
Erdbahn unter einem Winkel von einer Sekunde erfheinen 
würde. Diefe Entfernung beträgt ungefähr 30,7 Bil- 
lionen Kilometer oder etwas mehr als drei Lichtjahre. Der 
von R. berehnete Weltradius betrüge demnach einige 
Duadrillionen Kilometer). 

Brufh glaubt (Proc. Amer. Phil. Soc. 63, 57; Phbyj. 
Berihte 13, 887) eine Veränderlichkeit des Verhältniſſes 
von träger zu ſchwerer Mafe durch Fallverſuche nad. 
gewiefen zu baben. Die Stoffe mit größtem Atomgewidt 
und größter Dichtigkeit follten rafher fallen (natürlih im 
leeren Raum!) als die leichteren. Die Ergebniffe feinen 
nah dem Berichte noh febr mit Vorfiht aufzunehmen zu 
fein. 

Eguchi bat die zuerft von Heaviſide mitgeteilten 
merfwürdigen Eigenſchaften total durdeleltrifierter Iſola⸗ 
toren näher unterfuht (Phil. Mag. 49, 178, Phyſ. Ber. 
14, 969). Man erhält folde, im ganzen Wolumen, niht 
nur auf der Oberflähe eleftrifierte Maflen, wenn man 
raffende Mifhungen, 3. B. von Wachs und Harz, während 
des Erftarrens der Einwirkung eines Fräftigen äußeren 
eleftrifhen Feldes ausfegt. Die fo erhaltenen Ladungen find 
ungefähr fo ftart wie die durh Reibung zu erbaltenvden, 
fönnen aber durdh Feines der gebräudlihen Mittel, wie 
4. B. Flammengafe, zum dauernden Verſchwinden gebracht 
werden, fondern ftellen fi immer wieder ber. Die vom 
Verfaſſer unterfuhten Präparate paben ibre Ladungen 
ihen mehr ale drei Jahre unverändert behalten. Diefe 
DVerfuhe verdienen in weiteren SKreifen nachgemacht zu 
werden. Es laffen fih vielleiht mit folgen dauernd 
„volumelektrifierten” Körpern viele wertvolle Verſuchs 
onordnungen ausführen. 

Ein anderer Engländer, Wall, pat (Nature 114, 
898; Phyſ. Ber. 13, 914) Magnetfelder von bisher un: 
befannter Intenſität, allerdings nur für febr furze Zeit, 
erzeugt, indem er bie Entladung eines großen Kondenfators 
über eine kurze Spule geben ließ. Er maß die erzeugten 
Selder auf über eine Million Gaup und beifı, 
bei weiterer Dervollfommnung der Methode auf zebn 
Millionen Gauß zu fommen. Es gelang ibm fon, eine 
wichtige. Feſtſtellung über die Wirkung folber boben Felder 
zu machen: Eifen, das in ein foldes Feld gebraht worden 
it, muß nah gewiſſen Theorien feine magnetiihen Eigen: 
haften ändern. Das ift tatfählih der Fall. 

b) Biologie. 

Roggen oder Weizen? Grob- oder Feinbrot? So fragt 
der befannte Ernährungsphyfiologe Mar Rubner in einem 
Aufſatz in Heft 30 der „Naturwiſſenſchaften“, der trog der 
Autorität des Verfaſſers in einzelnen Teilen wob! bie und 
da auf Widerſpruch ſtoßen wird. Weizen, antwortet er auf 
die erite Frage, wo immer es Hoden und Klima geftatten, 
it Weizen angubauen, denn die gleihe Bodenfläche liefert, 
mit Weizen bebaut, bedeutend mebr verbaulihe Stoffe, vor 
altem Eiweiß, als mit Roggen bebaut. Die zweite Trage 
angebend, ergaben neuere Alnterfuhungen, zum Zeil in Be- 
ſtatigung fruberer, daß Brot um ſo ſchwerer verdaulich ift, 
je mebr Kleie eg entbielt, d. b. nit nur, daß bei Grobbrot 
verbaltnismaßig weniger Stoffe verdaut werden, fondern 
auch, daß der Korper durd flürfere Veanſpruchung von 





Verdauungsfäften mehr belaftet wird. Grobbrot fann da- 
ber nur als DBallaft für den Darm zur Förderung des 
Stublganges von Nusen fein; dasjelbe aber leiſtet aud 
Obft und Gemüfe. (?) Wor allem redet Rubner einer fad- 
gemäßen Schälung das Wort, da der Fleine dabei ent- 
ftiebende Verluſt an Mahrungsbeftandteilen aufgehoben 
werde durd die fo erzielte größere Verdaulichkeit. Auh 
der größere Aichengehalt gibt dem Kleienbrot Feinen Bor- 
jug vor anderm. Der Unterfhied im Salzgewinn bei Ge- 
nuß von Kleiebrot und anderm Brot ift nur gering, wie 
aud überhaupt die Bedeutung des Brotes für uniere Her- 
forgung mit Saken überfhäßt wird. Vitamine liefert 
Brot unferm Körper überhaupt niht, mag es num Kleie 
enthalten oder nicht. Auf Mubners Anregung find endlich 
Verſuche angeftellt worden zum Wergleih der bei völliger 
Ausmablung des Korns einerfeits und bei geringerer Aus 
mablung und Derfütterung der Kleie andererfeits gewonne: 
nen Geſamtnährwerte. Sie ergaben: zwar geben, je mwe- 
niger das Brot -ausgemahlen wird, defto mehr Nahrungs— 
ftoffe für die Verdauung verloren, defto mehr aber werden 
in Geftalt von Fleiſch und Fett in der Tierzucht durch Maſt 
mit Kleie gewonnen. Don diefem Standpunkte aus alfo 
wäre eg gleich, wie man die Kleie verwertet. Berückſichtigt 
man aber die größere Verdaulichfeit des Feinbrotes und den 
der notwendigen Abwechſlung in der Koft zu gute fom- 
menden : Sleifhgewinn, fo it die ſchwächere Ausmahlung 
vorzuziehen. 


Gibt es eine Ameiſenmimikry? — Mein, fagt Fran; 
Heikertinger, befannt durd die „Abſchlachtung“ fo 
manches vermeintliben Mimikryfalles, denn gerade Ameiſen 
bilden die Hauptnahrung der Inſektenfreſſer, wie follte es 
alfo eine gegen Inſektenfreſſer ſchützende Ameiſenähnlichkeit 
geben? Und nur bei Nachäffung von Warntrachten Fann 
— barin folge Heifertinger der Begriffsbeftimmung 
von Wallace — von Mimikry die Rede fein. Das 
aber beftreitet der Jeſuitenpater Erid Wasmann, 
der der Verfaſſer zablreiher Arbeiten über die als Ameifen- 
aäfte befannten Käfer. Weshalb follte man niht aud die 
Mahäffung der Ameifen durd ibre Gäfte, die dadurd vor 
dem Gefreffenwerden durch die Ameifen felbft geſchützt wer- 
den, Mimikry nennen? Wozu dafür einen anderen Aus- 
drud (Mimefe) gebrauben, wie Heifertinger es tut! 
Aber nah Heifertinger muß man unterfheiden zwifhen dem 
Zweck der Mahäffung; „will der Nachahmer auffallen, 
jo liegt Mimikry, will er unter andern Tieren verfhwinden, 


* Neue Literatur. 


237 


io liegt Mimefe vor wie im Falle der Ameifengäfte (Biol. 
Gentralblatt 25, 5). Wasmann erbalt einen DBundes- 
genoffen in Neihensperger, der in dem genannten 
Heft ebenfalls den Wasmannihen Standpunkt vertritt. — 
Ein Streit um Worte? — Vielleicht. Immerhin, wenn 
aug Mimefe ein ähnliches Problem it wie die Mimikry 
im ftrengen Sinne Heifertingers; gerade beim 
Mimifrnproblem fann es nur nügen, wenn man den Be- 
griff möglihft eng faßt und lieber noh einen zweiten ein- 
führt, um dann beide gefondert zu unterſuchen. 


Die Bergmannſche Regel bebandelt Ridhard Heſſe 
in Heft 31 der „Naturwiſſenſchaften“. Mach diefer Regel 
nimmt die Körpergröße eigenwarmer Tiere derjelben Art 
yu, wenn man von wärmeren zu Fälteren Gebieten übergeht. 
Heije belegt die Regel mit zablreihen DBeifpielen. Die 
Bedeutung der merfwürdigen Erſcheinung für die Tiere be- 
ruht darauf, daß die Körperoberfläbe im Verhältnis zur 
Körvermaffe um fo Fleiner ift, je größer das Tier ift. Defto 
Feiner ift alfo die Wärmenbgabe an die Umgebung. Zu 
erflären ift diefe Anpaſſung wabhrſcheinlich durd) unter dem 
Einfluß der Kälte erfolgende Verſpätung der Geſchlechts— 
reife und damit des Alterns, alfo infoweit eine durd die 
Umwelt verurfahte Anpaffung, deren Mugen nur ein zu- 
falliger Begleitumſtand ift. 


Albert Naef äußert fid in Heft 33 der Matur: 
wiſſenſchaften“ 1925 zum Menſchenaffen von Taungs. Er 
zählt die Merfmale auf, die den Australopithecus afri- 
canus bedeutend menihenäbnliher eriheinen laffen wie die 
heutigen Menfbenaffen. Demgegenüber ftebt freilich, dafi 
der Gorilla in der Mafenbildung den Australopithecus 
an Menihenähnlichkeit übertrifft. Wäre daher der Men- 
ihenaffe von Taungs ein ſtammesgeſchichtliches Zwiſchen— 
glied zwiihen Menfhenaffen und Menih, fo müßte er für 
einftweilen die menſchenähnliche Maienbildung des Gorilla, 
die fiber uriprünglic ift, aufgegeben haben, was niht wahr- 
iheinlih ift bei einem Vorfahren des Menfhen, um fo 
weniger, als alles dafür fpricht, daß die Menihenaffen 
rüber menihenäbnliher waren wie heute. Daber vertritt 
Naef die Anfiht, daß es fih bei dem Fund von Taungs 
um einen Menfhenaffen handelt, der dem gemeinfamen 
Vorfahr von Menihen und heutigen Menihenaffen ähn— 
liher geblieben ift als diefe, vor allen Dingen in der 
Bildung des Gehirns und der aufrehten Gangart. 





Dr. Wilbelm Müller, Gottentfaltung, die wer- 
dende Weltanjbauung und Religion. Verlag ob. Ewid, 
Duisburg, 1925. Aufgeregte Zeiten wie die beufigen find 
allen fpefulativen Deutungen und Umbdeutungen religiöfer 
Probleme befonders geneigt. Es ift eine pſychologiſch febr 
intereflante Tatſache, daß die Blütezeit der fog. „occulten“ 
Wiffenihaften faft immer mit großen geiftigen Krifen zu- 
lammenfällt. Der innerlich baltlos gewordene Menih ſucht 
auf allen nur möglihen Wegen eine Antwort auf die ihn 


—— — =] i 
— I 

Ph —— x >, DE nn — m 
— ——— ——æ 


Sa — u 
= Ki 
— — — 


— —— 


quälenden Fragen; das war gegen Ende der alten Welt 
genau ſo wie in unſeren Tagen. Genau wie damals teilt 
ſich die Strömung in eine rein materialiſtiſche Richtung, 
die mit den gröbſten und äußerlichſten Mitteln arbeitet, 
und eine, ich möchte ſagen, religiöſe Richtung, welche eine 
„Erneuerung“ der alten religiöſen Vorſtellungen erſtrebt 
— natürlich mit entſprechenden Umdeutungen. Zur leg- 
teren Richtung gehört auh das oben angezeigte Buch. 
Sympathiſch berührt die ehrliche Begeiſterung und der Hobe 





238 

firtlihe Standpunkt, den der Werfafler einnimmt; man 
ſpurt dem Buche die Zuverſichtlichkeit und ben reinen 
Wilen zum Beſſermachen an, die immer für fib ein 
nehmen. Aber all das darf uns dod nicht hindern, das 
Gedantengefüge des Buches einmal Pritifh zu unterſuchen. 
Ta zeigt fib dann freilih, dag alle nod fo ehrlide Be 


geifterung und reiner Wille nod) Feine Grundlage für eine 


neuc” Religion abgeben Eönnen. Wenn der DBerfaifer 
(©. 53) betont, daß feine Gottentialtungslehre jedes rein 
irefulative Pbilofopbieren ablehnt, dann befindet er fid 
in einer großen Celbfttäufhung. Seine ganze Lebre ift 
ein feltfames Gemiſch von Elementen der Gnofis (S. 57ff.), 
des Ehriftentums, der modernen” Entwidlungslehre, die 
er zu einer neuen (der Gnoſis freilid auch ſchon bekannten) 
Lehre aufammenballt, die an fpefulativer Pbantaftit (Lebre 
von der Weltfhwangerfhaft uiw. S. 57) ziemlich alles 
hinter fib läßt, was der Verfaſſer ale „ſpekulative Philo- 
ſophie“ abtut. Die Lebre von ber ftetinen Emvorentiwid- 
lung der Menfhbeit it fo oft fhon verkündet und cbenio 
oft ſchon widerlegt, daß es fid nicht lohnt, auf fie einzu: 
geben. Bei dem Verfaſſer leidet fie zudem daran, daf 
er Kultur und Zivilifation einfadh durcheinander wirft und 
alle Fortichritte der Technik als Fortihritte der Menid- 
beit angeſehen wiffen will (S. 28). Geradezu verblüfft 
bat mid aber, ih muß es ehrlich augeftcben, die Lebre von 
der „Sottentfaltung‘. Das von Haedel aufgeftellte bio 
gnetifhe Grundgeſetz (dem Verfaſſer fcheinen die Schriften 
von Oscar Hertwig und anderen unbekannt au fein), ein 
rein naturwiflenihaftlihes Geſetz aljo! (über defen Allge— 
meingültigkeit dod) zum mindeften leife 
find) dient dazu, um die kühnſten metapbnfiiben Kolgerun- 
gen daraus abzuleiten und einen Neuplatonismus (S. 37) 
zu fonftruieren, der die dee des Meſſias unterbauen foll. 
Was der Verfaffer fih unter dem Cbriftentum vorfiellt, 
it eine völlige Verzerrung (S. 55:59) defen, was Chriften: 
tum eigentlih ift; dann ift der Kampf natürlih leidt — 
nur überzeugt er eben nicht. Was der Verfafler dann zum 
Schluß (mit glübender und bildreiher Beredſamkeit) über 
das neue Gottesideal zu fagen weiß, dag klingt zwar alles 
febr ſchön, — aber: was denn nun die neuen Prrpbeten 
fagen follen, wie denn der neue Schulunterricht fein foll, 
tag wird verihwiegen. Manchmal bat man den Eindruck, 
als müßten feine Sendboten erf febr genau die modernen 
Naturwiſſenſchaften ftudiert baben, verlangt er doch von 
den Pfarrern feiner neuen Lehre die Kenntnis — und war 
eine recht genaue — der Aftronomie, Chemie, Phyſik, 
Zoologie, Botanik, Biologie, Anthropologie, Raſſenhpgiene 
uſw. ufm., nur die Kenntnis der religiofen und Welt: 
anfhauungsfragen wird bezeichnenderweiſe nid t verlangt! 
Gerade die legten Ausführungen des Verfaſſers legen dem 
unbefangenen Lefer die Vermutung nabe, ale ob er, der 
Haeckel febr bod ſchatzt, um des Kontrates willen das 
Chriſtentum in möglichſt dunklen Karben malt (er ver 
wedielt, um ned dies eben zu fagen, eigentlich dauernd die 
hiſtoriſche Eribeinungsterm des Chriſtentums, genannt 
„Kirche“, und die Lehren der Evangelien, mit denen freilich 
die hiſtoriſche Kirde oft nur wenig zu tun bat). Go 
fonnen wir das Buch wohl als Zeitdokument und ale 
Zeiden cines ebrliden Ringens un neue Guter werten, 
— aber eine umſtürzende und weltungertaltende Jat ver: 
megen wir wabrbarftig mit in ibm au erbliden. Dazu iſt 
das Ganze gu unklar, viel au febr vor naturwiſſenſchaft. 
lichen Tagesſtromungen abhangig — im beten Falle eine 
Geheimlehre für wiſſenſchaftlich Gebildete. 

Bru, Verkappte Religionen. Perthes, Gotha, 1024. 
(SO S., SOLR) Eſperanto, Uebermenſchen, Pſychvang— 
lvſe, Weltfriedensbewegung, Shakeſpeare iſt ‘Bacon, Er: 
preſſioniesmus, — überhaupt alle agmen, und als Das große 


Neue Literatur. 


Zweifel erlaubt 








MWarenbaus aller möglihen Bewegungen: die Anthropo- 
ſophie, das find fo einige der Etrömungen, mit denen der 
Verfaffer als verfappten Religionen abrehnet. Religion 
iagt nah ibm: Der legte Sinn des Dajeins liegt jenjeits 
deines Lebeng, liegt über deinem Leben. Verkappte Me- 
ligion ſucht hinter dem gemwöhnliden Leben etwas Ber- 
borgenes, dem zum iege in der gewöhnliden Welt zu 
verhelfen ibr Ziel it. Die verfappten Religionen find alle 
von diefer Welt, fint praftifh, wollen mit dem von ihnen 
angepriefenen Alheilmittel einen neuen Sinn der ganzen 
Welt erihließen. Es handelt fih nicht um Schwindel, — 
dann wären es verhältnismäßig harmlofe Dinge, — fon- 
dern die monomanifhe Weberzeugung von der welterlöfen- 
den Kraft it das Schlimme; alles fiebt der Betreffende 
nur nob im Lichte feiner Monomanie. Elephantiasis 
religiosa oder philosophica nennt B. diefe Sucht, die 
gerade in unferer Zeit fo graffiert, in der aud der be- 
fheidenfte Gedanke prompt zur Weltanfhauung verwäſſert 
wird. Mit Eöftliher, berzerfriifhender Ironie gebt der 
Verfaſſer all folden verkappten Religionen zu Leibe. Eeine 
Sammlung ließe fih übrigens nob um mandes Eremplar 
vermebren. Ich nenne nur eines: die Welteislehre. 


W. Hohgreve, Familie Borfig. Ein Tier- und 
Jagdbuch. E. Haberland, Leipzig. (205 ©., in Ganslein- 
band, 6,50 H.) Der Derfafler ift der deutſchen Lejer- 
welt fein Anbefannter mehr. Man bat den — freili 
ihon reihlih banalen — Vergleich mit Löns gezogen. Ein 
Meifter jagdlicher Schilderungskunſt, vereint er in dem 
neuen Buch 35 prächtige Natur- und agdbilder, von denen 
eine — „Schneehals“ — puert in den Spalten diefer Zeit- 
ſchrift erſchienen ift („Maturfreund‘ 1925, Mr. 1). Ein 
Haud der Matur durchweht fie ale. Wir empfehlen das 
Bud allen Maturfreunden und Jagdliebhabern. 


Earl Erörmer, Aus den Tiefen des Weltenraunes 
his ins innere der Atome (Leipzig, ‘Brodbaus, 1925, 195 
S., 65 Abbildungen, geb. 6 .H). Dies Werken, — die 
Bearbeitung eines norwegiihen Budes für die deutſche 
Veferwelt durd den Leipziger Aftronomen Dr. Weber — 
füllt eine wirflide Lüde aus. Denn es feblte bisher cin 
ſolches Buch, durd weldes der Laie fid in die Geheimniſſe 
des unendlih Grofen wie des unendlib Kleinen — bie 
Munderwelt der Sterne und die der Atome — fo mübe- 
los einführen laffen Fonnte. Es it von Anfang bie Enbe 
feſſelnd geſchrieben und ift um fo anichender, als die Aue. 
ſtattung fo it, wie man eg von einem Werte des Brod- 
haueſchen Verlags nun einmal gewohnt ift. Gerade unfere 
Leſer dürften Freude an dem Bändchen baben. Fragen, 
die auch wir bebandelten, wie die nah dem Weſen des 
Nordlichts (die Vegardſchen Verſuche!), nah dem Alter 
der Erde, den Nerberfhwingungen, dem nnern der Atome, 
— Keribungen über die Miefenfterne und die Möntgen- 
ſtrahlen, — alles it bier dem nenen Stande ber Fer- 
idung entſprechend gemeinverſtändlich behandelt. —tt. 

H. Andre, Der Weſensunterſchied von Pflanze, Tier 
und Mensch, sine moderne Darftellung der Lebensitufen im 
Geiſte Thomas von Aquins. H. Kranihfeld, Das 
teleologiiche Prinzip in der biologischen Forſchung. Br. 1 
und Bd, 3 der von André berausgegebenen „Bücher der 
penen Biolegie und Anthropologie”. (Verlag Franke, 
Habelſchwert. 1,80 IM bew. 1,95 4.) Dieſe beiden 
Buder muen fammen beſprochen werden, da fie midi 
nur, vom naturphiloſophiſchen Geſichtsvunkte aus geſehen, 
ziemlich in die gleiche Richtung werten, jondern aud tbr 
gleichzeitiges Erſcheinen in derſelben Sammlung eines der 
am meten fur unſere Zeit charakteriſtiſchen Syomptome 
darſtelli, das noch aufſallend wird, wenn man die beiden 
Einleitungen lieſt, welde André und der befannie 


ö— — — — — — —— u — — 


Ameijenforfher- und Jeſuitenpate Wasmann dem 
Kranihfeldiben Buche voranididen.. Kranichfeld, 
der evangeliiher Konfiitorialprafident im Königreih Sah. 
fen war und zugleih als Biologe und Naturphiloſoph 
einen nicht unbedeutenden Ruf genoß — er war lange 
Sabre naturpbiloiopbiiher Mitarbeiter der „Datur- 
wifienfhaftliben Wohenihrift (vgl. unſere Umſchau in 
Mr. 11, 1922) — ift vor ungefähr zwei Jahren geftorben. 
Wasmann rübmt ibm in feinem Vorwort nadh, daß 
er ibn nidt nur als einen vorurteilsfreien Bewunderer 
ter katholiſchen Kirche und fogar des Jeſuitenordens, fon- 
dern auch — und das fei feine (Wasmanns) größte Freude 
gemeien — als einen echten Chriften babe kennen lernen, 
deffen ganzes Wirken und Leben getragen und durchdrungen 
war vom Glauben und der Liebe zu Chriftus”. Dieſes 
Vorwort i datiert „am Felt des beil. gnatius von 
Lovala“ am 31. Juli 1924. Andererfeits ift das Andrefde 
Bud, wie fein Untertitel fagt, ein Verſuch, aus den Ergeb- 
niffen moderner und moderniter Biologie eine Uebereinftim- 
mung mit den Grundlehren des Führers der Scholaſtik, d. i. 
ter von der fatboliihen Kirde offiziell anerfannten Philo- 
fopbie Thomas von Aquins, zu folgern. (Eben dahin zielen 
aud allerlei Anmerkungen, die Wasmann dem ranih- 
feldſchen Werkchen binzugefügt bat, io 3. B. wenn er 
(©. 22) ſagt, Kant babe feine Theologie „größtenteils 
unbewußt aus dieſer Quelle (den Heil. Thomas) über- 
nommen.” Es it nit meine Aufgabe, die allgemeine 
tulturbifteriihde Bedeutung folder literariiher Eerſchei— 
nungen bier zu würdigen, die flar zeigen, wie der beutige 
Katholizismus auch auf diejem Gebiete der Wiſſenſchaft 
die Sübrerfhaft zu beanipruden beginnt und wie ibm die 
philoſophiſche Zeitlage dabei entihieden entgegentommt 
(Vergl. meinen Aufſatz über das Thema „Bom NRelativen 
zum Abfoluten, der in Mr. 7/ 81925 erfheint). Ich 
habe es bier vielmehr nur mit dem rein naturwiflenidaft- 
lichen und naturpbilofopbifhen Inhalt der beiden Schriften 
zu tun, der wie erwähnt, ebenfalls durchaus in die gleiche 
Richtung weit. Beide Bücher follen im Sinne des 
Herausgebers Wegweiſer, einer „neuen Biologie‘ fein, 
deren Charakteriſtikum nah Andre der Begriff der „Ganz- 
heitsforſchung“ ift und die er im einen ausegiprodenen Ge- 
genjag zu der nah feiner Meinung völlig überwundenen 
Darwinſchen rein analvtifhen Biologie bringt, welde das 
biologiihe Geſchehen in eine Eumme phyſikaliſch chemiſcher 
Prozeſſe aufzulöien unternahm. Der Begründung dieſes 
vitaliftifch-teleofogiihen Standpunktes follen beide Büber 
dienen. Das Kranidhfeldfhe, indem es mehr in allgemeiner 
Form die durchgehends das organische Geſchehen beberr- 
ſchende Zweckmäßigkeit darlegt, welche fid nah Kr. (vgl. 
das oben angeführte Referat) zu einer „gemeinihaftsdien- 
ligen Zwedmähigfeit fleigert, die nah ibm fogar eine 
ausreihende Handbabe zur Weberwindung der Schwierig- 
keiten des Theodizeeproblems, zum wenigften auf dem bio- 
logiſchen Gebiete, darbietet. Das André ſche Buh dagegen 
will zeigen, daf ſich im Weſen von Pflanze, Tier und 
Meniben drei barafteriftiih ven einander verictedene 
Schöpfungsſtufen daritellen, welde er mit Ibomas als 
„Emanationen“ bezeihnet. Die erite bildet „die nod 
leiblofe Affimilationsform der Pflanze‘, die zweite „Die 
verleiblidhte, aber nod leibeigene des Tieres‘ und die dritte 
die des wirflihfeitsoffenen und wirklichkeitsbeherrſchenden 
aktiven Menihen. Jh babe nun an verihiedenen Stellen 
wohl gezeigt, dağ ich selber durdaus davon durchdrungen 
bin, daß die rein analyſiſch ſummierend vorbergebende 
Betrachtung der üblichen medaniftiihen Biologie der 
Darmwin-Haedelzeit niht imitande ift, das biologiihe Ge- 
fheben in feiner ganzen Kigenart zu erfallen, vielmebr 
der Ergänzung durd eine zuſammenſchauend ſonthetiſche 


_ Neue Literatur. 


239 


— — m — — 





Forſchungsrichtung unbedingt bedarf, wie denn ja auch 
tatſächlich teine Biologie obne ſolche ſynthetiſchen oder 
wenn wenn man lieber will: teleologiſchen Begriffe wie 
„Individuum“, Organismus”, “Pflanzenverein,“ „Sym⸗ 
bioſe“ uſw. uſw. auskommt. Alſo ich glaube, Verſtändnis 
dafür zu beſitzen, was Kranichfeld und André wollen. Aber 
gerade im jnterefle folder vernünftigen Teleologie muß 
ih nun entichieden erklären, daß ich es für verfehlt balte, 
diefelbe auf dem Wege zur Geltung bringen zu wollen, 
der bier und zwar ganz befonders von André eingeichlagen 
wird. Bei ibm erfcheint nämlich, obwohl er das offenbar 
nicht will, dod) diefe Teleologie als ein firenger Gegenſatz, 
nit als eine Ergänzung zur kauſal⸗analytiſchen Forſchung, 
und zwar deshalb, weil Andre, darin ein echter Jünger 
der Scholaſtik, aus den begrifflih vollkommen zu Redt 
ftebenden fpnthetiihen Kategorien (wie 3. B. Pflanze und 
Tier) ſcharfe Gegenſatzpaare macht, welche reale Ueber- 
gänge ausſchließen. Sobald man dies tut, wird man ge- 
zwungen, um den tatiahlidh vorfommenden Uebergang von 
einem aum andern „Typus“ zu begreifen, einen jeweils 
beionderen neuen teleologiihen Faktor an die Stelle fau- 
faler Erklärung einzuführen und pas führt notwendig zu 
der „faulen Teleologie” im Sinne Kants. Zugleich aber 
wird die Wirklichkeit vergewaltigt, welche jene ſcharfe 
Trennungen der Arten, Ordnungen, Klaffen, Reihe ufw., 
welde die „Syntheſe“ maden muß, Teineswegs zeigt, viel- 
mebr überall Uebergänge aufweift. Mur einige Beifpiele, 
um das zu belegen. Auf S. 27 ff entwidelt A. den Gegen- 
fag der Pflanze als eines vegetativ lebenden Weiens 
gegenüber dem aktiven Tier. Hier heißt es denn nad einer 
rein mechaniſtiſchen Erklärung, u. a. des Heliotropismus: 
„Nichts veranlagt uns, anzunehmen, daß das Wachstum der 
Pflanze durch irgendwelde Empfindungen oder Gefühle 
reguliert werde‘, ebenfo „ein Dreſerapflänzchen, das eine 
Fliege fängt, tut dag im gewiffen Sinne automatifh”. 
Weiter nadh einer Darftellung der (früher in diefen Blättern 
von A. felber befhriebenen) willfürlihen Entwidlungsände- 
rungen bei Pflanzen, wie fie Klebs u. a. erzielten. Aehn⸗ 
lihe Entwidlungsänderungen find bei Tieren unmöglich‘. 
Ebenfo ausführend weiter unten: „Die Blütenfunktion bei 
der Befruchtung verläuft rein automatiih. Die männ- 
lihen Geſchlechtszellen treten bei niederorganifierten Pflanzen 
in Jorm beweglider Spernatozeiden auf, die durch hemo- 
taftiihe Anlodung zu den Nieren gelangen . . . Daß 
folbe chemotaktiſche Bewegungen niht eigentlih impulfiv 
von einem bewußten Innnenleben beberrihte Vorgänge 
find, können wir duro Analogie feftftellen. Im felben 
Sinne meint André, daß die finematographiihen Aufnahmen 
des Wachstums höherer Pflanzen, welche dasfelbe in febr 
verfürztem Zeitmaßftab zeigen, die dabei fihtbaren Bewe. 
gungen doch nicht als wahrhaft impulfive wie die tierifche 
Handlung erfheinen ließen. Ich habe gegen alle diefe Sätze 
ſchwere Bedenken. Was zunähft den lesteren anlangt, fo 
muß id geftehen, daß mir gerade der Anblid derartiger 
Filme es fat gewiß gemaht hat, daß in den Pflanzen 
irgend ein, wenn aub uns mit unferem anderen Zeit- 
maßſtab ganz unbegreifliches, feeliihes Erleben eigen ift. 
Weite vrermag ih beim beiten Willen nicht zu erkennen, 
was für ein prinzipieller Unterſchied zwiſchen den bemo- 
taftiihen Bewegungen von pflanzliben und tieriihen Sper- 
maozeiden (oder will André bier einen folden aufitellen?) 
und etwa den Mahrungsbewegungen einer Amobe fein foll. 
Sind diefe nibt aud „bemotaktiih”? Aud der Droiera- 
fall unteriheidet fid von dem Freſſen einer Alge durd 
eine Amöbe lediglih in Hinfiht auf das Tempo (und natür- 
lib die Einzelligkeit der Amöbe gegenüber der Nielzellig- 
teit der Sonnentaupflanze. Ebenſo it es durchaus nicht 
einguieben, warum die von Rour, Braus, Spemann 


240 

u. a. an Tieren hervorgebrachten willfürlihen Entwidlungs- 
änderungen prinzipiell verichieden von dem entipredhendem 
Mefultate bei Pflanzen fein follten. Mit einem Worte: 
André fegt hier überall abfolute Gegenfäge, wo eine unbe- 
fangene Betrachtung m. E. lauter faft Fontinnierliche 
Uebergänge zeigt. Er wird gezwungen, nächſte und offen- 
fihtlih höhft verwandte Fälle, nur um feine abfoluten 
Kategorien aufreht erhalten zu können, auseinanderzu- 
reißen, es ift ja befannnt, daß man 3. B. bei vileen nieder-en 
Einzelligen überhaupt fchlehterdings nicht fagen Tann, ob 
fie eigentlih Pflanzen oder Tiere find, bier werden eben 
die Grenzen flüffig. Aber gerade das verwehrt die fhola- 
ftifhe Methode, weil fie rein begriffliher Natur ift, und 
Begriffe der Natur der Sade nad immer diiskontinierlich 
find. Bon diefem Standpunkte aus muß ih alfo Andre 
an faft allen Punkten feiner ‘Darlegungen halb widerfprechen, 
obwohl id ihm andererfeits halb. Redt gebe. Ganz 
widerſprechen aber muß id ihm, wenn er nun meint, feine 
modernen biologifhen Ideenentwicklungen bei Thomas fon 
angedeutet zn finden. Hier hat er m. E. in den Aquinaten 
feine eigenen Gedanken hineingelefen, welde eben die eines 
mit allen Methoden moderner Biologie geihulten Forſchers 
find. Was an dem von A. aus Th. zitierten Stellen wirt- 
li des legteren Meinung ift, it himmelmweit von moderner 
Biologie entfernt, und was André von folder herauslieft, 
it nicht Thomas’ geiftiges Eigentum, fondern Andrés. 
Aber um das zu begründen, müßte ich diefe Beſprechung 
nod einmal fo lang werden laffen, als fie fo fhon geworben 
ift, und dazu reiht der Raum leider nicht aus. Cin dem 
heiligen Thomas neutraler gegenüberftehender Proteftant 
wird, wenn er Andres Ausführungen lieft, davon bin ic 
überzeugt, vielfah den Kopf ſchütteln. 

Ziealer und Oppenheim, MReltentfichung in 
Cage und Wiſſenſchaft. (Aus Natur und Geifteswelt, 
Teubner 1925. 1,80 ME.) Ihren in Nr. beiprodhenen 
Bändchen über den „Weltuntergang in Sage und Wiffen- 
ſchaft“ haben die beiden Verfaſſer jest ein Gegenftüd über 
die MWeltentftehbung folgen laffen. Auch dieſes Bändchen 
fann durdhaus empfohlen werden. Daß die Eagen ber 
Genefis darin rüdbaltslos als folde bezeichnet find, it umfo 
weniger zu beanftanden, als andererfeits der hohe, alle gleidh 
zeitigen Weltſchöpfungsſagen weit überragende religisie und 
feger „wiſſenſchaftliche“ Wert des bibliihen Schöpfungs- 
berihts ebenfo Plar anerkannt ift. Ich böre im allgemeinen 
das legtere Wort ungern, weil bie, die eg gebrauchen, damit 
zumeift doch eine Art von „Kuhhandelsapologetik“ beabfidy- 
tigen. Aber über diefen Verdacht find die beiden Verfaſſer 
diefes Schriftchens natürlid weit erbaben. Um fo wert- 
voller it ein folhes Wort aus ihrem Munde. Es beweift, 
daf man aud bei Uarfter wiflenfbaftlihre Erkenntnis der 
zeitgefhichtlihen Bedingtheiten der biblifhen Bücher ſehr 
wohl fih ein Gefühl für die tatlählihen darin ftedenden 
religiösen Werte bewahrt haben tann, und foldes DBeifpiel 
der Gelehrten brauchen wir heute nötiger denn je. Der 
wiſſenſchaftliche Teil zeichnet fih durch große Beſonnenheit 
und vorſichtiges Abwägen der vielerlei verſchiedenen Hypo- 
theſen vorteilhafter aus. 


Tr. Lenz, Weber die biologiſchen Grundlagen der Er: 
ziehung. (Derlag Lehmann, Münden, 1925. 1,50 A.) 
Diefe kleine Schrift it aws einem Vortrage entflanden, den 
der Merfafler in Dresden auf einer pädagogiſchen Jort- 
bildungswoche gehalten hat, welde vom fähflihen Kultus- 
minifterium veranftaltet wurde. Sie verdient die 
allerweitefte Verbreitung, jeder Lehrer 
towohl der böberen Schulen wie erf redt 





Neue Literatur. 


der Volksſchulen follte fie gelefen baben. 
Der bekannte Raſſenhpygieniker der Münchener Univerfität 
legt bier in leiht verftändlicher, abfolut Elarer, aber ſchla⸗ 
gender Weife die unerbittlihen Tatfahen der Dererbungs- 
und Maflenforihung dar, aus denen hervorgeht, weld ein 
verhängnisvoller Irrtum dem Glauben zrugrunde liegt, man 
fönne durch eine immer weiter getriebene „Volkserziehung“ 
fhlieglih jedes beliebige Menihenmaterial zu immer höherer 
Gefittung und Kultur beranzühten. Beſonders wertvoll 
find die febr zahlreihen tatfählihen, auch ftatiftiihen An- 
gaben. Man merkt, Hab der Verfaſſer überall aus dem 
Wollen ſchöpft. Seine Grundabfiht ift, zu zeigen, daß die 
entiheidende Trage nach der Zukunft unferes Dolfes und 
feiner Kultur niht die der Erziehung, fondern die der 
richtig geleiteten fozialen Ausleie ift. Denn Erziehung tann 
nur vorhandene Anlagen entwideln, aber keine neuen ſchaf⸗ 
fen. Andererſeits begünftigen die heutigen fozialen Ber- 
bältniffe aber niht die Auslefe der Beftveranlagten, fondern 
umgefehrt die ber ſchlechter Veranlagten. Bleiben fie be- 
ftehen, fo find wir rettungslos dem Niedergange verfallen, 
und alle noh fo gute Erziehung fann daran nichts ändern. 
Das Scriftchen ift das befte denkbare Kampfmittel gegen 
jene unvernünftige, noh immer nicht ausgeftorbene Ideologie, 
die auf dem irrigen Grundſatz von der Gleichheit aller 
Menihen und Bevölferungsflaflen aufbauend, und die von 
der Wiſſenſchaft längſt wiberlegten Ideen Tamards über 
die erblide SFirierung erworbener Eigenſchaften unbebenf- 
lich benußend, das Volkswohl ruiniert, indem fie es fördern 
will. 

K. Leefe, Die Kulturkrifis der Gegenwart und der 
Kirche. (Furche⸗Verlag, Berlin. 30 ©., 1 A.) Ein 
ganz vortrefflihes Echrifthen, das beffer und richtiger als 
mandhe didleibige Bücher das Werhältnis von Meligion und 
Kultur beſtimmt. Um den reihen Inhalt auh nur anzu- 
deuten, mußte ih es abſchreiben. Ein paar Sätze nur, um 
dem Lefer Luft zu ermeden, es felbft zu leien: „Das Wefen 
aller Kultur ift Religion nur dann, wenn an Stelle der 
einfahen WDBereinerleiung von Religion und Kultur die 
Kultur felbft in die dialektiſche Selbſtbewegung der Re- 
ligion eintritt.” „Die Religion ift Eulturdinleftiih”, d. h. 
fie ift fowohl Fulturbejabende wie kulturverneinende Magt. 
„Solange die Autonomie fid in Kampfftellung um Zrei- 
beit und Wabhrheit, um Innerlichkeit, Wahrhaftigkeit und 
Ueberzeugungstreue, um intelleftuelle Reinlichkeit und Red- 
lichkeit befindet, ift fie Gottesdienft. Aber wenn darüber bin- 
aus die Autonomie fih abfdpeidet von der Theonomie, wenn 
fie über dem bedingten Eigenmwert der Formen den unbeding- 
ten und alles bedingenden Wert des Gehalts verliert, wenn 
fie gottlos wird, dann tritt die Kataftropbe der Zerfegung und 
Auflöfung ein, die wir im eigentlihften Sinne als Kultur- 
frifis der Gegenwart empfinden. „Der Untergang ber 
abendländiſchen Kultur ift befiegelt, wenn nicht ein neuer 
Durchbruch zur theonomen Geifteslage erfolgt.” Ih kann 
den Sägen des DVerfaflers nur von Herzen zuſtimmen und 
wünſchen, daß fie baldigft Gemeingut der deutfhen Theo- 
logie werden möchten. 


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Unſere Welt 


Wortrierte Zeitineift fir Naturwillenihait und Weltanihaunng 


Herausgegeben vom Naturmwifjenichaftlidden Verlag des Keplerbundes e. V. Detmold. 


Voftichedtonto Nr. 45744, Hannover. 


Scriftleitung: Prof. Dr. Bavink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Auffäge fiehen die Derfaffer;ihee Anfnahme magt fe niht zur Nenberung des Bundes. 





XVII. Zabraang 


Dfttober 1925 


Heft 10 








Die Klimatologifche Tagung in Davos vom 17.—22. Aug. 


Beriht von Dr. Hans Schimantf. 


Jn der Zeit vom 17. bis 22- Auguft fand in 
Davos (Schweiz) eine Elimatologifhe Tagung ftatt, 
die fih dadurch auszeichnete, Daß in den über fünfzig 
Vorträgen nahezu alle Themen behandelt wurden, 
die mit der Klimatologie in Beziehung ftehen, und 
daß es Gelehrte faft aller Kulturftaaten waren, die 
fid) hier zu friedliher Arbeit zufammenfanden. Es 
ift zu boffen, daß diefes Zufammentreffen auf dem 
neutralen Boden der Wiſſenſchaft nicht nur eine 
Serderung der Wiſſenſchaft felbft zur Folge hat, 
fondern daß fie an ihrem Teile auh dazu beiträgt, 
die friedlihe Zufammenarbeit aller Völker wieder 
herbeizuführen. Jn Verbindung mit diefer Tagung 
fond aud eine Ausftellung eleftromedizinifcher und 
meteorologifcher Geräte ftatt, über die vielleicht ge- 
fondert berichtet werden fann. Bei der großen 
Fülle der Vorträge ift es naturgemäß nur möglich, 
eine Ueberſicht in gedrängtefter Form zu geben. Es 
ſellen darum alle Borträge unberüdfihtigt bleiben, 
die im weſentlichen medizinisches Intereſſe befigen. 
Aber aud bei dem dann verbleibenden Neft wird eg 
notwendig fein, vieles nur eben zu erwähnen, damit 
einiges, was von befonderem Intereſſe ift, etwas 
ausführlicher beiprodhen werden Fann. 

Die Vorträge, die in deutſcher, englifcher, fran- 
söfifcher und italienischer Sprache gehalten wurden, 
behandelten Themen der Sozialhygiene, der Phyſik, 
Meteorologie, Phufiologie, Klimatologie im engeren 
Sinne und die mannigfaltigften Sondergebiete der 
Medizin, foweit fie zur Klimatologie in Beziehung 
ſtehen. Für weitere Kreife beftimmt waren zwei 
große Worträge von Staatspräfident Profeflor 
KHellpad -Karlsruhe über „Die Menſchenſeele 
in der Alpennatur” und von Profeflor Abder- 
hal den Halle, der „Rück⸗- und Ausblide in der 
phyſiologiſchen Höhenklimaforſchung“ gab. ‘Der 


Vortrag Hellpachs foll befonders behandelt werden, 
wenn fih die Gelegenheit dazu bietet. 

Nach einem einleitenden Vortrag von Dr. 
W ebrii- Zürih über die Gefhichte der Klimato- 
therapie ſprach zunächſt Profefior Hill -London 
über den Einfluß des Sonnenlichtes und der freien 
Luft auf den Gefundheitszuftend. Er wies unter 
anderem darauf hin, daß durch den Aufenthalt in 
ſchlecht gelüfteten Räumen die Schleimhäute gegen 
Infektionen empfindlicher werden, und daß dies 
zum Teil daran liegt, daß weniger tief eingeatmet 
wird als beim Aufenthalt in frifcher Fühler Luft- 
Se Fühler die Luft ift, um fo günftiger ift die Wir- 
fung auf die Körperfräfte und den Appetit. Wer 
zu fißender Lebensweiſe gezwungen ift, folte zu- 
mindeft durd tägliche Körperübungen und Schlaf 
bei offenem Fenſter Erfag für die mangelnde Be- 
wegung ſchaffen. Die fo außerordentlid wirkſamen 
ultravioletten Strahlen, die bei der Verhütung und 
Heilung der Naditis fo gute Erfolge zeitigen, ge- 
langen in den Großftädten zumeift nicht zur Wir- 
fung, weil fie durch den die Luft verunreinigenden 
Staub, durch Glasfenfter und durd die Kleidung 
verfchlucdt werden. Bei der Sonnenbeftrahlung 
fiebernder Kranfer fowie der QTuberfulofefranfen 
it große Vorſicht geboten. Sie follten nicht der 
vollen Sonnenhite ausgelegt werden, fondern beffer 
nur in den fühlen Morgenftunden in die Sonne 
kommen. Es wäre wünfchenswert, wenn den Grof- 
ftadt- und Fabrikftadtkindern als Anregungsmittel 
und zur Verhütung von Krankheiten etwa zweimal 
wöchentlich ein Lichtbad verabreicht würde. Ebenſo 
folte eine ultraviolette Beftrahlung zur Erhöhung 
der Widerftandsfähigfeit des Patienten vor einer 
Operation ftattfinden. 

In ähnliher Richtung und in manchen Punften 
die Ausführungen von Profefior Hil ergänzend be- 


242 Di: Klimatologiſche Tagung in Davos vom 17.—22- Auguft. 


wegte fih der Vortrag von Dr. King Brown 
London, der die Nachteile zu dichter Befiedlung, 
wie die Ar beiterviertel der Gropftädte fie aufweifen, 
für die Dolfsgefundheit erörterte- Das Klima 
des Landes tritt in diefem Falle zurücd gegenüber 
dem durd die Bauart der Stadt bedingten Tofal- 
Elima. In gewiffem Sinne muß man fogar von 
einem Klima des Haufes fpredhen, unter deffen un- 
günftigem Einfluß befonders die Geſundheit der 
Kinder leidet. Entſcheidende Abhilfe im großen 
tut not, dod liepe fih aub durd die möglichft all- 
gemeine Anwendung von Gas und Elektrizität an 
Stelle der Kohle für den Hausbrand mandes bef- 
fern. 

Profeſſor Lev i-Rom, der in feinem Vortrag 
gleihfalls die Probleme der Sozialhygiene und 
deren internationale Entwidlung behandelte, for- 
derte die Aerzte aller Länder zu internationaler Zu- 
fommenarbeit auf, um der Ausbreitung der Wolfs- 
Franfheiten — einer Folgeerfcheinung des Krieges 
— wirkungsvoll entgegen zu treten. Dieſer 
Kampf darf aber niht nadh der alten Methode 
tbeoretifh - wiflenichaftliher und philantropifcher 
Erörterung geführt werden, fondern gemäß den 
Prinzipien moderner Großorganifation. 

Den Reigen der phyfilaliih - meteorologifchen 
Vorträge hatte bereits vor den beiden leßtgenann- 
ten Rednern Geheimrat Hellmann -Berlin er- 
öffnet. Don befränztem Vortragspult herab ſprach 
er, der am gleichen Tage fein goldenes Doftorjubi- 
läum feierte, über Ertreme der Klimawerte auf der 
Erde. Er wies darauf hin, daß es Feinen Ort gibt, 
an welchem fämtlidhe für das Klima harafterifti- 
fhen Größen ertreme Werte befigen, daß es immer 
nur eine oder einige von ihnen fein werden, für 
welche dies der Fall ift. Unter diefer einfchränfen- 
den Bedingung ift Maſſaua im Roten Meer mit 
einer mittleren ahrestemperatur von 30,2 Grad 
Celſius der heißefte, Framheim, die Bafisftation 
der Amundfen-Erpedition mit — 26 Grad Eelfius 
der Fältefte Ort der Erde. Das bärtefte Winter- 
klima herrſcht am Rande der Eisbarriere der Süd- 
halbfugel, weil zu der herrfchenden Kälte der Cin- 
Fluß ftändiger ftarfer Winde hinzufommt. Zugleich 
ftellt Framheim die windigfte Gegend der Erde 
dar- Die abfolut tieffte Temperatur ift mit — 68 
Grad bei Werchnojarsk, dem fibirifhen Kältepol, 
gemeflen worden. Die größten DMiederfchlage- 
mengen treten in den Gebieten am Abhang des 
Himalaja auf, die geringften in Affuan, wo im Lauf 
eines Jahrzehnts 22 Tage mit Megentropfen be- 
obachtet wurden. Abeſſinien ift als das gemitter- 
reichfte Land zu betradten. 

Profeffor Beffon-Paris, der über die Be- 
deutung der Windrichtungen für die Klimatologie 
ſprach und dabei im wefentlihen die für das Mont- 


fouris-Obfervatorium gültigen Windverhältniffe er- 
örterte, gab ein Verfahren an, das es ermöglicht, 
in einfacher und überfihtliher Weife Art und Häu- 
figfeit der verfchiedenen Windftrömungen tabella- 
rifh zu verzeichnen und im Anſchluß daran gra- 
phiſch darzuftellen. 

Ein Vortrag des folgenden Tages von Profeflor 
K a f ner- Berlin über die Feuchtigkeitswindrofe 
auf Helgoland bildete in gewiller Weife eine Er- 
gänzung zu dem DVortrage von Beſſon, infofern an 
dem ungemein intereflanten Beifpiel des Berbal- 
tens der jeweils feuchteften und trodenften Winde 
auf Helgoland gezeigt werden Fonnte, wie eine ge- 
eignete graphiſche Darftellung diefer Windverhält- 
niffe aufs anſchaulichſte die hervorragende Gleich— 
mäßigfeit des Klimas der Inſel zu erflären ver- 
mag. 

Eine ungemein intereffante Gruppe von Wor- 
trägen beſchäftigte fih mit der Phyſik der Atmo- 
ſphäre. Als erfter behandelte Profefor Dorno- 
Davos die Klimatologie des Hocgebirges. Er be- 
gann mit einer Abgrenzung der Klimatologie als 
der Wiffenfhaft von der Erforfhung der gefamten 
atmofphärifhen Bedingungen, die einen Ort der 
Erdoberflähe mehr oder weniger für Menfcen, 
Tiere und Pflanzen bewohnbar madhen, im Gegen- 
fag zur Meteorologie, welche die einzelnen Flimati- 
ſchen Faktoren, in ihrer zeitlihen Veränderlichkeit, 
ihrer gegenfeitigen Abhängigkeit und ihrer Ab- 
hängigfeit vom Ausgangszuftand zu erfaflen ver- 
ſucht, um richtige Diagnofen und Prognofen ftellen 
zu können. Unter dem Hochgebirgsklima ift das 
Klima von Höhenlagen zwifhen 1000 bis 2509 
Metern Meereshöhe zu verftehen. Als deffen trob 
zahlreicher örtliher Variationen einheitlihe Mert- 
male find folgende zu betrachten: die Verminderung 
des Luftdruds, die nadh den Forfhungen von Pro- 
feffor Loewy infolge des damit verbundenen Sauer- 
ftoffmangels der Einatmungsluft einen der Haupt. 
faftoren der Klimamirfung im Hochgebirge dar- 
telt. Als weitere fpezififhe und wichtige Eigen- 
ſchaft gefellt fih dazu die Trockenheit der Luft, da 
infolge der niedrigen Temperatur der abfolute 
Seuchtigfeitsgehalt der Luft febr gering ift- Teil- 
weife hierdurch fowie durch den geringeren Staub- 
gehalt wird es bedingt, daß die Luft im Hochgebirge 
eine erheblich höhere Leitfähigkeit befist als die der 
Ziefebene. Einen Faktor von überragender Be- 
deutung ftellt dann wiederum die Strahlung dar, 
die im Hochgebirge nicht nur höhere Intenſität auf- 
weift, fondern infolge ihres Neihtums an wirt- 
jamen Eurzwelligen (ultravioletten) Strahlen aud 
eine qualitative Verbeſſerung gegenüber der Strah- 
lung im Flachlande zeigt. Die befonders günftige 
Seftaltung der Elimatifhen Werhältniffe von 
Davos und Arofa, denen Amerifa trog feines Ge- 


——- 


birggreichtums feinen gleichwertigen Ort an die 
Seite ftellen fann, erflärt fih außer der befonderen 
Lage diefer Ortfchaften in windgefhüsten Tälern 
eines Hochplateaus von Fontinentalem Klima- 
charakter vor allem aud daraus, daß die Alpen im 
Gegenfag zu den amerifanifchen Gebirgszügen von 
Weft nah Oft ftreihen und fih dadurd quer zur 
Richtung der großen vom Aequator zum Pol und 
zurüd verlaufenden Zirkulation ftellen. 

Einige Punkte, die in den Ausführungen von 
Profeffor Dorno nur geftreift werden Fonnten, fan- 
den ausführlichere Behandlung in den Vorträgen 
von Maurer und Lütſchy über Werdunftungs- 
meffungen an freien Wafferoberflähen im Hoh- 
gebirge, von Profeffor Palazzo- Rom über 
Iufteleftrifhe Unterfuhungen im Bergobſerva⸗ 
terium in Seftolo und von Profeſſor Wigand- 
Halle über die Lufteleftrizität der freien Atmo- 
ſphäre. Aus dem Bortrage des Tektgenannten 
Forſchers fei hervorgehoben, daß Unterfuhungen 
der Wolkenelektrizität, an denen die Luftfahrt ftar? 
interefliert ift, nach indireften Verfahren mit þin- 
reichender Genauigkeit angeftellt werben Tönnen. 
Noch in zwei Kilometer Entfernung von Blitzen 
find Spannungsunterfchiede von 100 000 Bolt je 
Meter nahmeisbar, fo daß man am Orte bes 
Blitzes felbft noch 20- bis 40fach höhere Werte des 
Spannungsgefälles wird annehmen dürfen. Eine 
überzeugende und wiberfprucdhsfreie phyſikaliſche Er- 
Märung der Entftehung ber Gewittereleftrizität 
fann nach dem heutigen Stande unferer Kenntniffe 
nod nicht gegeben werden. Bezüglich des elektrifchen 
Klimas des Hochgebirges ift hervorzuheben, daß eg 
ſich durch Fleineres Spannungsgefälle, größeren 
Jonengehalt, höhere Leitfähigfeit und ftärfere Joni- 
fierung vom Klima der Ebene unterfheidet. Sür 
bie SSonifierung ſelbſt fpielt im Hochgebirge die fo- 
genannte durchdringende Höhenftrahlung eine we 
fentlihere Rolle als die durch radioaktive Stoffe 
des Bodens bedinate Emanationsftrahlung. 

Drofeffor Linte-Sranffurt a. M. Tonnte in 
feinem Vortrage nachweiſen, daß es weniger ber 
MWaflerdampfaehalt der Luft als ihr Gehalt an 
Staubtelhen ift, der den Intenſitätsverluſt ber 
Sonnenftrahlung und befonders den DBerluft des 
ultravioletten Anteils bewirft. Als ein geeignetes 
Maß zur Kennzeichnung des fntenfitätsverluftes 
fowie auch der Veränderung der Zufammenfekung 
der Strahlung Tann der Trübungsfaftor dienen, 
der angibt, wie viele ideale, d. b. waflerdampf- und 
ftaubfreie Atmofphären die gleihe Schwächung der 
Strahlung herbeiführen würden wie die wirflide. 
Die Meflung des Trübungsfaftorg des kurzwelligen 
Lichtes ift ein unmittelbares Map für den Staub- 
gehalt der Luft. 


Die Klimatologiihe Tagung in Davos vom 17.—22. Auguft. u 


243 


Vermag man fo die phufifalifhen Urſachen für 
die Ofntenfitätsänderung und die veränderte Zufam- 
menfegung der Strahlung anzugeben, fo wird bda- 
dur noh nicht erPlärt, weshalb auch in großen 
Höhen das Sonnenfpeftrum nahezu an berfelben 
Stelle abbriht wie im Tiefland. Hierfür ift viel- 
mehr, wie Profeffor Edgar Meyer -Zürih in 
feinem Vortrage nadmies, der Ozongehalt der 
Atmofphäre verantwortlich zu machen. Auf Grund 
diefer Annahme laffen fib aud qualitativ die 
Grenzkurven für das ultraviolette Ende des Son- 
nenfpeftrums deuten, die Dorno aufgenommen bat. 
Könnte der gefamte Ozongehalt der Atmofphäre 
vereinigt werben, fo würde er bei O Grad Eelfius 
und einer Atmofphäre Drud nur einen die Erde 
umhüllenden Schugmantel von etwa ſechs Zehntel 
Millimetern Dide bilden. 

Profeffor Sophus Bang -Kopenhagen dis- 
futierte in feinam Wortrage Die Verwendung 
einer biologifhen Reaktion zur Wertung der Ti- 
matifchen Lichfintenfität” die verſchiedenen Verfah⸗ 
ren, die für Strahlungsmeflungen in Trage fom- 
men. Er vertrat der Anfiht, daß zur Beftimung der 
phnfiologifh wirkſamen Tichtintenfität phyſikaliſche 
Methoden oder anorganifh-hemifche Reaktionen be- 
züglih der Sicherheit des Ergebniffes hinter einer 
geeigneten biologifhen Reaktion zurückſtehen müffen. 
As eine Reaktion, die für derartige Meffungen 
geeignet ift, fann man nad feinen Unterfuchungen 
im $infen-nftitut in Kopenhagen die bafterien- 
tötende Wirkung des ultravioletten Lichtes benußen. 
Die Kurven, die man für die Wirkſamkeit der 
ultravioletten Strahlen nadh diefem DBerfahren er- 
hält, flimmen mit den Ergebniſſen überein, bie 
Haufler und Wahle für die ernthembildende und 
pigmentierende Wirkung eben diefer Strahlen er- 
halten haben. 

In der anfchließenden Disfuffion wies Profeflor 
Dorno-Davos darauf bin, daß die Tichteleftrifche 
Cadmiumjzelle von Eifter und Geitel ein Hilfsmittel 
darftellt, das auf rein phufifalifher Grundlage er- 
mögliht dieſelben Vergleichsmeſſungen durchzu⸗ 
führen, für die Bang ſeine biologiſche Reaktion in 
Vorſchlag bringt. Die geringe Verſchiedenheit, 
die zwiſchen der Empfindlichkeitskurve der Cad- 
miumzelle und der Vahle⸗Hauſſerſchen Kurve be- 
fteht, liepe fih dur Vorſchalten eines geeigneten 
Uviolglasfilters vor die Tichteleftrifche Zelle aus- 
fhalten. Profeſſor Bang vertrat demgegenüber 
den Standpunft, daß der Vergleich zwiſchen 
der bakteriziden Wirkung der ultravioletten Strah- 
len und ihrer Einwirkung auf die Cadmiumzelle 
ert noh vorgenommen werden müfle, ehe man 
daran gehe, eine rein phufifalifhe Erſcheinung als 
Map für eine phufiologifhe Wirkung zu benugen. 


Da der wefentlihe inhalt der Unterfuchungs- 
ergebniffe von Profeſſor Lo e wy ⸗Davos bereits 
in dem Aufſatze von Profeſſor Dorno „Zwanzig 
Jahre Höhenklimaforſchung“ beſprochen iſt, der im 
Auguſtheft dieſer Zeitſchrift zum Abdruck gelangte, 
kann darauf verzichtet werden, den Vortrag dieſes 
Gelehrten über das Zuſtandekommen der phyfiolo- 
giſchen Höhenklimawirkungen des Näheren zu be- 
ſprechen. 

Don den im weſentlichen klimatologiſchen Wor- 
trägen ſind die Ausführungen zu erwähnen, die 
Profeſſor di Veſtea Piſa über einige Eigen- 
tümlichkeiten des Klimas von Hochebenen und über 
die biologiſchen Einflüſſe der Sonnenſtrahlung 
machte, ſowie diejenigen von Dr. da Cuomo- 
Capri über den Golf von Neapel, deffen Umgebung 
und deffen therapeutifhe Bedeutung. Profeflor 
Mol Holland fprah über das hofländifhe See- 
Elima und wies dabei auf den Unterſchied hin, der 
zwifchen dem wefentlih wirkffameren Strandflima 
und dem eigentlihen Seeflima der mehr als 300 
Meter vom eigentlihen Strande abgelegenen Land- 
ſchaft zu maden ift, für die bereits der Schuß der 
Dünenreihe und der Einfluß von Bepflanzung und 
Bebauung fih geltend macht. Dur Unterfuhun- 
gen, die noh im Gange find, hofft man in ähnlicher 
Weiſe eine Analyfe der für die Wirkung des See- 
klimas maßgebenden Faktoren durdführen zu Fön- 
nen, wie fie Dorno bezüglich des Hochgebirgeflimas 
jo erfolgreidy vorgenommen hat- 

Ueber Klimatologie und Klimatophnfiologie des 
Mittelgebirges handelte der Vortrag von Dr. van 
Dordt-Bühlerhöhe- Er führte aus, dag es 
außerordentlich fchwer ift, den Begriff überhaupt 
abzugrenen, und daß im Gegenfak zum Hodge- 
birgsklima fih für die große Mannigfaltigfeit der 
klimatiſchen Verhältniſſe im Mittelgebirge feine 
gemeinfamen Züge von gleiher Bedeutung auf- 
zeigen laffen, wie Drudverminderung und Zu- 
nahme der Strahlungsintenfität fie für das Hod- 
gebirgsflima darftellen. Beide erfahren zwar aud 
im Mittelgebirge entiprechende Aenderungen, etwa 
gleich weſentlich ift aber für das Mittelgebirge der 
Einfluß der Degetationsdede. 

Mit aufßerordentlih intereffanten Tatſachen 
machte Profeffor Ha ecker Jena die Zubörer in 
feinem Vortrage über Klima und tierifhe Pig- 
mentierung befannt. Bezüglih des Zufammen- 
banges zwifhen Klima und tierifher Pigmentie- 
rung ift es als einem der erften Weismann ge- 
lungen, durd entfpredhende Aenderung der Tem- 
peraturbedingungen bei Schmetterlingen die Um- 
wandlung der Sommer- in die Winterform be- 
jiehungsweife der nördlihen in die füdlihe Form 
und umgefehrt herbeizuführen. Gleichſam ale Èr- 
gebnis eines ungewollten Verſuches von größtem 


Die Klimatologifhe Tagung in Davos vom 17.— 22. Auguft. 


Maßſtabe hat man neuerdings das Auftreten 
ſchwarzer (melaniftifher) Abarten von Scmetter- 
Iingsarten in der Nähe von Grof- und nduftrie- 
ftädten feitftellen Fönnen. Tiergeographiſche Unter- 
fuhungen haben ergeben, daß bei Vögeln arktifchee 
Klima bauptfählih rötliche Färbung, trodenes 
MWüften- und Steppenflima ſchwarzblaue Färbung 
hervorruft. Zum Teil find Flimabedingte Mig- 
mentierungsänderungen febr dauerhafter Natur, 
fo daß fie auh nah dem Auswandern befteben 
bleiben. Eine febr wichtige Frage ift die, inwie- 
weit Pigmentierung der Ausdrud einer beftimmten 
Konftitution ift und ob eine Pigmentierungsände- 
rung als Folge einer Pigmentänderung nur deshalb 
auftritt, weil infolge der Klimaänderung die ge- 
ſamte Konftitution abgeändert wird. Mande Cr- 
Iheinungen, wie beifpielsmweife die Rothaarigkeit 
beim Menſchen oder die Fuchsfarbigkeit bei Pfer- 
den feinen darauf hinzudeuten. Auh Verſuche, die 
der Bortragende im Davofer Forfchungsinftitut 
mit Hochgebirgs- und Ebenenvögeln anftellte, fhei- 
nen Hinweiſe in diefer Richtung zu geben- 

Die Vorträge von Profeflor Stomps- 
Amfterdam, der die für Zentral-Ceylon charakteri— 
ftifhen Wechſel favannenähnlicher Gebiete mit 
Waldbeftänden als eine abnorm niedrig gelegene 
Baumgrenze zu deuten vermodte, von Dr. Mor- 
ton -SHallftadt über das Klima der alpinen Höb- 
len und deren Pflanzenwelt fowie von Dr. S d i b- 
ler-Davos, der die Flora des Davofer Land- 
waffertales in febr intereffanter Weife als den 
Ausdruf der von Ort zu Ort wecfelnden Tem- 
peratur-, Wind- und Strablungsverhältniffe zu 
deuten wußte, fann nur fur; gedacht werden. 


Den Einfluß, den Licht und Temperatur in den 
Alpen auf Anatomie und Phyſiologie der Pflanzen 
ausüben, fchilderte der Vortrag von Profefler 
Senn -Bafel. Die Alpenpflanz: befist gegen- 
über der Ebenenpflanze gleicher Art eine weit bef- 
fere Anpaflung an die Bedingungen des Hodge- 
birgsflimas. ‘Bei den Alpenpflanzen fteigt die 
Koblenfäureaflimilation ftändig mit der Steigerung 
der Lichtintenfität an, mährend bei Cbenenpflan- 
zen bald ein Maximum erreicht wird, nad deffen 
Ueberſchreitung die Affimilation rapide ſinkt. Bei 
niedrigen Temperaturen fpeidhert die Pflanze ibre 
Kohlenftoffvorräte aber nicht mehr in Form von 
Stärke, fondern in Form von Zuder auf. Diefer 
Zuckergehalt ift es, der die Farbenpracht der blüben- 
den Alpenpflanzen verurfacht, er ift es auch, der die 
Pflanzen vor dem Erfrieren fhüst. Ganz enorm 
it der Waſſerkonſum der Alpenpflanzen, die in 
diefer Hinfiht die Schattenpflanzen feuchter Mäl- 
der bei weitem übertreffen. Da die von der 
Pflanze unter der Einwirkung der  intenfiven 
Strahlung aufgefpeihersen Dar ife für den 





= Erfhütterungsmeßapparate. 


Flächenwuchs nicht verwendet werden Eönnen, wer- 
den fie für den Dickenwuchs ausgenußt. Ausfeben 
und Aufbau der Alpenpflanzen find nicht als ein 
Ausdrud der Anpaffung im Kampfe ums Dafein 
anzufehen, wie Darwin meint, fondern als Aus- 
wirfung der phyſikaliſch⸗chemiſchen Aenderungen, 
die durd die veränderten Elimatifhen Bedingungen 
im Organismus der Pflanze bervorgerufen werden. 

Gleihfam das Ergebnis der ganzen Tagung gab 
der großangelegte Vortrag von Profeflor A bd er- 
balden-SHalle, der in feinem. Nüdblide und 


Ausblide auf die phyſiologiſche Höhenflimaforfhung 








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nod einmal ordnend und fichtend zufammenfaßte, 
was der wefentlihe Inhalt der Einzelvorträge ge- 
weſen war- Er ſchloß mit Worten hoher Anerfen- 
nung für die Pionierarbeit, die auf dem Gebiete 
der Hochgebirgsflimatologie und Hochgebirgsphnfio- 
logie die Davofer Forſchungsinſtitute geleiftet haben. 

Jn der Hauptſache war die Davofer Elimatolo- 
giſche Tagung in der Tat das, als was einer der 
Bortragenden fie bezeichnete: ein Kongrep ad 
maiorem solis gloriam, eine Tagung zu Ruhm 
und Preis des Sonnenlidhtes. 








Er utterungsmeßapparate. Non Dberftudiendireftor Prof. Dr. Gelfert. 





Das Studium der Erſchütterungsmeßapparate 
gewährt einen befonderen Reiz: gewaltige Maffen 
von vielen Zentnern Gewicht find zu ihrem Bau er- 
forderlich — und troßdem vermögen fie Schwan- 
kungen von faum wahrnehmbarer Größe forgfältig 
aufzuzeichnen. Wir finden alfo wudtige große 
Maflen vereinigt mit einer feinen Präzifionsme- 
hanit, ſodaß wir der geleifteten Geiftesarbeit ebr- 
furhtsvol unfere Bewunderung zollen müflen. 

Wir können die Erjhütterungsmeßapparate in 
mer große Gruppen einteilen: 

1. Erdbebenmefler in ihren verfchiedenen Aus- 
führungen, die alfo befonders zum Zwede der 
Regiftrierung und Meflung feismifher Wor- 
Hänge dienen; 

2. Erſchütterungsmeſſer zur Beobachtung von 
Schütterwirfungen, welde in induftriellen 
Anlagen durh Mafhinen, Bau- und Ber- 
Fehrsbetrieb, Sprengungen oder ſchwingende 
Bewegungen an Hochbauten (z. B. Shorn- 
fteinen, Türmen uſw. durd Windftöpe) ber- 
vorgerufen werden. 

Die Herftellung von Erdbebenmeflern ift nod 
nicht febr alt. Als die ältefte Vorrichtung diefer 

Art wird ein einfach aufgebängtes Gewicht ang. 
ſprochen, deffen man fih 1841 in Comrie in Shor- 
land zur Beobachtung von Erdbeben bediente. Es ift 
niht unintereflant, daß der ere wiſſenſchaftlich be- 
achtliche Verſuch ſeismiſcher Aufzeihnungen fih auf 
denselben Gedanken gründet, den 1901 der Göt- 
tinger Seismologe Wiechert in die klaſſiſche Form 
prägte, dag fih jeder beliebig gebaute Seismo— 
graph S durch ein einfaches Pendel P in feiner 
Wirkung erfegen läft.” 

Ein im Jahre 1832 von dem württembergiſchen 
Studenten Hengler in München konftruiertes Jn- 

Nrument, das in den 60er Jahren von Perrot 
(186%) und Zoellner (1869) neu angegeben 
wurde, fann nod) nicht als Erdbebenmefler ange- 





— — — — — 


ſprochen werden, da es urſprünglich als „aſtrono⸗ 
miſche Pendelwage“ gedacht war und erſt Zoellner 
auf feine Brauchbarkeit als Seismometer hinwies. 


Wohl aber ſetzen nach der Mitte des vorigen 
Jahrhunderts eine große Reihe von Arbeiten nam- 
bafter Forſcher in allen Ländern ein, die in wert: 
vollen Ergänzungen und Verbeſſerungen eine ftatı- 
libe Zahl von Seismographen, SGeismometern, 
Klinographen uſw. fhufen, und von denen nur fol- 
gende Namen hervorgehoben feien: der Amerikaner 
Mood, der 1875 auf die Anwendung von Däm- 
pfungen hinwies, Gray in Tokio, deffen „koniſches 
Pendel” befonders von Omori in Tokio verbeffert 
wurde und nod) heute in Japan verwendet wird, 
Ewing in Tofio, Agamennone in talien, Marvin 
in Mafhington, Grablowis und Wiechert in 
Deutfchland, fowie der in den legten Dezennien be- 
ſonders durd) feine zahlreihen Verbeſſerungen und 
Neufonftruftionen befannt gewordene Profeſſor 
Mainfa in Göttingen, der früher die leider einge- 
angene Hauptftation für Erdbebenforfhung in 
Straßburg im Elfaß leitete, jeget aber der „Erbe, 
Inftitut für angewandte Geophyſik“ in Göttingen 
vorfteht, und deffen liebenswürdiger Unterftügung 
die in unferm Artikel gebrachten Photographien, fo- 
wie mancherlei Anregungen zu verdanfen find. 
Dabei fann natürlich ein Aniprud auf Volftändig- 
teit der aufgeführten Namen nicht erhoben werden. 


