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Unfere Welt
Illuſtrierte Zeitſchrift
für Naturwiſſenſchaft und Weltanſchauung
—— 6
Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrten
in herausgegeben vom Keplerbund :-:
Shriftleitung: Prof. Dr. B. Bavink
17. Jahrgang
1925
QELI
Naturwiſſenſchaftlicher Verlag, Abt. des Keplerbundes,
Detmold.
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Anhalt des fiebzehnten Jahrgangs (1925).
Heft Seite Heft Seite
è z 3 NRaturmifienihaftt nrd Melt:
A. Driginalauffäge. — von M. —
arpia ana —— 157 6 Biahlbauten, Die Bert der -,
8 U fotutes, Bom Relattven von R. Wels 2 139
um —, von B. Bavint 185 10 gronini eorie, Die, "von
i — — — — ihr 81 11 Suantentheorie, Die, von B. *
g b ° vIn . . . . . . . . .
1 gualdien- —— er 310 12 Schule von Nancy, Die Bedeu:
1 Altronomie "und" Weltanfhaus one Dr Be, —, von Br. 297
Soa bri grieHilhen Fhilofop 5 9 2 Seetifhes eilverfahten, von
2 Mironomie_ in ertani n 11 ismus — Gedantenlefen, =
Don Y g Gi Tas er 33 l ren. Tiere — en⸗ *
3 Mttonomie und Weltanfhau- eierei, DOn einmann
9 Sterne, Etwas über — und
ung be bei gie: iihen Philoſophen, = etmas mehr über, einen Ster» —
nenſeher, von ietor .
j Saunfionen, Dos Stuben | der 303 4 Sterne en Wie man —
Su Ballen Syogermenen „gend 10 ne gnfettion, Eine neue >
—— von M. Müller i Behandlung der bösarti a Ge: *
ran der Honigbiene, von wülfte dur m gpn okmag
— ehe ‚DaninDiene, — 226 12 ee Pic zölung des
4 — und Wirt» = ne en der —, von M. ar ši
eit, von einmann . . .
10 — ⸗ Debapparate, * 4 Sinbfeaftiift, È Das neue —, 86
9 —— Die — vor 12 eietsunteriale on Pilane
Gericht, von M. MüllerLage 233 - 1 ao Tier, von 9 i . 308
11 Jernlinematographie, Wege zur 2 tervorherfage für , von 6
eleftriihen —, von B. Freund 279 aspegtes . . e e
2 Genius, Das roblem es — 1 Uebel in der Weit, as
im Lichte der aturmiflenigaft, Problem des —, von B. Bapint 1
von R. Scerwaßty . 36 2 Uebel in der Welt, Das
11 Genoſſenſchaftsleben Vom BVroblem des —, von B. 'Bavint 25
unferes grünen f — en 3 Uebel in der Welt, Das
mit Algen, von A. 284 Broblem des —, von B. Sovint 49
10 Heilung und jeetifgje ale ing 5 Uebel in der elt, Ju 8
dur) bewuß utofunge ion roblem .
nah Coué, von Fr teni agert u: 2 ah a et, re LAD
2 Seh $. Bönte . u
elium, von $. Bönfe . .
2 —* Wellen, Der Sie ess B. Naturbeobachtungen.
ug der —, von ©. v. Hael. 40
8 Bier, er — auf Erden, Anfragen, 43.
R. Kikbau 194 Den
8 Sat Shane. Zwanzig | eona tungen aus dem ZLejerfreife, 42,
— te —, von C. Dorno 200 Keine Beiträge, 42, 121, 235, 263.
5 Antuition und Sniuitionismus, er 2 '
von W. Bruhn . 105 ,
——— zus nn deut: * C. Naturwiſſenſchaftliche und
in der Satu non ©. dr naturphiloſophiſche Umſchau.
torius . 175
5 Kepler, Bon — zu Leibniz, von morgan ine — enſchaften, 21,
10 M —2 — Da vn 28b, Stu. 0.12.20,"
DES Don i — In o 241 Biologie, 22, 1, 69, 94, 124, 153, 181,
7 Kohleniager, Die — der Erde, 205, 236, 208, 315.
von Lohmann . . . . 177 Naturphilofophie und ee Hamna,
9 Laufitzer Kulturkreis, Der —, 70, 95, 125, 155, 206,
von K Wels . 217 Verfchiedenes, 155, 183, 3
6 —— enwartsbebeu: ai
ung, von ahnte . 2
7 Leibnizens _ Gegenwartsbedeu: D. Ausſprache.
i tung. Bun ; an b 169
ichtinterferenzen, echniſche t der Medien, von Hahn,
F moen unn, der —, von Gel: i 3 OTA , a on 67
i 12 Biologifhe Gru lagen er Cr:
11 Debiumismus, De "Der r phohfatiice Er ebuna. Don ol Haner . 313
gm. IM u 4 Entwitlungstehre und Religion,
4 TAER und, Weftanfein > Son Aboli Mader. a 89
6 Nahrungsmittel, Die Chemie 5 Entwidlungsichre und Religion,
dee — und ihr Abbau im von Muller, Würtenhain . . 123
menfchlihen Körper, von Güße 146 8 Entwidlungsiehre und —— *
9 Naturvölter, Deniformen der von €. Dorr. . 202
—, von R. Thurnwald . 213 10 Evolutionstheorie vor Gericht,
5 a et Die moderne von Adolf Mayer . 264
— auf dem Wene zur Meta- 10 Epvolutionstheorie vor ` Geridtt, u
phyſik, von R. Scherwartn . 109 von B. Bavint . 2 2020.20. W
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12 — in a a Das —,
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10 Bom Relation zum ein. e
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3 Tunderfrage, ur, v von 6. Sep.
mann .
E, Hutorenoeryeiónis
Seite
anore; g di
Bavink, 101, 157, 185, 253, 264, 286,
Bin. 9., 41.
Bourguin, 86.
Bruhn, W., 105.
Buſſe, L., 310.
Dörr, E., 202.
Dorno, È., 200.
Gelfert, 18, 245.
Fonie 146.
am o E 313.
el ©. v., 40.
acobs,
erzberg, i —
ikhauer, R., 194.
Klodenbring,
Koßmag, 250
Fr., 31, 297.
Raspeyres, 20.
Leßmann, 65.
Lohmann, ni 177.
Mahnte, D., 129,
Mayer, Ad.,
Meth, 33, 6.
Müller-?age, M., 60, 85, 117, 233, 301.
169.
25. 49, 89, 264, 313.
sg; 5
Müllers-Lemgo, 38,
Dülfer-Würtenfain, 123.
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© A —* ya 109.
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Wietor, A., si, 227.
Weihe, 2
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Wels, R.
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11
73, 269.
9., 139, 217.
F. Befprechungen.
Aſtronomle.
enſſen und Schwaßmann,
leme der kosmiſchen Phy:
St N, ⸗
eae Mrenanıier Jet
Biologie, FZoslogie, Botanik.
André, H., Der Weſensunter⸗
EP la Pflanze, Tier und
griidh, R. v., „Sinnes nesphufiofogie
und Sprache ienen .
—— i, —— Borftig
Lenz, Fr. er Die
ſchen — der Erziehung
Geographie und Wetterkunde.
Koßmat, Fr., Paläogeographie
—— ©., Weltreifegedans
Witte, 3., Sommerfonnentage
in Japan und China. . .
biologi:
24
238
212
238
240
324
296
296
SE Phyſik, Chemie und Technik.
-~I
Dannemann, r., Die Anfänge
der erperimentellen Forſchung
und ihre Ausbreitung
Feldhaus, F. M., Tage der
Fehnit Bra Pr ana 4
Fuchs, Pr. Die eleftrifhen
Strahlen und ihre Anwendung
184
324
184
an wpe wa œ
an
Dahn, R., —— der Phy⸗
Helffenftein, AX., Das Weſen
le * di $ iti fi teit
eller Ye e Haltlofigfe
der Relativitätstheorie : j
Roth, W., Die Entwidlung der
Chemie zur a aft. .
Ruflell, B., ABC der Atome
Strömer
KR., Aus den Tiefen
des Meltenraumes bis ins Ins
nere = Atome
art, Die Entwidiung der
Übeniihen Großinduftrie
—— a Anthropologie.
lof und Traum
ejunb en = Tranfen Tagen
— ar Untergang der
Kae A , Bom Beruf des
rgtes .
Kügelgen, r. v., "Die "Mangel:
Ecantheiten gg @olfaminsien)
Baerting, Der Baterihug
Bhilojophie, Weltanihanung,
on und Upologetif.
After Raum und Zeit
in bet Setchichte der T Bhilojophie
Behn, S., Die Wahrheit
Wandel der Weltanfhauung - S
Bry, Verkappte Religion
PA euer Şt., Reben, Fatur,
eli
Dried. To. Jiet taphy it
Engelhardt, R. D Organifche
Aultur
Ellwood, Ch. A, "zur Erneue-
rung der Religion
Ernit, W., Der moderne Menih
Grave, Fr., Das Chaos als obs
jeftive de À
Graeter, A. S., Das Werts und
Seite
127
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323
324
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72
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211
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268
126
Inhaltsverzeichnis.
Heft
RX
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el :
Henfeling, R , Das Werben und
Weſen der Aftrol ogie. . ;
Heußner. KI., Rantwörterbuf
Kiefl, 8. 9., Leibniz und die
teligiöfe MWiedervereinigung
Plan 5 ;
Kühnel, ., 3iele und Wege .
ie Kulturkrifis der
Leeſe, RY
Gegenwart und die Kirde .
Qiepmann, W., Weitihöpfüng
und Weltanfhauung .
Mahne, D., Leibniz
Goethe, die Harmonie
Weltanfihten . —
Diller, A., Einleitung in die
Vhilofophie A
Müller, W. Gottentfaltung, die
werdende Weltanfhauung und
Rel ur A
J—— Der Geift der Wiſfen⸗
Defterreid, T. R., Das Welt:
bild der Gegenwart . ;
Rüther, €., Auf Gottes Spuren
Sapper, R., Das Element der
Wir lichleit und die Welt der
—25 —
erwatzki, R., Erziehung ut
zeligiö en „bun
Si Sleid, € 5 läuten die
Schmid, B., a "und wir
Schreyuogel, F., Katholiſche
Revolution . .
Simme, 6., Fragmente und
Auffä
u ber. m, Bener
Zeitwende —
Ziegler und nn Welt:
Pae ehung in Sage und Willen:
gäimmer,. €., Vbiloſophie ber
und
ihrer
und
Seite
211
72
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240
209
Heft
11
12
12
11
wo
o P œ e
10
Piyhologie und Parapſychologie.
— Ch., Die Macht in
Baudouin Ch., Sſuggeſtion und
Autofuggeltion . .
Bierens de Haan, Die Bedeu:
tung der Suggeition und Hyp»
noje = die Frziedung —
riedländer, igenes und
remdes zu Breunjnen
a aoo: :Analnfe
Hieſe, Fr., Die Lehre von den
Gedantenwellen .
Häberlin, C., Grundlinien der
iſychoanalyſe
mago, Zeitfchrift für Anwen:
dung der Pſychoanalyſe auf die
Geilteswifien IROA
Mattiejen, Der jenfeitige
enſch
Diüller-reienfels, R., Grund:
piae einer Kebensp nchologie .
terreih, T ie philofos
flden iſche — der medumi⸗
i
a
—
Phänomene
* W., Das Forſchungs⸗
gebiet des Oftultismus .
Bun E., Licht und arben im
ienjt des Boltswohles . .
Rolfienitein, Das Problem des
Unbemubten . >
Gigerus, , Die Telepathie ;
Tifchner, J: Geſchichte der ok⸗
fu tiftiichen (metaphyſiſchen)
FJorſhung von = Antite bis
IR egenwart. 2. Teil. . .
©., Otfultismus und
AA nen igalt an en
und Goethe. .
Beriiedenes.
Damaſchke, A., Vortsmmiide
Redelunit . .
Herder, Der tleine —, .
Seite
99
295
210
100
210
324
324
212
294
48
99
210
324
210
——
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR NATUR?
WISSENSCHAFT UND WEITANSCHAUUNG
XVII. Jahrg. Januar 1925 Heft 1
Herausgegeben Schriftleitung :
vom A Professor
Keplerbund — Dr. Bavink
=
Detmold = Bielefeld
% 6
Das Problem des Uebels in der Welt. Von B. Bavink. ® Astronomie und
Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr. Paul Meth. ®
Technische Anwendungen der Lichtinterferenzen. Von Dr. Gelfert. ® Wetter-
voraussage für 1925. Von Stadtbaurat Laspeyres. ® Naturwissenschaftliche
und naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur.
NATURWISSENSCHAFTLICHER VERLAG DETMOLD
„UNSERE WELT“
erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post oder Buchhandel, viertelj. 2— Goldmark.
Unmittelbar vom Verlag bezogen und fürs Ausland, zuzügl. Versandunkosten, 2.30 Goldmark. Der Brief-
träger nimmt Bestellungen entgegen. Anzeigenpreise: Die 4 gespaltene 1 mm hohe Kleinzeile 15 Gold»
pfennig. Bei Wiederholungen angemessener Rabatt. Anzeigen-Annahme bis 15. des Monats.
Oesterreich: Postsparkasse Nr. 15603b. Schweiz: Keplerbund-Postscheckkonto: Zürich Nr. VIII. 10635.
Holland: H. J. Couvee, Amerongen, Postrekening 17927. Amerika: Rev. W. Meinecke, Chicago (Jll.) 5131
So West 54 St. Mexiko: M. Lassmann, Apartado 549 Mexiko D. F.
Alie Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. Verlag od. Geschäftsst. des Keplerbundes, Detmold.
der zweiten in unserem Ver-
Inhaltsverzeichnis $e 5 „Der Naturfreund‘“.
Astronomie und Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr, Paul Meth. ® Winternacht.
Von Reinhold Fuchs. ® Skizzen aus Italien — Sizilien. Von Dr. E, Lücke, ® Inka-Tänze. Von Dr. Hartwig. ®
Schneehals. Von Wilhelm Hochgreve. ® Etwas über Algen und ihr Studium. Von C. R, Vietor. ®
Januar. Von Heinrich Osthoff, ® Häusliche Studien. ® Kleine Beiträge. ® Aussprache. ® Naturwissen-
schaftliche und naturphilosophische Umschau. ® Der Sternhimmel im Januar. ® Neue Literatur.
Natur und Technik: Das neue Windkraftschiff. Von Hans Böurquin. ® Kleine Beiträge. ® Rück-
— — — \koppelungsschaltungen. Regenerativempfänger. Von Studienrat Möller. ® Wie
baue ich? Von Studienrat Möller. ® Funk-Allerlei. Zusammengestellt von W, Möller, ® Kurzer Rückblick
auf den Werdegang des deutschen Unterhaltungsrundfunks. Von W. Möller.
-
Janus-Epidiaskop
(D. R. P. Nr. 366054 u. Ausl.-Patente.)
mit hochkerziger Glühlampe zur Projektion von Papier- u. Glasbildern !
ZUR BEACHTUNG ! Nach vorgenommenen Verbesse-
rungen konnte die Lichtstärke bei der episko-
pischen Projektion auf etwa das 6 fache gegen
Der Apparat weist
früher gesteigert werden.
jetzt geradezu verblüffende Leistungen auf und
übertrifft jedes ähnliche Fabrikat bei niedri-
gerem Preise.
Ed. Liesegang, Düsseldorf = =
Aelteste deutsche Sonderfabrik für Proj.-Apparate, Kinematographen und Lichtbilder.
Gegründet 1852.
B. Bavink, Ergebnisse u. Prob- | ESSENER ST
leme der Naturwissenschaften
3. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, 450 S.
(Verlag von S. Hirzel, Leipzig 1924)
„Als Einführung in die moderne Naturphilosophie ist das Werk
in seiner sachlichen und klaren Darlegung aller in Betracht
kommenden Wissensgebiete vorbildlich. Wer den Stand der
modernen Naturforschung kennen lernen will und das Bedürfnis
nach einer Weltanschaung hat, die mit den Tatsachen des Welt-
geschehens in Einklang steht, der wird in diesem Buche, wie kaum
in einem anderen finden, was er sucht“.
(Leipziger Neueste Nachrichten.)
„Hier liegt ein Werk vor, das den Namen der Naturphilosophie
in geradezu idealer Weise rechtfertigt, insofern es die gesamten
Naturwissenschaften . . bis in ihre jüngsten Probleme hinein zur
Grundlage nimmt. . . Objektiv und sachlich von Anfang bis
Ende, . . ist die Behandlungsweise mustergiltig und vorbildlich für
den streng wissenschaftlichen Charakter einer echten Naturphilo-
sophie. „ .” (B. v. Kern im Arch. f. Syst. Philos. Bespr. der 2. Aufl.)
"Aehalch glänzende Besprechungen in der gesamten Fach-
und allgemeinen Presse, z. 5. Naturw. Wochenschr. (A. Meyer-
Hamburg), Phys. 2tschr. (W. Gerlach), Dt. Lit. Ztg. (V. Haecker-
Halle) u. a. m.
Erlöſung ohne Religion -
durch MWiffenfchaft, Runft
und Sozinlgeftaltung?” .
Bon Univ.-Prof. D. Schr. von Soden: Breslau.
Das Schriftcdhen
verdient weitejte Derbreitung.
Umf ang 30 Seiten Klein-Oktav. Preis 45 Gpf. Wir
bitten bei Bejtellung den ey auf Poſtſcheck-Konto
44 744 Hannover, zuzügl, Spl Porto einzuzahlen.
Für unjere — y a Vitglieder: 10 cents.
— ———— Verlag, Detmold.
Schreiben Sie bitte stets bei Anfragen oder Bestellungen „Ich las Ihre Anzeige in „Unsere Welt“.
WMuftrierte Zeitigrift für Naturwillenihaft und Meltauianung
Herausgegeben vom Naturmwifjenichaftliden Verlag des Keplerbundes e. V. Detmold.
Poſtſcheckkonto Nr. 45744, Hannover.
Schriftleitung: Prof. Dr. Bavint, Bielefeld.
Für den Inhalt der Aufläge fiehen de Verſaſſer; ihre Aufnahme magi fie nicht zur Aeußerung des Bundes.
XVIL. Jahrgang
Januar 1925
eft 1
Dag Droblem-deg Uebels in der Welt. Bon B. Bavint.
I.
In einer Reihe von Auffäßen (Br. Ztſchr.)
Nr. 7 und 8, 1923; Nr. 2 und 3, 1924) habe ich
verfucht, die wichtigsten Tragen, welche alf dem
Grenzgebiet der Religion gegen die Natur-
wiſſenſchaft entfpringen, im Sinne der in Nr. 4
1923 veröffentlichten Thefen zu beleudhten. Mit
dem hier gejtellten Thema gehen wir nun einen
weſentlichen Schritt weiter, als mit den bisher
behandelten Fragen. Diefe betrafen im weſent—
[hen reine Tatfadhenfragen und foldye Fragen,
die fih auf die Erflärung von Naturtatſachen,
d. b. ihre Einordnung in ein geordnetes
logiſches Syſtem beziehen. Nunmehr aber
wollen und müflen wir uns in das Gebiet der
MWerturteile begeben, in das Gebiet, wo es
fi) nicht allein mehr darum handelt, was ift und
wie etwas zufammenhängt, fondern darum, was
als feinfollend gelten foll, was als „gut” oder
„Ichlecht”, als „häßlich” oder „ſchön“ empfunden
wird. Troßdem gehört auch unfer Thema zwei:
felsohne noch in eine Naturphilofophie hinein,
infofern es vielfach auch Tatfachenurteile find, die
bier zur Debatte ftehen. Es wird 3. B. behauptet,
daß die Tiere Schmerzen, ähnlich wie bie
Menfchen empfinden, oder es wird diefe Bes
hauptung in Abrede geftellt. Das ift an fih außer
allem Zweifel eine reine Tatfachenfrage und ge-
hört als folche in die Naturmwiffenfchaft, genauer
in die Tierpfgchologie. Wir werden fehen, daB
nod eine ganze Reihe weiterer naturwiffenfchaft-
liher Fragen in unfer Problem hineinfpielt und
jo wird man mid) hoffentlich nicht ohne weiteres
der Ueberjchreitung der Grenzen beichuldigen.
Auf der anderen Seite reicht unfere Unterfuchung
allerdings ehr weit ins religiöfe Gebiet hinein,
ja wir werden fehen, dab wir hier vor der Kern⸗
frage unferer heutigen religiöfen Lage ftehen.
a
@
Um ſicheren Boden unter den Füßen zu haben,
wollen wir aber zunächſt das Leiden und das
Sterben als rein naturwiſſenſchaftliche Tat—
ſachen betrachten.