1. Erdbebenmeffer. 


Während die allererften Beobachtungen von Erd- 
beben nur floßartige oder hin- und hergehende Be- 
wegungen unterfchieden, erfannte man feit etwa 
1850, daß longitudinale und transverfale Bewe- 
gungen getrennt auftreten, d. h. daß die Erdteilchen 
entweder in der Fortpflanzungseinrichtung der Ye- 
wegung oder quer zu diefer Schwingungen aus- 
führen. Sehr raid) folgte die weitere Feftftellung, 
daß die Wellen” Iongitudinaler Art den transver- 
ialen voraneilen. Hierauf ergab fidh febr bald die 





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Konftruftion von Horizontal- und von Bertikalfeis- 
mographen, je nachdem es fih um die Beobachtung 
von horizontalen oder vertifalen Bodenbewegungen 
handelte Später wurden noh Neigungen beob- 
achtet und hierzu Klinographen Fonftruiert, ſodaß 
man gegenwärtig diefe drei Gruppen von Erdbeben: 
meflern zu unterfcheiden hat. Won ihnen beruhen 
die Seismographen beider Art auf dem Pendel- 
prinzip, während Klinographen entiprehend dem 
Vorgang von Schlüter in Göttingen (Ende der 
neunziger jahre) entweder nah dem Wagebalfen- 
prinzip oder nah dem Vorſchlag von Wieder 
(1903) als Horizontalpendel gebaut werden.. 
Eine fhematifhe Skizze eines Horizontalfeismo- 
graphen zeigt Abbildung 1. Das fefte Geftell G 
trägt an einem Doppelſtahldraht Ë ein Pendel- 





Abt, 1. 


gewicht P, das fih mittels eines Armes a mit 
Iharfer Stahlfpige S gegen ein feftes Lager 1 lehnt. 
Bei b befindet fih in einem Galgen zwiſchen Stahl- 
pfannen gelagert ein beiderfeits zugeipister kurzer 
Stahlftift, der die gelenfige Verbindung mit einem 
Schreibhebel herftelt. Die Schreibregiftrierung 
geihieht entweder auf mehanifhem Wege, indem 
der Schreibftift auf einer berußten Papiertrommel 
läuft, oder mit Hilfe einer direkt photographifchen 
Methode, indem ein in der Drehachſe befindlicher 
Spiegel den Tichtftrahl einer geeigneten Lichtquelle 
auf lichtempfindlihes Papier wirft und dort ſcharfe 
Lichtpunkte erzeugt, die in Abftänden von je einer 
Zeitminute verdedt werden. Das lestere Wer- 
fahren ift auh mit einem Spiegelgalvanometa 
fombiniert worden. Im allgemeinen pflegt man 
der Nußregiftrierung den Vorzug zu geben, nicht 
nur weil fie einfacher und billiger ift, fondern auh 
weil die Kurvenzüge feiner herausfommen als bei 
der photographifhen Schreibart. 

Der nah Omori in Abbildung 1 fkiszierte Seis- 
mozıaph kommt noh heute in japan zur Anwen- 
dung, obwohl neuere Apparate ganz wejentlihe Ber- 
beflerungen ihm gegenüber aufmeifen fünnen. An- 


Erjhütterungsmeßapparate. 


tele der Drabtaufhängungen ift man zu federnden 
Stahllamellen, anftelle der Stahlipige S zu Blatt- 
federn (Ewing, Zoellner, Mainfa) übergegangen. 
Aud die Aufhängungsart wurde verſchieden geband- 
habt: man wählte den Drebpunft oberhalb des 
Schwingungsmittelpunftes oder unterhalb desfelben 
‘in beiden Fällen bei horizontaler Drebadfe), oder 
endlih in feitliher Anordnung bei fehräger Dreh- 
achſe. Im zweiten Falle wird das Gewicht durch 
Scderfraft vor dem Umfallen geihüst. Abbildung 
2 zeigt einen mittelgroßen Horizontalfeismographen 





Abb. 2. 
Mittelgroßer Horyontalieismograf nah Mainta. Gewicht des Pendeltörpers 
— Pa 


— kg bergeftellt. Erda A.G. Göttingen. 


neuerer Konftruftion nah Mainfa, hergeftellt in 
der Erda %.-G.-Göttingen mit einem Pendel- 
gewichte von 725 Kg. Der Apparat hat den Wor- 
zug, die beiden horizontalen Komponenten, die meift 
jenfrecht zueinander ftehen, ganz getrennt und unab- 
bängig voneinander aufzuzeichnen. Die Erdbeben- 
welen verlaufen nämlich felten fo, daß die Aus- 
ihlagsampituden marimale werden, weswegen man 
die Wellen in zwei Komponenten zerlegt und diefe 
regiftriert, um daraus rüdwärts den Schluß auf 
die Bewegungsrihtung zu ziehen. Praftifh wird 
man dabei den Apparat fo aufitellen, daß die beiden 
horizontalen Komponenten in Richtung des Orts- 
meridians und des erften Vertikals fallen, d. H. day 


man eine N-S- und eine W-O-Komponente erhält. 

Die Aufftellung zweier nftrumente ift immer 
nötig, wenn deren Drebadfe ſchräg liegt. 
Horizontalfeismometern, deren Drebpunft und 
Gewichtsſchwerpunkt vertifal übereinander lie- 
gen, genügt die Aufftellung eines Apparats mit 
zweifahem Screibhebelfuftem in zu einander 
ſenkrechten Richtungen (Vicentini und Grablo- 
wiß). 

Der in Abbildung 2 mwiedergegebene Apparat 
befist einen Penvdelförper, der aus gufeifernen 
Platten von 44 cm Durchmeſſer beftebt. Das 
Schreibhebelſyſtem regiftriert in der Minute auf 
15 mm des Regiftrierbogens, die auh auf 10 
mm herabgejegt werden können, und hat eine 
Laufzeit von 25 Stunden. Das nftrument 
zeichnet alle Beben auf, von lokalen Herden bis 
zu weit entfernten Schüttergebieten (Epizentren) 
von mehreren 1000 Kilometern Entfernung. 

Das Prinzip eines Wertifalfeismographen 
wird durh Skizze 3 erläutert. Das Gewicht P 
ift zumächft an einem Arme a befeftigt, der bei A 
gelenkig mit dem Geftell G und dadurd mit dem 
Erdboden verbunden ift. Bei B greift eine Spi- 
ralfeder an, deren Dide, Windungszahl und 
Durchmeſſer die Eigenperiode der Schwingungen 
bedingt. Man verfteht unter der Periode T — 
ganz wie beim Pendel — die Zeit, welche zwi- 
ihen einem Durchgang des Maſſenmittelpunkts 
durh die Mittellage und dem übernädhften 
Durdgang verftreiht. Die in der Skizze vor- 
bandene Aufhängung nah Ewing läßt die Spi- 
ralfeder (auf Zug beanfprudt) bei B unterhalb 
a angreifen, wodurd die Eigenperiode ganz 
wefentlih erhöht wird. Die Anordnung des 
Schreibhebels entſpricht der des Horizontalſeis— 
mometers, nur iſt zu beachten, daß beim letzteren 
horizontale, beim Vertikalſeismographen dagegen 





Abb. 3. 


vertikale Ausſchläge des Pendelgewichts zu regi— 
ſtrieren ſind. 

Mainka hat als erſter 1907 darauf hingewieſen, 
daß anſtelle der auf Zug beanſpruchten Spiral- 


Erſchütterungsmeßapparate. 





federn auch ſolche mit Druckbeanſpruchung ange— 
bracht werden können. Abbildung 4 zeigt einen 


Ber derartigen Apparat mit einem Gewicht des Pendel- 


i e 
t? an a 





\ a der 


Abb. 4. 


Vertifalfeismograpb nad Mainta. Gewicht des Pendellörpers über 300 kg. 


Hergeitellt in der Werltätte der Erda A.G. Göttingen. 


förpers von über 300 Kg. Die Eigenperiode Täkı 
fi) von 5 bis 15 Gefunden variieren, insbefon- 
dere ift es möglich, das Inſtrument auf diefelbe Ei- 
genperiode wie die des Horizontalfeismographen ein- 
zuftellen, was bisher bei Nußfchreibapparaten noh 
niht der Fall war. 


Während man mit dem Horizontalfeismographen 
nur den MNichtungsverlauf von Erdbeben in þori- 
zontaier Ebene feftftellen fann, läßt fid durch Zu- 
fammenjeßen der horizontalen und vertifalen Kom- 
ponente auh der Winfel ermitteln, unter welchem 
die Wellen gegen die Erdoberflähe geneigt an- 
fommen (Emergenzwinfel). 

Endlih fol noh auf die Dämpfungseinrichtun- 
gen bei beiden Seismographen hingemwiefen werden. 
Diefe find erforderlich und werden feit etwa 20 Jah- 
ren eingebaut, weil fih aus theoretifchen wie praf- 
tiihen Gründen ergibt, daß die Eigenperiode des 
Pendels die Erdbebenwellen verfchleiern Fann. Man 
ſucht daher die KEigenfhwingungen des Pendels 
möglichft zu erhöhen und bedient fih verfchiedener 


2 





Dämpfungsmöglichkeiten: dur Luft, durch Flüſſig⸗ 
fcit oder durh Kleftromagnete. In Abb. 2 ift 
linfs, in Abb. 4 rechts ein würfelfürmiges Gefär 
zu erkennen, in welchem die Flüſſigkeitsdämpfung 
untergebradht ift. Störende Drud- oder Saug- 
wirfungen find befeitigt. In allerjüngſter Zeit 
haben Verſuche mit elektromagnetiſcher Dämpfung 
unter Benugung der Tichtleitung zu guten Erfolgen 
geführt (Mainta). 

Die Neigungsmeffer (Klinographen) 
erlangen größere Bedeutung nur in der unmittel- 
baren Nähe eines fehr tätigen Erpbebengebiets. 
Für die normale Regiftrierung mehr oder weniger 
weit entfernter Beben ergeben fih fo feine Nei- 
gungen, daß fie praftiih vernadhläfligt werden 
fönnen. Zudem können Horizontalfeismograpben 
mit großer Periode (25 — 30 sec.) einen Meigungs- 
mefler erfeßen, da fie febr empfindlich gegen Nei- 
gungen find. Das Prinzip wird aus Stize 5 er- 
fihtlih. Zwei Gewichte P: und P: find durd 





Abb. 5. 


einen Arm a verbunden und möglihft im Schwer- 
punft aufgehängt. Der Mebenarm b mit dem 
Laufgewicht Ps dient zur Einftellung beliebig Hober 
Eigenperioden. Ihre Bedeutung als nftrumente 
zur feismifhen Forſchung ift zurüdgetreten, fert 
man erfannte, daß in einiger Entfernung vom Epi- 
zentrum Feine merflichen Neigungen, fondern nur 
Verfhiebungen des Bodens auftreten und die 
- Apparate beeinfluffen. 


2. Erſchütterungsmeſſer. 

Das reichhaltige und außerordentlich vielfeitige 
Anwendungsgebiet der Erfhütterungsmefler für 
alle Arten der praftiihen Technik bradte es mit 
fih, daß feine ausgeſprochene Typenbildung diefer 
Anftrumente vorhanden ift, fondern daß fie je nad 
der Eigenart der geftellten Aufgabe für den jemwei- 


ligen befonderen Zwet konſtruiert wurden. 
Dmoriin Japan ſchuf eine Reihe von Apparaten 
zur Unterfuhung von Brückenſchwingungen, 


Schwanfungen von hoben Schornfteinen und 
Eifenbabnwagen bereits in den 80er Jahren; 
Grunmach in Berlin wurde nah jahrzehnte- 


Ecſchütterun gsmeßapparate 


langen Experimentalunterſuchungen im Jahre 1906 
von der Provinzialverwaltung Schlefiens mit der 
Aufgabe betraut, die Felsſchwankungen zu meflen, 
welche durch den Abfturz größerer Waflermaflen an 
der QDueistalfperre bei Markliſſa entftehen, und er 
löfte fie mittels eines Apparates, mit dem er einen 
ganz neuen Weg beihritt (f. unten); D. Shlid 
erbaute einen „Pallographen” zum Studi- 
um der horizontalen und vertifalen Vibrations⸗ 
erſcheinungen von Seeſchiffen; franzöfifche Arbeiten 
galten der Erforfhung von Schiffsbewegungen, 
die von Meereswellen verurfadht werden; Wiechert 
in Göttingen ließ 1906 ein transportables Mep- 
gerät mit befonders ftarfer Vergrößerung anfer- 
tigen; nah ihm fonftruierte Mintrop im 
Göttingen einen Reifeapparat, mit dem er Boden- 
erfhütterungen meflen fonnte, die von einer 89 
Rentner ſchweren Stahlfugel noh in 2% km Ent- 
fernung beim Fall hervorgerufen wurden, und mit 
dem die Schütterwirkungen einer Großgasmaſchine 
in der gleihen Entfernung nachgewieſen werden 
fonnte; Mainta unterfuhte 1909 das vogt- 
ländifhe Erdbebengebiet mittels eines „Accelero⸗ 
graphen” (Beſchleunigungsmeſſers); endlih fei 
nod ein Gerät von Jahnke und Kleinath 
aus dem Jahre 1918 erwähnt, das zur Meflung 
der Beſchleunigungen von Förderförben bei Berg- 
werfsanlagen dient. Jeder Apparat bat hierbei 
ſeine Eigentümlichkeiten, die naturgemäß im Rab- 
men dieſes Auffakes niht eingehend erörtert 
werden Eönnen. 

Im allgemeinen find diefe Erfchütterungsmefler 
nag dem Prinzip von Seismographen gebaut; nur 
it der grundſätzliche Unterſchied beider beider 
Arten von Erfhütterungen zu beachten, der darin 


. liegt, daf die Perioden der Fünftlihen Erſchütte⸗ 


rungen viel Fleiner find als die der Seismogramme, 
ſodaß ein mit feismifchen Arbeiter vertrauter Be- 
obachter beide Aufzeihnungen ſchon nadh dem äuße⸗ 
ren Ausſehen unterfoheiden fann. Bis auf den 





Abb. 6. 


Apparat von Grunmach beruhen alle anderen auf 
dem Pendelprinzip. In Abb. 6 und 7 it Schema 


und Anfiht des von Mainka erbauten Apparates 
wiedergegeben. G: und G2 find Pendelgewichte, 
die einerfeits durh Stahlbänder Li und Le, an- 
dererfeits durh auf Drud beanſpruchte Spiral- 
federn gehalten werden. Man erfennt, daß ein 
Horizontal- und ein Vertikalapparat zufammen- 


ER Erjhütterungsmehapparate. 249 


Regiftrierwerfs und dient zur Meflung ftärferer 
Erſchütterungen. 

Weſentlich verſchieden iſt die Grunmachſche 
Apparatur. Ein Gewicht G (Abb. 8) liegt mit 
einer Auflagefugel K einerfeits auf dem Amboß B 
auf, andererfeits wird es von einer mittels Mifro- 





Abb. 7. 


Apparat zur Mefjung künſtlicher Erjhütterungen nad Mainta. 
gleihartig (Spiralfeder auf Drud beanjprudt) angeordnet auf Reſtpapier jchreibend. 
Für frärfere in der Praris vorlommende Erihütterungen. 


bagd). 


gelegt find, wobei im Gegenſatz zu anderen Inſtru— 
menten eine Gleihartigfeit in der Anordnung beider 
Komponenten vorhanden ift. In dem durch Striche 
umrahmten Teile find die beiden Schreibhebel für 
Rußregiſtrierung untergebrabt. Zur Dämpfung 
werden je zweimal drei Aluminiumblätter von etwa 
6X6 em Grife und 5 mm gegenfeitigem Ab- 
ftand verwendet, die in ein mit Del gefülltes drei- 
teiliges Gefäß tauchen. Hierbei reibt die von den 
Blättern mitgeführte Flüffigkeitshbaut gegen die 
Flüffigkeit im Gefäße. Die Apparatur ift von der 
Firma J. und A. Bofh-Hedingen (damals Straf- 
burg) bergeftellt unter befonderer Ausführung des 


Horizontale und vertifale Komponente find 
g = Gelentadje ſStahl— 


meterſchraube und Sfala (Mi und SK) verftell- 
baren Feder F fo gebalten, daß zwiſchen K und B 
nur eben Kontakt beſteht, um einen elefftfrifchen 
Strom durch A, a, K, B, Widerftand W: von und 
nah der Stromquelle EI zu fließen. Iſt nun 
die anfommende Stoßfraft größer als die Aufliege- 
fraft des Hammers, fo löſt fih der Hammerfopf 
vom Amboß, es wird der Strom unterbrorden und 
über W2 ein Galvanometer betätigt. Aus der 
Federeinftellung F, die durch einen Beobachter er- 
folgen muß, läßt fih die DBefchleunigung der 
Schütterkraft ermitteln. Mainfa Fonftruierte nad 
diefem Gedanken feinen Accelerograpben, indem er 


250 


Gabeln an den (verfchieden einftellbaren) Ge- 
wichten anbradıte, die ihrerfeits wieder einen elef. 
tromagnetifhen Schreibhebel betätigen. Da 
fidh jeder Apparat nur auf eine gewiſſe Be- 
fhleunigung einftellen läßt, find zur felbft- 
tätigen Megiftrierung mehrere Syfteme er- 
forderlih. Auch Galitzin erfeßte in feinem 
Beſchleunigungsmeſſer 1915 die Spiralfeder- 
wirfung durch Aenderung des Winkels, unter 
dem die Hebelarme (der SHorizontalinftru- 
mente) gegen die Zenitlinie geneigt find. 
Verſuche, insbefondere vergleichender Art mit 
Eeismographen, find hierüber noh niht ab- 
geichloflen- | 

Die Konftruftion aller folder Apparate 
ftellt naturgemäß an die Präzifionsmedhanif 
ſehr Hobe Anforderungen. Es ift erfreulich 
zu ſehen, wie gut diefe Aufgaben aud 
in Deutſchland erfüllt werden, . obgleich 


EIN. 


Eine neuere Behandlung der bösartigen Geſchwülſte durch Bakzine⸗Injektion. 


noh mande von ihnen beflere Löſungen wünfchen 
läßt. 


W2 


a 


— 6 = 
e a 
W: 
Abb. 8. 





— — — — — — — 


Eine neuere Behandlung der bösartigen Geſchwülſte durch Vakzine— 


Injektion. Bon Generaloberveterinär a. D. Dr. Koßmag. 


Die Behandlung der bösartigen Geſchwülſte, 
insbeſondere des Carcinoms (Krebs) und des 
in ſeiner Auswirkung ähnlichen Sarkoms, war 
von jeher infolge der Bildung von Rezidiven 
und Metaftafen eine undantbare Aufgabe der 
Chirurgen. Vielfach find diefe Gefhwulft- 
bildungen überhbaut niht operabel und die 
operativ . entfernten kehren, wie gejagt, meift nad 
mehr oder weniger Furzer Zeit wieder, oft genug 
dann unter Meubildung gleichartiger Gefchmwülfte 
an von der Dperationsftelle entfernt gelegenen 
Orten des Körpers. Da die Krebsfrankheit eben- 
fo wie die Tuberfulofe eine Volkskrankheit ift, der 
jährli) etwa 50 000 Menihen in Deutidhland 
zum Opfer fallen, fo fann es nicht genug begrüßt 
werden, wenn die neuere medizinifhe Forſchung 
uns Mittel und Wege weift, ſcheinbar mit Erfolg 
gegen diefen Würgengel vorgeben zu können. Pro- 
feffor Dr. Fr. Keyffer, Berlin - Lichterfelde, 
Vinzenzkrankenhaus, gibt in einer Abhandlung: 
„Die WBakzinebehandlung der bösartigen Ge- 
ſchwülſte“, Verlag ©. Hirzel, Leipzig, hierüber 
intereflante Auskunft. 

Leider ift das Wefen der bösartigen Tumoren 
trog aller Theorien noh nicht endgültig geflärt. 
Es ift daher aud eine einwandfreie, nicht anfecht- 
bare Erklärung für die Wirkung der Vakzine⸗ 
behandlung ebenfalls zurzeit noh nicht möglich. 
Auf jeden Fall ift erwiefen, dag die Verwendung 
der Geſchwulſt⸗Emulſion⸗Vakzine „im Anſchluß an 
möglihft radifale Operationen, auch bei Fällen 


H 


mit ungünftiger Vorausſage, bei 5- bis Yjähriger 
Beobachtungsdauer das Auftreten von Rezidiven 
verhütet.” Zur Behandlung wird einmal ein Er- 
traft aus Teilen des Geſchwulſtgewebes benust, 
das andere Mal eine Auffhwenmung von Ge- 
fhwulftzellen, die Kenfler als Tumoremulſion be- 
zeichnet. Die Herftellung diefer Art Impfſtoffe ift 
verhältnismäßig einfach, erfordert aber große 
Sorgfalt ſowohl im Hinblid auf die Gleihmäßig- 
feit wie auch auf die Keimfreibeit. 

Das Ertraft, ein Kochſalz⸗Chloroformauszug, 
ift nur furze Zeit halbar und ruft flets mehr oder 
weniger ſchwere, ja felbft unter Umftänden den Tod 
zur Folge babende Mebenerfheinungen hervor. 
leerer Ausgang ift bei gleichzeitigem Beſtehen von 
Herzerfranfungen und Gefäßveränderungen oder 
bei hochgradig heruntergelommenen Patienten zu 
erwarten und daher hier die Ertraftbehandlung ver- 
boten. Dur die Einverleibung des Mittels in 
die Blutbahn der Kranfen findet neben Aenderung 
des Gefamtbefindens eine Iofale ‘Beeinfluffung der 
Geſchwulſt ftatt, doch folgt in der Regel der anfäng- 
liben Allgemeinbefferung bald ein erhöhtes Auf- 
fladern des Leidens. Hiebei ift es gleichgültig, ob 
dag Ertraft aus Förpereigenen oder Fürperfrembden 
Geſchwülſten gewonnen wird. Günftiger fcheinen 
fi) „unſpezifiſche Ertrafte”, aus embryonalem Ge- 
webe bergeftellt, bei Sarfomen bewährt zu Haben. 

Da bis auf vereinzelte Ausnahmen niemals 
völlige Heilung erzielt, die Behandlung niht unge- 
fährlih ift und die inoperablen Geſchwülſte durd 


Heilung und feelifhe Erziehung durh bewußte Autofuggeftion nah Coué. 


die Möntgentiefentherapie wefentlih erfolgreicher 
angegriffen werden, fo wird fih diefer Behand- 
Iungsart gegenüber der Arzt noh abmwartend ver- 
halten. 


Wefentlih anders und ohne jeglihe Mebener- 
fheinungen, daher ambulant vom Hausarzt aus- 
führbar, wirft die Verwendung der Emulfion. 
Hergeftellt wird diefe Geſchwulſtvakzine entweder 
aus Förpereigenen oder aus körperfremden Ge- 
ſchwulſtzellen gleichen hiſtologiſchen Baues oder aus 
auch zugleih artfremden, nämlich tierifhen Ge- 
fhwülften. Werben mehrere Geſchwülſte gleicher 
Art benust, fo ſpricht man von Mifchvalzine. 
Senfibilierte Vakzine ftellt eine Miſchung dar von 
Geſchwulſtemulſion mit Blutferum, das von ge- 
Ihwulftfranfen Menfhen oder Tieren, die mit 
diefen Geſchwulſtzellen immunifiert wurden, þer- 
rührt.‘ Bei Derimpfung von Förpereigenen und 
lebenden Geſchwulſtzellen hat fih öfter an den 
Injektionsſtellen Gefhwulftbildung gezeigt. Dies 
wird vermieden, wenn man abgetötete Vakzinen 
von Förperfremden Geſchwulſtgeweben benust. 
Die Wakzine wird in langfam fleigenden Dofen 
unter die Bauchhaut, nie in die Blutbahn, gefprigt 
und verurfacht nicht die geringfte Arbeitsbehinderung 
des Patienten. Diefe Behandlungsart it mit recht 
guten Rejultaten bei operablen Gefhwülften nad 
teren Entfernug zur Vermeidung von Mezidiven 
angewandt worden, zumal die bi“ e benußte MRönt- 
gennahbehandlung verfagte. Wie weit die Emul- 
fioninjeftion in WBerbindung mit der Möntgen- 
tiefbeftrahlung diefe in ihrer Wirkung auf inope- 


251 


rable Gefhwülfte unterftügt und ev. ein Wieder- 
auftresen derielben verhindert, bedarf noh weiterer 
Verſuche. 

Ein anderes, beſonders für die Behandlung 
inoperabler Geſchwulſtkranken geeignetes Verfah—⸗ 
ren iſt die Einverleibung keimfrei gemachten Erfu- 
dates, das mittels Punktion (Einſtichs) aus der 
Bruft- oder Bauchhöhle von Perſonen gewonnen 
wird, bei denen es infolge der Geihmulftbildung 
zur Anhäufung von Flüffigfeit in den genannten 
Höhlen gekommen ift. Ueber die DBorgänge, die 
fidh bei diefen Behandlungsarten abfpielen, ift man 
naturgemäß noh im Unklaren. Die Bezeichnung 
Vakzine für den Impfſtoff weit aber darauf hin, 
daß man an eine aftive Immuniſierung des Körpers 
gedacht hat, ähnlich unferer Podenimpfung. Durch 
die Einfprisung bilden ſich wahrfcheinlih Anti- 
Eörper, die gegen die bisher unbefannten, aber anzu- 
nehmenden Erebserzeugenden Körper gerichtet find. 
Andererfeits ift feftgeftellt, daß in den Geſchwülſten 
jelbft Fermente enthalten find, die unter gewiflen 
Bedingungen eine Auflöfung, eine Art Selbft- 
verdauung des Tumors hervorrufen. Man Tann 
daher auch annehmen, daß mit der Emulfion eben- 
falls diefe Fermente in den Körper und durd die 
Blutbahn zum Sige der Geſchwülſte gelangen und 
bier ihre Wirkung entfalten werden. Sei dem, 
wie ihm wolle, es fcheint jedenfalls die MöglichFeit 
zu beftehen, durch die angegebene Behandlungsart 
gefhmulftfranfen Menfhen und Tieren Heilung 
zu bringen bezw. mindeftens um fahre ihr Leben 
zu verlängern und zu verbeflern. 


Heilung und feelifche Erziehung durch bewußte Autofuggeftion = 


Coué. Don Franz Klodenbring, Apothefer. 





Vor nahezu einem halben Jahrhundert begrün- 
bete Liébault, ein einfacher, aber genialer franzö- 
ſiſcher Landarzt, mit Bernheim, feinem wiſſenſchaft⸗ 
lihen ‘Berater, die alte „Schule von Nancy”, wo 
man zum erften Male den Sinn der Hypyoſe er- 
kannte, die grundlegenden Erfahrungen fammelte 
und ihre praftifche Anwendung in ter Medizin 
lehrte⸗ 

Emil Coué, dem in feiner Jugend die Mittel 
fehlten, um entfprechend feinem Streben und feinen 
Sähigfeiten die erfehnte geiftige Ausbildung zu er- 
werben, um fo, wie er glaubte, ein würdiger ‘Diener 
der Menſchheit werden zu Fünnen, wurde nur” 
Apotheker. Jn feinen jungen Jahren machte er die 
Bekanntſchaft Tiebaults, mit dem er geiftig ver- 
wandt zu fein feheint. Dieſes Begebnis ward be 
fimmend für fein ganzes Leben, er widmete fid) 
ganz der Pſychologie, fammelte in mehr als 20 


Jahren, während welder er im Dienfte der Mebi- 
sin die Hypnoſe anwandte, ein bedeutendes Er- 
fahrungsmaterial über die menſchliche Pſyche, aus 
dem fid ſchließlich feine heute bereits über die ganze 
Welt verbreitete Autofuggeftionsmethode — oder 
wie man in England fur; fagt: „Der Couéismus“, 
entwicfelte. Damit ward Coué der Begründer „ber 
neuen Schule von Nancy”, deren tiefen Erfennt- 
niffen und wunderbaren Erfolgen auf pſychiſchem 
Gebiete fih auch Fein Laie mehr verfchließen follte. 
Täglich ziehen aus allen Teilen der Welt Kranke 
und moralifch oder feelifch Leidende gen Nancy, 
und Taufend und aber Taufend find gefund oder 
gebeflert und faft immer froh und glücklich heim- 
gekehrt. Aus dem Jahre 1922 berichtet uns der 
englifhe Arzt Dr. M. S. Monier-Willioms aus 
London, daß Coué jährlih etwa 15000 Kranke 
behandelte, und zweifellos fteigt die Zahl feither be- 


252 


ſtändig. Bedenkt man nun dazu noh, daß nidi 
das geringfte Entgelt verlangt wird, weder von 
Reihen noh von Armen, fo begreift man vielleicht, 
welch uneigennügiger edler MWohltäter der Menid- 
heit wieder einmal zur rechten Zeit erftand. 

Und meldes ift dag wunderbare Mittel, dag fo 
fegenbringend wirft? Es ift fo genial wie einfad: 
fo gewaltig, wie unfcheinbar! Herr Coué vermag 
mit einer nie erlahmenten Hingabe, mit einem 
grenzenlofen, Findlihen Glauben und feiner großen 
Liebe in feinen Patienten das Vertrauen und den 
unverrüdbaren Glauben an fih felbft und an eine 
unauebleiblihe DBeflerung zu weden. Es würde 


mir ſchwer fallen, das nunmehr auffeimende Miß⸗ 


trauen des Tefers zu zerftreuen, könnte ich nicht auf 
die Unmenge Geneſener verweifen, und auf die 
große Anzahl von Aerzten und Gelehrten — an 
ihrer Spige Prof. Dr. Baudouin aus Genf, Dr. 
Monier-Williams, der in London eine Klinik ein- 
gerichtet hat, wo nad Coué’ s Methode mit wunder- 
baren Erfolgen gearbeitet wird. 

Mit gleihem Erfolge wirkt in Berlin in einer 
der Univerfitätsflinifen Dr. med. Brauchle. Aud 
in Wien, in der Schweiz, ganz befonders in 
Amerika — auch in Holland und Italien — bat 
Coués Lehre längft feften Fuß gefaßt. 

Dem engen Raum entiprehend will ih fo ge- 
drängt wie möglich verfudhen, die Richtlinien, die 
zum Goueismus führten und die Anwendung der 
Methode felbft zu zeigen. Jedoch möchte ih nicht 
unterlaflen, auf die beiden Büchlein Coué's zu ver- 
weifen, die bei Benno Schwabe in Bafel erfchienen 
find: „Was id tat”, befonders aber: „Die Selbft- 
bemeifterung dur bewußte Autofuggeftion.”' 

Es muß zunädhft jeder willen, der fi mit Hyp- 
nofe, Suggeftion oder Autofuggeftion befaßt, daß in 
jedem Menſchen gewiflermaßen zwei Individuen ver- 
förpert find. Dag eine nennt man fein Bemwußtfein; 
man könnte eg vielleicht die „gegenwärtige, momen- 
tane Perſönlichkeit“ heißen, während dag zweite 
unfer Unterbewußtfein darftellt, das ich entiprecdhend 
„die in ihrer Geſamtheit nicht ftets gegenwärtige 
Derfönlichkeit unferer ganzen Dergangenheit und 
Gegenwart” nennen möchte. Der eminente Wert 
des Unterbewußtfeins wird nur von wenigen flar 
erfannt und dodh bewahrt es gerade als Träger 
unferes Gedächtniſſes die Reſultate unferer Er 
ziehung und unferer gefamten Erfahrungen und hält 
fie dem Bewußtſein bereit, um mit diefem Meferve- 
material denten und handeln zu Eönnen. - Ferner 
ift es das Unterbewußtfein, das unferen ganzen 
vegetativen Funktionen vorfteht, ih nenne nur die 
Herztärigkeit, (Blutkreislauf), Atmung, Werdau- 
ung, Seftionstätigfeit der Drüſen — alles Funt- 
tionen, die wie noh viele andere, völlig unbemwußt, 
ebne unferen Willen vor fih geben. Es mag 


Heilung und fcelifhe Erziehung durch bewußte Autoſuggeſtion nah Coué. 


parador erfcheinen, daß das Unterbewußtlein dem 
Bewußtſein weit überlegen fein fol, ja faft unfere 
ganze Perſönlichkeit ausmacht; dodh dafür bringen 
den Beweis Prof. Freud und alle Pſychologen. 
Wem der Sinn und der Wert des Unterbewußt- 
feing aufgeangen ift, dem ift auh Coués Lehre 
tlar. 

Die Funktion des Bewußtſeins it ver Wille, 


die Funktion des Unterbewußtfeins der Glaube, 


die Einbildung; aud das lehrt ung die Pip- 
chologie! 

Und wie ein Echo dazu antwortet die Philoſophie: 
„Es gibt keine abſoluten, ſondern nur relative 
Wahrheiten.“ — Da, wo der Wille dem Glauben 
entſpricht, wo Beide gleichgerichtet ſind, treffen wir 
den idealen Tatmenſchen. Wo hingegen der Wille 
mit dem Glauben in Konflikt gerät, iſt es ſtets der 
Wille, der unterliegt, und der Glaube, der den Sieg 
davon trägt. Der Schlafloſe „will“ ſchlafen, aber 
ſein Unterbewußtſein ſagt ihm immerzu: „ich kann 
nicht”. Erft wenn fein Unterbewußtſein überzeugt 
ift, daß er fann, fchläft er ein. — Jedermann geht 
mit Leichtigkeit auf einem auf dem Boden liegenden 
‘Brett, während es faum einer unternimmt, über 
das gleiche Brett zu gehen, wenn es fo angebracht 
ift, daß es 3. B. die Spigen einer doppeltürmigen 
Kirche verbindet. Warum niht? Man glaubt nicht, 
daf man’s fann, und deswegen hat man Angft. Der 
Dachdecker hat feine Angft, denn er glaubt, daf er 
auf dem Dad hantieren fann. — Der Mor- 
phinift, dem man inggeheim das Morphium” ab- 
gewöhnt, glaubt, daß er das Morphium, das viel- 
leicht nur nod in ganz geringer Dofis oder fogar 
gar nicht mehr in feiner injizierten Töfung vorhanden 
ift, — ibn ſchlafen maht. Sein Glaube ift ftärfer 
oder doch ebenfo ftarf, wie dag ftarkwirfende Gift. 
— Derartige Beifpiele fann man bis ing Unend- 
liche weitermodellieren, man findet deren unzählige 
für Gefunde und Krante. 

Mit diefen Betrahtungen haben wir den erften 
Hauptſatz der Couéſchen Methode gefunden; er 
lautet: 

1. Der Glaube ift unfere bedeutendfte inner: 
Kraft, kommt er mit dem Willen in Konflikt, fo 
muß unmweigerlih der Wille jedesmal unterliegen. 

Der zweite lautet: 

2. Jeder Gedanke in uns ift beftrebt, Wirklich 
feit zu werden, bedeutet für dag denfende Jndivi- 
dium fchon eine Wirklichkeit. (Bernheim.) 

Aus diefen beiden Sägen ergibt fih dann die not- 
wendige Folgerung: 

3. Wir müflen lernen, unfere Einbildungstraft, 
die uns in allem führt, in dem Sinn zu beein- 
fluffen, daß fie unfere Ziele und Wünſche gedanklich 
jo lange fefthält, bis diefe zur Wirflichfeit gewor- 
den find. 


[nm Um mn m a 


Diefe drei Säge bilden den ganzen Kern, um den 
berum fi Coué's Heil- und feelifhe Selbiterzie- 
hbungsmethode gruppiert. 

Es entftebt nur nod die Frage: „Wie lenken wir 
unfere „Einibldungskraft? Und da antwortet uns 
Coué: „durd eine gewollte und bew u f te Auto- 
fuggeftion.” Durch Autofuggeftion lenken wir alle ja 
ſchon immer unfer Tebensichifflein, nur ift fie eben 
bei febr wenigen Menſchen bewußt; daher bei 
den meiften der fteuerlofe Kurs. Dazu nun gab 
uns der alte Meifter von Nancy eine Methode von 
geradezu Eindliher Einfachheit, die man dumm” 
nennen mödte, würde man nicht feine ganze Geni- 
alität in ihr finden: Jeden Morgen und jeden 
Abend, am beften zu Bett, wenn der Körper fih 
in abfoluter Ruhe befindet, flüftere obne die ge- 
ringfte Anftrengung, ohne die Aufmerffamteit 
krampfhaft auf irgendetwas zu lenfen in monotoner 
Meife die Worte vor dih hin: „Es geht mir von 
Tag zu Tag in jeder Beziehung beffer und beffer.” 
(Tous les jours à tous points dé vue je vais 
dé mieux en mieux) — und dag 20 Mal pinter- 
einander, womöglih, um nicht mit Aufmerffamfeit 
zählen zu müſſen, indem man dabei einen Bind- 
faden mit 20 Knoten wie einen Roſenkranz durd 
die Finger gleiten läßt. Kleinerer Uebel, die fiw 
plöglic über Tag einftellen, Fann man leicht Herr 
werden: Man zieht fih ein wenig zurüd und ftreicht 
mit der Hand über die fhmerzende Stelle, wenn es 
ſich um ein phyſiſches Uebel handelt, — über die 
Stirn bei folgen moralifher Art und ſpricht daber 
fo ſchnell wie möglih, daß gar fein anderer Ge- 
danke fih einzufchleichen vermag, die Worte vor fih 
þin: „Es ſchwindet, es ſchwindet“ ... . ufmw. 
(das franzöfiihe ga passe, ga passe .. . ufw. 
ift für ein fchnelles Ausſprechen zweifellos ge- 
fhmeidiger.) Mit ein wenig Uebung bringt man 
es bald dahin, dag man derartige Schmerzen und 
Uebel in 20-25 Sekunden vertreibt. — 

Auf diefe Weife ‚‚tropft” man gewiflermaßen in 
fein Unterbewußtfein den Glauben und die fefte 
Ueberzeugung hinein: „Ich fann” oder es gebt” — 
und der Erfolg ift geradezu unausbleiblid — felbft- 
verftändlich darf es fih nur um Dinge handeln ‚die 
im Bereich der Möglichkeit liegen, da ift aber der 
Erfolg ganz unbedingt fiher, wenn man nur richtig 
glauben fann und dabei Feine Anftrengungen madır, 
d. h., den Willen ganz ausſchaltet. Nur in völliger 
Förperliher Entipannung fann man fo zu feinem 
Unterbewußtfein fprehen. Aus feinem alltäglichen 
Worterſchatz empfiehlt Coué dringend die Worte zu 





Die Duantentheorie. Son B. Bavint. 





Don mehreren Seiten bin ih gebeten worden, 
eine „volkstümliche, Teichtverftändlihe Darſtellung“ 


Die Quantentheorie. 


253 





ſtreichen: „ich kann das nicht“, oder „das ift ſchwie— 
rig“ und ähnliche, die nur unfer Unvermögen aug- 
drüden, um fie fed und vertrauensvoll durd ent- 
gegengeſetzte zu verdrängen. 

Schließlich dürfte noh die Frage intereflieren. 
Was wird mit diefer Methode erreiht? Ich fann 
fie nur febr unvollfommen beantworten. denn, — 
um die „Wunder von Nancy“ zu faflen, bedarf es 
zweifellos einiger Bände. Es werden alle Kate» 
gorien nervös und organiſch erfranfter Patienten 
— meift mit Erfolg — behandelt. Unantaftbare, 
völlige Heilerfolge liegen vor von Kranfen, die 
drei, fünf und zehn Jahre und noh länger ihr Bern 
niht verlaffen baben, ferner unzählige Zeugnifle 
über SHeilungen von: „Meurafthenifern”, Melan- 
Eolifern, Schwerbörigen, Augenfranfen, Stotte- 
rern, Halbfeitiggelähmten, Haut, Magen, Darm- 
und Lungenfranfen. Dazu kommt die große Anzahl 
moralifh Geheilter: Kleptomanen, Jaähzorniger, 
Zrunfenbolde uſw. ufmw. 

Bei alledem greift Coué weder eine medizinifche 
(er rät ernftlih zur Behandlung dur den Arzt) 
noh weniger eine religiöfe Auffaffung an. 

Eine ganz pradtvolle Erziehungsmethode gibt 
dann Coué noh den Müttern und Vätern. Einer 
von beiden fol des Nachts geräufhlos in etwa 
1 Meter Entfernung dem fchlafenden Kinde etwa 
20 Mal halblaut vorflüftern, was man von ihm 
erreichen will (gefundheitlih oder erzieherifh) und 
dann ebenfo geräuſchlos wieder verſchwinden. Aut 
diefe Weife erreichte ich nach zwei Abenden, daß mein 
4jähriger Junge feine Finger nicht mehr Tutfchte. 
In der angegebenen Weife habe ich ihm vorgefagt: 
„Hanſel Tutfcht jest nie wieder an feinen Fingern.‘ 
Der Erfolg war verblüffend, vorber half Fein 
Drohen, fein Strafen, fein Bitten und fein Be- 
lohnen. — Ebenfo gibt es fein wirffameres Mittel 
gegen das Mägelfauen, Bettnäflen und noh mandes 
andere. 

Dem [Lefer bleibt es nunmehr überlaflen, ent- 
weder Eopffchüttelnd ungläubig diefe Mitteilungen 
hbinzunehmen, oder durd ein genaueres Studium 
und eigenen Verſuch zu erproben, feine eigene bisher 
unerfannte Kraft aufzurufen, um fo manden ftillen 
Wunſch zu erlangen, fo manhe Sehnſucht zu be- 
friedigen und fih von feinen Teiden phyſiſcher 
und moralifher Art zu befreien, um die Welt in 
einem freundlihen Glanz erftrahlen zu feben, oder 
zum mindeften ein trauriges Schidfal erträglich zu 
geftalten. 

& 


Ge; 


des Inhalts der Duantenlehre zu bringen, von der 
man beute fo oft höre. Die Herren Einfender 





254 Die Quantentheorie. 


fcheinen fih eine ſolche Aufgabe leichter vorzuftellen 
als fie ift. Don allen Naturwiflenfchaften ift die 
Phyſik gewiß an fih die fchwierigfte und von allen 
Zweigen der Phyſik die theoretifhe Phyſik wieder 
der fchwierigite für den Laien. Trotzdem hat der 
letere ein gewifles Recht darauf, daß der Fad- 
mann immer wieder mwenigftens den Verſuch macht, 
ihm die grundſätzlich wichtigen Ergebniffe der For- 
{hung in einer folden Form vorzutragen, daß er 
bei einigem fcharfem Mitdenfen begreifen Fann, 
worum es fih handelt und wenigftens eine unge- 
fähre Ahnung befommt, weshalb die Fachwelt von 
diefen in Nede ftehenden Dingen fo viel Aufſehens 
maht. In diefem Sinne will ih auh hier ver- 
fuchen, zu fagen, was fih vor Laien über die geniale 
Idee Plands und ihre Auswirkungen im phy- 
fifalifchen Lehrgebäude fagen läßt. Wer es nicht 
verftehen fann, ſchimpfe nicht, fondern bedenke, daf 
unter unferen Leſern mande andere fein mögen, die 
etwas davon haben. | 

Am beiten kommt man auh beute noh der 
Quantenlebre auf dem Wege nahe, auf dem fie 
geihichtlih in die Phyſik hineingefommen ift, von 
dem Gefeg der Strahlung aus. Befanntlid wird 





Abb. 1. Spektrum, dur Prisma erzeugt. 


die von einem glühbenden Körper ausgejendete 
Strahlung durdi ein Prisma oder andere Zer- 
legungsapparate in ein „Spektrum“ auseinander- 
gezogen (Abb. 1), deffen einzelne Farben fih phyfi- 
Falifh durch die Wellenlänge bezw. Schwingungs- 
zahl unterfhheiden. (Die Wellen des roten Endes des 
fihtbaren Spektrums haben eine Wellenlänge von 
rund 760 Milliontel Millimetern, eine Schwin- 
gungszahl von rund 400 Billionen in der Se- 
Funde. Die des violeften Endes eine rund halb 
fo große Wellenlänge und doppelt fo große Schwin- 
gungszahl, liegen aljo akuſtiſch geiproden gerade 
eine Oktave höher.) Nun geht aber das Spet- 
trum beiderfeits, wenn auch dem Auge unfidhtbar, 


weiter ing „Ultrarot“ und „Ultraviolett. Man 
hat eg erperimentell nah der erfteren Seite nod 
um faft 9 Oktaven, nadh der anderen um faft 4 
Dftaven erfolgt. (©. die Wellenlängenffala” 
Abbildung 2). As Aufnahmeapparat dienen 
teils die photographifhe Platte (im Ultraviolert 
und dem Anfang des Ultrarot), teils höchſt empfind- 
lihe XIihermometeranordnungen, von deren faft 
fabelhafter Leiftungsfähigfeit man fih einen Be- 
griff macht, wenn man hört, daß fie noh die Strah- 
lung einer gewöhnlichen Kerze in 100 Meter Ent- 
nung anzeigen, und daß man mit ihnen fogar die 
vom Sirius oder der Wega und ähnlichen ftarf 
leuchtenden Firfternen zu uns gelangende Strah- 
lung meflen fann. Diefe lesteren Apparate Fann 
man prinzipiell im ganzen Speftrum verwenden; 
fie werden allerdings für die an Intenſität raſch 
abnehmenden ultravioletten Strahlen bald zu un- 
empfindlich. Was fie regiftrieren, it nämlih nur 
die in den Strahlen des betreffenden Speftralaus- 
ſchnitts enthaltene Energie, die in dem Apparat in 
Wärme verwandelt und als foldhe gemeflen wird. 


Der Lefer denfe fih nun mit einem folden 


Apparat das gefamte Spektrum, das unfihtbare 


wie das fihtbare, ausgemeflen, indem man 
überall einen möglichft fchmalen Streifen da- 
von herausfchneidet und die in diefem enthal- 
tene Strahlenenergie mißt. Dann möge in 
einer Figur auf einer wagerechten Geraden 
(Abſziſſenachſe) die mittlere Wellenlänge jedes 
diefer fchmalen Ausschnitte vermerft und ale 
; Ordinate ſenkrecht dazu die gemeflene Energie 
aufgetragen fein. Man erhält fo eine Kurve 
der in beftehender Figur 3  angedeuteten 
| Form, aus der man mit einem Blid die 
| Energieverteilung im Spektrum erfennt. Man 
fiebt, daß in dem vorliegenden Falle der un- 
teren Kurve (bei etwa 1000 Grad Tem- 
peratur des ftrahlenden Körpers) die größte 
Energie noh im ultraroten Gebiet liegt, 
daf fie von hier durd das fihtbare Gebiet hin- 
durch raſch abnimmt und ſchon im Anfang des 
Ultraviolett unmerflih wird, während fie nadh der 
anderen Seite ing Ultrarot, d. h. nad) den längeren 
Wellen hin langjamer abfällt. Diefen Verlauf 
zeigt die Kurve im allgemeinen ftets, nur ändert 
fidh die Lage des Energiemarimums mit der Tem- 
peratur und zwar fo, daß es mit fteigender Tempe- 
ratur immer weiter nach den Fürzeren Wellen (d. h. 
von rot nad violett hin) hinrückt (wobei aber gleidh- 
zeitig die ganze Kurve fih hebt, fo daß nie eine 
böbere die niedere überſchneidet). Nahdem eine 
Reihe erfter Erperimentalpbyfifer diefe Meflungen 
mit größter Präzifion ausgeführt hatten, entftand 
die weitere Frage, welches Gefeg denn nun eigent- 
ih diefe Energieverteilung beftimmt und warum 


Die Quantenthbeorie. 


— — — — — — — — — — ——— ——— — ——— ———— nn — —— — 


es gerade dieſes und Fein aideres Geſetz it. Die 
erſte Frage iſt zunächſt nur eine Sache des mathe⸗ 
matiſchen Geſchicks. Es gilt eine mathematiſche 
Formel zu fin- 





——f ......... Ja 5 den, ‚bie die 
|g = -/2 a Energie in ihrer 
S| °%8 Fe Abhängigkeit 
S| E IE 22 von der Wellen- 
|” 4f B° länge einerfeits 
* $5- &e länge eine i 
a A der Temperatur 
$- 55 andererſeits ſo 
23 N 5 darftellt, wie es 
x: Ya eg Diele Kurven 
= * g 22tatſächlich zei- 
E 25 gen. Aber eine 
J S s® folde Formel 
£z- ER. F war in biefem 
32 > 52 Falle niht ein- 
| s>. fadh zu finden, 
$ sg ba das Geſetz 
fx ~ Eg offenbar ein 
5 Ss =5 ziemlich ver- 
f; 3» wickeltes ift. Es 
Fi q $° iſt häufige, 
F- ĀU DEn dag diefe Auf- 
S _ N“ aez gabe nur zufam- 
= SSF men mit der 
= 9% 
85° zweiten, der Er- 
È sg* Märung bes 
S > 272 fraglihen Sach⸗ 
z 85” verhalts ausal- 
v az gemeineren 
E E 35 theoretiſchen 
== Vorſtellungen, 
z| K z! gelöft werben 
HA fanm, und fo 
— E SS ging es aud 
_2|_.N...4” 92 bier. Vorläufig 
S se fand man nur 
E a . 32 einige Sonder- 
S| 58 18 89. geleße, die aus 
5| 28 8o dem noh unbe 
zn. se Fannten alge- 
c S S Je S5 meinen Geſetz 
£ $ Eee In offenbar folg- 
3 57 ge ten. Das wid- 
E| SE tigfte ift das fo- 
f Ya. s 33 genannte Wien- 
| % S ~S ſche Verſchie⸗ 
sE bungsgeſetz wel- 
j 52 des angibt, wie 


fih die Lage des 
Energiemaximums mit der fteigenden Temperatur 
ändert: die Wellenlänge des Marimums ift der ab- 
foluten Temperatur des Strahlers umgekehrt pro- 
portional. Hiernach läßt fih auf Grund der 
Meflung der Wellenlänge des Energiemarimums 


— — — — — — — nn —— —— — — 


die Temperatur des Strahlers berechnen, was 


praktiſch von großer Wichtigkeit vor allem für die 
Aſtrophyſik it (Sonnentemperatur uſw.!) 

An jenen beiden Aufgaben verſuchte ſich nun um 
die Wende des Jahrhunderts auch Planck, der 
ſchon früher auf dem Gebiete der Wärmetheorie 
mit Erfolg gearbeitet hatte. Nach den allgemein 
angenommenen Vorſtellungen der letzteren iſt 
Wärme nichts anderes als die (ungeordnete) Be- 
wegung der Moleküle. Die Strahlung dagegen 
iſt, wie wir ſeit Maxwell wiſſen, elektromagnetiſcher 
Natur; fie beſteht in elektriſchen Wellen von der- 
felben Art, wie wir fie in der Sunfentelegraphie 
gebrauchen. Wie Fommt das fih bewegende Mole- 
fül dazu, Wellen diefer Art auszufenden? Um 
das zu erklären, mußte man notwendig annehmen, 
dag in den Molefülen bezw. deren Beſtandteilen, 
den Atomen der Elemente, irgend welche eleftrifche 
Mechanismen figen, die periodifher Zuftandsände- 
rungen fähig find, und dadurd) das umgebende „Feld“ 
in eben folde periodifche Zuftandsänderungen, d. h. 
eben in eleftromagnetifhe Wellen verfegen. Aud 

140 


130 


120 





—— Energie 


— Wellenlänge 


Abb. 3. Energieverteilung im Speltrum eines glühenden 
feften ((dwarzen) Körpers. 


aus anderen Gründen war man in den legten Jahr- 
sehnten des vergangenen Jahrhunderts zu der Wor- 
ftellung gelangt, daß die Atome ein Bauwerk aus 


256 


eleftriihen Ladungen darftellen, worin befonders 
negativ eleftrifhe Teilen verfchwindend Kleiner 
Mape, die fogenannten Elektronen, Leicht beweglich 
find. Diefe Vorftellung, fombiniert mit jener Tat- 
fahe der Strahlung ergibt ohne weiteres die Hypo- 
thefe, daß es Schwingungen oder periodifhe Um- 
läufe jener Elektronen in den Atomen fein werden, 
die die Ausfendung von Wellen in das Feld ver- 
urſachen. So weit war die theoretifhe Vorftellung 
um 1900 allgemein entwidelt. Sie hatte zudem 
befonders in der Aufflärung des fogenannten Zee- 
mannphänomens (vgl. „Unſere Welt”, 1913, 
Sp. 577) ſchon große Erfolge gezeitigt. Nunmehr 
handelte es fih alfo darum, auf Grund diefer Bor- 
ftellung auh das quantitative Energieverteilungg- 
gefeg im Spektrum abzuleiten. Da aber verfagte 
die Theorie, wie es ſchien, vollftändig. Das Problem 
ftellt fih folgendermaßen: Gegeben ift ein abge- 
fhloflener Raum mit darin befindlichen beliebig 
vielen „Reſonatoren“, d. i. fhmwingungsfähigen Ge- 
bilden (gedacht ift an die Elektronen) aller mög- 
lihen Schwingungszahlen. Wie wird fih die Ener- 
gie zwifchen diefen und dem umgebenden Felde ver- 
teilen müflen, damit Strahlungs - Gleichgewicht 
berrfcht, d. h. damit im Endzuftand jede Art von 
Mefonatoren gerade fo viel Energie in jedem Beit- 
teil aus dem Felde aufnimmt, wie fie an dasjelbe 
abgibt? Rechnet man nun biefes nicht übermäßig 
fhwierige Problem durch, fo erhält man ein Èr- 
gebnis, das mit der Erfahrung durdaus nicht 
ftimmt. Es ergibt fi nämlih, daß die Energie 
flets am größten fein müßte für die Schwingungen 
der größten Schwingungszahl und Feinten Wellen- 
länge. Don einem Marimum der Energie bei einer 
beftimmten Wellenlänge ift gar Feine Rede, die 
Kurve müßte vielmehr von den langen zu den kurzen 
Wellenlängen dauernd anfteigen. Dies Refultat, 
das fogenannte Rayleighſche Strahlungsgefes, 
das offenbar der Erfahrung widerftreitet, ergibt fid 
fo zwangsmäßig aus den allgemeinften Grundlagen 
der bisherigen Theorien, daß man vor einem un- 
erflärlihen Rätſel ftand, bis Pland, wie er 
felber fagt, ‚nad einigen Wochen der angefpannte- 
ften Arbeit feines Lebens” den Schlüffel diefes Rät⸗ 
fels fand. Er liegt in der Richtigſtellung einer 
bis dahin ftillfehweigend und felbftverftändlich ge- 
machten, aber nunmehr von Pl. als unzuläflig er- 
Fannten Dorausfeßung über die Art, wie die Ener- 
gie von den „Reſonatoren“ an das Feld bezw. um- 
gekehrt übergeht. Man hatte nämlich bisher fih 
diefen Vorgang ftets fo gedacht, daß er ein vollig 
fontinuierlider und gleihmäßiger fei, bei dem in 
jedem Augenblid gerade fo viel Energie in der einen 
oder anderen Richtung ausgetauſcht wird, wie dem 
momentanen Zuftandsunterfchied zwifchen den Dei- 
den taufhenden Syſtemen (Feld und Elektron) ent- 


Die Quantentheorie. 


ſpricht. Die Energi®® fonnte, anders gefagt, im 
jeder beliebigen Menge übertragen werden. Was 
Planck mit genialem Blid erkannte, it nun, daß 
diefe Vorſtellung die Urſache des Miberfolges der 
Theorie ift, dap man aber fofort das richtige Re- 
fultat erhält, wenn man fie durch die andere erfegt: 
die Energie Fann ni d t in jeder beliebigen Menge, 
fondern nur in vielfadhen ganz beftimmter Fleinfter 
Duanten übertragen werden, und zwar für jede 
Wellenlänge eines anderen Quantums, dag um fo 
größer ift, je Fleiner die Wellenlänge oder je größer 
die Schwingunggzahl ift. Mit diefer Annahme er- 
gibt fih für das „Strahlungsgeſetz“ eine Formel, 
die mit geradezu idealer Genauigkeit den wirklichen 
Verlauf der Kurve wiedergibt. (Bol. Fig. 3, in 
der die Kreme die gemeffenen Werte die 
Kurven aber das Plankſche Gefen wiedergeben. 
Um fih den Grundgedanken in einem Bilde zu ver- 
anfhaulichen, denfe man daran, daß 3. B. Geld- 
fummen ja aud nicht in jedem beliebigen Quantum, 
fondern nur in Vielfachen eines beftimmten flein- 
ften Quantums, 3. DB. des Pfennigs, übertragen 
werden fünnen. So fteht es alfo aub mit der 
Energieübertragung zwifhen Atomen und Feld. Die 
Trage taucht dann allerdings fofort auf, warum 
das denn fo ift. 

Um hierin Flarer zu ſehen, muß man zunächſt be- 
achten, daß, wie fhon erwähnt, ber Betrag des 
Eleinften übertragbaren Quantums Energie für jede 
Wellenlänge einen anderen Wert bat. Er ift mit 
der Schwingungszahl direft proportional, alfo 3. B. 
für das rote Ende des fihtbaren Spektrums nur 
etwa halb fo groß wie für das violette Ende. Dies 
läßt fit) mathematiſch fo ausdrüden, daB der in 
Rede ftehende Energiebetrag E glei dem Produft 
aus der Schwingungszahl n und einer feftftebenden 
(Eonftanten) Zahl h ift. Man fchreibt dement- 
iprebend E = n.h., Wie groß diefer Tonftante 
Saftor h ift, ergibt fid durch Ausmeffung der 
Strahlungsfurve; er beträgt nad den beften neue- 
ften Verſuchen 6,53 . 10-7, wenn man die Energie 
in abfoluten Einheiten [Erg')] und die Zeit in 
Sekunden mißt (N alfo die Schwingungszahl in der 
Sekunde bedeutet). Diefer Faktor h hat num 
offenbar eine ganz eigenartige Bedeutung. Er ift 
eine fogenannte univerfelle Konftante, d. H. er bat 
nichts mit irgend welcher befonderen Beichaffenheit 
der betreffenden ftrahlenden Materie zu tun, mit 
ihrer hemifchen Natur oder dergleihen. Er regelt 
nur ganz allgemein den Uebergang von Energie aus 
der Materie an das eleftromagnetifhe Feld und 
umgefehrt. Er bedeutet aber felber Feine Energie, 


Anm. 1. Erg ift die Arbeit, die man leiftet, wenn 
man den Widerftand der Kräfteeinbeit 1 Dyn. längs I cm 
Meg überwindet Cie beträgt den 9,81 . 1O- ten Teil 
eines Meterkilogramms. 


— 


fondern eine Größe anderer Art. Was für eine? 
Wir können die Schwingungszahl n Teiht durd 
eine andere Größe erfegen. Macht ein fhwingen- 
des Syftem n Schwingungen in der Sefunde, fo 
dauert die einzelne Schwingung den Nten Teil einer 
Sekunde. Bezeichnen wir diefe „Schwingungs- 
dauer” alfo mit t, fo it t = "In. Demnad ift, 
wenn wir die obige Gleihung E = h . n beider- 
feits durch N dividieren und dabei links für E/n 
jest E . t fegen, diefes Produft E . t = h. Das 
ergibt dann für dieſen univerfellen Faktor h den 
Sinn, dag er das Produkt vorſtellt aus der 
bei einer Shwingung übertragenen 
Energie in die Zeitdauer dieſes 
Shwingungsvorganges Ein foldes 
Produkt aus Energie und Zeit ihrer Uebertragung 
heißt nun in der Mechanik feit Euler und 
Gauß „Wirkung. Das Plandfhe Er- 
gebnis befagt alfo dann eigentlich diegs, da ß diefe 
„Wirkung im Gebiete der Atom- 
phyfifeine feſtſtehende Naturfon- 
tante it. Man beadte wohl: die Wir- 
tung, nicht die Energie. 

Ehe wir die weitere grundfäglihe Bedeutung 
diefes Ergebnifles erörtern, ift es nötig, darzulegen, 
wie fi) die Entdedung Plands in der übrigen 
Phyſik ausgewirft hat. 

Wenn es eins der Kennzeihen für die Braud- 
barkeit, — ich meinesteils würde lieber fagen für 
den Wahrheitsgehalt —, einer phnfifalifchen Hypo- 
thefe ift, daß fie mehr erflärt, ale dag, wozu fie 
eigentlich aufgeftellt war, fo darf man der Plan d- 
{hen Hypotheſe mehr wie jeder anderen neueren 
Hypotheſe diefes Lob ausiprehen. Es ift geradezu 
erftaunlich, was alles in fürzefter Zeit die Forſchung 
aus diefem neuen Gedanken herausgeholt hat. Nur 
weniges davon fann bier furz erörtert werden, da 
es zumeift nicht ohne Mathematif abgehen würde, 
wollte ih auh nur etwas tiefer auf die Materie 
eingehen. Ganz fur; muß ib aus diefem Grunde 
hinweggehen über den erften durdichlagenden Er- 
folg der neuen Theorie, den fie neben ihrer ur- 
fprünglichen Leitung, der Aufhellung des Strab- 
Iungsgefeges, zu verzeichnen hatte. Er liegt eben- 
falls noh auf dem Gebiete der Wärmelehre und 
zwar in der fogenannten Theorie der feften Körper. 
Die Wärmelehre betrachtet, wie fhon oben erwähnt, 
die Wärme als ungeordnete Bewegung der Mole- 
füle und Atome. Seit Clauſius diefer Theorie 
1856 wieder Eingang in die Phyſik verfchaffte, ift 
fie befonders für die gasfürmigen Körper, daneben 
auh in beichränfterem Umfange für Flüffigfeiten 
durdhgearbeitet worden. Hingegen machten die feften 
Körper ihr große Schwierigkeiten, weil wir eg bei 
ihnen mit den febr ftarfen, aber faft ganz unbefann- 
ten Kräften zu tun baben, die die Moleküle in ihrer 





Die Quantentheorie. 


EINER ll 


— — —— — — — h — 


relativen Lage gegeneinander feſthalten und ihnen 
nur Pendelſchwingungen um diefe Lage herum ge- 
ftatten. In diefe bis dahin der mathematiſchen 
Theorie faft unzugänglich gebliebenen Fragen bradıte 
nun die Quantenhypotheſe, und zwar befonders in 
der Hand von Einftein, Klarheit. ‘Das näher 
auseinanderzufegen, würde ein fo weites Ausholen 
in die Theorie der fogenannten fpezififhen Wärme 
erfordern, daß ih bier darauf lieber verzichten 
mödhte. 


Leichter wird der nicht phyſikaliſch geichulte Lefer 
eine weitere bedeutfame Leiftung der Duantenlehre 
verftehen, die wir ebenfalls Einftein verdanken, und 
die vor anderen Dingen deffen Namen allen Phy- 
fifern längft wohlbefannt gemacht hatte, ehe er durd 
die Relativitätstheorie zum weltbefannten Manne 
wurde. (Mebrigens hat er für diefe hier in Rede 
ftebenden Leiſtungen auch den Nobelpreis erhalten, 
nicht für die Melativitätstheorie, offenbar weil die 
Kommiffion fih fcheute, in den noh ſchwebenden 
Streit über diefe einzugreifen. Verdient hat er 
ihn auch durch jene reichlih.) Um das zu verftehen, 
muß der Lefer fih zunächft erinnern an dag, was er 
einmal von Kathodenftrahlen gehört und gelefen 
hat. (Bol. „Unſere Wert” 1922, Sp. 122.) Das 
find befanntlih Strahlen ganz anderer Natur als 


die oben erörterten Liht- und Wärmeftrahlen des 


fihtbaren und unfihtbaren Spektrums. Sie be- 
ftehben nicht wie diefe aus Wellen, fondern aus von 
der Kathode, dem negativen Pol einer Geißler- 
fhen Möhre, ausgefchleuderten Fleinen Teilchen, 
eben den oben fhon erwähnten Elektronen, die wir 
als Unterbeftandteile aller Atome annehmen müffen. 
Bei der gewöhnlichen Erzeugungsart diefer Kor- 
pusfularftrahlung” in Iuftleeren Nöhren werden 
diefe Teilchen aus der Kathode dur die dort Herr- 
ſchende ftarfe eleftrifche Spannung herausgetrieben. 
Man fann fie aber auh auf andere Weife aus 
blanfen Metalloberflähen heraustreten laffen, näm- 
lih einerfeits, wenn man diefe Metalle ftarf erhitzt 
(Eleftronenröhre), andererfeits wenn man fie 
belid tet. Von diefer legteren Art, den Photo- 
kathodenſtrahlen“, ift hier zu reden. Die erfte Be- 
obachtung diefer Art machte ſchon im jahre 1888 
Hallwachs. Er zeigte, daß ein mit einer blanf 
gefcheuerten Zinfplatte verbundenes Elektroſkop 
eine negative Ladung, nicht aber eine pofitive, raih 
verliert, wenn (möglichft intenfives) Licht darauf 
fällt, und zwar wirfte das Lidt um fo ftärfer, je 
reicher es an Furzwelligen Strahlen, alfo blau und 
violett, war. Daß es fih hierbei um die Erzeugung 
von SKathodenftrahlen handelt, ift allerdings erft 
viel fpäter nachgewieſen. (Der Hallwachs-Effekt 
ifi Teicht mit den einfachften Mitteln zu zeigen. Man 
muß nur die Zinkplatte vor dem Verſuch forgfältig 
mit Schmirgel blank pugen.) Die Unterfuhungen 








diefes heute meift fogenannten Tihteleftri- 
hen Effektes ergaben nun ein merfwürdiges 
Mefultat. Es gibt eine fehr genaue Methode zur 
Seftftellung der Geſchwindigkeit folder den Raum 
durchfliegenden eleftrifch geladenen Teilchen, näm- 
lich die Meflung ihrer Ablenfung dur ein elef- 
trifhes und durch ein magnetifches Feld. (Wal. 
„Unſere Welt” 1921, Spy. 124.) Bei diefen 
Verſuchen ergibt fih zweitens der Wert des Wer- 
bältniffes von Ladung zu Mafie diefer Teilchen, 
und da man die Ladung derfelben, das fogenannte 
elektriſche Elementarquantum, genau beftimmen 
fann, fo hat man auf diefe Weile auh die Maffe 
der Teilchen, welche fih etwa 1800 mal Fleiner 
als die eines Waflerftoffatoms ergibt. Nun ift 
das halbe Produkt aus Mafie und Gefchwindig- 
Feitsquadrat die Bewegungsenergie eines 
bewegten Körpers. 
geben alfo aud diefe und zwar mit fehr großer 
Genauigkeit. Das it nun weiter nihts Wunder- 
bares, das Wunderbare kommt erft jest. Die 
Energie diefer Teilchen erwies fid 
nämlihalsunabhbängigvonder Jm 
tenfitätdeg fie auslöfenden Lichts. 
Das war gegen alle Erwartung, man hätte dod 
denken folen, daß je intenfiver das Licht, deſto 
größer auh der Energiebetrag fein würde, den bie 
Elektronen auf ihre Bahn mitbefümen. Diefe 
Erwartung erwies fih alfo als fatih. Eine Er- 
höhung der Tichtinsenfität hatte vielmehr lediglich 
eine Dermehrung der Anzahl der fliegenden 
Teilchen, nicht aber eine Erhöhung ihrer Ge- 
fhwindigfeit, alfo ihrer DBemwegungsenergie, zur 
Folge. Wollte man diefe erhöhen, fo mußte man 
nicht die Intenſität, ſondern — und das ift eben 
das Merkwürdigfte — die Wellenlänge des 
auslöfenden Lichtes ändern. Je fürgernäm- 
lich diefe ift, deto größer wurde 
jene Energie. Führen wir flatt der Wellen- 
länge die Schwingungszahl ein, fo gilt umgekehrt: 
je größer die Shwingungszahl,um 
fo größer aud die Energie der da- 
durch ausgelöften Photofathoden- 
firablen. ber noh nicht genug: Maht man 
den Verſuch für mehrere verſchiedene Metalle, fo 
ergibt fih quantitativ für alle die gleiche Wer- 
größerung der Bewegungsenergie bei gleicher Er- 
höhung der Schwingungszahl. Bei jedem Metall 
wird die in Rede ftehende Energie dargeftellt durd 
die Formel E = h.n — Eo, oder E + Eo = 
h.n. Hierin bedeutet Eo eine für jedes Metall 
verfchiedene Größe, die man Ablöfungs- 
energie nennt. Ihr Sinn ift der, daß eg 
offenbar zunächſt eine gewifle Arbeit Foftet, die das 
Licht leiten muß, um das Eleftron aus dem Wer- 
bande des Metalle abzulöfen. Diefe Arbeit ver- 
mehrt um die Bewegungsenergie, die das Elektron 


Die Quantentheorie. 


Die genannten Verſuche er- 





mitbefommt, ift dann die gefamte Arbeit, die das 
Liht abgegeben bat. Diele Gefamtenergie aber 
ift, wie die zweite Formel ausweift, dann mit der 
Schwingungszahl n proportional, der Faktor aber, 
der für alle Metalle der gleiche ift, ift Eein anderer 
als — Plands Konftante. (!) Hier haben wir 
alfo einen zweiten und nunmehr einen viel über- 
fihtliheren Fall dafür, daB die Energie, die vom 
Feld an die Materie übergeht (vom Licht ang Clet- 
tron) = h . n ift. Mande neuere Darftellungen 
der Quantentheorie gehen deshalb mit einem ge- 
wiſſen Recht von diefer Erfcheinung überhaupt 
aus. 

Iſt Thon diefe Beftätigung der Plan d fchen 
Grundbeziehung, und zwar mit febr großer quan- 
titativer Genauigfeit — man fann heute die Kon- 
ftante h faft fo genau auf diefem Wege wie auf 
dem des Strahlungsgefeges finden — bemerfens- 
wert genug, fo wird bdiefer ſchöne Erfolg ber 
Theorie doh weit in den Schatten geftellt durd 
das, was nun folgte. Die Duantentheorie erwies 
ſich nämlih als niht mehr und nit weniger als 
der lange gefuhte Schlüffel zum Eindringen in den 
inneren Bau der Atome felber. Dap ein Atom 
ein febr vermwideltes Bauwerk fein müffe, „kompli⸗ 
jierter als ein Klavier” nah Rowlands be- 
fanntem Wort, wußte man fhon lange. Wir 


müſſen das fchließen, wenn wir daran denken, wie 
verfchieden die chemiſchen Eigenfchaften der ver- 


fhiebenen Atome find und vor allem, wie ver- 
widelt die Tichtwellen find, die von den verſchiede⸗ 
nen Atomen ausgehen, falls diefe in den Gafen 
frei beweglich find. Ein glühendes Gas fendet im 
Unterſchiede von dem oben allein ins Auge gefaß- 
ten glübenden feften oder flüffigen Stoff befannt- 
lich nicht Licht aller möglichen Wellenlängen (ein 
fogenanntes Fontinuierlihes Spektrum), fondern 
nur Licht ganz beftimmter einzelner ſcharf begrenz- 
ter Farben, ein fogenanntes Tinienfpeftrum 
aus. Hierauf beruht, wie heute wohl allgemein 
in jeder Schule gelehrt wird, die fogenannte Spet- 
tralanalyfe. Man erfennt 5. B. das Natrium 
daran, daß ein Körnchen der zu prüfenden Sub- 
ftanz, in eine farblofe Bunfenflamme gebradt, 
diefe gelb Teuchten maht. Zerlegt man das Licht 
mit dem Prisma, fo erhält man in einem ganz 
ſchwach Teuchtenden Grundfpeftrum eine febr helle 
gelbe Linie der Wellenlänge 0,000 589 mm, bie 
fih übrigens bei ftarfer Vergrößerung als eine 
Doppellinie ausweift, daneben eine Anzahl nur bei 
Dergrößerung fihtbar werdender ſchwächerer Linien 
anderer Farben. An diefer Tinienverteilung ift 
dag betreffende Element, bier alfo das Natrium, 
mit abfoluter Sicherheit zu erkennen. Es gibt 
nun aber Elemente, wie 3. B. das Eifen, die eine 
ganz unheimlihe Menge folder Linien in ihrem 
Speftrum aufmweiien (viele Taufende, wenn man 


LI Ton I 


genau unterfuht). Eine Summe fo Tomplizierter 
Schwingungen fann offenbar nur ausgefandt wer- 
den, wenn der erzeugende Mechanismus felber 
einen recht verwidelten Bau befist. Hinter diefen 
zu fommen, das war nun das ftille Ziel aller der 
umfangreihen Speftralunterfuhungen, die die 
Jhr feit Entdedung der Speftralanalyfe durd 

ichhoff und Bunfen (1860) ausfüllen. 
Zunächſt galt es, aud bier erft einmal Ordnung 
in dag fheinbar hoffnungslos unüberfehbare Chaos 
diefer Liniengewirre zu bringen. Den entfdeiden- 
ten Schritt hierzu verdankt die Wiffenfhaft einem 
halben Dilettanten, dem Schweizer Schullehrer 
Palmer Er erkannte 1885 in dem einfad- 
ften aller Speftren, dem des Waflerftoffs, das der 
linienanordnung zugrunde liegende Gefeg. In ber 
beute gebräudlichften Saffung lautet dasfelbe fol 
gendermaßen: Waflerftoff gibt ein Speltrum, das 
mit einer roten Linie beginnt. Dann folgt eine 
blaugrüne, darauf eine dunfelblaue, eine violette 
und darauf mit raſch abnehmender Intenſität eine 
immer dichter werdende Reihe von Linien, die fid 
ſchließlich einer ſchon im Ultraviolett gelegene, Grenz- 
linie” nähern. (Abb. 4). Die Schwingungszahlen 
diefer Serie von Linien laffen ſich durd die Formel 








. (M — me) darftellen, worin R einen be» 
vol grün blau violett 












GFENZINTIE 


Wasserstoftspekirum 


Abb. 4. 


fimmten Zahlenbetrag, nämlich 3291 Billionen 
und n eine „Laufzahl“, beginnend mit 3, 4, 5 
ufw. darftellt, alfo 3291 . (la — a), 3291 . 

ko Ya), 3291 . (la — +i) Billionen ufw- 
uſw. Die Grenzlinie ergibt fi, wenn n = un- 
endlih gefeßt wird, zu 3291 . ' Billionen. 
Diefe Formel gilt mit einer gam wunderbaren 
Genauigkeit; die nah ihr berechneten Sowin- 
gungszahlen flimmen mit den wirflid be- 
obadhteten faft alle bis auf die fehlte gültige 
Ziffer überein. Weitere Unterfuhungen, bei denen 
fih beſonders der Schwedische Phyſiker Rydberg 
hervortat, zeigten dann, daß ähnliche Serien aud 
in den Spektren anderer Elemente auftreten, und 
daß aud dabei diefelbe Konftante R, die Rydberg 
zu Ehren heute allgemein die Nydbergfon- 
tante heißt, auftritt. Das war alfo der Tat 
beftand, der mit unendlihem Aufwand von Sharf- 
fan und Mühe glücklich herausgebracht war. Aber 
woher nun diefes merkwürdige Gefen? In der 
Akuſtik it die Sache viel einfacher. Da gibt ein 


(Balmerjerie, 


Die Quantentheorie. 