Wann und auf welche Weiſe aus den an:
Icheinend völlig empfindungs» und willenlofen
anorganifchen Stoffen zuerſt auf dieſer Erde
Leben wurde, ift für unfere Erörterung belang:
los. Wir nehmen es einmal als gegebene Tat-
jahe hin, dap es diefe merfwürdigen Stoff:
tomplere gibt, die von der leblofen Natur fich fo
deutlich Dadurch unterfcheiden, daß fie imftande
ind, in allem Wechſel äußerer Bedingungen
(natürlich innerhalb gewiſſer nicht zu übers
ſchreitender Grengen) ihre charatteriftifche Form
zu bewahren, ja vdiefelbe fogar bei teilmeifer
Zerſtörung wiederherzuftellen, den umliegenden
Stoff fih zu „aflimilieren” und fchließlich, fei.es
durch einfache Teilung fih in gwei einander und
dem urfprüngliden Weſen gleiche „Tochter:
organismen“ zu teilen, oder auf vermwideltere
Weife fih felber ähnliche „Nachtommen“ zu er-
zeugen. Jn diefen Eigenfchaften ftimmen alle
Lebeweſen überein, und durch fie unterfcheiden
fie fih von der lebloſen Natur (unbefchadet eines
etwaigen Nachweifes von Uebergängen, der uns
bier nicht intereffiert). Nun gibt es aber außer
diefen äußerlich fichtbaren Eigentümlichteiten
noch eine weitere und zwar die wichtigjte Eigen-
Tchaft der Lebeweſen: fie befigen ein ünnen»
leben, ein feelifches „Erleben“ neben dem rein
äußerlihen körperlichen Dafein. Es hat aller:
dings gelegentlich Forſcher und Denter gegeben,
die geglaubt haben, ein foldes nur dem
Menſchen zufprechen zu dürfen; fo hat 3. B. der
Philofopd Descartesdie Tiere und Pflanzen
als reine Mafchinen angefehen willen wollen.
Diefe Auffaflung hat fih indefjen niemals ernft-
2 nn
lih durchſetzen können. Zu weitgehend find die
Analogien zwiſchen dem Verhalten zum min-
dejten der höheren Tiere und dem des Menfchen.
Wollte man jedes feelifche Erleben aud bei
diefen in brede ftellen, fo müßte man folge:
richtig auch Das Geelenleben des Mitmen-
jhen leugnen. Denn von diefem wiffen mir
tatfächlih doh auh nur etwas durch irgend
welche körperlichen „Ausdruds - Bewegungen“,
denen wir das feeliiche Erleben unterlegen nad
Analogie mit unferem eigenen Verhalten. An
diefem Grundjachverhalt wird nichts dadurch
geändert, daß der Menfch die überaus verwidelte
Ausdrudsbemegung der Sprade vor den Tieren
voraus hat. Wer etwa einen von einer Kugel
getroffenen Menſchen jchreien, fih winden und
frümmen Sieht, der braucht durchaus feine
ertitulierten Laute, um zu wiffen, was Der Ge-
troffene empfindet, deffen Sprache er vielleicht
gar nicht einmal verjteht. Es genügt hier völlig
die unmittelbare Einfühlung, die fchon das ganz
tleine Kind betätigt, das beim Anblid und An-
hören des weinenden Schweſterchens mit zu
weinen anfängt. Nun liegt die Sache aber bei
einem angefchoffenen Tier unter Umjtänden
genau ebenfo, und darum hat auch im Ernſt
niemand in folder age je daran gezweifelt, daß
aud diejes Tier den Schmerz in ähnlicher Weife
wie der Menſch empfindet. Es fommt ein zweites
hinzu: die Sinnesorgane (nervöfen Organe) der
höheren Tiere jtimmen auch ihrem anatomifchen
Bau mit denen der Menſchen volltommen
überein. Daß fie alfo auh ähnlich funktionieren
werden, ift ein Unalogiejchluß, der fih fo un-
mittelbar aufdrängt, wie nur irgend ein natur=
mwillenfchaftliches Urteil anderer Art, das auf
Analogiefchlüffen beruht und diefe Muffaffung
wird weiterhin durch das gefamte Verhalten der
Tiere vollauf gerechtfertigt. Natürlid muß man
mit ſolchen Analogieen ein wenig vorfichtig fein.
Die neuere Tierpfgchologie hat gezeigt, daß man
vordem in die Tierjeele allzu viel Menfchliches
bineingelefen hat. Uber daran ift auch von ihr
niemals ein ernjtlicher Zweifel erhoben worden,
daß Tiere überhaupt empfinden, wollen und
fühlen, und daß fie auch in diefer Beziehung dem
Menfchen um fo ähnlicher fein werden, je näher
fie ihm in ihrer förperlichen Organifation Stehen.
Schwieriger ift ihon die Frage, wie weit wir
nun dieſen Analogiefchluß nah unten hin aus-
zudehnen haben, ob er, da Tierreich und Pflan—
zenreich an der Wurzel, im Gebiet der Einzelli-
gen, zulammenhängen, etwa auh auf die
Pflanzen auszudehnen ift und, falls eine
fontinuierliche Verbindung auh mit dem fog.
toten Stoff beitehen follte, gar auf die Atome
irn Das Problem des Uebels in der Welt.
und Elektronen. Laſſen wir die leßtere Frage
bier außer Betracht, jo wird man m. E. nicht
umhin fönnen, die Ausdehnung bes
Seeliſchen auf das gejamte Reid
des Lebens, einfhließlih der
Pflanzen, zu bejahen. Dazu zwingt nämlich
das Prinzip der Kontinuität. Es ift fchlechter-
dings unmöglich, innerhalb des Tierreichs nad
unten hin einen foldyen Grenzſtrich gu ziehen.
jedermann empfindet unmittelbar, daß jeder
ſolche Berjuh eine Vergewaltigung des faft
tontinuierlihen Auf- und Abſtiegs innerhalb
der Reihe der Tiere darftellt. Außerdem zeigen
auh fon die niederften Organismen im Reihe
der Protiften entweder, daß ihr Körper als
Ganzes „reigempfindlich” ift, oder fie haben
fogar befondere „Sinnesorgane“. Da dies aud
für Pflanzen nachgewiesen ift, bei denen nur die
„Reaktionen“ langſamer eintreten, fo dürfte die
Folgerung nicht zu umgehen fein, daß wir aud)
diefen irgend eine Art von „Innenleben“ zuge-
ſtehen müffen, jo befremdlich das im erften
AYugenblid auh klingen mag. Das Befremdende
wird erheblich gemildert, wenn man fih einmal
in einem Film die Bewegungen der Planzen in
verfürztem Zeitmaßftab anfieht. Ich fah einmal
in einem folden u. a. das Wachſen eines
Spargelbeetes. Das faft trampfhafte Hervor-
‚drängen der jungen Triebe zum Licht, der dabei
fichtlich fib abfpielende Kampf um Licht und
Luft uſw. wirkten vollkommen fo, als ob es fih
um tierifche Organismen handelte. Da doch nun
gewiß niemand von vornh'rein behaupten fann,
daß feelifches Leben unabänderlih an das uns
gewohnte Zeitmaß gebunden fei, die Zeit ja
vielmehr felber „orm des inneren Ginnes” und
als folche rein fubjektiver Natur ift, fo tann man
wohl nicht gut abftreiten, daß die überwiegende
MWahrfcheinlichkeit zugunften der Ausdehnung
des Geelifchen auch auf die Pflanzenwelt ſpricht,
mag es uns auch unmöglich fein, irgend welche
nähere Borftellungen darüber zu geminnen.
Wir können jedoch für unferen Zwed weiterhin
auch diefe Frage auf fih beruhen laffen. Ich
babe fie nur der Bollftändigteit halber erwähnt.
Für das Problem, das uns hier beichäftigt,
wiirde es genügen, wenn etwa auch nur bri den
Cäugetieren oder den MWirbeltieren insgejamt
feelifches Erleben mit einiger Wahrfcheinfichkeit
angenommen werden darf. Hirr aber darf es
nicht nur, fondern muß es außer allem Zmeifel
vorausgefeßt werden.
Es handelt fih für uns nun nicht fo jehr um
die an fih neutralen Ginnesempfindungen,
fondern vielmehr um ' diejenigen bejonderen
feelifchen Zuftände, die wir mit Freude und
Das Problem deg Uevels in der Welt. 3
Leid oder mit Luft und Unluft bezeichnen. Daß
es auch dieſe, nicht nur die völlig gefühlslofe
Empfindung, bei den Tieren gibt, ift offen-
fundig, und zwar dürfen wir als durchgehende
Regel den Sag hinftellen, daß die normale, d. h.
der Gelbfterhaltung oder der Wrterhaltung
dienende Tätigkeit des Organismus für ge-
wöhnlich luftbetont, die Hemmung diefer Tätig-
feit Dagegen, der Zwang zu unnormaler Tätig-
teit und vor allem jede erheblicdhere Störung der
normalen Zunftionen des Organismus von
Unfuftgefühlen begleitet find. An der durd-
gehenden Giltigkeit dieſes Satzes wird durd
einzelne jcheinbare Ausnahmen nichts geändert.
Diefe beruhen darauf, daB bei den die über-
wiegende Menge der Lebeweſen ausmachenden
Bielzellern unter Umftänden die Intereſſen des
Teils die des Ganzen für furze Zeit unter-
drüden können, fodaß eine Luft entjteht aus
Einflüffen oder Tätigkeiten, die zwar den Teil
fördern, das Ganze jedody hemmen, fogar viel-
leicht dem Untergange weihen oder umgekehrt.
Wir dürfen von diefer Komplikation abjehen
und die obige Hauptregel fefthalten. Daran, daß
fie bis zum Menfchen hinauf gilt, ift keinerlei
Zweifel, unbefchadet aller ſpäter hinzutommen-
den fittlichen und anderen Erwägungen.
Bom biologif dhen Standpuntte aus ge-
fchen erfennen wir die Notwendigkeit
diefes Sages nun darin, daß ohne ſolche Ge-
fühlsbetonungen den Organismen der Antrieb
fehlen würde, die zur Selbft- und Arterhaltung
notwendigen Handlungen auszuführen. Man
verfuche fih einmal eine Welt auszudenten, in
der es weder Leiden noch Freuden gäbe, fondern
nur reine Sadlichleit; man wird es nicht fertig
bringen. Das Jagen nad) der Luft, die Flucht
vor der Unluft find tatfächlich die bewegenden
Kräfte alles Handelns der Tiere und des größten
Teils der Handlungen der Menſchen. Streicht
man fie, fo fteht in demfelben Augenblid faſt
alles charafteriftiiche Lebensgefchehen ſtill. Es
ift unzählige Male ausgeührt worden, daß 3. B.
der körperliche Schmerz, der durch die zu ſtarke
Reizung irgend welcher Nerven entfteht, das
biologifcy notwendige Signal darftellt, das dem |
Zentrum Ddiefes Organismus Kunde von der
eingetretenen Gefahr geben muß. Zur Beit der
Alleinherrichaft des Darwinismus glaubte man
fogar, auf diefe Weife die Entitehung des
Schmerzgefühls völlig erklärt zu haben. Da
nämlih die in dieſer Weile eingerichteten
Organismen offenbar vor den nicht fo einge-
richteten den Vorteil voraus hätten, daß fie fih
ror Gefahren warnen ließen, fo müßten fie
allein im Dafeinstampfe überleben. Natürlich
beantwortet auh in diefem Falle wie überall
die bloße ©elektionslehre nicht die Frage, woher
denn überhaupt die fragliche heranzuzüchtende
Eigenſchaft — hier alfo die Schmerzempfindlich:
teit — zuerſt fommt. Nach diefer Richtung hin
ift die darwiniftiiche Erklärung alfo unvoll:
ftändig. An fih ift die Ueberlegung jedod) völlig
richtig. Es ift ganz flar, daß fih neben den uns
befannten Organismen mit Schmerzempfindung
ſolche ohne Schmerzempfindung fchwerlich be-
haupten könnten (im gleichen Lebensgebiet).
Wir dürfen alfo alles in allem unbedenklich den
Schmerz als eine biologische Notwendigkeit be-
zeichnen.
Cine gang ähnlidye Weberlegung führt uns
dazu, auh den Tod als ſolche biologifche Not-
wendigkeit angujehen. Die lange jo heiß um-
Itrittene Trage, ob jeder Organismus an fi
zum Gterben verurteilt ift, aus inneren
Gründen, abgejehen von äußeren Einflüffen,
darf allerdings heute mit einem klaren Nein be-
antwortet werden. Die forgfältigen Forſchungen
der neueren Biologie haben ergeben, daß tat-
fählidy nicht nur eingellige, jondern fogar ge-
wiffe vielzellige Organismen eine „potentielle
Unjterblicykeit” befigen, in dem Sinne, daß fie
bei geeigneter Behandlung beliebig lange am
Leben gehalten werden können.) Da fein Grund
einzufehen ift, warum andere Organismen im
Prinzip anders als die unterfuchten beichaffen
fein follten, fo darf man wohl allgemein folgern:
An fih ift alles Qeben „potentiell
unfterblid.” Tatſächlich wird jedoch alles
Leben durd) die gefamte Summe der darauf ein-
dringenden fchädigenden Einflüffe einerjeits,
durh gewiffe im normalen Lebenslauf
regelmäßig vorfommende Tätigkeiten anderer:
feits früher oder fpäter fo verändert, daß das
Sterben unvermeidlich wind. Es ift insbejondere
der Tortpflanzungsprogeß, der in einer deutlich
nachweisbaren Beziehung zum Sterben fteht.
Niele Pflanzen laffen fi) lange über die ge-
wöhnliche Dauer hinaus am Leben erhalten,
wenn ihnen die Fortpflanzung durch operative
Eingriffe unmöglicy gemacht wird. Offenbar ift
nun dieſer Zufammenhang fein Zufall, fondern
eine innere Notwendigkeit. Die Fort-
pflanzung, d. h. die Erzeugung weſens—
gleicher, aber jedesmal jugendfrifcher Nachkom—
1) Vgl. dazu den Auffag von Merter in Nrn. 7,9
von „Unjere Welt”, 1924, und die Umfcdhaunotizen in
Nr. 12 von 1922. Weiteres bei Korjdelt, „Lebens:
dauer, Alter, Tod“, Jena. Tiſcher, Doflein, „Das Pro:
blem des Todes”, ebenda. Koppanyi, Naturwiſſenſchaft—
liche Wochenſchrift 1922, Nr 42. Haberlandt, Biolo:
giſches Zentralblatt 1922, Nr. 4.
4 Das Problem des Uebels in ber Welt.
men und das Platzmachen ber Alten
gehören notwendig zufammen.
Welche Borteile ein folcher Prozeß in biologi-
iher Hinficht bietet, braucht taum näher ausge-
führt zu werden. Er ftellt das Mittel dar, durch
das die lebende Natur fih dauernd wieder vere
jüngt und fo die im Laufe des Individuallebens
erworbenen Schädigungen immer von neuem
ausgleicht. Auch hier tann man auf Grund der
darmwiniftifhen Lehre leicht verftehen, daß fo
eingerichtete Organismen in der Tat vor etwai-
gen anderen individuell unfterblichen einen
großen Vorteil voraus haben würden, wenn auth
hier wie oben unflar bleibt, warum überhaupt
eine folche Einrichtung auftrat, wenn fie vorher
nicht beftand. Noch wichtiger aber ift, daß offen:
bar gerade das fortwährende MWechfeln der
Generationen jenen großen Entwidlungsgang
Des Lebens auf der Erde ermöglicht hat, deffen
Ergebriffe wir in der wormenfülle der
Pflanzen: und Tierwelt vor uns ſehen. Denn es
fcheint klar, daB Neues nur auftreten tonnte,
wenn das Alte dem Neuen Pla machte, dap
ein Fortichritt in der Entwidlung alfo nur ftatt-
finden fonnte, wenn die neue Generation
mwenigjtens um einen gang fleinen Betrag in der
Richtung auf die Höherentwidlung hin von der
alten abwich. 3n diefem Sinne ift alfo der Tod
nicht nur eine für die Forteriftenz der Art nots
wendige Einrichtung, Tondern erft recht eine
notwendige Grundlage alles Lebensfortichritts.
Wenigitens ift er das in der Welt gewefen, fo
wie wir fie tennen. Dom Standpunkte der
Naturmwillenfchaft aus ift es daher eine ziemlich
müßige Frage, ob auh eine Drganismenwelt
denfbar wäre, in der es nicht nur ein dauerndes
Leben der Andividuen, fondern auch einen
Hortichritt in deren Organifation gäbe. An fih
wäre das ja fchließlich denkbar. Die Organismen
tönnten ja fo eingerichtet fein, daB fie nicht nur
alle Schädigungen rejtlos wieder ausglichen,
fondern dazu noh im Laufe unzähliger Jahre
fih zu anderen Differengierteren Formen um-
wandeln könnten. Auh fo könnte in der Theorie
aus einfahen Anfängen eine höchit vermidelte
Welt des Lebens entjtehen. In Wirklichkeit er-
reicht jedoch die Natur diefe Ziele nur auf Roften
der Eingelmefen und zwar niht nur in dem
Sinne, daß diefe vom Schauplatz abtreten
müffen, fondern aud) in dem Ginne, daß diefes
Abtreten ihnen zumeift höchft unangenehme Ge-
fühle erwedt.
Es kommt hinzu, daß in einer folchen Welt,
wie mir fie eben annahmen, natürlich aud
feinerlei Ernährung der einen Organismen auf
KRoften der anderen jtattfinden dürfte, während.
doh in Wirklichkeit die gefamte lebende Natur
auf ein Freſſen und Gefreffenwerden des einen
durch den anderen eingerichtet ift. Man kann fid
ſchwer vorftellen, wie ohne diefe Einrichtung
überhaupt Formenreichtum entftehen follte.
Denn faft alle die verfchiedenen Organe und Ge:
ftalten, zum mindelten im Tierreich, dienen doch
dieſem Zwede: entweder zu freffen oder aber
fih vor dem Gefreffenwerden zu ſchützen (mit
Ausnahme der der WUrterhaltung dienenden
Organe). Ueber rein vegetatives Leben käme
alfo eine ſolche Welt fchwerlich hinaus. Alles zu:
fammengefaßt dürfen wir alfo fagen: die ges
jamten Einrichtungen unferer lebenden Welt
find nur unter der Vorausfegung zu begreifen,
daß es ſowohl Leiden als auch Sterben in ihr
gibt. Leid und Tod find fchlechthin unumgäng-
lihe Borausfegungen dafür, daß diefe fo be-
Ihaffene Organismenwelt entftehen fonnte.
Ob ohne fie überhaupt und ev. was für eine
Lebenswelt denkbar wäre, vermögen wir uns
in feiner Weife auszudenten. In den Phantafien
aller Völker, vornehmlich auch in ihren Dichtun-
gen, fpielt zwar die Vorftellung einer Welt, wo
„der Löwe bei dem Lamm und der Pardel bei
dem Bödlein lagert,” eine fehr große Rolle.
Man fieht aber leicht, daß diefje Vorftellung gar
niht durchführbar ift. Sämtliche Organismen
würden aufhören zu fein, was fie find, wenn
der Dafeinstampf, dem fie ihre Organifation
doch erft zu verdanken haben, aufhörte. Nur die
niederften, rein auf anorganifche Nahrung an=
gewiefenen Weſen würden eine Ausnahme
machen. Kurz: Leid und Tod gehören zum
Weſen unferer Welt ebenfo wie die chemijchen
Elemente, aus denen fie beſteht. Pielleicht
fönnten diefe ja auch anders fein, aber das ift
wiederum eine für uns im Grunde gegen-
ftandslofe Frage.
Man kann fih diefe und ähnliche Gedanten:
gänge gar nicht flar genug machen. Nur allzu
‚leiht begnügt fih oberflächliches Denten mit
der Boritellung, als ob Leid und Tod fozufagen
nur fefundäre, auch wegzudenkende Eigen—
Ihaften einer ohne fie volllommen herrlichen
Welt wären. Das ift, wie man ſieht, grundfalfch.
Sie find durdaus fonftitutive Merkmale diefer
uns befannten Welt. Wer fie wegdenft, muß
tatfächlich neun Zehntel alles deffen, was wir
tennen, mit wegdenten. Die gefamte Schöpfung
müßte von Grund auf völlig anders fein, als
fie tatfächlich ift, wenn fie diefe Dinge nicht ent
halten follte.
Dies gilt nun, wie wir bier fogleich hingu:
fügen, auh mit Bezug auf den Menfchen. Wer
jih niht auf den Standpunft ftellen will, daB
Das Problem des Uebels in der Welt. g
der Menſch eine ſowohl in körperlicher wie in
jeelifeher Hinficht völlig neue Schöpfung dar-
ftellt, wer ihn alfo auh nur körperlich von den
Tieren abjtammen läßt, muß ficherlicy zugeben,
daB der Menſch mit deren Körper ganz un:
weigerlih auch deffen Schmerzempfindlichteit
und Sterblichkeit übernahm, ja man muß fagen:
fogar wenn Gott auch diefen Körper völlig neu
aus dem Nichts ins Dafein rief, fo hat er ihn fo
völlig ähnlich dem Körper der nädjftverwandten
Tiere gemacht, daß er fichtlich aud deren Eigen-
ſchaften teilt. Sonft hätte Gott durch eine fort-
laufende Kette von Wundern den Menfchen vor
Leid und Tod bewahren müfjen inmitten von
Belsftürgen, Ueberſchwemmungen, Feuers:
brünften, Gewittern, hungrigen Wölfen oder
Löwen, giftigen Schlangen ufw., denn alles
dies war außer jedem Zweifel längft vor dem
Menfchen da und diefer trat, einerlei ob als Neu-
Khöpfung oder als Nachkomme früherer Tier-
geichledhter, mitten in die ſe Schöpfung hinein,
wo jeder andere fript, und wo dazu äußere Ge-
fahren aller Arten von der anorganifchen Natur
drohen. Auch dem Menſchen ift alfo Schmerz
und Tod nicht als etwas Sekundäres fozufagen
angeflogen, jondern fie gehören von Anfang an
zu feinen unveräußerlichen Eigenſchaften. Daß
fie bei ibm nun auch no% eine viel weiter:
gehende biologifche Bedeutung haben, veriteht
fih von felbit. Beim Menjchen geht ja das rein
Biologifche in das joziale Leben und durd) das
Selbitbemußtjein in das Geiftige über. So
fommt es, daß einerfeits die Stala der Gefühle
beim Menfchen unvergleichlich viel reichhaltiger
und verwidelter ift als beim Tier mit jeinen
primitiven Trieben, andererfeits zum förper-
lien auch das rein feelifche Leid hHinzutritt.
(Es foll damit niht in Abrede geftellt werden,
daß Anfänge davon nicht auch beim Tiere vor-
tommen, man denfe an die vielen verbürgten
Erzählungen von Tieren, die „aus Rummer”
über den Berlujt des Herrn oder eines Ge-
fährten jterben). Schließlich ergibt fid beim
Menfchen fogar das rein geiftige Uebel, der
Konflift mit fih felbft, der Kampf des niederen
Triebes mit dem als das Höhere erfannten
Gittengefeg, die „Sünde“ als der bemußte
Wideritreit gegen das Gute. Auch in diefem
viel verwidelteren Leben aber bleibt nun beftehen,
daB das „Uebel” — mit weldyer Bezeichnung
wir hier wie im folgenden überall Leid, Tod
und Böfes gufammenfaffen wollen — zweifellos
neben feiner negativen auch eine pofitive Be-
deutung hat.
Des Menſchen Tätigkeit tann allzu leicht
erichlaffen,
Er liebt fih bald die unbedingte Ruh.
Drum geb’ ich gern ihm den Gefellen zu,
Der reizt und wirft und muß — als Teufel
— Ichaffen.
So jagt der Herr im Prolog des Fauft vom
Mephifto und diefer felber bezeichnet fih dem-
entiprechend als „Teil von jener Kraft, die ftets
das Böſe will und Stets das Gute ſchafft.“ Auch
hierüber fönnen wir uns die nähere Ausführung
jparen. Es mag nur auf das eine hingemwiefen
fein, daB im Gegenſatz zu dem paffio neran-
lagten Orientalen es uns Europäern zmweifels-
ohne durchaus als das Höchfte fittlich-äfthetifche
Ideal des Menſchen erjcheint, wenn diefer ge-
zwungen ift, feine Kräfte im Kampfe mit feind-
lien Gewalten zu ftählen und fih gegen folche
durchzufegen (einfchließlich der Ayeinde im eige-
nen Inneren). Heldentum ift zum wenigjten
in dem nicht verſklavten Teile auch unferes
Boltes, imfonderheit unferer Jugend, nod
immer ein hohes Biel, und tein religiöfer
Glaube wird fi) halten fünnen, der nicht in
irgend einer Weile das Recht folches Ideals
anertennt. Wie febr auh font der Schmerz,
ſowohl törperlicher als feelifcher, erziehend
wirft, ift ebenfalls oft genug hervorgehoben
worden. Auch der Fromme wird deshalb über
ſolche Uebel niht nur jammern, fondern feinen
Gott auch in ihnen, ja gerade in ihnen fuchen.
Ja richtig verftanden wird er fogar ein ge:
wiffes Recht dazu anerfennen, daß man vom
„Segen der Sünde” geiprochen bhat. — Es
fommt nun aud) hier hinzu, daß gerade beim
Menſchen noh viel mehr als in der übrigen
organiſchen Welt „der Kampf der Bater aller
Dinge“ auh in Bezug auf die Entwidlung der
Art ift. Nach neueren Forfchungen unterliegt es
wohl feinem ernitlihen Zweifel mehr, daß zum
wenigſten unſere Rulturraffe, die nordifche, durch
den Kampf mit der hereinbrechenden Eiszeit zu
dem geworden ift, was fie ift. Nicht vom Süden
aus, wie man früher glaubte, ift der Norden
fultiviert worden, fondern umgefehrt: aus dem
Norden ift Welle auf Welle von kulturfähigen,
blonden und blauäugigen Ariegern in die
freundlideren märmeren Gegenden einge-
wandert, hat die ſchon anfäffige Urbevölferung
unterworfen und fih mit ihr vermifcht und fo
den ganzen eurafifchen Kontinent fulturell be-
fruchtet, wenn fie auch dabei felber größtenteils
untergegangen ift. Und nicht nur für diefe vor-
gefchichtlihen Zeiten, die ganz wohl niemals
mehr aufzuhellen fein werden, fondern auch für
die gejchichtlichen Zeiten gilt der Sag, daß
6 Das Problem des Uebels in der Welt.
Großes nur im Kampf mit widerftreitenden Ge-
walten errungen wurde. Wo immer es einem
Bolte zu gut ging, da trat rafch genug der Ber-
fall ein. Wie der einzelne Menſch, jo verträgt
auh ein Bolt oder die Menfchheit als Ganzes
genommen offenbar nur ein gewilfes Maß von
Ausijpannung und Ruhe vom Dafeinstampf.
Wir dürfen deshalb ficherlich ohne zu über-
treiben, behaupten, daß das Uebel wie
ein unveräußerlides Mertmal der
gefamten organifhen Schöpfung,
foaudein ſolches der menſchlichen
Kulturentwidlung ift, daß es Streichen
wieder ebenfo viel hieße, wie neun Zehntel alles
deffen jtreichen, was der Menfch auf geiftigem
Gebiete geleistet hat. Wir wollen damit feines
wegs behaupten, daß diefe äußeren Bedingun-
gen, alfo die harten Notwendigkeiten des
Kampfes ums Dajein, es allein gemadyt hätten;
das wäre die von uns im vorigen Aufſatz abge-
lehnte Lehre von Marr. Wir behaupten nur,
daß der Dafeinstampf eine notwendige,
niht daß er die einzige und hinreichende Pe-
dingung der Gefchichte bildet. Das aber muß
auch der entſchloſſenſte Idealiſt zugeftehen.
So dürfen wir alfo für den gefamten Bereich
der uns befannten höheren Schöpfung das Uebel
(Leid, Tod und Sünde) unter feiner Bedingung
und auf feinem Gebiete als etwas rein Gefun:
däres, Hinzugelommenes, auh Wegzudenkendes
anfehen, fondern müffen uns darein finden, daß
es zu diefer Welt, jo wie fie nun einmal von
Anbeginn an war, dem innerften Wefen nad
dazugehört, dap diefe Welt gar nicht mehr das,
was fie ift, jondern etwas total anderes, mit der
vorliegenden gar niht mehr Bergleichbares fein
würde, wenn wir fie uns von diefem Uebel frei
denken wollten. Wie ſchon oben hervorgehoben,
wäre an fih eine ſolche Welt wohl Dentbar,
natürlich auch eine jolche Menfchheit, aber das
wäre dann eben niht unfere Welt und unfere
Menschheit. Das ift nicht etwa eine „Unficht”,
der man beliebig auch eine andere gegenüber-
itellen fönnte, fondern einfad) das Refultat nüd-
terner Erwägung auf Grund des uns bekannten
eejamten Tatbeftandes der Natur und Gefchichte.
Hier ift von „Glauben“ alfo gar feine Rede,
fondern lediglich von Wiffen in dem Sinne, wie
bei allem wifjenfchaftlichen Wilfen. (Vgl. „Un:
jere Welt“ Nr. 7, 1923.) Nunmehr verlafjen wir
aber das Gebiet des Willens und begeben uns
in das des Wertens und damit auch des
Glaubens im religiöfen Sinne. Wir wollen da:
bei feinen Augenblid aus den Augen verlieren,
dah fein Werten und Glauben die Urteile des
Willens mehr ändern fann. Es fann ihnen nur
die eine oder die andere Deutung geben; man
tann 3. B. angefichts des vorliegenden Tatbe-
ſtandes zum Optimiften oder Peffimiften wer-
den, an Gott glauben oder nicht, aber man fann
nicht diefen Beſtand felber ändern auf Grund
einer angeblichen, aus anderen Quellen fließen-
den „Gewißheit“.
„Primus in orbe deos fecit timor“,’) fagt der
römifche Dichter und das Sprichwort behauptet
dementfiprechend, Not lehre beten. Wenn nun
auch die hierin liegende Anficht, alle Religion fei
legten Endes aus Furchtgefühlen entftanden,
ficher in diefer Einfeitigfeit falfh ift, — es ift
zweifelsohne, pfychologifch-geichichtlich angeſehen,
eine ganze Anzahl verfchiedener Motive hierbei
beteiligt —, jo ift doch unbeftreitbar, daß das
Nebel in der Welt eine der Haupttriebfräfte
und einen Hauptgegenftand aller Religion
bildet. Der primitivfte Wilde fucht bei feinen
Götzen Rettung vor den ihn bedrohenden Uebeln,
und auch die höchſte Religion, das Chriftentum,
betet: erlöje uns von dem Uebel. Wenn auh
der eine dabei nur an das äußere (yhyſiſche)
Hebel dentt, während der andere zumeist das
innere, moralijche Uebel im Auge hat, fo ift doch
beiden gemeinjam, daß fie eben durch die Re-
[igion die Erlöfung vom Uebel fuchen. Aber
daneben bejteht noh eine andere und noch tiefer
reichende Beziehung von Uebel und Religion.
Wenn Hiob leidet, fo ift es nicht fo febr das
leiden felber, was ihn quält, als vielmehr der
Gedanfte, warum gerade er, der Fromme und
Gerechte, fo jchwer leiden muß. Der Zweifel an
der Gerechtigkeit Gottes, ja an der Exiſtenz Got-
tes taudyt in ihm auf, und die fchließliche „Er:
löfung” betrifft deshalb auch nicht in erfter Linie
die Miederherjtellung feines früheren Glüdes,
jondern vielmehr die Auflöfung jenes grund-
ſtürzenden Zweifels durch Gott ſelbſt, der fih
ihm im Wetter offenbart. Wir jehen an dieſer
Stelle klar, wie im Tpäteren Judentum dieſes
legte und tieffte Problem der Religion in den
Gefichtsfreis tritt. Noch bei den Propheten und
in den Pfalmen fpielt es nur eine untergeordnete
Rolle. Freilich enthalten auch diefe Schriften
Stellen genug, wo der Verwunderung Ausdrud
gegeben wird, daß es den Böfen hier oft jo aut
geht und die Gerechten leiden müſſen. Aber
itets ift die Antwort: wartet noch eine fleine
Zeit, dann wird das Gericht hereinbrechen, Gott
wird das Böſe beitrafen, die Guten zum Giege
führen (zugleich das Bolt Sfrael zum Siege über
die „Völker“) und fein Reich auf Erden gründen.
Sei alfo fromm, „denn ſolchen wird es zuleßt
2) „Furcht erſchuf zuerft auf Erden die Götter.”
Das Problem des Uebels in der Welt. 7
wohl gehen“. Der Prophet forfcht und fragt
niht, ob man denn angefidhts des Unrechts
in der Welt überhaupt an Gott glauben könne.
Daß es einen Gott gibt, und daß Jahwe diefer
Gott ift, der einzige Gott, das fteht ihm vielmehr
von vornherein mit abfoluter Sicherheit feft, und
die Frage, warum denn das auserwählte Bolt
gerade jo viel leiden muß, beantwortet er durch
den Hinweis auf die Sünden des Volles. „Kehrt
euch wieder zu ihm (Jahwe), fo wird er fih aud)
wieder zu euch ehren.” Auf diefem Stand-
puntte ift das Judentum in der Hauptſache auch
fiehen geblieben und mit ihm weite Kreife des
Chriftentums aller Seiten. Das viel tiefer gra-
bende Hiobsproblem haben im Alten Teftament
offenbar nur wenige gejehen.
Man tann die beiden Einftellungen in der
Religion gegenüber dem Uebel als die fubjektive
und die objektive bezeichnen. Bei der erfteren,
die dem einfachen Menſchen immer am nädjiten
liegen wird, handelt es fih im weſentlichen um
. die Frage, durch welche Mittel die Religion prat-
tifch das Uebel innerlich oder äußerlich zu über:
winden verfpricht, — einerlei, ob dies Opfer, Ge-
bete, gute Werte oder etwas anderes fein mögen.
Wenn man auf diefem Standpunkte gelegentlich
auch theoretifiert und Lehren über die Herkunft
des Uebels aufftellt, jo tut man das dodh in der
Hauptſache Deshalb, weil man fozufagen wie ein
Arzt, der eine Krankheit heilen möchte, erft willen
muß, woher die Krankheit eigentlidd kommt,
wenn man ihr mit Erfolg zu Leibe gehen will.
Das eigentliche Intereſſe aber bleibt immer bei
der Frage: wie werde ich, oder wie wird mein
Volt oder auch die Menfchheit vom Uebel frei?
Wenn in chriftliden Kreifen fo oft die Rede um-
geht, es tomme einzig und allein auf die Frage
an: wie werde ih felig?, fo ift das ebenfalls
folche rein fubjeltive Religion. Man vergibt nur
zu häufig auf diefem Standpunfte, daß neben
diefem für das einzelne Subjeft ja gewiß ent-
fcheiwend wichtigen Problem das ebenfo große
oder noch größere objektive jteht: wie wird es
wahr, daß „Dein Wille gefchehe wie im Himmel
alfo auh auf Erden“. Es ift doch eine timmer-
liche Verengung .diejer die ganze Welt umfaffen:
den Frage, wenn man fo tut, als ob mit der
„Erlöſung“ diefer oder jener einzelnen Geelen
dies Problem gelöft wäre. Biele Chriften tom-
men in diefem Betracht in ihrem Leben nicht
über den naiven religiöfen Egoismus des alten
Judentums hinaus, das ganz damit zufrieden
war, wenn es felber als „auserwähltes” Bolt
fchließlich bei Gott zu Ehren und Glück tommen
würde, die anderen Völker aber gerade gut ge-
nug dazu wären, ihm als olie oder gar als
Mittel zum Zwed eigenen Glüdes zu dienen.
Dem wahrhaft Frommen dagegen liegt damals
wie heute die Frage brennend auf der Seele: wie
wird es mit den anderen, mit der Gefamtheit des
in der Welt vorhandenen Elends und Unredts?
Es darf wohl gejagt werden, daß heute nach
dem Welttriege diefe Seite der Sache viel weiter
in den Vordergrund getreten ift, als vordem.
Wenn ſchon ein Goethe durch das Miterleben des
Erdbebens von Liffabon ungläubig wurde, fo
find in unferen Tagen unzählige ihm gefolgt, die,
fei es an fid felber, fei es an lieben Angehörigen
oder Befannten, die ganzen Schreden und Ginn:
lofigfeiten des Krieges und der Nachkriegszeit
miterleben mußten. Bor 20 bis 30 Jahren
tonnte es fo fcheinen, als ob das Grundproblem
der modernen religiöfen Bewegungen die Frage
nah der Auseinanderfegung von Glauben und
Willen fei. Jn jeder Freidenkerverſammlung
tonnte man damals hören, daß die Willenfchaft
den Glauben aufs Altenteil gejeßt habe. Wenn
nun diefe Art Beweisführung auch heute feines-
wegs ganz aufgegeben ift, fo ift fie Doch ver-
hältnismäßig in den Hintergrund getreten gegen-
über der aus dem fogenannten Problem der
Theodizee‘), gefhöpften. Sn überaus ges
ſchickter Verquickung mit politifchen Strömun-
gen, vor allem mit pazgififtifchen und internatio-
nalen Bejtrebungen wird heute den breiten Maf-
fen die Unfinnigfeit des Gottesglaubens dadurd
dargetan, daß man auf den anſcheinenden Wider:
iprud) des Uebels in der Welt gegen Gottes All⸗
maht und Allgüte Hinweift. Er habe die Welt
geichaffen, aber fei felber mit ihr nicht zufrieden,
er folle allgütig fein, aber ſehe es mit an, daß
tagtäglich feine Geſchöpfe fih in Schmerzen und
TZodesqualen winden uſw. Natürlich find diefe
Einwände fait fo alt, wie die Religion fetber,
aber fie find heute fchlagfräftiger denn je. Die
von ihnen fanatifierten Mafjen find, wie jeder,
beftätigen wird, der einmal ſolche Verſammlun—
gen mitgemacht hat, blind und taub für jedes
entgegenftehende Argument. Aber auch außer:
halb diefer von geichidten Agitatoren verhekten
Kreife fteht ohne Zweifel das hier vorliegende
Problem heute im Bordergrunde alles religiöfen
Intereſſes. Das ftarte Vordringen des Buddhis-
mus im gebildeten Europa |pricht eine deutliche
Sprade, ebenfo wie die unbezweifelbare Nei-
gung der Bebildeten zu moniftifch-atheijtifchen
deen, die keineswegs nur auf das in feiner Un-
3) Der Ausdrud „Theodizee“ ift durch Leibniz zum
religionsphilofophifhen Kunftausdrud geworden. Er ift
von den griehiiden Wörtern theos — Gott und
dikaiun — rechtfertigen abgeleitet. Es handelt fih um
die „Rechtfertigung Gottes” angefidts des Weltübels.
8 Das Problem bes Uebels in der Welt.
zulänglichkeit doch allzu leicht zu dDurchichauende
Argument zurüdzuführen ift, die moderne Nas
turwiffenfchaft widerfprehe dem Glauben an
einen allmädtigen Gott. Man lefe zum Bei-
ipiel einmal Fr. Th. Viſchers befannten Roman
„Auch einer“. Seine weite Verbreitung dürfte
nicht zum wenigften darauf zurüdzuführen fein,
daß er das Problem der Theodizee fo rüdfichts-
los anpadt. Wehnlich Steht es mit Frenſſens
„Jörn Uhl“ und noch ftärker tritt das genannte
Problem in deffen neuften Roman: „Der Paftor
von Poggſee“ hervor. Wir haben alle Urſache,
diefe Entwidlung der Dinge gu begrüßen. Denn
die unzähligen Erörterungen über das Problem
„Glauben und Willen“ waren doh im Grunde
recht oberflächlicher Art. Hier Dagegen greifen
wir tatfächlic) in die legten Tiefen der Religion
hinein, in Tragen, die feit Jahrtaufenden wahr:
haft religiöfe Menſchen aufs tieffte bewegt haben.
Auf der Seite der fubjeltiviftiichen Yrömmig-
feit wird man nun troßdem geneigt fein, mit
einem gewiſſen wohlwollenden Lächeln zu jagen
oder zu denken: ja quält euch nur mit jeldyen
theoretifchen ragen ab, es nügt euch ja doh
alles nichts, ihr löft fie fo wenig w'e Hiob, ein
Auguftin, ein Quther, ein Leibniz fie gelöft haben.
Und wenn es ſchließlich um euer eigenes Seelen:
heil geht, dann wird es euh doch verzweifelt
gleichgültig werden, wie eine ſolche theoretiſche
Trage etwa zu löſen fei. — Nun ift natürlid)
an diefer Stellungnahme foviel richtig, daß mich
perfünlich, prattifh genommen, feine noh fo
ichöne Theorie über Urfprung und metaphyſiſche
Bedeutung des Webels erlöft. Wer einmal vor
dem Abgrunde des Nichts felber geftanden hat,
der weiß, daß alles Willen, Theoretifieren und
auh Mitfühlen mit anderen die eigene Schuld
nicht tilgt und die eigene Seele nicht erlöft. Er
tann es begreifen, daß Menjchen, die jehr ftart
diefe innerften religiöfen Erfahrungen an fih
felber gemacht haben, nichts anderes in der Re-
ligion mehr fennen und hören wollen, daß fih
ihnen Religion auf diefes Subjeftive, Innerliche
allein konzentriert. Allein eine gerechte und
nüchterne Erwägung aller Umftände muß uns
doch dazu führen, über folden bloßen Subjek—
tivismus binauszuftreben. Wir find eben nicht
allein in der Welt, fondern fie felber, diefe Welt,
ift auch da; nicht nur mit den anderen Men:
jhen, fondern mit allen anderen Geichöpfen.
Sollen wir dem großen Schöpfer Himmels urd
der Erden diefe feine Schöpfung ſozuſagen vor
die Füße werfen?
Darum los von ihr und aus ihr geflüchtet in
Das Innere, das uns fein äußeres Schidfal neh:
men fann! Los von der intelleftualiftijchen
Gie taugt ja dodh nichts?