259 


fhwingender Körper, wie 5. B. eine Violinſaite, 
neben dem Grundton aud befanntlih eine Reihe 
fogenannter Obertöne. Aber deren Schwingungs- 
zahlen und die des Grundtons bilden eine Reihe, 
die fi) einfach wie 1:2:3:4 ufw. verhält. Wa- 
rum nun in der Optif ein fo viel verwidelteres 
Geſetz? Alle Serien diefer Art laffen fih auf die 
Formel N. (Im? — 'In?) bringen, wobei N eine 
irgendwie mit R zufammenhängende Konftante, 
m die feft bleibende Serienzahl und n die 
Laufzahl if. Beim Wafferftoff fand man, 
hierauf einmal aufmerkſam geworden, bald z. B. 
die Anfangsglieder der Serien mit m — 3, ber 
iog. Paſchenſerie, alfo 3291 . (lo — *he); 
3291 . ("e — 2) Bil. ufw.; ferner die fogen. 
Lymanſerie R.Ch — "u, R.(h — No) 
uſw., die ganz im Ultravioletten liegt. Wie Fom- 
men diefe reziprofen Quadrate der ganzen Zahlen 
in die Formel hinein und wie fommt die eine Ryd- 
bergfonftante in fämtlihe Elementarfpeftren hin- 
ein? Wo blieb der Newton der Speftroffopie”'? 
So fragte die Phyfif, bis — diefer Newton kam. 
Er heißt Niels Bohr und ift gegenwärtig 
Profeffor der Phyſik in Kopenhagen. Damals, 
als er feine in Fürzefter Friſt weltberühmt gewor- 
dene Theorie zuerft in den Grundzügen entwidelte, 
war er foeben aus der Schule Rutherfords, 
des großen englifhen Radiumforſchers, hervorge- 
gangen (1913). Bohrs unfterblihe Genietat ift, 
daß er in zwei fhon damals vorliegenden Gebdan- 
ten die bereit liegenden Baufteine für eine Theorie 
über das Innere der Atome erfannte. Den einen 
verdanfte er Rutherford, den anderen 
Pland. Aber das hebt fein Verdienſt niht auf, 
denn das eben ift das Zeichen des Genies, daß es 
das getrennt daliegende Material in der richtigen 
Weiſe zu verbinden weiß. Es ift „Ichöpferifche 
Syntheſe“ in bödhfter Potenz, die wir an Bohrs 
Leiftung bewundern müflen. Rutherford verdan- 
fen wir die flare Entwidlung der DVorftellungen 
über dag Wefen des radioaftiven Zerfalls. Er 
und fein Landsmann © o d dy erfannten als erfte, 
daß es fih dabei um eine Umwandlung im Atom- 
inneren handelt, einen ‚‚Atomzerfoll”, bei dem aus 
den alten Atom 3. B. des Radiums durch Ab- 
iraltung von DBrudftüden, nämlich Elektronen 
und fogenannten “Teilen (Heliumfernen f. „Un⸗ 
jere Welt 1921, Sp. 124), ein neues Atom wird. 
Danah müßte nun notwendig das Atom als eine 
Arı von Planetenfuftem mit einem pofitiven Kern 
und einem Kranz von Elektronen drum herum 
aufgefaßt werden. Nun Tag es febr nahe, zu dens 
fen, daß das Kreifen diefer Elektronen um den 
Kern eben die Urſache für die Ausfendung der bes 
ftimmten Speftrallinien fei. So war eg in ber 
damals geltenden Theorie des Zeemannphänomens 
(f. 0.) von H. A. Loreng, dem eigentlichen Be. 


260 





gründer der Eleftronentheorie, auch gedacht. Aber 
alle Verſuche, auf diefem Wege zur Erklärung der 
Linienfpeftren zu kommen, fchlugen fehl. Bohrs 
genialer Gedanke befteht nun darin, daß er auf 
diefes bereits vorliegende Rutherfordſche Atom- 
medel die Grundgedanken der Quantenlehre anzu- 
wenden ee Er fagte fih: Wenn der Ueber- 
gang der Energie vom Feld an die Materie und 
umgefehrt fih nah der Plandihen Duantenregel 
vollzieht, fo wird vermutlich das Innere der Atome 
felber irgendwie fo beichaffen fein, daf ſchon darin 
jene Größe h eine ausfchlaggebende Rolle fpielt. 
Nehmen wir zunächſt den einfadhften Fall an, den 
des Waſſerſtoffatoms. Wir haben bier nad 
Rutherford einen Kern mit der poflitiven 
Ladung 1 (ein Elementarquantum) und ein ein- 
ziges diefen umfreifendes Elektron. Der Einfady- 
beit halber wollen wir zunächſt eine Ereisförmige 
Bahn wie Kopernifus für die Planeten annehmen. 
Die Schärfe der Speftrallinien beweift nun jeden- 
falls foviel, daß dies Umfreifen niht auf allen 
möglihen Bahnen ftattfinden fann und dabei nicht 
Liht aller möglihen Schwingungszahlen ausge- 
fendet werden fann. So fommen wir auf die 
dee, daß das Elektron vielleiht nur in ganz be- 
ftimmten Bahnen läuft. Aber in weldhen? Hier 
muß ung nun Plan d das erfte Mal helfen. Das 
umlaufende Elektron befigt einen gewiflen Vorrat 
von Energie. Diefer fegt fih aus zwei Anteilen 
zufammen, erftens feiner Bewegungsenergie und 
zweitens feiner Zuftandsenergie, die in feiner Ent- 
fernung vom Kern liegt. (Denn zwei getrennte 
entgegengefeßt elekrifhe Ladungen ftellen immer 
einen Ünergievorrat dar.) Multiplizieren wir 
nun diefe Energie des Elektrons mit der Zeit 
feines Umlaufs, fo haben wir die oben als „Wir⸗ 
fung” bezeichnete Größe. Und nun maht Bohr 
die erfte Annahme: das Eleftron Fann 
nur auf folden Bahnen umlaufen, 








Abb. 5. Bohrs Atommodell. Die a der Quantenbahnen 


verhalten ih wie 1:4:9.. 
für die diefe „Wirkung ein ganzes 
NMielfabhes des Planckſchen Quan- 
tums ift. („Einquantige“, „zweiquantige” - . . 
Babn. Fig. 5.) — Der uneingeweihte Lefer denkt 
nun, es gehe jekt fo weiter, daß die hiernach be- 
rechneten Umlaufszahlen identifch mit den Schwin- 


Die Quantentheorie. 


ſtimmt niht. 


nenaufeineandere übergeht. 


gungszahlen der Balmerferie feien. Aber das 
Die fo berechneten Umlaufszahlen 
fommen unter den Schwingungszahlen des leug- 
tenden Waflerftoffs überhaupt niht vor- So ein- 
fadh ift die Sache alfo nit. Jetzt maht vielmehr 
unfer Newton einen kühnen Gedankenſprung, ein 
wahrhaftes phnfifalifhes Saltomortale. Er er- 
klärt nämlid, unbekümmert um alle bisherigen 
Grundvorftellungen der von Marmwell fo fider 
begründeten Elektrodynamik: das fo umlaufende 
Elektron ſtrahlt überhaupt nicht, d. h. von diefer 
periodifhen Aenderung im Atominneren gehen 
überhaupt Feine Wellen in den Raum hinaus. Das 
bätte Bohr natürlich niemand geglaubt, wenn ber 
Erfolg ihm nit das Recht zu foldhen unerhörten 
Gedankenfprüngen gegeben hätte. Er fagt näm- 
li jest weiter: Strahlung entſteht nur 
dadurch,daß das Eleftronvoneiner 
der eben berechneten Quantenbah⸗— 
Dabei 
wird es, wenn eg nach innen „ſtürzt“, an Energie 
ärmer und diefe frei gewordene Energie ift es, bie 
nun als Strahlungsenergie fih wiederfindet. Aber 
was für Strahlen! Hier ſchießt Bohr zum zweiten 
Male eine Quantenbedingung aus der Piftole (wie 
man mit Redt gefagt hat). Er erflärt einfach: 
Nun diefe Strahlung befolgt eben wieder das Ge- 
ig E = h. n, das heißt, die Schwingungszahl 
des ausgeſendeten Lichts ift fo groß, dag fie, mit h 
multipliziert, denjenigen Energiebetrag ergibt, den 
das Elektron hergegeben hat. Wie das Feld oder 
der Aether, oder wer oder was da draußen nun 
immer fchwingt, es anfängt, fih gerade diefe 
Schwingungszahl auszufuchen, dag Fümmert unfe- 
ren Newton einftweilen nicht. Er rednet auf 
Grund diefer Annahmen einfah diefe Schwin⸗ 
gungszahlen aus und fiehe da: eg ergeben fih ge 
nau die oben angeführten Serien. Genauer: Gebt 
dag Elektron von der N-quantigen auf die M-quan- 
tige Bahn, fo ift die Schwingungszahl der ausge 
fendeten Speftrallinie = R . (im? — 'in?). Die 
gewöhnliche Waflerftoffferie entfteht alfo durch den 
Sturz des Eleftrons von der 3., 4., 5. ufw. Bahn 
auf die zweite, die Pafchenferie, von der 4., 5., 6. 
ufw. auf die dritte, die Inmanferie von der 2., 3., 
4. ufw. auf die erfte ufw. (Fig. 6.) Das Aller- 
wunderbarfte dabei ift, daß nicht nur die Form 
des Seriengefeßes herausfommt, — das haben 
aud andere Theorien von Bobr geleiftet —, fon- 
dern aud der Zahlwert der Rydbergkonſtanten. 


e m 
Sie iſt nach Bohr — a ' worin e. bie 


Eleftronenladung, m die Eleftronenmafle und * 
die befannte Kreiszahl bedeuten. Sekt man in 
diefen Ausdruck die dur anderweitige Ergebniffe 
fihergeftellten Zahlwerte ein, fo kommt 3290 Bill. 
heraus. Die Fleine Differenz erflärt fi, wie bie 


Die zehn Gebote in der Tierwelt. — 261 


weitere Ausbildung der Theorie durch Sommer- 
feld gezeigt bat, aud) noch in befriedigender Weife. 
Es ftimmte nämlich bei der eben in ihren Grund- 
zügen angedeuteten Theorie zunächſt nicht, daß man 


ulnaris 
Serie ( Lrmaa) 





Abb. 6. Model der Lichtenijfion nah Bohr. Die Radionen find 
nit im richtigen Maßſtab gezeichnet. 

die Eleftronenbahnen als Kreife anfiebt. Sie 

müffen als Ellipſen nad Art der Planetenbahnen 

(Kepler ftatt Kopernifus) betradtet werden. Fer- 

ner muß berüdfihtigt werden, daß der Kern zwar 

erbeblid größere Maffe als das Elektron, aber 














Die zehn Gebote in der Tierwelt. Bon Dir. Dr. Mütter. 





Leben aud die Tiere nadh den zehn Geboten? — 
Der amerifanifhe Schriftfteler E. ©. Thomp- 
fon bat fih diefe Frage geftellt und foeben ein 
Büchlein veröffentliht: ‚Die zehn Gebote in der 


Tierwelt”, in dem er nachweiſen will, daß tatſäch⸗ 


lich die zehn Gebote nicht nur für das fittliche 
Handeln des Ehriftenmenfhen gelten, fondern fo 
etwas wie das ungefchriebene Grundgefes aller höhe- 
ren Lebeweſen darftellen, für den Sehenden alfo 
oud in der Tierwelt erfennbar find. 

Die Frage, ob die Tiere Verſtand befisen, ift 
alt. Bedeutet Verftand die Fähigkeit des Wahr- 
nehmens, DBorftellens, Fühlens und Woens, fo 
wird man jene Frage ohne weiteres bejahen. Des- 
cartes’ Standpunkt, nah dem die Tiere bloße Ma- 
f&inen find, dürfte faum noh Verteidiger finden. 
Aber wenn man vom Verſtande oder von der Seele 
tes Tieres fpricht, fo denft man ja eigentlih an 
das, wag man wohl auh mit dem Worte Ber- 
nunft“ treffen will. 

Da wird die Sade ſchon verwickelter. Wird 
man aud grundfäglid an dem Unterfchied zwifchen 
Menſch und Tier in diefem Punkte fefthalten, die 
Derfuhe der neueren Tierpſychologie, insbefondere 
Köhlers Verſuche mit Menfchenaffen auf Teneriffa, 
zeigen dod, daß hier noh mandes zu erforfchen ift. 
Bei allen derartigen Verſuchen dreht es fih aber 
immer nur um zwedmäßiges Handeln der Tiere, 
um die mehr oder minder gefchidte Verwirklichung 
alfo von irgendwelhem Gemwollten, — je nad ber 
„Intelligenz“ des betreffenden Tieres. 





doch Feine fo übermäßig große hat, daB man ihn 
als vollſtändig ruhend anfehen könnte. Endlich 
drittens muß die aus der Relativitätstheorie fih er- 
gebende Mechanik anftelle der Galilei⸗Newtonſchen 
gelegt werden, da es fihb um febr große Ge- 
ſchwindigkeiten handelt, die gegenüber der Licht. 
geſchwindigkeit nicht vernachläfligt werden Fönnen. 
Berüdfihtigt man alle diefe DVerbeflerungen, fo 
fommt tatſächlich aud zahlenmäßig das Wafler- 
fiofffpeftrum mit einer geradezu fabelhaften Ge- 
nauigfeit heraus. Es zeigt fih, daß die Linien 
desfelben bei febr genauer Beobachtung mit ftarker 
Vergrößerung in Wirklihlet mehrfache 
Linien find. Aud diefe fogenannte Feinftruf- 


‚turder Speftren fonte Sommerfeld 


bis in die HMeinften Einzelheiten quantitativ richtig 
ableiten. Alles in allem ift die ‘Beftätigung der 
Theorie eine derart überwältigende, daß an dem 
einen abfolut fein Zweifel fein fann: Ein Anfang 
des richtigen Weges zur Erklärung der Linienfpel- 
tren liegt hier ganz fiber vor. 


—— — —— — 


C 











Bon fittlihem Handeln ift dabei feine Rede. 

Laffen ſich nun in der Tierwelt wenigſtens die 
Anfänge folhen fittlihen Handelns erkennen, wenn 
aud die leitenden Grundſätze jelbft nicht als folde 
bewußt werden? Thompfon bejaht diefe Frage. 
Er will zeigen, daß die Grundfäge des fittlichen 
Lebens — und das find für ihn eben die zehn Ge- 
bote — aud für die Tierwelt naturgewiefen find: 
ihre Uebertretung bewirft Schaden für das ein- 
zelne Tier oder den ganzen Stamm. 

Man teilt die zehn Gebote wohl in foldbe ein, 
die von den Pflichten gegen Gott, und in folde, 
dic von den Pflichten gegen den Nächſten handeln. 

Beginnen wir mit den lesteren zuerft; denn 
bier ift die Beweisführung einfacher. 

Da ift zunächſt dag vierte Gebot, Gehorfam von 
den Eltern fordernd. Wenn diefes Gefes aud für 
die Tierwelt naturgewiefen fein fol, fo muß fih 
zeigen, daß es fih rächt, wenn die jungen Tiere 
den Eltern oder überhaupt den älteren Tieren nicht 
blindlings gehorchen, fo die Erfahrung der voran» 
gegangenen Geſchlechter nußend. Das ift der Fall. 
Die mannigfahften Warnungsfignale, wie fie die 
einzelnen Tierarten herausgebildet haben, werden 
von den jungen inftinftiv befolgt, wie es deren 
eigene Sicherheit und das Fortleben der Raſſe 
verlangt. Gehorcht ein Küfen niht der Mutter, 
beachtet es alfo ihr warnendes Gludfen nicht, fo 
Icidet es die Strafe: der Habicht trägt es fort. 

Das fünfte Gebot. Nah Thompſon ſchrecken 
die Tiere inftinftiv davor zurüd, Stammesgenoſſen 


262 


— — — — — ——— — — — — — — — 


zu töten. Neugeborene Klapperſchlangen gehen 
ſofort auf fremde Tiere los, aber nie auf ihres- 
gleihen. Zweifämpfe von Tieren — beſonders 
um dag Weibhen — find häufig; aber der Kampf 
ift gewöhnli mit des einen Kämpfers Unter- 
werfung oder Flucht zu Ende. Eine Hundebeißerei 
hört .meift in dem Augenbli auf, wo der eine fih 
in der befannten Haltung zu ‘Boden dudt und 
gleihfam zu fagen ſcheint: Ich bin befiegt und er- 
gebe mid. So wird auh die unterlegene Kage 
nicht von der Siegerin weiter verfolgt. Ein frem- 
des Tier dagegen würde von Hund wie von Kage 
verfolgt und getötet werden. Ausnahmen find — 
wenigftens bei höheren Tieren — felten. Einige 
erflären fih als Entartungserfheinungen in ber 
Gefangenfhaft oder Zähmung, andere find durd 
allzu quälenden Hunger veranlaßt worden. Das 
war 3. B. bei Nanſens Hunden der Fall, die nur 
fo dazu famen, das Fleifh ihrer Kameraden zu 
frefien, — das fie vorher auh dann vermweigerten, 
wenn eg ihnen in anderer Form gereicht wurde. 
Keine Gattung fann eben befteben, die Kanniba- 
lismus zuläßt. Daher tun fih die Artgenoffen zu- 
fommen, um ben aus ihrer Mitte zu retten, der 
von einem bösartigen Andern bedroht wird. 
Ausnahme beftätigt die Megel, 
Menſchen. 

Bei der Betrachtung des ſechſten Gebots erblickt 
Thompſon im Tierreich ein Aufſteigen von völliger 
geſchlechtlicher Vermiſchung zur Polygamie (und Po- 
Iyandrie) und weiter herauf zur Einehe als der voll- 
fommenften Form; vollfommen deshalb, weil die Ge- 
fahr der Seuchenverfchleppung und fodann die Jn- 
zucht im felben Mage abnimmt, wie die perfönliche 
Berührung. Auch innerhalb der Einehe gibt es 
nun wieder eine Stufenleiter von weniger zu mehr 
vollfommener Form. Bei der erfteren lebt ein 
Pärchen zufammen, folange es ihm gefällt; Bei- 
fpiel: der Elch. Bei der nädfthöheren dauert die 
Paarungszeit eine Brutperiode; das Männden 
bleibt fo lange bei der Familie und forgt für die 
Jungen, bis fie herangewadjfen find; Beiſpiel: der 
Habicht. Bei der dritten Art bleiben die beiden 
das ganze Leben zufammen, doc wird der Ueber- 
lebende nadh dem Tode des andern frei; fo die 
Wölfe. Bei der vierten Art endlich bleibt der 
Ueberlebende „untröftlih” allein bis zum eigenen 
Tode: die Wildgans. 

ft fo die Einehe bei den Tieren die naturge- 
wiefene Form, fo erflärt fih nad Thompſon das 
Abweichen vieler urfprünglid monogamen Tiere 
durch den verderblichen Einfluß des Menfchen, wie 
etwa im Falle des Hundes. Dei anderen Tieren 
gelingt es nur mit großer Mühe, im Zudtinter- 
cfe die Tiere von ihrem monogamen Triebe abzu- 
bringen, — beim Blaufuchs etwa. Ein Tier 


— wie bei ben 


Die | 


Die zehn Gebote in der Tierwelt. 


widerftrebt gänzlich: die Taube. Wird fie freilich 
darum, wie ein überfchwenglicher Forſcher meint, 
dag Erdreich befigen, wenn die anderen höheren 
Tiere ausgeftorben find? | 

Das 7. Gebot gibt T. Gelegenheit, auf die hohe 
Entwidelung des Eigentumsbegriffes in der Tier- 
welt hinzuweifen. Eigentum fann fein: Nahrung, 
Meft, Jagd⸗ und Spielgebiet, endlih das Weib- 
den. Das ungefchriebene Gefen der Tiere heißt 
bier: Wer etwas erzeugt, dem gehört es. Gefun⸗ 
denes ift Eigentum deffen, der es gefunden und 
davon Befig ergriffen hat. Bei der „Beſitzergrei⸗ 
fung” fpielen gewifle Eigentümerzeihen eine be- 
fondere Rolle. 

Da ift die Kennzeichnung eines Gegenſtandes 
durch Geruch; mande Tiere — etwa MWiefel, 
Wolf — befiprigen ihr Eigentum mit einer Flüſ⸗ 
figkeit aus einer Drüſe, ehe fie es verfcharren. Er- 
innert das niht an das Gebaren des Seemannes, 
ber den neuerworbenen Gegenftand zunächſt befpeit? 

Der natürliche Grund aber für die Geltung des 
fiebenten Gebotes in der Tierwelt wäre diefer: Ein 
Eihhörnden 5. B., das für den Winter nichts ge- 
femmelt bat, muß verhungern oder — ftehlen. 
Wird es im legteren Falle nun niht von den epr- 
lihen” Stammesgenofien zur Strafe umgebracht, 
fo würde die Unfitte des Stehlens überband neh- 
men; feiner würde mehr für den Winter hamftern, 
niemand fpeicherte alfo mehr etwas auf; das Dbe- 
deutete aber dag Ende der ganzen Gattung. Afo 
auch Hier fubjeftive oder objektive Strafe. Aus 
dem Inſtinkt der Wahrung von Nahrungseigen- 
tum entwidelt fih dann der Inſtinkt des Beſitzes 
beftimmter Gebiete, welche die Tiere als ihr eigen 
anfehen und deren Betreten fie verwehren. Die 
Artgenoflen achten den Beſitzanſpruch. Auch bier 
gibt es Eigentumszeihen; die Tiere reiben etwa 
den Körper gegen Bäume oder zerreißen die Rinde 
mit den Zähnen, um das Gebiet andern Tieren 
gegenüber als das ihre anzuzeigen. So halten es 
etwa die Bären. 

Beim 8. Gebot — du folft nicht falfches Beug- 
nis ablegen — zieht T. den Fall der Meute auf 
der Fuchsjagd heran. Jeder einzelne Hund firengt 
fih an und ſucht als erfter den Fuchs zu melden. 
Wenn nun noh unerfahrene Tiere in ihrem jugend- 
lihen Ungeftüm die Fährte fälſchlich melden, wer- 
den fie, beſonders wenn fie fih öfters irren, von 
den anderen nicht mehr ernft genommen; wer ein» 
mal lügt ... Die Tiere leitet bei folder Mif- 
achtung ein gefunder Inſtinkt, denn dag Ueber- 
handnehmen falfhen Zeugniffes machte jegliches 
Zufammenarbeiten unmöglih und würde im Falle 
wilder Tiere das gefamte Nudel u. ä. gefährden. 
T. führt dabei noh ein — Gedicht an als Beweis 
dafür, dag die Strafe auh anders fein fann als 


Kleine Beiträge. 


bloße Verachtung. Es ift eine Wolfsgefchichte 
von Hidey: zwei Jäger fehen zu, wie ein Wolf 
einen Hirſch tötet, fih aber erft wieder entfernt, 
um die andern zu holen; die Jäger entfernen unter» 
deffen den toten Hirfh und verfteden fi) wieder; 
als der Wolf mit dem Nudel kommt und fih ver- 
gebens nad feiner Beute umfieht, beobachten fie, 
wie er von den andern zur Strafe für feine falide 
Meldung zerriffen wird: er kannte fein Scid- 
fal und nahm es auf fi”. 

Das 10. Gebot geht mit dem 7. ziemlich zu- 
fammen. T. führt aus feinem Sammelbud die 


Beobachtung an, dag eine Klude in der Scheune - 


cin Neſt machte und fih darauf fegte; eine andere 
„begehrte ihren Platz; immer, wenn jene fih vor- 
übergehend entfernte, feste fie fih darauf; fie legte 
ihre eigenen Eier hinein und wollte ebenfalls brü- 
ten; die Natur rächte fi, indem bei dem Kampfe 
zwifchen beiden, der nicht ausblieb, die Eier zer- 
drüdt wurden. 

Schwalben handeln daher in rihtigem Inſtinkt, 
wenn fie andere Vögel, die während ihrer Ab- 
wefenheit ihr Neft in Befig genommen haben, 
wieder entfernen wollen; oder, wenn fie es nicht 
fertig bringen, dag Neft mit Lehm zumauern, fo 
dag die Eindringlinge elendiglih umfommen. Der 
Inſtinkt ift richtig, weil fonft die Gefahr befteht, 
dag Schmaroger herangezüdhtet werden, deren Bu- 
wachs eine unerträgliche DBelaftung des eigenen 
Stammes darftellen würde. 

Alle diefe Gebote nun, deren Uebertretung ge- 
gebenenfallse das Leben verwirfen läßt, gelten nur 
für Tiere derfelben Art: zwifhen Wolf und 
Wolf, Maus und Maus; aber nit zwifchen 
Wolf und Maus. Auch bei den Wilden gilt ja 
das Deftehlen des eigenen Stammesbruders als 
unerhörter revel, ja, kommt praktiſch überhaupt 
nicht vor, während der Mord eines Feindes fogar 
als Ehre angerechnet wird. Erſt Kulturvölfer 
fennen die Empfindung des Mitleide mit den Mit- 


263 


Schmwieriger ift es nun, die drei erften Gebote 
im Tierreich aufzufpüren; — jene Gebote alfo, die 
sine Beziehung zum höchſten Wefen aufftellen; — 
auch das 3. Gebot enthält ja eine folde, gebietet 
nicht nur Rube nah der Arbeit an fih. Daß 
auch diefe Gebote für die Tiere gelten, behauptet 
Thompſon nicht. Nur eine leife Ahnung eines 
böberen Wefens will er bei den Tieren feftftellen; 
und zwar ift dies höhere Wefen für die Tiere eben 
der Menih. Er führt Beobachtungen an, die dar- 
tun, daß in der allerhöchften Gefahr die Tiere fidh 
einfah in den rettenden Schoß des Menfchen 
flüchten; fie liefern fi einer unbefannten, aber 
jedenfalls überlegenen Macht auf Gnade und Un- 
guade aus. Er erzählt z. B. das Erlebnis eines 
Londbriefträgers, der unterwegs einer Elchkuh be- 
gegnete. Sie war allein, fam aber mit gefträub- 
ter Mähne auf ihn zu. Wollte fie ihn bedrohen? 
Er flüchtete auf einen Baum, fie ganz dicht hinter 
ihm ber, ohne ibn freilich zu berühren, was fie dod 
hätte tun können; auh vom Baum hätte fie ihn 
leicht herunterholen Fönnen, madte aber feinen 
Verſuch; fie blickte ihn nur flarr an, die Mähne 
gefträubt. Als nad drei Stunden auf des Brief- 
trägers NHilferuf Leute herbeifamen, liep fie ſich 
nicht vertreiben und mußte abgefhhoflen werben. 
Man fand ihre linte Seite völlig zerfegt; ein Elh- 
bulle hatte fie offenbar vor einem Tage angefallen 
und fo übel zugerichtet. Sie mußte arge Schmer- 
zen gelitten haben. Warum hatte fie den Brief- 
träger verfolgt? Angreifen wollte fie ihn nicht, 
denn fie tat es nicht, als fih die Gelegenheit bor. 
Warum dann das wilde Sträuben der Mähne? 
Es war vielleiht nicht Zorn, fondern ein anderes 
— ſchwer in Worte zu faflendes — Gefühl, das 
ihre innere WBerftörtheit zum Ausdrud bradıte, 
irgendwie jedenfalls, meint Thompſon, in eine 
Linie zu ftellen mit jenem Trieb, der die Tiere in 
höchſter Not inftinktiv beim Menfchen als dem 
überlegenen höheren Weſen Schuß ſuchen läßt. 


menfhen oder gar allen Mitgeſchöpfen. — 





Kleine ‘Beiträge. 








Die Giftwirfung des Grünen Knol- 
tenblätterpilzges (Amanita phalloides) bei 
Tieren. Der grüne Knollenblätterpilz ift einer unferer 
giftigften Pilze, indem er fat immer tödlih wirft. Seine 
Gefährlichkeit liegt befonders darin, daß die Erkrankung 
jiġ ert 10 bis 12 Stunden nah dem Genuß einftellt, 
wenn das Gift fhon in das Blut übergegangen ift. Es 
treten Erbreden, Durft, holeraartiger Durhfall und Ent- 
fräftung auf. Nah 3 bis 7 Tagen ftellt fih gewöhnlich 
der Tod ein. Wie verhalten fi die Tiere zu dem Gift? 
Diefe Trage ift umſo beredhtigter, als mande Tierarten 
gegen für den Menſchen giftige Pilze immun find. So 
freffen 3. B. in hiefiger Gegend die Ziegen in großen 
Mengen den Fliegenpig. Viktorio Pettinari 


- waren Eidehfen, Molde und Fröſche. 


® 





(Cpt. rend. hebdom. des féances de 1’ acad. des feien- 
ces Bd. 180, Mr. 2) unterſuchte die Wirkſamkeit des Ertrat- 
tes aus frifhem und getrodnetem Knollenblätterpi. Für 
die niederen Tiere, Anfuforien, Eruftareen und Inſekten⸗ 
larven, war der Pilz giftig. Bei den Fiſchen trat erft nad 
12 bis 72 Stunden die Giftwirfung ein. Unempfindlich 
Bei den Säuge— 
tieren zeigen ſich Unterfhiede. Auch kommt es bier auf 
die Art der Einverleibung des Giftes an, ob parenteral 
oder dur den Magen. So reagieren Kaninchen, Meer- 
ſchweinchen und von den Vögeln die Tauben bei Einfüh- 
rung des wäflerigen Auszuges von getrodneten Pilzen duch 
den Magen niht. Dagegen zeigen fie bei parenteraler 
Zufuhr eine große Empfindlichkeit. Am heftigſten wirkt 


264. 


das Gift bei den Fleifchfreflern, den Hunden und Kahen. 
Die Art der Zufuhr i bier ganz gleihgültig. Das Krant 
heitsbild ähnelt dem des Menſchen. Erbrechen, blutige 
Durchfälle und Harnmangel (Oligurie) treten auf. 
Abert Pietſch. 
Ergäanyungsftoffe bei Pflanzen Durd 
die Unterfuhungen der legten Jahre ift dargetan, daß. die 
Tiere zu ihrem Leben und Wachstum gemwiffer Stoffe be- 
dürfen, die als Vitamine bezeichnet werden. Won veridic: 
denen Seiten wurde die Frage aufgeworfen, ob aud für 
die pflanzlihe Ernährung den Vitaminen in ihrer Wirkung 
entfprehende Stoffe norwendig find. Solche Eubftanzen 
follen vor allen Dingen in Torfertraften vorfommen und 
wurden als Aurimone bezeihnet. Man nimmt an, daß die 
Nucleinfäuren und ihre Abkömmlinge für die fpezifiiche 
Wirkung in Frage Eommen. Florence Mote. 
ridge (Ann. of botann Br. 38, Mr. 152) unterſuchte 
nun nad diefer Richtung bin die N-jammelnden Bakterien 
und prüfte fie auf folde das Pflanzenwahstum fürdernden 








Ausſprache. 


Ausſprache zum Aufſatz: Die Evolutionstheorie 
vor Gericht. 


Ich bin diesmal nicht ganz einig mit der Ein— 
ſtellung des ſehr verehrten Schriftleiters von 
„Unſere Welt“ zum Teneſſeeſchen Affenprozeß, 
der uns von unſerem weitervorgeſchrittenem Stand- 
punkte aus ja allerdings lächerlich genug anmutet- 
Aber wenn die öffentlibe Meinung eines Staates 
in der Welt noch fo rückſtändig it wie in den Weft- 
taaten Mord-Amerikas, daß ihr die Bibel aud 
ein Kanon ift für die wiflenfchaftlihe Wahrheit, 
dann ift eine folhe Entſcheidung nicht blos felbft- 
redend, ſondern aud die beflere; denn in einem 
ſolchen Lande bietet die wiſſenſchaftliche Ent- 
wicklung auch nod Feine genügende Korrektur gegen 
die falſchen Folgerungen uns äußerlich begriffenen, 
aber noch nicht völlig verdauten Sägen, aud fann 
obne Zweifel dort die Affenfrase in der Ahnen- 
galerie großen Schaden tun. 

Mid dünkt, man muß, um in folden Dingen zu 
entfcheiden, auch die Religion von ihrer praftifhen 
Seite aus faſſen nud zu fhäsen wiflen, wasg fie 
als Grundlage aller Moral wert it und darum 
wert it, beilig gehalten zu werden auch in ihrer 
dogmatiſchen Unzulänglichfeiten, jo lange nur diefe 
feinen größeren Schaden tun als die nur halb 
bigriffenen und unter dielen Umftänden falih ge- 
werteten wiſſenſchaftlichen Neuerungen, die den 
Menſchen in feinem gewöhnlichen Tun und Trei- 
ben. nod garnichts angeben. Dieſe ihnen aufzu— 
drängen, zeugt von Schulmeiſterlichkeit und nicht 
jeiten fogar von Schadenfreude, die uns ferne 
liegen ſollte; und, wie ih weiß, auch unferem 
Schriftleiter ferne liegt. 

Ich verteidige aud hierin das Melativitäte- 
prinzip. Es gibt Wahrheiten, die nicht für Jedem 


Ausſprache. 


— — — — 0 mm — — —— — 


Stoffe. Als Verſuchspflanze benutzte er die kleine Waſſer⸗ 
linie (Lemna minor), von den Stickſtoffbakterien wählte cr 
den im Boden lebenden Mikroorganismus Aszetobacter 
Chroococcum. Es wurden Meinkulturenbenust, die im 
Autoflaven bei einer Hibe von 140 Grad ausgefegt wurden. 
As Vergleichskulturen benuste man Pflänzden in reiner 
Mährlöfung (nah Detmer) und folde, bie verſchiedene 
Mengen rober Mucleinfäurederivate aus rohem Torf ent- 
hielten. Während bei den Torfertraft-KRulturen fib eine 
deutlihe Förderung des Wahstums der Wafferlinien ber- 
ausftellte, indem die Vermehrung fi als proportional ber 
Menge des zugefügten Ertraftes erwies, fonnte in den 
Gläſern mit der Asctobacter-Auffhmemmung eine fo in die 
Augen fpringende Beeinfluſſung niht feftgeftellt werden, 
wenn aud -ein Wahstum der Pflänzhen ftattgefunden 
patte. Zu äbnlihen Ergebniffen Fam man bei Verſuchen 
mit autoflavierter Hefe. 
Albert Pietſch. 








= 





taugen. Und der Geit der Angelfahien und 
Amerifaner ift darin anders geartet als der der 
Deutfhen und Schotten, die jeden Gedanken bis 
su feinem logiſchen Ende bindurdzudenfen die 
Gewohnheit baben. Wenn aber, wie der verehrte 


Herr Schriftleiter zu fürdten fcheint, durch jene 


demofratifchen Inſtitutionen der wiſſenſchaftliche 
Geift fo weit geſchwächt werden follte, daß aud bei 
uns „Affenprozeſſe“ vorfommen fünnten, fo würde 
id) das nicht für eine Affenfchande halten, fondern 
lediglich für eine zeitgemäße Erſcheinung, die 
immerhin das Gute bätte, die große Maffe vor 
Theorien zu bewahren, die für fie mehr Schaden 
als Mutzen ftiften. Denn die Wahrheit einer 
Sade ift eine lediglich wiflenfchaftliche Angelegen- 
beit, die nur gerade die in der betreffenden Wiffen- 
ſchaft Gebildeten angeht; die Heiligkeit einer Sade 
aber eine allgemein menſchliche, deren Intereſſe 
unter gewiflen Umftänden weit überwiegt. 


Heidelberg. Adolf Maver. 


Ich weiß, daß viele — und das find nicht immer 
dte Schlechteften — ähnlich denfen, wie der verehrte 
Herr Einfender und ich gebe zu, dag im Cinel- 
falle, d. b. in einem Kreife von Unmündigen ın 
dem bier gemeinten Sinne, es weifer und taft- 
voller fein fann, zu ſchweigen als unverftandene 
und dem betr. Kreife unverftändlide Wahrheiten 
binaussupofaunen- „Web denen, die dem ewig 
Blinden des Lichtes Himmelfadeln leih'n“ bleibt 
ein wahres Wort. Aber ich gebe nicht zu, daß ee 
ter normale Zuftand ift, wenn in unferem Falle 
es zu dieſem Konflikte überhaupt kommen mußte 
oder dag aus folder pädagogiſch taftvollen Erwä- 
gung eg gerechtfertigt wäre, daß nun überhaupt 
nichts mehr zur Verbreitung der Wahrheit ge- 
idiebt. Der Umſtand, daß aud bei ung in Deutſch— 








fand viele auf dem Standpunkte der amerikaniſchen 
„Fundamentaliſten“  ftebengeblieben find, may 
wohl, da er einmal befteht, das Vertuſchen im 
Einzelfalle rechtfertigen. Er rechtfertigt fih damit 
aber nicht felber, fondern es ift und bleibt die 
die große Schuld der Kriftlihen Kirchen, die doc 
berufene Hüterinnen wie aller Ideale, fo aud des 
ver abfoluten Wahrhaftigkeit fein follten, daß fie 
es zu einem folhen Zuftande überhaupt haben 
temmen laffen. Und es folgt daraus m. È. nur 
immer wieder dies, daB es jet ihre Pflicht wäre, 
alles daran zu feßen, damit wenigftens in einer 
bis zwei Generationen die große Kluft zwiſchen 
Glauben und Willen gefchloffen wird. Und niemals 
zuftimmen werde ih dem Sake, daf „die Wahr- 
beit einer Sache lediglich eine wiſſenſchaftliche An- 
gelegenbeit ift, die nur gerade die in der betr. 
Wiſſenſchaft Gebildeten angeht”, während die Hei- 
lihfeit alle anginge. Mit folhen Sägen ift das 
allgemeine Miftrauen im Wolke groß gezogen 
worden, daß es betrogen” werde und man ihm 
die Wahrheit vorentbielte, um es beffer in feiner 
untergeordneten Stellung feithalten zu Fönnen. 
Eollten wir Gebildeten niht ebenfo wie wir 
Chriften endlich lernen, daß fie ein glatter Wider- 
ſpruch gegen alle Grundfäße des Evangeliums find? 
Vie Wahrbeitift für jeden, derim- 
Nandeift fie zu begreifen, wie er das 
anfängt, ift feine Sade. Gott fei Dant, daß wir 
Deutſche teine ſolchen „Pragmatiſten“ find wie die 
Angelfahfen. Es hätte dann weder einen Luther 
noh einen Kant noch einen Schiller, Fichte, Goethe 
und wie fie alle heißen, gegeben. Im übrigen ver- 
geſſen diejenigen, die fo denfen wie der Herr Ein- 
inber, gewöhnlih auch noh dies, daß in einem 
Volke wie dem deutfchen von heute es eine glatte 
Unmöglichkeit ift, die in Rede ftehenden Wahr: 
beiten auf den Kreis weniger Eſoteriker zu be 
Ihranfen, denn eine Preſſe, die jeder, aber aud 
der in die Hand befommt, forget dafür, daß fie 
überall befannt werden. Der ganze Verſuch ift 
aljo ein Verfuh mit untauglichen Mitteln. Selbft 
wenn es ausgemacht wäre, daß die Menfchheit als 
Ganzes fidh beffer bei folder Abiperrung fände — 
ſic hefe fih einfah nicht durdhführen. Ohne dag 
aber bat fie nicht nur feinen Zwed, fondern fie 
muk dann, wie die tägliche Erfahrung und die Ge- 
\bihte des verfloffenen Jahrhunderts zeigt, not- 
wendig ing Gegenteil ausfchlagen, d. b. die gute 
Sache diskrditieren, ftatt ihr zu nügen. Wir baben 
nur die Wahl zwiſchen einem fonfequenten 
mittelalterlihen DBevormundungsfnftem (ih meine 
das ganz ehrlid als aus väterlihbem Wohlwollen 
hervorgegangen), oder einer wirflih ganz offenen 
cht evangelifhen Freiheit. Der gegenwärtige 
Kompromiß zwifchen beiden it Schuld an allem 
Unbeit, „Ihr aber, lieben Brüder, feid zur Frei 


Ausiprade. 


265 


beit berufen. Laſſet euch nicht wieder in das Efla- 


venjoch ſpannen.“ 
Bavink. 


Die Bemerkung in dem Aufſatz „Vom Relativen yım 
Abſoluten“ in Heft 7 von „Unſere Welt: dag die Welt 
von einem abſolut guten Sort geihaffen fei, das fällt ſehr 
fhwer, zu glauben”, wird nit nur in driftlihen Kreifen 
Kopffhütteln und Verwunderung erregen, denn nah der 
Auffaffung jedes ſittlich denkenden Menſchen it Gort ab- 
folut gut, oder es gibt feinen verfönlihen Gott. Wiele 
verzweifeln ja an der Gerechtigkeit Gottes, von dem wir 
auf Grund der Bibel annehmen müffen, daß alles auf der 
Erde mit feinem Willen geihiebt. Die nquifition, nod 
mehr die entieslihen Herenprozeſſe, die mittelalterliden 
Strafurteile, die Kriegsgreuel — fiche Rückzug der Gropen 
Armee 1812 —, der Ausgang des Krieges 1918, die Herr- 
Ihaft der Lüge in der Welt, diefe entießliben Ereigniſſe 
mit der Güte und Geredtigkeit Gottes in Einklang m 
bringen, ift ſchwer. Kine verfübnende Erklärung fand die 
Fatholifhe Kirhe. Wie nah ihr alle Mürtyrer fofert ins 
Paradies fommen, jo aud) die Menfchen, die ohne Schuld 
bier unendlih Schweres leiden, wie die Ausfäsigen. Wir 
müflen aber bedenfen, daf wir Gottes Wege nit be 
greifen, weil unfer Derftand beſchränkt ift, wie ja zwei 
Grundbegriffe, die wir fortwährend anwenden, für uns 
unbegreiflih find, Zeit und Raum, werauf Kant idon 
binmweift. Die Anfhauung, daß Gott nicht „abfolut gur” 
ift, fteht mit der hriftlihen Lebre im Widerfprud. Chriftus 
fagt, daß der Water im Himmel vollkommen fei, und daf 
niemand gut fei, denn der einige Gott. (Matth. 19, 17.) 


D. Weibe, Geheimer Juſtizrat. 


Antwort: Der verehrte Here Einfender bat mir dir 
Antwort auf feine Beanftantungen eigentlich ſchon felber 
vorweggenommen, wenn er fagt: „Diele entſetzlichen Er 
eigniffe (die nquifition ufw.) mit der Güte und Geredtiq 
feit Gottes in Einklang zu bringen, it ſchwer.“ Etwas 
anderes babe ib mit den beanftandeten Morten aud) nicht 
fagen wollen und glaube aud) nicht, daß idb etwas anderen 
geiagt babe. Ich wollte ja an jener Stelle aub gar nidi 
etwa die Vollkommenheit Gottes in Zweifel zieben, viel 
mehr nur die Schwierigkeit der Theodizee auf dem ethiſchen 
Gebiete dem Umſtande gegenüberſtellen, dağ auf dem 
üftbetiihen Gebiete diejelbe viel leichter erſcheint (im An- 
ihluß an cine Aeußerung des Philoſophen Oeſterreich). 
Natürlich it mir die chriſtliche Lehre, daß Sort vollkommen 
jei, und ihre bibliihe Begründung febr wohl befannt. Aber 
das Problem beſteht fa gerade darin, wie wir an Diefer 
tebre feftbalten können, wenn ded die großke Tatſache des 
Uebels in der Welt daftebt, und zwar — darauf fam es 
mir in dem Aufſatz über das Uebel an — alg ein nice 
durchgehend durch „Sünde“ veruriahtes Uebel. Solange 
man im Ehriftentum dies mit dem Apostel Paulus an 
nebmen fonnte, war die Sache neh verhaltnismaßig ein 
fad. Mir fam e darauf an, der heutigen Cbritenbeit 
zu Gemüte zu führen, daß fe, weil dieſer Ausweg nun 
mebr endgültig abgeſchnitten ift, ſich auf eine andere Cin: 
jtellung zum Uebel, vor allem yum pbufiiden Uebel, be 
finnen muß, wenn fe nicht vollig fib aus dem Strom des 
Denfens der Kulturmenſchheit ausschalten will. Dies 
Problem iſt nicht im Handumdrehen zu lojen und ich bilde 
mir nicht ein, es gelöft zu baben. Aber das ſcheint mir 
Far, daß es erit redt nicht gelöft wird, wenn man einfach 
üd wieder auf den alten Wen zurückzieht, der doch als 
verbaut idon erfanne ift. Bavink. 


A. 





266 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 





a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften. 


Die augenblicklich intereſſanteſte Nachricht ift ein aus- 
führlicherer Bericht aus Amerika über die Hier ſchon mehr- 
fadh erwähnte, jedod noch nicht genauer befannt gewordenen 
Wiederholungen des berühmten Nichelſonverſuchs, der das 
Tunbament der Melativitätstheorie bildet. Es bandelt fi, 
wie vorab bemerkt fei, um ben Haffiihen erften Michelſon⸗ 
verſuch, der die Feftftellung einer etwaigen abfoluten Erd- 
bewegung (gegen den Aether) zum Gegenftande hatte, 
nit um den Fürslih (Me. 7, 1925) her erwähnten neueren 
Verſuch Mihelfons, der als ein optifhes Gegenftüd bes 
Roucaultfhen Pendelverfuhs bezeihnet wurde und die Erd- 
rotation fefftellen folte. Bei jenem klaſſiſchen Mihel- 
fonverfud, der zum erften Male im Jahre 1887 angeftellt 
worden ift, wird befanntlih ein Lichtbündel in zwei Teile 
gefpalten, die parallel und ſenkrecht zur augenblidlihen Erd- 
bewegung im Raume laufen und dann zur Interferenz 
fommen. Wird der Apparat um 90 Grad gedreht, fo folte 
nad der Aether- bezw. Abfoluttheorie eine Verſchiebung der 
Snterferenzftreifen eintreten. Der negative Ausfall dieſes 
Verſuchs, der feitber oft wiederholt wurde, gab den Anlaß 
zur Aufftelung zuerſt der Lorensfhen Kontraktionshypo⸗ 
thefe” und fodenn zur Einfteinfhen Theorie. Nah den 
nunmehr in bie Tagespreſſe gelangten Nachrichten ift dieſer 
Verſuch auf MWeranlaffung des Aftronomen Hale in ber 
Weife wiederholt worden, daß man den Apparat, der zuerft 
in einem Keller aufgeftellt war, und ben man dann auf 
einem freien Plage in Cleveland bei Chicago aufgeftellt 
hatte, auf den Mount Wilfon bragte in 1700 Meter Höhe. 
Hier ergab der Verfuhnun merfwürbdiger- 
weife ein pofitives Ergebnis, aber nur 
etwa % des von der Aether theorie vor. 
ausgefagten Man bradte den Apparat dann aber. 
mals nad Cleveland zurüd und erhielt abermals ein faft 
negatives Ergebnis. Wieder auf den Mount Wilfon ver- 
fegt, zeigte der Apparat jedoch wieder den pofitiven Effekt. 

Es fommt nun offenbar alles darauf an, ob erftens bie 
Einflüffe der veränderten Umgebung nicht an dem ver- 
ſchiedenen Ergebnis (huld fein können, und ob zweitens fih 
bei einer ganzen Serie von Meflungen in verfchiedenen 
Höhen ein regelmäßiges Anfteigen des für den „Aether- 
wind” erredhneten Betrages ergibt. Sollte dies 
legtere der Fall fein, fo dürfte die legte 
Stunde der Relativitätstheorie gefhla- 
gen Haben, denn dann ift ber Aether defini- 


tiv als phyſikaliſche Wirklichkeit nadge: 


wiefen. Man wird jeboh gut tun, vorläufig noch 
weitere Mahprüfungen abzuwarten. Leider ermöglichen die 
fümmerliden Mittel der deutfhen Phyſik es nicht, diefe 
Nachprüfungen vorzunehmen. Im ganzen muß man bei 
Meldungen über erperimentelle Ergebniffe aus Frankreich 
oder Amerika immer um 50 Proz. vorfühtiger fein, als 
wenn diefelben aus Deutihland oder England kommen. 
Selbftverftändlih bat das Erpyeriment das legte 
Wort. Die bewundernswerten Erfolge der Nelativitäte- 
theorie bürfen natürlih niht dazu verführen, die Erfab- 
rung zu vergewaltigen. Es würde fi jedoch, wenn die 
Theorie felber aufgegeben werben müßte, die Frage um fo 
dringender erheben, wie ihre merfwürdigen Ergebniffe dann 
in das phyſikaliſche Weltbild einzuordnen fein werden. Daf 
j. B. der Sag von ber Trägheit der Energie, den die Rela- 
tivitätstheorie zuerft berausgeftellt bat, wieder aufgegeben 
werden würde, ift febr unwahrſcheinlich. Ebenſo werden 
natürlih die befannten Einftein-Effefte (Lichtablenkung, 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophiihe Umfhau. 








Motverfhiebung und Periheldrehung) in eine neue Medanif 
und Optil übergeben. Ä 

Was diefe letzteren anlangt, fo verfuhte kürzlich M o- 
borovicie (Afgr. Nadr. 223, Phyf. Ber. 15, 1013) zu 
zeigen, daß die Einftein’fhen Gleihungen an fi mehrere 
Konftante unbeftimmt laffen und bag man deshalb nicht die 
drei genannten Effekte einzeln, fondern nur alle drei zu- 
jammen quantitativ aus der allgemeinen Melativitäts- 
theorie herleiten Kann. Buch er er, ber darüber berichtet, 
meint, man gewinne aus M.s Darlegungen ben Eindrud, 
dag Einftein feine Konftantenwerte im allgemeinen ben 
vorliegenden Beobachtungen entiprehend gewählt habe. Am 
beftrittenften ift von den drei Effekten befanntlih die Rot⸗ 
verfhiebung. Hierzu liegt nun eine neue intereflante 
Mitteilung vor. Jm Jahre 1922 hatte Weber diefelbe für 
den Hauptftern des Sirius gemeflen und dabei einen mit ber 
Theorie übereinftimmenden Wert gefunden. Eddington 
bat darauf aufmerkfam gemaht, daß ber Begleiter bes 
Sirius (©. ift Doppelftern) fi) nod viel beffer dafür eigne, 
da er eine ganz ungeheure Dichte befigen muß und bem ent- 
ſprechend aud ein ftarfes Bravitationsfeld. Für erftere 
fand Eddington, den allerdings etwas fabelhaft Flingenden 
Wert von 50 000 (Wafler — 1). Heraus würde fih eine 
Rotverſchiebung berechnen, welde einem Dopplereffeft von 
20 km/sec. glei käme. In ber Tat hat nun Adams 
auf dem Mount Wilfon einen folgen hohen Betrag der 
Rotverſchiebung gefunden (21 km/sec.). Man ift freilid 
verfuht, aud hierüber zunähft einmal den Kopf zu 
ihütteln. Der fraglihe Stern fol nah Eddington einen 
Radius von etwa 19600 km befigen, d. h. er wäre nur 
wenig größer als die Erde, dabei fol feine Maffe aber 
gleih etwa 0,7 Sonnenmaffen fein. Eine folhe Konjen- 
tration der Materie wibderfpriht allem, was wir fonft aus 
der Phyſik wiffen. Man bedenke: eine Dichte, melde bie 
tes Plating um etwa das 2500fache übertreffen ſoll!! 

Die fo oft erörterte Frage, ob die Feinſtruktur ber 
Waſſerſtofflinien eine Beftätigung oder eine Widerlegung 
der fpeziellen Relativitätstherorie Tiefere, ift abermals nad- 
geprüft worden von Janidi (Anm. d. Ph. 76, 561; Ph. 
Ber. 16, 1119). Er Bat die von Gchrde und lau 
einerfeits, von Shrum andererfeits gegebenen Photo- 
gramme photometrifh nachgemeſſen und findet für die um- 
ftrittene Konftante einen Wert, ber gerade in der Mitte 
zwifhen dem von ber Melativitätstheorie geforderten und 
dem (von Gehrde und Lau gefundenen) der Abfoluttkeorie 
liegt. Nnu find wir alfo immer noh gerade fo Flug wie 
zuvor. 

Gegen die neue von Lecomte de Nouy gefundene 
Methode zur Beſtimmung der Loſchmidtſchen Zahl (f. diefe 
Unfhau Mr. 4, 1025) hat Alerander (Phil. Mag. 49, 
663; Phyſ. Ber. 16, 1090) erheblihe Einwendungen er- 
hoben, die die Nouy'ſchen Ergebnifle anſcheinend ziemlid 
illuſoriſch machten. 

Eine ganze Reihe von Beiträgen in Nr. 35 der Natur- 
wiſſenenſchaften befhäftigt fidh wieder mit der Frage der 
Verwandlung von Duedfilber in Gold nah Mierbe- 
Stammreid. Rieſenfeld und Haffe teilen 
mit, daß fie nah der Deftillation von goldhaltigem Quee- 
filber im Deftillat deutlih Gold nachweiſen konnten und daß 
nah ihren WBerfuhen SQuedfilber nur dure mehrfach 
wiederholte langſame Wafuumbeftillation völlig golbfrei zu 
erhalten ift. Dasſelbe Ergebnis fanden Tiede, 
Schleede und Frl. Goldſchmidt, bie dann aug 
mit fo erhaltenen wirklich goldfreiem Queckſilber ben 
Miethe'ſchen Werfuh, jedoh obne Erfolg, wiederholten. Sie 
ihließen, daß berfelbe „mindeſtens ſchwer reproduzierbar“ 








a EEE 


ſei. Miethe ftüst fi feinerleits freilih auf den Umftand, 
daß er das Ausgangsquedfilber genau den gleihen analy- 
tiihen Operationen unterworfen babe, wie das zum Ber- 
ſuch benuste, ſodaß, wenn das nadhgewielene Gold wirflid 
in dem Quedfilber fhon enthalten geweien wäre, doh min- 
deftens der Prozentgebalt dann aud vor und nah dem Ber- 
ſuch derfelbe bätte fein müflen. Die Scriftleitung der 
Naturw. bringt dazu noh einen Bericht über eine eben er- 
fhienene Arbeit von Afton, dem es nunmehr endlid 
gelungen ift, die Atomgewichte der QDuedfilberifotopen ge- 
nauer zu ermitteln. Er fand 198,199, 200, 201, 202 und 
204. Aud dies fpriht gegen Miethe, weil die Umwand⸗ 
lung von Quedfilber in Gold bei fo auffallend geringem 
Energieverbraub nur fo zu erflären wäre, daß das Qued. 
filberatom im Kern ein Elektron aufnimmt (alfo eine um- 
gefehrte A-Ummandlung erfährt). Dann müßte aber das 
Atomgewiht dem des Duedfilbers gleih bleiben, alfo min- 
deftens 198 betragen, während Hönigſchmidt und 
Zintl es gleih dem des gewöbhnlichen Goldes (197,2) 
fanden. — Während fo die Kritik fharf mit Mietbe und 
Stammreich ins Gericht gebt, veröffentlihten in Nr. 32 
der Maturwiflenihaften zwei Holländer, Smits und 
Karen in Amfterdam, daß es ihnen anfdeinend ge- 
lungen fei, Blei auf einem dem Miethe'ſchen äbnlihem 
Wege in Quedfilber und Thallium umzuwandeln. Sie 
fonftruierten eine der Quarzquedfilberlampe äbnlihe Blei- 
lampe und erbielten ein pofitives Ergebnis, wenn fie diefe 
Lampe ſtark überlaftet etwa 6—10 Stunden brennen ließen. 
Aub bier wird man gut tun, die weitere Nachprüfung ab- 
jumwarten. 

Die viel diskutierte Frage, ob das bei faft allen irdiſchen 
Elementen bisher feftgeftellte konſtante Mengenverhältnis 
der in ihnen enthaltenen fotopen auf eine zu Anfang ber 
Erdgeihihte erfolgte Durchmiſchung oder auf ein inneres 
Gleichgewicht, bedingt durd verfhiedene Stabilität (ähnlich 
dem radioaktiven Gleihgewiht) zurüdzuführen fei, ver- 
fuhten Jäger und Dykſtra (Zeitihrift f. anorg. Eh. 
145, Naturw. Nr. 34) dadurch zu entiheiden, daß fie ein 
iediihes mit einem kosmiſchen Vorkommen verglihen. Am 
beften geeignet zu diefer Prüfung it das Silicium, 
das nah Afton aus den beiden fotopen 28 und 29 beftebt. 
Sie fanden feine Abweihung im Atomgewiht zwiſchen dem 
aus irdifhen Mineralien flammenden und dem aus Meteo- 
riten entnommenen Silicium. Zur Beſtimmung des Atom- 

ewichtes diente die Dampfdihte des Tetraätbplfiliciums 

i (C Hs). 

Da die von Sajans, Ryihlewitfh u. a. vor 
genommenen Beſtimmungen der Schmeljtemperatur des 
Kohlenftoffs angezweifelt worden find, fo wurden die Ber- 
fube von anderen Autoren neuerdings mit verbefferten 
Hilfsmitteln wiederholt, führten aber zum gleihen Ergeb- 
nis. Der Schmelzprozeß des Koblenftoffs (Graphits) liegt 
. bei — 3760°, abfol., mit einem wahrſcheinlichen Fehler von 
+ 65°, 


In Nr. 32 magt Meiner ausführlidere Mittei- 
lungen über DVerflüffigung größerer Mengen Helium in der 
Phyſ. Techn. Reichsanſtalt. Man gewann das Helium aus 
der Luft, das Problem befteht hauptſächlich in der 
Trennung vom Meon. Erhalten wurden etwa 700 Liter. 
In Me. 35 der Maturwiffenihaft magt nun Peters- 
Berlin den Vorſchlag, ftatt diefer fhwierigen Trennung 
lieber das Helium aus Monazitfand in größeren 
Mengen berzuftellen, man könne aus diefem Mineral (das 
das Mobproduft für die Fabrikation der Glühftrümpfe 
bilder) leiht 250—500 cbm Helium jährlih gewinnen, 
was zwar niht zum Füllen von Luftichiffen, wohl aber für 
alle wiflenihaftlihen Zwecke ausreide. 

In der engliihen Zeitihrift Nature” bat vor kurzem 
Manley die aufiebenerregende Nachricht veröffentlicht, 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 


e Umf a 267 
daß es ibm gelungen fei, eine beſtändige Quedfilber: 
Heliumverbindung (Queckſilberhelid) berzuftelen. In Nr. 


32 der Maturwiffenihaften gibt nun Joos- Jena eine 
vlaufible tbeoretiihe Erklärung für dieſes anfcheinend der 
bisherigen Theorie widerfpredende Werbalten. Das 
Heliumatom tann durch Elektronenſtoß aus dem Grundzu- 
ftand in einen im DVergleih zu anderen Elementen verhält- 
nismäßig lange Zeit ftabilen angeregten” Zuftand verfegt 
werden, in welchem es einem Waflerftoff- oder Lithiumatom 
ähnlicher ift, als einem Edelgas. Man bätte es hier alfo 
mit einem ausgefprohenen Falle von „pathologiiher Che- 
mie’ zu tun. 

Nach Unterfuhungen von Hedges und Myers 
(Journ. hem. foc. 127; Phyſ. Ber. 15, 1033) wird 
Wafer lebhaft zerfegt, wenn man Magnefiumband 
bineinbringt, das in Salsfäure gut gereinigt ift und mwenn 
man dem Waſſer einerfeits 2 Proz. Salmiak, andererfeits 
einige Tropfen einer Schwermetallſalzlöſung (Cu Cha, Ni 

Wie Mund und Koh (Bull. So. Chim. Belg. 34; 
Cl, Fe S O4 o. a.) zuſetzt. 

Phyl. Ber. 16, 1109) fanden, werben eine Reihe gasför- ` 
miger Koblenwaflerftoffe, fo 5. B. Methan, Aethylen, und 
Acetylen dur Einwirkung von Madiumemanation zu Kon 
denfationsreaktionen (Bildung größerer Moleküle) veran- 
lat, wenn zugleid die Temperatur erniedrigt wird. Biel- 
leicht liegt bier eine Möglihleitgu freiwilliger 
Syntheſe böhermolelularer organifdher 


. Stoffe aud in der freien Natur vor. 


Dagegen ſcheinen die f. 3t. vielbefprodhenen Verſuche von 
Stoflafa u. a, wonach in wäſſerigen Löſungen von 
C .O2 unter dem Einfluß ultravioletter Beleuchtung For: 
maldehyd (als erfies Produkt der Affimilation) entftehen 
folte, niht flihhaltig zu fein. Porter und Rams- 
perger (Journ. Amer. Chin. Soc. 47, 79, Phyſ. Der. 
16, 1128) erhielten noch nad 6O Stunden leine Spur von 
Formaldehyd, wenn fie forgfältig gereinigtes und mit 
Waſſerdampf gefättigtes Kohlenoxyd durch eine Quar- 
röhre trieben, wo es mit einer Quarzlampfe beſtrahit 
wurde. Das Ergebnis wurde jedoch pofitiv, wenn das Gas 
sugleih mit organifhen Stoffen, wie 5. B. Kautſchuk, 
Siegelmahs u. a. in Berührung tam. Es feint alfo, daf 
daß diefe als Katalyfatoren wirken. l 

In Mr. 35 der Maturwiffenihaft berihtigt Edm. 
Hoppe einen weit verbreiteten Irrtum über Gauß. Cs 
wird gewöhnlid angegeben, (id felber befenne mig aud 
Ihuldig), daß Gauß das Dreied nfelberg-Broden-Hober 
Hagen deshalb ausgemeflen habe, um daran eine ev. Ab- 
weihung der Winkelfumme von 2 MR. feftzuftellen und fo 
eine erperimentelle Nahprüfung der euflidifhen Geometrie 
vorzunehmen. Nah Hoppes ausführliher geſchichtlicher Dar- 
legung ift diefe Meinung dadurch entftanden, dab Gaup in 
jener Zeit, wo er dieſes Dreied zu Zweden prat- 
tifher Erdvermeffung aufnahm, zufällig aud ge- 
rade mit einigen anderen Matbematilern in lebhaftem 
Briefwechſel über die nicht euflidifhe Geometrie ftand. Nah 
einer Mitteilung feines Affiftenten Lifting hat ©. nur ins 
Auge gefaßt, dab man vielleiht einmal durch Ausmeſſung 
eines größeren aftronomifhen Dreieds (an Firfternen) die 
Trage prüfen Fönne. 

Das Mätfel der grünen Nordlichtlinie läft die Forſcher 
niht ruben. est veröffentliihden Mc Lennau und 
Shrum in der Nature 115, 382 (Phyſ. Ber. 16, 1124) 
eine Beobachtung, die fat wie ein Columbusei anmutet. 
In einem Gemifh von Luft oder Sauerftoff mit Helium, 
lesteres im Weberfhuß von beiden, trat die berühmte grüne 
Linie auf, fie fehlte aber in den reinen Gafen, auch im 
reinen Waflerftoff oder Stidftoff. Es wurden dabei febr 
lange Entladungsröbren benußt, die mit flüffiger Luft ab- 
gefüblt wurden. Was fagt nun Begard dam? 


268 — 
b) Biologie. 
Syntheſe — Zufammenfaffung — der Wiffenihaften 
lautet beute die Forderung. Ein Beiſpiel einer wirklich 
ſynthetiſchen Wiffenihaft bringt ein ſchöner Aufſatz von 
Auguft Thiensmann, in dem er bie Aufgaben 
der modernen DBinnengewäflerfunde (Binnologie) beihreibt 
(Maturmwiflenihaften H. 27.) Der Verfaſſer bebandelt 
zunächſt den See als Lebenseinheit einer höheren Ordnung. 
Den Einzelweien als Lebengeinheiten erfter Ordnung und 
den Lebensgemeinichaften, den Lebenseinheiten zweiter Ord- 
nung, ftebt der See mit feinen Lebensgemeinihaften als 
eine Lebenseinheit dritter Ordnung gegenüber. Dement- 
iprehend baut fih das Gebäude der Gewäſſerkunde in drei 
Stufen auf. Auf der unterften ſteht die phyſikaliſche und 
chemiſche Erforfhung der Eigenihaften des Waflers einer- 
feits, andrerjeits die feines Einfluffes auf die Lebenseinheit 
der erften Ordnung, die Art. Auf der zweiten behandelt 
der anorganifhe Teil die befonderen Eigenſchaften der 
Einzelgewäfler, der organifhe die Tebensgemeinihaften in 
ihrer Bedingtheit durch diefe. Auf der dritten Stufe 
vereinigen fid beide Teile zur Gewäflerfunde im eigent- 








= Neue Literatur. 





Rätſel, das zu löſen Prell für unmöglid hält. 








lihen Sinn: zur Erforihung des Gewäſſers jelber als 
der Lebenseinbeit, die das Gewäſſer im geograpbiihen Sinn 
mit den beherbergten Lebensgemeinihaften bildet. 

Zu den wunderbarften Leiftungen des tierifhen Inſtinkts 
gehört der Blattrichter des Birkenblattrollers. Dieſer bei 
uns häufige Käfer ſchneidet befanntlib den obern Teil 
des Pirfenblattes jo ein, daß der untere Teil beim Ber- 
trodnen jiġ zu einem die Larven ſchützenden und näbrenden 
Tribter aufrollt. Erftaunlid genug, denn das ift nur 
möglid, wenn der Einihnitt ein Kreis ift. Diefer Kreis 
jol nun nah Wasmann und anderen gerade die Evo- 
Iute des Dlattrandes bilden, ſodaß der Käfer das marbe- 
matiſch garnicht jo einfahe Problem löft, zu einer gege- 
benen Kurve (DBlattrand) die Evolute zu beftimmen. Daf 
davon ebenjowenig die Rede fein fann wie von der mathe- 
matiih eraften Konftruftion der DBienenzelle, weiſt neuer- 
dings Prell nah in „Maturwiffenihaften‘ H. 30. Die 
Leitung erjheint deshalb aber faum weniger bewunderns- 
wert, und die Entftebung des komplizierten nftinfts, bei 
der es ſich um eine biologijhe Mutation handelt, ift ein 











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(Herder u. Co., Freiburg i. Br. 1925. 752 ©.) „Der 
feine Herder” ift ein von katholiſcher Seite berausge- 
gebenes „Konverfationslerikon”, das auf Feinftem Raum 
außerordentlih viel bringt. Im Gegeniag zu feinen Neben- 
bublern ift es viel bandlider und bietet dabei dodh alles 
Mötige. Zahlreiche freilich Eleine, aber doh ſcharfe Bilder 
aus allen Gebieten, auch einige bunte Tafeln dienen der 
Veranſchaulichung des in dem febr Eondenfierten Tert Ge- 
fagten. Die Landkarten find ſchwarz und auh im Fert. 
Dap diefe, Drud und Bilder, gute Augen verlangen, muß 
gefagt fein, ift aber bei dem kleinen handlihen Format 
aud gar nicht zu vermeiden. Daß das Katholiken Jnter- 
eflierende befonders hervorgehoben ift, fann man ja den 
Herausgebern niht verdenfen, ift das Bub dod auch in 
erfter Linie für Katbolifen berechnet. Es muß aber an- 
erfannt werden, daß eine gerechte Beurteilung auh anderer 
Anfihten erftrebt wird. Im ganzen ift aud überall das 
Meuefte angegeben. Freilih ift da gerade unfer Keplerbund 
ihleht weggefommen, denn er bat nah dem „Kleinen 
Herder‘ noh in Godesberg feinen Sig und der Bericht— 
erftatter it noh immer fein Direktor. Das wäre nah 
fünf Jahren doh nit nötig. Dt. 

Charles A. Ellmood, „Zur Erneuerung der 
Religion”. Ueberſetzt von B. L. Frank-Wien. (Verlag 
von W. Kohlbammer, Stuttgart. 330 ©, 7 M Der 
Verfaſſer, Profeffor der Gefellihaftsfunde an der Uni 
verfität Columbia und Präfident der Amerikanifhen So- 
ziologifhen Geſellſchaft, bezeichnet es in diefem Bude 
wieder wie ſchon in feinen früheren Werfen als „eine 
der größten Motwendigkeiten unferer Zeit”, daß eine mit 
der Wiſſenſchaft übereinftimmende Religion die Herrihaft 
über das Leben der Völker gewinne Die dabei in Frage 
ſtehende Wiſſenſchaft ift freilih eine andere als bdie, an 


mwelhe wir zunächſt denfen, nämlich nicht nur die Natur- 
wiſſenſchaft, jondern die Soziologie, die Geſellſchaftslehre. 
Will diefelbe Richtlinien für den gefiherten Beſtand der 
menihliben Gefellibaft geben, fo. muß fie Kräfte und 
Neigungen der Einzelmenihen in Rechnung jegen, welche 
nah des Derfaffers Ueberzeugung allein aus der Religion 
hervorzugeben vermögen. Mur aus ibr Fönnen der Ge- 
meinfinn, die Aufopferungsfäbigkeit, der Mut und der 
Sebensoptimismus erwachſen, welde die Soziologie als die 
unerläßliben Vorausſetzungen für das Gedeiben der menſch— 
liben Gemeinihaft erfennt. Wenn V. fidh nun auh gegen 
den bier fo nabe liegenden Einwand, er vertaufhe die 
Frage nadh der Wahrheit der Religion mit der nah ihrer 
Nützlichkeit, durh den Hinweis wehren fann, für fie gelte 
dodh ganz befonders, daß man fie an ihren Früchten er- 
fennen müſſe, fo bleibt in feiner Betrachtungsweiſe doc 
ein Stück amerifaniihen Pragmatismus erhalten. Die 
metapbufiihe Frageftellung der Meligion bleibt dement- 
iprebend unberüdfihtigt. Won diefer Einftellung läft fid 
der Derfafler jedoch Feineswegs zu dem Verſuch verleiten, 
eine neue Meligion nad) foziologiiben Gefihtspunften zu 
Fonftruieren. Dazu befißt er ein viel zu flarfes inneres 
Verhältnis zum Ehriftentum, in deffen Geift er den Schlüſ— 
fel zur Löſung aller Gefellihafts- und Gemeinihafts- 
probleme erblidt. Allerdings müfle diefer Geift fib dazu 
freier und reiner entfalten Fönnen als ibm dies in ber 
bisherigen kirchlichen Praris möglih war. Das Buch, das 
ſcharf auf das Kernproblem unferer heutigen Zeit bin- 
weift, ift freilih mit einer gewiflen Cinfeitigfeit belaftet, 
infofern eg eben die Religion ganz; von den unmetapbu- 
ſiſchen Gefihtspunften der Soziologie aus betrachtet. Allein 
gerade durch diefe Kinfeitigfeit befißt es andererfeits bie 
Möglichkeit, mit beionderer Wucht auf die Kulturprobleme 
der Religion binzumeifen, auf die Motwendigfeit der Ueber- 
einftimmung von fihtbarer und unfihtbarer Kirde. A.S. 


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Unſere Welt 





 Mufteierte Zeitſiſt fr Aututwiſenſchuft und Beltanihnnung 


Herausgegeben vom Naturwiflenichaftlichen Verlag des Keplerbundes e. B. Detmold. 


Bofticheltonto Nr. 45744, Hannover. 


Scyriftleitung: Prof. Dr. Bavink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Auffätze fiehen die Verfaſſer; ihre Aufnahme mapt Re nigi zur Aeußerung des Bundes. 





XVIL Jabrgang 


Rovember 1925 


Heft 11 


Spiritismus, Gedanfenlefen, Denfende Tiere und Zafchen- 


ſpielerei. Von Dr. Rudolf Weinmann. 


— — — — — — — — — — —— — — — — — — — ar 


Es gibt keine Wunder außer dem einen großen 
Geſamtwunder, genannt Natur, Univerſum, Wirk⸗ 
lichkeit. Es gibt keine Durchbrechungen dieſes 
Allwunders, deffen W efen feine eherne Πe f eb- 
mäßigkeit ift. Unfer Erfennen der Welt — 


ſich ausweiten, Fann bisher ungeahntes erſchließen, | 
fann auf zeitlihe und ewige Grenzen ftoßen, dic 


nur nod der metaphyſiſche Drang, die philofophifche 
Weltinterpretation zu überfchreiten vermögen. 

Doh nimmermehr wird innerhalb er- 
fchloffener Erfcheinungsgebiete Raum fein für 
Fleinlide, fpielerifhe Abweidhun- 
gen von umfaflenden Motwendigkeiten. und Ge- 
fegen des Denkens und Seins, 

Solche aber behauptet der Spiritismus, be- 
baupten die Gedankenleſer, behaupten die Apoftel 
der benfenden Tiere. 

Sie berufen ſich dabei auf Tatſachen und 
fordern den Skeptiker auf, diefe Tatſachen ſelbſt 
zu fehen, zu prüfen und zu widerlegen. 


Letzteres wird nicht leicht, unter Umftänden gar 


nicht gelingen. 

ft der Skeptiker aber damit widerlegt? 

Nigt im geringften- 

Mit Zug und Recht darf er ee von vorn- 
herein ablehnen, einen, wie in folhem Falle zu 
erwarten, ganz fruchtloſen und irrelevanten Au- 
genſchein vorzunehmen. Er hat befiere Gründe, 
ftärfere Helfershelfer für feine Derneinung: Logit 
und Dernunft. 

Mit diefen fann er auf ein großes, fehr auf- 
fhlußreiches, aber viel zu wenig beachtetes und ge- 
würbdigtes Gebiet von „Tatſachen“ verweilen, die 
— Feine find. Das it dag Gebiet der Ta- 
fhenfpielerfunf. 

Hier find — ſcheinbare — Wunder. 


6: 





Da vertaufchen Segenftände ohne mechaniſche 
Hilfe ihren Pas, Stoffe wechfeln ihre Subftanz, 
Dinge entftehen aus dem Nichts und verfhmwinden 
in nichts, Größtes findet im Kleinften Raum, ja 
die indifchen Fakiere laffen Bäume vor den Augen 
ber Zufchauer in den Himmel wachſen. 

Aber im Prinzip ift ſchon das einfachfte Karten- 
Funftftü eines halbwegs geſchickten Amateurs ein 
„Wunder“, niemals zu durchſchauen und fcheinbar 
allen Gefegen Hohn fprechend . . . 

Warum aber glaubt Hier niemand, dag unbe» 
kannte oder offulte Kräfte im Spiele find? 

Nicht, weil man diefe Dinge erflären ober 
gar nachmachen fann, fondern weil man weiß, 


dag eine Täufchung vorliegt; weil niemand den 


Anſpruch erhebt, es handle ſich um Ab- 
biegungen oder Durchbrechungen des allgemein be- 
kannten Naturgefchehens, weil diefe Dinge umge» 
ehrt den Ehrgeiz haben, als außergewöhnliche Ge- 
ſchicklichkeit und amüfante Irreführung gewertet zu 
werden. 

Wir treten alfo dem Gebiete der Tafchenfpielerei 
mit dem rihtigen BW or ur teit gegenüber. Fehlte 
diefes — wir brauden nur einen völlig unbefan- 
genen ‘Betrachter zu fingieren, der von der Eriftenz, 
der Möglichkeit derartiger Eunftvoller Täuſchungen 
noh nie etwas gehört —, fo müßten wir dem rät- 
felhaften Scheine unbedingt unterliegen: wenn 
wir ihm nämlid nur mit dem Rüſtzeug der Beob⸗ 
achtung, nicht mit dem der Dernunft, der Logit 
begegneten! 

Die Beobachtung würde uns völlig im Stiche 
laffen. Das ift ja der Reiz, dag DBefondere, die 
Kunft des Tafchenfpielers, den Punkt zu verhüllen, 
der feine „übernatürlichen“ Teiftungen mit der Na- 
tur verfnüpft, unfere Aufmerkſamkeit auf alles zu 


270 


lenten, nur nit auf den möglihen Schlüffel zu 
feinem Geheimnis. — 

Wenden wir die gleihe Logik und Vernunft, 
mit der wir — weil a priori auf dem ridtigen 
Standpunft! — den Phänomenen der Tafchen- 
fpielerfunft gegenübertreten, auf die fpiritiftifchen 
Phänomene an, fo Fönnen wir gar niht andere als 
aud fie in das Gebiet der nicht durchſchaubaren, 
funftvollen Täufhungen einreihen. 

Freilich wird uns das nidhts weniger als leicht 
gemacht. 

An Stelle des richtigen Vorurteils, das 
wir aller Taſchenſpielerei entgegenbringen, wird 
uns hier mit viel Ueberredungskunſt und einem 
Rieſenapparat ſcheinbarer Beweiſe ein falſches 
zu imputieren verſucht. Jegliche geſunde Skepſis 
wird auszuſchalten und Empfänglichkeit für das 
Abſurdeſte zu erzeugen unternommen. Der un- 
ausrottbare Hang vieler Menfhen zum Aber- 
glauben dient ale willfommene und erfolgreiche 
Stüße. 

Der „große Gelehrte”, am Tiebften der berühmte 
Phyſiker X, dient als Kronzeuge. 

Es ift dann relativ begreiflih, daß der unfelb- 
ftändig Denkende, der abergläubifh Weranlagte 
und durch Autorität leicht Geblendete den Zat- 
fahen” des Spiritismus unterliegt. Der ganze 
Apparat einer fpiritiftifchen Veranſtaltung 
auh nur zu geeignet, ſchwache, beeinflußbare Kipfe 
zu verwirren. Dazu Fommt, dag in jedem Men- 
chen, fei er auh der Nichtabergläubifchefte, Kalt- 
blütigfte, die Stimmung des Unheimlihen — bis 
zu einem gewiflen Grade wenigſtens — zu erweden 
it. Und mit der arbeitet die fpiritiftifhe Sitzung 
befanntlicd in hervorragendem Maße. 

Naht — oder dodh wenigftens Halbdunfel — 
muß es fein, wo ihre Sterne ftrahlen. 

Suggeftion und Autofuggeftion tun dag Uebrige, 
um das notwendige, gefunde DBorurteil niht auf- 
fommen zu laffen, das uns im wohlerleuchteten 
Saale des Tafıhenfpielers nicht verläßt. 

Aber der ſchon erwähnte berühmte Profeſſor der 
Phyſik? Hat er nicht ein dides Buch über feine 
eigenen Erfahrungen und Beobachtungen auf die- 
fem Gebiete veröffentliht? Hat er nicht felbft an 
friritiftifhen Sikungen teilgenommen und das 
Medium unter „exakte Bedingungen‘ geftellt? 

Nun, der gelehrtefte Gelehrte ift da nicht compe- 
tenter als der nädhltbeite Halbgebildete von ge- 
fundem Menfchenverftand. Im Gegenteil! Die 
Stammgäfte des Varieteés refrutieren fih nicht aus 
Leuchten des Katheders und gerade fo einem 
Stammgaft drängt fih leicht und ungezwungen die 
Analogie der fpiritiftifhen Wunder mit verwandten 
Triks der Spezialitätenbühne auf- 


ift ja 


Spiritismus, Gedanfenlefen, Dentende Tiere und Taſchenſpielerei. 


Die Wunder zu durchſchauen freilich wird aud 
diefem gewigten und Eundigen Mann aus dem 
Publikum niht gelingen; ebenfowenig wie er die 
Madinationen der „Zauberer“ aufdeden tann. 
Aber ihon, daß er auf Grund feiner zahlreihen 
Erfahrungen beide in Beziehung bringt und beiden 
mit der richtigen Einftellung begegnet, gibt ihm 
einen Borfprung vor dem Gelehrten, der nod 
lange Fein Bücherwurm aus den „‚Sliegenden 
Blättern” fein muß, um auf diefem Gebiet von 
einem gewandten Reiſenden — der vielleicht felbft 
Kartenkunftftüde macht — verdunfelt zu werden. 

„Wiſſenſchaft“ „Phyſik“ „exakte Bedingungen‘, 
„Beobachtung“: was in aller Welt ſoll mit dieſen 
ſchönen Dingen gegen die ganz eigenartige Mechanik 
und Struktur eines Taſchenſpielerkunſtſtückes aus- 
gerichtet werden? Diefer Dinge zu fpotten, ift ja 
die Seele, das Wefen eines guten Frits. 

Und der Profeffor muß daher dem fimpelften 
Kartenkunſtſtück genau fo ratlos gegenüberftehen 
wie der unftudierte Kommis. Und beide wiederum 
werden weder Tafchenfpieler- no ch Spiritiften- 
Trid Burhfhauen Fünnen. Aber wen zur 
täufhenden Botſchaft der Aberglaube fehlt, weis 
wenigftens Beſcheid. Und da nun könnte oft der 
Kommis den Profeflor lehren. 

Der Verfechter des Spiritismus wird begreif- 
licher Weife geneigt fein, die Analogie zwiſchen 
ſpiritiſtiſchen Phänomen und Tafchenfpielerkunft- 
tüd aufs entfchiedenfte zu beftreiten. 

Obwohl da wie dort ein ganz betimmtes 
Individuum am Wert fein muß, um das 
„Wunder“ zu erzeugen, obwohl es fih da wie dort 
um Eleine und kleinliche Abbiegungen der meda- 
niſchen Urgejege handelt, obwohl fomit pie Ber- 
wandtſchaft dem logifh vorurteilsios Den- 
fenden fi) geradezu aufdrängt, können wir 
dem Spiritiften noh ftrengeren Beweis entgegen- 
fegen als Analogie. 

Nämlich die Perfonal- 
union der beiden Gebiete. 

Und bier it die Stelle, wo auh die Ge- 
tanlenübertragung und das denken de 
Tier zur Betrachtung herangezogen werden muß. 

Esbedarfnihteinmaleines Anao- 
logiefhluffes, einer Einfihe in die Paral- 
Iclität der fraglihen Erfcheinungen, wenn uns 
Varieté und Cireusfelbft die Wunder 
darbieten, denen zu [Liebe fonft weile Männer 
Phyſik, Pinhologie und den gefunden Menfchen- 
verftand umzufrempeln bereit find. 

Und diefe Wunder heißen bier, mit etwas an- 
derem Namen: „Antifpiritiftifhe‘ Er- 
perimente- Oder, fogar mit dem gleihen Namen: 
„Gedankenübertragung“, „Gedanken⸗ 


und Lokal⸗ 








lejen“; „Denkende”, „rechnen de Pfer— 
de und Hunde. 

Taſchenſpielerkunſt im weiteren Sinne iſt auch 
tiefes, denn geſchickte — und offen zu— 
gegebene — Täuf hung erzielt den verblüffen- 
den Effekt. Und wiederum: jedermann wein 
wohl, worauf, im allgemeinen, diefe Täuſchungen 
beruhen, niemand aber vermag, trog fchärffter Be- 
obachtung, die Manipulationen im einzelnen zu 
verfolgen und zuerfennen. 

Wir wiffen alfo, daß der ‚‚Antifpiritift” fid) 
trog aller Gegenmaßregeln und peinlidhfter Kon- 
trolle zu entfefleln vermag — wie er es aber an- 
ftellt, bleibt uns verborgen. Deshalb und troßdem 
wäre es Wahnfinn, noch zu zweifeln, ob das Auf- 
tauchen aller möglichen Gegenftände, das Spielen 
von nftrumenten ufw. nicht feiner Hände und — 
Füße Werf fei; und etwa unbelannte, fpirituelle 
oder magnetifche Kräfte zur Erklärung heranziehen 
zu wollen. 

Wem das niht genügt, der fehe fih einen 
jogenannten Entfeffelungsfünftler an, 
wenn er (ohne fpiritiftifhe oder antifpiritiftifche 
Einfleidung) unter den unerhört ſchwerſten Be- 
dingungen und in den fchwierigften Situationen fidh 
feiner wieder und wieder durdfontrollierten Ketten 
und Stride zu entledigen weiß. 

Entipredhendes gilt von den „Gedankenüber— 
tragungen”. Hier {heint (wie dort die Be- 
wegungsfreiheit) Gefiht- und Gehörfinn der be- 
treffenden Perſon ausgefchaltet und es wird die 
Illuſion erwedt, als fpringe der Gedanke unmittel- 
bar, ohne Beiden und Sprade, von Gehirn zu Ge- 
hirn. In Wahrheit aber find Zeichen und Sprache 
nur in eine ungewöhnlidhe Form gekleidet, 
während im Grunde der Gedanfe den gewohnten, 
üblihen Weg von Auge zu Auge, von Obr zu 
Obr geht. Empfänger und Webertrager fprechen 
lediglih eine andere, dem Michteingeweihten 
unverftändlihe und unwahrnehmbare Sprade. 
Aber eben dodh eine ganz und gar auf Äußerer 
Sinnesvermittlung beruhende Sprade- 

Tritt als Gedankenlefer eine einzelne Per- 
fon in Aktion — der weitaus feltenere Fall —, fo 
handelt es fih um unwillfürlihe Taſtzeichen, 
die der Gedankenleſer von einer Perjon aus dem 
Publikum empfängt. Der DVorgang fpielt fi ge- 
wöhnlich fo ab, daß diefe letztere Perſon angehalten 
wird, intenfiv an den zu erratenden Gegenſtand, an 
die auszuführende Handlung zu denfen und dann 
von dem Gedanfenlefer an der Hand ergriffen und 
zu dem gedachten Ort geführt wird ufw. ufw. 

Die Konzentration des Vorſtellens, der Phan- 
tafie auf ganz beftimmte Orte, Bewegungsrich— 
tungen, Handlungsmomente löft bier obne Zweifel 
refleftorifh und unbewußt Muskelinnervationen, 


o Spiritismus, Gedankenleſen, Dentende Tiere und Tafchenfpielerei.. 271 





male — Bewegungen aus, die dem fih willenlos 
tiefen Taſteindrücken überlaflenden Gedankenlefer 
zur Führung dienen. ine befannte Parallel. 
erfheinung läßt folden, zunächſt ungemein ver- 
blüffenden, Vorgang plaufibler erfcheinen: die Cin- 
wirfung des Reiters auf das Pferd. Charat 
teriftiiher Weiſe fpriht man fogar davon, daß ber 
gute Reiter nur zu wollen, zu „den Fen” braudt, 
um das weiche, gut gerittene Pferd nah Belieben 
zu Ienfen. Die dur das bloße Denken (‚nad 
links’, ‚nad rechts’ ufw.) und mit dem bloßen 
Denken einfegenden Hülfen find dann fo gering, 
daß fie dem Reiter felbft nicht zum Bewußtſein 
fommen, dem willenlog hingegebenen Tiere aber 
coh genügende Zeichen find. 

Damit find wir zugleich beim Thema der red- 
nenden ufw. Tiere angelangt. 

Selbft wenn eg — nämlid in Zirkus und Wa- 
riete — nicht als Dreflur-Aft ausdrücklich ange- 
Fündigt würde, könnte niemand zweifeln, daß es fid 
nafürlih nur um einen folhen handeln Fann, wenn 
Pferde und Hunde durch Stampfen oder fonftig: 
Bewegungen oder aud durd das Berühren auf- 
geftellter Zahlentafeln irgendwelche Rechenexempel 
löfen- Selbfiverftändlih löt der Dreffeur 
diefe Erempel und überträgt diefe gedachte Löſung 
auf das Tier, indem er es dur unauffälligfte, 


` feinfte Zeichen zum fo und fo oftmaligen Stampfen 


auffordert, d. b. das Stampfen, wenn die ge- 
wünſchte Summe erreicht ift, wieder zum Aufbören 
bringt. — 

Alfo alle diefe Wunder” gibt es. Im Varieté 
fünnen wir fie jederzeit fehen. Niemand umgibt fie 
bier mit dem Schleier des Geheimnisvollen, jeder 
weiß, daß ungeheure Geſchicklichkeit, raffiniertefte 
Täufhung, ftaunenswertefte Dreffur am Werke find, 
daß fuggeftive Momente, ypfychologifhe Beein- 
fluffungen dag Wert unterftügen und vervollftän- 
digen- Und nun fol plöglid Animismus und Spi- 
ritismug, fol Od, Materialifation und abfolute 
Fernwirkung bewiefen fein, folen Pferde und Hunde 
den Werftand eines Uebermathematikers haben, 
wenn ganz die gleihen Wunderdinge ftatt im bel- 
erleudhteten Raume der DBariete- und Circus- 
Bühne im mehr oder minder verdunfelten Privat- 
zimmer oder im Privatftalle eines fonft ehrenwerten 
Mitbürgers ftattfinden! | 

Es ift von einer gefunden Logik wahrhaftig zu 
viel verlangt, wenn fie bei folder, nicht Analogie, 
nein Identität der Erfcheinungen auh nur einen 
Augenblit dem edanten verfallen foll: bier 
Fonnten andere, noh unbefannte, neue Kräfte 
phyſiſcher oder pſychiſcher Art im Spiele fein; wenn 
fie fih, wo die prinzipielle Erklärung, d. h. die 
Einreibung in ein befanntes, oft gefehenes und ofı 


272 


erlebtes Tatſachengebiet auf der Hand liegt, zur 
Annahme von Dingen gezwungen fehen fol, die — 
man wende und benenne die Sahe wie man will 
— einen Nip bedeuten im Zufammenhang des Na- 
turgefchehens, die etwas Unerhörtes, allen Erfah. 
rungen des Lebens, allen Gefegen des phufifchen und 
pſychiſchen Geſchehens Widerſprechendes darftellen. 

Nicht nur die Identität der Erſcheinungen muß 
uns von dieſem Aeußerſten abhalten — es wird 
unſerer Vernunft noch leichter gemacht, ſich vor 
Abſurditäten zu bewahren: das it im Falle des 
Spiritismus die Identität fogar der Perſonen. 

Alle berühmten Medien, denen die auffeben- 
erregendften „Bekehrungen“ der größten Gelehrten 
gelungen find, die in der fpiritiftifchen Literatur den 
breiteften Raum einnehmen, find entlarvt worden. 
Das ſchlagendſte Beifpiel ift die Gefchichte der 
Eufapia Palladino, der ein Lombrofo, Lodge u. v. a. 
das Wort geredet. 

Die Entlarvung aber bedeutet nichts anderes, 
als dag diefe Medien fih als äußerſt ge- 
ſchichte Zafhenfpieler, als Entfejf- 
felungsfünftlerundafrobatifdhge- 
übte Artiftenentpuppten. Nur unter 
anderem Namen alfo vollbradten fie be- 
fannte Varietékunſtſtücke! 

Ganz abgefehen nun vom Moralifhen — „wer 
einmal lügt.. . .”" —, das die 
würdigfeit diefer Medien auch rückwirkend, für die 
Zeit vor der Entlarvung, zu nichte macht, bedenke 
man doh folgendes: Tafhenfpieler wird 
mannihtvonheuteaufmorgen! m 
Gegenteil. Dazu gehört, wie zu jeder Ar- 
tiftenleiftung, ein Riefentraining, womöglich 
von frühefter Jugend an! Damit alfo, daß man 
nah Spiritiftenlogif den Beginn der Täuſchung, 
des Trids, des Schwindels mit dem Madjlaflen der 
„medialen Kraft” einfegen läßt, mutet man jeder 
halbwegs gefunden Logik eine neue Abfurbität zu. 
Unſer logifches Denken Fann auf die Tatſache 
ihon einer einzigen Entlarvung hin gar nichts 
anders als den allein möglichen Schluß ziehen, daß 
damit moralifh und tehnifh das Tun 
der Medien als Taſchenſpielerei bewiefen if. 

Die Perſönlichkeit eines Menſchen ift 
überdies wahrhaftig nicht ganz außer Betracht zu 
laffen, auf defen Gewicht hin Gefege der Phnfif 
umgeftoßen oder doch umgebogen werden follen. 

Wer find aber die Medien?! Gewöhnlich weib- 
liche Perfonen aus niederen Volksſchichten, obne 
jede geiftige oder ethifhe Baſis. Kategorie etwa die 
der Kartenfchlägerinnen. Daher auh die unfäg- 
lide Banalität der Erſcheinungen. Ebenfalls 
ein Moment, dag den ganzen Spiritismus von vorn- 
herein verdächtig macht und bloßitellt. Papier- 
blumen werden geftreut, Spieldofen geben etwas 


ee a 


Spiritismus, Gedantenlefen, Denkende Tiere und Taſchenſpielerei. 


— — - — 


zum Beſten, Tiſche bewegen fih, Perfonen werden 
berührt und gefißelt, Geiſterhände erfcheinen oder 
die Seelen verftorbener Tanten fpenden froftlos 
unintereflante und nichtsſagende Ausſprüche. 

Der gemäßigte Spiritismus oder Animismus 
verzichtet auf die Geiſterhypotheſe und führt alle 
Thanomene auf eine geheimnisvolle, dem Medium 
entftrahlende Kraft zurüd. Der eigentlihe Spiri- 
tismus fieht Geifter als die unmittelbaren Urheber 
diefer Vorgänge an. 

Die Trivialität der Phänomene fält fomit bald 
dem Medium, bald den citierten Geiftern zur Laft- 

Ob fo oder fo — jedenfalls Hafft aud bier ein 
ſchreien der Widerſpruch zwiſchen 
dem Aufgebot an Gläubigkeit und 
Theorie und dem innerlich armen und 
dürftigen TIatfahenmaterial. Einem 
Material, das fih wohl zwanglos dem Charafter 
der Tafchenfpielerei fügt, nimmermehr aber dem 
Schwergewicht der Geiftertheorie und damit dem 
Gedanken einer individuellen Unfterblichfeit gewach⸗ 


- fen ift; das aber ebenfo wenig geeignet ift, die Auf- 


Vertrauens _ 


ftellung neuer phyſikaliſcher Energien zu ſtützen. — 
Es gehört ein tüchtiges Ausmaß von Gelehrten- 
naivität dazu, all diefe fo naheliegenden Bedenken 
und Schlüffe außer Acht zu laffen und dem plumpen 
Augenfchein gegenüber alle Kritif zu verlieren. 

Was fol man aber erft dazu fagen, wenn Spiri- 
tiften in allem Ernft das vernichtende Gegenargu- 
ment der notorifchen Entlarvungen dadurch 
hinfällig zu madhen verfudhen, daß fie glattweg die 
Entlarvung als folde leugnen und fie als einen 
„Schabernack“ erklären, den die Geifter dem 
Medium fpielen??! Die Geifter nämlich, deren 
Eriftenz das gelungene fpiritiftifhe Erperiment 
ert beweifen folte; deren Eriftenz fie alfo 
ihon als abfolute Tatfählihfettvorausfenen! 
Du Prel felbft, der philofophifhe Vertreter des 
Spiritismus, möchte mit ſolchen Behauptungen die 
unbequeme Tatſache der Entlarvungen aus der Welt 
ſchaffen. 

Ein Gegenſtück hierzu iſt, daß man die Beweis- 
kraft der antifpiritiftifhen Experimente, die fidh, 
wie erwähnt, offen als Entfeſſelungskunſtſtücke 
geben, damit entkräften will, daß man ſie als — 
ſpiritiſtiſche Phänome erklärt, denen der 
„Mode“ zuliebe, um dem „aufgeklärt fein wollen- 
den” Publikum zu fhmeicheln und fomit aus Ge- 
ſchäftsrückſichten, das antifpiritiftifche 
Mäntelchen umgehängt wird! 

Gegenüber diefem Aufgebot an Unlogif, Kritik. 
Iofigkeit und Aberglauben um jeden Preis wäre 
idon der Verſuch einer Widerlegung eine Don- 
Quichotte⸗Tat. 

Aber noch find wir nicht an der Grenze des Ab- 
furden. Diefe wird zweifellos in unüberbietbarer 


= nr — — 


P Fi _ 
—— 


— — — 
m 


Weife erreiht durch die Geſchichte der Wurzel 
jiebenden Pferde, der Briefe Iefenden und fchrei- 
benden Hunde. 

Profeſſoren müßten, evtl. zwangsweiſe, in Cir- 
euffe und Varietés geführt werden- 

Wiederum foll eher Unglaubliches geglaubt, Un- 
gereimteftes als neue Wahrheit hingenommen wer» 
den, als dag man fih entichließt, gleiche oder yer- 
wandte und höchſtens graduel verfhiedene ‘Dinge 
auf denfelben Generalnenner zu bringen. 

Wie unendlih einfach und durch die Defonomie 
des Denfens unweigerlich gefordert ift die Annahme, 
daß es fidh in Eiberfeld und Mannheim ganz ebenfo 
wie auf irgend einer Spezialitätenbühne um feinfte, 
höchſte Tierdreflur, verbunden mit einem Syſtem 
unauffälligfter Zeihengebung im Sinne der Ge- 
danfenübertrager, handelt. 

Wie unerhört ift demgegenüber die Zumutung, 
anzunehmen, daß Pferde und Hunde fih zu dem 
unendlich Fomplizierten Begriffsinftem unferer Zah- 
len und Sprache auffhwingen Fünnten! Wenn 
fie e$ Fönnten, warum vegetieren fie dann unter 
den primitioften Umftänden weiter, warum hätte 
fih, ähnlih wie beim Menſchen, nicht eine Art 
Kultur aud für fie herausgebildet?? . . . 

Pferde folen mathematifche Leiftungen vollbrin- 
gen, die felbft unter einer ganz Fleinen Minderzahl 
unterrichtetfter, kenntnisreichſte Männer — 
Srauen {heiden faft ganz aus! — wiederum nur 
en minimaler Prozentfas, nämlich lediglich 
die mathematiſch durchgebildetften, zu leiten ver- 
mögen! Und Hunde follen über abftrafte Begriffe, 
bildlihe Redensarten, geographiſche Vorftellungen, 
ſcherzhafte Gefprähswendungen verfügen, die fi 
der begabte Mitteleuropäer erft in vielen Jah. 
ren dber Schule und deg Lebeng aneignet . . . 

Aber beſagter Mitteleuropäer wird vom Hund 
noh übertroffen: denn diefer, der Sprade 
und Schrift (merkwürdiger Weife) nicht fähig, muğ 
auh noh Buchftaben für Buchftaben in das ihm 
allein geläufige (1!) Zahlen foftem übertragen 
und liefert fo eine geiftige Teiftung, die ihm nur 
geübte Mnemotechniker nachmachen dürften. 
Bekanntlich „ſprechen“ ja die fraglichen Hunde, 
indem fie z.B. für a = 1, b = 2,e = 3 ufw- 
Er und entfpr. oft mit dem Kopfe niden und 
ergl. 

Man läft alfo das Tier die Wortſprache in eine 
Zeihenfprache umfegen, während man es zugleich für 
ausgefchloffen hält, daf der den Hund Borfüh- 
rende imftande fei, feinerfeits durd eine ver- 
hüllte Zeihenfpradhe, im Sinnejeder 
Tier dreſſur, die verlangten Antworten dem 
Tiere zu entloden! Man mutet alfo dem Tiere 
eima doppelt und dreifach fo viel DVerftand und 
Geſchicklichkeit zu wie dem Menſchen! 





Spiritismus, Gedankenleſen, Denkende Tiere und Taſchenſpielerei. 


273 
Für den Maenſchen, der ſolche Theorie auf- 
ſtellt, mag dies nun auch ſeine Richtigkeit haben. 
Aber dann die Konſequenz gezogen: in Stall und 
Hütte mit dem Menſchen und in den Salon und 


auf den Katheder mit dem Tiere! 


Nebenbei bemerkt, mache man ſich doch auch klar, 
wieviel Willkür, Autoſuggeſtion und Zufall in der 
Abgrenzung der Zahlen bezw. Buchſtaben ge- 
geneinander notwendiger Weife fih geltend machen 
muß. Das Pferd ftampft und ſtampft. Der Hund 
nickt und nit — der Menſch aber nimmt die Œ ä- 
furen vor, Tann fie vornehmen, und der Spiel- 
raum für die Erzeugung der gewünſchten Bud- 
ftaben wird unendlih . - . 

Bleibt das moralifhe Moment. Im Gegenfas 
zu den berufsmäßigen Medien handelt es fidh bei 
den Beſitzern der Elberfelder uſw. Tiere, ebenfo 
wie bei vielen Privatmedien, fiherlih um hochacht—⸗ 
bare Perfonen, denen ein ſchlechthiniger Be- 
trug, noch dazu aus pefuniären Gründen, nicht zu- 
zutrauen ift. Der grobe Begriff des Detrugs muß 
da ausgefchaltet werden. Aber ein tieferes pfncho- 
logiſches Verſtehen wird uns in den Bezirf der 
taufendfältigen Selbfttäufhungen führen, die einen 
zum Wberglauben, zum Offulten, überhaupt zum 
Abfonderlihen neigenden Menfchen wohl fo ver- 
wirren und derart von ihm DBefiß ergreifen Eönnen, 
daß er fat wider Willen, in feine Theorie und in 
feine eigene Teihtgläubigfeit verftridt, zum Täu— 
{her feiner Umgebung wird. De 
Wunſch fann fo zum Vater der Tat werden. Durch 
Heine Nachhilfen, deren man fi, faft unter einem 
Zwang ftebend, niht enthalten fann, entfteht 
ſchließlich das heftig erfehnte Mefultat, die große 
Täuſchung und S elb ft täufhung. 

Halbwegs entgegen aber fommt dem Täufchenden 
das gleich abgeftimmte, aufnahmebereite, von den 
nämlihen DBorurteilen, Erwartungen, Spannun- 
gen bewegte Publifum. Suggeftionen und Auto- 
fuggeftionen, unter Umftänden fogar Illuſionen und 
Halluzinationen vervollftändigen, wag am gewünfd- 
ten Bilde noh fehlen mag. Täufchungen optifcher 
und afuftifher Natur, von Taſchenſpielern ſyſte— 
matiſch ausgenügt, von den „betrogenen Betrügern‘ 
der Privatkreife mehr unbewußt zur Unterftüßung 
herangezogen, tun vollends dag ihre und geben der 
Sade den Ret. Hierber gehören 3. B. die be- 
fannten Zäufchungen über die Größe oder Entfer- 
nung eines im Halbdunkel auftauchenden Gegen- 
ftandes, über die Urfprungsrihtung eines Ge- 
räufhes — lauter Dinge, die pſychologiſch⸗wiſſen⸗ 
ſchaftlich nachgewieſen find. 

Jedenfalls iſt die Lage die: auf der einen Seite 
ein ungereimter, abſurder, aller Wiſſenſchaft und 
Vernunft Hohn ſprechender Sachverhalt — auf der 
andern Seite wohlbekannte Tatſachenreihen, in die 





214 — 


ſich jener Sachverhalt unter Abſtreifung ſeines ab⸗ 
ſurden Charakters einfügen läßt. 

Der Entſcheid kann bei gutem Willen, geſundem 
Denken und ohne eigenſinniges Vorurteil nicht 
zweifelhaft ſein. 

Gemeinſam mit einem Sreunde* habe ih ein 
Syſtem einer Pfeubo-Gedanfenübertragung aus- 
gebildet. Wir bedienen uns dabei einer bier nicht 
näher zu erörternden, für jeden noch fo fharfen Be 
obachter unmerklichen Zeichenſprache. 

Uebung, Kombinationsgabe, Wahrſcheinlichkeits⸗ 
momente wirken unterſtützend und ergänzend. 

Nun iſt es noch niemandem auch nur annähernd 
gelungen, den Schlüſſel des Geheimniſſes zu ent- 
decken. Jede normale Art eines Gedanfenaus- 
taufches, jede Verbindung erfheint nah allge- 
meinem Urteil völlig ausgefchloflen. 

Aber, fo erflären die mit Redt Skeptiſchen, mit 
gefundem Vorurteil an die Sahel Herangebenten, 
eine Vermittlung durch die Sinne m u troßdem 
vorhanden fein, wenn fie auch unmöglich zu Eonfta- 
tieren ift. Demgegenüber erliegen alle, die nicht 
mit diefem Vorurteil ber Pemenang gewappnet 


Der Der phyſikaliſche I Mediumismus. x Bon B. Yavint, 


Die Debatte mit Dennert, die ich feinerzeit in 


diefen_ Blättern geführt habe, wird einem Teil 
unferer Lefer nod in der Erinnerung fein. (Mr. 9 
und 11, 1923; Mr. 2, 6, 12, 1924.) Sie ift, 
wie bisher noch alle Debatten über die Frage der 
Echtheit okkultiſtiſcher Erfcheinungen ergebnislos 
geblieben; es bat nod nie, foviel ich weiß, durd) 
folhe Erörterungen einer den anderen überzeugt. 
Nicht, um fie nun noch einmal wieder anzufangen, 
fondernumdenteferaufeinenenue, 
überaus [häßenswerte Materiale 
fammlung binzumeifen, an ber er fid 
jelber ein Urteil bilden fann, fehreibe ich nun diefe 
Zeilen. Das in dem Briefe des Grafen Klinfomw- 
ſtröm (‚‚Unfere Welt” 1924, S. 137) angefün- 
digte neue Buch desfelben und feiner beiden Mit- 
arbeiter Dr. Gulat-Wellenburg und Dr. Rofen- 
buſch (alle drei in München) ift vor kurzem im Wer- 
lage von Ullftein-Berlin erfchienen als zweiter 
Band der Sammlung ‚Der Offultiemus in Ur- 
funden“, herausgegeben von M. Deffoir (Titel: 
„Der phnfifalifhe Mediumismus“, 500 ©. Viele 
Abbildungen und 15 Iafeln. Preis 16 A, geb. 
18 A). Diefes Bud) follte jeder fih zu verfchaffen 
judhen, der von Berufs wegen aeswungen ift, fid 
ernftbaft mit dem modernen „wiſſenſchaftlichen“ 
Okkultismus auseinanderzufeßen. (Es gibt eine ge» 
naue, auf forgfältigftem Quellenftubium berubende 


Der phyſikaliſche Mediumismus. 





— eo 


find, dem täufchenden Schein und find — an 
wirkliche Gedanfenübertragung zu glauben. 

Diefes conträre Werhalten ift ungemein Tepr- 
reih und durdpleuchtet das Verhältnis der Menichen 
zu allen verwandten Erfheinungen, vom Offultis- 
mus bis zum denfenden Tier. 

Der befannte Spiritift Du Prel wurde ohne 
weiteres dag Opfer unferer Täuſchung; er ftellte 
ung unter „exakte Bedingungen”, Fonftatierte auf 
Grund defen abfolute, reine Gedanfenüber- 
tragung, bei der jede normale Zeichengebung a us - 
geſchloſſen fei, und war nur mit Mühe dazu 
zu bewegen, — teine Abhandlung über biefen 
ftriften Beweis wirfliher Gedankenübertragung zu 
veröffentlihen! Seiner Art zu denken ſchien es 
umgefehrt fogar wahrſcheinlich, daß wir uns 
taufchten, wenn wir in normaler Gedankenverbin⸗ 
dung zu ftehen glaubten!! 

Eine neue, ftarfe Stütze für die Thefe: in diefen 
Dingen fann nit die — bier ftets trügerifhe — 
Beobahtung, fondern nur die gefunde Vernunft den 
rechten Weg weifen. 


> 








— 








Darſtellung cat aller befannteren Fälle von * 
paraphyſikaliſchen mediumiſtiſchen Er— 
ſcheinungen, d. h. ſolcher, bei denen es ſich nicht 
um Gedankenübertragungen, Hellſehen und der- 
gleichen, fondern um (angebliche) phnfifalifhe Pha- 
nomene, wie Materialifationen (Photographien und 
Abgüffe von „Teleplasma“), Ielefinefe und der- 
gleichen handelt. Diefe Arbeit ift deshalb eine fo 
außerordentlid verdienftoolle, weil die betreffenden 
Angaben in der gefamten Literatur überall verftreut 
find und der nicht bereits tief in die Materie Ein- 
gedrungene deshalb faft niemals in der Lage ift, 
Vehauptungen ofkultiftifher Schriftfteller und Red- 
ner nadzuprüfen. Zufammenfaffende Darftellun- 
gen find bisher faft nur von offultiftifher Seite er- 
Ichtenen und überſchwemmen den Büchermarkt. Da- 
durh muß das große Publiftum notwendig irre- 
geführt werden, weil ihm die Mittel zur Kritik 
fehlen. Dem macht nun diefes Bud ein Ende; es 
gibt nicht nur eine fehr ausführlide Darftellung 
aller wichtigeren Einzelheiten, fondern auch überall 
die genauen Quellenangaben, fo daß jeder in der 
Lage ift, den Dingen weiter nachzugehen. 

In zwei einleitenden Kapiteln behandeln Gulat- 
Wellenburg und Klindowftröm die allgemeinen 
Grundlagen des phnfifalifhen Mediumismug, feine 
Methodik und die bisher vorliegenden erperimentel- 
len Unterfuhungen über die dabei auftretenden Be- 





obadhtungsfehler. Es wird die Denfmöglichfeit der 
behaupteten Phänomene an fidh) zugegeben, aber um 
fo ſchärfer die Forderung nad einer vollgiltigen er- 
perimentellen Methodik erhoben, welche jeden Zwei- 
fel ausſchließt. Mit Net betont Gulat-Wellen- 
burg bier und weiterhin immer wieder, daß es viel 
beffer wäre, wenn die Dfkultiften, flott immer aufs 
neue die wiunderbarften Phänomene unter nicht oder 
nicht ganz einwandfreien Bedingungen zu produ- 
zieren, ein einziges Mal ein ganz einfaches Phä— 
nomen, z. B. eine Levitation oder dergleichen unter 
abfolut einwandfreien Bedingungen zu erzielen fid 
bemühten. Solche liegen (auch nah meiner Ueber» 
zeugung) nur dann vor, wenn, wie es Gulat- 
Wellenburg in einem Schema unter IV aufführt, 
„der Erperimentator erafte Kontrollmaßnahmen 
trifft, die dem Medium unbefannt bleiben, weil die 
Anordnung fo getroffen ift, daß fie unmerflich, aber 
automatisch wirfen.” Ein ſolcher Verſuch ift bis» 
ber nur einmal im Ernft angeftellt worden als die 
amerikaniſche Zeitihrift „Scientific American” im 
Jahre 1922 einen Preis von rund 2500 Dollar 
für den einwandfreien Nachweis mediumiſtiſcher 
Phänomene ausgefegt hatte. Das fih der Prüfung 
zur Verfügung ftellende Medium wurde ohne fein 
Wiſſen Eontrolliert dadurch, daß mit dem Geffel, 
auf dem es faf, Glühlämpchen in einem Neben- 
zimmer verbunden waren, welde aufleuchteten, 
wenn das Medium den Seffel verließ. Dies Auf- 
leuchten wurde dort regiftriert, gleichzeitig aber im 
DVerfuhszimmer in ein fogenantes Diktaphon die 
dort gemachten Beobachtungen hineingefprochen. Der 
Mergleih der von beiden von einander unabhän- 
gigen Regiftrierungen gemachten Aufzeichnungen er- 
gab einwandfrei, daß jedesmal, wenn irgend ein 
phyſikaliſches Phänomen fih gezeigt hatte, das Me- 
dium den Seffel verlaffen hatte. Damit war die» 
fes des Betruges überführt. Solder Kontrollmaf- 
nahmen laſſen fih Teicht eine ganze Menge aus. 
denken. Die Medien brauchten dadurd Feineswegs 
in ihrer ‚Kraft‘ gehindert zu werden, da diefelben 
ganz unmerfbar für fie fein könnten. Leider hat 
fih bisher Feines der befannten gropen” Medien 
für folhe Unternehmungen zur Verfügung geftellt. 
Auch bei den fo viel befprochenen Unterfuhungen an 
Wili Schneider (vgl. die oben angeführten Auf- 
füge in „Unfere Welt’) ift der von Profeffor ©. 
Beher (Bruder E. Beders) gemachte febr gute 
Vorſchlag, die ganzen Vorgänge mit einem für das 
Medium unwahrnehmbaren Liht zu beleuchten und 
womöglid zu yphotograpbieren, niht ausgeführt 
worden. Die bisher vorliegenden Unterfuhungen 
haben fih vielmehr mit einer Feinerlei ernfthafter 
Kriti ftandhaltenden Scheinfontrole begnügt oder 
find im günftigften Fale (Gulat - Wellenburgs 
Schema III) fo verlaufen, daß der Erperimentator 








Der phyſikaliſche Mediumismus. 


275 





zwar die Bedingungen gefegt, das Medium aber 
davon vorher oder während der Sitzung Kenntnis 
gehabt hat. 

= Gan; befonders lehrreich find nun vor allem die 
von Klindowftröm dargeftellten tatſächlich vorlie- 
genden Erfahrungen über gemadte Beobadıtungs- 
fehler. Wir hören ausführlih von den berühmten 
Erperimenten von Davey, Hodgſon und Davis, fo- 
wie von den Enthüllungen des Mediums A. Şir- 
man. Wenn man diefe Einzelheiten einmal genau 
fennen lernt, fo fagt man fih, daß man 
[hlehterdings feinen eigenen Au- 
gen niht mehr trauen darf (f. aud 
unten). Es find bei diefen Erperimenten von rou- 
tinierten Taſchenſpielern „okkultiſtiſche“ Stüde vor- 
gemacht worden, von denen aud die mit dabei figen- 
den Iafchenfpielerfachverftändigen überzeugt waren, 
fie Fönnten niht mit rechten Dingen zugegangen 
fein. Und dodh beruhte alles auf geſchickter Täu⸗ 
fhung. Hier ift noh befonders intereflant Firmans 
Aeußerung, daß er am meiften die Geiftlihen und 
die ournaliften, am mwenigften die Gelehrten und 
überhaupt wirkliche Gentlemen gefürchtet babe. Wer 
denft dabei niht an die SO von Schrend-Mosing 
ins Feld geführten Gelehrten, die den Erperimenten 
an Willi Schneider beigewohnt haben? 

Nach diefen beiden einleitenden Kapiteln beginnt 
nun die hiftorifche Darftellung der wichtigften Fälle 
von „phyſikaliſchem Mediumismus”, angefangen 
mit den Unterfuhungen der „Dialektiſchen Gefell- 
haft" in London vom Jahre 1867, ſodann ent- 
haltend eine Darftellung der Erperimente von 
Crookes mit den Medien Home und Florence Eoof, 
derjenigen von Zöllner mit Slade und dann über 
Eufapia, der nicht weniger als 80 Seiten gewidmet 
find, Stanislama Tomezyf, Kathleen Goligher, der 
Cordi und Gazerra, der ber-ühmten Eva ©. 
(alias Marthe Béraud) übergehend zu den neueften 
Medien Frand Klusfi, Willi Schneider, San Gu- 
zit, Einer Mielfen, Laszlo und Maria Silbert. 
Es ift natürlih ganz unmöglich, von der Fülle des 
bier Gebotenen aud nur eine annähernde Vorſtel⸗ 
lung zu geben. Die Verfaſſer haben fih bemüht, 
aud) alles, was fih über das Borleben jener be- 
rühmten Medien, ihre Familien- und häuslichen 
Verhältniffe aftenmäßig feftftellen läft, zu ermit- 
teln. Das Gefamtbild, das fih dabei ergibt, ift 
nicht erfreulihd. Am meiften intereflieren uns deut: 
fhe Lefer natürlih die beiden in Deutſchland be- 
Fannteften Fälle Eva C. (Schrenck⸗Notzings frühe- 
res Medium) und Willi Schneider. Hinſichtlich 
des Tegteren veröffentih nun alfo bier Graf 
Klindowftröm den (a. a. ©.) angefündigten 
Bericht über die Vorgefchichte diefes Mediums, das 
Prof. Defterreich als den endgültigen Beweis 
ber Realität der behaupteten Erfcheinungen an- 


216 


ſpricht. KI. gibt den ihm zur Verfügung geftellten 
Bericht eines jungen Wiener Arztes, Theodor S e e- 
ger, wieder, der nod vor der „Entdeckung“ Willis 
für die große Welt in deffen SHeimatftädtchen 
. Braunau in Defterreih eine Sitzung mitmadıte, bei 
der ihm der einwandfreie Nachweis gelang, dafi 
Willi zufammen mit feinem Bater die betreffenden 
„Phänomene auf febr natürliche Weife produzierte. 
Das angeblihe ‚‚Teleplasma”, das ein anderer 
Sisungsteilnehmer überrafchend dem Medium von 
der Ei hulter genommen hatte, war ein Stückchen 
Chiffon. Willis Water zeigte fih über den Cin- 
griff febr empört, nahm dag Stüdchen wieder an 
fidh, tat es in ein Fläfhchen und behauptete am 
anderen Tage, es habe fih wieder „dematerialiſiert“. 
Leider hatte fih ein Stüdchen nicht mit demateriali- 
fiert, dag Herr ©. vorher unbemerft von dem aud 
ihm vorgezeigten „Teleplasma“ abgerifien hatte (7. 
April 1920). Willi hat feither Fein „Teleplasma“ 
mehr produziert, fondern fih auf „telekinetiſche“ 
Phänomene befhränft. 

Sm weiteren enthält der Bericht über Willi 
Schneider noh allerlei bemerkenswerte Einzel» 
heiten, von denen ih befonders den folgenden 
Paſſus hervorheben möchte: 

„Von geradezu einſchneidender Bedeutung für 
die Bewertung der Phänomen Willis find nun Er- 
fahrungen, welhe Dans Henning, Profeflor 
der Pſychologie in Danzig, mit einem ruffifchen 
Pfeudomedium hat maben Fönnen. (ZS. f. 
Piyhol. Bd. 94, 1924, ©. 278) Henning fah 
telefinetifhe Phänomene in feinem Arbeitszimmer 
ohne jeden Vorhang im weißen Lichte dreier Halb- 
wattlampen von je 6O Kerzen, wobei das Medium 
in 1 Meter Abftand (oder weniger) rings von den 
Beobachtern umgeben war. ‚Es wurden nit nur 
verabredete Gegenftände auf ‘Diftanz in jeder vom 
Verſuchsleiter befohlenen Richtung bewegt, fondern 
die Gegenftände (ein dies Buch, ein Aſchenbecher, 
ein Porzellanteller . . .) Eonnten aud) beliebig lange 
in freier Luft ſchweben. Objekte, Verſuchsanord— 
nung und nähere Umftände durften jeweils vom 
Merfuchsleiter beftimmt werden, worauf das Me- 
dium fie unmittelbar ausführt. Wir nabmen aud 
anderweitige Erperimente vor. Das Medium follte 
ein Zigarrenetui des Derfuchsleiters aus Diſtanz 
öffnen, eine Zigarette follte fid aus dem Etui ber- 
ausbewegen, dann in freier Luft fhweben, refpeftive 
durch die Luft in den Mund des Mediums wan- 
dern ... Alles gelang im direften Lichte des Kron» 
leuchters. Aus einem Kartenfpiel zog ich (Henning) 
eine Karte, zeigte fie allen Anweſenden, tat fie zu: 
rück, mifchte die Karten wieder und legte fie auf 
den Zijd, Die vorgezeigte Karte bewegte fid von 
jelbit aus dem Haufen beraus. Wor dem Verſuche 
wurde das Medium mit den gebraudlichen Me- 


Der phyſikaliſche Mediumismus. 


an ee e —— 


thoden unterfudt, und zwar nicht nur im Anfang 
der Sitzung, fondern aud vor ‘Beginn eines neuen 
Erperiments, dodh wurde nie etwas gefunden. 
Außerdem madte das Medium vor jedem Cinzel- 
verſuch folde Kontrolbewegungen, daß alle Teil- 
nehmer daraufhin das Vorhandenſein von Hilfs- 
geräten für ausgefchloffen erklärten. Die Erfcei- 
nungen gelangen genau fo gut, wenn man dem Me- 
dium Hände und Füße fefthält, und diefe Kautelen 
dienen ja bei Willi vielen nichtpſychologiſchen Ge- 
lehrten ausreihend, um bei trogdem erfolgten fele- 
finetifhen Erfcheinungen die Exiſtenz offulter 
Kräfte alg erwiefen anzufehen.‘ 

Diefe verblüffenden Produktionen ftellen auf 
jeden Fall die Willis ftarf in den Schatten. Wer 
würde dafür eine natürlihe Erklärung finden? 
Auch Henning ftand vor einem Rätſel, fam aber 
durd einen richtig beobachteten Mebenumftand auf 
die richtige Fährte und wurde dann von dem 
ruffiihen Tafchenfpieler in die ganze Betrugstechnik 
eingeweiht. Leider bat er diefe in feiner Ber- 
öffentlihung noh niht enthüllt — aus beftimmten 
Gründen. Andeutungsweife erfahren wir nur die 
Grundprinzipien, nad denen der Muffe arbeitete, 
beiläufig auh, daß er den Frid fennt, weldem 
Crookes bei feinem berühmten Wageverfuh zum 
Opfer fiel. Beſonders intereffant ift die von dem 
Ruffen bewußt ausgenuste, dann aud von Henning 
feftgeftellte yfphifhe Veränderung im 
Bemwußtfein der Teilnehmer, die 
bei beller Beleudtung Fernmir- 
Tungen zu feben glaubten, wo tat- 
ſächlich teine ſolchen ftattfanden. 
Der Kompler der Beobadtung und der Aufmerf- 
famfeit bietet bisher ungeflärte Probleme, auf die 
Drofeflor Henning an der Hand feiner Erfahrungen 
in Buchform eingehen wird.” 

Someit der Beriht Kls Ich bilde mir nicht 
ein, er werde die überzeugten Offultiften entwaff- 
nen. Denn diefe fchließen nicht, wie das ein nüd- 
terner Kritiker angefihts folder Feftftellungen tun 
muß, daß bis zum Beweis des Gegenteils durch 
automatische (nicht den pſychiſchen Beobachtungs⸗ 
täufhungen ausgefeßte) Apparate, welde echte Er- 
fheinungen regiftrieren, anzunehmen fei, aud an- 
dere Medien haben fih äbnliher Tricks bedient, 
namentlih wenn fie, wie das bei Willi feftftebt, 
fidon früber bei Betrugsmanövern ertappt worden 
find, fondern fie verlangen umgekehrt, daß der Geg. 
ner in jedem einzelnen Sal feinerfeits den Betrug 
nachweiſen foll. Sie werden aud in diefem Falle, 
wie bisber immer, fagen, dag die Möglichkeit ta- 
ſchenſpieleriſcher Nachahmung keineswegs die Echt⸗ 
beit beſtimmter Phanomene ausſchließe und an diefe 
glauben, auch wenn wieder und wieder ein Medium 
als Betrüger entlarvt wird, und wenn wieder und 


wieder durch Feftitellungen wie die Henningſchen 
die Unzulänglichkeit aller bisherigen Kontrollmap- 
nahmen erwiefen wird. 

Mid perfönli hat das vorliegende Buch aufs 
neue in der Weberzeugung beftärft, daß an den ge- 
famten fogenannten phyſikaliſchen Phäno- 
menen des Mediumismus nichts „echt“ ift, als die 
raffinierte Kunft geſchickter Taſchenſpieler, die 
Gläubigkeit gewifler Offultiften und die mangelnde 
Selbſtkritik auh anerkannter Gelehrter in Lagen, 
wo ihre auf dem eigenen Gebiete bewährte Beob- 
achtungstehnif naturgemäß verfagt. Nadh den 
Henningſchen Ergebniffen würde ih mich nunmehr 
niht für überzeugt erflären, auh wenn mir ein 
Medium am hellichten Tage derartige Dinge 
vormachte, fondern würde einfad verlangen, day 
meine eigenen der Täuſchung möglichermweife aus. 
gefesten Augen, Obren, Hände ufw. durch niht zu 
taufchende Apparate erfegt würden. Man fege das 
Medium, mit Beleuchtung oder in unfidhtbarem 
Lichte, in einen Raum, den es nicht vorher betreten 
fonnte, made vor jedem Erperiment nicht nur eine 
förperlihe Unterfuhung, fondern aud eine Mönt- 
genaufnahme von feinem ganzen Körper, nehme den 
ganzen Verlauf der Sigung kinematographifch oder 
doch in Furzen Zeitintervallen photographiſch, aber 
unbemerft auf, Fontrolliere alle ‚Phänomene‘ 
ebenfalls durch photographifhe Aufnahme, durd 
mechanische Megiftrierung (bei ‚‚Sernbewegungen‘‘) 
und dergleidhen, dann läßt fi, wenn dann wirklich 
ncd was Echtes produziert werden wird, weiter über 
die Sache reden. 

Damit will ich, wie fhon in Nr. 11, 1923 be- 


merft, keineswegs alle vom modernen Okkul⸗ 


tismus behaupteten Erfcheinungen für Schwindel 
erklären. Im Gegenteil glaube ih, daß auf Grund 
der vorliegenden Berichte ſchon jest eine über- 
wiegende Wahrfcheinlichkeit zugunften der Echtheit 
gewiffer „parap f y hif her” Erfcheinungen (Te- 
lepathie und Hellfehen) ſpricht. Dies ift um fo eher 
als im Bereih der Möglichkeit liegend anzu- 
erfennen, als wir ja über die eigentliche nähere Be- 
fhaffenheit des Zufammenbangs von Yeib und 
Seele abfolut nichts wiffen. Da wir aber fiher 
wiflen, daß in der phofifalifhen Welt alles mit 
allem in einem gefchloflenen Kaufalzufammenhange 
ftebt, fo liegt es nicht allzufern zu. vermuten, daß 
diefer felbe oder ein entfpredhender Univerfal- 
zuſammenhang auh auf dem feelifchen Gebiete be- 
ftebt (Hartmanns „Telephonanfhlug ans Abſo— 
lute). Dem näher nadzufpüren erfcheint als eine 
durchaus wiſſenſchaftliche und Feineswegs ausſichts— 
lofe Aufgabe. Dahingegen madhen die gefamten 
Erfheinungen des „paraphyſikaliſchen“ Gebietes 
den Eindruck lächerlicher und völlig wertlofer Zau- 
berkunſtſtückchen und laffen außerdem jede Logik in 


Der phyſikaliſche Mediumismus. 


277 


ſich ſelber vermiſſen. Mit Recht weiſt G. W. in 


dem Bericht über Eva C. auf die unüberwindlichen 


Widerſprüche hin, die hinſichtlich der Natur des fo- 
genannten Teleplasmas in den Angaben der ver- 
fhiedenen Berichte beftehen. inerfeits fol diefes 
ſo unerbört Tichtempfindlih fein, daß die Verſuche 
nur bei völliger oder fat völliger Dunkelheit ge- 
lingen, dann wieder werden Blislichtaufnahmen des 
fraglihen Teleplasmas vorgelegt, ja fogar Proben 
davon vorgezeigt. Einerſeits foll es aus einer bieg- 
famen, nur halb Eörperlihen Mape befehen, die fid 
als „Emanation“ aus dem Körper des Mediums 
bald hier bald dort zu zeigen beginnt. Andererfeits 
aber fol diefes Teleplasma 3. B. bei Wili Schn. 
wieder in ganz berfelben Weiſe wie ein natürlicher 
Eifen- oder Meifingdraht, um an den Hebel einer 
draußen ftehenden Spieldofe zu kommen, die Ma- 
ſchen des hindernden Gazenetzes auseinanderzerren 
müffen. (Die von Schr. Notzing in feinem Bude 
wiedergegebene Photographie fieht tatfählih genau 
fo aus, wie wenn Willi mit einem fteifen Drahte 
die betreffende Erfcheinung bewerfftelligt hätte.) 
Das die „materialifierten‘ Hände ufw. ausgerech— 
net die tupifchen feinen Hautfältelungen befigen und 
in Geftalt von Daumenabdrüden niederlegen fön- 
nen, habe ih fchon früher als weitere folde Mert- 
würdigfeit erwähnt. In dem vorliegenden Bude 
werden zahlreihe Fälle aufgeführt, wo die angeb- 
lihen Materialifationen ebenfo ausgefallene Aehn⸗ 
lichkeiten mit anderen menſchlichen Körperteilen, 
z. B. Epithelfhuppen, Haaren, Nägeln, Hornge- 
bilden der Fußhaut uſw. aufmweifen. Das alles ift 
fo albern — ih fann es nicht anders nennen — 
dag m. E. von einem ernften Gelehrten wirklich 
nicht verlangt werden fann, er folle ſolchen Unfinn 
glauben, ohne daß ihm einfach unausweichliche Be- 
weife dafür vorgelegt werden. Gewig ift es 
einem neuartigen Tatſachengebiet gegenüber 
niht angebradt ift, mit vorgefaßten Meinungen, 
wie eg nun damit fein müßte, heranzufreten, fon- 
dern man muß zunädhft einmal verfuchen, in 
foldem Falle die Tatfahen felber fpreden 
zu laffen, um dann hinterher fie in logifhe Ru- 
fammenhänge zu bringen. Aber, wenn aud bie 
und da in der Gefchichte der Wiſſenſchaft zuerft 
anfcheinend widerſpruchsvolle Ergebniffe bei ſolchem 
induftiven Verfahren zutage Fommen, fo ift es dod 
niemals dagemefen, daß fo Fraufes und in fidh felbfi 
gänzlich unzufaommenhängendes und widerfprude- 
volles Zeug dabei heraus fam, wie im vorliegenden 
Salle bei dem fogenannten Teleplasma. Der mo- 
derne Maturforfeber ift alles andere eber als ein 
Dogmatifer, er ift es gewöhnt, daß in der Wiffen- 
ſchaft vieles zuerft anfcheinend febr Rätſelhafte und 
Unerflärlidhe vorfommt; feit den Nöntgenftrablen, 
dem Radium, der Elementen-Ummwandlung ufm. 
find wir wirflih allerlei gewöhnt. Aber ein in- 


278 


— mo. — 








ſtinktives Gefühl ſagt uns auch, daß ein gewiſſes 
Maß innerer Uebereinſtimmung auch in jedem fol- 
hen neuartigen Falle vorhanden fein muß. Stu- 
diert man jedoch die vorliegenden Berichte forg- 
faltig dur, fo ergeben fih, wie mir ſcheint, zwei 
Säge mit ganz unmißverftändliher Deutlichkeit: 
1. Die Menge fowohl wie die Wunverbarfeit 
der produzierten Phänomene ift umgefehri 
proportional der Schärfe der Kontrollmaß- 
nahmen und | 


2. die Art der produzierten Phänomene ift 
durhaus abhängig von den Zufälligkeiten 
der perfönlichen Bedingungen. 

Das Iestere befagt, daß einerfeits die Erwar- 
tungen der Teilnehmer, andererfeits die Speziali- 
täten” des Mediums und drittens ausgeſprochene 
Moden die Art der Phänomene beftimmen. Schon 
das lentere widerfpridht allem, was wir fonft aus 
der Maturforfhung gewöhnt find. Die Natur 
fennt feine Moden, fie bleibt fi immer gleich. Die 
Maturerfheinungen falen auh nicht verfchieden 
aus, je nahdem, wer fie unterfuht und an welchem 
Objekt fie unterfucht werden. Für die Wirfungs- 
weife der Schwerfraft ift es 3. B. einerlei, ob id 
fie an Bleikugeln wie Cavendiſh oder an Stein- 
mauern wie Rihar; unterfuhe. Jedes Medium 
aber arbeitet nur mit ganz beftimmten Speziali- 
täten, deren Ergebniſſe fih, wie oben "dargelegt, 


großenteils gegenfeitig widerfprehen. Bei einer 


wirklich realen neuen Naturerfheinung wäre zu er- 
warten, daß fi die gleichen Erfcheinungen in jedem 
Salle wiederholten oder höchſtens doh gegenfeitig 
ergänzten. 

Noch fei bemerkt, daß in dem Buche auch der von 
Dennert mir befonders zum Vorwurf gemadıte 
Fal Laſzho aktenmäßig aufgeflärt wird. Ich 
hatte im Anſchluß an Mitteilungen der Tagesprefle 
berichtet, daß S hren Noggin g auh nad dem 
Geſtändnis Laſzlos die Echtheit der von diefem pro- 
duzierten Phänomene verteidigt, das Geftändnis für 
erzwungen oder unter fchwerem, feelifhem Drud 
entftanden und deshalb für nicht bemweisfräftig 
erflärt habe. Dennert beruft fih dem gegenüber 
zur Rechtfertigung Schrends auf den Bericht des- 
jelben an den Verſuchsleite Tordai, den er 
fhon im Oktober 1923 (ein Vierteljahr vor ber 
Entlarvung Laſzlos) gefehrieben habe und in dem er 
bereits Tordai gewarnt und Zweifel an der Echtheit 
der Phänomene ausgefprodhen habe. Diefer Brief 
ift, wie auh Dennert mitteilt, im Märzheft 1924 
der „Pſychiſchen Studien” (der offiziellen ZS. der 
deutſchen Okkultiſten) abgedrudt. Dies alles ift auh 
nadh der aftenmäßigen Darftelung Gulat-Wellen- 
burgs zutreffend, Dennert fheint nun aber nicht zu 
willen, daß trog diefer feiner eigenen 
idon im Oktober 1923 erlafienen 


Der phyſikaliſchhe Mediumismus. 











Warnungen Schrenck MNotzing (in einer 
in der B. 3. am Mittag ergangenen Berid- 
tigung”, welde in der Voſſ. Ztg. vom 8. Ja- 
nuar 1924 abgedrudt ift und fih auf die in- 
zwifchen erfolgten Mitteilungen der Tagespreſſe 
über die Entlarvung Lafzlos bezieht) ganz un- 
verblümt die Ehtheitder Phäano- 
meneverteidigt und die oben ange» 
führten Ausredenbezüglich des Ge. 
tändniffes Laſzlos vorgebradt 
bat. Cs heißt in diefer von G. W. teilweife ab- 
gedrudten Zufhrift Schrends wörtlih: „So viel 
läßt fih heute ſchon mit DBeftimmtheit fagen, daß 
die bei diefer Gelegenheit (d. h. bei Schrends 
eigenen Erperimenten im Oktober 1923). feftge- 
ftellten Erfoheinungen fih weder durch Helfershelfer, 
noh durch die betrügerifche Anwendung von Wolle 
und Gänfefert erflären laffen, wie überhaupt die 
Möglichkeit ſchwindelhafter Manipulationen durd 
die Art der Verſuchsanordnung ausgefchloffen war. 
Was das angeblihe Geftändnis . . . anlangt, fo 
find folde unter ſchwerem ſeeliſchem Druck ... zu 
ftandegefommenen Angaben . . . mit größtem Mif- 
trauen aufzunehmen . . „ An dem Ergebnis un- 
ferer Unterfuhungen wird durd das nachträgliche 
Verhalten ... . oder durd vielleicht neuerlich fon- 
fiatierte DBetrugsverfuhe nichts geändert”. JG 
denfe, das ift denn dod deutlich genug, und ift ges 
rade das, was die Preffe und auh ih damals 
Schrenck Notzing vorgeworfen haben: er hat wirf. 
ih in biefer, nach der Entlarvung Lafzlos ge- 
ſchriebenen (!) Berichtigung verfudht, das Geſtänd⸗ 
nis Lafzlos zu entfräften, um die Echtheit ber Phä- 
nomene zu retten. Wenn er fhon vorher an Tor- 
dai jene von Dennert zitierten und im Märzheft 
der Pſychiſchen Studien zu feiner Entlaftung wie- 
dergegebenen Warnungen gerichtet hatte, fo bleibt 
diefes Verhalten um fo unbegreifliher. Jh Fann 
es mir nicht anders erflären, ale aus einer ähn- 
lihen feelifhen Einftellung hervorgegangen, wie fie 
fo oft im politifchen, fozialen und auch im kirchlichen 
Leben vorkommt: innerhalb des eigenen Kreifes gibt 
man einen vorgefommenen Schaden offen zu und 
ſucht ihn fogar abzuftellen, aber nah außen hin muß 
vor den anderen das Gefiht gewahrt und deshalb 
eine Sade, die man im Grunde felber für oberfaul 
hält, nad) allen Kräften nod verteidigt und be- 
fhönigt werden. Das mag parteitaftiich angefehen 
zwedmäßig fein, in der Wiflenfchaft, der es nur um 
die Wahrheit zu tun fein darf, ift es, gelinde ge- 
jagt — ungebräudlih. Als dann die Sade dod 
nicht mehr zu retten war, hat Schrend Notzing 
jelber durd die als Sonderdrud feines März- 
artifels in den Pf. St. erfhienene Brofhüre „Der 
Betrug des Mediums Lafzlo” fih berauszupaufen 
verfuht. Das mag ihn in den Augen gläubiger 


Wege zur eleftrifhen Sernfinematographie. 


Dffultiften rechtfertigen. Für einen nüchternen 
Beobachter bleibt die Tatfache beftehen, daß er na d 
der (am 27. Dezember 1923 erfolgten) Entlarvung 
durch jene ‚Berichtigung‘ zuerft die unangenehme 
Sade auf andere Weife aus der Welt zu jchaffen 
verfucht Hat. Ich muß es unferen Leſern überlaflen, 
danad zu beurteilen, ob Dennerts hieraufhin gegen 
mich gerichrete Vorwürfe berechtigt find. Für mih 
ift mit diefem Dorfommnis aufs neue und diesmal 
in aller Deffentlichleit Elargeftellt, dag Schrend 
Notzing, an deffen gutem Willen ich im übrirgen 
niemals gezweifelt habe, den Phänomenen nicht 
mehr unvoreingenommen, fondern befangen gegen- 
überfteht, und ich babe deshalb niht die geringfte 
Veranlaſſung, auf feine Derfiherungen in an- 
deren Fällen, daß ‚Betrug ausgeſchloſſen geweien 
fei”, noch irgend welchen Wert zu Tegen. Ich halte 
bis auf weiteres alle angeblihen Erfheinungen von 
fogenanntem phyſikaliſchem Mediumismus 
für ausgemachten Schwindel, und empfehle nod- 
mals dringend das angezeigte Bud allen Lefern zur 
eigenen information. Wenn irgend eines, fo ift 
diefes Werf geeignet, wie ein reinigender Windſtoß 
die diden, ftidigen Wolfen auseinander zu jagen, 
die feit dem Kriege auf dem deutſchen Geiftesleben 
often. Bon allen Weltanfhauungsfragen hält es 
fih übrigens gänzlich fern, es bringt weiter nichts 
als eine rein ſachliche Kritif der behaupteten Tat- 
ſachen. Gerade das ift es, was wir brauden, und 
wenn bei diefer nüchternen Kritif die neuen Ber- 
fuhe zur wiffenfhaftlihen Begründung uralter 
primitivfter animiftifher Maturerflärung in bie 
Brüche gehen, fo halte ih das nit nur für feinen 
Nachteil, fondern nur für einen Vorteil vom 


219 


Standpunfte eines wahren metaphyſiſchen Idealis⸗ 
mus aug, der es wirklich nicht nötig bat, mit einer 
eines Fidfehiinfulaners würdigen Naturphilofophie 
einen Bund zu fchliegen. Dod darüber habe: ic 
das Mötige fhon in meinem Auffag in Wr. 11, 
1923 gefast. 

Nachſchrift. Nah Abfaffung diefes Manuffripte 
finde ih in der Sept.. Nummer 1925 der Plſych. 
Studien einen Auffas von Verweyen, dem 
bisherigen Führer des Moniftenbundes, über "Willi 
Schneider, in melhem Verweyen glatt erflärt, daß 
er durd eigene Erlebniffe in Sitzungen mit Willi 
Schneider vollflommen von der Echtheit der Phä- 
nomene überzeugt fei. Sehr verftändigerweife fügt 
er aber hinzu, daß die Wiſſenſchaft gar nicht anders 
könne, als auch auf feine, ebenfo wie aller anderen 
Einzelperfonen Urteil Feinen entfcheidenden Wert 
zu legen, zumal die von Klindowftröom (DB. zitiert 
aud das bier beſprochene Wert) mitgeteilten Hen- 
ningfchen Verſuche vorlägen. Gerade weil er per- 
ſönlich überzeugt fei, darum müfle er als Wiflen- 
ſchaftler verlangen, daß endlich einmal vollgiltige, 
jeder Kritif ftandhaltende Beweiſe vorgelegt wür- 
den. Wenn alle, die von der Echtheit folder Phä- 
nomene überzeugt find, fo dächten, fo wäre der 
Streit vermutlich Tängft zu Ende. Uebrigens ift 
die Feftftellung, daf Verweyen nunmehr aud feine, 
(wie ih aus privater Mitteilung weiß, längft ge- 
hegte) Ueberzeugung von der Echtheit offulter Phä- 
nomene nunmehr offen ausfpricht, ein intereflantes 
Zeichen der Zeit. Jh bin neugierig, ob der DMB. 
ihn nunmehr ebenfo wie Aigner u. a. ganz heraus- 
graulen wird. 


— — — ⸗ ml —— —— M M U I — — — — — — —— — — —— — — — nn — — — — — — — — 


Wege zur elektriſchen Fernkinematographie. 


Eines der intereſſanteſten Gebiete der modernen 
Technik, deſſen rapide Entwicklung ſich ſoeben vor 
unſeren Augen abſpielt und deſſen Auswirkungen 
nicht nur für den allgemeinen Welt-Bildverkehr 
und den gewöhnlihen Telegraphendienft, fondern 
legten Endes aud für die Sernfinematographie und 
das elektrifhe FTernfehen von überrafchender Be- 
deutung werden dürften, ift das Gebiet der elef- 
teifhen Bildtelegraphie. 

So wunderfam und unglaubwürdig es vielfad) 
Laien auh Flingen mag, die Möglichfeit, Bilder 
und Photographien auf telegraphifhem Wege, felbft 
über die größten Entfernungen und mit erheblicher 
Geſchwindigkeit, zu übertragen, it nach jahrzehnte- 
fanger, mühevoller Entwidlungsarbeit aus dem 
Stadium einer Laboratoriumsfuriofität herausge- 
treten, ift tehnifch durchführbar geworden und fhidf 
fi) nunmehr an, in dag Getriebe des wirtfchaftlidhen 


Bon Jng. 
Berthold Freund. 