Theologie! Nur das Srrationale gilt, das mit
Begriffen doch nicht ausfchöpfbare echte Leben!
So heißt es heute in weiten Kreifen bei Theo-
logen und Laien. Gie bedenken nicht, daß es
immer eine Gelbittäufhung ift, wenn man
glaubt, ohne die Vernunft Religion oder font
irgend einen geiftigen Befiß irgend welcher Art
haben zu können. Der Menſch als Bernunft-
weſen tann gar niht anders, als nad) Gründen,
d. h. nah Vernunfterwägungen leben und han-
deln. Diejenigen, die meinen, im religiöfen oder
im fonjtigen geiftigen Leben ohne diefe austom-
men zu können, haben in Wahrheit ftets auh
irgend eine Theorie, nur nicht die zu ihrer Zeit
gerade übliche und herrichende, fondern zumeijt
einfach eine viel primitivere. Die Ablehnung
der fomplizierteren Theorien halten fie dann für
Ablehnung aller Theorie überhaupt, während fie
in Wahrheit nur auf ein früheres Stadium zu-
rüdgefallen find. Jn unferen fubjettiviftifchen
religiöfen Kreifen herricht, wie jeder weiß, der
einmal hineingelehen hai, aumeift eine höchſt
primitive Theologie. Intern man fich kei diefer
beruhigt, bildet man ſich ein, überhaupt leme
Theologie, fondern nur „religiöfes Leben” zu
haben, — eine arge Selbſttäuſchung. Es gibt
gar teine Religion ohne Theologie, fo wenig wie
ee Menichen gibt, die blos wollend und fühlend
und bandelnd, aber gänzlich ohne Denten durdys
Leben gehen fünnten. „Wer zu Gott will, der
mup glauben, daß er fei“, jagt [hon der Hebräer-
brief. Dan mag wollen oder nicht: Man hat
mit dem Glauben notwendig zugleich aud irgend
welche theoretifche Meinungen und Anficdhten und
zwar ftets auch nicht nur über fich felber, ſondern
auh über die anderen Menfchen, bezw. über die
Bejamtheit der Welt. — Die Einfchräntung der
Religion auf die rein fubjeftive Sphäre ift aber
nicht nur ein in fich felber unmögliches Beginnen,
fie widerfpricht auch dem eigentlichen Wefen der
Religion, zum wenigiten der dhriftlichen, deren
oberftes Prinzip die Liebe ift. Wer fidh Telber
und die wenigen anderen Auserwählten als
alleiniges Objekt des göttlichen Heilsplanes an=
fieht, dem fehlt noch das UBC des Chriftentums.
Aus allen diefen Gründen muß alfo dagegen ent»
ſchieden protejtiert werden, daß man auf jener
Ceite die Befchäftigung mit folchen Problemen
wie dem vorliegenden für zweckloſes und religiös
gänzlich wertlojes Theoretifieren auszugeben ge=
neigt ift. Wer einmal mit fchwer durch Leid,
Ipd oder Sünde anderer angefochtenen Menjchen
au tun gehabt hat, fühlt ohne weiteres, wie tief
das Problem der Theodigee mitten in das ieben=
digite religiöfe Leben hineingreift. Es ift eben
fein blafjes Theorem, fondern Wirklichkeit, oft
Aftronomie und Weltanfhauung bei griechiſchen Philofophen. 9
Ichredliche und erfchütternde Wirklichkeit, in der
es uns im Leben des einzelnen oder der Völker
entgegentritt. Wie vielen hat das Qos unferes
Volkes, das doh auch im Vergleich gu der wirt:
fihen Schuldverteilung völlig unverdient er-
Icheint, faft das Herz abgedrüdt! Ift das aud)
bloße Theoretifiererei? Nein, wir müffen tlar
ins Auge faffen, daß hier niht nur ein, fon=
dern das Problem der heutigen Religion liegt.
Nur die Religion und die Kirche, die hierauf
eine befriedigende Antwort haben, werden fih
wieder im Bolte durchſetzen. Jede andere ift
von vornherein zum Konventikelweſen verur:
teilt. Nun wird man vielleicht dies zugeben,
aber fagen: andere Antworten als die, die feit
Sjahrtaufenden auf diefe Fragen erteilt worden
find, wird die Menfchheit heute auh nicht finden,
gehe alfo jeder zu einer der längft vorhandenen
religiöfen Strömungen, die ihm am meiften gu-
fagen, es fei nun der buddhiftifche Peſſimismus
oder der perſiſche Dualismus oder der chriftliche
Kompromiß zwifchen pefjimiftifhem Dualismus
und optimiftifdem Monismus oder was fonft.
— So ficher es nun zwar ift, daB wefentlihe neue
Löfungen des Problems nidt mehr gefunden
werden können, und daß andererfeits auch nie-
mals alle Menfchen fih auf eine einigen werden,
vielmehr jtets der eine hierhin, der andere dahin
durd feine gange Art und Anlage und feine pers
jönliden Lebenserfahrungen gezogen werden
wird, fo ficher ift es doh aud auf der anderen
©eite, daß im einzelnen die Verkettung der zahl.
reihen im Problem der Theodizee ſteckenden
Unterfragen fih im Laufe der Zeiten ganz we:
ſentlich verſchoben hat, fo daß manche Gedanten-
gänge, die noh zu Seiten Luthers höchſt ein-
leuchtend erfcheinen konnten, heute ganz undurd)
führbar find. So einfach werden wir alfo mit dies
fen Fragen nicht fertig, wie mander dentt. Wir
werden das am flariten erfennen, wenn wir von
den Gedanken ausgehen, die gejchichtlidy für un-
jere abendländifche Chriftenheit die maßgeblichen
geworden Sind.
(Fortfegung folgt.)
Aftronomie nnd Weltanfhauung bei griechiſchen Pille
fophen. Bon Dr, Paul Meth.
„Darum verfentt, wer im ungefchlichteten Zwiſt
der Völfer nah geiftiger Ruhe ftrebt, gern den
Blid in der heiligen Naturfräfte ftilles Wirken,
oder hingegeben dem angejtammten Triebe, der feit
Sahrtaufenden der Menden Brult durdglüht,
blidt er ahnungsvoll aufwärts zu den hohen Ge-
ſtirnen, welde in ungeftörtem Einklang die alte,
ewige Bahn vollenden “
Alerander v. Humboldt, „Anfichten der Natur”.
Das ftille Wirken der heiligen Naturfräfte, von
dem Humboldt fpricht, hat fidh in der unbelebten
Natur dem Menfchen ohne Zweifel beim Anblid
des gejtirnten Himmels zum erjten Male offen-
bart, denn in jenen unerreichbaren Höhen er-
fannte er Vorgänge von unbedingter Regel-
mäßigfeit, die ihm Tag und Nacht, Monate und
Jahreszeiten brachten. Längſt ehe die einfachſten
Geſetze der Lehre vom Gleichgewicht oder von
der Lichtbewegung befannt waren, zu einer Beit,
als noch alles Naturgejchehen auf der Erde dem
Menfchen ein fortwährendes „Wunder“ und der
Ausfluß einer ausgefprochenen Willfür zu fein
frhien, da belehrte fchon eine durch Jahrhunderte
fortgefegte Beobachtung des Sonnen- und Mond-
laufs den Menfchen, daß „Satzungen“ oder „Ge:
fege” auch für die Natur gefchrieben fein müjjen
und nicht nur von Menfchen für das Zufammen:
leben im Staate gejchaffen worden find. „Der
Menſch war voll Unruhe und Furdt, jo lange er
die Gejegmäßigkeit in der Natur noch nicht er-
tannt hatte“, lefen wir bei dem indifchen Weifen,
Tagore, in „Sadhana”. Bertrautheit mit einer
Erſcheinung ftellt das innere Gleichgewicht wieder
her. Die Furt vor den Sonnen: und Mond:
finfterniffen verfjchwand, als man fie vorauszu>-
fagen lernte. Das Naturgefe ift ein Gejchent
der Aftronomie. Aus den Sternen hat der
Menfch in alter Zeit die erften Naturgejeße ab-
gelefen; die aus der Himmelsbeobachtung gefun:
dene Gejegmäßigteit hat ihn zu den erften rid-
tigen Vorherfagen befähigt. Im zweiten Jahr:
taufend vor Chriftus verstanden chinefifche Aftro-
nomen fchon Finjterniffe anzufündigen, und der
Staat ftellte aus religiöfen Gründen fo hohe UAn-
forderungen an die Zuperläffigfeit der Voraus:
jagen, daß einmal zwei Hofaftronomen in China
hingerichtet wurden, weil fie fih und das Land
con einer Finſternis hatten überrafcdhen laffen.
Auch die babylonifchen Priefter, die zugleichAſtro⸗
nomen waren, hatten durdy Jahrhunderte lang
fortgefegte Beobachtungen eine regelmäßige
Reihenfolge von Finfterniffen entdedt. Der
Milefier Thales, welcher auf feinen Reifen aus
dem Born babylonifcher Sterntunde gejchöpft
hatte, fonnte im fiebenten Jahrhundert vor Chri-
10 Aftronomie und Weltanſchauung bei griechiſchen Philofophen.
ftus zum Staunen feiner Landsleute eine Son>
nenfinfternis vorherfagen.
„Geſetze“ des Staates kannte auch der jchlich-
tefte Verftand, ihren „Zwang“, die „Anangke“,
wie der Grieche fagte, lernte er am eigenen Leibe
tennen, wenn er fih dagegen aufbäumte. Da⸗
gegen hielt der Grieche der älteren Zeit die Göt-
ter für vollkommen frei in ihrem Handeln. Erſt
eine ſehr tiefgründige Auffaffung erfand aud) für
die Ueberirdiſchen die Notwendigkeit oder
„Anangke“. Damit war ein Uebergang zu der
von den Göttern beherrichten Natur geichaffen,
und vorſichtig taſtend ebneten wenige ganz er-
feuchtete philofophifche Köpfe einer ſpäteren Cr-
fenntnis die Wege, indem fie den Begriff des
Zwanges aus dem Bereich des menfclichen Qe-
bens auf die Naturvorgänge übertrugen. Diefe
Mebertragung blieb aber zunächſt ein fühnes Hin-
eindeuten menjdlicher Berhältnifle in die Natur,
und es mußten fhon überwältigende Gründe zu
diefer grundfäglid neuen Auffafjung drängen.
Wir dürfen von unjerem Standpunfte aus ge:
radezu jagen, daB fih der Weife von dem Unge-
bildeten dadurch unterfchied, daB jener aus den
Naturerfcheinungen das Wunder fortzudenten
vermochte, womit aber nicht gejagt fein foll, daß
er im Beſitze wiſſenſchaftlicher Erklärungen ge-
wejen wäre: Er glaubte nur an das Beftehen
notwendiger Verknüpfungen. An die Stelle eines
findlihden Wunderglaubens tritt die Forderung
einer allgemeinen Geſetzmäßigkeit. In diefer
Weltanfhauung ift nicht Plaß für ein freies, un-
gebundenes Walten untergeordneter Naturgötter,
jondern der Welt ift eine „Ordnung“ durch eine,
im einzelnen unbefannte Macht aufgezwun«
gen. Schon im Trührot der alten ionilchen
Naturphilofophie taucht diefer Gedanke auf, um
von da an mehr und mehr in den Mittelpunft des
Nachdentens über den „Kosmos“ zu Ireten.
„Kosmos“ heißt in der griedhifchen Sprade ge:
radezu „Ordnung“ und die griechifchen Denter
fonnten dem Weltall feinen ausdrudspolleren
Namen als die Bezeihnung „Kosmos“ geben.
Denn das AU ift für fie die Verförperung der
Ordnung fchledthin. Die Gefege der Ordnung
zu finden, war und blieb die Aufgabe; die Ueber:
zeugung von dem Beitehen der Geſetzmäßigkeit
ward zu einem Forichungsgefichtspunft, der mit
mehr oder weniger Blüd angewandt wurde. Und
je mehr die Naturgefege als feft verankert im
Weltall gefühlt wurden, um fo weniger blieb
neben dem Weltenſchöpfer (Platons Demiurg)
Platz für einen reih bevölkerten Götterhimmel.
Die in der Aſtronomie entdeckte Weltordnung
führt zum Glauben an eine Gottheit und in der
Geijteseinftellung der Materialiften — Demotrit
— zur Leugnung alles Böttlichen.
Der Glaube an Geſetze, welche die Natur be-
jtimmen, war im Anfang noh faſt bar eines
greifbaren Inhaltes. Durch ein „faft bewußt:
lojes Gefühl höherer Ordnung und innerer Ges
jegmäßigfeit fanden die Menfchen durch lange,
mühevoll gefammelte Erfahrungen dasjelbe Welt-
bild, nämlich die „„Ordnung“” wieder, was fon
Jahrtauſende vorher die erleuchtetiten Geifter
vorhergeahnt hatten” (U. v. Humboldt, Kosmos,
Bd. I, Anfang). Da aber dies Fühlen eines Welt-
gejeges der Betrachtung der Geftirne entiproffen
ift, jo nehmen die aftronomifchen Gedankenreihen
in den Lehren gerade der bedeutendften griechi—
ſchen Weifen eine hervorragende Stellung ein.
Die „Welt-Anſchauung“ befommt einen doppelten
Ginn, entiprechend der eigentlichen Wortbedeu-
tung: einen ethiſchen und aftronomifch-natur-
naturphilofophiichen. Die Aſtronomie ift ein An-
{hauen der großen Welt, des Mafrofosmos. Die
mafrofosmifche Denkweiſe ift bei vielen Philo-
jophen charafteriftiih für die Weltanſchauung
über das Menſchenleben, den Mitrofosmos.
Philofophifche Leitfäße finden ebenfo Anwendung
auf den Menfchen wie auf die Einrichtung und
Erklärung des Kosmos. Die Lehre vom Weltall,
die Aftronomie, ift ein wichtiger Beftandteil vieler
philofophifcher Syfteme, fo daß wir die Grund-
gedanfen der Weltanfchauung in volliter Rein
heit hervortreten jehen, wenn wir das Weltge-
bäude anjchauen werden, das der PBhilofoph fih
aufgebaut hat. Die Philofophen, bei denen wir
die Zufammenhänge der Mitronomie und Welt:
anſchauung aufſuchen wollen, find meilt Cr-
foríher der Natur und des Menfchen; daher
rundet das Bild des Kosmos als lebter, groß:
artiger Hintergrund ihre Lehre ab, die dadurch
etwas bewundernswert Gefchloffenes erhält. Die
ethifche Einjtellung wird kosmiſch und die ftos-
mifche Erkenntnis wurzelt in gewillen mehr
ethiſch empfundenen als im modernen Ginn
naturmiljenfchaftlih begründeten Leitgedanten
und Erfahrungen. Während wir uns heute aus
einer Fülle von Beobachtungen an der Hand
hochentwidelter mathematifcher Hilfsmittel ein
aftronomifches Weltbild jchaffen, fehlte den älte-
ren Griechen zu diefem auffteigenden Verfahren
jede Borausfegung. Erft in der fpäteren, foge-
nannten helleniftifhen Beit beginnen die regel-
mäßig vorwärtsichreitenden aftronomifchen Be-
obadytungen, die zu Geſetzen verknüpft werden.
Der ältere Philofoph empfand aber diefen Mans
gel an Tatfachenmaterial nicht zu ſchwer; eine
ſtarke Phantafie und ein zielficherer Inſtinkt
mußten fehlende Beobachtungen erfegen. Cein
Aftronomie und Weltanfhauung bei griechiſchen Phitofophen. 11
Wille zur Macht auf geiftigem Gebiete eroberte
fih in dem unbefismmerten Draufgängertum
eines reinen olgerungsverfahrens den Qos-
mos, fei es auch in unbedenklicher Erweiterung
von Gejeßen des Mikrokosmos auf das AU. Als
ein glüdlicher Einfall diefer Arbeitsmweife er-
ſcheint uns die aſtronomiſche Anficht Anariman-
ders (um 600 vor Chriftus), welcher die Erde
im fugelförmigen Weltall {hw eben läßt. Wie
body ſteht diefe Erkenntnis über der fpäteren
Lehre eines Ariftoteles, der ein endgültiges
Oben und Unten annimmt! Durd eine mert-
mwürdige Verquidung von Falſchem und Rid-
tigem fommt Anaragoras zu diejer Lehre von
der frei fchwebenden Erde, für feine Zeit ein
Bedankte von großartigem Schwung: Er fegt
nämlidy in unbefümmerter Selbitverjtändlichkeit
die Erde zunächſt in die Mitte der Welt, das
Weltall aber nimmt er fugelförmig an. Beide
Borftellungen erfordern noch einen wichtigen
Zuſatz: Die Erde ift nad) allen Seiten hin von
der Weltkugel gleich weit entfernt, es fehlt alfa
nah Anarimander ein zureichender Grund da-
für, daß die Erde nad einer Richtung fallen
folle. In diefer Lehre liegt der Keim zu allen
folgenden Entwidlungen; denn es mußte erft
einmal die Loslöfung des Erdtörpers von dem
Himmelsgewölbe als Glocke vollzogen werden,
che weitere Fortfchritte der Aftronomie möglich
waren. Anarimanders Lehre über das Welt-
all find auch an einem anderen Punkte für uns
febr intereffant, nämlich darin, daß er die Welt
aus einem Urftoff entjtehen läßt, der noch feine
unterfchiedenen igenfchaften aufwies. Die
„Schöpfung“ befteht in der Entwidlung von ver-
fhiedenartigen Stoffen und Formen aus dem
Urſtoff. Diefe Neubildung alfo Schöpfung,
Schreitet immer noh weiter fort und ift nidht
mir einem einmaligen Schöpfungsaftt beendet.
— Das find Gedanken von ganz neugeitlicher
Sarbung, durchaus denen in Kants „Naturge-
Ihichte des Himmels” verwandt. Auch Kant
betont, daß die Entwidlung aus dem Urnebel
an vielen Stellen des Weltalls weitergehe, daß
die Schöpfung fortichreite. Rant vermag immer:
þin auf die Nebelflete hinzuweiſen, die uns
Welten im Entjtehungszuftande ſehen laffen:
Anarimander fehlte jede Erfahrungsunterlage,
feine Weltentftehungslehre leitet fih aus feinem
allgemeinen naturphilofophifhen Anſatz, der
Lehre vom Uritoffe, ab.
An Kant und Laplace erinnert auh die Lehre
vom „Urfeuer” des etwa hundert Jahre jünge-
ren SHeraflit aus Epheſus, eines Soniers wie
Anorimander. SHeraklit läßt die Welt aus dem
Urfeuer entjtehen, aber auch wieder dahin zu—
rüdfehren. Der zweite Gedanke ift ebenfalls
von Kant ausgefprochen worden, allerdings in
viel beftimmterer Form. Nach Kant laffen fih
phyſikaliſche Gründe dafür angeben, daß die
Planeten einmal in die Sonne ftürzen müffen.
Heraflit fieht weiter im Weltuntergang die
Notwendigkeit zu neuem Entſtehen. Das
Rätſel der Ewigkeit löft er in großartigem Ge-
dantenfluge durch die ewige. Aufeinanderfolge
vergänglicher Welten, die fih in ungeheuren
Zeiträumen aus dem Urfeuer neu bilden, um.
immer wieder ins euer zurüdgufehren. Unbe:
ſchwert von dem uns heute hemmenden Energie:
zerjtreuungsgejeß gibt der Ephefier in feiner
Weltentftehungslehre gang dem inneren Drange
nah, der eine ewige Welt verlangt. Der
Bedankte der ewigen Wiederkehr hat auch [pätere
Philofophen aus- der Klemme gerettet, in Die
man zwijchen den beiden der Welt zugefchriebe-
nen Eigenfchaften gerät: Veränderlichkeit und
Bergänglichleit gegenüber der Cmwigfeit als
Horderung. Eine einmalige Cntwidlung mit
Anfang und Ende wäre nur wie ein einmaliger
Pulsſchlag oder wie ein einmaliger Ausichlag
eines Pendels, das durh Reibung nad) dem
eriten Anftoß zur Ruhe kommt. Alfo Todes-
ruhe vor der Schöpfung und nah dem Unter-
gange. Wenn felbft das Leben des Weltalls
zwilchen Anfang und Ende nod fo viele Beit-
räume dauerte, jo wäre diefe — endliche — Beit
ein Nichts zwiſchen den Ewigkeiten des Todes-
Ichlafes. Aehnliche Gedanken werden Heratlit
und feine Nadjfolger gedrängt haben, eine ewige
Wiederholung des Weltgefchehens anzunehmen.