Lebeng einzutreten. 

Während man noh vor dem Kriege mit adhtungs- 
vollem Staunen die leiftungen bewunderte, die 
ſchon damals durch das Gelingen guter telegra- 
phifcher Bildübertragungen über Telephonleitungen 
erzielt wurden, fonnte man nunmehr bereits aud 
drahtloſe Bildübertragungen von Europa nadh Ame- 
rifa durdführen und fo den praftifchen ‘Beweis er- 
bringen, daß unabhängig von Teitungsführungen 
und felbft über Weltmeere hinweg, eine elektrifche 
Uebermittlung von Bildern möglich ift. 

Wenn aud bei Iegteren die Qualität der Bilder 
und die Gefchwindigfeit der Uebertragung noh ver- 
hältnismäßig gering waren und daher noh gute 
Arbeit wird geleiftet werden müflen, bevor das 
Biel: das eleftrifhe Sernfehen, praktifch verwirklicht 
fein wird, fo ift bereits das bis jeget auf diefem 
Wege Erreihte außerordentlih beachtenswert und 


280 Wege zur _eleftrifhen Serntinematograpbie. 


bereits für einen telegraphifhen Welt-Bildverfehr 
von größter praftifher Wichtigkeit. 


Das bisherige Prinzip der Bildübertragung, das 
fidh praftifch als das allein brauchbare erwiefen hat, 
ift relativ einfah. Es fann wie folgt beichrieben 
werden: 

Das zu übertragende Bild, 5. B. eine Photo- 
graphie, wird als aus lauter winzigen Flächenele⸗ 
menten oder „Bildpunkten“ zuſammengeſetzt ge» 
dacht, die in regelmäßiger, etwa ſchachbrettförmiger 
Reihenfolge angeordnet find. Jedes diefer Bild- 
elemente befigt dann einen beftimmten helleren oder 
dunfleren Lichtwert, je nachdem es beleren oder 
dunfleren Stellen des Bildes angehört. Dem 
Tichtwert eines jeden Bildpunftes fann ein beftimm- 
tes ihn Fennzeichnendes Zeichen, 5. B. ein beftimm- 
ter eleftrifher Strom, zugeordnet werden, der zu- 
gleidh ein telegraphiſch übertragbares Zeichen dar- 
ſtellt. In Form eines folden eleftrifhen Zeichens 
fann dann ein jeder einzelne Bildpunft von der 
Sendeftation zur Empfangsftation übertragen wer- 
den. Dort wird dann jedem anfommenden elef- 
trifhen Zeichen wieder der zu demfelben zugehörige 
Lichtwert in Form eines Heinen Bildpunftes zu- 
geordnet und feftgehalten. Die fo erhaltenen Bild- 
punkte werden dann in der vorgeſehenen ſchachbrett⸗ 
förmigen Reihenfolge nebeneinandergefügt und da- 


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BEIIII - 


Sa. 1. 


al iR eine Reihe von getonten Bildpunkten 
b) zeigt die Wiedergabe dieier Punfereibe um Linienrasterbild 


c) vigt die au b) geberinen Etrommmpulie die jur Uebertragung der Bildpunkte dienen. 
d) und die an die an der Empfaagoſeite anfommenden Telegraphierimpulie. 


e) Rellt die vom Empfanger wirdergegebene Punktreibe dar. 


durd wieder zu einem dem Originale entipredhenden 
Bild zufammengefest. Das ift das Grundprinzip 
aller bieber praftiih verwendeten bildtelegra- 
phifhen Apparate. Naturgemäß würde die tele- 
qrapbifche Uebertragung eines Bildes auferordent: 


Sende Seite 


Empfangs Seite 


lich lange Zeit in Anſpruch nehmen, wenn der ganze 
befchriebene Vorgang etwa durd) die Arbeit eines 
Menſchen durchgeführt werden müßte. Die Ueber- 
tragung eines Bildes z. B. von der Größe 10X10 
cm würde unter der Annahme, daf etwa 10 Bild- 
punfte auf jeden qmm entfallen und das Bild 
fomit insgefamt 100 000 Punkte befigen würde, 
faft 24 Stunden in Anfprud nehmen! 

An eine ſolche Uebertragungsmweife von Hand aus 
ift fomit praßtifch nicht zu denten. Es war aber 
mit durchaus einfachen technifhen Hilfsmitteln 
möglich, die foeben befchriebenen Vorgänge voll- 
fommen automatifh und mit febr hoher Geſchwin⸗ 
digkeit durchzuführen, fo daß die telegraphiicde 
Uebertragung eines Bildes von der angegebenen 
Größe ihon in wenigen Minuten durdgeführt 
werden fonnte. 

Durch die neueften Errungenfchaften der Technik 
ift nunmehr auch nod eine weitere weſentliche Stei- 
gerung ber Uebertragungsgefchtwindigfeit möglich ge- 
worden, jo daf man dem Ziele der eleftrifchen Fern- 
Finematograpbie und des elektrifchen Sernfehens um 
einen bedeutenden Schritt nähergerüdt ift. 


Die bisherigen Apparate für Vildtelegraphie, die 
nadh dem oben angegebenen Prinzip arbeiten, können 
vom technifehen Standpunkt in drei wefentlih ver- 
fhiedene Gruppen eingeteilt werden. 

Die erte und ältefte diefer 

Gruppen bilden die fogenannten 

Telautographen. Der erfte praf- 

tifhe Apparat diefer Art wurde 

von DBadewall im jahre 1847 

erfunden und im jahre 1902 von 

Profeſſor Korn weſentlich verbei- 

fert. Bei diefer Gruppe von 

Apparaten Fann das telegraphifd: 

su übertragende Bild nicht direkt 

in den Gendeapparat eingelegı 
| werden, vielmehr muß zunädft 
nach dem Originalbild im Wege 
‚eines befonderen Werfahrens ein 
ſogenanntes Tintenrafterbild her- 
i geftellt werden, und zwar mit 
| einer ifolierenden Schicht auf einer 
“  eleftrifhy leitenden metallischen 
Grundfolie. Erft diefes befondere 
Rafterbild fann beim Telautogra- 
phen zur eleftrifhen Bildübertra- 
gung verwendet werden. Dies ge- 
ſchieht durch eleftrifhes Abtaften 
des metalliihen Mafterbildes mittels eines die Bild- 
fläche quer zu den Raſterlinien beftreihenden me- 
tallifhen Taitftiftes, wobei legterer in eng neben- 
einander liegenden Linien die ganze Bildfläche ab- 
taftet. Dort mo diefer Taftitift auf blanfe Metall- 


Wege zur elektrifhen Fernfinematograpbie. 





ftellen gelangt, fchließt er den Stromkreis einer 
Batterie und dort, wo er über eine Mafterlinie glei- 
tet, bleibt der Stromkreis unterbrohen. Da im 
Rafterbild die dunflen Bildpunkte durd breite, die 
bellen Bildpunkte dagegen dur ſchmale Stellen der 
Raſterlinie (refp. durch ſchmale und breite metallifche 
Zwiſchenräume zwifchen den Rafterlinien) dargeftellt 
werden, fo entiprehen beim Abtaften des Raſter⸗ 
bildes den dunklen Bildpunkten kürzere und den bel- 
leren Bildpunkten längere Stromimpulfe. Der 
befchriebene Vorgang ift in Figur 1 ſchematiſch ver: 
anſchaulicht. 

Praktiſch wird das Abtaſten des Raſterbildes an 
der Sendeſeite dadurch bewerkſtelligt, daß die Bild- 
folie auf einer Walze aufgewickelt und mit dieſer in 
gleichförmige Umdrehung verſetzt wird. 

Ein Taſtſtift ſchleift ähnlich dem Stift einer 
Grammophonwalze, auf dem Zylinder und bewegt 
ſich zugleich langſam gleichförmig parallel zur 
Zylinderachſe. Dadurch wird der fidh drehende Zy- 
linder vom Taſtſtift in einer engen fortlaufenden 
Schraubenlinie abgetaſtet. 

Die hierbei gewonnenen längeren und kürzeren 
Stromimpulſe können dann z. B. über Telegra- 
phenleitungen oder auch drahtlos zur Empfange- 
ftation geleitet und hier zur Rückgewinnung 
der Bildpunkte verwendet werden. Letzteres gefchieht 
nun dadurch, daß die in der Empfangsftation an- 
fommenden Stromimpulfe eine geeignete Schreib- 
vorrihtung (3. B. einen Lichtfchreiber) betätigen, die 
auf einem mit dem Zylinder der Sendeſeite voll- 
fommen ſynchron Taufenden Empfangsznlinder 
Dunfte von den jeweiligen Impulslängen ent- 
ſprechender Größe regiftriert. Dies ift gleichfalls 
in Figur 1 fchematifch dargeftellt. Ein volltommener 
Synchronismus zwifchen dem Sender und dem Em. 





on ende Seite 


u 
7 


u C 
Zimplangs "Seite 





Jig. 2. 
a) iR eine Reihe von getönten Bildpunkten. b) zeigt den zu a) ge 


Prinzip des „Phototelegraphen“. 


börigen veränderliden pbotoeleftriihen Etrom. c 
der Empfangsftation ankommenden veränderlihen Strom. d) yeigt 
die vom Empfänger wiedergegebene getönte Punktreibe. 


jeigt den an 


pfänger ift unbedingt erforderlih, damit die Tage 
der Bildzeilen und ſomit auch die Anordnung der 
Bildpunkte im empfangenen Bilde vollkommen 
richtig bleibt. 


281 


Das bier beſchriebene Verfahren der Bildtele- 
graphie ift, wie oben ausgeführt wurde, ein indiref- 
tes, indem nicht das zu übertragende Bild felbft, fon- 
dern erft ein die Uebertragung ermöglihendes Me- 
tallfolien-Rafterbild verwendet werden Fann. 

Die Vorteile der telautographifhen Methode 
liegen beſonders darin, daß ſowohl die Konftruftion 
wie aud die Bedienung der Apparate auferordent- 
lidh einfach ift, daß die Reichweite der telegraphifchen 





Das Prinzip des „Phototelautograpben”. 


a) zu überfragende getönte Punktreibe. b) die Telegrapbierzeichen, 
duro melde die Tönungswerte übertragen werden. c) die an der 


Fig. 3. 


Empfangsflation anfommenden Impulſe. d) das durch Die 
empfangenen Impulſe wieder reproduzierte Tönungsbild. 


Uebertragung auh bei geringem Energieaufwand 
groß ift und daß die Methode ohne weiteres aud 
für drabtlofe Bildübertragungen verwendet werben 
fann. hr Hauptnachteil liegt aber darin, daß fie 
die umftändliche Herftellung eines befonderen Me- 
tallfolien-Rafterbildes erfordert und dadurd mit 
einem unliebfamen erhöhten Zeite und Koftenauf- 
wand verfnüpft ift. 

Diefer hauptſächliche Nachteil wurde dur die 
zweite Gruppe der bildtelegraphifchen Apparate, die 
fogenannten Phototelegraphen, befeitigt. Bei diefen 
Apparaten, deren erfte Konftruftion von Bidwell 
im Jahre 1881 erfunden und die im Jahre 1906 
von Prof. Korn mwefentlich verbeflert wurde, werden 
die heleren und dunfleren Bildpunkte niht erft auf 
dem Umwege über ein Nafterbild zu entipredhenden 
eleftrifhen Zeichen umgewandelt, fondern bei ihnen 
werden die Lichtwerte der “Bildpunkte durd eine op- 
tifhe Einrichtung direkt feftgeftellt und durch eine 
fogenannte Tichteleftrifhe Zelle zu entſprechenden 
eleftrifhen Stromftärfen umgewandelt. Hierzu 
wird das Bild am beften in Form eines transpa- 
renten Films, 3. B. eines gewöhnlichen Negativs, 
verwendet. Durd einen äußerſt dünnen Lichtſtrahl 
wird das Bild in engen parallelen Linien abgeleud- 
tet, ähnlich wie das Mafterbild beim Telautographen 
vom Taftftift beftrihen wird. Dadurd werden alle 
Punkte der Bildflähe hintereinander vom Lidt- 
ſtrahl durchleuchtet. Der Lichtſtrahl fällt, nachdem 
er die Bildfläche durchdrungen bat, auf eine dahinter 
befindliche Tichteleftrifhe Zelle, welde die Eigen- 


nm — — — — — — —h — 


elektriſchen Widerſtand gemäß der Stärke der 
Belichtung zu ändern und dadurch den Strom einer 
elektriſchen Stromquelle gemäß dem jeweiligen 
Lichtwert in feiner Stärke zu verändern. Es be- 
fteht hierbei annähernd Proportionalität zwifchen 
Lichtſtärke und eleftrifher Stromſtärke. Durch 
Anwendung einer ſolchen Einrichtung gelingt es ſo⸗ 
mit, beim Abtaſten der Bildflächen mittels eines 
dünnen Lichtſtrahls den jeweiligen Tönungswerten 
der aufeinander folgenden Bildpunkte genau ent⸗ 
ſprechende Stromwerte zu erhalten. Ein jeder 
Stromwert iſt dann ein Maß für die Helligkeit des 
augenblicklich beleuchteten Bildpunktes. Die hier- 
durch gewonnenen veränderlichen Stromſtärken 
werden von der Sendeſtation zur Empfangsſtation 
geleitet und hier zur Wiedergabe entſprechender Hel⸗ 
ligkeitsſtufen verwendet, die punktförmig feftgehal- 
ten und in derſelben Reihenfolge, in welcher das Ab⸗ 
taſten der Punkte auf der Sendeſeite erfolgt, zeilen⸗ 
weiſe zum Bilde zuſammengefügt werden. Das 
Prinzip ift durch Figur 2 ſchematiſch dargeſtellt. Zur 
richtigen Wiedergabe bes Bildes an der Empfange- 
ftation ift, ebenfo wie beim Telautographen, ein ges 
nauer Synchronismus zwifhen Sender und Em- 
pfänger erforderlih. Die genaue Tönungsabſtu⸗ 
fung wird im Empfangsapparat dadurd gewonnen, 
daß entiprehend ber Stärke der anlommenden 


Ströme eine Lichtquelle verändert wird, die auf dem 


photographifhen Empfangszylinder einen ent- 
fprechend helleren oder dunfleren Punkt abbildet. 

Die Vorteile diefer photoeleftriihen Methode 
befteben darin, daß grundfäglich Feinerlei Vorar⸗ 
beiten dem eigentlihen Bildübertragungsvorgang 
vorausgehen müflen, da das photographifche Bild 
unmittelbar in den Sendeapparat eingelegt wird, 
ferner, daß die Webertragungsgefhmindigfeit bei 
diefer Methode außerordentlich boh ift. Ein wei- 
terer Vorteil befteht auh nod darin, daß die Iö- 
nungsfeinheiten des Bildes ſowohl auf der Sende- 
feite wie auh auf der Empfangsfeite gut zur. Wir- 
fung kommen können und darum aud photographiſch 
ſchön wirkende Bilder ergeben. Die Nachteile diefer 
Methode beftehen aber darin, dap fie im wefentlichen 
nur über furze Entfernungen gut arbeitet, daß ihre 
Mermendung bei radiotelegraphifchen Uebertragun- 
gen praftiih mit Schwierigfeiten verbunden ift, dafi 
fie den Aufwand größerer Sendeenergien erfordert 
und durch Energiefhwanfungen fowie dur äußere 
Einflüffe ftarfen Störungen ausgefest ift. 

Diefe Nachteile, insbefondere die ſchwierige Ber- 
wendbarfeit der Methode für drabtleie Uebertra- 
gungen über ganz große Entfernungen ließen dic 
Sorderung entiteben, ein Derfabren zu finden, dafi 


Wege zur elektrifhen Sernkinematographie. _ 


ſchaft hat, beim Auftreffen von Lichtfirahlen ihren 


mit drahtlos leicht übertragbaren Zeichen arbeitet, 
aber dennodh ohne Verwendung von MRafterbildern 
oder fonftigen Zwifhenformen ausfommt und fomit 
nadh dem direkten phototelegraphifhen Verfahren 
arbeitet. Diele Forderung führte zur dritten 
Gruppe der bildtelegraphifchen Apparate, zu den 
Phototelautographen (wie fie hier vorläufig benannt 
werden fönnen.) 

Die erfte praftifhe Konftruftion eines folden 
Apparates wurde von mir im fahre 1923 erfunden 
und ausgeführt. Bei diefem Apparat werben bie 
zu übertragenden Bilder ebenfo wie beim befchrie- 
benen Phototelegraphen unmittelbar in den Sende” 
apparat eingelegt und unmittelbar optiſch abgetaftet. 
Die von der lichtelektrifhen Zelle gelieferten verän- 
derlichen photoeleftrifhen Ströme wirken im Appa- 
rat auf kurze, in gleihfürmigen Zeitabftänden raſch 
aufeinander folgende Telegraphierftridhe ein, deren 
Länge von ber jeweils vorhandenen Stromftärfe 
beftimmt wird. Die Länge eines jeden Telegraphier- 
firihes (der einem Stromimpuls beim Telauto- 
graphen entipricht) ift dann ein genaues Mag für 
die Helligkeit des zugehörigen Bildpunktes. 

Diefe Strihzeihen werden dann an ber 
Empfangsftation ähnlich wie beim Telautographen 
einer photographifhen Megiftriervorrihtung zuge- 
führt, welde das photographifhe Sefthalten 
der ankommenden Zeichen bewirkt. Zur genauen 
Wiedergabe des Bildes ift auh hier wie bei den 
anderen angeführten Methoden ein genauer Syn- 
chronismus zwifhen Sender und Empfänger er- 
forderlih. Das Prinzip ift in Figur 3 ſchematiſch 
veranſchaulicht. 

Die Vorteile dieſer Methode beſtehen darin, daß 
hier mit drahtlos leicht zu übertragenden Tele- 
graphierzeichen gearbeitet wird, ohne daß dabei 
Hilfsraſterbilder oder ſonſtige Vorarbeiten erforder⸗ 
lich wären. Es wird bei geringem Energieaufwand 
der Sendeſtation eine große Reichweite erzielt. 
Die Methode kommt vor allem für drahtloſe Bild⸗ 
übertragungen insbeſondere bei ganz großen Ent- 
fernungen in Frage. Gegenüber den anderen Me» 
thoden weift fie aber eine etwas Fompliziertere 
Apparatur auf. 

An der lekten Abbildung ift eine aus dem 
Sommer 1924 ftammende Bildübertragung wieder- 
gegeben, die erfennen läßt, daß das Erreichte in 
Anbetracht der zu überwindenden Scwierigfeiten 
ſchon recht befriedigend ift. 

Bezüglich diefer drei genannten Syſteme wurde 
insbefondere in allerlester Zeit öfters die Frage bes 
handelt, weldyes von ihnen für einen praftifchen 
bildtelegraphifchyen Betrieb als dag geeignetfte an- 








gefehben werden fann. Aus dem bei der Beipre- 
hung der Eigenfhaften der einzelnen diefer Sy- 
teme (hon Gefagten geht hervor, daß jedem von 
ihnen ganz beftimmte Bor- und Nachteile anhaften. 
Die Vorteile find insbefondere folgende: Der Tel- 
autograph ift Fonftruftiv und in der Handhabung 
außerordentlih einfah und überdies im Gemicht 
ſehr Teiht. Der Phototelegraph arbeitet auper- 
ordentlih rajd und liefert gut getönte Bilder. Der 
Phototelautograph geftattet eine direkte Bild- 
übertragung mittels Telegraphierzeichen ohne Be- 
nügung von Mafterbildern oder fonftigen Wor- 
arbeiten. Aus diefen grundlegend verfchiedenen 
Vorteilen der drei genannten Syſteme geht ſchon 
hervor, daß es fih hier um Spfteme handelt, die 
für verfchiedene Anwendungsgebiete befondere Eig- 
nungen befisen. Während der Telautograph z. B. 
für einen Betrieb auf Flugzeugen und für fonftige 
mobile Stationen befonders geeignet ift, ift der 
Phototelegraph insbefondere für den Nahverkehr 
über Leitungen zu bevorzugen, wogegen der Photo- 
telautograph ingbefondere für den großen draht- 
lojen Weltverfehr in Frage fommt. 


Die Aufgaben und Probleme der Bildtelegraphie 
find noh mannigfadher Art. Eine weitere Er- 
böhung der DBetriebsfiherheit, die Beſeitigung von 
äußeren ftörenden Einflüffen, die weitere Erhöhung 
der Mebertragungsgefhmindigfeit find einige der 
wichtigften von ihnen. Sn diefer Hinficht beftehen 
jedbod weitgehende und gangbare tehnifhe Mög- 
lichkeiten. Insbeſondere ift durch die Mittel der 
modernen Phyſik und Technik noh eine weitgehende 
Steigerung der Uebertragungsgeihwindigfeit mög- 
li. Uebertragungen von Porträts, die bisher z. B. 
zehn Minuten in Anfprud nahmen, werden alsbald 
ſchon in zehn Sekunden bewerfftelligt werden fön- 
nen, was einer fechzigfahen Erhöhung der Ge- 
ſchwindigkeit entiprechen wird. Für den praftifchen 
Weltbildverfehr wird dies von ausfchlaggebender 
Wichtigkeit fein. 

Für die Löfung der eleftrifhen Fernfinemato- 
graphie und des eleftrifchen Fernſehens reihen aber 
au dieje Gefhwindigfeitsfteigerungen noh lange 
nicht aus. Denn erft wenn die oben in Ausſicht 
geftellte Geſchwindigkeitserhöhung niht nur erreicht, 
fondern noh weiter um mindeftens das Hundert- 
fahe gefteigert werden und die Uebertragung eines 


Bildes dann nur noh ein Zehntel Sekunde be- _ 


tragen wird, wird es möglich fein, ein fernfine- 
matographiſches Sehen zu ermöglichen, indem dann 
sehn Bilder in der Sekunde dem Auge zugeführt 
werden fünnen. Die hierbei erforderlichen Ueber- 
tragungsgefhmwindigfeiten find ganz enorm. in 


Wege zur_eleftrifhen Sernkinematographie. 


283 











— — 








Bild von der Größe 10X10 Zentimeter, das, wie 
eingangs ausgeführt, aus etwa 100 000 Punften 
befteht und für die Zwede der eleftrifhen Fernfine- 
matographie mindeftens zehnmal in der Sefunde 


übertragen werden muß, würde bereits 10X 100000 


— 1000 000 Punftübertrogungen in der Sekunde 





Fig. 4. 
Ein mit dem erften Freund'ſchen Verſuchsapparat übertragenes Bild. 


erfordern. Aber mit 100 000 Punkten, aus denen 
hierbei das einzelne Bild zuſammengeſetzt anges 
nommen wurde, fann man nod bei weitem Feinen 
beliebigen Neihtum an Details wiedergeben. Ein 
folhes Bild ftünde felbft hinter dem allerfchlechte- 
ften Kinobild noh um ein ganz beträdtlihes Map 
zurüd. 

Trotzdem find, wenigftens vorläufig, die An- 
ſprüche an einen eleftrifchen Fernfehapparat noh 
weitaus beſcheidener. Laboratoriumsverfuhe er- 
reichten bisher höchſtens 10 000 bis 50 000 Punfte 
in der Sekunde, vereinzelt und unter befonderen 
Umftänden auh etwas darüber, aber die Schwierig- 
feiten, die nicht linear, fondern in einer höheren 
Potenz mit der Uebertragungsgeihwindigfeit mad- 
fen, und zwar in Bezug auf alle verwendeten An- 
Ingeteile, ftellen vorläufig gerade dem Eindringen 
in die für die praftiihe Fernfinematographie er- 
forderlihen Größenordnungen der Frequenzen nod 
nicht überwundene Schwierigfeiten entgegen. 

Aber die Arbeit ift einmal in Angriff genommen 
und der Weg ift gewiejen. Die allernädfte Zeit 
wird wichtige Sortfhritte in diefer Michtung 
bringen. 





284 Dom Genoffenfhaftsleben unferes grünen Waflerpolppen ‘Chlorohydra viridissima: mit Algen. 


Vom Genoflenichaftsleben unferes grünen Waſſerpolypen 
(Chlorohydra viridissima) mit Algen. won xerit piena 


Won den drei Gattungen der Süßwaſſerpolypen 
zeichnet ſih Chlorohydra viridissima (= Hy- 
dra viridis) im Gegenſatz zu den Angehörigen der 
beiden Gattungen Hydra und Pelmatohydra durd) 
die ftets grine Farbe aus, die bedingt ift durch ein 
dauerndes und inniges Zufammenleben mit Algen. 
Durch diefe Tatſache find die Tierchen fchon ofi 
Gegenftand genauerer Unterfuchungen gewefen. Das 
meifte Intereſſe vereinigte fih auf die Frage nad 
der Art und Weife der Bereinigung von Tier und 
Pflanze. Eine Zeitlang beftand die Anſicht, daft 
die Algen ein Schmarogerleben im PDolnpenleib 
führen. Jedoch gelangte man allmählicd zu der 
Ueberzeugung, daß es fih um ein echtes Genoffen- 
ſchaftsleben, um eine Eymbiofe handelt, bei ber 
beide Teile DBorteile genießen. Die in der legten 
Zeit befonders von Wilhelm Goetſch im 
Münchener zoologifhen Inſtitut angeftellten Unter- 
fuhungen haben die letztere Anfchauung nicht nur 
beftätigt, fondern fie haben uns aud einen tiefen 
Einblid in die Art und Weife der Symbioſe tun 
laffen. Im folgenden mögen einige wichtige Er- 
gebniffe in Kürze mitgeteilt werden. 

ft es bei dem innigen Zufammenleben von 
Polyp und Age möglich, beide Teile fo zu trennen, 
daß fie für ſich weiterleben können? Oder ift die 
Gewöhnung im 
Laufe der Zeit fo 
ftarf geworden, 
daß eine Zren- 


gu 
EN 
N a m 












K? 
Ry 
T 
a 
ID 
Re) DS 

















nung der beiden p se h 
Zeile gleichbedeu⸗ AA si 

tend ift mit ihrem = A c 
Tode? Bevor wir ww:: m 
diefe Frage beant- k N A H3 n 
worten wollen, X 

müſſen wir einen D FE 
flüchtigen Blit 9 H 

auf den anatomi- Aa: 

fhen Bau von BS JR 

Chlorohydra Sap A | _— 





- — =w 
— 


werfen. Wie alle 
Polypen beſteht 
auch unſer grüner 
Waſſerpolyp aus 


Jig. I. 


Langeſchnitt durh Chlorohydra. m - 


Mundofßnung; h . Körperbohlraum 


x ; P (Magen): | Fangarme: koo Knoſpe: 

einem zylindri— c> —— s Enisi; n- 
niod ; 

ſchen Schlauch, — 


der mit dem Fuße feſtgewachſen iſt, und aus 
der am entgegengeſetzten Pole liegenden Mund— 
öffnung, die mit Fangarmen (Tentakeln) ausge⸗ 
rüſtet it. Die Körperwand fegt fib aus zwei Zell. 








hichten zufammen, dem Ectoderm und dem Ento: 
derm. Zwiſchen beiden liegt die nicht aus Zellen 
aufgebaute Stüsfhiht (Fig. 1). Außer diefen 
Körperbaufteinen befißen die Tiere nod Organe 
verfchiedener Form, die zum Teil ale Waffe, zum 

Teil ale Haftorgane die 

nen und zufammenfaflend 
N als Meffelkapfeln (Dur 

fhlags-, Widel-, Haft 
/ Eapfeln) bezeichnet werden. 
2 N Für unfere Betrachtung 
erübrigt fih ein näheres 
Eingehen auf ihren Bau. 
Die Vermehrung gefehiebt 


(7 
DIR 


ES auf geſchlechtlichem und 
— ungeſchlechtlichem Wege. 
We) Bei der letzteren Art 
Ex entfteht am Körper des 
Tieres ein Auswuds, a 
—— Knoſpe, die immer mehr 
853 in die Länge wäh. € 
W bilden ſich die Arme und 


der Mund aus, und folie. 
Lich Löft fid die Knoſpe ab. 
(Fig. 1.) Die die Po 
Inpen bewohnenden Algen 
baben ihren Se m 
Entoderm und bevorzugen 
als Aufenthalt die nad 
innen gerichtete Seite der Zellen, während die m 
den Magen hineinragenden Lappen frei davon find 
(Abb. 2). Die Algen feinen eine befondere Nail: 
der im reien Iebenden Chlorella vulgaris pu 
fein, die fih durd einen glodenfürmig ausgebildeten 
Blattgrünapparat auszeichnet und fig durch Zwei⸗ 
teilung vermehrt. (Abb. 3.) Daf die ſymbion 


Fig. 2. 
Sonitt durd den @ierfiod von 
Eborobupra. e » Ei mit Algen: 
k. ifen; c . Eetoderm; n. 
Entoderm mit Eborellen, die an 
der Zelbafis angefiedelt find. 
(Rad Greiſch.) 


| 93 
o = 5, b 


a - Chloralla —— EN (Nad Goetich 
tiihen Chlorellen infolge des Zuſammenlebens eine 
phyſiologiſche Abänderung erfahren haben, zeigt fid 
darin, daß fie einer künſtlichen Kultur großen 
Widerſtand entgegenfegen. Aber aud die Polnper 
laffen fih niht fo leidt ihrer Gäſte berauben, f 
dafi lange Zeit die Meinung galt: Eher gebt Chlore: 
bydra zugrunde, als daß fie ſich von den Algen 


285 


Vom Genoflenihaftsleben unferes grünen Waflerpolypen (Chlorohydra viridissimal mit Algen. 285 


trennt. Goetſch jedoch gelang es, algenfreic 
Tiere heranzuzüchten. Die grünen Polypen wur- 
den in kalkarmes Waſſer gebracht, an einen dunflen 
und Falten Ort geftellt und tüchtig mit Flohkrebſen 
(Dapbniden und Cyclopiden) zwecks rafcher Knofpen- 
vermehrung gefüttert. Zunächſt verblaßt die Kör- 
permitte; die entftehenden Knofpen werden beller; 
Jup und Mundgegend folgen, und nad) ungefähr 
A bis % Jahre find fowohl die Knofpen als das 


Muttertier algenfrei, was fih an dem jeßt voll- 





Jig. 4. 
Linke weiße Chlorohvdra; rehte grüne Chlorohydra mit Knoſpe 
und Çi, das durh Algen grünlih gefärbt it. (Mad Goetic.) 


fommen weiß erfcheinenden Körper zeigt. (Abb. 4.) 
Wie die mifroffopifhe Unterſuchung ergab, gerieten 
die Algen durch die ungünftigen Verhältniſſe ali- 
mählich in Auflöfung. Da die algenfreien Chloro- 
hydren (Chlorohydra alba) in ihrer geſchlecht⸗ 
lichen und ungeſchlechtlichen Vermehrung fih von 
den grünen Tieren im wefentlihen nicht unter- 
feiden, weil die Tiere fih in der 15 Monate lan- 
gen Kultur alg lebensfähig erwiefen, muß die ge- 
ftellte Frage dahin beantwortet werden: Chloro- 
bydra und Algen laffen fih durch Fünftlihe Bedin- 
gungen trennen. 

Daraus könnte man leidt den Schluß ziehen, 
daf die Polypen keinen großen Gewinn aus dem 
Genoſſenſchaftsleben haben. Aber fhon aus dem 
Umftande, dag Chlorohydren ohne ihre pflanzlichen 
Bewohner hinfälliger find, läßt fih auf eine feft- 


ſchem Gebiete liegen. 


gefügte Gewöhnung ſchließen. Faft immer maden 
die Tiere bei der Entalgung einen Eranfhaften Zu- 
ftand durch, der fih nur durd gute Pflege beheben 
läßt. Nah welcher Richtung bin liegt der Bor- 
teil? In erfter Linie wird man daran denken, daß 
die grünen Algen dur die Abgabe von Sauerftoff 
den Chlorohydren nüglich find. Jedoch feint hier 
nur ein indirefter Einfluß vorzuliegen, indem die 
grünen Zellbewohner das Umgebungswafler mit 
Sauerftoff verforgen, der dann erft den Tieren zum 
Nutzen gereicht. Der unmittelbare Vorteil dürfte 
nah NHungerverfuhen auf ernährungsphnfiologi- 
Normale grüne Polypen 
vermögen vier Monate ohne Futter zu leben. Sie 
zeigen eine allmähliche Größenabnahme. Die wei- 
Ben Eremplare dagegen halten faum die halbe Zeit 
aus. Schon nah vier Wochen beobachtet man an 
ihnen krankhafte Erfcheinungen, woran fie nad) und 
nach eingehen. MWahrfcheinlich erzeugen die Chlo- 
rellen Dele bezw. Fette, welde von ihren Wirts- 
tieren aufgenommen werden. Deshalb find die 
Chlorohydren anderen Gattungen gegenüber we- 
niger fleifhbhungrig, was auh durd ihren Bau 
zum Ausdrud kommt, indem fie kürzere Fangarme 
und eine geringere Anzahl von DBerdauungszellen 
befigen.. Dag die Algen im Tierförper Borteile 
mannigfacher Art genießen, ift wohl ohne weiteres 
verftändlih. Deshalb muß das Zufommenleben 
von Polyp und Alge als ehte Symbioſe angefpro- 
den werden. 

Um die lebenswichtige Gemeinfhaft aufrecht zu 
erhalten, haben fih bei den Chlorohydren Einrid- 
tungen ausgebildet, die dafür forgen, daß den Nady- 
fommen die Algen mitgegeben werden. Bei der 
ungefchlehtlihen Vermehrung durch Knoſpen ift 
der Vorgang leicht zu verſtehen. Wie geſtalten 
fi die Verhältniſſe bei der geſchlechtlichen Ver— 
mehrung? Die Chlorohydren find Zwitter, d. b. 


` an demfelben Tiere finden fih Hoden und Cier- 


ftöde. Die Geſchlechtsorgane find Bildungen des 
Ectoderms. Der Eierftod ftellt eine Anhäufung 
son Zellen — den fog. Pfeudozellen — dar. Sie 
geben aus den Wanderzellen (fnterftitialzellen) 
hervor, die zwiſchen den Ectodermzellen liegen und 
die Fähigkeit befigen, im Körper des Polypen þer- 
umumwandern. Ihre Bewegungsmöglichkeit er- 
ftredt fidh aud auf dag Entoderm, wobei fie die 
Stütlamelle durchbrechen. Eine Wanderzelle wird 
im Eierftod zur Eizelle, während die anderen zer- 
falen und als Mährmaterial für die wachſende 
amöbenartige Eizelle dienen. Schon im jugend- 
lihen Zuftande Eönnen durh das Mikroſkop im 
Eiplasma grüne Algen nachgewieſen werden. (AL- 
bildung 2.) Se größer das Ei wird, defto mehr 
nimmt die Algenzahl zu, und wenn das Ei aus der 
Amöbenform in die rundliche übergeht, dann er- 


286 


fennt man an größeren Tieren ſchon mit unbewaff- 


netem Auge die grünlihe Färbung des Eis. (Ab 
bildung 4.) Wie kommen die Algen in die Eizelle 
hinein, umfomehr als das Ei eine Bildung bes 
Estoderms ift, während die Algen fih im Ento- 
derm finden? Aller Wahrfcheinlichfeit nach kommt 
hierfür eine zweite Art von Wanderzellen in Frage, 
die aus dem Entoderm ftammen und Algen ent- 
halten. Das es folhe Wanderzellen geben muß, 
lehrt folgender Verſuch: Es gelingt ohne Schwie- 
rigkeit, Zeile von normalen Chlorohydren mit 
Teilen von weißen Eremplaren zum Zufammen- 
wachſen zu bringen. So ftellt Abbildung 5 ein 
Tier dar, das ein grünes Fußſtück und ein weißes 
Kopfſtück befist. Im Laufe einer verhältnismäßig 
furzen Zeit (134 Wohe) wird der weiße Abjchnitt 
grün. Das Ergrünen gefchieht aber nicht ſchritt⸗ 
weife von der Verwachſungszone aus, fondern an 
allen Stellen ziemlich gleichzeitig. 
Auch finden fih Tiere, bei denen 
im hellen Teile zuerft infelartig 
grüne Partien entftehen. (Abb. 5.) 
Soldye Agenwanderzellen gelangen 
auch in die Nähe des. Eierftodes, 
werden vom Ei aufgenommen, und 
die mitgeführten Algen werden frei. 

Wenn die Algen für das Po- 
Inpenleben eine fo große Role ſpie⸗ 
len, dann taucht die Frage auf: 
Wie verhalten fih weiße Chloro- 
hydren einer Neuaufnahme von 
Algen gegenüber? Kann man durd 
Darreihung von Chlorellen die 
Symbioſe wieder herftellen? Das 
hatte anfangs feine Schwierigkei⸗ 
ten, weil zerbrüdte Teile grüner 
Artgenoffen von den Tieren nicht 
aufgenommen wurden. Als aber 
die richtige Methode gefunden war, 
gelang es ohne weiteres. Daphnien 
werden die Schalenflappen augein- 
auseinander gebogen und algenhaltige Teile einge- 
Hemmt. Bei der Verfütterung fo vorbehandelter 
Flohkrebſe gelangen die Algen in den Magenraum 
der Polypen, werden frei und aufgenommen. Nach 
zwei bis drei Wochen ift die Symbioſe wieder vol- 
ftändig hergeſtellt. Wie hier die Wiederergrünung 
auf Fünftlihem Wege gefchieht, fo fann fie auh auf 
fpontane Art und Weife entftehen, fofern den Po- 
Ippen Chlorella vulgaris zur Verfügung ftebt. 





rüner und weißer 


lorohydra. Ber- 

logerung von Algen 

in ben oberen algen- 
loſen Teil. 


Die Quantentheorie. Bon B. Vavint. (ons) 


lehre müflen diefe beiden Beifpiele der wichtigften 
durch fie erzielten Sortfehritte genügen. Es liefe 


Dirie Quantentheorie. 


Die Meuinfektion maht ſich zunächſt an irgend 


einer Körperftelle in Form von Feinen grünen 
Flecken bemerkbar, die fih immer mehr ausbreiten. 
(Abb. 6.) Die Leichtigkeit, mit der die weißen 
Chlorohydren eine Wiebervereinigung mit den 





Sig. 6. 
Neuaufnahme von Algen bei weißen Chlorohydren. (Nah Goeth.) 


Algen eingehen, ift weiter ein ‘Beweis dafür, dap 
die Tiere auf ein Zufammenleben eingeftellt find. 

Es gelang fogar, eine Symbioſe von Chloro- 
hydren mit einer Algenart zu beobachten, die in der 
freien Natur noh niht beobachtet wurde. Dieſe 
neue Genoflenfhaft zeigt uns in ihrem Zuflande- 
fommen einen Teil des Weges, wie fih eine Sym- 
biofe entwideln fann. Bei manden ergrünenden 
Eremplaren von Chlorohydra alba fanden fid 
bei mifroffopifher Unterfuhung Feine Chlorellen, 
fondern Algen von anderem Bau. (Abb. 3.) Wahr- 
ſcheinlich handelt es fih um eine Form der Gattung 
Oocystis. Diefe neuentftandene Symbioſe ging 
aber nicht fo ganz ohne Schwierigkeit ab. Die Po- 
Inpen zeigten zunähft Schädigungserfheinungen, 
die in der Verkleinerung des Körperumfangs ihren 
Ausdrud fand. Sie mußten zum Freflen genötigt 
werden, und nie fam es zu einer Eibildung. Erft 
im Laufe der Zeit erholten fih die Tiere. Und bob 
wurde das Zufammenleben nicht fo ſtark, wie bei 
einem ſolchen mit Chlorellen; denn bei dem Auf- 
treten beider Algenarten in einem Tier wird 
Oocystis von Chlorella überwudert und ganz 
verdrängt. Wenn man noh Verſuche berüdfichtigt, 
Die mit Polypen anderer Gattungen gemacht wor- 
den find, wo wir Arten finden, die überhaupt Feine 
Algen aufnehmen (Pelmatohydra oligactis, Hy. 
dra circumcincta) und anderfeits folde, die burg 
ein Zufammenleben gefhädigt werden und nur mit 
großer Mühe Fünftlih erhalten werden können 
(Hydra vulgaris), dann läßt fih eine Reihe auf 


ſtellen, die das Entſtehen eines Genoſſenſchafts⸗ 


Icbens ifluftriert: Unempfänglichfeit, Schwächepara⸗ 
fitismus, echte Symbioſe. 


H 





Wir wollen davon aber abfeþen und uns zum 
Schluß fragen: welche grundfäglide Bedeutung 


fommt denn nun diefer neuen — der Phyſik zu? 

Wenn neue, bis dahin ganz unbelannte Tat- 
ſachen, bier alfo die Eriftenz eines gewiflen flein- 
ften Wirkungsquantums, in der Wiffenfchaft feft- 
geftellt werben, fo fann das zweierlei bedeuten. 
Entweder hat man wirflid etwas gefunden, was 
ganz außerhalb alles bisher Bekannten liegt und 
fi auf Feine der bisher befannten Erfcheinungen 
zurüdführen läßt. Oder aber man hat nur eine 
bis dahin noh nie beobachtete Kombination und 





Erfheinungsform der bereits befannten Kräfte 


entdeckt. Beifpiele für den erfteren Fall liefert 
die Geſchichte der Phyſik u. a. in der Entdedung 
der Wechſelwirkung zwifchen Elektrizität und Mag- 
netismus durch Derfted, der Induktion durch Fa- 
raday, der Gravitation durch Newton uff... Bei- 
fpiele der zweiten Art find 3.3. die Entdedung der 
Polarifation des Lichts (Malus 1810, Zurüd- 
führung auf die Theorie der Transverſalwellen), 
die der Radioaktivität (Becquerel und die Euries 
1896 ff, Zurüdführung durch Rutherford auf 
eleftriihe Spannungszuftände innerhalb der 
Atome) ufw. Der legtere Fall zeigt deutlich, wie 
vielfady beiderlei Arten von Entdelungen in ein- 
ander greifen. Die ganz neue Grundtatſache, die 
aud in der Radioaktivität fi äußert, it die Eri- 
Renz des eleftrifhen Elementarguantums, die jedoch 
grumdfäglih ſchon durch Faradays Unter 
fuhungen über die Eleftrolnfe und die Deutung 
diefer Verſuche nad Arrhenius und Helm- 
polg gemaht war. Wir fiehen nun bei der 
Quantentheorie Sdr der Frage: 
Eriftenz folder kleinſter Wirkungsquanten auf 
die bereits befannten atomiftifhen Verhältniſſe zu- 
rüdführen, ober ftelt fie etwa felber die Grund- 
tatſache vor, auf die umgefehrt alle Atomiftif über- 
haupt fih gründet? ft das erftere der Fall, fo 
müßte man verfuhen, ob man niht aus den bis- 
ber befannten Geſetzen der Elektrizität zuſammen 
mit der Tatſache der Exiſtenz des kleinſten La- 
dungsquantums (der Cleftronenladung) die Not- 
wendigleit des ,„Wirfungsquantums” ableiten 
fann. Daß diefe beiden „Quanten“ fo einfach 
nebeneinander gegeben fein follten, ift recht wenig 
einleudhtend. Es könnte aber ja vielleicht auch um- 
gelehrt fo fein, daß die Eleftrizität deshalb nur in 
Elementarladungen vorfommt, weil die Wirkung 
nur in Planckſchen Quanten eriftiert. Welche 
Größe ift alfo die urfprünglichere? Solde Fragen 
wird ein pofitiviftifher Phnfifer natürlih für dum- 
mes Zeug erflären. Er wird ad majorem glo. 
riam Machii behaupten, daß es ganz einerlei fei, 
ob man e mit h, oder h mit e im Zufammenhang 
bringe. Ich fann mid hier niht auf eine aug- 
führlihe erfenntnistheoretifhe Auseinanderfeßung 
darüber einlaflen, warum ein folder rein äußer- 


_ Die ie Quantentheorie. 


Läßt fih die 


287 





liher Formalismus — iſt. Der Leſer 
wird hoffentlich von des Gedankens Bläſſe nicht 
ſchon ſoweit angekränkelt fein, daß er den Unter- 
ſchied nicht fühle. Läßt fih nun heute ſchon irgend 
etwas darüber fagen, welche Auffaflung die grö- 
Gere Wahrfcheinlichkeit für ſich Hat? Zunächſt, wir 
haben den fraglihen Zufammenhang bis heute 
überhaupt niht. Diele Phnfifer vermuten nur, 
daß er da ift, weil es ihnen zu fonderbar erſcheint, 
daß eine folhe Reihe von einander ganz unab- 
hängiger Grundgrößen wie e, h, M (die Maffe des 
MWaflerftofflerns), m die Maffe des Elektrons, 
c = die Lichtgefhwindigfeit und dazu die Gravi- 
tationsfonftante fo einfach neben einander daſtehen 
follten. Das ift genau fo wenig einleuchtend, wie 
es den Chemikern feit Mendelejeffs Entdedung des 
periodifhen Syſtems jemals eingeleuchtet hat, daB 
diefe rund 9O Elemente mit diefen merkwürdigen 
inneren WBerwandtfchaftsbeziehungen nicht auf 
irgend eine gemeinfame Grundlage zurüdgeben 
follten. Dies legtere Problem baben wir ja nun 
beute fo ziemlich gelöft (vgl. m. Auffag in U. W. 
1921 Mr. 4). Uber eben die bei diefer Löſung 
auftretenden wenigen Grundgrößen ftehen da nun 
als brutale Tatſachen vor ung, und es ärgert ung, 
dag wir nicht zwifchen ihnen auh noch ein ver- 
bindendes Band aufgefunden haben. Ein inftinf. 
tives Gefühl fagt uns, daß eine Welt, die fo ein- 
fadh in ihren Grundlagen ift, daB man alles Ma- 
terielle auf diefe geringe Zahl von einander unab- 
bängiger Daten ſchon heute zurüdführen tann, 
fiher wohl auh nod ein bischen einfacher, nämlich 
fo eingerichtet fein wird, daß nur eine einzige ders 
artige elementare Quantität wirklich ſchlechthin als 
gegeben angenommen werden muß. Oder follte ſelbſt 
das nicht nötig fein? Uns fchwindelt bei dem Ge- 
danken, daß dann die ganze Phyſik und Chemie tat- 
fühlih eine a priori Eonftruierbare Wiſſenſchaft 
fein würde. Aber verfteigen wir ung deshalb vor- 
läufig lieber nicht zu body, fondern bleiben bei un- 
ferem ganz beftimmten Problem des Wirfungs- 
quantums. Es fpridht in der Tat ein febr ſchwer⸗ 
wiegender Grund fhon heute dafür, daß dieſes 
jelber die Grundgröße ift, auf die die anderen zu- 
rüdzuführen wären. Diefer Grund entftlammt der 
zweiten umfaflenden neueren phufifalifchen Theorie, 
der Melativitätstheorie. In diefer fpielen befannt- 
lid der Raum und die Zeit eine untrennbare ge- 
meinfame Rolle, fie bilden nah Minkowsfi eine 
Union, die man gewöhnlih einfah die ‚Welt‘ 
(Minkowskiwelt) nennt. Es ift die Welt der vier 
Dimenfionen oder Koordinaten X, Y, Z, t (drei 
räumliche und eine Zeitkoordinate). Nun fpielt 
in der gewöhnlichen Phyſik befanntlih die Energie 
die Role der weientlihften Grundgröße. Mit 
einem gewiflen Redt baben Oſtwald u a. 


285 








Energetiter gelehrt, daß letztlich alles Energie fei. 
(Sie hätte freilich diefe Ausſage auf die Welt ber 
Phyſik befhränfen folen). Dap auh die Mafie 
nichts als eine Art von „Energieknoten“, aljo An- 
häufung von Energie in einem febr Feinen Raum, 
ift, ift heute allgemein als febr wahrſcheinlich aud 
von den Gegnern der Relativitätstheorie zugeftan- 
den, in der diefer Sag zuerft Far ausgeſprochen 
worden ift. Mach Einftein ift die Mafie eines 
Körpers einfach fein Energieinhalt, dividiert durch 
das Quadrat der Lichtgefhwindigfeit). Diefe Bor- 
ftellung, daß es alfo eigentlih nur Energie gibt”, 
die der Gefamtfumme nadh unveränderlid, bleibt, ift 
aber nun dodh in der Mel. Th. nur eine einfeitige 
Faſſung einer allgemeineren Wahrheit. Da bie 
Zeit nur die eine der vier grundſätzlich gleichberedy- 
tigten Koordinaten ift, fo ift der „Sag von der Er- 
haltung der Energie‘ nur fozufagen eine zeitliche 
Projektion (um das genauer darzulegen, müßte ich 
wieder mathematifhe Formulierungen bringen). 
Die eigentlihe Grundgröße in der Rel. Th. ift 
nicht die Energie felber, fondern das Produft aus 
der Energie und der Zeit, mit anderen Worten die 
oben als Wirkung bezeichnete Größe. In der 
Minkowskiwelt gibt es” alfo eigentlich nicht zuerft 
Energie, fondern Wirkung, und erftere entfteht erft 
aus diefer durch Divifion mit einer Zeitftrede. (Der 
Kenner der mathematifhen Phyſik wird fib hier- 
bei daran erinnern, daß aud ſchon in der Elaffifchen 
Mechanik, in den fogenannten Minimumprinzipien, 
eben diefe felbe Größe, das Zeitintegral der 
Energie, die entfcheidende Rolle fpielt.) Sollte es 
nun zufällig fein, daß gerade diefe Größe, die Wir- 


fung, in dem Plandihen Quantum vorkommt? 


Das ift fhmwer einzufehben. Man kommt vielmehr 
ganz naturgemäß auf den Gedanken, daß es wohl 
in der „Welt“ der Relativitätstheorie eben zunächſt 
einmal diefes Quantum der Wirkung gibt, und daf 
tie anderen elementaren Quanten dann davon ab- 
zuleiten feien. Aber wie? Weift die Quanten- 
lepre in ihrer gegenwärtigen Form ſchon aus diefem 
allgemeinen Grunde über fih hinaus zu weiteren 
grundſätzlichen Fragen, fo wird diefer Eindrud erft 
recht gefteigert, wenn wir ibre fpezielle Ausgeftal- 
tung in der oben fur; angedeuteten Bohrſchen 
Theorie ins Auge fallen. Trog aller Erfolge der- 
felben — wie groß fie find, das zeigt am beften 
Sommerfelds klaſſiſches Werk über ‚„Atombau und 
Spektrallinien“ — ift es jedem Einſichtigen Elar, 
daß irgend etwas daran noch nit in Ordnung ift. 
Es it und bleibt ein Fraffer Widerfpruh gegen 
unfere ganzen fonftigen phyſikaliſchen Lehren, dan 
das umlaufende Elektron auf der Duantenbabn 
sicht ftrablen fol. Außerdem wird, wie ſchon er- 
wähnt, nicht im mindelten begreiflich, wieſo durd 
den „Sturz“ des Elektrons eine ‚Welle‘, d. b. 


Die Quantentbeorie. 


doch ein periodifher Vorgang, im Raume ausge- 


Löfi werden fol. In Ermangelung eines befleren 
bebelfen wir ung eben einftweilen bier mit einer 
„Siktion‘‘, d. b. einer DVorftellung, von der wir 
wiflen, daß fie mindeftens zu einem Teile falſch fein 
muß. Aber auh außerhalb der Bohrſchen Atom- 
theorie gibt die Duantenlehre ſchwere Rätſel auf. 
Nehmen wir 5. B. den Iichtelektrifhen Effekt. Der 
Austaufh von Energie zwifhen Feld und Materie 
fol aud hier fo vor fih gehen, dag nur Vielfache 
des Quantums h.n übergeben Eönnen. Nehmen 
wir violettes Licht mit einer etwas Heineren Schwin- 
gungszahl ale 800 Billionen pro Sekunde an, fo 
beträgt hn rund 5 billionftel Erg. Das ift zwar 
eine für uns febr Eleine Zahl, wir müflen aber be- 
denken, daß die „Energiedichte“ in einer Lichtwelle 
auch nur eine febr geringe ift. Ein foldes „Lidt. 
quant’ nimmt dann immerhin fhon einen redt be- 
trächtlihen Raum ein. Nun entfteht folgende 
Frage: wo bleibt dann die bisher dodh überall fo 
gut beftätigte Wellentheorie des Lichts, und wie 
wollen wir den Zuſammenhang diefer mit den grö- 
beren eleftrifhen Wellen, fchlieglih mit den ganz 
langfam veränderlichen oder überhaupt Fonftanten 
elektrifchen Feldern, mit anderen Worten mit der 
Elektroſtatik, fefthalten, einen Zufammenhang, der 
doch durch die ganze Entwidlung der Phyſik feit 
Marwel unabweisbar aufgedrängt it? Aufer- 
dem, felbft einmal über diefe Bedenken hinmegge- 
fehen, wie fol ein fo ausgedehntes „Lichtquant“ es 
anfangen, fih auf dag eine Elektron zu konzentrie⸗ 
ren, das dadurch ſchließlich Losgelöft wird. Die 
Schwierigkeiten diefer Theorie find ſo unüberwind- 
lich, dag wohl die Mehrzahl der Forſcher fih Pland 
felber anfchließt, der den umgekehrten Weg gebt: 
dag Quantum niht im Felde felber zu fuchen, fon: 
dern eg erft beim Webergang in die Materie auf. 
treten zu laffen. Das aber führt in andere faft 
ebenfo fhlimme Sragen: wenn man diefe Vorftel- 
fung annimmt, fo muß man offenbar den Ueber- 
gang fo auffaflen, daf die aus dem Felde zunädft 
ganz kontinuierlich einftrömende Energie fidh in dem 
betreffenden Atom anbäufen läßt, bis der Betrag 
hn erreicht it. In diefem Augenblick wird irgend 
ein Zufammenbang im Inneren des Atoms losge- 
löt, und das Elektron wird frei. Wie nun aber, 
wenn der Lichtſtrahl unterbrohen wird, ebe die 
Energie hn erreicht it? Wo bleibt dann die be- 
reits in die Atome hineingegangene Energie? Wird 
fie wieder ausgeftrablt? Mit welder Schwingunge- 
zahl? And wer beforgt dag, da dod die Lichtaus- 
fendung felber fonft nur quantenbaft vor fid) geben 
ſoll? Solche und nod viele andere ähnlihe Sra- 
gen drangen fid dem Phyſiker beute auf, aud 
Mand bar fie in feinen Worträgen über bie 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifche Umfhan. 


Duantentheorie‘) ganz klar formuliert. Die Zu- 


funft muß die Löſung derjelben bringen. 

So viel ſcheint ſchon heute flar zu werden: wir 
fommen im Gebiet der Atome wohl überhaupt nicht 
mit denjenigen Gefegen aus, die wir aus Beobach⸗ 
tungen im größeren Gebiet abgeleitet haben. Die 
Bohrſche Theorie benugt u. a. das fog. Coulombſche 
Anziehungsgefes für eleftrifhe Ladungen, wonach 
die Anziehung bezw. Abftoßung zweier Ladungen 
dem Produft diefer Ladungen dirett und dem Qua- 
drat ihrer Entfernung umgefehrt proportional ift. 
Man fann füglich bezweifeln, ob dies Gefeg über- 
haupt in diefen Fleinen Entfernungen und bei die- 
fen auf fo Heinem Raum fonzentrierten im Ber- 
hältnis dazu riefigen Ladungen noch gilt. Ebenſo 
benust die Bohrſche Theorie die üblichen Formeln 
für die Zentrifugalfraft. Stellt man fih auf den 
Standpunkt der ‚allgemeinen Relativitätstheorie”, 
fo ſtimmt auh das gar niht, weil in folder un- 
mittelbaren Nachbarſchaft verhältnismäßig fo gro- 
Ber Energiefnoten (Maflen, Ladungen) der Raum 
ganz andere Krümmungsverhältniffe haben muß, 
als der euflidifhe Raum der gewöhnlichen Medha- 
nif. So wird wohl dag Ergebnis der fpäteren Ent- 
widlung jedenfalls dag fein, daß die „makroſkopi⸗ 
ſchen“ Gefeße uns dann nur als Grenzfälle für 
„verhältnismäßig große” Gebiete erſcheinen wer- 
den, während die Elementargefeße ganz andere fein 
werden. Es dürfte fi bier dann auf nod Hleine- 
rem Gebiet dag wiederholen,, was in etwas größe- 
rem Maßſtab die Wärmelehre zeigt. Hier find die 
mafroffopifhen Gelege, 3. B. der Wärmeleitung, 
der Diffufion, inneren Reibung ufw. zu erhalten 
durh Summierung vieler Billionen einzelner, aber 
ungeordneter Wirkungen der einzelnen Moleküle, 
die fih gemäß den Gelesen der Mechanik bewegen. 
Märmelehre ift weiter nichts als „ſtatiſtiſche Me- 
hanit. Aehnlich dürfte in Zufunft die gewöhn- 

1) Man vol. die Sammlung derfelben: „Phyſikaliſche 
Rundblicke“, Leipzig, Hirzel 1922, insbefondere die beiden 
legten Vorträge. 





lihe Elektrizitätslchre als die Lehre von den Se- 
famtwirkungen erſcheinen, die fih ergeben, wenn 
zahlloſe einzelne atomiftifche, d. b. quantenhaft ein- 
gerichtete Gebilde zuſammenwirken. 

Vielleicht ift es erlaubt, einen noh weitergehen- 
den Gedanken hier auszufprehen. Die eben ers 
mwähnte Wärmelehre könnte man definieren als die 
Lehre von den Gefegen der Unordnung. In der 
Tat beruht ihr wichtigfter Sag, das fog. Entropie- 
gcfeb, auf der Annahme der elementaren Unorbd- 
nung der Molefularbewegungen. (Vgl. ‚‚Unfere 
Melt” und die Brofhüre von W. C la ffen über 
dag Entropiegefeg, Keplerbundverlag.) Die weit- 
tragenden hieran gefnüpften Fosmologifchen Folge- 
rungen haben bier ſchon oft eine Rolle gefpielt. Jm 
geraden Gegenfas dazu ift das Planckſche Quanten- 
prinzip offenbar ein Prinzip der Ordnung. Es fon- 
dert aus allen möglihen Bahnen 3. B. im Bobr- 
ſchen Modell diefe einzelnen ganz beftimmten Bah- 
nen aus, es hindert überhaupt, daß im atomiftifchen 
Gebiet irgend etwas dem Entropiefag ähnliches gel- 
ten könnte. Sollte es nun vielleiht denkbar fein, 
dag wir bier den Anfang zu dem lange vergeblich 
aefuchten Faden in der Hand hätten, der uns aus 
dem Labyrinth der unvermeidlihen Energieentwer- 
tung wieder auf der anderen Seite herausführt? 
Wäre es niht vielleicht möglich, daß bier auf die» 
fem Gebiete des Allerfleinften die Gegenrehnung 
aufgemacht würde für die dauernde unaufhaltjame 
Verwandlung der Energie in nicht mehr nußbare 
Formen im großen? Ein beftridender Gedanke! 
Ich werde mih aber hüten, ihn als neue Lebre ;u 
verfündigen. In der Wiſſenſchaft gilt nur das als 
ernfthaft disfutierbar, was aud pofitiv fruchtbar 
gemacht werden fann. Solche allgemeine Ideen 
find gut und ſchön als Abfchlüffe gut durchgearbei⸗ 
teter Theorien. Wielleiht werden wir bald klarer 
über alle die vorhin aufgeführten und noh zabi- 
reihe andere hier nicht erörterte Fragen feben. 
Dann erft wird es Zeit fein, der zulegt erwähnten 
Trage wieder naher su treten. 





Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 








a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften. 

Eine neue, höchſt einfache Ableitung der Rot- 
verichiebung der Spektrallinien hat Kr a LI (Lincei. 
Rend. 30, 309; Phyſ. Ber. 18, 1187) gegeben. 
Er betradtet ein Bohrfches Atom an der Sonnen- 
oberflähe. Ein von diefem ausgeftrahltes L idt- 


l h.? l 
quant hat eine Maffe m = — Bringt man 


es in die größere Entfernung T von der Sonne, 
fo bat das emittierte Quantum die größere Energie 


gefaßt werden. 


\ x 
gleih der alten mal 1 + ~o 


xM. i , 
hra — T M die Sonnenmaffe, * die Gra- 


sitationskonftante). Diefe Energie fann als Siht- 
quantum mit vergrößerter Schwingungszahl ” auf- 
Segt man m aus der erften Glei— 
hung ein, fo ergibt fi die neue Schwingungszahl 


und daraus die 


—— x M. 
Einfteinihe Verſchiebung mare 


290 





Die für die Trage nah der Eriftenz von Sub- 
elektronen (vol. ‚„‚Unfere Welt” 1925, Heft 8) wich. 
tige Ermittelung des genauen Fallgefeges für Kleine 
Kugeln in einem widerftchenden Mittel bat M a t- 
taud neu geprüft (Zeitfhrift für Phyſik 32, 439; 
Phyſikaliſche Berichte 18, 1205). Es ergab fid 
im wefentlichen eine ‘Beftätigung der Mefultate von 
Millikan; als Mittelwert für das eleftrifche 
Elementarquantum erhielt M. e = 4,758 . 10°" 
ESE,. was gut mit Millifans Wert (4,772) 
flimmt. 

Mit einer gewöhnlichen fog. Glimmlampe 
laßt fih der photoelektriſche Effekt (vgl. meinen Auf- 
fag über die Duantenlehre, ‚‚Unfere Welt” Nr. 10, 
©. 257) bequem demonftrieren. Die Entladung 
fegt ein, wenn man eine etwas unterhalb der Zünd- 
fpannung gelegene Spannung anlegt und dann be- 
lichtet. Weitere Unterfuhungen über diefe Erfchei- 
nung veröffentlihte Greina her (Phyſikaliſche 
Zeitfhrift 26, 376; Phufilalifhe Berichte 18, 
1231), wo Üntereffenten fie nadlefen mögen. 
Brauchbare Schulverfudhe!) 

Ueber den Mechanismus der gefchichteten Ent: 
ladung madte E. Soldftein fürzlih neue Mit- 


teilungen (Zeitfehrift für Phyſik 32, 190; Phyſi⸗ 


kaliſche Berichte 17, 1162). Er ftellte feft, daß die 
die Schichten erzeugenden Elektronen nicht, wie 
man manchmal angenommen hat, an der Glaswand, 
fondern im Gas felber gebildet werden, daß fi 
darin alfo ſchwach gekrümmte „Sastathopden” 
bilden, welche die Elektronen in der Richtung auf 
die Anode hin emittieren. _ 


Die in der Radiotelephonie fo vielfeitig verwen- 
tete Elektronenröhre erweift ſich auch als höchſt 
empfindliches Galvanometer (Röhrengalvanometer) 
brauchbar. Neue Mitteilungen darüber geben 
Jaeger md Scheffers in den wiſſenſchaft⸗ 
lichen Veröffentlichungen des Siemens - Konzerns 
(4, 233; Phyſikaliſche Berichte 17, 1156). Bei 
diefen Salvanometern fließt der zu meflende Strom 
über einen im ©itterfreis liegenden großen Wider- 
ftand und wird vergrößert im Anodenftrom gemeffen. 
Vorausſetzung für das Gelingen ift vor allem tadel- 
lofe folation des Gitters und fodann Verwendung 
fehr niedriger Anodenfpannung (bis 7 Wolt mar.), 
um Sonifation in der Röhre zu vermeiden. Durd 
eine Nüdfopplung wird die Empfindlichkeit nod 
weiter erhöht. Die Verfaſſer geben an, daß auf 
diefe Weife noh Ströme bis zu 5 . 10-'* Amp. und 
Spannungen bis zu 10° Volt meßbar gemacht 
worden find. (Die Empfindlichkeit der feinften mag- 
netifhen Galvanometer it im Höchſtfalle bisher 
etwa auf 10- Amp. gebracht werden.) Diefe neue 
Anordnung dürfte fih vor allem in der Strahlungs- 
meſſung weitgehend einbürgern. | 

Die Finetifhe Gastheorie definiert als Tempera: 


aturwiſſenſchaftliche und _naturphilofophiihe Umſchau 





tur bekanntlich die mittlere Bewegungsenergie der 
in einem Gasraum enthaltenen Moleküle. Nun ift 
tatſächlich in jedem ſolchen Raume außer den Mole⸗ 
külen auch elektromagnetiſche Strahlung vorhanden, 
welche mit der Molekularenergie in fortwährendem 
Austauſch ſteht gemäß dem Planckſchen Geſetz. 
C. Wertheimer (Zeitfhrift für Phyſik 32, 
596; Phyſikaliſche Berichte 18, 1235) zeigt num, 
daß man finngemäß zur Definition der 
Temperatur in dem betradteten Raume nicht 
die Molekularenergie, fondern die Strap- 
lungsenergie heranzuziehen hat. Bei Be 
rücdfihtigung deffen ergibt fih dann aud eine De» 
finition der Temperatur für den 
freien Weltraum, die fonft feinen Sinn 
haben würde, weil dort Feine Moleküle find. 

Das viel erörterte Problem der Temperatur bes 
Dampfes über Löfungen (die regelmäßig gegenüber 
dem reinen löfungsmittel eine Erhöhung des Siede⸗ 
punftes zeigen) fcheint Möbius wefentlidh geför- 
dert zu haben dadurdy, daß er den Dampf durd enge 
PDapiermäntel nah dem Gegenftromprinzip ftrömen 
ließ. Diefer Dampf zeigte dann tatfädhlid eine be- 
deutend höhere Temperatur als der Siedepunft des 
reinen Löfungsmittels war. Sie näherte fih bis 
auf 4% dem Siedepunfte der Löfung. Damit dürfte 
die alte Streitfrage, ob der Dampf die normale 
oder die höhere Temperatur hat, endgültig zugunften 
ber letzteren Feftftellung geklärt fein. (Phyſikaliſche 
Berichte 18, 1240; Zeitfehrift für techniſche Phy- 
fit 6, 58.) 

Neue möglichft erafte Dichtebeflimmungen von 
Sauerftoff haben Barter und Starfwen- 
ther (Proc. Nat. Acad. Amer. 10, 479; Phyj. 
Berichte 18, 1193) angeftellt. Diefelben find wid- 
fig, weil auf Sauerftoff alle übrigen Gasdichten 
und aud die Molefular- und Atomgewichte bezogen 
werden. Es ergab fih im Mittel 1,42901 g pro 
Liter. Für die bei vielen phufifalifhen und hemi- 
ſchen Rechnungen benuste Konftante des „Mol: 
volumens” ergibt fih danach 22 415 liter. 


W. Kolhörfter þat die im Jahre 1923 bei 
Meflungen der durchdringenden Strahlung auf dem 
Jungfraujoch gefundene Periodizität 
mit verbeflerten Inſtrumenten nadhgeprüft und die 
früheren Ergebniffe beftätigt. Er ift febr bemer- 
kenswert, daß die Marima diefer Strahlung dann 
eintreten, wenn die Milchſtraße oder ihr De- 
nachbarte Teile des Sternhimmels im Zenit ftehen. 
(Berl. Ber. 1925, ©. 120; Phyſ. Ber. 17, 
1162.) 

Eine intereffante Studie über die Entflehung des 
atmotpbärifhen Sauerftoffs hat Tammann in 
der Zeitfehrift für phfifalifhe Chemie 110, 17 ff. 
gegeben, worüber die Naturwiſſenſchaften (Nr. 36) 
eingehend berichten. Nah T. ift die Hypotheſe De- 





rechtigt, daß der freie Sauerftoff der Atmoſphäre 
erft ſpäter nah Bildung einer feften Silikatkruſte 
entitanden ift und zwar durd Diffoziation dee Waſ— 
fers. Diefe beträgt bei 1500 Grad und 100 Atm. 
Drud 0,00004, d. b. fo viel von dem Wafer- 
(dampf) ift unter diefen Bedingungen in die Ele- 
mente geſpalten. Ebenſo groß ift aber auh unge- 
fähr das tatfächliche Verhältnis des atmofphärifchen 
Sauerftoffs zum Geſamtquantum des Meer- 
waffers. Es fragt fih nur noh, wo der zugehörige 
Waflerftoff geblieben ift und wie jener große Drud 
zuftande gefommen ift. Der Waflerftoff it das 
einzige aller Gafe, das wegen genügend großer 
Molefulargefhwindigfeit in nennenswertem Betrag 
die Atmofphäre verlaffen fann. Hierzu ift näm- 
lih eine Molefulargefehwindigfeit von mehr ala 
11 km/sec notwendig, die bei den in Betracht 
Eommenden Temperaturen von reichlih 1000° nur 
der Waſſerſtoff mit einem merflihen Bruchteil 
feiner Molefüle erreiht. Der gewaltige Drud 
von 100 — 150 Atm. andererfeits ift dadurd zu er- 
tlären, daß bei jenen hoben Temperaturen das 
Wafler, das jest in den Meeren ruht, die Erde ala 
Dampfmantel umgab. Tammann berechnet, daß 
5 ein Drud von etwa 150 Atm. zuftande kommen 
onnte. i 


c) Naturphiloſophie und Weltanſchauung. 


Jn der Septembernummer der Moniſtiſchen 
Monatshefte findet fih wiederum ein redt 
intereflanter Bericht des Biologen P. Ramme- 
rer über feine Eindrüde in Amerila, und ingbe- 
fondere über die Derhältniffe, welche zu dem be- 
rühmten Affenprozeß geführt haben. Natürlich ift 
der ganze Artikel im gehäffigftem Tone gegen die 
„Frömmler“, „Rückſchrittler“ ufw. gehalten, denn 
Kammerer ift einer der rabinteften Moniften, einer 
ber ganz wenigen Afademifer, die noh an führen- 
der Stelle im DMB ftehen, nicht nur Freidenker 
von größter Waſchechtheit, fondern auch mit dem 
ſozialiſtiſch pazififtifichen Kurfe des DMB von gan- 
zer Seele einverftanden. Das braucht uns aber 
nicht zu hindern, aus feinem Bericht dasjenige her- 
auszufudhen, was aud uns intereifiert. Zunächſt 
Thon das gleih am Anfang ftehende Bekenntnis, 
daß Kammerer’s „Begeiſterung für die fortfchritt- 
lihe Atmofphäre, die ihn beim erften Betreten 
amerifanifhen Bodens gegrüßt habe, bald durd 
unaußbleiblihe Enttäufhungen ernüchtert“ wurde. 
„Als fei es an der Affenfchande von Dayton nicht 
genug, erließ der Rektor der Harvard-Univerfität 
in Boſton ein Werbot, das womöglich nod 
ihlimmer ift, weil es nicht aus religiöfer, 
fendern aus miflenfchaftlihder Unduldfamfeit er- 
fließt: Einſteins Melativitätstheorie wurde als 
„Irrlehre“ gebrandmarft und, weil nicht hochſchul⸗ 
fähig, aus der Alma Mater relegiert.” Kammerer 


Maturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umfhau. 


201 





führt ſofort hinterher einen Fall an, wo auf einer 
deutſchen Univerſität ein Profeſſor einem jungen 
Privatdozenten bedeutet habe, er dürfe feine zahl- 
reichen günftigen Erfahrungen mit der Steinad- 
ſchen DVerjüngungsoperation nicht veröffentlichen, 
weil dann feine afademifche Karriere zu Ende fein 
werde, (?) und fügt die Frage hinzu, was beffer fet: 
den Skandal wie in Amerika auszupofaunen oder 
ihn insgebeim zu begehen. Im weiteren führt 
dann Kammerer eine Reihe bedeutender amerita- 
nifher Forſcher an, die ſich unzmweideutig für die 
Entwicklungslehre (Kammerer fagt: Affenabftam- 
mung des Menſchen) ausgefproden haben, darunter 
auch den berühmten Pflanzenzühter Luther 
Burbanf, von dem er einen Ausiprud über 
Bryan (den Führer der Fundamentaliften) anführt: - 
„Er (Bryan) ift mein verehrter Freund, aber das 
braucht mih nicht blind dagegen zu maden, dag 
Mutter Natur ihm mit einem Schädel von äußert 
primitivem Typus bedacht bat. Er nähert fih in 
den Umriffen auffällig dem des Neandertalers“. 
Nachdem er dann den Verlauf des Prozefles im 
allgemeinen gefhildert und Fritifiert bat, Fommt er 
zu dem Sage: „In unnahbarer Höhe Hält der 
Mammonismus feine ſchützende Hand über dem 
Ganzen: für ihn ift es immer ein Profit, wenn das 
Wolf dumm bleibt oder verbummt wird... . . nidhte 
fann amerifanifcher fein, als die Form in der 
Bryan das ausdrüdt: Die Hand, die Sheds un- 
terfchreibt, hat dag Redt zu beftimmen, was in 
den Schulen gelehrt werden fol”. Er meint dann 
weiter, daß diesmal der Kapitalismus fih aller- 
dings verrechnet habe, denn in Wirklichfeit habe 
der Prozeß eine großartige Reklame für die Ent- 
wiclungslehre bedeutet. Es hätten hunderttaufende 
auf diefe Weife etwas von ihr gehört, die fonft nie 
dazu gelommen wären. Die Hauptſache iſt 
ihmaber, daß auf die amerikaniſche 
Maniereszueinemoffenen Brud: 
zwiſchen Wiſſenſchaftund Religion 
beziehungsweiſe Kirche komme und 
das iſt Kammerer ſehr ſympathiſch. Er ſchildert, 
wie in Deutſchland die Kirche „Schritt für Schritt 
klein beigegeben“ habe, wie man auch in Amerika 
das verſuche, wie es jedoch in Dayton bei der un— 
erbittlichen Alternative: Gott oder Gorilla ge- 
blieben fei. „Vergeblich raten Beſchwichtigungs— 
bofräte zur Mebereinfunft. Sie find die Klügeren, 
und wir dürfen ung freuen (sic!), daß ihre Stim- 
men ungehört verhalen”. Ob folde offenbare 
Seelenverwandtfhaft mit einem ausgemachten 
Teinde aller Religion und Kirche diejenigen bei uns 
nicht ftugig macht, die mit den amerifanifhen un- 
damentaliften fnmpatbifieren? Man fpürt aus 
Kanımerers Worten ordentlih die Freude heraus: 
Blamiert euch nur, fo weit es irgend geht, je toller 


292 


defto lieber, denn defto mehr werden wir (die mo- 
nıftifchen Freidenfer) davon profitieren. Natürlich 
verquickt Kammerer aud dieg mit politifchen Ideen. 
Er schließt fih vorbehaltlos den unerhörten An- 
griffe: an, welde Langkavel, Goldfcheid u. a. in 
den Moniftifhen Monatsheften vor kurzem gegen 
dic deutfhe Wiſſenſchaft gerichtet haben, wonach 
unfere ganze Wiflenfhaft nichts als eine Brut- 
ftätte der Reaktion“ und „oft ſchlimmer fei als 
felbft die Kirche‘, und es ift für ihm felbftverftänd- 
lih, daß „Kirche und beamtete Hochſchulwiſſenſchaft 
für die Intereſſen des Finanzkapitals Schulter an 
Schulter kämpfen‘. „Das tun fie aber nicht der 
Sache zuliebe, fondern weil bie Beamten ber 
Wiſſenſchaft aud leben wollen”. Deutſche Wiſſen⸗ 
ihaftler, hört hr das? Das fagt einer, der auf 
deutfchen, beziehungsweiſe deutfch - üfterreichifchen 
Univerfitäten ftudiert und feine erften Forfcher- 
iporen verdient bat! Und dag glauben ihm die 
= Scharen proletarifher Freidenfer, die aus diefen 
moniftifchen Blättern mit geiftiger Koft verforgt 
werden. Schade, daß es Fein geſetzliches Mittel 
gibt, folhe Beleidigungen eines ganzen Standes, 
denen aud die geringfte Unterlage fehlt, gebührend 
zu ahnden. Es bleibt nichts anderes übrig, als fie 
niedriger zu hängen. 

Mande Zeitungen und Zeitfehriften haben von 
dem in Mr. 6 ausgeführten Vorſchlag einer Na- 
mensänderung unferes Bundes Notiz genommen, 
die einen zuftimmend, die anderen warnend oder 
ablehnend. Auf die einzelnen und die Frage felbft 


einzugehen ift hier nicht der Ort. Aber nicht vor⸗ 


übergehen fann ih an e i n e r Aeußerung, das ift die 
des bereits fattfam befannten Dr. Süßen- 
auth, Herausgebers von Natur und Kultur”. 
Er fhreibt (Septembernummer, S. 475): „Es ift 
zu fürdten, daf die Popularität des Leibniz-Bun- 
des eine wefentlic geringere fein wird alg die des 
Keplerbundes. Denn dem Herzen des Fleineren 
Mannes fteht der große Leibniz reichlich ferne. Er 
könnte hödftens der hohen Wiſſenſchaft gegenüber 
als vertrauenerwedendes Aushängefchild dienen, 
worauf es dem Leiter des Keplerbundes, Dr. Ba- 
sine befonders anzufommen heint. Aber der 
jestnodh regierenden Wiffenf haft 
su liebedienern, dürfte für die Zu- 
Eunft faum 5zwedmäßig fein. Die 
neue Zeitwirddiefogenannte Bor- 
ausfesungslofen (das Deckmäntel— 
den für Materialismus) von ihren 
Tehrftühblen entfernen (Don mir ge 
\perrt. BF.) 

Angriffe diefer Art find mir nicht neu, fie küm— 
mern midh aud) weiter nicht. Es gibt palt Leute, 
tenen es nicht möglich ift, nad) der Wahrheit ohne 
Parteibrille auszufchauen und die deshalb aud nicht 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 


begreifen können, daß es ſo etwas bei anderen gibt. 
Wenn ich bei vielen Gelegenheiten offen ausge- 
ſprochen babe, dat in manchen Punften in den be- 
kannten Streitfragen die Wiflenfchaft durchaus im 
Recht geweien ift, und dag die Religion alle Ur- 
fahe bat, fi ernftlih darauf zu befinnen, wo fie 
ihre Grenzen vielleicht in gutem Glauben über- 
ſchritten hat, fo ift das natürlich für ſolche Herren, 
denen das abfolut niht paßt, nicht anders zu ver- 
ftehben, denn als „Liebedienerei“ gegen die Wiffen- 
fhaft, um ihr „Vertrauen zu ermeden”. Man 
fann, um zum „Herzen des Pleineren Mannes” zu 
ſprechen, gar niht maſſiv genug werben, und es 
fommt dabei auh durchaus nicht fo genau auf bie 
genügende Subftanzierung der gemachten DBermu- 
tungen über die Motive des anderen an, wenn diefe 
nur möglichft fchlechte find. Mein Verhalten ge- 
gen ſolche Inſinuationen zu verteidigen, fällt mir 
deshalb garnicht ein. Aber ich wollte fie dod hier 
wenigftens zur Kenntnis geben, und dann ganz 
befonders die Aufmerffamfeit un- 
ferer leferaufdenlegten Sag len- 
fen. „Die neue Zeit wird die Dorausfeßungs- 
lofen von ihren Lehrſtühlen entfernen”. Das 
MWörthen ibre” darin ift fo hübſch doppeldeutig. 
Es Fann heißen: die Tehrftühle der neuen zeit, es 
fann aud heißen: die Lehrftühle der „Voraus— 
fegungslofen” (liegs: der heutigen Profefloren). 
Vermutlich werden die Freunde des Herrn Dr. 
Süßenguth in Bayern uns baldmöglichft vorzu⸗ 
führen verfuchen, wie dag gemeint it. Dann wird 
es bald aud bei uns fo weit fein, wie in Amerifa. 
Hoffentlih werden unfere Gelehrten und die ge- 
famte Intelligenz dann nicht zum zweiten Male den 
Fehler begehen zu glauben, daß dodh der Bund mi 
dem Unglauben die befte Garantie für die wiffen- 
ſchaftliche Freiheit fei, fondernfih larma- 
hen, daß die Reaftion tets die Er- 
bindes Unglaubens ift. Die Sade der 
gefunden Vernunft fteht fih immer am fchlechteften 
dabei, wenn die Ertreme das große Wort führen. 


Das hat Kammerer (fiehe oben) auh ganz richtig 


herausgefühlt, daher feine Freude über den offe- 
nen Bruh” in Amerifa. Die Wiſſenſchaft und 
ihre Freiheit gedeihen — das lehren ung diefe bei- 
den typiſchen Dertreter der äußerften Flügel — 
am beften dabei, wenn ein echter Glaube herridht, 
der fidh feines eigenen Weſens flar bewußt ift und 
ih eben deshalb hütet, Gott ins 
Handwerk zu pfuſchen. Unglaube und 
Aberglaube Zügelloſigkeit und Nichts als Bevor- 
mundung ſind gleichermaßen der echten Wiſſenſchaft 
abträglich. Wer von uns iſt ſo dumm zu glauben, 
daß der ſozialiſtiſche Staat, wenn er die Alleinherr⸗ 
ſchaft einmal wirklich hätte, etwaigen Vertretern 
anderer wirtſchaftlicher oder ſozialer Theorien bie 


Lehrfreiheit auf den LUniverfitäten gönnen würde, 
die feine eigenen Theoretiker zu Zeiten des Alten 
Regiments” bis auf wenige Ausnahmefälle ge- 
noflen haben? Sa, wer bildet fih ein, man würde 
auh nur gegebenenfalls ſolche Ketzer, wie eg vor- 
dem geſchah, einfach relegieren, ihnen aber ruhig 
geftatten, in Broſchüren, Zeitſchriften und Zei- 
tungen einem noch größeren Kreife, als fie es auf 
einem akademiſchen Tehrftuhl Könnten, ihre Mei- 
nungen vorzutragen. Bor die Ifchefa mit folden 
MReaktionären! Und Herr Kammerer würde der 
erfte fein, der in folhem Falle einem DBertreter der 
„Lehrfreiheit“ fagen würde: Ja, Bauer, das ift ganz 
was anderes. Es fommt einem bei ſolchen Anläffen 
erfhütternd zum Bewußtſein, wie tief die beiden 
Abgründe find, zwifchen denen das deutſche Wolf 
auf Ihmalem Grate hinwandern muß auf dem 
Wege zur Höhe. Gott gebe, daß wir weder zur 
Rechten nod zur Linfen abftürzen! 


d) Verſchiedenes. 


Jn der Detmolder Ortsgruppe des Keplerbundes 
ſprach am 17. Oktober der befannte ‘Begründer 
der „Heimatlehre“, der Freiburger Zoologe Pro- 
feffor Dr. Konrad Guenther, über das Thema 
„Der tropifche Urwald und der deutſche Wald’ — 
mit dem Untertitel „Durch Heimatnatur zu deut- 
fher Art —. Die Ausführungen des Bor- 


tragenden wurden eingeleitet durd den Hinweis 


auf die Abhängigkeit der Seelenart eines Volkes 
von der Natur feiner Heimat. Anders ift die 
Empfindungsweife eines Volkes der Steppe als 
die einer meerbefahrenden Nation und wieder an- 
ders ift fie bei den ‘Bewohnern des Gebirges. 
Unter den Maturfaftoren, welde die Seele un- 
feres Bolles geftaltet haben, nimmt nun ohne 
Zweifel der Wald eine überragende Stellung ein. 
Darauf weift fhon die Vorliebe unferer Sagen 
und Märden für ihn als den Schauplatz ihrer 
Handlungen. Man denfe als ‘Beifpiel nur an die 
Siegfriedfage und an ihre Wiederbelebung durd) 
Ridhard Wagner, in der ja gerade das Wald- 
weben” die Grundftimmung angibt. Wie der 
Mortragende die Verflochtenheit unferer fonftigen 
deutfhen Kunft mit dem Wald darzuftellen wußte, 
fann bier nicht wiederholt werden; erwähnt feien 
nur nod die Namen: Stifter und Storm, Schwind 
und Böcklin. Ja felbft in unferem religiöfen 
Empfinden laffen fih urfprünglide Beziehungen 
zum Wald nacdmeifen, haben doh unfere Bor- 
fahren nah dem DBeriht von Tacitus ihre Götter 
nicht in Tempeln, fondern in heiligen Hainen ver- 
ehrt und wurden doh aud fpäter noh die Kirchen 
febr oft mitten im Walde errichtet. So liegt eine 
gar tiefe Erkenntnis über die deutfche Wefensart 
in dem Worte Arndts: „Dem deutfhen Manne 
dürfen niemals Bäume fehlen”. 


___Waturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifhe Umfhau. . 





293 


Die heutige nduftrienlifierung und Medani- 
fierung unferes Dafeins hat unferem Volke frei- 
lich viel von diefer urfprüngliden Verbundenheit 
feiner Seele mit dem Wald geraubt. Gar vielen 
gilt das Heimifche nichts mehr, ſodaß fie fehnfüchtig 
nadh dem Fremden Ausfchau halten. Da ift es 
denn wohl angebradıt, einen Vergleich anzuftellen 
zwiſchen dem tropifchen Urwald und dem deutſchen 
Wald, nit in der Abfiht, nur das Schöne an 
diefem gelten zu laffen, fondern vielmehr um zu 
erkennen, daß zulegt doh die Schönheit unferes 
Waldes am meiften unferer Empfindungsweife ent- 
ſpricht. Man kann nit fagen, daß der heimiſche 
Wald an fi ſchöner fei als der tropifche, aber 
fiher ift, daß deffen Schönheit uns fremd ift und 
uns deshalb auh nicht fo bis ing Innere ergreift. 
Vor allem fehlt dem tropifchen Urwald das ge- 
beimnisvolle Dammerlicht unferer heimifchen Wäl— 
der. In ihm fallen die Tichtftrahlen infolge der 
relativen Seltenheit der Blätter und ihrer be- 
fonderen Stellung an den Aeften mit unverminder- 
ter Helligkeit faft überall bis auf den Boden, ftatt 
wie bei uns dur die faftigen Blätter hindurd- 
zufcheinen.. Gewig ift die Mannigfaltigkeit des 
tropifhen Waldes an Pflanzenarten fehr viel grö- 
Ber als die des heimifchen, finden fih dodh in ihm 
einige Tauſend verſchiedener Baumarten gegen nur 
36 bei ung und etwa 2000 holzbildende Soling- 
gewächſe gegen die drei, welche wir befißen, Efeu, 
Geißblatt und Waldrebe. Allein für diefen Reih- 
tum an verfchiedenartigen Gewächſen befist unfer 
Wald wieder einen Ausgleih in der Fülle der Er- 
fheinungsformen, welde ihm durh den Wechſel 
der Jahreszeiten verliehen wird. Dabei ift ee 
wohl niht zu bezweifeln, daß ein weit ftärferer 
Anreiz zum feelifhen Miterleben der Natur dann 
für uns vorhanden ift, wenn ung die befannten 
Arten in dem fchidfalshaften Wechſel der jahres- 
zeitlihen Aenderungen entgegentreten, als wenn 
wir immer wieder nur auf neue, unbefannte Arten 
ftoßen. 

Diefe Ausführungen des Wortragenden wurden 
durch Lichtbilder veranſchaulicht, welde zum größten 
Zeil von ihm felbft auf längeren Reifen in den 
Tropen aufgenommen worden find. Darauf ging 
Prof. Guenther zu den Folgerungen über, welde 
wir aus ben dargelegten Einfihten zu ziehen baben. 
Wenn wir heute fo fehr die Entwurzelung unferes 
Volkslebens bedauern und verfuchen ihr die frühere 
Bodenftändigfeit zurüczugeben, fo müffen wir vor 
allem diefe feine innere Abhängigkeit vom Wald 
und darüber hinaus von der ganzen Natur berüd- 
fihtigen. Kein Weg erfcheint ausſichtsreicher, un- 
ferem Volk wieder innere Ruhe, Feftigfeit und Ge- 
meinfchaftsempfinden zu geben wie die Stärfung 
feines Gefühles für die Eigenart der Heimatnatur. 


EI Be — 


Neue Literatur. 














Durch bloße Belehrung über die Einzelheiten der— 
ſelben kann dies freilich nicht erreicht werden, ſo 
wichtig aus ſolche Unterweiſung iſt. Man muß 
ſelbſt die Natur mit Gefühl betrachten, um in An- 
deren Gefühl für fie zu erweden. Ja der Verfaffer 
machte fogar der früheren Naturwiſſenſchaft einen 
gewiffen Vorwurf daraus, daß fie zu ausschließlich 
mit dem DVerftand der Natur gegenübergetreten ift; 
gewiß eine bemerfenswerte Aeußerung für einen 
führenden Maturforfher der Gegenwart. Diefe 


Einftellung des Gefühle in die Maturforfhung 
fann freilich nicht bejagen, daß fie ihre Behaup— 
tungen von nun an ftatt auf allgemeingültige Be- 


weife auf perfönlihe Vorurteile begründen fol, fie 
will vielmehr nur hinweifen auf die Notwendigkeit, 
dag Einzelne in der Natur immer innerhalb ihres 
Ganzen zu ſehen. Damit werden wir dann zwar 
auch nicht zu einer Auflöfung aller Fragen in einer 
reftlofen Harmonie gelangen, vielmehr wird uns 
viel unbegreiflicheg Leid der Geſchöpfe überall ent- 
gegentreten. Aber gerade das Miterleben diefes 
Leides wird uns am leichteften dazu führen, uns 
jelbft dem Ganzen zu unterftellen, deffen Ziele über 
den Einzelnen hinausgehen müffen, aber damit doch 
aud erft feinem Dafein Sinn und Wert verleihen. 
ER 5 A 





Richard Müller-Freienfels, Grundzüge einer 


Lebenspfuchologie. Band I: Das Gefühle: und Wilens- 
leben. Leipzig 1924. Verlag von Johann Ambrofius 
Varth. (X und 404 Seiten.) — Die beiden piyhifhen 


Grimdtatfahen der Einheit und der Enge des Bewußtſeins 
haben zur Folge, daß im menfhlihen Geifte die Welt fih 
als ein aus disfreten Teilen beftehbendes Ganzes darftellt: 
aus der Einheit des Bewußtſeins ergibt fih mit imma- 
nenter Motmwendigkeit die DBorftellung der Welt als eines 
Ganzen, die Enge des Bewußtſeins nötige dazu, das Welt- 
ganze als aus Teilen zuſammengeſetzt fib vorzuftellen. Jeder 
einzelne diefer Teile fann nun auf Grund der angeführten 
frufturellen Eigenart der menſchlichen Pſyche auh feiner- 
feits je nah Bedarf oder Standpunft entweder als Konti- 
nuum oder als Kompofitum, als einheitlihes oder als 
mofaifartig zufammengefeßtes Gebilde gedaht werden. AM- 
gemein ift zu fagen, daf gegenüber allem, was Gegenftand 
menfhliher Erfahrung oder Erkenntnis zu werden vermag, 
die angedeutete doppelte inftellungsmöglichkeit  befteht. 
Hieraus erwähft das Problem des zwifhen dem Ganzen 
und den Teilen obwaltenden Verhältniſſes, und zwar find 
nun angefihts diefes Problems insgefamt vier verſchiedene 
Standpunkte denkbar. Ich nenne zunähft den naiv reali- 
ftifhen Standpunft des fogenannten gefunden Menihen- 
verftandes, der ohne weitere Meflerion beides, das Ganze 
und die Teile, einfah als Realität hinnimmt. Freilich 
zeigt fidh dann bei einer tieferen Unterfuhung alsbald, daf 
diefer naive Standpunkt in Schwierigfeiten und Wider- 
ſprüche verwidelt, daß fidh ſchlechterdings nicht einfeben läßt, 
wie ein als Realität vorausgefegtes Kontinuum aus gleidh- 
falle realen Teilen zufammengefeßt fein foll oder wie man 
durh Summierung bdisfreter Elemente zu einem realen 
Ganzen gelangen will. Dem ſoeben Eritifierten Stand- 
punkte verwandt ift der des ffeptiziitiichen Pofitivismus, 
der die erwähnten Schwierigkeiten zugibt und daher ſowohl 
den Begriff des Ganzen wie den der Teile für biologiie 
bedingte Fiktionen erflärt, zugleih aber behauptet, daß eben 
vermöge der Struftur der menfhliben Pſyche unfer Den 
fen niemals imftande fein Fönne, den Boden derartiger 
Fiftionen zu verlaffen. Der Mangel diefes Standpunftes 
ift, daß er weder das erfenntnistheoretiibe noh vor allem 
das metaphufiihe Bedürfnis befriedigt. nfolgedeffen bat 
man immer wieder verſucht, dadurd zum Ziele zu fommen, 


daß man entweder den Begriff des Ganzen oder den der 
Teile als Illuſion binftellte und nun je nachdem bald die 
Vorftellung eines Ganzen aus den Teilen bald die Wor- 
ftellung von Teilen aus dem Ganzen berleitete: fo entfteben 
die wiflenfhaftlihen Methoden der Induktion und der De- 
duftion bezw. die beiden weltanfhauungsmäßigen Stand: 
punkte des atomiftifhen Materialismus und des telenlogi- 
ihen Idealismus. Nachdem namentlih in den eraften 
Wiffenfhaften lange Zeit hindurch — und zwar innerbalb 
gewiffer Grenzen zweifellos mit bedeutendem Erfolge — 
einfeitig die induftive Methode als allein zuläffig Eultivierr 
worden ift, mehren fib im Zufammenbange mit der Re- 
naiffance eindringender philofophifher Beſtrebungen neuer- 
dings wieder die Stimmen derer, die die Hobe Bedeutung 
auh des deduktiven Verfahrens als eines fruchtbaren For- 
ihungspringips energija betonen, die fogar davon überzeugt 
find, daß man, wenn aud nicht zu einer adäquaten Erfennt- 
nis, fo doch zu einem Fongenialen Werftändnis der Er- 
iheinungswelt nur dann vorzudringen hoffen darf, wenn 
man fid) bemüht, von der dee des Ganzen aus die Feil- 
phänomene zu begreifen. Soweit es fih dabei um Wor- 
gänge im DBereihe der Organismen handelt, pflegt man 
diefe Betrachtungsweiſe als Vitalismus zu bezeihnen. Aud 
in der Pſychologie it es durd Jahrzehnte Mode geweſen, 
ſich ausfhließlih der induftiven Methode zu bedienen; bie 
Aſſoziationspſychologie meinte, felbft die Fompligierteften 
jeelifhen Prozeſſe aus Empfindungsaflogiationen berleiten, 
gewiffermaßen als chemiſche Verbindungen pinhiiher Ete- 
mente erklären zu Fönnen. Don einem Weranfertiein des 
Ichs in legten metapbufiihen Tiefen war Feine Mede, die 
Perfönlihfeit wurde im Sinne des Naturalismus zu einem 
Produfte des Milieus degradiert, der Begriff der Seele 
als einer aktiv funktionierenden Ganzheit fhien endgültia 
abgetan. Im Gegenfage Hierzu vertritt nun Müller-Sreien- 
felg in feiner „Lebenspſychologie“, deren erfter Band uns 
vorliegt, höchſt temperamentvoll und mit gewicdtigen Grün 
den den vitaliftiihen oder ganzbeitliben Standvumft Die 
Seele als ein finnvolles, fpontan wirfendes Ganzes fommi 
bei ibm wieder zu ibrem Rechte: die durd) äußere Reize 
bedingten Empfindungen oder Vorftellungen rufen niemals 
zwangsläufig ein für allemal feitftiehende Gefühle und 
Willensregungen hervor, vielmehr können fie auf das Ge- 
fühle. und Willensleben nur auslöfend einwirfen, und war 


Neue Literatur. 295 








ganz verſchieden je nad der Dispofition, je nad ber trieb- 
baften Einſtellung des Geſamtichs; fo fann die DVorftellnng 
derfelben Speiſe bald ein Luftgefühl und Begehren, bald 
Ekel und Ablehnung auslöfen. Immer ift es die Gany- 
heit der Seele, die darüber entfheidet, in welchem Sinne 
das Fühlen und Wollen durd eine gegebene Vorſtellung 
affigiert wird. Im übrigen ift der Autor ernſtlich beftrebt 
geweien, Einfeitigfeiten zu vermeiden, und bekennt felbft, 
der Affoziationspfuchologie mandhe wertvolle Anregung zu 
verdanken, nur macht er mit Recht geltend, dag für ein 
wirflihes Werftändnis des Geelenlebens wenig gewonnen 
it, wenn man irgendeinen einzelnen Bewußtſeinsinhalt aus 
dem Zufammenhange der Gefamtpiuche herausreift und nad 
finftlih vorgenommener folierung erperimentell unterfudt. 
An einer Stelle freilih huldigt Müller-Sreienfels felbft der 
jont von ihm fo ſchneidig befämpften naturaliftifhen An- 
betung des Milieus, wenn er nämlich fagt: „So ift Platos 
Abfolutismus nicht wirklich abfolut, fondern durchaus ein 
Produft des Hellenentums feiner Epoche, fo ift der Katholi- 
jismus nicht wirflih kat⸗holiſch, d. b. für alle gültig, fon- 
bern ein Produkt ſpätrömiſcher, italienifher und — fpa- 
nifher Eigenart; fo ift die Moral Kants niht aus abio- 
Intee Moral gewonnen, fondern ift die kritiziſtiſch aufge- 
puste Moral der preußifhen Provinz in der fpäteren Auf- 
klärungszeit“ (&. 333). Gerade bie angeführten Beifpiele 
aber zeigen befonders deutlih, daf es große Perfönlichfeiten 
und geiftige Bewegungen gibt, die ſchlechterdings nicht aus 
dem Milieu beraus erflärt werden können, weil durd fie 
tieffte Menihbeitsprobleme in einer Weile gelöft worden 
find, die zwar vieleiht nicht auf abfolute Geltung Anſpruch 
erheben darf, aber in ihren Wirkungen doh weit über die 
Schranken einer beftimmten Zeit und einer beftimmten 
Nation hinausreicht. Doc fol durd diefe kritiſche An- 
merfung der Wert des höchſt Iefenswerten und anregenden 
Budes, das Müller-Freienfels uns geſchenkt hat, niht in 
Frage geftellt werden. Dr. Schilling Lage. 

Charles Baudouin, Suggeſtion und Auto: 
— (Dresden, Sibyllenverlag 1924, broſch. 6 A, 
16 ©.) 

Baudouin, Philofophieprofeffor in Genf, ift neben dem 
Praftifer Coné der große Theoretifer der fuggeftiven Heil- 
methode, die zur Zeit genau fo wie die (allein genommen, 
ebenfo einfeitige) Pſychoanalyſe Freuds im Mittelpunfte 
der Aufmerkfamkeit. Auf Grund ber Erfahrungen der 
„Neuen Schule von Nancy‘ bat er eine umfaflende Unter- 
ſuchung der Suggeſtion vorgenommen. Er unterfdieb 
dabei zwei Stufen: I. Eine vom Suggerierenden gleihjam 
vorgelegte oder aufgelegte dee wird vom Geifte des zu 
Beeinfluffenden angenommen. 2. Diele bee wird Tat, 
d. b. das Vorgeſtellte — fei eg eine Halluzination oder 
ein Heilungsprogeß — wird verwirfliht. Das Weſent⸗ 
lihfte ift die zweite Stufe, alfo die Umwandlung ber dee 
in eine Tat. In der Fremdfuggeftion fieht B. alfo nur 
einen befonderen Fall der Suggeftion, die Selbftfuggeftion 
(„Autofuggeftion”) ift der eigentlihe Grundtyp. Kurz 
definiert B.: Suggeſtion ift die unbewußte Verwirklichung 
einer bee, — beruhend auf dem Gefeg, daß jede “Idee 
nah Verwirklichung ftrebt. Er zeigt nun im einzelnen, 
wie die Suggeftion als Kraft, mit der man fig felbft 
behandelt, Heilzweden dienfibar gemacht werben Fann. 

Ribots Scheidung der Aufmerffamfeit in unwillfürliche 
und beabfihtigte liefert ibm den Eimteilungsgrund der 
Euggeftion in drei Arten: die unmwillfürlihe Suggeſtion 
(Safzination und Beſeſſenheit - Safzination gefteigerter Art), 
die beabſichtigte Suggeftion (beides Autofuggeftion) und die 
von einem Fremden hbervorgerufene Euggeftion (Hetero. 
fugggeftion”’). 


An Hand von zahlreihen Beiſpielen von Suggeſtionen 
aus dem Bereiche des MWorftellens, Fühlens und Handelns 
erhalten wir ein padendes Bild von der Macht der Sugge⸗ 
ftion und der Möglichkeit, dur fie unfer Leben zu beein- 
fluffen. Das wichtige Gefek, das dabei berüdfihtigt werden 
muß, beißt (nad Eone): „Wenn Wille und Einbildungs- 
fraft miteinander ringen, behält die Einbildungstraft die 
Oberhand und zwar ausnahmslas oder no fhärfer: „Im 
Widerſtreit zwifhen Willen und Einbildungskraft ift bie 
Kraft der Cinbildungskraft gerade proportional bem 
Quadrat der Willensftärke.” Suggeſtion wird alfo umfo 
fruhtbarer, mit je geringerer Anftrengung fie verbunden 
ift. — Seiner Theorie getreu, fieht B. in der Hppnofe in 
leßter Linie nur eine Autofuggeftion. Man nimmt nad ihm 
nur an, was einem gemäß ift, wird alfo zur willenlofen 
Puppe in der Hand des Hppnotifeurs nur, wenn man fi 
einbildet, daß alles fo kommen muß; — nicht aber, daß dabei 
der Wille des Hppnotifierten im Spiele fei; die Auto- 
fuggeftion entipringt vielmehr, wie oben bargetan, einer 
unwillkürliche Einbildung Er ftügt feine Lepre 
duch die Tatſache (fie it wirklich in biefer Allgemein- 
giltigfeit feftgeftelle?): „Wenn man 5. B. als poftbypnoti- 
Ihe Suggeftion einem anftändigen Menſchen eine böfe 
Handlung aufträgt, fo wird ihm zur beftimmten Zeit wohl 
diefe Handlung einfallen, aber er wird den Einfall ver- 
mutlich mühelos abſchütteln, wie er aud fonft üble Gedanken 
abtut, die ihm durch den Kopf gehen.” N. 

Cari Ludwig Shleih, Es länten bie Gloden. 
Phantafien über den Sinn bes Lebens. (Concordia 
Deutihe Verlagsgeſellſchaft, Berlin). Fat möhte ih 
meinen, die Macht der materialiftiihen Weltanfhauung 
wäre nie fo ftar! geworden, hätte es nit in der Zeit 
ihrer Vorherrſchaft an vollstümlihen und doch gehalt- 
vollen Schriften von der Art diefes leichtbeſchwingten 
Buches gefehlt. Es ift erfreulih und bedeutſam zugleich, 
daß diefe Schrift aug noch nah dem Tode des als Arzt 
berühmten und als Menſch allfeitig geliebten Erfinders 
der nfiltrationsanäfthefie und Gegners bes Chloro. 
forms Auflage um Auflage erlebt. Belegt diefe Fat- 
fade doch, daß weite Kreife angefangen haben, ihr Be- 
dürfnis nah Belehrung über weltanfhaulide Fragen auf 
anderem Wege zu filen als noh vor einem halben Men- 
fhenalter. Das Gefühl dafür it wachgeworden, daß 
recht verftandene Maturwiffenfhaft die Welt niht der Ge- 
heimniſſe enttleidet, fondern gerade ben Blid in die Wunder 
um uns ſchärft. Und da ift es ein beneidenswertes Ge- 
(hit Schleichs geweien, Hinter den naturwiſſenſchaftlichen 
Morgängen und Gefegen, die er in leicht faßlicher Sprache 
fhildert, das nicht verftandesmäßig Ausihöpfbare ahnen 
zu laffen. Damit ift (hon angedeutet, daß er mit diefem 
Buch niht die Wiſſenſchaft bereihern will; es gebt ihn 
bier niht um neue Sorfhungsergebniffe. Es gebt ihm 
um eine vollstümlid erfaßbare Zufammenfhau verſchie⸗ 
bener Wiffensgebiete, und er will flaunen und wundern 
madhen. So felt fih diefes Buh in die Reihe der 
nun ſchon nicht mehr fpärlihen wiflenfhaftvermit- 
telnden Shriften, als deren Krone jebt wohl 
Sellinels Volkshochſchulvorträge über das „Weltgeheim- 
nis” anzufeben find. Und es ift von Gewinn, beide Ber- 
faffer zu vergleihen. Beiden eignet eine ganz feltene Fähig- 
feit, wiſſenſchaftliche Einfihten zu veranihaulihen. Beider 
Bücher wirken, obne polemifh zu fein, ſchon durch ihr 
bloßes Gelefenwerden als Gegengewichte gegen bie einft fo 
beliebte troftlofe Löfung der „Welträtfel”. Und dod ift ein 
Unterfhied da. Während Jellinek bei allem didteri- 
(hen Schwung feiner Sprade immer als Forſcher ſpricht, 
it Schleih der Dichter, dem die Wiflenihaft das gefügige 
Material der geftaltenden Phantafie if. Seiner Darftel- 


M 


Neue Literatur. 


— — — ee er 


lung' fehlt völlig das Gepräge der Unterſuchung. Sie ift 
ein Märchen, in deffen Gewand fi erafte Weisheit leidet. 
Eine glüllihe Vereinigung von dihterifher Schau, wiſſen⸗ 
ſchaftlicher Durhbildung und pädagogiſchem Geſchick hat hier 
die Möglichkeit Wirklichfeit werden laffen, den Lefer in dié 
Wunderwelt einer ganzen Reihe von Wiflensgebieten ge- 
rabezu fpielend einzuführen. Was das bedeutet, wird jedem 
Har, der zum Vergleich etwa Heffters an fih ausgezeich⸗ 
netes Büchlein „Vom Sinn ber Mathematik” heranzieht. 
Wie ift da die Einkleidung am Außenrand geblieben und 
welde Denkzumutungen find da an den ungeſchulten Lefer 
geſtellt! Gewiß, auh Schleih hat feine Schatten! So 
wird manchem die Einfleidung gelegentlih bie Klippe des 
Kitſches und des Süßlichen nicht völlig umfhifft zu haben 
erſcheinen. Mandem mag aud bie „Traumelfe“ in ihrer 
gar zu nafeweifen Altklugheit lächerlich ſein. Aber was ver- 
ſchlägt das alles gegenüber der Freude der — nochmals fei 
es unterfrihen! — ſtarken Kraft der Veranſchaulichung, 
die bier am Werle gewefen ift und der es gelungen ift, 
felbft fo verwidelte Zufammenbänge wie die Darftellung 
der Goethiſchen Farbenlehre Iebendig und plaftifh zu ge- 
ftalten! Adolf Grimme. 
Zwei Meifebüher liegen vor mir; das eine ©. Mi. 
haelis, Weltreifegedanten (erfhienen im Furde-DBerlag, 
1923, 187 &.), das andere D. Dr. J. Witte, Sommer: 
fonnentage in Japan und China (Verlag Vandenhoeck und 
Ruprecht, Göttingen. Preis 6 M.) Beide Bücher find 
Zeugen eines weltweiten Chriftentums. Zweck der Meile 
des früheren Reichskanzlers war die Teilnahme an der Kon- 
feren; des Chriſtlichen Studentenweltbundes in Peting. Er 
bat aber dieje Gelegenheit benutzt, um in China, Japan 
und Amerifa fi mit führenden Geiftern aller Berufskreiſe, 
in erſter Linie mit chriſtlich Gefinnten, über die großen wirt- 
fhaftlihen und weltpolitifhen Fragen der Gegenwart aus- 
zuſprechen und dabei den deutfhen Standpunkt zur Gel- 
tung zu bringen, fo 3. B. in der Kriegsihuldfrage, über 
die er zahlreihe Vorträge im verfhiebenen Städten ge- 
halten bat. Das Hauptthema der Pelinger Konferenz; war 
„ber wirtihaftlihe Wiederaufbau”. Es ift außerordentlich 
anregend und lehrreih, die Gedanken Fennen zu lernen, die 
in einem fo geiftreihen Manne wie unferem geweſenen 
Reichskanzler durh die Beobachtung der wirtihaftliden, 
politifhen, fozialen und religiöfen Verhältniſſe in Oftafien 
ausgelöft worden find. Am meiften bat mid interefliert, 
was der Derfafler über amerilanifhe Kultur zu fagen weiß. 
Das Trodenlegungsproblem erörtert er mit ebenfo freiem, 
jedem Vorurteil abholden, aber Flarem Blide, wie bie 
fhädlihen Wirkungen des Pragmatismus, befonders auf 
dem Gebiete der Erziehung und der Demokratie, die „für 
wahrhaft große Männer keinen Raum läßt”, trogdem aber 
den großen Vorteil þat, daß fie die Einzelnen zur Mitver- 
antwortung erzieht. Man wird es nicht bereuen, daf Bud 
elefen zu baben. Das Gleihe gilt aug von dem zweiten. 
itte, der Direltor des „Allgemeinen evangelifch-prote- 
flantifhen Miffionsvereins zu Berlin” bat die hier vor- 
liegenden Meifeberihte bereits größtenteils in der „Chriſt⸗ 
ligen Welt” veröffentliht. Auch er hat dort im fernen 
Oſtaſien für die deutihe Sahe mehr als eine Lanze brechen 
Können, und es feint, daß befonders in Japan ſchon febr 
viele rechtlich denkende Männer zu der Ueberzeugung ge- 
kommen find, daß Deutihland ſchweres Unrecht geſchehen ift. 
Doh nicht in diefen politifhen Streiflihtern liegt der 
Hauptwert diefes Buches, fondern in den hodintereflanten 
DBerihten über die zahlreihen Auseinanderjegungen, welde 
Witte mit gebildeten bubddhiftifhen und anderen nichtchriſt⸗ 
Iihen Prieftern hatte. Wer im „gebildeten Deutihland 


weiß, daß es in Japan eine befondere Jorm des Buddhis- 
mus, die fog. „Schin⸗Dchu“ gibt, die eine geiftig febr bod- 
ftebende Theologie, fogar eine entiprehende theologiihe Ja- 
kultät befißt, freundliche Beziehungen zur chriſtlichen Mif- 
fion pflegt und flets einige ihrer Priefter an deutſchen theo- 
logiſchen Fakultäten fiudieren läßt? Alte Sreundihaft mit 
einem folgen ermöglihte W. die Teilnahme an ben Gottes- 
bienften (wenn man dies Wort hier gebrauden darf) biefer 
Kirche. Mit Regt fagt W., dab foldes Studium ber 
fremden Religionen an Ort und Stelle in ihrer gegenwär- 
tigen Lebensform eine unbedingt notwendige Ergänzung bes 
bloßen Studiums ihrer Literarifhen Quellen fei. Denn 
„Meligion ift doch nit Lebre, fondern Leben, und bies 
Leben muß man fehen, wie es hier pulfiert. Dann erft ver- 
ſteht man, was diefe Millionen Menſchen mit foldem Eifer 
zu ben Tempeln führt. (©. 78.) Höchſt intereflant if 
aug z. B. die Schilderung der beiden neu in Japan auf- 
gefommenen Religionen der Shinto” und ihres Ab. 
legers, der Religion, die beide von ganz einfachen Frauen 
aus dem Bolle erft vor verhältnismäßig Furzer Zeit ge- 
fliftet find, heute aber bereits ihre Anhänger nad Millionen 
bezw. Hmderttaufenden zählen. 

Jn den weiteften Kreifen unferer Gebildeten bat man 
leider zumeift von chriſtlichen Miffionaren eine MWorftellung, 
die nit gerade fumpathifhe Züge aufweift. Was aber 
wirflih chriſtliche Miffion fein fann und fein fol, das kann 
man aus diefem Buche lernen. Hier ift weithersiges Wer- 
ftehen, liebevolle Einfühlung in die fremde Volksart, ja 
auch Lernenwollen von dem, was der andere vielleiht vor 
uns voraus hat. Trotzdem aber Tein verwafdhener Aller- 
weltsglaube, fondern tief innerli gefühltes Erleben deſſen, 
was bas Chriftentum nun doch vor allem anderen tatfäd- 
li voraus hat, und was jedem Bolle in irgend einer Weite 
not tut. Das Bud ift dabei außerorbentlid feflelnd ge- 
ſchrieben. Bt. 





Berichtigung 
zu dem Aufſatz „Erfchütterungsmeßapparate” von 
Prof. Dr. Gelfert im DEtoberheft unferer Beit- 

ſchrift. 

Herr Prof. Dr. Mainka⸗Göttingen bittet uns, 
nachſtehende Berichtigung von Angaben jenes Auf- 
faßes zu bringen: 

n1.) Profeſſor Mainta war nicht Direftor der 
Hauptftation für Erdbebenforfhung, fondern hatte 
als wiflenfhaftliher Mitarbeiter vor allem die Ar- 
beiten im Obfervatorium zu beauffihtigen. 

2.) Die Fortfeßung der Straßburger Haupt- 
ftation für Erdbebenforfhung ift die mit Unter- 
fügung der Zeißwerfe in Jena gegründete Reihs- 
Zentralftelle für Erdbebenforfhung, deren Direktor 
Herr Prof. Heder ift. 

3.) Die „Erda A.-G.” in Göttingen ift 1921 
dur Herren Dr. Ambronn ing Leben gerufen, deren 
Vorſtand er zunächft allein war. Der Vorftand 
wechjelte mehrfah. Herr Prof. Mainta war ur- 
fprünglih Abteilungsleiter, feit Auguft 1924 hat 
er die techniſch⸗wiſſenſchaftliche Leitung der Arbeiten 
in Göttingen.‘ 


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Analysen-Quarzlampe. Von Diplom-Ingenieur Leopold J]. Busse. ® Aus- 

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Boftichedtonto Nr. 45744, Hannover. 


Schriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld. 


Für den Inhalt der Auflähe Neben die Derfafler;igre Aufnahme magt Re nicht zur Aeuhernug des Bundes. 





XVIL Jahrgang 


Dezember 1925 


Heft 12 





Die ebeut der neuen n Schule von Nancy. 


P 


Von Apothefer Franz Ktodenbring. 


Im legten Jahrzehnt ift ſchon außerordentlich 
viel über die neue Schule von Nancy” und ihren 
Begründer Emil Coué gefchrieben worden, aber 
fo lange nicht genug, bis nicht ihre Erfenntniffe 
und Errungenfchaften in die weiteften Kreife ge- 
drungen find. Während die „alte Schule von 
Nancy” unter Führung von Bernheim und Lié 
bault zwar der Wiſſenſchaft einen Foftbaren Shag 
bot durd eine ſachgemäße Einführung in die Medi- 
zin der bie dahin mit mehr oder weniger Mif- 
trauen beachteten Hypnoſe, bislang nur ausgeübt 
und anſchaulich demonſtriert durh Männer, die 
man gern mit einem unheimlihen Schimmer son 
„Zauberei und Hererei umgeben wollte, über- 
fchreiten die Erfahrungen der ‚neuen Schule von 
Nancy” bei weitem den Rahmen der Wiſſenſchaft 
und rufen eigentlich jeden Menfchen auf, Stellung 
zu nehmen zu ihren Erfenntniffen und Darbie- 
tungen. 

Alle großen Männer hatten ftets bei aller Wer- 
ehrung, die man ihnen zollte, eine große Anzahl 
von Meidern und Gegnern, die aber eigentlih nur 
ein Beweis mehr find für ihre Größe. Coué's 
Gegner find vor allem in ber Aerztewelt zu finden, 
die geradezu in zwei Lager gefpalten ift. Natürlich 
ift es nicht verwunderlih, daß hier, wo man ben 
frafieften Materialismus lernt und lehrt, nur gan, 
almählih die Erkenntnis Fuß faflen Tann, daf 
die Materie durch den Geift, der Körper durd die 
“dee geformt und geleitet werden, und organifche 
Sunftionen im weiteften Maße geiftiger Beeinfluß- 
barkeit unterliegen. Die Verurteilung Coué's 
und feiner Schule aber geht hier manchmal in 
törihter Derblendung foweit, dag man ihr Furz- 
weg jede „Wiſſenſchaftlichkeit“ abſpricht. Diefem 
„Poſitivismus mit feinem ironifhen Lächeln,” der 
jede Wiſſenſchaft in eine jedem verftändliche For- 


mel bringen Fann, trat Prof. Bavin! erft in Heft 
Nr. 7 fehr wirffam entgegen, in dem er fihreibt: 
„Diele philiftröfe Auffaſſung verfagt in Wirklich⸗ 
feit ſchon in den fogenannten exakten Wiffenfchaften. 
Das Beſte, was ſie zu geben haben, wird eben nicht 
durch eine nüchterne Rechnerei, ſondern durch eine 
der künſtleriſchen Phantaſie auf's engſte verwandte 
Genialität gefunden, natürlich wird dieſelbe hier 
auf's ſtrengſte gezügelt durch die fortwährende Kon⸗ 
trolle an den Tatſachen. Nun, dieſe Kontrolle 
an den Tatſachen in Bezug auf die Leiſtungen des 
Couéismus an fih und anderen ift jedermann ohne 
Schwierigkeiten möglich und tatfählih aud das 
überzeugendfte Werbemittel zur Anhängerſchaft an 
diefe Lehre. 

Man bört fogar Stimmen, die Coué's Lepre 
aus national-politifhen Gründen ablehnen, d. h. 
ihr gleich garnicht näher treten, weil es fih um 
einen Sranzofen handelt! Ich tähte, das dürfte 
als ein lächerlicher Grund bezeichnet werden und 
eines gebildeten Menſchen ganz und gar unmwürdig; 
ihnen möchte ich zurufen: „Die Toloranz erft führt 
auf den Gipfel von Kultur und Leben!” 

Es könnte nun fo ausfehen, als wollte ih mid 
zum DBerteidiger Coués aufwerfen. Dem muß id 
mit aller Entfchiedenheit widerfprehen. Coué har 
feinen Derteidiger nötig, feine Rechtfertigung liegt 
in feinem Werf, feinen prachtvollen Erfolgen und 
feiner uneigennügigen Hingabe zum Wohle einer 
leidenden Menschheit. Seinen Namen befannt 
und feine Lehre verftändlicher zu machen unter Hin- 
weis auf den Auffag in Heft 10 über die feelifche 
Erziehung ift die alleinige Abſicht diefer Zeilen. 

Coué Hat ein „ideodynamiſches“ Geſetz des 
Geiftes entdedt, das in der Dualität unferes We 
feng die Gegenfäglichfeit regiert zwiſchen der Cin- 
bildungsfraft und dem Willen. Die Kenntnis 


298 


diefes Geſetzes erlaubt es zum allererfien Mal, 
auf wiſſenſchaftlichen Wege die Zufammenhänge 
unferes geiftigen Lebens zu beherrfhen. Wie be- 
reits in dem erwähnten Aufſatz in Nr. 10 gezeigt 
wurde, baut fih Coués Lehre auf 


1.) auf die Theorie des Unbewußten (Unter- 
bewußtfein), 

2.) auf die Ueberlegenheit der Einbildungskraft 
(Glaube) über den Willen, 

3.) auf die Beeinflußbarfeit (Suggeftibilität) 
des Unterbewußtſeins durd eine bewußt ge- 
leitete Autofuggeftion. 

Wie aus zahlreihen DBeifpielen an „ungebil- 
deten” Leuten, d. h. Menfchen, die niht die Mög- 
liġfeit haben, in den Mechanismus einer Auto- 
fuggeftion einzudringen, und dodh ihrem blinden 
Glauben gehorchend, in der Ausübung der ge- 
nannten Heil- und Erziehungsmethode die ge- 
wünſchten Erfolge erzielen, hervorgeht, ift es 
durchaus nicht erforderlich, eben diefen Mechanismus 
genau zu fennen, — ganz abgefehen davon, daß 
auch die pſychologiſche Willenfhaft noh in den 
Anfängen der Erkenntnis geiftiger Funktionen 
fteht —. Der Gebildete jedoch fheut fih, Behaup⸗ 
tungen gedanfenlos naczubeten und ſucht mit 
Redt eine vernünftige und natürlihe Erflärung. 
Merkwürdigerweife madt aber fhon die Theorie 
über das Unterbemußtfein febr große Schmierig- 
feiten. Die Pſychologie von Heute lehrt ung, 
daß die Verfönlichkeit eines jeden Menſchen ge- 
fpalten ift in fein „Ich⸗Bewußtſein“, deffen Funt- 
tion der Wille ift, und fein „Ich⸗Unterbewußtſein“, 
das durd die Einbildungsfraft — oder den Glau- 
ben — geleitet wird, und daß eben dieſes Unter- 
bewußtfein als Leiter aller organtifdhen 
Funktionen, als Träger der Erinnerungen, Erfah- 
rungen und Erziehungsrefultate faft die ganze Per- 
fönlichfeit bedeutet und dem „Ich⸗Bewußtſein“, 
das nur ſcheinbar durd feine Gegenwartsautorität 
die große Rolle fpielt, mit allem ‘Bedarf in Förper- 
licher und geiftiger Beziehung zur Verfügung ftebt, 
ähnlich wie der verantwortlihe Minifter dem Re- 
genten. Hören wir dodh ein Wort eines der größten 
Pſychologen der Gegenwart, Prof. Freud, der in 
feiner Einführung zur Pſychoanalyſe in überzeu- 
gendfter Weife die geradezu beängftigende Gewalt 
des Unterbewußtfeing demonftriert. Er ſpricht von 
den beiden großen „Kränkungen“, die „der naiven 
Eigenliebe der Menſchheit“ durd die Wiſſenſchaft 
widerfuhren, 1. die Erfenntnis des Kopernifus, 
daß unfere Welt nicht der Mittelpunft des Alle, 
fondern nur ein Stäubhen im Weltenfyftem ift, 
2. Darwin’s Lehre, „die das angeblihe Schöp- 
fungsvorreht des Menſchen zunihte macht, und 
ihn auf die Abftammung aus dem Tierreih und 
die Unvertilgbarfeit feiner animalifhen Natur 


Die Bedeutung der neuen Schule von Nancy. 


verwies”, und fügt dann diefen Bemerkungen „bie 
dritte und empfindlichfte Kränkung‘ für, die 
menſchliche Größenſucht“ bei, erbracht „durch bie 
heutige pſychologiſche Forſchung, welche dem Ich 
nachweiſen will, daß es nicht einmal Herr im eig- 
nen Haufe, fondern auf Färglihe Nachrichten an- 
gewiefen bleibt von dem, was unbewußt in feinem 
Seelenleben vorgeht.‘ 

Diefe Bemerkungen allein dürften genügen, um 
wenigftens jedermann anzuregen, biefer bedeutenden 
Entdefung näbherzutreten. So weift Freud in 
genanntem Werfhen nah, daß 3. B. die foge- 
nannten Fehlleiftungen (Verſprechen, Verhören, 
Verfchreiben, Verlieren ufw.) nicht, wie man fonft 
fhledhthin annimmt, dem bloßen Zufall unter- 
liegen, fondern vollwertige ſeeliſche Afte find, die 
man etwa als Streihe auffaffen fann, weldhe das 


Unterbewußtfein dem Bewußtfein fpielt. Kompli- 


zierter, aber auh ungleich intereflanter liegt der 
Soll bei den Träumen; dort täufht das Unter- 
bewußtfein mit einer geradezu raffinierten Ent⸗ 
ftellungstechnif, die dem gewandteften Detektiv 
alle Ehre madhen würde, das Bewußtſein mit 
Hilfe von Verdrängung und Entftellung der Ge- 
danken, fi) dabei einer Faum Eontrollierbaren Sym- 
bolik im Erfegen von Gegenftänden und Perfonen 
bedienend, fo daß das Bewußtſein ſchon allein gar 
nit mehr in ber Tage ift, fih den -„Unfinn zu 
erklären.” [Leider dürfte es zu weit ablenfen, 
die führende Molle zu erläutern, die das Unter- 
bemwußtfein nah Freud in den umfangreihen Krant- 
heitserfeheinungen der Meurofen fpielt. Nur wolle 
man fefthalten: eg gilt heute als Tatſache, dag 
unfer Unterbewußtfein frei beftimmt und verfügt 
über unfer Tun und Wollen, und daf eg nur einen 
Weg gibt für das Bewußtſein — hier den Men- 
fhen überhaupt — erzieherifh mitbeftimmend auf 
fein Unterbewußtfein einzuwirfen, nämlich eine be- 
wußt geleitete Einbildungskraft, ein Glaube, ber 
in bewußter Autofuggeftion oder inbrünftigem Gebet 
Schritt für Schrit an fih zu beffern beftrebt ift 
und fih fo almählih der Erfüllung feiner Ziele 
und Wünfche nähert. 

Der vielgepriefene Wille allein erreiht da gar 
nichts, eg fei denn, daß er durd den Glauben im 
weiteften Mape geftügt it. Denn wenn das Be- 
wußtfein fagt, „ich will fchlafen” und das Unter» 
bewußtfein entgegnet, ‚ich fann nicht”, fo unter- 
liegt der Wille in diefem wie in jedem anderen 
ähnlihen Falle. Diefes nachgewieſen zu baben, 
ift das große Verdienſt Emil Coué’s. — Damit, 
find wir zu unferm zweiten Punkte gefommen: der 
Ueberlegenbeit der inbildungsfraft über den 
Willen. Auch diefer Punkt ift vielfach Gegenftand 
des größten Widerſpruches, umfomehr, als bier 
ein jeder aus „vielfadher eigener Erfahrung” das 


Die Bedeutung der neuen Schule in Nancy. 


Gegenteil leicht beweifen zu Fünnen glaubt. Tau⸗ 
fende von Beifpielen liefen fih finden, um diefes 
zu demonftrieren, und da Beiſpiele vielleiht am 
beredtften zu beweiſen vermögen, fo will ih deren 
auh einige anführen, die der Wirklichkeit ent- 
nommen find. Coué felbft ift fih über den Wert 
des Beweiſes diefer Tatfahe — feine eigentlichfte, 
perfönlichfte Erfenntnis — feinen Patienten gegen- 
über fehr wohl Mar und fühlt fih verpflichtet, 
- jedem einzelnen denfelben am eigenen Leibe vorzu- 
führen. Er verfährt etwa folgendermaßen, ſpricht 
zu ihnen: „Streden Sie die Arme nad) vorn und 
ſchließen Sie die Hände fo feft, wie Sie können. 
Denken Sie jest „Ich will die Hände öffnen, 
aber ih fann nicht, ich fann nicht, ih . . . . ufw. 
ih fann nicht. . . . Oeffnen Sie doh, aber 
denfen Sie weiter . . . ih fann nicht, ich Fann 
niht . . . Der Patient kann tatſächlich die 
Hände nicht voneinander trennen, fo febr er aud 
will, er drückt im Gegenteil immer fefter. 
Darauf Coué in wundervoll ruhigem Ton mit 
feiner melodifhen Stimme: „Denken Sie jest: 
— — Ich fann!” Der Patient öffnet die Hände 
ſoſort. — Afo der Wille muß fih der Einbildung 
fügen. 

In einer der franzöfifhen Kolonien Nordafrikas 
tam eines Tages ein Mann zum erften Male in 
feinem leben zu einem Arzt und Elagte über eine 
bartnädige Verſtopfung. Nah der. Unterfuhung 
reichte ihm der Arzt ein Rezept etwa mit folgenden 
Worten: Wenn Sie nah Haufe fommen, fo 
nehmen Sie dieg auf einmal ein, und die Stuhl- 
entleerung wird fih bald einftellen. Der Mann 
befolgte den Rat wörtlih, ging nah Haufe und 
verfpeifte fein — — Rezept; bald darauf hatte 
er emen vollen Erfolg. | 

Der Leiter des Coué⸗Inſtitutes in Paris erzählt 
aus feiner jugend ein recht anſchauliches Erlebnis: 
Im Alter von 10 Jahren hatte er beide Hände 
mit vielen häßlihen Warzen befest. Man riet 
feiner Mutter, ihn einem alten Mann, der als 
„Hexenmeiſter“ befannt war, — der Vorfall 
ereignete fih auf dem Lande — vorzuftellen. Dieſer 
Alte nun zählte die Warzen, fchnitt eine gleiche 
Anzahl Furzer Fäden, machte über jede Warze mit 
einem Faden ein Kreuz, band dann alle Fäden 
zufammen zu einem Bündelchen und befeuchtete 
diefes legtere mit feinem Speichel. Wor, während 
und nad diefer Handlung fprah er dem auf den 
Knieen liegenden Knaben Gebete und allerhand 
Zauberfprühe vor. Dann hieß er ihn aufftehen 
und fügte hinzu, er werde diefe Fäden nunmehr an 
dem Fuße eines Kreuzes auf dem Friedhofe ein- 
graben und wenn die Fäden verfault feien, feien 
auh die Warzen verfhwunden. Befagter Leiter 
des Eoue-nftitutes führt dann weiter aus, daf 


299 


er tatfächlih nah 14 Tagen Feine Warzen mehr 
hatte, und gibt dazu, was das erflaunlihe daran 
ift, eine ganz einfahe und natürlihe Erflärung. 
Es dürfte wohl jedermann von vornherein flar 
fein, daß weder Gott noh der Teufel mit diefer 
Angelegenheit etwas zu tun haben. Die Worte 
des Herenmeifters gruben fih mit Hilfe der Cin- 
bildungsfraft durch Vermittlung des Gehörs in 
das Unterbewußtfein ein, es entftand daraufhin 
eine belebende Auslöfung und f&höpferifche Orien- 
tierung der Lebenskraft, die im Hinbli auf bie 
entiprehende Verwirklichung auf eine unbemwußte 
und den Gefamtorganismus mobilifierende Art zum 
Erfolg ftrebte. Phyſiologiſch erfcheint folgende 
Erklärung wahrfheinlih: Den Gefäßen und dem 
Leitungsvermögen wurde vom Nervenſyſtem aus ein 
derartiger Impuls mitgeteilt, daß die Blutzufuhr 
nah den Warzen unterbunden wurde und leßtere 
abfterben mußten. 

Noch anſchaulicher und überzeugender aber dürfte 
dag folgende und legte Beiſpiel fein, das ung 
amerifanifche Aerzte berichtet haben. Um die Ge- 
walt der Einbildungsfraft zu erweifen, erbaten fie 
fih zum Tode verurteilte Verbrecher aus und ver- 
ſprachen, diefelben auf eine menſchlich würdige Art 
aus dem Leben zu befördern. Jn mehrfahen Ber- 
ſuchen fagten fie dem Verbrecher etwa folgendes: 
„Sie willen, daß Sie zum Tode verurteilt find, 
ih habe von Stantswegen den Auftrag erhalten, 
diefes Urteil zu vollziehen. Ich werde Ihnen einen 
kleinen Stid in den Naden maden, und in einigen 
Minuten werden Sie verbluten, ohne den geringften 
Schmerz verfpürt zu haben.’ Darauf wurde der 
Betreffende recht bequem hingefegt, ihm ein gänz- 
lih indifferenter Nadelftih in den Naden gemadıt 
und darauf aus einem vorher hergerichteten Gefäß 
warmes Waſſer von Körpertemperatur in einem 
Schlauch an die Stichftelle geleitet, um von dort 
aus in ein darunter bereitgeftelltes Emaillegefäß 
börbar bhineinzutropfen. Obwohl niht ein 
Tropfen Blut austrat, erfolgte in furzer Zeit der 
Tod allein auf die Einbildung bin ih verblute.“ 
Genug damit der Beifpiele, der Lefer fuche felbft 
weiter, er findet deren täglich unzählige, viel ein- 
fachere alg diefe. immer ift es die Einbildungs- 
fraft, d. b. der Glaube, der den Ausfchlag gibt, 
und der Wille muß fih fügen. . Nur wo Wille 
und Glaube einander entiprechen, da ift das Gleich- 
gewicht gewahrt, da ſpricht man von „Selbftbe- 
meiſterung.“ Sonſt beißt es, wie in ber Bibel: 
„Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, und dag 
Bije, das ih nicht will, dag tue ich‘ oder: ich 
wid Schlafen, aber eg geht nicht — ich will effen, 
aber ih habe feinen Appetit — ich will arbeiten, 
ab-r mein Kopf ift ganz leer — ich will verreifen, 
aber ih bin zu müde — ich will niht zornig werden, 


300 





aber ih fann nicht anders ufw., kurz, ih will’s, 
aber ih fann nicht! 

Man will mit feinem Willen, aber man fann 
mit feinem Glauben (Unterbewußtfein), dies ift 
einfach ein Maturgefeß und wohl der Mühe wert, 
gewußt zu werden. Seiner Rolle entiprechend 
mag man jedem feine Funktion und Aufgabe laffen; 
der eine beftimmt, während der andere handelt. — 

Auf die Erziehung des Unterbewußtfeins haben 
wir demnach unfer Hauptaugenmerf zu richten; diefe 
brennende Frage bat die „neue Schule von Nancy” 
an ihrem Teile weſentlich mit in den DBordergrund 
der angewandten Pſychologie gefhoben. Die Pflege 
des Körpers ift natürlih von grundlegender Be- 
deutung für feine geiftigen Leiftungen und Fähig- 
feiten. Ihm als der materiellen Hülle des Unter- 
bewußtfeins hat man felbftverftändlich in viel wei- 
terem Mage Sorgfalt und Pflege in den phufifchen 
Lchensvorgängen angedeihen zu laffen, als man eg 
Ihlehthin gewohnt ift, und zwar mit bewußter 
Auswahl und Beobachtung. Wiel wichtiger als 
nah der Kalorienrehnung ift eine Auswahl der 
Speifen nah ihrer Herkunft und ihrem Bitamin- 
gehalt. Man ftreitet lange her und hin, ob vege- 
tarifhe oder animalifhe Nahrung für den Men- 
fhen das Richtigere fei, anftatt fi einfach dem 
Inſtinkt hinzugeben, der dodh darüber gar feinen 
Zweifel laffen fann, welche geiftigen Lebensregun⸗ 
gen fih entwideln müflen aus der Nahrung toter 
Tiere mit all ihren Parafiten und Torinen. Jn- 
dem ich mich aber hiermit leider nur auf diefen 
Sag befhränfen muß, möchte ich den Lefer felbft 
zu weiterem Machdenfen und Studium anregen — 
er wolle auh auf das Urteil Plutarhs und 
Leonardo da Vincis abten. — Ferner: ein durd 
die Nahrung reinerworbenes ‘Blut will aud rein 
erhalten fein; das beforgen wir durd eine fachge- 
mäße Atmung bis in die Lungenfpigen hinein, wo- 
durch wir dauernd ein DBlutgift — die Koplen- 
faure — entfernen! Zu zeigen, wie man atmen 
iol, fann gleihfalls nicht Aufgabe diefer Zeilen 
fein, wenngleich wenigftens darauf hingewieſen 
werden muß, wie ungeheuer wichtig zur Entwid- 
fung des Unterbewußtfeing und der Intelligenz eine 
richtige Atmung ift. Indem ich vieles, Darunter 
den Schlaf und das feruelle Gebiet übergehen muß, 
fann ih nicht umhin, eine Trage noh Furz zu 
ftreifen, weil fie noh zu unferem Thema gehört: 
das Denken. — Man ift, was man ift, und was 
man denft! Die ungewollt fih einfchleichenden 
Gedanken find aufs firengfte zu überwachen und zu 
leiten — denn wie vielleiht noh erinnerlich, be- 
deutet nah Dernbeim ein Gedanke fhon eine Wirt- 
lichkeit — und nad den Gedanken müflen fih die 
Worte richten, die man fpricht, denn merfwürdiger- 
meife fallt auh ihnen eine nicht unbedeutende er- 


Die Bedeutung der neuen Schule in Nancy. 


zieherifhe Wirkung zu. Mindeftens ebenfo- 
viel Wert wie auf die Erziehung des Willens, ift 
auf die Erziehung der Einbildungsfraft zu legen. 
Wohl felten wurde zur Löfung einer fo wichtigen 
Grage folh ein einfaches Mittel gegeben, wie es 
Coué gleih mit ihrer Erkenntnis zufammen 
fand: die bewußte Autofuggeftion. Unter aber- 
maligem Hinweis auf ben früher bereits erwähnten 
Aufſatz muß nochmals betont werden: unerläßlich 
zur wirffamen Autofuggeftion find völlige Förper- . 
lihe Entipannung (Ausihaltung des Willens) und 
mechanische, monotones Vorſichhinſprechen. Man 
fann fih die verfchiedenften Suggeftionen maden, 
je nad) feinen Wünfchen und Zielen; von geradezu 
univerfaler Wirkung aber ift Coués klaſſiſches 
Säschen geworden: „Es gebt mir von Tag zu Tag 
beffer”, weil es alle Ziele und Wünſche umfapt für 
jedermann und in jeder Lebenslage. Jm allgemei- 
nen und normalerweife vollziehen fi die Heil- 
wirfungen nah der Coué - Methode allmählich 
Schritt für Schritt nad dem Sag: Natura non 
facit saltus; doch oftmals — ja, man fann fagen 
in jeder Sitzung, die Coué täglich unentgeltlich ab- 
hält, gibt es einige Fälle, wo augenblidliche Heil- 
erfolge, wie wir fie in der Bibel Iefen, beobachtet 
werden. Das find dann die vielbefprodenen 
„Wunder von Nancy”. Es ift gar Feine Selten- 
heit, bag Leute, die nicht, oder nur mit Stöden 
oder Krüden geben Fonnten, und im Wagen Famen, 
zu Fuß das Haus verlaflen, daß Schwerhörige 
hören, daß teilweife Gelähmte ihre Glieder mit 
einem Male gebrauhen können — ja, Coué er- 
zählt felbft den wunderbaren Fall, daß eine Dame 
aus England, die zwanzig Jahre auf einem Auge 
nicht fab, in einer Sigung plöglic wieder fehen 
lernte. Auch dafür gibt Coué eine ganz einfache 
und natürlihe Erflärung. Jn al diefen Fällen 
hatte eine Erkrankung oder Verletzung den mo- 
mentanen Gebrauch des Gliedes ausgefchaltet, die 
Verlegung heilte aus, es blieb aber unbewußt bie 
Vorftelung des Nichtgebrauchenfünnens zurüd (id) 
fann nicht fehen, hören, geben ufw:). Mur diefe 
Vorftelung „ih fann nicht‘ ward unter Coués 
Einfluß befeitigt, der aber nie unbetont läßt, daf 
er noh nie jemanden geheilt habe, fondern nur 
cine natürliche, in jedem Menfchen vorhandene Kraft 
wede, indem er die Meberzeugung ‚ich Fann nicht‘, 
in die gegenteilige verwandelt: „id fann.” Damit 
trat dann auch ſchon das fonft gefunde Glied in feine 
natürliche Funktion. Es fann felbftverftändlih nur 
in den feltenften Fällen von vornherein erfannt wer- 
den, welde Leiden wirflih nur als „eingebildet‘ 
bezeichnet werden dürfen. 

Gewiß, man fann nicht alles erreichen, man 
fann nicht alles heilen, aber das Mögliche 
fana ein jeder erreihen, wenn er glauben lernt. 


Die Löfung des Nä: Rätſels der Vitamine? 


Und indem man lernt, ſich in ſeiner jeweiligen 
Lage wohlzufühlen, ja dieſelbe von Tag zu 
Tag zu beſſern, bat man gleichzeitig einige Foft- 
bare Güter erworben: einen fröhlichen Optimis- 
mug, der die Sorgen und Mühen des Lebeng mit 
Leichtigkeit überwindet, eine ine Toleranz, bie dag Zu⸗ 





Die Löſung des Rätſels der 


ner geheimnisvollen Ergänzungsſtoffe tieriſcher und 
menſchlicher Nahrung rein herzuftellen, die man 
Vitamine nennt. 

Unfere Kenntnis von diefen Stoffen fchreibt fid 
erft feit wenigen Jahren her, aber das Schrifttum 
darüber ift ſchon geradezu unheimlich angeſchwollen. 

Man glaubte bis vor Furzem, dag im wefent- 
lihen viererlei Nahrungsmittel ausreichten, um 
eine richtige Ernährung zu gewährleiften, nämlich 
Eiweißſtoffe, Kohlehpörate, Fette und Salze. Es 
zeigte fi) indeflen, daß Tiere, die man mit reich 
lihen Mengen diefer vier Arten von Stoffen er- 
nährte, zurüdblieben, fränfelten und eingingen. Es 
waren alfo noh Ergänzungsftoffe notwendig, eben 
jene Vitamine. Man Eonnte fie nicht rein þer- 
fielen, wußte aber, in welchen Nahrungsmitteln 
fie vorhattden waren. Setzte man dem Futter 
jener Tiere folche zu, fo erholten fih die Patienten 
febr ſchnell. 

Die Vitamine find alfo unbedingt nötig zur Ge- 
fundheit und zum Wachstum des. Körpers, wenn 
fie auh nicht unmittelbar Energie ober gewebe- 
bildenden Stoff zuführen. Man Tann die Wita- 
mine auch nicht im Körper felbftändig bilden, daher 


eben die Motwendigkeit entiprehenden Nahrungs- 


zufuhr. Sonft treten die fogenannten Mangel 
franfheiten auf. Dem Fehlen eines beftimmten 
Vitamins entfpriht eine befondere Erkrankung. 
Man fennt zur Zeit mindeftens fünf DBitamine, 
die man in Ermangelung a befferen Namens 
durch Zuſatz der Buchſtaben A, B, C, D und E 
Fennzeichnet. Das heißt: man ‚Kenne bie betreffen- 
ben Ergänzungsftoffe nur infofern, als man ber- 
ausbefommen Bat, in weldher Nahrung fie vor- 
handen find. 

Da ift zunächſt das wachstumsfördernde Bita- 
min Es kommt vor in Vollmilch, Rahm, 
Butter, Käfe, im Tierherzen, Eidotter, Tomaten, 
Salat, Klee und anderem. Beſonders reih an 
diefem Vitamin ift der Lebertran. Es fommt aber 
nicht vor 3. B. in Margarine. Alfo es ift unrichtig, 
dag Margarine denfelben Nährwert hat wie Butter! 
Das DBolksempfinden bat hier das ganz richtige 
Gefühl. Fehlt der Nahrung das Vitamin A, fo 
wird das Wachstum beeinträchtigt und die Wider- 
ftandsfähigkeit gegen Krankheiten herabgeſetzt. Ge- 


Vitamine? D 


Japaniſchen Forſchern ift es gelungen, einen je- ` 


301 


ſammenleben mit dem Nebenmenſchen erleichtert 
und auh Freude und Genug am Fremdartigen und 
Unbefannten bereitet und die Selbftmeifterung fei- 
nes Ichs, welches zweifellos zu den Föftlichiten 
Schätzen gehört. 


Don Stubiendireftor 
Mar Müller. 


nieft man eine A-lofe Koſt längere Zeit, fo ent- 
fteht eine eigentümliche Krankheit, die Xerophthal⸗ 





mie oder Yugendürre, das heißt ein Trodenwerden 


ber Augen, das oft Erblindung im Gefolge hat. 
Sie wird befonders in Dänemark beobachtet, wo 
nämlich die Bauern die Mil abrahmen, um bie 
Butter nad) England verkaufen zu Fönnen. Die. 
Leidtragenden find die — erblindenden — jütifchen 
Kinder. 

Der Mangel an Vitamin A trägt endlich bei 
zur hun der englifhen Krankheit, der Ra- 
bitis. Der A-hältige Lebertran ift das befte Heil- 
mittel (nur muß es rober fein, Fein gebleichter, 
feine Emulfion!), ferner frifches Gemüfe und Obft. 
Früher hielt man Rachitis für eine allein durd 

„mangel bewirkte Krankheit; (dann müßte bie 
A-hältige Vollmilch zur Heilung genügen; das ift 
aber niht der Fal); das Vitamin A fpielt hier im 
Gegenfaß zu der Augendürre nur eine mittelbare 
Rolle. 