Daß die Griechen den Ephefier den „Dunklen“,
das heißt den fchwer Berftändlichen, nannten,
wird uns niht Wunder nehmen, wenn wir das
merfwürdige Wort, von ihm hören: „Die Sonne
wird ihre Maße nicht überfchreiten. Täte fie
es, jo würden die Rachegöttinnen fie ereilen, die
Helferinnen des Rechts.” Hier haben wir die
vorher angekündigte und für die alte Natur-
philofophie höchſt bezeichnende Gegenüberitel-
lung, ja Gleichſetzung von ethifchen Vorfchriften
und aftronomifchen Gefegen. Nur von einem
Standpuntt, der weit über den ſchlichten und
wunderfreudigen Götterglauben der älteren
Briechenzeit hinausging, war der tiefe Sinn des
Ausſpruchs zu fallen. Durch die ganze Welt-
anſchauung diefes Philofophen geht ein jtarfes
Gefühl für Recht und Gejeß; und wie die Rache:
göttinnen feine Weberjchreitung des morali:
ſchen Gefeges zulafien, walten fie auh über
der ftrengen Gejegmäßigkeit des Himmels.
Inhaltlich ift es diefelbe Gegenüberftellung wie
in dem berühmten Kantjchen Worte: die immer
12 Aftronomie und Weltanfehauung bei griechiſchen Philofophen.
neue Bewunderung vor dem „moralifchen Geſetz
in mir” und dem „geftirnten Himmel über mir“.
Der Philofoph des Altertums verfügt noch nicht
über eine entwidelte Sprache der Wiſſenſchaft;
daher überträgt er mit dem Begriff auch die
Worte aus der menfchliden Sagung, wenn er
von „SHelferinnen des Rechts” ſpricht. Wir
fagen heute „Naturgefeße”. Für feine Zeit
liegt aber das Neue darin, daB die Sonne fol-
chen Gefegen unterworfen fein fol. Die allge-
meine Weltanfhauung, die aus allen Worten
Heroklits zu uns fpricht, verleugnet fih auch nicht
ın der Naturmiffenfchaft und führt ihn auf einen
Meg, der fpäter zu Begriffen wie „Urſache und
Wirkung“ und legten Endes bis zu unjerem
Standpunft hinleitet, wo ein „Energiegefeß“ die
Entwidlung, alfo die „Maße“ der Sonne be:
ſtimmt. Mir gehen alfo nicht fehl, wenn wir
aus dem „dunklen“ und darum ausdeutungs-
fähigen Ausfpruche eine Lehre der Wllbejeelt-
heit herausfefen. Es mag wohl eine tiefere Ab-
fiht den für Menfchen beftehenden Begriff des
Rechts auf die Sonne übertragen haben, um fie
damit unter die jelbjtbewußten Weſen einzu:
reihen.
Bom Often des damaligen griechifchen Kultur-
freifes wenden wir uns nun zu den entgegen:
gefegten griechiſchen Kolonien in Unteritalien,
wo Pythagoras (er war im Often, auf der
Sinfel Samos, um 550 vor Chriftus geboren)
lehrte und Schule machte. Die pythagorätjche
Aftronomie hat ihre höchjte Vollendung im Lehr:
gebäude des Pythagoräers Philolaos gefunden.
Bei der unbedingten Geltung, die jedes Wort
des Meifters unter feinen Schülern befaß, ift
anzunehmen, daß Philolaos' Lehre in allen
mwefentliden Zügen auf Pythagoras felber gu-
rüdgeht, fo wie die ganze Ethik der Pythagoräer
vom Gründer ihrer Schule fejtgelegt und von
feinen Jüngern und Nachfolgern peinlich be-
obachtet worden ift. Für unferen Jwet ift es
gleichgültig, ob die eine oder andere ajtronp-
mifche Lehre vom Gründer der Schule herrührt
oder Zutat fpäterer Pythagoräer ift. Das
Syitem der Welt, das Philolaos gelehrt hat,
gilt uns als „pythagoräifch”, und wir wollen die
gemeinfamen Fäden auffuchen, die das Welt:
bild der Pythagoräer und ihre ethilche Einjtel:
lung verbinden.
Man findet bei Heraklit und Pythagoras einige
verwandte Gedanken; es gilt niht als ausge:
Ichloffen, daß Heraflit von den Lehren des um
etwa fünfzehn Jahre älteren Pythagoras Kennt:
nis erhalten hat. Bon einzelnen Zügen abge-
ſehen find jedoch die Weltanfchauungen beider
PBhilofophen fehr verfchieden. Jn feinem philo-
fophifhden Syftem des Wltertums fpielt Die
Aftronomie eine fo große Rolle wie im pythago>
räifchen, und in feinem Syſtem find die Grund-
ideen über die menfchlicye Natur und das Leben
jo eng mit Anfcdyauungen über das Weltall zu
einem farbenpräcdtigen Gewebe verflodhten, aus
dem wir die fchönften Fäden löfen würden, wenn
wir die Mitronomie daraus entfernten. Auf
aftronomifchen Erkenntniffen ruhen die Grund»
pfeiler diefer Lehre und eine erjtaunlidy weit
durchdachte, phantafievoll ausgeſchmückte Aſtro⸗
nomie trönt niht nur die pythagoräiſche Natur:
philofophie, fondern au — fo [onderbar es
tlingt — den ganzen Bau der Ethit mit. Man
bekommt den Eindrud, als fei der Unblid des
geftirnten Himmels das Urerlebnis gewefen, aus
dem der Philofoph feine Lehre geichöpft hat.
Pythagoras’ Lehre von der Sphärenharmonie
zeugt am lautelten von feiner verzüdten Begeie
fterung und Bewunderung über das Weltall,
vor deffen überwältigend fchöner Ordnung der
Weiſe feine tieffte Frage Stellt: Was ift diefe
Regelmäßigfeit und Gefegmäbigteit des Welt-
alls, deren Erkenntnis zu einem tiefinneren Er-
febnis wird? Pythagoras gibt fih felbft die
Antwort: Die „Zahl“ ift der Urgrund der Welt-
gefege und damit das Wefen aller Dinge über:
haupt. Das Wefen diefer legten Geſetze liegt
darin, daß es durch Zahlen zu fallen ift Die
NRegelmäßigkeit des Kosmos ift durch Zahlen
auszudrüden. Wer die Zahlengejeße der Welt
þat, begreift die Welt und verjteht die Geheim:
niffe des Weltalls. Die höchſte Naturbegeifte-
rung mündet in eine beinahe verftandesmäßige
Löfung aus. Das ift das Reizvolle der pythago—
räilchen Beifteseinjtellung.
Die Zahl ift ein Erzeugnis des menfclichen
Geiftes, und wenn die Welt, wie Pythagoras
will, nad) einfachen Zahlengefegen aufgebaut ift,
Io fordert er damit die Begreifbarfeit der Welt.
Mit diefer Ansicht Jchafft er die Vorbedingung
tür jede erafte Naturwiſſenſchaft im modernen
Einne, das heißt für eine Befchreibung der Na:
turvorgänge durch mathematische Formeln. Die
ssormellprache fannte zwar das Altertum nidt,
und feßte an ihre Stelle die geometrifche Figur.
Œs ift aber durchaus pythagoräijch gedacht, wenn
die griechifche Afironomie die Planetenbemegung
durch Kreiſe oder Verbindungen von joldyen
(Epizyfeln) zu erklären verfuchte. Auch die heu—
tige Aſtronomie verdant: die Entdedung der
arundlegenden Gefete der Bewegungen im Son—
nenfyftem dem Streben, Zahlenharmonieen
oder einfache, durch Zahlen ausdrüdbare Regeln
für die Abftände und Gefchwindigkeiten im Pla-
netenſyſtem zu finden: Kepler, der Entdeder die-
Tehnifhe Anwendungen der Lichtinterferenzen. 13
fer Brundgejege, war ebenfo wie Pythagoras
von der Eriftenz folder Zahlenharmonieen
durchdrungen. Diefer pythagoräifhe Gedante
ijt einer der fruchtbariten für die Entwidlung
der Himmelstunde geworden. Auch die pytha-
goräiſche Aitronomie beruht ganz auf diefem
Bedanten wie auf einem Glaubensfaß: auf der
unbedingten Heberzeugung, daß die Natur nur
jo fein fönne, weil fie fonft nicht fo ſchön und
volltommen märe. Aber während Kepler
Veltgeſetze von diefer feiner Einftellung der
Seele aus fand, blieben die pythagoräiſchen
Spekulationen über den Bau des Weltalls nur
erfolgloje Zahlenzufammenftellungen. Das lag
eben an der Methode. Der Grieche konnte und
wollte nicht erperimentieren, aber die Natur
laßt fih nicht aus allgemeinen Süßen erfchließen.
Die Zahlengefege des pythagoräilhen Welt-
bildes find daher noch von einer kindlichen Ein-
fachheit, Die gegen die Keplerſchen Geſetze recht
augenfällig abjticht.
(Fortſetzung folgt.)
zehniihe Anwendungen der Lichtinterferenzen. A
Bon Dr.
Cine große Reihe optifcher Erfcheinungen ift
durch ihre technifchen Anwendungen auch weite:
ren Kreifen der gebildeten Laienwelt befannt ge-
worden. Darunter gehören zum %Beifpiel Die
Epeftralanalyfe in ihrer reichhaltigen und frucht-
baren Auswirkung, die Schlierenmethode, Die
verichiedenen Arten der Bernrohrkonftruftionen
nebjt allen ihren Verbeſſerungen, die Lichtitärte-
mejjungen und dergleichen mehr. Weniger be-
konnt find die Interferengerfcheinungen in ihrer
Anwendung auf technifche Probleme, obwohl
doch deren phyſikaliſche Eigenschaften nicht gerade
|hwieriger zu verftehen find als etwa die der
arbenfrohen PBolarifation.
Interferenzen treten auf, wenn fih Zichtwellen
gegenfeitig fo übereinander fagern, daß fidh die
einzelnen Bhajen der Wellenbewegung auslöfchen
oder verftärten. So ift die paradore Erjcheinung
möglich, daß Licht zu Licht gebracht Dunkelheit
x
||
er O
IIIIII
Gelfert.
ergeben kann (Fig. 1). Das iſt aber nur dann
der Fall, wenn man homogenes Licht von gleicher
Wellenlänge verwendet. Als ſolches hat man
zunächſt Natriumlicht benutzt; gegenwärtig ver—
wendet man mit größerem Vorteil das Licht
einer Queckſilberbogenlampe oder einer Neon—
röhre; auch Cadmium- oder Heliumröhren haben
günſtige Ergebniſſe geliefert.
Je nach der Beſchaffenheit und Lage der zur
Interferenz benutzten Platten erhält man Inter—
ferenzen gleicher Neigung oder Interfe—
renzen gleicher Dicke. Die erſteren entſtehen
an genau planparallelen Glasplatten, letztere an
ſolchen, die ſchwach keilförmig gegeneinander ge—
neigt find. Seien in Fig. 2 AB und AC zwei
F
gig. 2.
parallele Lichtjtrahlen, welche auf die ſchwach
feilfürmige Glasplatte LMON treffen, fo wird
der Strahl AB an der unteren, AC an der
oberen Fläche zurüdgeworfen; die refleftierten
Strahlen CE und BCD feien dann durch die
Sammellinje Q zur ünterferenz in F gebradt.
(Die in K refleftierten und die bei C und B
durchgehenden Teilitrahlen können ausfcheiden,
de fie für die Interferenz nicht in betracht
tommen.) Es ift dann an der Figur leicht ein-
zufehen, daß der Wegunterfchied beider Strahlen
ô — GB + BC ift, wobei diefe Streden wieder
14 Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen.
von der Plattendide d und dem Einfallswintel i
abhängig find.) Es tritt jomit ein Marimum
oder Minimum der Snterferenz in F ein, wenn
Big. 3.
Prüffläche am Glasteil.
ô gerade gleich einer ganzen oder halben Wellen-
länge oder einem ganzen Bielfachen davon ift;
mit anderen Worten: von einem Interferenzmini—
mum bis zum nächften hat fih die Plattendide
gerade um eine halbe Wellenlänge geändert. Die
Gejamtheit aller interferierenden
Lichtwellen gleicher Phaſe wird fih
bei F alfo in Form von parallelen
Streifen gleicher Abſtände zeigen;
die dunklen Streifen jtellen jomit
Orte „gleicher Dide” dar. (Fig. 3.)
Aus der Zahl der Streifen, welche
auf eine gemwijje Länge fommen, läßt
jih daher leicht der Neigungswinkel
des Plattenteils (oder eines analog
abgegrenzten Quftkeils zwiſchen zwei
Glasplatten, deren Grenzflächen ge-
gen die Luft dur LM und NO dar-
gejtellt find) berechnen. 3.3. ergibt fih, wenn auf
3 em Ränge 20 Snterferenzitreifen fallen, unter
Benußung der violetten Duedfilberlinie å = 0,4 n
der Winkel
20 . 0,0004
2.30
Sit nun NO nicht mehr eben, fo. bleiben trog-
dem die Snterferenzftreifen „gleicher Dide” be-
jtehen, werden nur, der Form der Unebenheiten
von NO entiprechend, feine geraden Linien,
jondern irgendwelche Kurven ergeben. Bekannt
ift ja die Erfcheinung der Nemwtonfchen Farben-
ringe, die hiernach ohne weiteres verjtändlich
g — 72133 .10° = 27 sec
‘) BC — GB = BC . cos 2 i; alfo ô =
cos i
d
cos i (1 + cos 2 i) = 2 d . cos i. ür i — 90°
wird ô — 2 d. .
wird, wenn man fih NO etwa fugelflächen-
förmig gefrümmt dentt.
Hierin liegt der Wert der Interferenzerſchei—
nungen als eines ausgezeichneten Hilfsmittels
zur Beitimmung von Unebenheiten der Mep-
flächen von Endmaßen, Rechenlehren, Schrauben-
mitrometern ufw., ebenjo zur Anwendung in der
Optik und in der Mitronomie.
~ Die Interferenzen „gleicher Neigung“ tamm
man fih etwa entjtanden denten, wenn man den
Keilwintel in Fig. 2 allmählich bis zu Null ab-
nehmen läßt. Dann rüden die Anterfereng-
itreifen gleicher Dide immer weiter auseinander,
und es bleibt fchließlich nur eine gleichmäßig
hell erleuchtete Fläche übrig. Werden dann, wie
in Fig. 4 erfichtlich, ſämtliche unter dem gleichen
Winkel i gegen die völlig planparallele Luft:
platte geneigten Strahlen durch eine Line (Fern—
rohr) vereinigt, jo beobachtet man eine an die
Newtonfhen Ringe erinnernde Snterferenz-
erſcheinung, weldye durch die Interferenz Der
direft durch die Platte hindurchgehenden und der.
zweimal an ihr refleftierten Strahlen zuftande-
Fig. 4.
fommt. Ganz ebenfjo wie bei den Jnter-
ferenzen gleicher Dide hat man gezeigt, DaB der
MWegunterfchied in der genau gleichen Weife von
der Plattendide d und dem Neigungswinfel i
abhängt (Haidinger, Mascart, ZLummer). Wäh-
rend aber der Dirett hindurchgehende Strahl nur
gering geſchwächt wird, büßt der zweimal reflef-
tierte Strahl erheblich an Iintenfität ein. Daher
erhält man feine ſcharf dunklen Snterferenz-
furven. Um beide Strahlen annähernd auf die
gleiche Intenfität zu bringen, werden für die
PBraris die begrenzenden Platten an den Innen—
feiten halbdurchläſſig verfilbert, jo daß etwa die
Hälfte eines Lichtftrahles hindurchgeht und die
andere Hälfte reflektiert wird. Die Verjilberung
wird mittels Kathodengzerftäubung für jeden ge-
wünjchten Grad der Durdhläfligkeit erreicht.
a) Mechaniſche Anwendungen der
Interferenzen ergeben fih nach dem oben Ge-
Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 15
ſchilderten in erſter Linie aus den Interferenz—
kurven gleicher Dicke.
Seitdem ſich das Syſtem der Austauſch—
fabrikation mehr und mehr ausgebreitet hat, ſind
die techniſchen Anſprüche an die Genauigkeit von
Maſchinen und Arbeitsmethoden außerordentlich
geſtiegen. Genügten früher Genauigfeitsgrade
bis zu '/ıo» mm, fo hat jetzt das Mitron (x =
0,001 mm) felbjt im Maſchinenbau Eingang ge-
funden.
Die Kontrolle der Feinmeſſung (Edelpafjung)
erfolgt durch Vergleich mit ſogenannten nò-
maen, die man je nach ihrer geometrifchen
Beichaffenheit in Parallelendmaße (von zwei
parallelen Ebenen begrenzt), in Sticymaße mit
Iphärifhen Mebflächen (ein zum Durchmejjer
paralleler Kugelausfchnitt) oder in Meßſcheiben
(in Zylinderform) einteilt, und deren Genauig-
feit naturgemäß noh erheblich größer fein muß.
Während 3. B. die Herftellungstoleranzen von
Lehren (Schub:, Rechenlehren u. a.) nur wenig:
u betragen, günjtigjtenfalles bis auf 0,8 « þer-
abgehen, erfordern die Endmaße jelbft einen Ge-
rauigfeitsgrad bis zu + 1 “ auf 100 mm, ja
jogar + 0,2 u bei Maßen von 1 bis 20 mm.
Eine tiefere Grenze ift technifch unmöglich, da
jelbft das Parifer Urmeter und die von ihm
abgeleiteten Gebrauchsnormale noch mit eben
diefem Fehler behaftet find, alle durch mechanifche
Methoden vorgenommenen Bergleichsmeflungen
daher infolge der neu auftretenden Meßfehler fo-
gar noch größere Abweichungen ergeben müffen.
Lediglich die Interferenzerſcheinungen ermög—
lichen die Herbeiführung der oben angegebenen
Genauigfeitsgrenze, und auch hierbei ift eine
lorgfältige Monochromatifierung nötig, da ja
jede Wellenlänge (weißes Licht hat Wellenlängen
von 0,4 bis 0,8 «) wiederum einen gemijjen end-
lihen Ausdehnungsbereich umfaßt, mithin alfo
jede Speftrallinie immer noch eine gemilje Breite
hat.
Um nun die Unebenheiten folcher Endmaße
durch Interferenzkurven fihtbar zu machen, ge-
nügt es, eine ebene Glasplatte fo über die zu
unterjuchende Endfläche zu legen, daß ein (hwah
feilförmiger Luftraum zwiſchen beiden entiteht,
und Diefen mit homogenem Liht zu beleuchten.
Die Abbildungen 5 bis 7 zeigen folche Jnter-
ferenzturven, die eine Art Schichtlinien der Un-
ebenheiten auf der geprüften Fläche darftellen.”)
Man fann zum Beilpiel in Bid 7 deutlich er-
tennen, daß zwei Reihen von Faden bis zu
?) Die Photographien wurden von der Firma C. P
Goerz, Optiſche Anſtalt, Berlin-Friedenau, liebens:
mwürdigerweife zur Verfügung geitellt.
ein Viertel Streifenbreite aus dem regelmäßigen
Gtreifenverlauf heraustreten, die von zwei Gtel-
len herrühren, welche fidh über das gange End:
ni
u
~
` i
TOSS
-aro
| \ f
WSN
e
Fig. 7.
maß erjtreden und um */s A = 0,05 u aus der
Fläche herausfallen. Um zu erfennen, ob eine
fonfave oder fonvere Störung der Ebenheit vor-
liegt, braucht man nur einen leichten Drud auf
das eine Ende der Glasplatte auszuüben. Dann
wandern die Snterferenzitreifen je nach Un:
lage der Apparatur nach rechts oder linfs, woraus
der Schluß in dem einen oder anderen Sinne
licher zu ziehen ift. Auch eine quantitative
Meſſung ift hierbei möglich, wie jhon oben an-
gedeutet wurde; man ift bis zu Abweichungen
von 0,02 « gelangt. Jn der Praris verjährt
man zwedmäßig fo, daß man Interferenzen er-
hält, welche zu anftoßenden Kanten des End-
maßes parallel verlaufen. Sind diefe dann in
beiden Fällen völlig gerade, fo ift Ebenheit nad)
zwei zueinander fenfrechten Richtungen nadge-
wiefen.
Eine weitere mechaniſche Anwendung beiteht
in der Ermittelung von Längen:
unterjichieden der Endmaße. Dabei wer-
den nach einer Anordnung von Köjters (1920)
16 Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen.
die zu vergleichenden Endmaße an eine Plan-
piatte „angefprengt”, d. b. fo luftdicht aufge-
jegt, dap feine Interferenzen wahrnehmbar find,
wenn man von der Planplattenfeite her beob-
adtet. Sind in fig. 8 ABCD und ABC'D’
Fig. 8.
zwei folche Endmaße, EF die Probeflädhe, GH
und G’H’ die Diden zweier Luftichichten, die
demfelben Interferenzjtreifen zwiſchen der Probe-
fläche und den Endmaßflächen entjprechen, jo
braucht man nur die zwiſchen H’ und J auf-
tretenden Snterferenzfranfen auszuzählen, um
den Didenunterfchied unmittelbar in Wellen:
längen angeben zu fünnen. Da man bei mono:
chromatifchem Lichte aber nicht einen bejtimmten |
Streifen eindeutig kennzeichnen fann, verwandte
Köfters mehrere Speftrallinien, die durch ihre
charatteriftifche farbige Zufammenwirfung einen
ganz bejtimmten Anterferenz-
itreifen zu individualifieren ge-
itatten.
Jn einem analogen Ber:
fahren ermittelte Profeffor ©.
Berndt den mittleren Längen:
unterjchied zwiſchen zwei nicht-
parallelen Endflächen jolcher
Maße. Auch Kugeln und 3y-
finder fönnen mittels einer
folchen interferometrifchen Me-
thode auf der Länge ihres
Durchmeffers hin unterjucht
werden.
Der erjte Verſuch, abſo—
[ute Längenbeſtim—
mungen mittels Lichtinter—
ferenzen durchzuführen, führt
auf den Franzoſen Macé de
Lepinay (1886) zurück, der die
Dide eines Quarzwürfels in
Wellenlängen der einen Na-
triumlinie De ausdrüdte, daraus das Bolumen
des Würfels in der gleichen Einheit bejtimmte
und durch Vergleiche mit den Gewichten des
MWürfels in Luft und Waller eine Beziehung
zwiſchen Meter und Kilogramm herleitete.
Noch wertvoller aber find die Mefjungen des
durch feine Arbeiten über die Interferenz des
Lichtes befannten englifchen Profeſſors Michel:
jon, der bereits 1895 die Aufgabe löfte, die
Längedes Meters in Wellenlängen,
alfo in einem in der Natur ſelbſt vorkommenden
Drake auszudrüden. Die Aufgabe, um deren
erfolgreiche Durchführung fih Pérot, Fabry und
Benoît ſowie die deutfchen Phyfiter Lummer und
Gehrde bejondere Berdienfte erwarben, ift des-
wegen von bejonderer Bedeutung, weil damit ein
Naturmaß für das Meter gefunden war, das
unabhängig von den Veränderungen des Ur-
meters (Temperatur, Quftdrud, Feuchtigkeit, Ma-
terialveränderungen) ift. Es ergab fih nah den
Arbeiten obiger orjcher, die in den Ergebniffen
des Bureau international des poids et me-
sures, Paris 1895 und 1913, niedergelegt find,
daß 1 m = 15531635 }
ijt, wo 7 die Wellenlänge der roten Cadmium:
Linie in trodener Luft von 0 Grad und
760 mm Drud bedeutet, während umgekehrt 4
= 0,643 847 22 u ift. Ebenſo läßt fih nunmehr
das Meter unabhängig von jedem körperlichen
Bergleihsmaßftab bejtimmen.
Schon Midhelfon erfannte, daß Interferenzen
gleicher Dide weniger zu ſolchen Meſſungen ge-
eignet find wie Interferenzen gleicher Neigung.
Er wandte fich daher bejonders den leßteren zu
yig. 9.
Stufengitter nah Micdelfon.
und benußte namentlich folhe von hohen Gang:
unterjchieden. Andererjeits bedurfte er jehr weit
aufgelöfter Speftrallinien, die er durch ein be=
jonders fonftruiertes Stufengitter (Fig. 9), eine
Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 17
Glasplattenſtaffel von 20 planparallelen Platten
von je genau 18 mm Dide erhielt, die treppen-
Fig. 10.
fürmig übereinandergefchichtet Stufen von 1 mm
Breite kiefern.
Bon weiteren mechanifchen Anwendungen der
SInterferenzerfcheinungen feien noh erwähnt ein
Interferenztomparator von Göpel
(1919) zur Meſſung von Didenunterjchieden mit-
tels vorbeimandernder Anterferengen, ferner ein
Apparat von Hamy zur Prüfung der Zap-
fenform von Durdgangsinftrumen-
ten, eine Methode von Kirner zur Meflung
ichnell veränderliher G a sd ru de mittels New—
tonfcher Ringe, die durch Druckeinwirkung
auf die Flächenform einer Linſe ent-
ftehen (1910); endlich ein Anterferenz-
apparat von Brüneifen (1907) zur
Mefjung elaftiiher Dehnung von
Stäben, bei melhem Planplatten fo mit dem
zu prüfenden Gtabe verbunden werden,
daß die Dehnung des Stabes durch eine
Bariierung der Schichten „gleicher Dide” erkenn—
bar und meßbar wird.
b) Anwendungeninder Optik. Die
ältefte Anwendung ift unter dem Namen „Me:
thode des PBrobeglafes” befannt. Man
legt die zu prüfende Fläche gegen eine Normal-
fläche und beftimmt aus der orm der Jnter-
A B
HH]
ferengfurven die Abweichungen. Lummer und
Abbe haben für feinere Meffungen diefer Art
Konftruftionen vorgefchlagen, auf Grund deren
Brodhun und Schönrod 1902 einen Apparat
unter Benußung der Kurven gleicher Dide an-
fertigen. Ein febr volllommener Apparat
gleihen Prinzips wurde 1912 von M. Schul
fonftruiert. Sig. 10 zeigt den leicht verftänd-
lien Typ der girma Goerz, bei welchem P die
Vergleichsfläche, Sch ein Schlitten zur Aufnahme
des Prüfftüdes ift. B—B ift ein feftes Stativ,
F ein Objettiv, O das Okular, C der Kondenfor,
k find Reflerionsprismen, S und H find Schrau-
ben zur Feineinſtellung.
Einen beſonders frudtbaren Gedanken hat der
idon oben erwähnte Michelfon durchgeführt, in-
dem er das von einer Lichtquelle ausgehende
Licht fo durch zwei Planplatten gehen ließ, daß
es an zwei dahinter befindlichen, aber jenfrecht
zueinander ftehenden Spiegeln zurüdgemorfen
und bei beitimmtem Gangunterfchiede mit fidh
felbft zur Interferenz gebraht wurde. Twy-
mann hat auf diefer Grundlage verfchiedene
Interferometer (1918) fonftruiert, mit welchen
eine Prüfung und Korrettion von Prismen und
Linfenfyftemen ausführbar ift. (Fig. 11.) Das
durdy den Spiegel A, die Sammellinfen B und
D und die Blende C parallel gemachte Lich
fällt auf die halb- :
durchläſſige Plan- |
platte K und wird
teils auf dem Wege:
Blanplatte K —
Prisma L— Spie:
gel F — zurüd
nah K, teils auf
dem Wege: K —
Spiegel G — zu:
rüd durh G zur
Snterferenz in F
c
und P gebradt.
Die entſtehenden
Sinterferenzbilder
entfprehen den
Unvolltommenbei-
ten der Blasflächen
des zu prüfenden
Prismas fo, daß
fie eine Art Relief-
P
ig. 14.
bild wiedergeben. Ein anderes neueres (1923)
18 Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen.
Interferometer zur Unterfuhung photographi-
iher Objektive ift in Fig. 12 Ddargeftellt. Die
ig. 13 veranjchaulicht eine Reihe von Jnter-
ferenzbildern eines guten Objeftivs, die mit der
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A j
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Fig 12.
grünen Quedfilberlinie A = 546 «u bei Strahlen:
neigungen von 0°, 5°, 10°, 15° erhalten wurden
und febr anfchaulidy die auh bei guten Objet-
tiven noch vorhandenen geringen Abweichungen
erfennen lajjen.
Weitere Snterferenzmethoden zu optilchen
Unterfuchungen find in neuerer Zeit von Waetz—
mann und Bratte angegeben und praftijch er-
probt worden, wobei von bejonderem Intereſſe
die vorzügliche Uebereinſtimmung der vorher be-
rechneten und beobachteten Kurven ift.
Eine der Michelfonfchen Methode ähnliche UAn-
ordnung bat Mach geichaffen, die dadurch be-
londers wertvoll geworden ift, daß man aus den
Störungen der auftretenden
Snterferenzen Schlüffe über
die Drudverteilung der Luft
in der Umgebung bemwegter
Geſchoſſe ziehen und fo den
Energieverlujt der Gejchojie
beurteilen fann.
c) Wohl die epochemachend:
fte Anwendung der Jnter-
ferenztechnif hat die M ftro-
nomie zu verzeichnen. Im ,
Jahre 1921 fam aus Amerifa
die Auffehen erregende Nach—
richt, daß es den Aitronomen Anderfon und Peaje
auf der Mt. Wilfon-Sternwarte gelungen fei, den
MWinteldurchmeiler des Sterns Beteigeuze («Drio-
nis) mittels einer von Michelfon vorgefchlagenen
Methode dirett zu meſſen. Welche gewaltige
Leiſtung dies bedeutet, geht am beiten aus dem
der Wirklichkeit jehr nahe entjprechenden Ber-
gleihe Schwarz
Ihilds hervor,
der das ganze
Gebiet des Fir-
jternhimmels mit
Millionen von
Stednadelföpfen
in Parallele fegt,
die in gegen-
feitigen Enfer—
nungen von 50
km ‘m Raume
verteut find. Da-
bei würde die
größte für trigo-
nometriſche Mef-
jungen erforder-
iiche Baſis, näm-
lih der Durch—
meſſer der Grd-
bahn, etwa einer
Strede von 20
Zentimetern entiprehen, woraus die Un—
zulänglichkeit aller Yeinmefjungen hinreichend
flar wird.
Micheljon ging davon aus, daß jeder Punft
der Sternoberfläche unporalifierte Wellen der ver-
Ihiedenjten Perioden ausjendet, die mit aus-
reichender Genauigkeit als ebene Wellen ange-
ſprochen werden fönnen und unter einander febr
fleine, aber eben noch meßbare Wintel bilden.
(Fig. 1.) Er verfudt nun, den größten dieſer
Winkel zu mefjen, den die von zwei entgegen-
gejegten Punften des Sterns ausgehenden Win-
fel bilden. Da aber die von verfchiedenen Punt-
ten der Sternoberfläche ausgehenden Wellen in-
ig, 13.
fohärent find, darf man nur Interferenzerſchei—
nungen zwijchen verjchiedenen Teilen einer
und derfelben Welle beobachten. Daher
Techniſche Anwendungen der Lichtinterferenzen. 19
wird (Fig. 14) vor das Fernrohrobjektiv ein
Schirm mit zwei Spalten gejeßt, fo daß das Licht
nur an zwei entgegengejeßten Enden hindurch—
gehen tann.
Fig. 14.
Bon den unter dem fleinen Wintel a ein
fallenden Lichtwellen pflanzen fih Teilwellen in
S und S’ nad) allen Richtungen fort, fo alfo auh
die Parallelwellen, die unter y gegen die Achſe
geneigt find. Ihr Gangunterjhied ift ô =
Wellenzahl von SB — Wellenzahl SA, d. h.
1 1
à = 7 (S'B—SA) = ~ (D sin y — D sin a)
oder, da sin a — a gefegt werden darf, d =
D a
p (~r — 9).
gür alle Wintel y, welche einen ganzzahligen
Wert von 5 liefern, verftärten ſich die Phafen
(im Brennpuntte), für alle Werte ð = 1/2, 3/2, *z
ufw. zerftören fie fih. Das NRefultat find alfo
Sinterferenzen für alle Werte von y, welche der
Gleichung y” - + a(n=0,1,3,3...)
genügen. Für jede andere ebene Welle gilt das
gleiche, nur find die Lagen der Marima und
Minima etwas verfchoben; bei einem fchein-
baren Sterndurchmefjer b tann der Cinfallswintel
alle Werte zwifhen + — und — Ë annehmen.
Somit überlagern fih die Interferenzigfteme der
verfchiedenen Wellen und verwifchen die Kon:
traſte. Michelfon wählt nun den Abftand D fo,
dab die Änterferenzitreifen zum völligen
Nerfhwinden tommen. Dies tritt nad
den von ihm ſelbſt durchgeführten weiteren Red-
nungen ein, wenn
2 À
$ = 122 =” 2,24 "D
ift, bei Doppelſternen (Algol) für
a 1 à 3 A )
1
326 5 **
uſw.
5 A
H= =D TD 2? DD
Aus der Wellenlänge des Sternenlichts und
dem direkt gemeſſenen Abſtande D läßt fih als-
dann der Winkeldurchmeſſer des Sterns oder der
Wintelabjtand der Komponenten von Doppel-
jternen nad) einfachen Formeln berechnen.
Zur Durdhführung der Beobachtungen madıte
fih die Konftruttion eines befonderen Apparates
nötig; denn fon für einen Stern von Sonnen-
größe, der eine jährliche Parallare von 1 sec
hat, ift ein Abftand D von 13 m erforderlich,
um die Anterferenzftreifen erftmalig gum Ber:
ihwinden zu bringen. Dafür reichen aber die
Fernrohrobjektive nicht aus.
Michelfon erfegte daher die Deffnungen S und
S’ durd) zwei in großer Entfernung aufgeftellte
Spiegel (Fig. 15), die er vor dem Objeftive
montierte.
Nachdem man 1920 mit dem 2 m=Spiegel des
Mount Wilfon » Dbfervatoriums den Wintel-
abitand der Komponenten des Doppelfterns Ca:
pella (a Aurigae) beftimmt, eine Parallare von
0,0600 sec und eine Entfernung von 131 Mil:
lionen km (alfo etwas Meiner als die Entfernung
Erde—Sonne) erhalten hatte — ein Refultat,
das überrafchend gut war —, ging Peafe an die
Beitimmung des Sterndurchmeilers von %Betei-
geuge. Er erhielt am 13. Dezember 1920 bei
tlarem Himmel und guten Bildern bei einem
Spiegelabftand von 310 cm feine Spur von
Big. 15.
Interferenzen. Bei Benußung der Wellenlänge
à — 550 nu ergab fih daraus ein Winteldurde
meljer von 0,045 sec, woraus unter Benußung
der mittleren Parallare 0,018 sec (April 1921)
ein linearer Durchmeffer glei dem 200fachen
Sonnendurcdhmeifer folgte. Würde fih die jehr
wahricheinlie Mutmaßung beftätigen, daß die
Parallare von Beteigeuze nur zu 0,01 sec an=
zuſetzen ift, jo würde ihr Durchmeſſer fogar fünf-
hundertmal fo groß als der der Sonne fein.
Damit ift aber die Eriftenz wirklicher Riejen-
iterne direft nachgewiefen und eine einwandfreie
phyſikaliſche Grundlage für weitere Unterjuchun:
gen der Riefen- und Zwergiterne gefchaffen. Zur
Zeit werden die Verfuche auf dem Mount Wiljon
20 Wettervorausfage für 1925.
mit einer 8 m langen Spiegelbafis fortgejeßt,
die weitere wertvolle Ergebniſſe für die aftrono-
miſche Forſchung erhoffen laffen.
Schon 1910 hatte der ruffifche Gelehrte S. Po-
krowsky eine andere, wefentlih von der Michel:
ſonſchen verfchiedene Interferenzmethode zur Be-
ftimmung des fcheinbaren Sterndurchmefjers an=
gegeben, die unter gleichzeitiger Anwendung von
auftretenden Bolarifationserfcheinungen beim
Durchgang durch Kalkipattrijtalle ebenfalls auf
der Interferenz von Lichtwellen beruht, die zu
Interferenzitreifen in zwei zueinander ſenkrech—
ten Richtungen führt. Die Methode befigt den
Vorzug einer noh größeren Empfindlichkeit, ift
aber praßtifch noch nicht durchgeführt worden.
Wettervorausfage für 1925. Bon Stadtbaurat Laspegres. P
Vorbemerkung der Schriftleitung:
Manche Leſer erinnern ſich wohl noch der im Jahrgang
1921 veröffentlichten Wettervorausſage, die Herr Las-
peyres auf Grund der Schaeferſchen Methode ausge:
arbeitet hatte. Ich Habe in der November/Dezerber:
Nummer 1921 die Borausfage und das wirklich einge:
tretene Wetter nebeneinander geitellt und gezeigt, wie
wenig von erfterer eingetroffen ift. Nach neuen Mit:
teilungen des Herrn L. ift diefer aber nunmehr in der
Lage, die Urſachen feiner Mißerfolge zu überbliden
und behauptet, jet mit erheblidyer Sicherheit eine
Prognoſe ftellen zu können. Ich habe zwar meine Be-
denten dabei, gebe ihm aber gern nod einmal das Wort,
denn über derartiges fann legten Endes nur der Erfolg
enticheiden. Die Lejer werden am Ende des neuen
Jahres davon hören. Bavink.
Folgendes iſt die von Herrn L. eingeſandte Tabelle
der „Mondvorübergänge“ nebſt den darauf gegründeten
Wetterprognoſen für 1925:
nn m sg
Monat
MB. Das Wetter foll fein:
am... DOr...
Jan. 1. Mars Bis 16. (A-Tag des Neu) Froft
2. Saturn und meift troden, dann mieder
13. Neptun milder mit ftärferen Niederjchlä-
22. Jupiter gen, namentlih um den 18., 23.
24. Sonne(Reu- | (CTag des Neu), 28. (C-Tag
mond) des Ma). Bom 29 wieder
28. Uran. Mars |troden mit Froft.
gebr. 9. Ne Bis zum 9. (C-Tag des Ne) ziem:
15. Sa lid) mild, zeitweile Niederſchläge,
19. Su dann Froſt und meift troden und
23. Neu heiter bis zum 16. (A-Tag des
28. MT Neu), dann wieder mild mit ftär-
teren Niederichlägen, namentlid)
um den 18., 23., 27.
So zeigt fi) eine Fülle von wertvollen Ergeb-
nifjen der Snterferenztechnit, die weit über den
Rahmen der internen wiſſenſchaftlichen For:
ſchung befannt zu werden verdienen. Wenn die
praktiſchen Ausnutzungsmöglichkeiten erft in den
legten Jahren größere Ausdehnung angenom-
men haben, fo beruht dies wohl darauf, daß die
techniſche Bervolltommnung der benötigten op-
tiichen Flächen, die zur Erzeugung der äußerft
feinen Aufichließungs- und Wiedervereinigungs-
porgänge dienen, ebenfalls erft in jüngfter Zeit
auf die gemwünfchte Höhe geftiegen ift. Man darf
aber nunmehr von diefem neuen Gebiete der
Teintechnit noch manches wertvolle Refultat er-
warten.
März 8. Ne Bis zum 16. (A-Tag des Neu)
14. Sa meift troden und fonnig; nod
19. 3u zeitweife Froſt, dann bis zum 24.
24. Neu mild und öfter Niederjchläge. Ende
29. Ma mild und meift troden. Nod
Nachtfröſte.
April 5. Ne
15. Ju
23. Neu 29. Ma | bis 30. trodener und heiterer.
10. Sa | Meift fühl mit häufigen Nieder-
19. Ur | fchlägen. Bom 10 bis 14. und 24.
Mai 1.Ne 8. Sa | Bis 28. und vom 15. bis 22 (Neu:
13.3u 17. Ur | mondwirtung) fühl, bedeckt und
22. Neu nah, ſonſt heiter, warm und meift
25. Ma troden. Um den 10. bis 13. Nacht⸗
29. Ne froſtgefahr.
Juni 4. Ga Meift warm, fonnig und troden.
9. Ju Gemitterartiger Regen um den 3.
21. Neu und 8. wahrfcheinlich (C-Tage des
22. Ma Sa und Su), um den 15., 20., 30.
26. Ne nicht ausgeſchloſſen.
Juli 1.6a 6. Ju Vom 7. bis 13. und 21. bis 27.
11.Ur 20. Neu meijt warm, fonnig und troden,
22.Ma 28. Sa | Jonit häufig kühl und regneriſch.
Aug. 2. 3u 7. Ur| Warm, heiter und troden, gewit-
19. Reu 26. Ma terartige Regenfälle um den 1.,
25. Sa 13., 18., 24. und 29. nicht ausge-
20. Ju ſchloſſen.
Sept. 4. Ur 15.Ne|Meift warm, ſonnig und trocken,
17. Ma 18. Neu | mäßiger Regen um den 12., 17.
26. Ju 30. Ur und 26. wahrſcheinlich.
Ott. 12.Ne 16 Maf Warm, fonnig und troden, höch—
17.Neu 19. Sa; jtens um den 11., 16. und 23.
23. Ju mäßiger Regen. Vom 25. an
28. Ur Nadıtfroftgefahr.
ge
Nov. 9.Ne 14.Ma| Bis 8. meilt troden, heiter und
15. Sa etwas Froft, dann bis zum 22.
16 Neu ftürmifd, mild? und regnerifd.
20. Şu Ende wieder meift heiter und
25. Ur troden mit roft.
Dez. 6.Ne Bis zum 8. meilt heiter und
13. Sa, Ma troden mit Froſt, dann bis zum
15. Neu 18. milder mit häufigen Nieder-
18. Ju ihlägen. Ende wieder meift
22. Ur troden und heiter mit Froft.
Die unterftrihenen | Die Vorherſagen gelten für
find die vorausſichtlich Nord weftdeutfhland; im
ftart wirtenden M.- | übrigen Deutfchland müffen die
B. Regenzeiten kürzer und die Kälte-
zeiten länger und ſtärker ange-
nommen werden, falls das Klima
dort nicht einen ähnlichen Charat:
ter wie die hiefige Gegend hat.