Auh das Vitamin B ift Iebensnotwendig. 
Es ift ebenfalls ein Wahstumsförderer. Es fin- 
det fih am häufigften von allen Bitaminen. Grüne 
Blätter und Gemüfe, Getreidevollforn, Nüſſe, 
Südfrüchte (diefe find alfo im Winter Fein Lurus!), 
Tomaten, dag find einige der Quellen, aus denen 
wir e8 beziehen Fünnen. Das Aufblühen von Leu- 
ten, die vom Typhus genefen, fommt vielleicht da- 
her, daß die Typhusbazillen B-hältig find. Dap das 
MWahstum von Kindern im Frühling fchneller vor 
fidh gebt als im Winter, dürfte fih dadurch er- 


. Bären, daß die Milh im Frühjahr und Sommer 


B.reiher ift; denn das Wieb frißt dann Grün- 
futter auf der Weide. Das Bitamin B ift leicht 
im Wafler löslich; wenn man daher Gemüfe ab- 
brüht, fo wird diefer Wachstumsförderer befeitigt! 
Es ift zum Glück verhältnismäßig hißebeftändig, 
fonft Fünnten die Fünftlich genährten Kinder nicht 
gedeihen, die auf abgekochte Milch angewieſen find. 
Es wirft in geringften Mengen; daher empfiehlt 
Dr. von Kügelgen in feinem Buch Die Mangel- 
franfheiten‘ einen Zufag von Möhren- oder Ge- 
müjefaft zur Wadstumsfteigerung. 

Das Fehlen von Vitamin B ruft Appetitlofigfeit 
und Schwäche, fowie Gewichtsabnahme hervor. Ob- 
wohl es in fo vielen Stoffen vorfommt, haben 
doch Soldaten, Seeleute, Reiſende, Gefängnis- 


302 





infailen, Kinder und andere, die aus irgend einem 
Grunde längere Zeit eine einfeitige Koft hatten, 
infolge des Mangels an Vitamin B die fhwerften 
Gefundpeitsfhädigungen erfahren. So ift da eine 
Tropenfranfheit, Sprue, der ingbefondere euro» 
päiſche Frauen in Städten bei einfeitiger B-Iofer 
Koft (Brot) anheimfallen, während die Bananen 
effenden Landbewohner in ber — geſund 
bleiben. Mit bewirkt durch Mangel an B ift die 
fogenannte Dedemfrankheit, die in Indien in Hun- 
gerzeiten nicht felten it und im Stedrübenwinter 
1917 auh uns heimfuhte. Sie bat auch 3. B. 
unfern Hilfsfreuzer „Kronprinz Wilhelm‘ früh- 
zeitig in einem amerifanifhen Hafen Schuß fuchen 
laffen, da alles an Bord erfranfte, trog anfcheinend 
befter Verpflegung: drei Pfund frifhen Rind— 
` fleifhe pro Tag und Mann, Käfe, Salzfifh und 
Wurf, Schinken, feines Weipbrot, Zwiebad, 
Büchfengemüfe, Kartoffeln, Fett und Kaffee in 
Menge! Auch Kartoffeln gab es, doh waren fie 
. wohl abgebrüht oder getrodnet. Die Offiziere 
blieben gefund, denn fie hatten friſches Obft 
und Gemüfe! Die Leute wurde aud fofort geheilt, 
als fie an Land Gemüfe- und Kartoffelauszüge be- 
tamen. Das hätten fie aber auh an Bord haben 
fönnen, fogar ein Auszug aus dem fudermweife ver» 
ſenkten Vollweizen hätte genügt. „Schiffsberiberi“ 
ſuchte fie heim, weil die Ergebniſſe der Witamin- 
forfhung dem Sciffsarzt noh nicht genug befannt 
waren. 

Das Vitamin B wird eben durch unfere Kon- 
fervierungsmethoden von Obft und Gemüfe völlig 
zerftört; auch reines Weißbrot enthält es nicht. 
Srüber bezeichnete man das Vitamin B wohl aud 
als Anti-beriberi-ferum, doch hat diefe Krankheit 
eher mit einem andern Vitamin zu tun. 

Vitamin C ift als foharbodheilender Er- 
gänzungsſtoff befannt, weil Mangel an C Sgar- 
bot (Skorbut) verurfaht, worunter vor allem 
Sciffsbefagungen (Walfifhfänger!) Teiden, die 
lange auf Büchſenſpeiſen angeriefen find. 

Im Spätwinter folen ganze Stämme Esfimos 
in Mordamerifa ausfterben, weil fie der Skorbut 
befällt! Friſches Gemüfe bringt fofort Heilung; 
1795 wurde den englifchen Kriegsichiffen das Mit- 
nehmen von Zitronen als Heilmittel gegen Skorbut 
befohlen. Denn Vitamin C findet fih 3. B. in Bi- 
tronen, Apfelfinen, Tomaten, Kohl, Spinat, Erb- 
fen, Bohnen und Möhren. Die meiften Gemüfe und 
Süpdfrüchte weifen es auf. Kuhmilch it im Win- 
ter fo arm an C, daß die Kinder Säuglingsfchar- 
bod befommen können. Man gibt daher Kleinen 
Kindern neuerdings mandhmal etwas Apfelfinen- 
oder Tomatenfaft bei. 

Vitamin qſcheint irgendwie in Beziehung 
zu ftehen mit gewiflen Phosphorverbindungen, die 


Die Löfung des Mätfels der Vitamine? 





— — — u —— 


bei der Knochenbildung eine Rolle ſpielen. Es fin- 
det fih u. a. in Wurzeln, Obſt, Getreide, Nüffen, 
Milh, Hülſenfrüchten und Hefe. Sein Fehlen ruft 
in Verbindung mit dem Mangel an einem andern 
Frgänzungsftoff Beriberi hervor, eine eigentümliche 
Tropenfrankheit, die befonders in Neisländern häu- 
fig auftritt, aber nicht an fie gebunden ift. 3. B. 
trat fie 1894 auf norwegifhen Schiffen auf, als 
die Erbfen-, Sped- und Schwarzbrotnahrung durd 
MWeikbrot- und Büchfenfleifchfoft erſetzt wurde; 
überhaupt ftellt fie fih ein, wenn die Nahrung 
durch zu langes Erbigen, Körner durch Schälen, 
Gemüfe durch Weggießen des Brühwaſſers ent- 
wertet werden. Das Polieren des Reiskorns z. B. 
raubt ihm gerade die vitaminhältigften Beftand- 
teile. Beriberi wurde eine Maflenfeude, als der 
Genuß von poliertem Reis Sitte wurde, weil die 
alten Handmühlen durch Dampfmühlen verdrängt 
wurden, die die Schalen des Reiskorns vollftändig 
vom Reis entfernen. Genuß von Meisfleie bradıte 
fofort Heilung. Eine Nachprüfung in javanifchen 
Gefängniffen zeitigte das Ergebnis, daß bei Cr- 
nährung mit poliertem Reis von 39 Gefangenen 
einer beriberifranf war, bei Verwendung von Reis 
mit teilmeife noch erhaltenem Silberhäutchen nur 
jeder 416te, bei einer Koft von ganz unpoliertem 
Reis nur jeder 10 725te! Aud die neuzeitlidhen 
Meble find derart ausgemahlen (und fo alle daraus 
bergeftellten Bad- und Teigwaren), dap ſolche Nah- 
rung — ebenfo wie die üblichen Konferven — eine 
fehr einfeitige Koft darftellt. Aud fehlt dies Vi⸗ 
tamin in unferm einheimifchen Obft. 

Vitamin E ift erft neuerdings in den Blid- 
punkt der Aufmerkſamkeit getreten. Es zeigte fid 
nämlich, daß Ratten, denen man zu ihrer einfeitigen 
Kot noh genug an Bitaminen der beiprodenen 
Art zufeste, zwar gefund weiterlebten, aber fih 
nicht fortpflanzen konnten. Es fehlte offenbar noch 
ein weiteres Bitamin. Es kommt z. B. im Salat 
vor, fowie im Reis. Als man ihnen ſolche Nahrung 
hinzugab, pflanzten fie fid wieder fort. 

Als fo die Kunde von den Vitaminen aud in 
weitere Kreife drang, fuchte man natürlich, eine 
möglihft vitaminhältige Nahrung zu ges» 
nießen, und bat wohl den Nährwert einer 
Koft ausihliegliih nah dem Witamingehalt beur- 
teilt. Obwohl man ſich die Sahe im Grunde recht 
einfah machen fonnte, in dem man ;. B. grünen 
Gemüfen und Südfrüchten befondere Beachtung 
ſchenkte, tauchten eine Menge Fünftliher Drogen 
auf, die den Anfprud machten, Vitamine Fonzen- 
friert zu enthalten. Natürlich darf man feine Wi- 
tamine nicht in ber Apothefe fuchen, fondern viel- 
mehr im Garten oder auf dem Markt. Aber num 
ſcheint es dod, als fei es gelungen, Ditamine rein 
berzuftellen.. Die Wiſſenſchaft der legten Jahre 


batte fi) ja ganz befonders abgemüht, und zwar 
ſchien es ganz ausfichtslos, die geheimnisvollen Wi- 
tamine zu faflen, jo daß man ſchon meinte, fie feien 
garnicht ſtofflicher Natur, fondern es lägen Strab- 
lungen zugrunde. 

Nun hat der Japaner Katfumi Tafahafi im La- 
boratorium von Profeffor U. Suzufi im phyfi- 
kaliſch⸗chemiſchen Forfhungsinftitut in Tofio Wita- 
min A gewonnen, aus Tebertran, Spinat und grü- 
nem Meerlattih. Es ift ein gelblichrotes Del, 
durchſichtig und dickflüſſig, von eigenartigem, nicht 
gerade unangenehmen Geruch, leicht bitterem Ge- 
fhnmd und überrafchenderweife nicht fo unbeftän- 
dig, wie man gemeint hatte: im Tuftleeren Raum 
deftilliert, zerfällt es Feineswege. 

Die Japaner haben es Biofterin getauft, weil 
es dem fchon als Beftandteil von pflanzlichen und 
tierifhen Zellen gut befannten Cholefterin in der 
Zufammenfesung und in den Eigenfchaften ähnelt. 

Erftaunlih ift die Wirkung des Bioſterins auf 
Lebeweſen. Ein Millionftel Gramm, das einer 


Das Stußen der Baumfronen. Von Dr. Fran Svadr. 


Was die Mode befiehlt, darüber wird nicht nad. 
gedacht, Es ift den Leuten heilig, ob es gleih Sha- 
den bringt, es wird gemacht! Diefem vollswirtfchaft- 
lipen Geſetz unterliegen angewandte Kunft und 
Aefthetil vorwiegend. Das fieht man an dem ge- 
genwärtig modevorſchriftsmäßigen gärtnerifchen 
Stugen der Baumfronen. Die Abb. 1 und 2 
(Robinien) zeigen, was aus den fo behandelten 
Bäumen wird, die als fhön (!) gelten folen, 
während man fie in Wirklichkeit zur Berfrüp- 
pelung gebradt hat. 


Die in den Blättern bereiteten Mäbhrftoffe . 


wandern in den Stamm, um hier zunächſt gelagert 
zu werden und im nädften Frühjahr das Material 
zur Meubildung der Blätter herzugeben. Wird 
nun einem Baum die Krone genommen, dann ift 
die Meubildung von Blättern natürlih auf ein 
MWeniges eingefehränft, und infolgedeflen „wiſſen“ 
die im nädhften Frühjahr in Bewegung -gefegten 
Nährſtoffe nicht, wo fie unterfommen follen. Es 
bleibt ihnen bei dem Mangel an Blattknoſpen 
fein anderer Weg als der, einer außergewöhnlidhen 
Verdickung der verbliebenen Aftftümpfe und bes 
Stammes als Material zu dienen. Weil diefe 
Verdickung ſtür miſſch, förmlich erplofiv erfolgt, 
ift fie ungleihmäßig und zeigt fih, bi Nobinien 
zunächſt fat regelmäßig an der Anfasftelle der 
Aefte, in einer ftarfen Knotenbildung, die 
aber aud an anderen Stellen des Stammes, be- 
fonders infolge von NRindenbefhädigungen auftreten 
fann. Bei Platanen zeigt ſich außer zahlreichen 


Das Stugen der Baumkronen. 


303 


vitaminarmen Nahrung zugefegt wurde, mit der 
Ratten gefüttert wurden, genügte, fie gefund und 
wachſend zu erhalten, während fie fonft eingegangen 
wären. Merfwürdigerweife ftarben Matten, die 
einen Tropfen au viel hefamen. Es handelte Rd 
dabei allerdings um bag Zehntauſendfache der ge- 
wöhnlichen Gabe! Mfo die Gefahr einer Ber- 
giftung liegt nicht vor, wenn tatfählih nun die 
Ernährungswiflenfhaft dazu übergehen folte, durd 
Zufag von Biofterin den Nährwert unferer Spei- 
fen entfcheidend zu beeinfluflen. 

Doch es klingt faft zu ſchön, um wahr zu fein. 
Aber unfer Gemwährsmann, Dr. Stoffen vom 
Science Service in Wafhington, der in ber legten 
Nummer des Scientific Monthly von der japa- 
nifhen Entdeckung berichtet, ift ein Forſcher von 
Ruf, der faum auf eine bloße Ente hereinfallen 
dürfte. 


v. Kügelgen, Die Mangelkrankheiten. Dresden, Pahi, 
1925. Scientifie Monthly, September und Oftober 1925. 


@ 


—- 


Fällen von Stammknoten und -verdidungen 
(Abb. 3) regelmäßig an den Aeſten eine reiche 
Knöthenbildung, mwodurd die normaler- 
weife geraden Hefte eine außergewöhnlig Enor- 
rige, fat zickzackmäßige Form annehmen. 
Won den in Heidelberg zwiſchen Römerſtraße und 
MWilhelmsplag an der SKaiferftraße ftehenden 22 
geköpften Platanen haben 20 in den verfchiedenen 
Graden an den Stämmen Knoten oder Verdickun⸗ 
gen. Während die Obftbäume fhon infolge des 
gewöhnlichen Auspugens und Tichtens der Krone 
die überfchüfligen Nährſtoffe in neugebildeten fog. 
MWafferreifern unterzubringen fuchen, darf 
man fih nicht wundern, daß ein Baum, dem faft die 
ganze Krone genommen wird, zu auffallenden 
Verlegenheitsverdietungen fhreiten muß. Daß bei 
regelmäßigem Kunftfhnitt von Obfibäumen eine 
gleichzeitig erwünfchte Derdidung der Zweige er- 
folgt, ift den Gärtnern befannt. Weshalb die 
Robinien oder mande Sorten befonders und faft 
regelmäßig zu folden Knotenbildungen neigen, 
wenn ihnen eine bereits aus ftärferen Aeſten be- 
fiebende Krone eingeftugt wird, läßt fi natür- 
lich niht fagen. Doc läßt fih beobadıten, daß, 
wenn die Einftusung in jüngerem Alter erfolgte 
und in nur Furzen Zwifchenräumen wiederholt 
wurde, dann unnormale Entwidlungen unter- 
bleiben. Das ift verftändlich. Bei einer bereits ftarf 
entwidelten Krone find Gefäße, Säfte- 
from md Wurzeldrud in ihrer Größe 
und Stärfe auf die Ernährung einer foldhen ein- 


304 











geſtellt. Wird dem Säfteftrom nun plöglic das 
Abflußgebiet faft ganz genommen, dann ſucht fih 
der Saft in den entftehenden Meubildungen einen 
anderen Abflug. Daß diefe vorwiegend an- den 


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Abb. 1. 


Anfagftellen der Xefte zuftande fommen, ift 
eine Folgeerfheinung des bier aus allen Aeſten 
fih konzentrierenden Säfterüdftaus So 
zeigt es fih auh an den zur Erzeugung von Geräte- 
ftielen gezogenen KRopfmweiden (Abb. 4), bei 
denen allerdings die ftehen bleibenden Aftitümpfe 
wefentlich zur Vergrößerung des Kopfes beitragen, 
der fih oft viel größer findet, als es die Abbildung 
zeigt. Degünftigend kommt an der Anfabftelle der 
Aefte bei Robinien hinzu, daß bier meiftens die 
Veredelung erfolgte, wodurd die neue Wer- 
unregelmäßigung, Unterbrehung bezw. Verengung 
im Derlaufe der Gefäße einfegte mit der Wirkung 
einer Saftftauung. Endlich hat die Natur 
aud das Beftreben, die mit der Veredlung erfolgte 
Verlegung kräftig auszubeffern und mit 
einer Ummulftung zu verfehen, wie fie ähnlich bei 
dem Anwachſen gebrodhener Knochen ftattfindet. 
Aus diefen Gründen finden ſich auh fonft Wer- 


Das Stusen der Baumfronen. 











edlungsftellen oft verdidt, ſoweit das niht ſchon 
durch ein ftärferes Difenwahstum der Veredlumgs⸗ 
forte herbeigeführt wird. Zu firamm gewordene 
oder fogar eingewachſene Pfahlbänder können natür- 
lih bei SKronenneubildung ebenfalls zu einer 
Stockung des zurüdfließenden Saftes an der frag- 
lihen Stelle beitragen und die Knotenbildung be- 
günftigen. Dennoch muß die Kroneneinftugung als 
die Saupturfadhe unter den begünftigenden 
Einflüffen anerfannt werden. Das läßt fih an den- 
jenigen Fällen erkennen, in denen die Knoten fürm- 
lih aus dem Stamme hervorgequollen erfheinen. 
Verdickungen diefer auffälligen Art laffen fidh. infolge 
von DVeredelungen fonft niht beobachten. Wo Wer- 
edlungen allein in Betracht fommen, pflegt fih nur 
ein ftärferes Dickenwachstum des Edelftammes in 
größerer Länge zu vollziehen. Die Veranlaſſung 
zu abnormen Auswüdfen fann dadurch verftärkt 
worden fein, daß die Bäume in Kompofterde ge- 
pflanzt wurden. Die gefunden Bäume zeigen da- 
durd eine fo üppige Zweigentwidlung und Blätter- 
bildung, daß mitunter Zweige abbraden, weil fie 


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Abb. 2. 


ſich ſelbſt nicht tragen können. Auch die vereinzelt 
vorkommenden, ganz außergewöhnlich vermehrten 
hexrenbeſenartigen Reiſervermehrungen 
bei manchen Robinien, die Verknorrungen der 








Aeſte und vereinzelten Verwarzungen des ganzen 
Stammes (Abb. 3) an geftusten Platanen find Er- 
fheinungen, die fih niht auf eine (weil bier über- 
baupt nicht vorgefommene!) Veredelung zurüd- 


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Abb. 3. 


führen laffen. 

Man fuhr die in Rede ftehenden modenmäßigen 
Derftimmelungen der Bäume ehrenvoll damit zu 
begründen, daß man fagt: die Anmohner der 
Straße wünſchen fie, um Licht in die Häufer zu 
befommen. Eine folhe Motivierung verdient die 
vollfte Würdigung, wo ſolche Fäle wirklich gegeben 
find. Sie find ja zahlreich genug in für Alleen 
eigentlih zu fhmalen Straßen, wo man aber 
dennody etwas Grünes niht ganz entbehren und 
den Eintritt des. Frühlings auh vom Zimmer aus 
genießen möchte. Wenn man fih aber weiter um- 
fieht, dann wird man finden, daß das Stutzen der 
Kronen Feineswegs auf diefe Fälle befchränft, 
fondern auh dort, wo es nicht angezeigt ift, aljo 
allgemein, d. h. modegemäfß ausgeführt wird. 
Weil durd das Stutzen der Krone die Blüte vor- 
übergehend oder dauernd verhindert wird, ſcheint 
man fih garnicht zu überlegen, weshalb man zum 
Stutzen veredelte Kronen nimmt, da die Veredelung 
doh nur der Blüte wegen gefhieht. Die vor- 
berfte Robinie in Abb. 5 (es ift die zweite von links 
in Abb. 2) zeigt, wie gegebenenfalls eine eingeftugte 


Das Stutzen der Baumfronen. 305 


Mobinie im vollen Blätter- und (fehlendem) Blü— 
teni dmu d” ausfieht! — Wenn man darüber 
nachdenft, wird man doh wohl zugeben müflen, daß 
man fonft unter „ſchön“ etwas anderes zu verftehen 
pflegt. Man wolle beachten, daß der in Abb. 5 
wiedergegebene Baum einer der in Abbildung 2 
photograpbierten ift. Die Aufnahme zur Abb. 2 
erfolgte im Winter, diejenige der Abb. 5 Anfang 
Suni. Der Unterfchied ift nur gering, während an 
einem gefunden Baum im Sommer die Aeſte durd) 
den Dlattreichtum völlig verdedt find. Die abge- 
bildeten Nobinien haben ein Alter von gegen 5) 
Jahren, befinden fih aber auf dem Sterbe— 
e ta t, dem einige dazwifchengeftandene ſchon anheim- 
gefallen find. Man fieht an zahlreihen der mit 
Kröpfen verfehenen Nobinien, daß die Krüpfe 
ftellenweife noh ftarf wachſen, naddem die Kro- 
nen ſich wieder in einer normalen Weife entwidelt 
baben. Diefes auffallend ftarfe Wachstum ift daran 
erkennbar, daß im Innern der Kröpfe eine fo ftarfe 
Holzentwidlung ftattfindet, daß. die Rinden- und 
Borkenbildung niht folgen kann. So geidieht 
cs, daß die Rinde fih jo zart und hellfarbig, faft 


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Abb. 4. 


weiß, entwickelt, daß ſolche Stellen auf größere 
Entfernung hin erkennbar ſind. Es ſchimmert der 
Baſt durch oder iſt gar nicht von Rinde bedeckt. Auch 
auf manchen Querſchnitten ſind durch die große 


306 


Breite der Jahresringe diefe Verhältniſſe erfenn- 
bar, die Deranlaffung zu der Behauptung geben 
fönnten, daß die Kropfbildung nicht eine Folge der 
Kronenftugung, jondern nur der Veredelung fei. 


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Abb. 5. 


Hierauf ift zu erwidern: nahdem die Wer- 
edelung die Deranlaffung zur Kropfbildung an 
diefer Stelle gegeben haben fann und wohl meiftens 
gegeben haben wird, bleibt dennoch das Weiterwad- 
jen des Kropfes bei voller Meubildung der Krone 
und unabhängig von der ftattgefundenen Derede- 
Iungsbeihadigung dadurch vollig erflärlih, daf 
unmittelbar nah erfolgter Stußung in der Nähe 
und innerhalb der Kröpfe fid) eine fo große Geſamt— 
fläche von Gefähquerfchnitten gebildet hat, daß man 
idh darüber nicht wundern darf, wenn diefe zu 
einem Teil in vermehrter Säftezufuhr nun auch nod 
weiter wirken, nahdem die neue Krone imftande 
fein würde, die gefamte Menge an erzeugten Nähr— 
ftoffen zu verbraucden. 

Es ift von zuftändiger Seite behauptet worden, 
es handle fih in den Abb. 1, 2 und 5 niht um 
Erfranfungen, fondern um die Spielart der K o r É- 
robinien. Zur Widerlegung diefer Behauptung 
dient die Abb. 6. Diefelbe zeigt einen abgeftor- 


a Das tugen der Baumkronen. 








benen Aft, dem die Rinde genommen ift. Man fieht 
mit aller Deutlichkeit, daß nah Beſeitigung der 
Rinde infolge der warzenartigen Wude- 
rungen des Holzkörpers die Oberfläche ebenfo raub 
ift, wie es die Rinde war. Läge eine Korkipielart 
vor, dann müßte dag Holz unter der Minde glatt 
fein- Uebrigens fiehbt man an den Stellen a oben 
und unten nod Eleine Teile der normalen Holzober- 
flähe. Der hier gemadte Einwand und aud der- 
jenige, welder die Kronenftugungserfranfungen 
damit abweift, daß es fih nur um Verwachſungen 
der MWeredelungsftellen handle, entpuppen ſich 
alg Urteile folder Leute, denen die Mode das oberfte 
Geſetz ift, denen ein Urteil über die Mode aber 
völlig entgeht. Man ſucht ihre Herrſchaft daher mit 
allen aufwendbaren Unmöglichfeiten zu ftügen. Die 
einzige für diefe Kritifer vorhandene Unmöglichkeit 
ift die, daß etwas anderes als die Mode richtig fein 
fünne. An dem Aft Abb. 6 ift außerdem zu er- 
fennen, wie die Aefte infolge der Kronenftugungen 


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Abb. 6. 


bei ſonſt ganz gerade wachſenden Bäumen Krüm— 
mungen erfahren, die am auffallendſten bei Pla— 
tanen in die Erſcheinung treten. (Abb. 3.) 

Die Abb. 7 zeigt Querſchnitte erkrankter Aeſte, 


Das Stutzen der Baumfronen. 307 


aus denen erfihtlic ift, wann die Knotenbildungen 
entftanden find. und welden Teil des Querfchnitts 
fie einnehmen. Bei dem Querfchnitt 1 liegt das 
Marf in der Mitte der oberen Hälfte. Die ganze 
untere Hälfte ift der Querfchnitt einer einfeitigen 


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mit etwa 12 Jahren, hauptſächlich nach oben hin, 
bei 5 ebenfalls im 12. Jahr nach oben hin, dann 
aber erft im Alter von etwa 30 Jahren ganz ge- 
waltig nad der entgegengefegten Seite (unten). 


Abb. 7. 


Aftverdidung. Auf dem Querfohnitt 2 fieht man 
an der unter der Rinde liegenden hellen Partie 
die ftarfe Verdickung des legten Jahresringes- Die 
Verdickung ift hier in allen Jahren ziemlich gleidh- 
mäßig um den Aft herum erfolgt. Die Lage des 
Marks befindet fih daher ziemlih in der Mitte. 
Auf dem Querſchnitt 3 begann die Verdidung nad) 
oben rechts zuerft etwa im 12. Lebensjahr, nad) un- 
ten zu dagegen erft gegen das 30. Jabr, zulegt mit 
der riefigen Ausbudhtung nad unten linfs. Beim 
Querſchnitt 4 begann die Knotenbildung ebenfalls 


Iihen Bäume zugleich geftugt worden find. Die 
Querſchnitte laffen übereinftimmend erfennen, daß 
das zuerft etwa im 12. Jahre gefchehen fein muf. 
ermit ftimmt auh die Ausjage von Leuten ent- 
irrehenden Lebensalters, welche die Bäume nur in 
dem jeßigen Zuftand gefannt haben wollen, wobei 
die allmählihe Zunahme der Verdickungen nad 
wiederholtem Einftugen natürlich überſehen wird. 
Auf fämtlihen Querfchnitten ift eg deutlih zu er- 
fennen, daß fie Querfchnitte eines Aftes mit einer 
Holzoberflähe wie Abb. 4 find. Wo die Verdickun— 


308 








gen anfangen, find die Jahresringe nicht mehr 
fharf ausgeprägt, weil mit der Ungleihmäßigkeit 
der Derdidungen aud die Jahresringe natürlich 
ungleihmäßig werden müflen und die fcharfe Mar- 
fierung mit ihrer um ein Vielfaches erfolgenden 
Verbreiterung durd einen viel allmählicheren Ueber- 
Hang von dem Frübjahrs- in dag Herbftholz und um- 
gekehrt verwifcht wird. 

Die vorliegenden Unterfuhungen erfolgten an 
Bäumen der Stadt Heidelberg, wo Herr Garten- 
direftor Karl Diebolder fie mir danfens- 
wert ermöglichte. 

Meine erfte Weröffentlihung über das vor- 
liegende Thema bat mehrere furdtbare Wut- 


Zum MWefensunterfhted von Pflanze und Zier. _ 





ausbrüde der Gärtner in Möllers deutſcher 
Gärtnerzeitung zur Folge gehabt. Man fann das 
nur vollfommen verftehen, wenn man die Macht 
der Mode und die Unbefanntfhaft der Gärtner 
mit pflanzenphpfiologifhen Vorgängen fennt. Die 
Wiſſenſchaft der Gärtner befhränft ſich bis zu 
deren höchſten Kreiſen hinauf in Deutſchland in⸗ 
folge des bisherigen Fehlens einer Hochſchule auf 
die ſpezielle Botanik. | 

So erklärt es fih, daß ich, als ih vor einer 
Reihe von Jahren an gehöriger Stelle zur Cr- 
richtung einer gärtnerifhen Hochſchule eine An- 
regung verfuchte, feinem Verſtändnis begegnete; 
mir wurde eine ſcharfe Abmeifung zuteil. 





Rum Wefensunterfchied von Pflanze und Tier. 


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Von Dr. Hans Andre. 


Im Septemberheft von „Unſere Welt” fchrieb 
B a v int eine Beiprehung meines Budes: „Der 
Mefensunterfhied von Pflanze, 
Tier und Menſch“ (Verlag Franke, Habel- 
fhwerdt, Schlef.). Bavinf wendet fidh darin gegen 
die Scholaftifche Methode meines Buches, die aus den 
vollfommen zu Redt beftehenden funthetifhen Ka- 
tegorien ſcharfe Gegenfaspaare mache, welche reale 
. Vebergänge ausschließen. ‘Dadurd werde die Wirt- 
lichkeit vergewaltigt, die 
nungen der Arten, Ordnungen, Klafien, Reiche 
ufmw., welche die Syntheſe madhen muß, keineswegs 
zeigt, vielmehr Uebergänge aufweiſt. Solde 
Uebergänge werden denn auh von der Entwid- 
Iungslehre dogmatifch gefordert. 

Zunächſt darf ich wohl daran erinnern, daß die 
vom Entwidlungsgedanfen vollkommen unbeein- 
flußte Scholaftif ebenfalls eine gewifle Kontinuität 
im Organismenreich anerkannte. Thomas ; DB. 
ſchreibt: „Wie Ariftoteles im 7. Buch der Tier- 
geſchichte ſagt, fchreitet die Natur allmählich fort, 
fo zwar, daB fih die Welt der unbelebten Wefen 
früher finder als die der Pflanzen, die zwar im 
Vergleich zu den unbelebten Wefen belebt, im Wer- 
gleidh zu den Tieren unbelebt zu fein fcheinen. Und 
ähnlich fchreitet die Natur fort von den Pflanzen 
zu den Tieren und zwar wiederum in einer fon- 
tinuierlihen Stufenreihe, infofern nämlich gewiſſe 
unbeweglidhe Tiere, die am Boden haften, fih nur 
wenig von den Pflanzen zu unterfheiden feinen.” 
Trotzdem zieht Thomas als ein weſenhaft auf die 
Qualität gerihteter Naturbetrachter — er 
bat bier wohl aud von Albert dem Großen man- 
deg gelernt — eine fharfe Grenzkontur zwifchen 
Pflanze und Tier. Er weiß, daf es im 
Reihder Qualitätenaub Sprünge 
gibt. Ks fragt fib nun: Hat Thomas (der bier 


jene fiharfen Tren⸗ 


ganz auf Ariftoteles fußt) das Wefentlide 
im qualitativen Unterſchied von Pflanze und Tier 
gejeben? Daß Thomas nicht mit der modern- 
biologifhen Frageſtellung an das Problem heran- 
tritt ift ſelbſtverſtändlich. 

As Wefenseigentümlidhfeiten des pflanzlichen 
(vegetativen) Lebens gelten Ariftoteles und Thomas: 
Ernährung (im weiten Sinne als Affimilation 
zu faffen) und Wachstum (mit damit verbun- 
dener Entwicklung). Beim Tier hingegen kommt 
das Sinnes- und nftinftleben als Wefensfon- 
ftante die tierifhen Handlung hinzu. Sihaus- 
vrüdlih auf Ariftoteles berufend, 
firiert der deutſche Botanike Alerander 
Braun den Gegenfag fo: „Entwidlungs- 
geſchichte, fann man fagen, ift die eigentliche 
Natur der Pflanze, die außer der Kraft des Bil- 
dungs- und Fortpflanzungsprozefles Feine höhere 
Kraft des Lebens befist, während beim Tier der 
leiblihe Bildungsprozeß nur als Worarbeit zur 
Anfnüpfung einer höheren Lebenstätigfeit erfcheint. 
Denn mit der Kraft der äußeren ‘Darftellung ver- 
bindet das Tier eine Kraft innerliher Lebeng- 
erfaflung, die fi) im Seelenleben ausſpricht, durch 
welche das Tier ein inneres Zentrum erhält, von 
welhem aus der Organismus in eins und aus- 
ſtrahlender Tätigkeit bewegt und beherrfht wird.” 
Prügnanter fann man, glaube ich, den Unterfchied 
nicht ausdrüden. Während die Pflanze Embryo- 
nalzonen (Degetationspunfte und Cambium) von 
fortlaufender Wadhstumstätigfeit befigt, während 
fie ſich fozufagen nur entwidelt („Entwicklungs⸗ 
geſchichte“ it die Natur der Pflanze), erreicht das 
Tier ein Stadium, wo es fozufagen „fertig (im 
Mollbefis feines Leibes) ift, und nun fegt bei ihm 
die „Handlung“ ein. Die gefehlofiene Form des 
Leibes fordert ſinngeſetzlich die „Pſyche“ während 


die offene Form der Pflanze für die Pſyſche als 
Prinzip der Handlung, bildlih geipro- 
hen, noh gar Feinen „Raum“ hat. Es kommt 
nun für die vwiflenfchaftlihe Reizphyſiologie ber 
Pflanzen darauf an, das, was die alten Denfer 
(vorab Ariftoteles) mit originaler Intuition gefehen 
haben, im Erperiment zu verifizieren, zu unter- 
fuben, ob die Pflanze wirklich nur das „Ge⸗ 
wächs“ ift, wie die deutfhe Sprade in tiefer 
Anlehnung an bie fhlihte Augenwahrheit fagt. 
Wir find nun heute wirklich daran, diefen Elaffifchen 
Begriff der Pflanze erperimentell wieder zu ent- 
deden und zwardburdhdiebahbnbredhenden 
Arbeiten des bolländifhen Botas 
nifers Blaauw. Daf diefe Entdedung fo 
fpät fam, daran ift nit ſchuld der die Wirflichkeit 
vergewaltigende Dogmatismus der Scholaftifer, 
fondern der Dogmatismus der Piychovitaliften und 
der Entwidlungslehre, der die fcharfen Konturen 
qualitativer Unterfchiede allzeit zu verwiſchen be- 
ftrebt war und die pflanzlihe Reizphyſiologie mit 
unerlaubten Begriffen aus der Tierſpychologie ver- 
unreinigt hat. Wir wollen nun fehen, wie ber 
Begriff der Pflanze als reines „Gewächs“, dem 
jede Spur degs „HDandlungsartigen” 
in feinen Reaftionen fehlt, durd die 
neue Forſchung fih bewährt. Blaauw ging aus 
von dem lementarphänomen des Phototropismus 
bei Phycomyces. Er maß die Sporangienträger 
von Phycomyces und fand, dap diefelben bei fehr 
geringen, aber auch bei größeren und febr großen 
Lichtmengen ftets etwa vier Minuten nah Be 
leudhtungsbeginn eine ftarfe DBefchleunigung bes 
Wahstums zeigen, die nach fieben Minuten ihren 
Höhepunkt erreicht und dann wieder abfällt. Diefe 
Erfcheinung, daß durd Beleuchtung ein bisher an- 
näbernd gleihförmiges Wachstum in ein ungleidh- 
förmiges übergeführt wird, nennt Blaauw „Pho⸗ 
towahstumsreaftion”. Läßt man bie 
Beleuchtung einfeitig wirfen, fo tritt in der nor- 
malen Zeit die Photomahstumsrenktion ein und in 
dem Zeitpunkte, wo bei vierfeitiger Beleuchtung 
diefelbe ihren Höhepunkt erreicht, tritt eine ſchwache 
Krümmung ein, die allmählich ftärfer wird, big fie 
nah 21 Minuten ftehen bleibt und fpäter zurüd- 
geht. Der zylindrifche Sporangienträger von Phy- 
eompces bricht dag fenfredht einfollende Licht fo, daf 
die Hinterfeite erheblich heller wird als die Bor- 
derſeite. Demgemäß erreiht die Wachstums- 
befhleunigung auf der Rückſeite einen höheren 

ert, eg erfolgt eine Krümmung nadh vorne. 
Bringt man aber den Pilz in Paraffinsl und fest 
ihn ebenfalls einfeitiger Beleuchtung aus, jo wird 
duch den ftarfen Berechnungserponenten des Oels 
die Vorderſeite heller beleuchtet und es tritt eine ne- 
gative Krümmung ein. Zugleich ift das ein Beweis 


zum Wefensunterfhied von Pflanze und Zier. 


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dafür, daß die Strahblenrihtung ganz 
gleihgiltig für den Erfolg der einfeitigen Beleuch⸗ 
tung ift. Es handelt fih nur um die Helligkeit. 
Daraus geht auch hervor, daB der Pilz die Hellig- 
feit zweier Seiten niht etwa ‚vergleicht‘ oder den 
Unterfchied „empfindet, fondern daß feine photo- 
tropifhe Meaftion weiter nichts ift als eine ein- 
feitige DBeeinfluffung der Wahstumsgefchwindig- 
feit durch photochemiſche Prozeſſe. Blaauw ver- 
ſucht nun die bei Phycomyces gewonnene Deutung 
auch auf den Phototropisums vielzelliger Organe 
anzumenden und fchließlich alle Probleme des Tro- 
pismus überhaupt (auh des Geotropismug fowie 
der naftifhen Bewegungen) in Wadhstums- 
probleme aufzulöfen, alfo in den pflanzlichen 
Meizerfheinungen alles „Handlungsmäßige“ (Tro⸗ 
pismen nah Art der Reflexe gedacht) völlig aus- 
zufchließen. in indirefter Beweis gegen die Ne- 
flernatur des pflanzlichen Tropismus ift auch der, 
daß es beim Tier (wie Pawlow nachgewieſen hat) 
bedingte, auf Erfahrungsaffoziationen beruhende 
Meflere in feiner Sefretionstätigfeit gibt, während 
es bedingte Iropismen, denen eine Affoziation zu 
Grunde liegt, bei den Pflanzen nicht gibt. Die 
Verſuche Erig Bebers, der faft ein halbes 
Jabr fih damit befhäftigte, bei Mimoſen A ffo- 
ziationen bervorzurufen, hatten ein völlig ne- 
gatives Reſultat. Die Reizleitung und Neiz- 
beantwortung bei Mimoſen hat zudem mit der ner- 
vöſen Funktion bei der tierifchen Meflerbewegung 
gar nichts gemeinfam. Die Gefchwindigfeit der 
Meizleitung fteht, wie neuerdings Snow zeigte, 
mit der Gefchwindigkeit des Saftfteigens durchaus 
in Einflang, fo daß die fhon früher von Ricca 
ausgefprohene Vermutung, daß die Weiterleitung 
des Wundreizes der Blätter durch im Saftftrom 
mitgenommene Meizftoffe beforgt wird, fih zu be- 
ftätigen ſcheint. So unfrudtbar die an tierpfucho- 
logiſche Analogien fih anlehnende Erforfhung für 
ein tieferes Eindringen in die pflanzliden Reiz- 
phänomene war, fo frudtbar erwies fidh die neue 
von Blaauw angeregte Forfhungsrihtung, die mit 
fiherem Inſtinkt an die rein vegetative Natur der 
Pflanze anfnüpft. Ale faule” und dogmatifch be- 
fangene Schule ermweift fih die alte. Richtung, die 
aus bdeszendenztheoretifchen Vorurteilen den Um- 
terſchied zwiſchen Pflanze und Tier zu verwifchen 
fuhte. Blaauw hat geradezu revolutionierend ge- 
wirft und ſchon eine Reihe wertvollfier Arbeiten 
mit ſchönen pofitiven Ergebniffen angeregt. 
Bavink meint, ih würde die Wirklichfeit ver- 
gewaltigen, weil id ‘Disfontinuitäten dort fehe, wo 
eine unbefangene Betrachtung lauter faft fon- 
tinuierliche Webergänge zeigt. In Wirklichkeit ift 
aber feine Betrachtung durchaus nicht unbefangen, 
denn es entgeht ihr, wohl aus deszendenztheo- 





310 

retiſchen Borurteilen heraus, die Unftetig- 
feitdes Dualitativen. Bei der Pflanze 
ift die pſychophyſiſche Lebenseinheit noh unauf- 
geipalten, weil fie als n ih t handlungsmäßig (fon- 
dern rein vegetativ) rengierende Form für das Piy- 
hifche im engeren Sinne (als Kraft innerlicher Le- 
benserfaflung) feinen Raum hat. Erft beim Tier 
tritt aus der pſychophyſiſchen Lebenseinheit das Piy- 
hifche fozufagen Heraus und dem Phnfifchen als 
feinem „Leib“ gegenüber. Zwiſchen der pſycho⸗ 
phyſiſchen Unaufgefpaltenheit und der pſycho—⸗ 
phyſiſchen Aufgelpaltenheit befteht ein Sprung 
und nun geht es mit der Entftehung neuer Emp- 
findungsqualitäten immer weiter in Sprüngen. 
„Niemand glaubt”, fagt Stumpf, „daß Farben 
und Töne fhon von allem Anfang zum Empfin- 
dungsmaterial gehörten. Vielmehr ftellen wir uns 
vor, daß diefes zuerſt nur aus einem einzigen 
Qualitätenkreiſe beftand, etwa aus DBerührungs- 
empfindungen oder einem ganz verfchwundenen 
Urfinn. Die Entwidlungslehre ftatuiert demgemäß 
ein allmähliches Hinzufommen der fogenannten 
höheren Sinne zu den niederen. Nun hat aber ein 
grabueller Uebergang von Berührungsempfindungen 
in Gerüche, Farben oder Töne etwas Abfurdes. 
Diefe Empfindungen find im vollften Sinne fpezi- 


fiih verfchieden. Eine Berührungsempfindung, die - 


im Begriff ift, ftetig in einen Gerud oder in eine 


Sarbe überzugehen — das ift nicht bloß für unfere 


Phantafie, das ift aud für unfer Denfen eine Un- 
möglichkeit. Stumpf weift weiter darauf hin, daß 
qualitative und fpezififhe ‘Differenzen auh dort 
zum Vorſchein Fommen, wo auf der phufifchen Seite 
nur ſcheinbar graduele Unterfchiede vorliegen wie 
bei Menſch und Tier. Weit entfernt nun, bdie 
Wirklichkeit zu vergemwaltigen, ſcheint mir die Er- 
fenntnis der qualitativen Disfontinuitäten erft zu 
ermöglichen, daß Reizphyſiologie und Pſychologie 
der Einzelligen den tieferen MWirklichfeitsfon- 
taft mit ihrem Gegenftande finden. Zmifchen der 
pſychophyſiſchen Unaufgefpaltenheit pflanzlichen 








Die Analyſen-Quarzlampe. Von Diplom-Ingenieur Leopold J. Buſſe. & 





In den letzten zwei Jahren fand ſich ein neues, 
recht praftiihes Anwendungsgebiet der ultra- 
violetten Strahlen, das fiber auh der Eleftro- 
technik gute Dienfte leiſten fann. 

Es betrifft die Analnfe, oder befheidener gejagt, 
die Erfennung und Unterfcheidung verfchiedener 
Materialien, die äußerlid von oft völlig gleichem 
Ausfeben im Schein der bunflen Ultraviolett: 
Beftrablung ihre gegenfeitigen Unterfchiede oder 
beigemifchte Verunreinigungen mübelos erfennen 
laffen. Sehr viele Körper oder Stoffe, wahr- 
josinlid eine viel größere Zahl als bisher ange- 


Die Analyfen-Quarzlampe. _ 


Seins und der pſychophyſiſchen Aufgefpaltenheit 
tierifchen Seins gibt es ebenſowenig eine Zwifchen- 
ftufe wie zwifhen Quadrat und Würfel. Ent- 
weder ift dag eine oder das andere gegeben. 
Für die Verhaltungspſychologie der Einzelligen er- 
wächſt nun die überaus intereffante Aufgabe, bei 
aller fcheinbaren äußeren Gleihförmigfeit den 
Dunft der pſychophyſiſchen Auffpaltung zu finden. 
Meines Erachtens ift er mit der Affozietionsfähig- 
feit, einem Elementarbeftandteil der Handlung, ge- 
geben. Daß pflanzlihe Spermazellen oder 
Schwärmfporen afloziieren Eönnen, Erfahrungen 
fammeln, hat noh niemand entdedt. Die Aufgabe, 
die ihre chemotaktifhen oder phototaftifhen Be- 
wegungen erfüllen, können fie, wenn man fih die 
Situation vergegenwärtigt, durdaus ohne Ge- 
dächtnis löſen. 
Schlußbemerkung. 
Vom Verfaſſer nachträglich eingeſandt. 

Zum Schluß noch eine Bemerkung über den Eindruck 
der prachtvollen Filme, welche die Anilinfabrik über Wags- 
tum, Ranken und Blühen der Pflanze hergeſtellt hat. Die 
Bewegungen der Ranken z. B. regen zunächſt die dichtende 
Phantaſie an, die betreffende Pflanze zu beſeelen. Uber 
nun ift es, als ob diefe Seele den „Pflanzenleib“ gar 
nicht recht beberrfhen Fönnte, denn die Ranken⸗ 
bewegung erfcheint uns in ihrem Hine und Serfrümmen 
wie „blind und, wenn die Rante ibr Ziel nit er- 
reicht, wie „krampfhaft“. Bei einer Vorführung der 
Pflanzen, der ih beimohnte, bemerkte Herr Direftor 
Shwarz feb, mandmal babe man das Gefühl, als 


müſſe man der Pflanze helfen. Man braucht mit diefen 


Bewegungen nur den eleganten Flug einer Fliegen fangen- 
den Möwe zu vergleihen. Hier ift der Leib der reftlce 
willige und überaus geihmeidige Diener der wahrnehmen- 
den und die Sitwation inftinftiv beurteilenden Schäßungs- 
kraft des Vogels. Shen Ariftoteles betont ein- 
mal in Bezug auf das Leib Seele⸗Verhältnis febr fein, 
„die Baukunſt Fönne nit in die Flöten fahren‘. Mur 
die Tonkunſt fann die Flöte gleihfam „befeelen”. Und 
fo paft aud die wahrnehmende und inftifntiv urteilende 
Sinnesfeele nur in die geſchloſſene, der Hand- 
lung fäbige Leibesform bes Tieres, nicht in 
die offene Wahstumsform der Pflanze. Diten wir 
fie doch hinein, fo wirkt die Pflanze im Film auf uns mehr 
wie ein „Marionette denn wie ein befeeltes Weſen. 





nommen, zeigen bei intenfiver Belichtung eine nur 
ihnen eigene befondere Fluoreszenz von aber fo 
ſchwacher Tintenfität, daß ſolches Selbſtleuchten von 
roter, grüner, blauer ete. Farbe während der Be- 
ftrablung mit gewöhnlichen Lichtquellen nicht wahr- 
nehmbar ift, denn je heller die Lichtquelle, deſto 
geringer ift die Fluorescenz; in jedem Falle 
aber bleibt fie unwahrnehmbar, weil das helle Licht, 
durch das fie erregt wird, fie immer überftrahlt. 
Man bedarf alfo einer Lichtquelle, die ein für's 
Auge dunfles Licht ausfendet, das aber trogdem 
genügend Aftinität bietet, um dag Fluorescenzlicht 





311 


a — — — — — — — — — — — — — — 


hervorzurufen. ` 

- Eine ſolche Lichtquelle fand man in der Quarz- 
lampe, nahdem es gelungen war, bequem zu hand- 
habende Filter herzuftellen, die von der Gefamt- 
beftrahlung des Quarzbrenners nur das unficht- 


bare dunfle Ultra-DViolert durdlaffen, das heißt 


die Strahlung von Fürzeren Wellenlängen als 
vierhundert Milliontel Millimeter, während fie 
das helle Licht völlig ausfhalten. Wohl gab 
es auh früher jhon gewiſſe Flüffigkeitsfilter 
aus ¿wei bis drei verfchiedenen Flüffigkeiten 
in Kuvetten hintereinander zufammengebaut (das 
fogenannte Woodſche Filter); deffen Herftellung 
und Handhabung war aber derart umftändlich, daß 
eine für die Praris beftimmte Lampe unmöglich mit 
ſolchen Filtern eingerichtet werden Eonnte. 

Das neue Filterglas der Analyfen-QDuarzlampe 
— Original Hanau — Modell 1925, welde die 
Hanauer QDuarzlampen-Gefellihaft als Neuheit 
auf dem Möntgen-Kongreß in Bad Nauheim im 
Mai vorführte, ift als ganz neues glastechnifches 
Produft in der Literatur noh nicht bejchrieben. 
Es handelt fih um ein für's Auge in der Durd- 
fiht fo gut wie ſchwarz erfcheinendes Glas. Man 
fiehbt die Sonne ganz dunfelrot hindurdleudten, 
den QDuarzbrenner felbft ganz dunfelviolett, prat- 
tijh genommen geht alfo Fein fihtbares Licht 
hindurch. 

Das wirkſame Ultraviolett der Quarzlampe 
zwiſchen etwa 400 und 300 Wellenlänge, das be— 
kanntlich für's Auge unſichtbar iſt, wird jedoch durch— 
gelaſſen. Durch dieſe beſondere aktiniſche Strah— 
lung werden nun bei der gleichzeitigen Ausſchaltung 
jedes unſichtbaren Lichtes die charakteriſtiſchen Fluo- 
rescenzen in der ihnen eigenen Intenſität und Farbe 
deutlich wahrnehmbar. 


Techniſche Erläuterungen. 


Für die Konſtruktion des Apparates wurde nach 
langer Erprobung und ſorgfältigſter Beurteilung 
aller noh in Zukunft zu erwartenden Verwendungs—⸗ 
möglichkeiten die in der Abbildung dargeſtellte Ban- 
art gewählt. In erfter Linie wurde auf möglidhft 
großen und freien Beobadhtungsraum, alfo auf 
bequemfte Arbeitsmweife, Gewicht gelegt. 

In den oberen, Faftenförmigen Aufbau ift der 
Brenner lihtdicht eingefchloffen. Durch die Fleine, 
vorn fihtbare Kurbel wird das Kippzünden be- 
wirft. Genau unter dem Brenner befindet fih 
das neue Dunfelfilter, durch welches die Ultra- 
violett-Beftrahlung in den geräumig ausgebildeten 
unteren Beobachtungsraum fällt. 

Der Boden der oberen Brennerfammer (welcher 
die Dunkelſcheibe enthält, die auch in der Abbildung 
erfcheint) ift nah vorn herunterzuflappen, was ein- 
mal für die Auswechslung der Scheibe dienlich ift, 
um fie für gewifle befondere Proben durch andere 


Gläſer erfegen zu Fünnen, dann aber auh, um mit 
dem unfiltrierten reinen Quarzlicht unter dem 
Brenner DBleichproben, Farbechtheitsprüfungen, 
allgemein photochemifhe Verſuche vornehmen zu 
fönnen, welche die volle unfiltrierte Strahlung des 
DAuarzbrenners erfordern. Der dann auferordent- 
lihe helle Beobachtungsraum wird feitlich durch dte 
Vorhänge abgeſchloſſen und von vorn auf ca. 5 cm 
vom Boden (zum Einſchieben der Proben) durch dre 
beruntergeflappte Kaftenwand ſelbſt. 

Die Hintermand der oberen Brennerfammer, die 
ein gewöhnliches dunfelgraues Glas zur Beobady- 
tung des Brenners enthält, ift ebenfalls abflapp- 





bar, wodurdh man eine horizontale freie Ausftrab- 
fung des Brenners erzielt, welche vorteilhaft zu 
Mikrosfopbeleuhtung (Ultramifrosfop) und zu 
manden anderen DBeleuhtungszweden, die ftarfes 
aftinifches Licht erfordern, benußt werden fann. 

Das dunfle Filterglas fann man auh an die 
Stelle des grauen Beobachtungsglaſes bringen, 
um im verdunfelten Arbeitsraum in horizontaler 
Richtung auf größere Entfernungen mit dem abge» 
filterten Dunfel-Ultraviolett auf ausgedehnte 
Fläche Verſuche anzuftellen, 3. B. Beſtrahlung 
größerer Gegenftände zum Auffinden von Fehlern 
in der Oberfläche. Hier fei beifpielsweife erwähnt, 
daB gan; neuerdings gefunden wurde, daß Haur- 
ſchäden durch Nöntgenftrahlen, die bei gewöhnlichen 
Siht fih noch jeder Erfennung entzogen, in dem 
Dunfel-Ultraviolett der Quarzlampe bereits febr 
deutlich fihtbar wurden. Man gewinnt alfo die 
Möglichkeit, viel füher und demgemäß wirffamer 
jolhe Schäden zu befämpfen. 

An eleftrotehnifhen Fabrifaten werden unhomo- 
gene Oberflächen, mangelhafte Stellen in der 
Iſolierſchicht ete. als Ermittelungsobjefte in Frage 


312 


fommen, boch if diefe Kumenbunz noch zu neu, um 
etwas beftimmtes, auf praftifhen Beobachtungen 
beruhendes, bereits fagen zu können. 

Die bisher für den Apparat entdedten Verwen⸗ 
dungsmöglichfeiten liegen, der Entwidlung ange- 
meflen, welde die Quarzlampe in den legten 
Jahren zu einem faft rein medizinifhen Apparat 
gemacht hat, auh vorzugsmweife auf medizinifchem 
und chemifhem Gebiet; dodh find fie intereflant ge» 
nug, um auch bier kurz erwähnt zu werden. Wir 
folgen dabei einer Fleinen Broſchüre ‚„‚Ultraviolette 
Strahlen und ihre Eigenart”, die im Sollur- 
Verlag erihienen ift. 

Der Apparat wird zum Gebrauch fo aufgeftellt, 
daß der Beobachtungsraum niht eben vom hellen 
Tageslicht getroffen wird. Die Heinen Vorhänge 
dienen nötigenfalls zu weiterem Lichtſchutz. Pein- 
lichſte Dunkelheit ift bei den Beobachtungen feines- 
falls erforderlig, da die Ultraviolett-jntenfität des 
Quarzbrenners reichlich ftark it. Selbft bei hellem 
Sonnenfdein find die harafteriftifhen Fluorescen;- 
farben deutlich zu fehen, fobald man fih nur eini- 
germaßen vom Tageslicht abwenbet. 

Praktiſche Anwendung. 

Der erfte natürliche Verſuch wird fein, daß man 
fidh die Lichtquelle einfach anfieht. Man blidt alfo 
von unten ber, am beften unter Zuhilfenahme eines 
Epiegels, durd das Dunfelglas in den Brenner 
hinein, der ganz dunfel nad oben erfennbar ift. 
Sofort merft man in der völligen dunflen Um- 
gebung einen ziemlich hellen Mebelichleier vor den 
Augen, der etwas feltfames, fremdartiges an fid 
þat. Unwillfürlih verfuht man, allerdings ver- 
geblich, ihn zu verfcheuchen. Die Erfcheinung rührt 
daher, daß die Linje und der Glaskörper des Auges 
als Eiweigförper ihrerfeits fluoreseieren, alfo Licht 
ausfenden, das die Augennerven als unbeftimmten 
hellen Nebel empfinden. 

Hat jemand falfhe Zähne und kommt damit in 
den Strahlengang des Ultraviolett, fo fieht man 
die eventuell noh vorhandenen natürlihen Zähne 
in dem dunklen Gefiht Hel bervorleudten, 
während die Fünftlihen Zähne ſchwarz unſichtbar 
bleiben. Man fieht alfo die von Natur aus dort 
beftehende Zahnlüde an deren Stelle. Aehnliches, 
weniger auffallend, ficht man an der Handoberfläche 
und den Nägeln. Die Hand bleibt dunkel, während 
die Nägel, überhaupt jede Hornhaut, fih heller ab- 
heben. 

Man beobachte eine Anzahl Papierproben, die 
im Tageslicht von gleiher Farbe find. Jm Dun- 
felultraviolett zeigen fie häufig ganz verſchiedene 
Sluorescenzfarben, von den in jhnen verarbeiteten 
verfchiedenen Etoffen herrührend. Auf ein Blatt 
Papier oder Karton made man eine Reihe Sett- 
oder Delflede, 3. B. Mineralöl, Leinöl, Dafelin 


Die Analpfen- Duarzlampe. 








etc.. Faft alle Oele leuchten — hell, doch beob⸗ 
achtet man ſehr deutlich Sarbenunterfciede. 

Befonders auffallend ift die Fluorescenzerfchei- 
nung an den Gubftanzen, die als fluorescierend 
befannt find, wie DBaryumplatinscyanür, Uran- 
faliumfulfet ober Friftallifierendes Schwefelzink 
(Sidotblende), das, meiſt durch eine Spur 
Radium ſelbſtleuchtend gemacht, in den Radium- 
uhren verwendet wird. Wenn dieſe Körper vorher 
völlig dunkel gehalten werden — Radiumuhren 
zählen natürlich nur halb, weil ſie ſchon in einigem 
Maße ſelbſtleuchtend ſind — und man bringt ſie 
ins dunkle Ultraviolett, ſo leuchten ſie auffallend 
hell. Dieſe Erſcheinung bat ſchon praktiſche An- 
wendung zur Erkennung von Fälſchungen oder 
Miſchungen gefunden und in weiterer Verfolgung 
zu einer Art von Ultraviolett⸗Analyſe geführt, die 
natürlich auf eine gewiſſe, wenn auch ziemlich große 
Gruppe von Körpern beſchränkt bleibt. 

Zum Beiſpiel wird man leicht Hausdiebe über- 
führen Fönnen, wenn man die Waren, von denen 
man unnachgewiefenen Abgang bemerft, mit Spu- 
ren eines, unfcheinbaren Salzes beftaubt, das im 
normalen Licht durchaus unbemerkt bleibt, 3. B. 
mit dem ganz unfchädlichen falizylfauren Natron, 
das gern als Konfervierungsmittel eingemachten 
Früchten zugelegt wird. Jedes Staubförnden 
dieſes Salzes leuchtet im Dunkel⸗Ultraviolett wie 
ein helles Sternchen in violetter Farbe. 

Von beſonderer Bedeutung wird der Apparat 
für gerichtsärztliche Unterſuchungen werden, da 
Blutſpuren, Spermaflecken etc. beſonders auffällige 
Tluorescenzen zeigen. Aeltere Unterſuchungsappa⸗ 
rate zu ähnlichen Zweden ohne uarzbrenner 
und Dunfelglas, waren außerordentlih Tompli- 
ziert und unzuverläflig. 

Auch follen Edelfteine und Perlen — je nad 
ihrem Urfprung — verfchiedenartig fluorescieren. 
Gezüchtete japanifche Perlen unterſcheiden fidh deut. 
lih von den natürlihen Perlen. 

Zu Unterfuhungen eben diefer Art find bei nam- 
haften daran intereflierten Firmen. bereits die 
Apparate in Gebrauch. Die Firmen äußerten fid 
vellbefriedigt darüber. 

Durch Beobachtung im Dunfel-Ultraviolett fol 
fi) Wolle von Baumwolle und Seide, vegetabilt- 
ides Del und Mineralöl fihtlih unterfcheiden. 
Verſchiedene Arten von Papier und Pappe zeigen 
merflihe Unterfhiede. Caſein fluoresciert ftärfer 
als Eellulofe ſelbſt. Selbft von gefärbten Stoffen 
Fünnen viele, die fluorescieren, dadurd von anderen, 
gleich gefärbten Stoffen unterfhieden werden, die 
das Fluorescieren nicht zeigen. Uranfalze fluorescie- 
ren im feften Zuftande außerordentlich hell, fo dap 
fogar noh 171000 des Salzes in einer Töfung durd 
Sluorescieren feftgeftellt werden fann. Eine Borar- 


Ea Ausiprade. 


Perle, die auh nur eine Spur des Uranornd ent- 
hält, fluoresciert farblos aber deutlih. Aceton 
fann im Alkohol deutlich entdeckt werden; bei 1 
Prozent ift die fluorescierende Wirkung nod febr 
deutlih. Ferner gehören Chinin, Affeulin und die 
Uraninfarben zu den Subftanzen, die außerordent- 
lih heil fluorescieren, fo daß febr geringe Mengen 
diefer Subftanzen noh im Ultraviolett feftgeftellt 
werben können: bei Chinin z. B. noch Löfungen 
von 1 zu 100 Millionen im Waffer, bei Uranin 
ebenfo; bei Aflculin fann fogar noh 1 Teil in 
IC 000 Millionen durch deutliches Fluorescieren 
bei günftigen Umftänden feftgeftellt werden. 


Wir Haben bier demnah eine Feftftellunge- 
methode, die in Genauigkeit dem Spektroskop nahe- 


—— ——— V — —ñ nn 


Ausſprache. 





Da in dem Oktoberheft von „Unſere Welt“ auf 
Seite 205 die Frage nach dem Uebel auf der Welt 
wiederum angeſchnitten worden iſt, — und ſie wird 
wegen ihrer Wichtigkeit immer wiederkehren müf- 
fen —, fo fei in möglichfter Kürze darauf hinge» 
wiefen, daß die Weiterverfolgung eines Fechner⸗ 
ſchen Gedankens eine redit einleucdhtende Löfung der 
Trage gibt. Fechner führt in feinem „Zendaveſta“ 
als feine Meberzeugung den Gedanken faft etwas 
zu breit aus, daß die Erde ein in fih geſchloſſener 
Organismus fei, als höheres Individuum die Men- 
fhen, ale Geſchöpfe (überhaupt alle irbifchen 
Dinge, auh die Atmofphäre) in fih faflend, wie 
ein tierifher oder pflanzliher Organismus feine 
einzelnen Zellen. Nun befist aber jedes lebende 
Weſen innerhalb fefter Grenzen bei feinem Wer- 
den fowohl alg bei feiner fpäteren Entwidlung eine 
gewiffe Freiheit, wie die Entftehung bezw. das 
Variieren der Arten beweift.*) So hat aud die 
Erde, wie jede perfünliche Individualität ihre eigen- 
tümlihen Vorzüge und Mängel. Vollkommen ift 
fie jedenfalls nicht, wie alle endlihen Wefen. So 
erflärten fi phufiihe Mängel, wie die Sinnlofig- 
feit der Hngelfchläge und Orkane, und Charafter- 
fehler, wie die Unbegreiflichfeiten der Menfchheits- 
geſchichte. Auch das eigentümliche, fcheinbar ta» 
ftende Verſuchen in der Entwidlung der organifchen 
Welt wird durch die Annahme einer gewiffen per- 
fönlihen Entwidlungsfreiheit verftändlid. Ein 


*) €. Dillmann fagt in „Aſtronomiſche Briefe” 
©. 144 beim Kapitel: Sonnenfuftem: Wohl find 
die unabänderlihen Geſetze alles Seins überall ein- 
gehalten, aber innerhalb diefes Rahmens ift die 
Belonderheit jedes einzelnen Gebildes nicht aug- 
gefhloffen. Aus der Motwendigfeit 
ſprießt überall in der Natur die 
Freiheit. 


313 


— — — — — — — —— — — — — 


kommt. (Nah F. A. Kitſching in The Analyt” 
1922 Seite 106/107.) 

Das wirkende Prinzip in dieſem Apparat ift 
immer der befannte Höhenfonnen-DBrenner der 
Hanauer Quarzlampen-Gefellfhaft von 0,5 —0,7 
Kilowatt Verbraud, den man heute faft bei jedem 
Arzt findet, für jede Stromart und Spannung 
geeignet; dazu tritt das neue eigenartige Dunkel⸗ 
Ultraviolett-Slas, dag — wie fhon eingangs ge- 
fagt — erft in den: legten zwei Jahren durd 
gebildet wurde. 

Die gut durchgedachte Kombination diefer beiden 
neueren Errungenfchaften ermöglichte es, das vor- 
liegende neue Inſtrument zu fchaffen, defen An- 
wendungsfähigfeit und Tragweite heute noch nicht 
zu überfehen ift. 


12) 


beunruhigender Gedanke ift dabei allerdings, daß 
durch das Dazmwifchentreten eines uns unbegreifen- 
den Organismus ung Gott fern gerüdt fei. Aber 





es fei bier nur auf ein DBeifpiel verwiefen, das 


der Sonne. Wir empfangen den alles Leben als 
Quelle fpendenden Sonnenſchein auh nur dur 
Vermittlung der irbifhen Atmofphäre, und doh 
ift er uns trog feiner Gebrochenheit fo viel befümm- 
liher als das direkte Sonnenlicht. 


Dr. H. in R. 


Zu der Beiprehung der Schrift von Fr. Lenz: 
„Meber die biologifhen Grundlagen der Erziehung” 
©. 240 von „Unfere Welt”: 

Aud der Unterzeichnete ift natürlich einverftan- 
den mit der günftigen Beurteilung diefes Shrift- 
hens, das mehr Wert legt auf gute foziale Ber- 
hältniffe, dur welche eine Auslefe der Beſtver⸗ 


.anlagten begünftigt wird, als auf eine Erziehung 


des ganzen Menfchenmaterials ‚zur hödhften 
Kultur” — ein Streben, das doh nies 
mals in Erfüllung gehen fann. Aber der Aug- 


drud „längſt widerlegte Ideen Tamards über die 
erblihe Fixierung“ geht ihm dodh etwas weit; denn, 
fo viel ihm befannt, fteht es mit diefer Frage fo, 
daß allerdings viele vergeblihe Verſuche mit Ab- 
fchneiden von Rattenſchwänzen und dergleichen ge 
macht worden find und aud die durd hundert Ge- 
nerationen übliche rituele Befchneidung als nega» 
tives Beweismaterial für die Vererblichkeit folder 
Fehlorgane hochgehalten wurde, daß fih aber doch 
in allerneuefter Zeit die Anzeihen für dag Wor- 
bandenfein von pofitivem Beweismaterial mehren, 
wie 3. B. das von dem namhaften ruffifchen 
Erperimentator Paßlaw beigebradte, wonad das 
Klingelzeihen (zum Frage) von Matten, deren 
Vorfahren fih an dasfelbe gewöhnt hatten, febr 
viel rafcher verftanden wurde. Und offenbar fällt 


314 


ein ſolches pofitives Reſultat ſchwerer ins Ge- 
wicht als das Wiedererſcheinen nuglofer Glied- 
mafien (in neun Generationen), deren Derluft gar 
feinen Eindruck auf die Pſyche des Amputierten 
gemacht zu haben braut. Auch feinen Er- 
fahrungen aus dem Menfchenleben, die 3. B. in 
dem Ausdrud ‚von der guten Kinderftube” nieder- 
gelegt find, und fib auh auf die Erziehung 
von Eltern und Woreltern erftreden, in diefer 
Richtung zu fprehen. Die Engländer, die dod 
eine Nation von Züchtern find, gehen fogar fo weit, 


zu behaupten, daß erft die dritte Generation ben 





en, Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umschau. 


— 


Gentleman mache. Ich möchte daher lieber ſagen, 
daß allerdings die Züchtung wichtiger ſei als die 
Erziehung, wie ja in der Tat aus den ſchlechtſt er⸗ 
zogenen Menſchen manchmal die allertüchtigſten 
werden, mich aber nicht ſo weit verſteigen, der Er⸗ 
ziehung, dieſer äußerſt mühſeligen, undankbaren, 
aber doch auch notwendigen Aufgabe einen ſo wenig 
aufmunternden Denkzettel anzuhängen. Nein, eine 
Ermunterung tut den Erziehern not, wenn auch 
nicht den unreifen demokratiſchen Verſuchen der 
jetzigen Zeit. . Adolf Mayer. 
è 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umfchan. 


a) Anorganische Naturwiſſenſchaften. 


Es war kürzlich hier die Nede von den neuen 
Wiederholungen des berühmten Michelſonverſuchs, 
auf dem die fpeziele Relativitäts— 
theorie ruht. Diefe DBerfuhe ergaben, wie 
der Lefer fih erinnert, das überrafhende Reſul⸗ 
tat, daß in größeren Höhen der Michelionverfud 
entgegen den bisherigen Angaben doch ein pofitives 
Ergebnis hatte, wenn auch nur zu einem Drittel 
des aus der abſoluten Aethertheorie errechneten 
Betrages. Wir wiefen damals darauf hin, dağ 
man erft abwarten müfle, ob nicht vielleicht die 
-durd die andere Umgebung bedingten phnfifalifchen 
Veränderungen der Apparate dies merkwürdige 
Ergebnis hervorrufen könnten. Wie berechtigt 
diefer Vorbehalt ift, gebt. aus einer neuen 
Unterfuhung von Brylinsfi (EM. 176, 559; 
Phyſikaliſche Berichte 19, 1244) hervor. “Br. 
fand, daß bereits eine Iemperaturdifferen; von 
0,001 Grad Gelfius innerhalb der Mihel- 
fonfhen DBerfuhsanordnung genügen würde, um 


einen merkwürdigen, von Miller gefundenen. 


und weder von der alten Theorie, noh von der 
Melativitätstheorie erflärten periodifhen Effekt zu 
erflären. Man fieht daraus, wie fabelbaft 
empfindlich die Verſuchsanordnung gegen äußere 
Störungen ift und tut deshalb doppelt gut, erft 
weitere Ergebniffe abzuwarten, ehe man etwa er- 
Färt, die Relativitätstheorie fei endgültig wider- 
legt. 

Der Japaner Takeo Shimizu hat ge 
zeigt (Phyſikaliſche Berichte 20, 1343), dag man 
das Einſteinſche Gravitationsgefeß und den rih- 
tigen Betrag der Tihtablenfung erhalten 
fann ohne die allgemeine Melativitätstheorie, nur 
auf Grund der fpeziellen Theorie und des Hequiva- 
lenzprinzipe (Schwere = Trägbeit), wenn man nur 
alle in Betracht Fommenden Faktoren berüdfichtigt, 
ingbefondere aud die Aberration. Was 
diefe anbelangt, fo bat auf der anderen Seite jüngft 
ein Franzoſe, A. Meg, gezeigt, daß dieſelbe 


und 


durh eine Vetbermitfühbrungstbeorie 
nicht richtig zu erflären fei (€. MR. 180, 495; 
Phyſikaliſche Berichte 20, 1341). 

Ein englifher Phyfifer namens F. B idh o ws- 
fy hat in der Phyſ. Rev. 25, 244 (Phyſikaliſche 
Berichte 19, 1245) vor kurzem eine Abänderung 
der Marwellichen Seldtheorie gegeben, welche nad 
dem vorliegenden Referat in ziemlich weitgehenden 
Mape den Widerſpruch zwiſchen dieſer 
Theorie und der Quantenlehre be— 
ſeitigen könnte. An die Stelle der Maxwellſchen 
Seldveltoren D und H (eleftrifhe und magnetiſche 
Feldſtärke) will er die Ausdrüde V D’ — hn 
VH? — hn fegen. Wer fih näher dafür 
interefliert, möge fih die Originalarbeit zu ver- 
ſchaffen fuben, die mir leider auch niht zugänglich 
it. — Andere grundfäglihe Unterfuhungen zur 
Quantentbeorie hat L. de Broglie 
(Ann. d. phyſ. 3, 22; Phyſikaliſche Berichte 19, 
1250) veröffentliht. Der Sinn der Quanten- 
theorie ift nadh ihm der, daß es unmöglich fein fol, 
einen endlichen beftimmten Energiebetrag zu be- 
trachten, ohne gleichzeitig damit aud) das Auftreten 
einer beftimmten Schwingungsfrequenz zu verbin- 
den, die ſich nad der befannten h.n.Beziehung 
berechnet. Der Verfafler führt eine Reihe von 
Folgerungen aus biefer Auffaflung aus, die bier 
übergangen werben müſſen. 