Meine auf Grund der im Jahrgang 1918 veröffent:
lichten Schaeferfhen Hypotheſe aufgeftellten Wettervor:
herjagen hatten bisher nod fein mich voll befriedigendes
Ergebnis, weil Sch. noch niht gefunden hatte, wann
die im folgenden noh einmal wiederholten Regeln ein:
trafen und wann nidt. Die Regeln lauten:
1) Am 7, 6. oder 5. Tage vor dem Mondoorüber:
gang (M.⸗V.) tritt gegen die Beit vorher eine Gr-
mwärmung ein, verbunden mit fallendem Luftdrud und
ftärleren Niederfchlägen (fog. A.-Tage).
——
Naturwiſſenſchaftliche und naturprifofophifhe Umſchau. 241
2) Am 4. und 3. Tage vor dem M.V. erfolgt Ab-
fühlung, verbunden mit fteigendem Luftdrud und gänz-
lidem oder erheblichem Nadjlaffen der Niederjchläge
(jog B. Tage).
3) Am 2. und 1. Tage vor dem M.:V. oder am
Tage ſelbſt kommt eine neue, noh ftärtere Erwärmung
mit befonders ftarfer Quftdrudabnahme und meift un:
wetterartigen Niederjchlägen, häufig durh einen Kälte:
ſturz abgelöft (fog. C-Tage).
4) Tritt der Kältefturz nicht ein, fo erfolgen nod
Nachwirkungen in Form von Landregen, Nebel oder
Bewölkung, bis zu hödjitens fünf Tagen.
Sch habe nun gefunden, daß nur die Mondoorüber:
gänge vor den äu peren Planeten und der Neumond
diefe Wirkungen auslöfen, wenn zur Beit der Haupt:
niederfchlagszeiten die Planeten in Oppofition zur Sonne
itehen. Die Hauptregenzeiten find für unſere Gegend:
Mitte Januar bis Mitte Februar; Ende März bis An:
fang Mai; Mitte Juli bis Mitte Auguft; Mitte Oftober
bis Mitte Dezember. In diefen Zeiten geht die Erd»
bahn durd größere Meteoritenihwärme; es hat daher
große Wahrſcheinlichkeit für fih, daß der Zufammen-
fall diefer Schwärme mit den Planeten in diejer Zeit
die Urſache der Niederfchlagsperioden ift. Durch diefe
Entdedung find meine Ergebniffe derart verbeffert wor:
den, daß ich annehmen darf, daß etwa 90 Prozent der
Tage (ftatt bisher 70—80) für Nordweitdeutichland
richtig fein werden.
>
Raturwiſſenſchaftliche und naturphifofophifhe Amſchau.
a) Anorganische Naturwiſſenſchaflen.
Das Hauptintereffe der Phyfiter nimmt noh immer
das Problem der Quantentheorie in Anſpruch. Es
wurde fon in der Umſchau unferer Nr. 10, 102, über
die neue Theorie von Bohr, Kramers und Slater kurz
berichtet, mittels deren diefe Autoren den Widerfprud
der Bohren Quantentheorie der Strah:
lung gegen die klafſiſche Theorie des eleftromagne-
tiſchen Feldes zu befeitigen ſuchen. Cine vortrefflich
flare und turze Darftellung des Wefens diefer neuen
Theorie gibt Shrödinger in Nr. 36 der „Natur:
wiffenihaften”. Das Sntereffantefte derfelben ift der
Vırftand, daß die neue Theorie die Giltigkeit des
Energiegejebes aufgibt. Aud diefer fol nah ihr ebenfo
- wie der „zweite Hauptſatz“ oder „Entropiefaß” nur
ſtatiſtiſches Durchichnittsgefeg fein. (Vgl. 1, 1923.)
Während aber die Abweichungen von diefem Durd)
ſchnitt beim Entropiefa ſich, im Durchſchnitt auf
beliebig lange Zeiträume gerechnet, immer wieder gegen:
feitig aufheben, fo daß das betrachtete Syſtem ftets nur
um einen gemwilfen Mittelwert pendelt, hat die neue
Theorie betr. der Energie des Syſtems die fonder-
bare Folge, daß diefe fih im Qaufe beliebig langer Zeit
durchichnittlich immer weiter von dem normalen Mittel:
wert entfernt, fofern das Syſtem ifoliert ift.
Nur durch die Wechſelwirkung mit immer weiter ge-
zogenem Umkreis anderer Syiteme ift das Berbleiben
in der Nähe des Mittelmertes garantiert. „Man tann
aud) fo jagen: eine gewiſſe Stabilität des Weltgeſchehens
sub specie aeternitatis fann nur beftehen durch den
Zufammenhang jedes Einzeliyftems mit der ganzen
übrigen Welt. Das abgetrennte Einzelſyſtem wäre
unter dem Gefichtspuntte der Cwigteit (t = 00) Chaos”.
Solche Theorien find auh in philofophifher Hinſicht
außerordentlich intereffant. Man darf freilich nicht ver-
geffen, daß fie einitweilen bloße Verſuche find.
In der Feftnummer, welde die „Naturwifien:
ſchaften“ zum AInnsbruder Kongreß herausgegeben
haben (Nr. 47) und welde alle dort gehaltenen Bor-
träge in den „allgemeinen Sitzungen“ enthält, fommt
Sommerfeld in feinem Auffaß auh auf dieje
Tragen zu ſprechen und führt die drei heute vorliegenden
Verſuche nebeneinander an, die gemacht worden find,
um jenen Widerſpruch zu befeitigen. Jn demfelben ge-
Sanfenreihen Auffaß berührt er auh das in „Unfere
Weit” 1923, Nr. 1, kurz geitreifte Problem der „zeit:
uden Fernwirkung“ in der Quantentheorie Ich Hoffe,
auf Sefe überaus intereflante Frage demnädjft einmal
ausführlicher eingehen zu können und begnüge mid) da:
ber hier mit dieſem Hinweiſe.
Auch fonft ift dafür geforgt, daß die heutige Phyſik
verläufig nod) lange teine Urfache hat, ihre Aufgabe
ihon für abgefchlojfen zu halten. In Nr. 42 der „Natur:
wiffenichaften“ zeigt 3. B. Frenkel -Leningrad (das
272
ift wohl Petersburg?), daß die elellromagnetiſche Theorie
der Mafje durch gewiſſe chemiſche Tatſachen betr. die
Atomgemwichte der Elemente Helium und Waflerftoff in
eine grundjäßlidde Schwierigkeit gerät. Die Urſache die:
fer Schwierigfeit liegt, wie rentel zeigt, darin, daß
man in der üblichen Theorie die Elektronen und Pro-
tonen ( H-Kerne) als räumlich ausgedehnte elektrifche
Zadungen anfieht, deren Teile niht nur auf andere,
äußere Ladungen, ſondern aud auf einander gemäß
den befannten Teldgejegen wirkten follen, obgleih man
gar nicht begreift, weshalb fie dann nicht fofort in alle
Winde zerftieben. Nach Frenkel ift diefe Vorftellung
durch die unausgedehnter, punktförmiger Kraftzentren
zu erfegen.
Ueber die Atomgewidte der Iſolopen hat Ruſſell
(Phil. Mag 67, 112; Phyſ. Ber. 22, 1553) eine Reihe
von Gejegmäßigfeiten ftatiftijch ermittelt, von denen die
intereffanteften beiden lauten: Die Elemente mit un-
gerader Ordnungszahl haben nur zwei Iſotopen von un:
geradem Atomgewicht mit der Differenz 2. Und: Ele:
mente gerader Ordnungszahl haben ſowohl geradzahlige
als ungeradzahlige Atomgewichte, aber auh bei diefen
gibt es nur zwei ungeradzahlige Werte mit der Diffe-
reng 2.
Die alte Arrhenius = van t Hofffdhe
Theorie der fogenannten eleffrolytiiden Difjoziation
in den Löfungen der Säuren, Bajen und Salze hat fih
in den legten Jahren vielfach Verbefferungen gefallen
laffen müffen. Eine neue Arbeit von Druder um
Riethoff in der „Zeitſchrift für phyſikaliſche Chemie“,
111, 1 GPhyſ. Ber. 22, 1567) fommt zu dem Ergebnis,
daß ſchon in verdünnten Löfungen feineswegs wie bei
Arrhenius und van 't Hoff, die einfachen „Ionen“, wie
+ —
zum Beiſpiel Na oder CI vorliegen, ſondern Komplexe
SAEN —
wie Naz oder Cla, daß dagegen die von Arrhenius da:
neben angenommen „unzerjegten Moleküle“ Na CI ufw.
taum eine Rolle [pielen.
Eine große Reihe neuerer Arbeiten beichäftigt fidh
mit dem Gifenipeftrum, das als eines der vermideltiten
aller Spektren überhaupt lange Zeit der Forſchung fait
unüberwindlie Schwierigkeiten in den Weg zu legen
ihien In Nr. 46 der „Naturwiſſenſchaften“ berichtet
Grotrian über die in jüngfter Zeit erreichten Fort-
Ichritte auf diefem Gebiete. Es ift erjtaunlid), wie ſelbſt
bei diefem Taufende von Linien enthaltenden Spektrum
fih die einfachen von der modernen Speftraltheorie ge-
fundenen Seriengejeße und ihre Deutungen auf Grund
der Bohrſchen Energieftufentheorie bewähren. "Berichte
über eine Reihe einzelner hierhin gehöriger Arbeiten
fiehe Phyf. Ber. 22, 1591.92.
Mit der Umwandlung von Quedfilber in Gold icheint
es einftweilen nod reichlich unficyer zu ftehen. Der be:
fannte Radiumforiher Hahn in Berlin Dahlem, den
die Tageszeitungen als einen der Mitbeteiligten an der
Entdedung genannt hatten, fah fi) veranlaßt, in Nr. 31
der „Naturwiſſenſchaften“ deutlich zu befunden, daß er
„an der Ehre und auh an der PBerantwortung” des
„Kollegen Miethe“ nicht teilzuhaben wünſche. Er habe
nur auf deffen Wunſch gewiſſe ihm überfandte Gold-
zroben analyfieren laffen und dabei in einigen Fällen
Raturwiffenfchaftliche und naturphilofophifche Umfchau.
—
Gold gefunden, ohne indeffen eine Ahnung zu haben,
woher die betreffenden Proben ftammten. Auf der
Innsbruder Tagung fol die Entdedung gleidfalls
ziemlich ſtark angezweifelt fein Man tut alfo gut, vor:
läufig noh weitere Beftätigungen abzuwarten. An fid
erfheint die Sade indeilen durdaus möglid).
Die phyfitaliihen Eigenſchaflen des Ozons, das wegen
feiner Erplofivität im reinen Zujtande fehr ſchwer zu
unterſuchen ift, find neuerdings von Schwab und
Riefenfeld (Zeitſchrift für phyfitalifche Chemie“,
110, 599; Phyſ. Ber., 22 1615) größtenteils neu feft-
gejtellt worden. Es ergab fih u. a. der Siedepunkt zu
- 112,3°, die kritifche Temperatur zu — 5°, der Schmelz:
punft der Kriftalle zu — 251,4°, die Dichte des flüffigen
Ozons zu 1,71. Als wahrſcheinlichſte KRonftitution des
Molefüls Os ergeben die phyſikaliſchen Eigenjchaften die
ormel 0 = 0 — 0
Ueber die hier jhon mehrfach erwähnten Unterſuchun⸗
gen betr. den Feinbau (moletularen Aufbau) der tedy
nif jo wichtigen Zaferjtoffe gibt Herzog in Nr. 46
der „Naturwiſſenſchaften“ einen weiteren Bericht, auf
den wir bier nur hinweifen wollen.
Die jehr großen Geſchwindigkeiten in den Sonnen-
protuberanzen haben viele Erklärungsverſuche gezeitigt.
In der „Zeitfehrift für Phyfi, 22, 322 (Phyſ. Ber., 22,
1549) erörtert W. Underfon eine „Stromftoßtheorie”
derjelben. Schließt man eine Röhre, durch welche mit
einer gewiſſen Gejchwindigkeit Wafler oder Gas ftrömt,
plößlid) durch eine Platte mit einem ziemlich engen Loch,
jo wird die Flüffigteit bezw. das Gas aus diefem Lode
mit einer jehr viel größeren Geſchwindigkeit als der
urfprüngicdyen herausfprigen In derjelben Weife denti
fi) Anderfon das Entitehen der PBrotuberanzen durd
plößlid)e Stauungen bei Zufammenftößen der dort vor:
handenen heftigen Gasftrömungen.
Eine Ueberſicht über die heute vorhandenen Eiszeit-
Iheorien gibt die in Nr. 39 der „Naturwiſſenſchaften“
abgedrudte Habilitationsporlefung von R. Brink:
mann:Göttingen. Er unterfceidet aftronomilde, phy⸗
fitalif de und „aktualiſtiſche“ Theorien. Die erfteren
wollen die Eiszeiten auf interplanetare oder interftellare
(tosmijche) Urſachen zurüdführen, die zweiten auf Ver:
änderungen in der phyſikaliſchen Beſchaffenheit der Erde
bezw. der Atmofphäre, wie 3. B. Polverlagerungen,
Kontinentverfchiebungen und dergleihen Die dritte
Gruppe endlid, der B. felber den Vorzug zu geben
ſcheint, will nur die aud jonft in der Geologie befannten
Faktoren der allmählichen Umwandlungen von Land und
Meer, Gebirge und Ebene benugen. Br. unterſucht
Ipeziell an dem Beilpiel des „Gondwanalandes” die
Möglichkeiten damaliger (permiſcher) Vergletſcherungen.
b) Biologie.
Die Arten der Nachtkerze (Oenothera), an denen
zuerft das Vorkommen von Mutationen durd de
Vries beobadtet wurde, haben dur ihre Ab:
weichungen von den Mendelſchen Geſetzen der Ber:
erbungsforfhung ſchon manhe harte Nuß zu fnaden
gegeben. Eine folde Nuß ift die folgende, als
Schedung der Nachtkerzenbaſtarde befannte, Erſcheinung.
Wenn männlide Pflanzen einer Art A gefreugt
mit den weiblichen einer Art B normal grün gefärbte
Baftarde hervorbringen, fo liefert die uwmgetebrie
Naturwiffenfhaftlihe und naturphitofophifhe Umfhau. _ ______233
Kreuzung (weiblide Pflanzen A mit männlichen B)
merfwürdigerweife gelb und grün geſcheckte Nad-
tommen, auh wenn das Erbgut in den Kernen der
Nachkommen volltommen gleid ift. Renner gibt
(Biologiſches Zentralblatt 44) dafür die folgende Cr-
Härung: Die Chloroplaften, die die Grünfärbung der
Pflanze bewirken, find mütterliden Urfprungs. Unter
der Borausfeßung, daß das Gedeihen der Chloroplaften
von der Zufammenfegung des Kerns abhängt, und dap
die Chloroplaften der einen Art (B) die durd Die
Kreuzung hervorgerufene Veränderung in der Kern:
zufammenfeßung beffer vertragen als die der anderen
Art (A), werden diejenigen Nachkommen ausgebildete
Chloroplaften, alfo Grünfärbung, aufweiſen, deren
Mutterpflanze von B ftammt. Doh werden wahr:
Iheinlih auch geringe Mengen von Chloroplaften der
männliden Pflanze im Pollenſchlauch übertragen, wo-
durch das gefchedte Ausfehen der Nachkommen männ:
liher Pflanzen von B und weiblider von A zujtande
fommt. Damit ergibt fih ein neuer Beweis für den
Anteil des PBrotoplasmas an der Vererbung.
Tatfählih haben Ruhland und Wepel in drei
Füllen das VBorhandenjein von Chloropiciten in den
Geſchlechiszellen des Pollenſchlauchs und damit die
Strigfeit der alten Anficht, daß die Chloroplalten ganz
mütterlihen Urfprungs feien, nachweiſen können. (Be:
riht der Deutſchen Botaniſchen Gefellichaft, 42, 1924;
„Raturmwifienfchaften”, 48).
Die unter dem Namen SHormonentheorie bekannte
Annahme Haberlandts, daß die Zellteilungen in
wachſenden Pflanzenteilen durdy das Vorhandenfein ge-
wifler Stoffe — der Hormone — ausgelöjt würden,
die insbefondere als Wundhormone die Ausbildung des
MWundgewebes veranlaßten, hat in der legten Zeil hier
und da Widerſpruch erfahren. (Vergleihe U. W. H
12, 1924.) Beltätigt wird die Haberlandtſche An:
fit neuerdings wieder durch Verfuhe von H. Reide,
der es jet gelungen ift, auh bei nicht verwundeten
Pflanzenteilen lebhafte Zellteilungen dadurch hervorzu:
rufen, daß fie diefen einen Aufguß von zerriebenen
Blättern einſpritzte. Um einen Berührungsreiz tann
es fih hierbei nicht handeln, da das Einfpriken von
Sandteilchen erfolglos blieb. (Zeitihrift für Botanik,
16, 1924; „Naturwiſſenſchaften“, 48.)
Die Urſcche des Alterns und des nafürliden Todes
fiedt Ruzicka in einer allmählichen, nicht wieder rück⸗
gängig zu madenden Verdichtung des Protoplasmas
(PBrotoplasmahpfterefis).. In einem Aufſatz im Arhiv
für mitroftopifhe Anatomie und Entwidlungsmeda:
nit, 101, 1924; („Naturmwillenjchaften”, 45) vergleicht
er diefen Vorgang mit der im Laufe der Zeit von
felbft eintretenden Verdichtung folloidaler Stoffe in der
lebloſen Natur und erblidt in beiden Vorgängen einen
Ausdrud des Intropiegeſetzes, fo daß das gleiche Ge:
jeg — der Verfall der Energie —, das die leblofe
Natur beherrfcht, aud die legte Urjahe des Todes in
der lebenden ift.
Eine merkwürdige Anpaſſungserſcheinung ftellt die
Beziehung dar, die bei vielen, den verſchiedenſten
Tierfreifen angehörenden Tieren (Plattwürmern, Kreb-
fen, Amphibien, Fiſchen) zwiſchen Lebensraum und
Körpergröße beiteht, derart, dap Bewohner zum Bei-
ipiel von Teihen und Inſeln häufig eine geringere
Körpergröße aufweifen als Tiere der gleichen Art,
denen ein größerer Lebensraum zur Verfügung fteht.
Durch keine der bisherigen Erklärungen dieſer Er:
ſcheinung voll befriedigt, bat W. Goetſch eine große
Reihe von Verſuchen angeftellt, deren Ergebnifle er in
Seit 10 des Biologifhen Zentralblatts 44 veröffent-
fidt. Die Wadstumshemmung wird bewirkt durd
Mafferverunreinigungen — hervorgerufen durch An:
fammlung von Ausfcdeidungsitoffen 3. B. — umd
erhöhten Kräfteverbraud infolge von. Nahrungs:
tonturrenz, mechaniſche Störungen durd die Artgenoj-
fen, Anftoßen an die Wände des Behälters — Dod)
muß man hierbei ftets die gewöhnlichen Lebensbedin:
gungen des Tieres berüdlichtigen; bei wenig bemweg-
lihen Formen wie den Plattwürmer und Schneden
fommt natürlid) der zweite Faktor weniger in Betracht,
umgelehrt ift es bei lebhaft beweglichen Tieren wie
Kaulquappen und Molden.
Verſuche von Baltz er bringen neue Aufihlüffe über
das Sinnesleben der Spinnen und ihre geiltigen Fähig—
teiten (Mitteilungen der Naturforſcher Gefellihaft zu `
Bern, Heft 10, 1923; „Naturwiſſenſchaften“, 45).
Balter unterfudhte zunächſt, welcher Sinn bei dem Cr-
greifen der Beute die Hauptrolle jpielt. Es zeigte fich,
daß der Geſichtsſinn völlig ausjcheidet. Dafür, daß die
Spinne zur Beute hinftürzt, genügt die Erſchütterung
des Neges. Zur Auslöfung der folgenden Handlungen
(vom Einjpinnen bis zum Ausſaugen) müſſen Tajtjinn
und chemiſcher Sinn zufammenwirten. Balßer gelang
es au, das Borhandenfein von Gedädtnis bei Spin-
nen nachzuweiſen. Endlich wurde beobachtet, daß GSpin-
in manden Fällen dort, wo die injtinftmäßige Aneinan-
derreihung der Handlungen finnlos geweſen wäre, gwed:
entjpredend entgegen dem ererbten Inſtinkt handelten.
Ueber den Medanismus der Häufung bei den Infelten
bat Eidmann (Arhiv für milroftopifche Anatomie
und Entwidlungsmecnnit, 102, 1924; „Naturmillen-
ihaften”, 45) feitgejtellt, daß die Inſekten vor der
Häutung den Kropf voll Zuft pumpen und durd) den
jo entitehenden Drud den Panzer fprengen. Ferner
wird dadurch der Panzer, folange er noh weid) ift, ge-
weitet, und fo das Wachſen des Körpers ermöglicht und
der Blutdrud erhöht, fo daß das Blut bei der legten
Häutung in die Flügel gepiept wird, wodurd) diefe ge-
glättet werden.