Eine intereffante Folgerung aus der Quanten- 
theorie zieht W. S. Franklin (Science 60, 
258; Phyf. Ber. 19, 1244). Bekanntlich baben 
Schottky und andere darauf aufmerffam gemadıt, 
daß in der Quantentheorie eigentümlihe Schwie- 
rigfeiten betr. der üblihen Auffafiung des Kauſal⸗ 
begriffs entftehen. Das von einem Atom emit- 
tierfe und von einem anderen abforbierte Tichtquant 
muß fozufagen von vornherein wiflen, wo es Blei- 
ben foll, wenn nicht ganz unmögliche Folgerungen 
fi) ergeben follen. Es Eommt fo eine Art von 
Teleologie in die Grundlagen der Phyſik þin- 
ein: dag, wags am Ende eines beftimmten Beit- 


Naturwiſſenſchaftliche und naturpbilofophifche Umſchau. 


raumes erſt wird, beſtimmt ſchon das, was zu An⸗ 
fang desſelben geſchieht, während bei der klaſſiſchen 
Theorie ſich alle Wirkungen ganz unbekümmert um 
das, was aus ihnen wird, im Raume ausbreiten. 
Franklin zieht nun die radikale Folgerung, daß der 
ganze Zeitbegriff überhaupt nur für die matro- 
ſkopiſche Phyſik, d. H. für die Phyſik größerer Maj- 
fen, einen Sinn babe, dagegen im Gebiet des 
Ultramifroffopifhen (der Atome, Elektronen und 
Quanten) ebenfo wenig einen direften Sinn habe, 
wie der der Temperatur, die ja ebenfalls nur einen 
Durdfchnittswert über unermeßlich viele Einzel- 
molefüle angibt. Die Zeit hätte demnach in den 
fih auf jene elementaren Vorgänge beziehenden 
Gleihungen gar nichts zu fuchen, träte vielmehr 
zufammen mit der Entropie und dergleichen erft 
bei der Bildung gewiffer Mittelwerte für febr viele 
elementare Prozeffe auf. Jm Prinzip ift dies 
nichts anderes alg die bereits öfter ausgefprocdene 
Lehre, daß der phufifalifhe Sinn der Zeit eigentlich 
die Entropiefunftion fei; der nicht umkehrbare 
Richtungsſinn der Zeit folte danad identifch da- 
mit fein, daß bei allen Naturvorgängen fidh die 
Entropie immer nur vermehrt, niemals vermindert. 
Neu ift die Verknüpfung diefes Gedanfens mit 
den Problemen der Quantentheorie. 

Intereſſante Unterfuhungen über den Blig hat 
Peet (Journ. Frank. Inſt. 199, 141; Phyf. 
Ber. 19, 1301) angeftelt. Es wurden Modell- 
verfuhe im Laboratorium mit ftarfen Entladungen 
eines Induktoriums angeftellt. Zunächſt ergab fih 
dabei, daß für einen Meter Funfenftrede etwa 
500 000 Bolt Entladungspotential nötig war. 
Ferner wurde die von einem Blig in einer benad- 
barten Leitung induzierte Spannung gemeflen und 
durch Nahahmung der DBerhältniffe in Eleinerem 
Mapftabe gefunden, daß diefe rund 1 Prozent der 
Molkenipannung betrug. Hieraus berechnete P. 
die lestere zu etwa 100 Millionen Wolt und das 
Potentialgefälle zu rund 300 000 Volt pro Meter, 
was mit dem obigen Werte ungefähr überein- 
fimmt. Weiter berechnete P. die dem Blig eben- 
fo wie jeder anderen eleftrifhen Entladung zufom- 
mende Schwingungsdauer (jede Entladung hat ds- 
zillatorifchen Charafter, außer wenn fie durd einen 
febr großen Wipderftand bin langſam erfolgt). Er 
fand, daß es fih um ſtark gedämpfte Schwingun- 
gen handle. Eine Reibe tehnifh wichtiger Fol- 
gerungen betr. Anlage von DBlißableitern u. a. er- 
gab fih im DBerfolg der Unterfuchungen. 

Die Nadialgefhwindigkeiten der Sternhaufen 
und Nebel, d. b. die Gefchmwindigfeiten, mit denen 
fih diefe Objekte von ung weg oder auf ung zu be- 
wegen, find in neuerer Zeit mehrfach gemeflen wor» 
den. Der Aftronom Strömberg hat über die 
Ergebniffe einen zufammenfaflenden Bericht im 


315 


Aſtrophyſ. Journ. 61, 353 gegeben, von dem bie 
Maturwiflenfhaften (Mr. 43) einen kurzen Aus- 
zug wiedergeben. Für die großen Spiral- 
neber find ganz auffallend große Werte der 
Radialgefhwindigkeit gefunden worden, der größte 
für N.G.C. 584 mit 1800 km/sec; bei nod 
fünf anderen find Werte über 1000 Kmisec feft- 
geftelt. Dabei entfernen fih diefe Gebilde faft 
alle von uns, nur 5 von 48 kommen auf ung zu. 
Kleinere Gefhwindigfeiten ergaben fih für die 
Kugelfternhaufen (um 300 km/sec); aud gibt 
es bier im Durchſchnitt faſt gleichviele, die fid 
näbern und die fi) entfernen. Die aus diefen 
Werten berechnete Eigenbewegung der Sonne 
ſtimmt ziemlich genau mit der aus den uns nächſten 
Sirfternen berechneten überein. 


Dem amerifanifchen Afteonomen DPeafe ift es 
gelungen, mittels der Michelfonihen fnterferenz- 
methode den Durchmefler von Mira Ceti zu be- 
ftimmen. Er fand 0,056, was bei der bereits 
befannten Parallare den wahren Durchmeſſer von 
416 Millionen Kilometern ergibt, alfo noch etwas 
mehr als bei a Orionis, den man nad) der gleichen 
Methode zu 386 Millionen Kilometern Durch⸗ 
meffer fand. Der Umfang von Mira entipridht 
ungefähr der Größe der Marsbahn. (Matur- 
wiflenfchaften 44.) 

Ueber die von uns in der legten Umſchau mitge- 
teilten auffallenden Unterfuhungen von È d d in g 
ton und Adams am Giriusbegleiter berichten 
jest auh die Tageszeitungen unter möglihft auf- 
fallenden Unterfohriften. Es wird dabei fo dar- 
geftellt, als ob die enorme Dichte des Begleiters 
bereis ausgemahte Sade wäre. Demgegenüber 
it der Hinweis angebracht, ‚daß diefer Schluß 
einftweilen auf febr unfiheren Worausfegungen 
ruht, und daf eine Dichte von 10 000 (Wafler = 
1) an fi doch außerordentlid Bl ift. 


b) Biologie. 

Jn Heft 44 der Naturwiſſenſchaften ftellt J. 
Spef den heutigen Stand der Probleme der 
Plasmaſtrukturen dar. Er geht aus von den älte- 
ren lehren, die eine mikroſkopiſch fihtbare Strut- 
tur des Plasmas behaupteten, die bald als fibrillär, 
bald als nesig, bald als körnig oder endlih als 
wabig angenommen wurde. Wor genaueren Une 
terfuhungen konnten alle diefe Theorien niht be- 
fiehen. Am längſten hat fih Butſchlis Waben- 
theorie gehalten. Ihre Unhaltbarfeit wurde voll- 
ftändig erwiefen durch Spets Verfuhe in den 
legten beiden Jahren, die zeigten, daß es fidh bei 
dem, was Butſchli für Waben gehalten hatte, 
um im Plasma verteilte (emulgierte) Waflertröpf- 
hen bandelte. So ift es heute erwielen, daß eine 
etwaige Plasmaftruftur nur im Gebiete des Ultra- 


316 viſſenſd 
mikroſkopiſchen liegen kann. Die auf dieſem Ge- 
biete bereits gewonnenenen Ergebniſſe, die Nä⸗ 
gelis Mizellartheorie beſtätigen, werden in dem 
Aufſatze merkwürdigerweiſe nicht erwähnt. 

Ebenſo grundlegend wie umſtritten iſt in der 
Biologie die Frage der Stoffaufnahme in die le⸗ 
bende Zelle. Die Tatſache, daß das Plasma für 
eınige Stoffe durdläflig ift, für andere nid, 
fheint manchmal nicht rein phyſikaliſch erflärbar 
zu fein, fondern die Annahme eines felbittätigen 
Eingreifens des lebenden Plasmas zu erfordern. 
Diefe Annahme aber wird neuerdings erledigt 
duch Verſuche von Ruhland und Hoff- 
mann (Arh. f. wif. Bot. I, 1925; Matur- 
wiſſenſchaften 36), die die in Rede ftehenden Er- 
fheinungen aud an toten Zellen nachwiefen. Ihre 
Merfuhe geben eine bemerkenswerte Stütze für 
Ruhlandsg Ultrafiltertheorie der Plasmahant, 
d. h. die Annahme, daß eine befondere Grenzſchicht 
des Plasmas als feinporiges Filter wirfe, indem 
fie die Stoffe je nah ihrer Molekülgröße durd- 
laffe oder nicht, wobei die Porenweite von dem 
ihrerfeits dur äußere und innere Umftände be- 
dingten Duellungszuftand des Plasmas abhängt. 

Die Annahme einer befonderen Grenzſchicht des 
Plasmas, der Plasmahaut, erhält eine neue Be- 
ftätigung durh Werfuhe von A. Weis (Ardh. f. 
wiff. Bot. I 1925; Naturwiffenfchaften 36). — 
Ein neues Beifpiel für die weitgehende Anpaf- 
fungsfähigfeit der Lebeweſen an die mannigfachſten 
Daofeinsbedingungen bietet die Entdeckung wads: 
liebender Pilze, die Molifch gelungen ift (Na- 
turwiffenfchaften 43). Das ſchwarze Fadengeflecht 
diefer Pilze überzieht gerade die wachsausſcheiden⸗ 
den Stellen gewiffer japanifher Bambus- und 
Ahornarten, fo daß die Pflanzen dadurch ein bunt- 
fhediges Ausfehen erhalten. Molifch hat bie 
Pilze mit Erfolg auf Bienenwachs gezüchtet. Das 
Wachs muß alfo wohl eine Role in ihrem Stoff- 
wechſel fpielen. 

Der Bienenftant befhert uns nah Friſchs 
Entdeckung der „Sprache“ der Bienen eine neue 
Ueberrafhung. Beobachtungen, die N öf ch (Zeit- 
ſchrift f. vergl. Phyſiol. 2, 1925; Naturmwiflen- 
ſchaften 45) über die Arbeitsverteilung unter den 
Arbeitsbienen angeftellt hat, gewähren einen ge- 
radezu wunderbaren Einblid in das dem Auge des 
Beobachters größtenteils entzogene Leben im Stot. 
Es handelt fih um die Frage: Beſteht zwifchen den 
Arbeitsbienen aud eine Arbeitsteilung oder übt 
jede Arbeitsbiene alle Tätigkeiten aus, vielleicht 
nacheinander in verfchiedenen Tebensaltern? Die 
Entdedungen Röſchs zeigen, daß jede Arbeits- 
biene nadjeinander alle Tätigfeiten ausübt, fie rüct 
gleihfam mit zunehmendem Alter in andere Poften 
auf. ie beginnt ihre Tätigkeit als Hausbiene 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 








und zwar als Zellenputzerin. Nur in geputzte 
Zellen legt die Königin Eier. Es folgt die Be- 
förderung zur „Brutwärterin“, dann erhält fie 
die Aufgabe, die Brut zu füttern. In der für fie 
darauf beginnenden zweiten ‘Periode des „Stock⸗ 
dienſtes“ nimmt fie den heimfehrenden Bienen ben 
Meftat ab, flampft den Pollen zu einer feften 
Maffe zufammen und entfernt den Unrat aus dem 
Stod. Während diefer Periode unternimmt fie 
gleichzeitig Ausflüge in die Umgebung, die aber 
nur ihrer eigenen Orientierung dienen. Am Schluß 
der Periode ift die Biene reif geworden für den 
verantwortungsvollen Poften des Torwächters. 
Mit diefem Amt befchließt fie ihre Tätigkeit als 
Hausbiene. Sie tritt in die zweite Hauptperiode 
ihres Arbeitslebens ein und wird zur Feldbiene, 
die Mektar und Pollen fammelt. Das Wunder- 
bare und einftweilen now Rätſelhafte bei diefer 
Pflichtenverteilung aber ift, daß zwar die Reihen- 
folge der auf einander folgenden Abſchnitte ftets 
diefelbe ift, ihre Dauer jedoch fih nah den Be 
dürfniffen des Stods richtet. Es ift, als ob ein 
vernunftbegabtes Wefen die Bienen nadh den For- 
derungen des Staatswohls längere oder kürzere 
Zeit in den einzelnen Aemtern verweilen läßt. Dies 
Problem harrt noh der Erklärung. 

Nah der Duplizitätstheorie des Sehens find 
von den zweierlei Sehzellen nur die Zäpfhen für 
Sarben empfindlih, die Stäbchen farbenblind. 
Das Tagesfehen erfolgt mittels der Zäpfchen, das 
Dämmerungsfehen mittels der Stäbhen. Diele 


Theorie, die, fomohl was den Menſchen als aud 


was die Gefamtheit der Wirbeltiere angeht, nod 
umftritten ift, wurde für die Fiſche neuerdings von 
K. v. Friſſch erperimentell bewiefen (Zeitſchrift 
f. vergl. Phyſiol. 2, 1925; Naturwiſſenſch. 45). 

Die Annahme, daß bei der Pflanze die Meiz- 
leitung durch Meizftoffe (Wundhormone u. a.) ver- 
mittelt wird, hat ſchon manhe Beftätigung er- 
fahren. H. Seubert verfuhte (Zeitfhr. für 
Bot. 17, 1925; Maturwiſſenſchaften 36), bie 
Natur diefer Stoffe zu ergründen. Da eine de- 
mifhe Analyſe der einer MWundftelle der Pflanze 
entnommenen Wundftoffe nicht gelang, brachte fe 
verfehiedene Stoffe an verwundete Pflanzen (Ha- 
ferfeimlinge) beran und ftellte fet, welde eine 
Krümmung auslöfen können. Sie fand eine ganze 
Reihe Stoffe, die eine folhe Krümmung hervor- 
rufen. Ihre Wirkung beruht, wie fih weiter þer- 
ausftellte, darauf, daß fie das Wahstum hemmen 
oder fördern. Kine einfeitige Wachstumsförde⸗ 
rung muß aber eine Krümmung hervorrufen. Die 
Stoffe erhalten deshalb den Namen Wahstume- 
regulatoren. 

Beobachtungen von Czaja (Pflügers Arh. 
f. d. gef. Phofiol. 206, 19245 Naturwiſſenſchaf⸗ 


___Waturwiffenfaftlibe und_naturphilofophifhe Umfhau. 


ten 36) ergaben, daß die Meisbewegungen bei der 
Denusfliegenfalle niht nur durch mechaniſche und 
chemiſche Reize ausgelöft werden, fondern auch durd 
eleftrifche und thermiſche. 

Ueber die neueften Seuerfteinfunde im Unftrut- 
tale, welche wegen ihrer Lagerung in befonders 
frühen Schichten von großer Bedeutung find, be 
richtete Prof. Walther, der Geologe der Hal- 
‚Ienfer Univerfität, auf der 47. Tagung der Deut- 
fhen Anthropologifhen Geſellſchaft in Halle. In 
einer Slußterraffe der Unftrut, welche fi) nah An- 
fiht Profeſſor Walthers allmählich eingetieft hat, 
wurden Feuerfteine in folder Tiefe gefunden, daß 
diefes Vorkommen geologifh nicht erflärbar ift. 
Die Funde, an welden mindeftens in vier 
Fällen mit völliger Sicherheit eine Bearbeitung 
dur den Menſchen feftgeftellt werden konnte, fan- 
den fih an einer Stelle, welche noch etwa 30 Meter 
tiefer als die Meandertalfhicht liegt. Damit ift 
mit ziemlich großer Sicherheit in Mitteldeutfchland 
die Eriftenz von Menſchen für eine Zeit feftgeftellt, 
welde nod vor der Meandertalperiode, wahrfchein- 
lich Frühdiluvium, liegt. 

„Die Pfahlbauten als Landfiedlungen“ war das 
Thema, über welches Dr. H. Reinerth auf 
ber gleichen Tagung ſprach, damit die beliebte Wor- 
Relung von den in dag Randwaſſer des Sees hin- 
eingebauten Pfahldörfern erſchütternd. Die Beweis- 
führung Reinerths gründet fih vor alem auf den 
Nachweis, dap der Waflerfpiegel der Seen, in 
welchen man jest die Ueberrefte der Pfahlbauten 
gefunden hat, zur jüngeren Stein- und ‘Bronzezeit 
bedeutend unter dem heutigen Stand gelegen hat. 
Eine Senkung desfelben um 2 Meter genügt je- 
doh ſchon, um die fteinzeitlihen, eine ſolche von 
3 bis 4 Metern, um die bronzezeitlihen “Dörfer 
troden zu legen und daburd zu Uferfiedlungen zu 
maden. Aud die Deutung der fog. „Brücken“ 
und „Wellenbrecher“ (3. B. am Bodenſee) als 
Waſſerbauten ift niht notwendig. Diefelben Fön- 
nen ebenfo gut Bohlenwege und Umzäunungen auf 
dem Trocknen gewefen fein. Dr. Neinerth hat die 
Pfahlbauten des Bodenfees und die Befunde im 
Tedernfeemoor unterfuht und ift zu der Ueberzeu- 
gung gekommen, daß die Pfahlbauten nit im 
Waſſer geftanden haben, fondern Uferbörfer bil 
deten. 

c) Naturphilofophie und Weltanichauung. 

Zu dem Streit über die Möglichkeit übers 
normaler Wahrnehmungen (des Hellfehens im 
weiteften Sinne des Wortes) bringt ein Auffas 
in den beiden legten Heften der „Pſychiſchen Stu- 
dien’ einen Beitrag, der niht überfehen werden 
darf. Denn bei den von ihm mitgeteilten Ber- 
fuchen liegen fo überfihtlihe Bedingungen und fo 
erftaunliche Ergebniffe vor, daß man für die An- 


Hand hielt. 


317 





nahme einer bewußten oder unbewußten Täuſchung 
fo gut wie nichts mehr geltend maben fann. Sie 
wurden im Taufe diefes Frühjahrs in dem Parifer 
metapſychologiſchen Inſtitut unter der Leitung von 
Prof. Rider mit jenem Ludwig Kahn als Ber- 
fuheperfon veranftaltet, welder ſchon im Jahre 
1912 Profeffor Schottelius in Freiburg erftaun- 
lihe Proben feines Könnens gegeben hat. Der Be- 
richt über die neuen Erperimente ftammt von Dr. 
Oſty, der felbft an ihnen teilgenommen hat, und ift 
für die „Pſychiſchen Studien” von Dr. Tifchner 
überfegt. Diefe Verſuche mit K. beftanden darin, 
dag die Erperimentatoren auf ein. Stüd Papier 
von beliebiger Herkunft auf beliebiger Unterlage 
einen Sag in diefer oder jener Sprade fohrieben 
oder eine Fleine Zeichnung auftrugen und dasſelbe 
fodann mehrere Male zufammenfalteten, während 
K. fih unter Beobachtung und Ablenfung durd 
ein Geſpräch im Nebenzimmer befand., Nachdem 
K. wieder zurücdgefommen war, ließ er die Zettel 
mifchen und wieder verteilen, ſodaß niemand mehr 
wußte, wasg auf demjenigen ftand, welchen er in der 
Darauf ftellte fih K., häufig nadh der 
Bitte um Angabe, wo er beginnen folle, gewöhnlich 
in einer Entfernung von etwa eineinhalb Metern 
vor die betreffende Perfon und nannte meift fchon 
nadh wenigen Sefunden den Inhalt des Zettels in 
ihrer Hand, wobei er öfter zugleidh angab, von wem 
derfelbe befchrieben worden war. Bon ſolchen Wer- 
fuchen berichtet Dr. Ofty mehrere Dugend. Da- 
runter ift fein einziger Derfager Kahns. Die 


Fehler, die er gelegentlih madıte, find bloße Ber- 


lefungen einzelner Worte, die gewiß nicht verwun⸗ 
derlich find, nachdem die aufgefchriebenen Säge oft 
ſchwierige techniſche Ausdrüde enthielten oder aud 
fremdipradhliche Zitate bildeten. Und felbft wenn 


auh größere Fehler vorgefommen wären, würden 


fie einem Verſuchsergebnis wie dem folgenden nicht 
feine Beweiskraft rauben, da dasſelbe niht durd 
einen Zufall zuftande gefommen fein fann. Ein 
Dr. Moutier hatte auf ein Stück von einem 
Korrespondenzbogen des metapſychiſchen Inſtitutes 
den Sat gefchrieben: „Procrastination est le 
Dieb del tiempo”, dazu eine Art Vignette gezeidh- 
net, beftehend in einem Kreis mit einem längeren 
Horizontalftrih und zwei kürzeren Striden rechts 
und links nad oben, wodurd die Kreisflädhe in Sef- 
toren von etwa 60° eingeteilt wurde; in jeden diefer 
Seftoren feste M. noh einen Punft. Diefes 
Papier fam bei der Mifhung in die Hand eines 
Herrn Fraiſſe. K. machte nun, ohne dag Papier 
berührt zu haben, fogleih die Angabe, daß fein 
Inhalt von Herrn Dr. Moutier herrühre und daß 
derfelbe verwidelt fei, eine Zeichnung und ein Sag 
in drei Sprachen. Darauf verfertigte er zuerft 
die Zeichnung und zwar genau richtig, fo daß audy 


318 
bei ihm der Horizontalſtrich allein den Kreis ſchnei⸗ 
det, während die beiden anderen Striche 
die Kreislinie nicht berühren. Herr Moutier be- 
merkte fpäter dazu, er habe, während K. die Zeich⸗ 
nung madıte, geglaubt, fie fei bei ihm anders — 
eine Bemerkung, die für die Ablehnung der Ge- 
danfenübertragung bei den Verſuchen ſpricht. Nady 
der Sertigftellung der Zeichnung las K. auch den 
ſprachlichen Inhalt des Zettels umd zwar ale 
„Pronostication est le Dieb del tiempo.“ Das 
falfhe Wort am Anfang verbeflerte er fodann, 
nachdem er fur; feinen Zeigfinger in die gefchloflene 
Hand des Herrn Fraiffe geftedt und fo mit dem 
Zettel in Berührung gebracht hatte. 

Die Erwähnung diefes einen Verſuches genügt 
zweifellos fhon, um den Gedanken an ein zufälli- 
ges Erraten des Zettelinhaltes oder an ein Finden 
vermittels unbewußter Hilfen der Erperimenta- 
toren auszufchließen. ‘Diefelben wußten nad) dem 
Miſchen der Zettel ja felbft nicht, was auf dem- 
jenigen in ihrer Hand fland, wenn fie nicht gerade 
zufällig den eigenen wieder zurückbekamen. Damit 
ift jedenfalls ein Zuftandefommen der vorliegenden 
Ergebniffe durch unbewußte Zeichengebung oder 
unabfichtliches Vorflüſtern ausgefchloffen. Auch 
eine Gedanfenübertragung fann unter diefen Um- 
ftänden nicht mehr genügen, wenngleich fie mitge- 
fpielt haben fann. Jedenfalls aber muß von dem 
Zettel, welhem K. gegenüberftand und den er zur 
Erleihterung feiner Aufgabe manchmal fur; be- 
rührte, noh ein unmittelbarer Eindruf auf ihn 
ausgegangen fein. Mur durd einen folden fonnte 
es ihm möglich werden, den Schreiber anzugeben 
und ev. auf telepathifhen Wege mit feinem Willen 
um den inhalt in Verbindung zu treten. Als Be- 
weis dafür könnte man auh die Epifode anfeben, 
welche fid am Schluß der berichteten Verſuche nod 
ereignete. K. behauptete da, er vermöge es jedem 
Zettel anzumerken, von welden Perfonen er be- 
rührt worden ift, fo habe 3. B. Herr Dr. Lafla- 
bliere niht auf denjenigen gefchrieben, welde er 
(Kahn) verteilt hatte. Der betreffende Herr wider- 
ſprach febr energifch, er habe den Zettel nicht ver 
tauſcht. Schließlich aber fand er dodh den frag. 
lihen Zettel zufammengefnittert in feiner Taſche. 
Er hatte auf ihm einen Schreibfehler gemacht, als 
er fein Zitat aus Viktor Hugo niederfchrieb, und 
deshalb einen anderen genommen, wag er mittler- 
weile {hon wieder vergeſſen hatte. Alfo er K. 
mit ſeiner Behauptung doch recht. 

In den „Münchener Neueſten Madriden” bat 
im Laufe diefes Sommers eine höhft intereffante 
Debatte ftattgefunden, die fih an den Daytoner 
Affenprozeß anfnüpfte. Der befannte Gegner der 
Abſtammungslehre, Profefor Fleiſchmann— 
Erlangen hat in einem Aufſatz in Nr. 212 (vom 


Naturwiſſenſchaftliche und 


naturphiloſophiſche Umſchau. 


2. 8.) einen ſcharfen Angriff gegen Darwin” 
losgelaſſen. Auf bdiefen bat der Paläontologe 
Daqué Münden in Nr. 244 erwidert und in 
Nr. 255 Haben die an der Univerfität München 


‚ wirkenden Zoologen und Paläontologen: Broili, 


Dacqué, Demoll, Döderlein, Eid. 
rich, Goetſch, v. Friſch, R.v. Hert- 
wig, Koehler, Seiler, Stromer 
von Reichenbach eine Erflärung erlaffen, 
worin fie gegen die irreführende Behauptung 
Fleiſchmanns Proteft einlegen, als fei die Ab- 
ftammunge- oder Deszendenzlehre widerlegt und 
zähle unter den Fachmänern nur noh wenige An- 
bänger. Die Unterzeichner „erklären, daß fie 
nad wie vor in der X.L. oder Des;. Theorie eine 
der größten Errungenihaften ihrer Wiſſenſchaften 
erbliden. Sie find der Ueberzeugung, daß diefe Auf- 
faffung von faft allen Vertretern ihres Fades 
geteilt wird. Mach einer weiteren, febr ſcharf 
gehaltenen Ermiderung, die der in Saben der 
Degi. Theorie bereits mehrfach hervorgetretene 
Mathematifer Study -Bonn in Nr. 256 gegen 
Sleifhmann eingefandt hat, ermwidert FI. dann 
felber noh einmal in Nr. 258 unter dem Titel 
„Das Wahnbild der Abſtammungs⸗Lehre“ und in 
einer dritten unter dem Titel „Die große Errungen⸗ 
ſchaft.“ Darauf folgt ein ausführlicher Aufſat 
von Dacqué in der Wiſſenſchaftlichen Beilage 
der M. N. N. Nr. 270 (Was ift nun Abftam- 
mungslehre?’‘) und eine weitere Einfendung von 
R. Hertwig. Ganz befonders intereflant ift 
die von Megr. Leo von Skibniewski, 
Dr. theol. und iur. can., Protonotarius Apofto- 
licus Titl. in Mr. 282 eingeſchickte Aeußerung 
„Theologie und Abftammungstheorie” und ſchließ⸗ 
lih bat die Sahe noh ein Nachſpiel in anderer 
Richtung gehabt, infofern ein anderer Einfender, 
Prof. Ignaz Kaup bei diefer Gelegenheit die 
Beftrebungen der modernen Naffenhygi- 
eniker fcharf angegriffen hat (in Mr. 265), 
worauf der befannnte Raſſenforſcher Lenz in 
der Nr. vom 21. Oftober erwidert. Don einigen 
Fleineren Einfendungen, die zwifhendurd noh er- 
ſchienen find, fehe ih hier ab. Ich verbanfe die 
Zufendung der ganzen Belege unferm verehrten 
Bundesfreunde und Mitarbeiter Studien-Rat 
Seiffert in Afbaffenburg und bitte bei diefer 
Gelegenheit herzlich, mir doh nah Möglichkeit 
alle derartigen Dinge aus der Tagesprefle zugehen 
zu laflen, da uns fonft vielfad febr Wichtiges 
entgeht. 

Es ift nun unmöglich, eine ausführliche Inhalts⸗ 
angabe aller diefer Einfendungen an die M. N. N. 
zu geben. Vielleicht entichließt fih die Redaktion 
zur Herausgabe berfelben in Form einer Fleinen 
Broſchüre. Jedenfalls ftellt die ganze Diskuſſion 








ein überaus dharafteriftifches Zeichen der Zeit vor. 
Sie beftätigt vollauf, was ih immer und überall 
ausgeſprochen habe: daß die hier vorliegenden Prob- 
leme nicht im entfernteften wirflid bereits gelöft 
find, fondern nur auf den äußeren Anlaß warten, 
um von neuem mit aller Schärfe hervorzubreden. 
Es ift ein rein hiftorifher Zufall, bedingt durd 
allerlei äußere Verfettungen, daB dag ganze Jnter- 
effe der Gebildeten fih zur Zeit auf andere Dinge 
richtet und deshalb für den Augenblid folde 
Tragen unmodern find. Es wäre aber ein febr 
gefährliher Irrtum, zu glauben, daß damit die 
Sache aus ber Welt geſchafft it. Mit vollem 
Redt hat in einer gleichfalls überaus leſenswerten 
Abhandlung im Zag” (22. 7. 25.) Fr. Blum- 
berg hervorgehoben, daß zwar. durd das „Sanfte 
Einlenten der offiziellen modernen Theologie die 
Streitart vorläufig bei uns begraben fei,” daß 
aber „diefe Kirchhofsruhe nur die Stille vor dem 
Sturm’ fei und auh bei ung „unter der Ober- 
flähe an den verfhiedenften Stellen nicht erplo- 
dierte Dynamitpatronen lägen.” Dieſen Eindrud 
befommt man aud in ftärfftem Mage beim Durdı- 
lefen der Einfendungen in den M. N. N., und 
zwar ganz befonders derjenigen des päpftlichen 
Protonotarius. Aus diefer ein paar Säge wört- 
lih auszuführen, darf ich deshalb nicht verfäumen. 
„Die katholiſche Kirche halt feit nunmehr faft 
zwei Sjahrtaufenden unentwegt am Grundfag feft, 
dag die Erfhaffung des Menfchen als befonderer, 
in fi abgefchloffener göftliher Aft aufzufaffen ift 
(vergl. die Entfcheidung der Bibelfommiffion von 
30. 6. 1909). Entiprehend der der menſchlichen 
Natur eigenen Zweiteiligfeit in Seele und Kör- 
per betont fie deren verfchiedenen Urfprung: für die 
Seele durch Mitteilung des göttlichen Lebens— 
odemg, für den Körper durch Umbildung aus Erde, 
alfo Umwandlung unorganifhen in organischen 
Stoffes. Das Leben wurde durch Werbindung der 
beiden Beftandteile im neuen Gebilde bewirkt. 
Dieſes — nichts mehr und nichts weniger — ift 
die Lehre der Fatholifhen Kirche, die fie in der 
Hauptſache aus dem erten Bude 
Mofis, Senefis I. 26-31, II. 7 ſchöpft. 
Mofes fpielt hbierbeinur die Rolle 
eines vollfommen glaubwürdigen, 
zuverläffigen Zeugen und Bere 
mittlerg einer ibm zuteil gewor- 
dbenengöttliden Offenbarung. Daf 
die katholiſche Kirche Mofes als 
den tatfählihen Verfaſſer des 
Pentateuchs, alfo aud des Budes 
Geneſis, betrahtet und von ihren 
Gläubigen betrachtet wiffen will, 
ergibt fih ganz eindeutig aus der 
Entfbheidungder Bibelfommiffion 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 


319 


— — — — —— 


vom 27. 6. 1906.) Es wäre durchaus unrid- 
fig, diesbezügliche Entfcheidungen der katholiſchen 
Kirche als Teichtfertig, willfürlih oder voreinge- 
nommen anzufehen, — fie find im Gegenteil ein 
Ergebnis jahrhunderte, ja  jahrtaufendelanger 
Erwägungen.” 

Der Einfender ftellt dann weiter feft, dag im 
Genefisberiht die Sonderfhöpfung des Menſchen 
in jeder Hinſicht fo ſtark betont fei, daß, „um ber 
Wucht diefes ganz unzweidentigen Gegenfates zu 
entgehen, man nur zur Teugnung des Tertes oder 
der Geniunität und Authentizität des Zeugniffes 
feine Zufluht nehmen müßte, wodurd bie 
chriſtliche Auffaffung verlaffen 
(ihon weil Chriftus felbft und feine Apoftel fih 
wiederholt auf Mofes und fein Buch beriefen) 
und die Streitfrage zu einer rein eregetifchen um- 
geftellt wäre. Es gibt hier wahrlih nur ein 
Entweder-Oder.” 

innerhalb diefer Lehre von der Sonderſchöp⸗ 
fung des Menfchen will er dann freilich der Natur- 
wiffenfhaft und Philofophie einen weiten Spiel- 
raum laffen, indem es bdahingeftellt bleibe, ob die 
Eingebung der Seele in den bereits aufnahme- 
fähigen Körper zeitlih mit deffen Fertigftellung 
zufammen fiel oder ob diefe Eingebung analog einer 
Embryonalenentwidlung allmählich flattfand. Die 
bier aufgeworfenen Doktorfragen machen der 
Tholaftifhen Vorbildung des Verfaflers alle Ehre. 
Matürli behauptet aud er, daß in den mittel- 
alterlihen Handbüchern uſw. alles, was die moderne 
Abftammungslehre hierüber etwa zu fagen habe, 
bereits drinftehe (‚nur mit ein wenig anderen 
Worten” Bk.), und fo zeigt er, daß felbftverftändlid) 
Pater Wasmann niemals von dem feitens der 
Kirche feftgelegten Standpunfte abgewichen fei; 
„jedenfalls ift aber die gefallene Behauptung 
(Studye), dag die Fatholifhe Kirche unter dem 
Eindrudf feiner (Wasmanns) Schriften ihre An- 
fhauung aufgegeben hätte, ganz unftihhaltig.‘ 

Nun folgt eine Flare Abfage an Darwin, 
deffen Buch über die Entftehbuna 
der Arten „vom Provinzialfonzil 
in Köln 1860 formaliter und in 
feinen Folgerungen als dem fatho- 
lifhen Glauben und der Heiligen 
Schrift widerſprechend erflärt 
worden‘ fei, und darauf eine febr verbind- 
lich gehaltene, in der Sache aber ziemlich ableh⸗ 
nende Auseinanderfeßung mit Dacque, fowie allen 
denen, die die Abftammung des Menfchen aus dem 
Tierreih behaupten und die fih nah des Ber- 
faflers Meinung in Anbetracht der bisher nicht auf- 





1) Diefe und einige folgende Eperrungen rühren von 
mir ber. BE. 


320 


gewiefenen Zwifchenglieder faum dem Vorwurf 
der wiſſenſchaftlichen Teichtfertigkeit entziehen‘ 
fönnten. Er nagelt Dacqués Sag feft, daß man 
in betr. der Herkunft des Menſchen ohne die Ab- 
ftammungslehre ‚in eine unmwiflenfchaftliche, gäh- 
nende Leere flarren müßte” — dieſes „aufrechte 
Geftändnis des gähnenden Zwiſchenraumes, ber feit 
Jahrhunderten als Beftätigung hriftlicher Unter- 
ſcheidung zwifhen Menfh und Tier empfunden 
wurde, von fo autoritativer Seite muß feftgehalten 
werden — und „nun frage ich: ift es ber Fatholi- 
ſchen Kirche zugumuten, geſchweige denn zu verargen, 
daß fie eine moralifche, jederzeit nachweisbare ge- 
ſchichtliche Sicherheit gegen eine von ihren Gönnern 
felbft nur als „wahrſcheinlich“ qualifizierte Hypo- 
thefe einzutaufchen nicht gewillt ift, deren Realitäts⸗ 
gehalt vielleiht überhaupt niemals überprüfbar 
‚fein wird?” Zum Schluß gibt der Verfaſſer ber 
Ueberzeugung Ausdrud, daß der Kampf um bie 
Anwendung der A. L. auf den Menfchen im Grunde 
der Kampf um die menfchlihe Seele fei, „weil 
durd Verkündung, Betonung und 
Breittretung der vermeintliden 
tierifhen Herkunft des Körpers 
das Seelenbewußtfein in den 
Volksmaſſen zurüdgedrängt wird 
und weil breite Schichten fih eher in das bequemere 
Bewußtſein eines unbefeelten Tieres hineindenfen 
und hineinfühlen, als fie das Bewußtſein eines 
befeelten Pithecanthropus annehmen follten.” Die 
Allerwenigften wüßten die „‚verführerifhe Hypo- 
theſe“ in Einklang mit einem Seelenleben zu brin- 
gen, „beforgt fragt man fih, ob es noh immer nicht 
genug Proben auf das Erempel gegeben hat’. 
„Das chriſtliche Bewußtſein des 
deutfhben Volfes bäumt fih gegen 
jede Beeinträbtigung feiner Emp 
findungen . die Folgen eines 
Umfhwunges im Wege des Haecke— 
lianismus oder der ebenfo ver- 
derblihen (sic! BE), wenn auh ge- 
fünftelteren Abftammungstheorie 
wären für die öffentlide Moral 
unberehenbarund unabfehbar,” und 
endlich wird dem Haeckelianismus noh die Schuld 
an der wilden Blutrünftigfeit der ruffifchen Nevo- 
Iution beigemefien unter Berufung auf ein Wort 
eines ruflifhen Univerfitätsprofeflors. 

Wenn ic über diefe eine Aeußerung ausführ- 
licher referiert habe alg über die anderen, fo ift es 
deshalb geichehen, weil ich annehmen darf, daß die 
Mehrzahl unferer Lefer über Fleiſchmanns faden- 
fcheinige Gründe gegen die Abftammungslehre eini- 
germaßen im Bilde ift. Sollte es nicht der Fall 
fein, fo bitte ich fie, fih das in Nr. 6/1923 erwähnte 
Buch von ihm und Grüßmader zu verfhaffen und 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau. 


dann dazu R. Hertwigs ausgezeichnete Darſtellung 
der UT. im Bande „Abſtammungs-⸗Lehre“ der 
„Kultur und Gegenwart“ (Teubner) zu leſen, 
welche Darſtellung, obwohl einiges daran mittler- 
weile veraltet fein dürfte, immer noh weitaus die 
befte ift. Eine Seite der Fleiſchmannſchen Aus- 
führungen in den M. N. N. verdient aber audy 
hier niedriger gehängt zu werden, dag ift die Art, 
wie er von Darwin ſpricht. Nachdem er einen 
kurzen Ueberblick über die Vorgeſchichte der A. L. 
gegeben hat und auf den entftandenen Streit zwi- 
[hen Naturforſchung und Kirchenlehre einen 
Seitenblid geworfen bat, gebt er zu Darwin 
über: „In einer ſolchen Zeitlage begann der junge 
Engländer Karl Darwin (geb. 1809), angeregt 
durch eine mehrjährige Reife um die Welt, über 
die Frage nachzudenken, wie die Tierarten ent- 
ftanden fein könnten. Schon in verhältnismäßig 
jugendlihem Alter bildete er fih DBermutungen, 
welche, wie feine Aufzeichnungen aus dem Jahre 
1839 und 1845 beweifen, die Kernpunfte feines 
1859 erfchienenen Werkes enthielten. Entfpre- 
hend der praktiſchen Anlage feines 
Volkes betrabhtete er die Tier- 
welt von einem ganz neuen, ge- 
ſchäftsmäßigen Gefihtspunfte, 
nämlich dem der englifhen Tiers und Pflanzen- 
züdhter, welde damals große Erfolge . . . erzielt 
hatten... . Dod ftodte er lange Zeit, weil er feinen 
dem planmäßigen Auswählen und gebuldigen Ab- 
warten des Züchters vergleihbaren Vorgang fehen 
fonnte. Endlih glaubte er die Schwierigkeiten 
durch den Begriff der natürlichen Zuchtwahl über- 
wunden zu haben... Das Leben faßte 
er gleih den Gefhäftsleuten als 
ein Wettrennen nah dem Ziele 
auf... Der Gedanke gewann eine mädhtige 
Kraft in ibm... Nachdem er ſich in den 
falſchen Gedankengang verbiſſen 
batte, begann er, die Beweis— 
gründe inder Erfahbrungzu fugen. 
Darin lag der große Fehler feines. Lebenswerkes. 
Gerade umgefebrt wie der ftrenge 
Naturforfher zu Werke gebt, der 
eine große Menge von Erfahrungen fammelt und 
daraus dag allgemeine Geſetz ableitet, trat er 
mit einer vorgefaßten Meinung 


an die Natur heran und fammelte 


nachträglich Scheinbeweiſe für 
feine vor der Erfahrung ausge- 
fFlügelte Meinung ... Unter den Laien 
laufen zwar nod heute viele Freunde feines Irr⸗ 
tums herum, dodh unter den Sahmännern, welde 
die tatfächlihen, die zum Urteil beredhtigenden 
Kenntniſſe befißen, gibt es nur ein Fleines Häuflein 
unentwegter Anhänger” (f. o.! BE) Fleiſchmann 








verſucht weiter die Abftammungslehre als ein ftehen- 
gebliebenes Bruchſtück des einft ſtolzen Mauerwerks 
des Darmwinismus hinzuftellen, geht dann auf aller- 
lei Einzelheiten ein und kommt zum Schluß nod 
einmal auf Darwins Perfon mit folgenden ge- 
ſchmackvollen Worten zurüd: „Ein anderer 
Fehler war die främerhafte Ge- 
Thäftsmäßigfeit feines GBeiftes. 
„Nutzen und Borteil, Unterdrüdung, 
fer Shwadhen, unabläffiger Kampf, 
— echt englifhe Gedanken waren 
die Pole feiner Ausführungen, 
aber den Vorgängen in der Natur wefensfremb. 
Ihm -mangelte der Fünftlerifhe Sinn, um die 
übermenſchliche Schönheit des Tierförpers zu be- 
greifen. Wenn Study folde Aeußerungen als 
„einen bemerkenswerten Mangel an Sachlichkeit“ 
bezeichnet, fo ift das zu begreifen, und er hat m. È. 
auh recht, wenn er fagt, Sleifhmann fheine hier» 
nadh gar nicht begriffen zu haben, wie naturwiflen- 
fhaftlihe Theorien überhaupt entfteben. An diefer 
Stelle liegt tarfählih der Schlüffel zu Fleiſch— 
manns, für einen Maturforfher anfcheinend völlig 
unbegreiflihem, Verhalten gegenüber dem Andenken 
eines Großen, der ihn fo turmhod überragt, daf 
derartige Angriffe felbftverftändlih nur ihn felber, 
den Angreifer, lächerlich machen. Fl. ift ein 
Veberempirift, er bat fidh feinerfeits in bie 
Behauptung verbiffen (um feinen eigenen Ausdrud 
zu gebrauchen), daB die Daturwiflenfchaft 
weiter nichts zu tun babe, als aus einer unend- 
lihen Summe von Einzelbeobadhtungen allgemeine 
Regeln zu abftrahieren. Wenn dies der Sinn 
der Matürforfhung wäre, fo fländen wir heute 
noh da, wo Newton und Galilei flanden. FI. 
will nicht fehen — er ift darin reiner Dogma- 


titer und abfolut nicht zu belehren —, daf fat 


allegrogen Sortfhritteder Natur- 
wiffenfhaft auf dem Wege zus 
ffiandegefommen find, ben be- 
ſchritten zu haben er bier Darwin 
vormwirft, nämlid der Bildung einer frucht⸗ 
baren Hnpothefe, die weit auseinanderliegende Dinge 
einheitlich zufammenfaßt. Ohne ſolche zunächſt oft 
geradezu gewagt anmutende Hypotheſen wäre weder 
die eleftromagnetifhe Natur des Lichts, noh die 
allgemeine Gravitation, nod die atomiftifhe Strut- 
tur der Materie, noh unzähliges Anderes gefunden 
worden. Das Verfahren der bloßen Zufammen- 
faffung der Tatſachen in allgemeine Regeln führt 
feinen Schritt in die eigentlihe Erkenntnis hinein, 
diefe beginnt erft immer da, wo gefragt wird, wie 
fommt dag und warum ift das fo, und diefe Fragen 
fönnen garnicht anders als zunähft durd die 
wiffenfhaftlihe Phantafie beantwortet werden, die 
dann freilih hinterher ihre mehr oder minder 


___Noturwifienfaftlice und naturphilofophifhe Umſchau— 


32] 


fühnen Ideen aufs forgfältigfte an der Erfahrung 


nadprüfen muß. Es ift in der gefamten Natur- 
wiffenfhaft einhellig anerfannt, daß gerade 
Darwin und zwar gerade, weil er ein nüdter- 
ner Engländer war, nah dbiefer Richtung 
das Mufter eines vorfihtig abwä— 
genden Forſchers gebildet bat. Er 
hat, ganz im Gegenfag zu Haeckel und manden 
anderen, fih gerade nicht damit begnügt, zu fpefu- 
lieren, fondern mit einem faft beifpiellofen Fleiß 
ein ganz ungeheures Erfahrungsmaterial verarbei- 
tet, nit um, wie ST. fi mit völliger Verdrehung 
des Tatbeftandes ausdrüdt, „nachträglich Shein- 
beweife für feine vor aller Erfahrung ausgeflügelte 
Theorie zu ſammeln“, fondern um, als ein echter 
Forſcher, feine zunächſt hypothetiſch zugrunde geleg- 
ten Ideen an der Hand möglichft vieler Erfahrun⸗ 
gen zu überprüfen. Wenn er fih dabei, wie die 
Folgezeit ausgewiefen hat, in manden Punkten 
geirrt hat, fo ift das ein nicht mehr als felbftver- 
ftändliher Tribut, den auh der Größte an bie 
Menfchlichkeit zahlen muß. Es ift außerdem nicht 
wahr, daß, wie FI. es darftellt, die Folgezeit feine 
Lehre völlig befeitigt habe, fie hat nur vieles richtig 
geftellt und noh mehr ergänzend hinzugefügt. Des- 
halb bleibt der große Grundgedanke Darwins, daß 
aus an fih zunächſt „richtungslofen‘ (zum wenig» 
ten, um Juſt's Ausdrud zu gebrauden, ‚‚teleolo- 
giſch zufälligen”, wenn auh Faufal vielleicht ortho- 
genetiſchen“) Mutationen durch Ausleſe das 
Angepaßte herausgeſiebt werden kann, doch zu Recht 
beſtehen. Es hat bis heute noch kein Neulamarckiſt 
oder Neuvitaliſt eine andere und paſſendere Er- 
Elärung 3. B. für die Flügellofigfeit der Inſekten 
auf den ozeanifhen Inſeln und andere fhon von 
Darwin. gebradhte DBeifpiele ung vorgeführt, womit 
ich keineswegs behauptet haben will, daß alles fidh 
auf dem Darwinſchen Wege erflären ließe. 

In jedem Falle zeigt FI. auh durd diefen An- 
griff wieder, daß fein Fachſpezialſtudium, auf das 
er ſich hier ebenfo wie in feinem Budhe fo viel zu 
gute tut, feine fehr ftarfen Schattenfeiten bat. 
Wenn er nicht einfeitig immer nur auf die fo 


“enorm verwidelt liegenden Probleme der Biologie 


und fpeziell der Dererbungs- und Abflammungs- 
forfhung fähe, fondern feinen Blid etwas weiter 
hinaus auf die Nachbarwiſſenſchaften, in erfter 
Linie auf die Phyſik, richten wollte, fo würde er 
da ohne weiteres merfen, daf es rein unmöglich ift, 
Naturforfhung in der Weite zu betreiben, wie er 
das hier als deal hinftellt. Dieſer feinerzeit von 
Mad vertretene Michtsalgempirismus ift durch die 
moderne Phnfif fo volllommen widerlegt, daß es 
fih gar nicht mehr lohnt, fih mit folden Behaup⸗ 
tungen wie der Sleifhmannfchen von dem modus 
procedendi des ‚‚ftrengen Forfchers‘ nod ausein- 


322 Natur 


anderzuſetzen. Die Biologie ift jedoch, was nad 
Lage der Dinge nur natürlih ift, immer einige 
Poſttage hinter der Phyſik ber. Der Eritiziftifch 
empirifhe Rückſchlag, den diefe vor SO big 20 
Jahren durchgemacht hat, hat gegenwärtig feinen 
Höhepunkt in der Biologie erreiht. Das ift der 
innere Grund, warum foldbe Stimmen wie die von 
St. fih überhaupt heute noch hervorwagen Fönnen. 
Die nadh einer allzumweit fih vorwagenden fpefula- 
tiven Periode (Haedel) einſetzende Reaktion ift 
ftets proportional der Größe der enttäufchten Er- 
wartungen. Diefe Enttäufhungen find es, die den 
Eindrud erweden, als ob die Biologie im Grunde 
von der ganzen Abftammungslehre überhaupt nod 
nichts wife — einfhwerer Jrrtum, der 
um fo verderblider wird, wenn er 
nun in der Hand von Mfgr. Stib. 
niewsfi und feinesgleihen zum 
Mittel wird, an die Stelle mwiffen- 
ſchaftlicher Forfhung wieder die 
völlig willfürliden Konftruftio- 
nen einer Dogmatif zu fegen, die fid 
für Religion ausgibt, während fie doh nidhts als 
ein Findliher naturphilofophifher Verſuch vergan- 
gener Zeiten ift. 

Die Gefahr, die bier droht, ift 
fein Geſpenſt mehr, fie ſteht 
bereits in voller Größe vor der 
Tür. Es ift deshalb befonders danfensivert, daf 
Männer wie Dacque, mit beflen fonderbaren 
Theorien ih mich im übrigen nicht identifizieren 
will, an fo hervorragender Stelle es offen aus- 
ſprechen, daß fih religiöfes Empfinden mit der 
wiſſenſchaftlichen Einfiht in dag Werden der Or- 
ganismen fehr wohl verträgt. Mur fo entgehen 
wir der furdtbaren Alternative: mit der Wiflen- 
ihaft zum Unglauben oder mit dem Glauben in 
die Barbarei. Wenn die Amerikaner in ihrer ge» 
famten geiftigen Verfaſſung nichts anderes als 
diefe Alternative fertig befommen follten, uns 
Deutfchen geziemt es, uns auf unfere Führerrolle 
auh in diefem Punkte zu befinnen und alg erftes 


Wolf zu der neuen Faſſung der alten Wahrheiten 


u kommen, die nötig geworden ift, nachdem drei 
Jahrhunderte erfolgreiher Forſcherarbeit unfer 
Weltbild von Grund auf umgeftaltet haben. Da f 
die „Münchener Neueften Nadhrid- 
ten” durdo die Disfuffion einer 
Reihe unferer beten Forſcher Ge. 
legenheitgegeben haben, in diefem 
Sinneyumwirfen,feiibnenals Ber- 
dient hodh angeredhnet. 

Es bleibt noh übrig, zum Schluß ein Wort 
iiber die Debatte zwiſchen Kaup und Len; zu fagen. 
Hier fpielen offenbar politifhe Motive hinein. Die 
Ergebniffe der modernen Raſſenforſchung find ge- 


Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umſchau. 


wiffen politifhen Strömungen höchſt unbequem 
und deshalb wird dagegen Sturm gelaufen. Ten; 
verweift in feiner Erwiderung auf die in deutfcher 
Ueberfeßung erfchienenen Bücher von Madiſon 
Grant und Stoddard. JH Habe unter den 
Literaturbefprehungen diefer Nummer erfteres 
ausführlih angezeigt und benuge diefe Gelegen- 
heit, unfere [Lefer auf das zweite erft recht 
binzuweifen. Es heißt: „Der Kulturumfturz, 
die Drohung des Untermenfchen” und ift wie das 
erfte im Verlag Lehmann in Münden erfchienen. 
Diefes Buch wirft erfchütternd, ſowohl durch die 
Wucht der mitgeteilten Tatſachen, wie durch den 
Tiefbli bis zu den Testen Wurzeln aller unferer 
Revolutionen. Der WBerfafler zeigt, dag niht 
wirtfchaftliche oder fozinle Verhältniſſe zulegt das 
Ausfchlaggebende find, am wenigften bei der ruf- 
fiihen Revolution und der internationalen Sow- 
jetpropaganda, fondern daß es fih dabei legtlid um 
die Empörung des „Untermenſchen“, d. i. des für 
die erreichte Kulturböhe einfach erblich nicht reifen 
Volksteils gegen diefe Kultur felber handelt, die 
eine ihm nicht angemeflene Umwelt darftellt, un d 
daß diefe Empörung automatifd 
tommen muß, weil und wenn die 
Vermehrung diefer minderwerti- 
geren Volkselemente, wie es heute bei 
uns und vordem in allen auf diefe Weife zugrunde 
gegangenen alten Kulturen der Fall it, erheb- 
Iıhftärfer ıiftalsdiederhöberwer- 
tigen. Die von Stoddard aus der ruflifhen und 
franzöfifhen Fommuniftifchen Literatur beigebrad- 
ten Zitate zeigen bhandgreiflih, daß der Sag: 
‚Alles muß verungeniert werden” tatſächlich bei 
der großen Maffe der Revolution machenden Prole- 
tarier (nicht natürlih bei den geiftigen Führern) 
die Grundftimmung wiedergibt, und daß unfere 
Eulturfreudigen Sozialiften in einer boffnungslofen 
Doppelrolle fteden bleiben. Diefes Buch 
follte jeder Deutſche leſen. Es faßt 
den Maffenbegriff (im Gegenfag zu Günther u. a., 
aber im Einklang mit Lenz) nit im biologifchen 
Sinne (alfo als nordifche, alpine ufw. Raſſe), fon- 
dern einfah im Sinne der Rulturwertig- 
feit. Raſſiſch wertvoll find diejenigen Familien, 
gleichgültig welder biologifhen Rafie, die fih in 
zahlreichen ihrer Glieder als Träger hochwertigen 
Erbguts ausgewiefen haben. Die Vermehrung 
folder Familien zu fördern, die der umgefehrt durd 
große Zahl minderwertiger Angehöriger als erblich 
untermwertig erwiefener Familien dagegen nad) 
Möglichkeit zu verhindern, it, wie St. zeigt, der 
einzige Weg, den unvermeidlidhen Untergang unfe- 
rer Kultur aufzuhalten. Wenn er dabei der mo- 
dernen Biologie ein wenig übertriebene Hymnen 
fingt, fie geradezu als das neue Evangelium preift, 


Neue Literatur. 323 


fo möge man ihm das zugute halten. Was er 
fagt, widerſpricht einer recht verftandenen Religion 
nicht. Gott hat dem Menſchen auh die Erfennt- 
nis diefer foziologifhen Gefeke gegeben, damit er 
durd fie, wie durch feine Naturerfenntnis über- 
haupt, das Gute in der Welt fördern und dem 
Uebel fteuern fol. Wer diefen gewiß im Sinne 


Madiion Grant, Der Untergang der großen Raſſe. 
Meberfest von R. Polland. Verlag Lehmann, Münden 
1925. Mit einem Bildnis des Verfaſſers und vier Raffen- 
Tarten. 193 S. Wenn der Ueberſetzer im Vorwort meint, 
die Lehren und Warnungen, die Grant feinen amerifaniihen 
Landsleuten geben wolle, feien aud für das deutfhe Volk 
febr nötig und nützlich, jo ift dem vollftändig beizupflidten. 
Es fei aud gern zugegeben, daß das Bub wirflib fehr 
viel, ganz außerordentlih viel Wiflenswertes enthält und 
insbefondere dur die offenbar febr ausgedehnte Spraden- 
fenntnis des Derfaflers unfere deutihe rein biologiih oder 
Eulturbiftorifh eingeftellte Literatur zur Raſſenfrage wirt- 
lich vorteilhaft ergänzt. Trotzdem fonnte eine reine Freude 
beim Lefen in mir nicht wie bei Günthers Raſſenkunde oder 
erft bei Lenz’ Raſſenhygiene auffommen. Cinmal, weil 
Grant niht imftande geweien ift, den Deutfhen, feinen 
Gegnern im Weltfriege, gerecht zu werden. Aber das fei ihm 
verziehen. Mehr hat midh geftört, daß das Bud, man ver- 
zeib den etwas jchulmeifterlih Elingenden Ausdrud, nicht 
ordentlig durdgearbeitet ift. Der Verfaſſer wiederholt fi 
immerzu, ſagt gelegentlih in zwei Sägen bintereinander 
etwas, was nur balb zuiammenftimmt, bleibt nicht bei feinem 
Gedanfengange, fondern ſchweift fortwährend ab, jo daß man 
oft ganz den Faden verliert. Auch vermißt. man fchließlid 
das Thema gänzlich. Es ift die Rede von den ariſchen 
Spraben und ihrer Herkunft, von der Heimat der nor- 
diſchen Raſſe, von der Geſchichte ſowohl diefer wie der ande- 
ren europäiſchen Maflen und fonft noh von allem Möglichen, 
was an fih febr intereffant ift, nur nicht vom Untergang der 
nordifhen Rafie. Mur zu allerlest an einer ftatiftifhen 
Ueberfiht des Raſſenbeſtandes bon einft und jest kommt der 
Verfaffer wieder auf fein Thema zurüd. Diefe mangelnde 
Konzentration ftört den Genuß febr ftarf, Für eine neue 
Auflage möchte ih dem Ueberſetzer eine völlige Umarbeitung 
empfehlen. Auch möge man den Titel lieber ändern. An 
fih ift das Werf wirflih gut und nützlich zu leſen, es ent- 
hält eine febr vollftändige Darftellung fait aller mit dem 
Maffenproblem zufammenhängenden Fragen. Die phyſiſchen 
Grundlagen der Kaffe, die Wohnfiße der europärfhen Raſſen, 
ibr MWettftreit, ibr Verhältnis zu den Nationen und 
Sprachen und ihre Rolle in den Kolonien bilden den Inhalt 
des erften Kapitels, die Geihichte der Maffen das zweite. 
Hier beginnt Gr. mit einer kurzen Schilderung der Stein- 
zeiten und erzählt dann, was man von der Herkunft und der 
Vorgeſchichte unferer drei Hauptraffen, der alpinen, Mittel- 
meer- und nordiihen Raſſe, weiß oder mit Grund vermutet. 
In den folgenden Abfchnitten werden dann näher die Aus- 
beitung der nordiſchen Rafie, ihr DBaterland, ihre Fähig- 
feiten, ihre Sprache uſw. erörtert. Den Anhang bildet die 
erwähnte ftatiftifhe Ueberſicht. Bt. 





des Chriſtentums liegenden Sag anerkennt, fann 


im Grundjag in Stoddards Aufruf nichts Anti- 
religiöfes finden. Aber unfere Kirchen werden noh 
viel lernen müflen, ehe fie ihrer rein individualiftifch 
eingeftellten Morallehre eine wirklich theozentri- 
ihe, nicht anthropozentrifhe Kolleftiomoral hinzu- 
zufügen imftande fein werden. Ä 





Dr. Robert Scherwatzky, „Erziehung zur reli- 
giöfen Bildung” (Verlag von Quelle u. Meyer, Leipzig 
1925). i 

Wenn man diefes Buh unferes Mitarbeiters lieft, fann 
man fi eines wehmütigen Gefühles darüber nicht er- 


- webren, daß man jelbft jo den MReligionsunterriht nicht 


genoffen bat. Dann wäre uns nicht nur fpäter viel frugt 
lojes Herumtappen erfpart geblieben, viele von ung wären 
auh niht in die Oppofitionsftellung zu allem Meligiöfen 
getrieben worden, weldhe fie nun vielleiht zeitlebens nicht 
mehr verlieren Fönnen. Gewiß, es ift febr ſchwer, der 
Jugend, die noh niht für ihre Lebensenttäufhungen einen 
Troft bei der Religion ſucht, im Unterricht ein inneres Ber- 
baltnis zu ihr zu geben. In feinem Fah ift deshalb aud 
die Grundeinftellung fo entſcheidend, von welder aus die 
Unterweifung erfolgt, wie in dem Meligionsunterriht umd 
es ift von großem Wert, daß Scherwatzky in feinem Buhe 
diefen Vorfragen Tängere Ausführungen widmet. Der 
Schüler it argwöhniih gegen den Religionsunterricht; er 
fürdtet, daß ibm durch denfelben nur DBallaft aufgehängt 
werden foll, der ibm für fem fpäteres Leben nichts nügt, 
vielmehr nur die Entfaltung feiner Perfönlihfeit hemmt. 
Wenn es nicht gelingt, diefes doppelte Vorurteil zu befei- 
tigen, find alle Bemühungen des Religionslehrers nußlos, 
den Schülern etwas für ihr Leben mitzugeben. Es fann 
nur gelingen, wenn in dem Unterriht die Quellen unferer 
religiöfen Bildung wahrhaft lebendig werden. Zur Durg- 
führung diefer ſchweren Aufgabe gibt Sch. gleih eine Fülle 
von bedeufiamften Hinweifen; wie ftellt er z. DB. die alt- 
teftamentliben Propheten in das Leben unferer Zeit ein, 
immer wieder die Fruchtbarkeit ihrer Ueberzeugungen für 
die Gegenwart aufzeigend! Wenn fo erft die Veriebendi— 
gung der religiöfen Quellen gelingt, dann ſchwindet aud 
das zweite Vorurteil des Schülers faft von felbft, die 
Furcht, ihm folle durd die religiöfen Lehren die Freiheit 
feiner Entwidlung geraubt werden. Denn auf diefem 
Wege ftellt fih der Lehrer felbft ein in den Kreis der un- 
gelöften Gegenwartsfragen, tritt jelbft als Sudender nad 
Antwort auf fie den Schülern gegenüber, allerdings als ein 
folder, welder weiß, daß die entgültige Antwort nur durd 
die religiöje Erfahrung gegeben werden fann. Der reli- 
giöfe Unterriht wird aus einer Bewältigung von Lebrftoff 
ju einer „„Arbeitsgemeinfhaft der Suchenden“, aus einer An- 
eignung von Wiffen zu einer religiöfen Handlung felbft, 
dem gemeinfamen Suchen nah Gott und dem zur Gemein- 
ſchaft verbindenden Finden feiner Herrlichkeit. EFTE 3 

Zeitwende, Monatsihrift, herausgegeben von Tim 
Klein, Otto Gründler und Friedrid 
Tangenfaß, €. 9 Beckſche Verlagsbuchhandlung 
Münden. Die beiden uns zur Beſprechung vorgelegten 
Hefte rechtfertigen im ganzen genommen die vielfah ge- 
begte Hoffnung, daß diefe Zeitihrift in ähnlicher Weiſe 


324 _ 


wie das katholiſche „Hochland“ und die „Stimmen aus 
Maria Laag” zum Kulturblatt des dertſchen 
Droteffantismus werden könnte und folte Auf- 
läge wie z. B. der von Bol; über den Gott des Alten 
Teftaments oder von E. Hirſch über den Larfenfhen No- 
man „Der Stein der Weiſen“ verdienen die weitefte Ver⸗ 
breitung. Aud fongt fand id fehr vieles Schöne und Ge- 
diegene in den beiden Heften. An einem Aufſatz aber habe 
ih ftarten Anftoß genommen, das war der von Ellwein 
über „Reformatoriſcher Proteftantismus und Deuprote 
ſtantismus“. Diefer Aufſatz enthält eine glatte Abiage der 
Religion an die Kultur. „Wir Lönnen heute nur ent- 
weder uns auf die Seite der modernen Kultur ftellen ober 
Proteſtanten fein. Zwiſchen beiden haben wir die Wapi. 
Beides zugleih geht niht an”. Wenn diefe Säge Pro- 
gramm der neuen Zeitfhrift werden follten, fo ſtehe ih nicht 
an, zu wünſchen, daß fie möglihft bald wieder in der Ber- 
ſenkung verfhwinde. Aber hoffentlih ift der genannte Auf- 
fag nur ein Stimmungsbild, wie es in gewiflen modernen 
yroteftantifhen Kreifen ausficht. Wer dabei aber tertius 
gaudens ift, braudt wohl faum ausgeführt zu werden. ` 

©. MRolffenftein, Das Problem des Unbewußten, 
Verlag Püttmann, Stuttgart. Heft 5 der Fleinen Schriften 
zur Geelenforfhung, berausg. von A. Kronfeld, Berlin. 
Ein ausgezeihnetes Schrifthen, dás mit großer Sachkennt⸗ 
nis auf dem Gebiete der modernen Pindologie, insbeſondere 
auh der Pſychoanalyſe, philofophiide Weite des Blicks ver- 
einigt. Die Grundfrage, die der Verfaſſer erörtern will, 
ift die nadh der Exiſtenz und der ev. Bedeutung eines „un- 
bewußten Seelifhen”. Wiele Philoſophen und Pſychologen 
haben in diefer Zufammenftellung einen Selbftwiderfprud 
gefehen, da Seeliih-Bewußt fei. Das fog. Uebewußte 
erflären fie für Phyſiſches (Gehirndispofitionen). Der Ber- 
foffer kommt zu dem Ergebnis, daß awar mande der von den 
Vertretern des Unbewußten herangezogenen Argumente nidt 


ſtichhaltig find, daß aber gewiſſe Erfcheinungen vor allem 


die „‚mittelbaren Aſſoziationen“, die poſthypnotiſche 
Suggeſtion und gewifle von Freud u. a. fefigeftellte Tat- 
ſachen doh zugunften ber Hypothefe des LUnbewußten 
fpreden. Jn der zweiten Hälfte erörtert er dann die Be- 
deutung bes Unbewußten in der Pſychoanalyſe. Die Schrift 
fei wärmftens allen TSnterefienten empfohlen. 

Imago, 3S. für Anwendung ber Pſychoanalyſe auf 
die Geiſteswiſſenſchaften. Herausgegeben von ©. Freud. 
Pſychologiſches Heft Nr. 1/2 1925. internationaler pſycho⸗ 
analytiiher Verlag Wien. ME. 13,50. Mit Beiträgen 
von Miüller-Braunfhrweig, Weis, Harnik, Furrer, Sperber, 
Wulff u. a. Don diefem Hefte mehr als zwei Aufſätze 
hinter einander zu lefen, hält ein normaler Menih nidht aus. 
Wer wiffenfhaftlih zu benfen gewöhnt ift, muß und darf 
hinaus fein über das Anftoßnchmen an der Erörterung von 
Dingen, über die man fonft nit äffentlih fpriht. Aber ein 
folder Panferualiemus, wie ihn die Pſychoanalyſe nad 
diefem Heft darftellt, überfleigt alle Grenzen. Man legt 
das Heft mit dem Cindra aus der Hans, dab 99 Prez. des 
gelamten menfhlihen Lebens im Seruellen wurzeln. Und 
das ift offenbarer Unfinn. Es mag an der Pſychoanalyſe 
viel Rictiges und Wapres fein. Jn diefer Einfeitigfeit ift 
fie auf falihen Wegen. An diefem Urteil wird arh dadurd 
fit) nichts ändern laffen, daß Freud allen, die diefes Urteil 
ausiprehen, ohne weiteres nad feiner pſychoanalytiſchen Me- 
thode als Motiv der Ablehnung verbrängte Afferie auf den 
in Frage ftehenden Gebiet unterlegt. Durd dies Verfahren 
wird die Debatte nicht gerade genußreiher. Gin gang 
anderes und fpmpathifheres Bild von dem, was Pſychoana⸗ 
Ipfe ift oder dodh fein fann, entwirft uns ein Buch eines 
feiner Schüler. 


Nene Literatur. 


Dr. €. Haeberlin, Geunblinien der Pſychoaualyſe, 
Münden, Verlag der Aerztlichen Rundfhau 1925, ME. 3. 
Dies Büchlein fann id mit gutem Gewiflen einem jesen 
empfehlen, der fih über das neue und heute fo außerorbdent- 
lich viel befprodhene Gebiet der pſychologiſchen Forſchung 
unterrihten wil. Auch Aerzte, die fih noh niht genauer 
genauer mit dem Gegenftande befaßt Haben, werden zur 
erften Einführung in diefem von einem Arzt und Sachkenner 
geihriebenen Bude viel ſchätzenswertes Material finden. 
Es gibt in vier größeren Kapiteln einen Ueberblid über die 
Theorien des unbewußten Seelenlevens, über Freuds 
Theorien, über die pſychoanalytiſche Methodik und die vom 


. Verfafler für unbedingt erforderlih gehaltene Ergänzung 


der Analyfe durch Syntheſe im Sinne von Adler, Jung 
n. a. In einigen weiteren kurzen Schlußkapiteln werben 
nog die Fragen, wer analpfiert werben foll, wer analpfierem 
Tann u. a. erörtert. Die kleine Schrift zeugt von eben fe 
viel Sachkenntnis wie tiefer rein menſchlicher Weisheit und 
läßt überall durchblicken, dag ein im legten Grunde frommer 
Sinn hinter ihr flieht. Auch unfere Pfarrer feien deshalb 
auf fie hingewiefen. Mit folgen Aersten wie dem MWerfaffer 
zufammenzuarbeiten wird ihnen nur Freude und Anregung 
bringen. 

Weniger befriedigt hat mid ein anderes Buh des gleichen 
Verfaſſers Dr. €. Haeberlin, Vom Beruf des Astes, 
ebenfalls Münden 1925, ME. 3. Aug aus ihm ſpricht ein 
reifes und tiefes Erleben aller äußeren und inneren Möte 
und auch aller Befriedigung, die der Beruf des Arztes zu 
verurſachen imftande ift, man fühlt an vielen Stillen, daß es 
mit Herzblut gefchrieben ift. Alles in allem erfdien es mir 
aber ein wenig breit und zu viele Selbſtverſtändlichkeiten 
enthaltend, als daß es einen flärkern Einbrud machen 
Tönnte. BE. 


Franz Kof mat, Paläogesgraphie (Geologiihe Ge 
ſchichte der Meere und Feftländer). Dritte, neubearbeitete 
Auflage. Mit 7 Karten. 146 Seiten. Sammlung Göshen 
Band. 406. Walter de Gruyter u. €o., Berlin W. 10 
und Leipzig. 1924. Preis Goldmark 1.25. 

Das vorliegende Bändchen „Paläogeographie“ felt fé 
bie Aufgabe, die Umformungen ber Zeftländer und Ozean- 
böden von den älteften, der Forſchung zugängliden Abſchnit⸗ 
ten der Erdgeihichte bis zur Gegenwart in großen Zügen 
zu verfolgen. Die ftändige, durch Feine erbumfpannenhen 
Kataftrophen gewaltfom unterbrohene Umprägung ber Erd- 
rinde þat nit nur die Derteilung von Land und Meer 
und den DBerlauf der Gebirge betroffen; es ift nichts lon- 
ftant geblieben, aud nicht die Lage der Pole. Er gehört 
zu den lodendften Problemen der Geologie, den Bezich- 
ungen nachzugehen, bie dieje Erſcheinungen untereinander 
urfählih verknüpfen, und die Einwickungen zu unter 
ſuchen, die fie auf die Geſchichte ber belebten Welt aus- 
übten. 

Z. M. Feldhaus, Tage der Technik. Teqniſch⸗ 
hiftorifher Abreißkalender für 1926. (R. Oldenbourg, 365 
Blatt, 365 Abb., 5 ME). Der bereits aufs befte einge» 
führte Abreißfalender „Tage der Technik" erfheint in völlig 
neuem Gewande für das neue Jabr 1926. Reichhaltig 
und vielfeitig wie immer, wird er eine fhöne Gabe für ben 
Weihnachtstiſch bilden. Das Format ift verbreitert 
worden, fo daß die Bilder gegenüber früheren Jahrgängen 
nod gewonnen haben. Die Anordnung ift überaus lobens- 
wert; aud die gemütvolle Seite kommt in Taunigen Verſen 
zu ihrem Redt. 


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