Die Aufnahme des Waflers duch die Blätter, die
bei den tropiſchen Bromelinzeen ar die Stelle der
Wafferaufnahme durd) die Wurzeln getreten ift, fommt
auch bei einheimiihen Pflanzen vor Nadh Unter:
fuhungen von 8. Wetzzel („Flora“, 117, 1924; „Na:
turwiflenjchaften”, 48) ift die Anzahl derjenigen ein-
heimiſchen Pflanzen, die durd die Blätter — und war
dur die Kutikula, nicht die Spaltöffnungen — Waſſer
aufnehmen, febr groß. Doch ift die aufgenommene
Waffermenge zu gering, als daß fie eine entjcheidende
Rolle im Wafferhaushalt der Pflanzen fpielen könnte.
Pflanzen trodner Standorte befigen zur Herabſetzung
der Berdunftung Windfchugeinrihtungen derart, daß die
Spaltöffnungen an den Grund von becherförmigen Ber:
tiefungen der Blattoberfläche verlagert worden find.
Dasjelbe würde die Pflanze durh das an fih näher
24 Neue Literatur.
liegende Mittel der Verringerung der Anzahl oder Größe
der Spaltöfinungen erreihen. Hierdurch aber würde,
wie Gradmann (Dahrbud für wiflenjchaftlide Bo-
tanit, 62; „Naturmwiffenjchaften”, 48) feitgejtellt hat, die
Kohlenjfäureaufnahme in gleihdem Maße gehemmt wer:
den wie die Wafferabgabe, während das bei den Wind-
ichußeinrichtungen, wie phyſikaliſche Nachbildungen be:
weijen, nicht der Fall ift.
Aus einem Vortrag, den Knoll auf der diesjährigen
Innsbruder Naturforjherverfammlung über die Weg-
jeibeziehungen zwiſchen Blüten und Injelten hielt (ver:
öffentlit in Heft 47 der „Naturwiſſenſchaften“), heben
wir bejonders hervor die erperimentellen Feſtſtellungen
über die Rolle, die das Gedächtnis der Schmetterlinge
beim Auffinden des Nektars jpielt. Der Taubenſchwanz
findet nur mit Hilfe des Gefichtsjinnes jofort aud) ver:
borgene Nektarien, wenn fie durch Saftmale gefenn-
zeichnet find, die fi) durd fattere Färbung abheben, wie
bereits früher veröffentlidte Verſuche Knolls ergeben
haben. Knoll ftellte nun Verſuche an mit ſchwarz—
weißen Saftmalen auf gelbem Grunde. Die Schmetter:
linge fanden dann den Zugang zum Nektar nicht fofort,
ſondern nur durch Zufall beim Abtrommeln des gelben
Grundes mit dem Rüffel. Beim fpäteren Beſuchen aber
leitet fie das Gedädtnis ſofort fiher zu dem Gaftmal
Die Tatjache, daß es auh Blumen gibt, deren Blüten:
bau der Beitäubung durch Vögel angepaßt ift (Vogel:
blumen), jieht man im allgemeinen als merfwürdigen
Ausnahmefall an. Dagegen it Porſch, wie er in
einem Bortrag auf der genannten Berfammlung aus:
führli (ebenfalls in „Naturwiſſenſchaften“, 47) ver:
öffentlicht, der Anfiht, daß die Zahl der Bogelblumen
bedeutend größer ift, als man gegenwärtig annimmt.
Seine Forfhungen ergaben in einem Falle, dağ von
281 Familien beinahe 23 Prozent Bogelblumen auf:
wiefen, und in einem anderen Falle von 170 Familien
16,4 Prozent. Ebenfo wird die Zahl der Blumenvögel-
urten fowie der Anteil der Vögel überhaupt an der Be-
ftäubung weit unterfhäßt. Porſch jtellt feft, daß es
auf Java mindejtens ein Drittel ſoviel Blumenvögel
gibt wie Bienen. Die Blumenvögel ſuchen die Biumen
nur des Honigs wegen auf, nicht wegen der Inſekten.
Nicht angepaßte Vögel führte unter der heißen Tropen:
jonne urjprünglich der Durft zu den Blumen. Das Ge-
biet der Beitäubung durch Vögel ift nad) Porſch nod)
viel zu wenig durchforſcht.
Probleme der kosmiſchen Phyſik, Herausgegeben von
Prof. Dr. Ienfen und Prof. Dr. Schwaßman. Ham:
burg 1924. Henri Grand. Heft IV: Die Milchſtraße
von Prof. Dr. Plaßmann. 96 ©. mit 3 Abbildungen
und 2 Tafeln. Man ijt erjtaunt, was der Berfaffer
alies über dieſes noh immer rätjelhafte Gebilde zu
jagen hat. Zunächſt aftrometriih. Ihr Anblid zu den
verjhiedenen Jahreszeiten, die Bejtimmung des galaf-
tiihen Wequators und die Beziehung des Kosmos
dorauf, dann Zeichnungen und photometriihe Aufnah—
men der Milchitraße, die jo ſehr viel Subjektives zeigen,
jo daß eine Darjtellung der Milchſtraße febr jchwierig
ift, und photographiih fih ganz anders darftellt als
optifh. Sodann ajtrophyfitaliih. Hier handelt es fidh
um Entfernung, Größe, Temperatur udn Bewegung der
fie zufammenjegenden Sterne, während die Sternitatiftit
die Stellung der Sonne zum galaktiſchen Mequator er:
gibt und zeigt, daß gewiſſe Verteilungsgeſetze auftreten.
Eingehend werden die Beziehungen des Gebildes zu
den GSternhaufen und Nebeln beiprocdyen, und die Ber-
bältniffe der Sterne nad) Eigenbewegung und phyjifa-
liſchen Eigenſchaften, die noh jehr der Klärung bedürfen.
Sehr wertvoll ift der Anfang, den Hagen von der Bati-
fanifhen Sternwarte über feine Arbeiten über die dunt-
len Nebel und deren Beziehungen zur Milchſtraße gibt.
Wir gewahren hier ganz neue kosmiſche Einblide in
dieje noh wenig erforfchte Welt matt oder garnicht
leuchtender Welttörper, die möglicherweije der Stoff
find, aus dem die Sterne fih bilden.
Heft V: Die durchdringende Strahlung in der Atmo-
ſphäre. Bon Dr. W. Kohlhörfter. 72 ©. mit 5 Abb.
Nah einem einleitenden Kapitel über gewiffe Eigen:
haften der Radioaktivität wird eingehend gezeigt, eine
wie große Menge von Arbeit darauf verwendet worden
ift, die verfchiedenen Strahlungen in der Atmofphäre
jomweit zu ftudieren, daß fie mit Sicherheit von einander
getrennt werden konnten. Dann aber ift unzweifelhaft
feitgeftellt worden, daß nod eine febr harte bis auf
den Erdboden dringende Strahlung vorhanden ift, von
der Art der Gammajtrahlung. Die Ionifation nimmt
nad) oben hin ftar? zu und ift in 9000 m Höhe etwa
adıtzigmal jo ftar? wie in 2000 m Höhe. Bis 15 km
Höhe ift fie als zunehmend erwiefen, während über
ihren Urjprung nur Vermutungen aufzuftellen find.
Jedenfalls handelt es ſich um kosmiſche Einflüffe. Biel-
leiht um eine Strahlung der Firfterne, der Milchſtraße
oder der Gternriejen; vielleiht auh, im Anſchluß an
Ideen von Nernit, um eine Strahlung neu im Aether
jid) bildender Elemente von jehr hoher Ordnungszahl.
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ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR —
WISSENSCHAFT UND WELTANSCHAULNG
XVII. Jahrg. Detmold, Februar 1925 Hett 2
Herausgegeben Schriftleitung:
vom Professor
Keplerbund Dr. Bavink
Bielefeld
6 ê
Inhalt:
Das Problem des Uebels in der Welt. Von B. Bavink, ® Astronomie und
Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr. Paul Meth. ®
Das Problem des Genius im Lichte der Naturwissenschaft. Von Dr. Scher-
watky. ® Seelisches Heilverfahren. Von Oberarzt Dr. Müller. ® Der Sieges-
zug der Hertjschen Wellen. Von Georg v. Hassel. ® Helium. Von Dr.
H. Bönke. ® Aus dem Leserkreis. ® Kleine Beiträge. ® Ausprache. ®
Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur.
NATURWISSENSCHAFTLICHER VERLAG DETMOLD
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erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post oder Buchhandel, viertelj. 2.— Goldmark.
Unmittelbar vom Verlag bezogen und fürs Ausland, zuzügl. Versandunkosten, 2.30 Goldmark. Der Brief-
träger nimmt Bestellungen entgegen. Anzeigenpreise: Die 4 gespaltene 1 mm hohe Kleinzeile 15 Gold»
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Alle Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. Verlag od. Geschäftsst. des Keplerbundes, Detmold.
z aa des Februarheftes der zweiten in unserem 46
Inhaltsverzeichnis “$ vers erscheinenaen zeino „Der Naturfreund‘“.
Naturwissenschaft und Weltanschauung. Von Studiendirektor Dr. Müller. ® Winternacht. Von Reinhold
Fuchs. ® Winterfütterung der Vögel. Von Gustav Wolff. ® Die Bisamratte. Von Frit Brandt. ® Wintersnot.
Von C. Lund. ® Der Segen von Blitz; und Regen. Von Viktor Kutter. ® Im wilden Gebirge des Kaukasus.
Von Alfred Nawrath. ® Beobachtet die Mondfinsternis am 8. Februar! Von Prot. Dr. Riem. ® Häus-
liche Studien. ® Kleine Beiträge. ® Der Sternhimmel im Februar. ® Naturwissenschaftliche und
naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur.
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ünftrierte Zeitineitt fir Auturwiſſenſchuft und Weltanihauung
Herausgegeben vom Naturwillenfchaftlichen Verlag des Keplerbundes e. B. Detmold.
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Schriftleitung: Prof. Dr. Bavink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Aufläge ſtehen die Verfaſſer; ibre Aufnahme magt fie nigi zur Aeußerung des Bundes.
XVIIL. Jabrgang
Sebruar 1923
Oeit 2
Das Problem des Uebels in der Welt. Bon B. Bavin. &
— —ñ— — —ñ— — — — — ——
Zum erſten Male in unſerem Kulturzuſammen—
bang ift das Problem des Uebels zur Grund-
irage der Religion bei Zoroafter, in der altperfi-
Ichen Religion, geworden. (Bon dem fajt gleich
alten Buddhismus, der auf unfere Kultur erft
viel jpäter als jene Einfluß gewonnen hat, jehen
wir bier ab.) Bei Zoroafter wird alles Gute
auf den guten Gott Ahuramazda, alles Böfe auf
den böfen, ebenjo urſprünglichen Gott Angra-
manju zurückgeführt. Daß hierbei natürlich
ganz naiv anthropozentrifch verfahren und des-
halb 3. B. alle dem Menfchen nüßlichen Tiere,
wie etwa das Rind, auf den erften, alle ihm
Ihädlichen und widerlichen, wie Skorpione oder
Schlangen, auf legteren zurüdgehen, braudjt uns
nicht Wunder zu nehmen; über diefen naiven An-
thropozentrismus find nur die indifchen Religio-
nen von Anfang an hinausgefommen. Als nun
diefe im Grundjaß dualijtifche perfifche Religion
in den lekten zwei, drei vorchriftlichen Jahrhun-
derten auh das Judentum ftar? zu beeinfluffen
begann?) (durch die Deportationen der Juden in
perſiſche Gebiete), fand fie hier zwar einen
Wideritand an dem grundfäglichen Theomonis-
mus der damals längjt zu feften Dogmen fri-
ftallifierten jüdifchen Religion, fo daß ein völliger
Vebergang zu jenem Dualismus niemals er:
folgte; dafür aber drang um fo ftärker in die
religiöfe Praris und die Bolfsreligion die aus
der perliihen Religion geflojfene dualijtifche
Borjtellungswelt ein. Wenn in- den älteren
Schriften des Alten Tejtaments ein „Teufel“
noh taum eine Rolle fpielt, oder fogar, wie im
+) Das Nähere wolle man im zweiten Band von Ed.
Meyers bervorragendem Wert: „Urfprung und An:
fänge des Chriſtentums“ nachlefen.
5 Fortſetzung.
Hiob, ein ſolcher „Ankläger“ nur als eine Art
von Staatsanwalt zum göttlichen Gerichtshof ge⸗
hört, ſo wurde nunmehr der „Satan“ (griechiſch:
diabolos) als Perſonifikation des böſen Prinzips
einfchließlich eines ganzen höllifchen Hofftaats
und einer Hölle als Aufenthaltsort der Verwor⸗
fenen allgemein angenommen. (Der „Scheol”
der älteren altteftamentlichen Schriften ift feines
wegs eine Hölle, jondern, dem Hades der Grie-
chen ähnlich, ein Dämmerzuftand nad) dem Tode.)
Wir finden diefe dem Judentum urfprünglich
fremden Borjtellungen dann auh im Neuen
Zeitament, 3. B. wenn Jefus vorgeworfen wird,
er treibe die Teufel durch Beelzebub, den ober:
ften Teufel, aus. In diefer Form ift der Dualis-
mus weiterhin ins Chriftentum übergegangen,
das aber auf der anderen Geite ebenjo wie das
Judentum den Schöpfungsmonismus grundfäß-
lich fejthielt.. Wenn fpäter, im zweiten und drit-
ten nachehriftlihen Jahrhundert, gnoftifche Lehe
rer auf einen urfprünglichen Dualismus zurück—
griffen, fo hat die Kirche dies ftets als Srrlehre
abgelehnt. Sie verwarf fogar jeden Verſuch,
zwilchen den Batergott und die Welt einen bes
londeren Weltenfchöpfer, den fogenannten Demi-
urgen, eingufchieben, der als niedere Emanation
der in unnahbarer Höhe thronenden Gottheit
ſchon weit in die Materie hineingegogen und
deffen Wert, die Welt, daher unvolltommen wäre
und durch den Obergott erlöft werden müßte.
Der Ablehnung diefer Lehre dient, beiläufig be-
mertt, der erjte Artikel des Apoftolitums, der
feftitellen foll, daB der allmächtige Vatergott mit
dem Weltenfchöpfer identifch ift.
Trog dieſes grundjägliden Monismus der
Schöpfung ift das Ehrijtentum jedoch auf der
anderen Geite durchaus dualiftifh. Das Uebel,
26 Das Problem beg Aebels in der Welt.
und zwar ganz bejonders das fittlihe Uebel, die
Sünde, ift ihm keineswegs, wie oft im modernen
liberalen Proteftantismus, bloße Rückſtändigkeit
oder Unvollfommenheit oder gar notwendige Er-
gänzung des Guten, ſondern grundfäßliche Gott-
widrigteit. Daß die Kirche entgegen auch ſchon
im Altertum öfter vorgetommenen Verfuchen zur
Abſchwächung diefes Dualismus ihn fo entjchie-
den fejtgehalten hat, muß ihr als Berdienft an-
gerechnet werden, obwohl fie damit aus einem
gewilfen inneren Widerjprud im Gottesbegriff
niht herausgelommen ift. Gie hat damit dodh
den richtigen Inſtinkt bewieſen; denn tatfächlid)
zeigt eine tiefere Ueberlegung, daB diejer anjchei-
nende Widerjprucd eine unumgängliche Schwie—
rigteit aller höheren Religion fein muß. Cs liegt
im Wefen des Gottesbegriffs, daß derjelbe in
Hinfiht auf die Schöpfung und Erhal-
tung zu einem moniſtiſchen Abſchluß
drängt. Iſt Gott wirklich „allmächtig“, fo hat er
alles, ichlehthin alles, auch das uns wertwidrig
Erfcheinende, ins Dafein gefegt. Auf der
anderen Ceite ift Gott als höchſtes Gut jedoch
ftets der A ndere, der dem, was ift, das, was
fein foll, entgegenftellt. Wie jener Gedanfe in
die Vergangenheit, fo weift diefer in die Zukunft.
Sener handelt von den legten Urfachen, diefer
von den lebten Bielen der Welt. Es nügt nichts,
fih durch allerlei fadenfcheinige Rationalismen
darüber hinwegzutäufchen, daß die Spannung
zwifchen diefen beiden Ideenreihen unaufhebbar
ift. Natürlich löft auch der Teufelsbegriff diefes
Problem ebenfo wenig wie der freie Wille des
Menfchen oder der Demiurg der Gnoftiter. Jm-
mer bleibt auf dem allmädtigen Schöpfer:
gott die Verantwortung dafür ruhen, daß ſolche
Wefen überhaupt da find, die abfallen und damit
die Schöpfung verderben fonnten. Als mein
jehsjähriges Söhnchen zum erjten Male in der
Vorſchule die Gefchichte vom Sündenfalle gehört
hatte, erzählte er fie uns mittags ganz aufgeregt
und folop halb weinend mit den entrüfteten
Worten: „Warum machte denn der liebe Gott
auh fo einen alten efligen Teufel?” (Die
Schlange war natürlich als dieſer gedeutet.)
Das Theodigeeproblem in Kindermund! Cur
Deus fecerit diabolum? fragten die alten Kir-
chenlehrer. Den Widerfpruch beifeite jchaffen
fann offenbar nur ein grundjäßlicher Dualis-
mus wie bei Soroafter, das heißt mit anderen
Worten: Streichen des ſchlechthin allmächtigen
Gottes des erjten Artikels, oder aber Auflöfung
des ganzen Gottesbegriffs überhaupt wie im
modernen Monismus oder im Buddhismus. Wir
tommen darauf unten näher zurüd, müfjen aber
nun zuerst Die mwuitere Ausführung des Pro-
blems in der chriftlihen Dogmatik ins Auge faf-
fen, weil diefe noh heute das Denten der meijten
Menſchen bei uns enticheidend beeinflußt.
Das Chriftentum übernahm vom Judentum,
aus dem es hervorging, nicht nur die ſchon er-
örterten religiöfen Borftellungen, fondern dazu
noh zwei andere grundlegend wichtige Dinge.
Das eine ift der Glaube an eine heilige, „geoffen=
barte“ Schrift. „Das Chriftentum ift von An»
fang an Buchreligion geweſen,“ jagt mit Recht
ein neuerer Theologe. Das andere ift das aus-
ſchließliche Betonen des fittlidhen Elements
‚in der Religion, während alles Naturhafte völlig
in den Hintergrund tritt. Wie Chamberlain in
den „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ fo
padend jchildert, ift das Judentum eben dadurch
von falt allen anderen religiöfen Bewegungen
der Menfchheit unterfchieden, daß es alle religiöje
Energie auf das filtliche Verhältnis des Menſchen
zu Gott konzentriert. Wer Naturmyjtit oder
religiöfes Naturgefühl, philoſophiſche Durch:
arbeitung oder auch künftlerifche Veredelung
der Religion fudht, muß fih niht an das
Alte Teftament, fondern an die Hellenen oder
Inder oder die Edda ufw. menden. Das Juden-
tum hat denn ja auch dementjprecdyend weder
Wiſſenſchaft noch Kunſt hervorgebracht und das,
obwohl die Juden, wie die Neuzeit ausweift, zum
mwenigften für gewiffe Zweige der Wiflenfchaft,
(3. B. Arithmetit und mathematifche Phyfit) febr
gut beanlagt find. Hier fieht man, wie eine
Ideenwelt fogar entgegen natürlicher Veranla-
gung entjcheidenden Einfluß auf ein Volksſchick⸗
fal haben fann. In dieſer Einfeitigkeit nun liegt
zwar eine Schwäche, aber darin liegt natürlich
zugleich auch die Größe des Judentums. Was
die großen Propheten, ein Jeremias oder die
beiden Jefaja, auf ihrem Gebiete brachten, dem
hat die ganze übrige religiöfe Entwidlung der
Menichheit (abgefehen vom Chriftentum) auch
nicht annähernd Aehnliches zur Seite zu Stellen.
— Das Chriftentum jedody wurde ſchon in den
erften Jahrhunderten gezwungen, fi nun auch
mit der hellenijtilchen Gedanfenwelt auseinander»
zufegen, und in diefer fpielten eben Natur und
Kultur, Wilfenfhaft und Kunft die führende
Rolle. Diefer Prozeß beginnt jchon bei dem
eriten großen Heidenapoftel, Paulus, und fegt
fich dann durch mehrere Jahrhunderte fort. Wenn
er im Mittelalter fcheinbar zu einem gewiljen
Abichluß gefonımen war, fo begann er aufs neue,
und in viel intenfiverem Maße als vorher, zur
Zeit der Renaijfance und dauert noch heute fort.
Da nun aber zugleich das Ehriftentum, wie er=
wähnt, an eine heilige Schrift gebunden war
und es, nachdem auch der neuteftamentliche Ka:
——— AA GE En we — —
|
|
Das Problem des Uebels in der Welt. 27
= mm nn e — — —
non gegen Ende des zweiten Jahrhunderts zum
Abſchluß gelangt war, erſt recht wurde, ſo er—
gab ſich mit Notwendigkeit von Anfang an nicht
ein völlig freies Spiel der Gedanken, ſondern
ein ſteter Kampf zwiſchen Ueberlieferung und
Neuem, ein immer erneutes Ringen um den
Ausgleich zwiſchen dem, was man feſthalten
wollte, weil es ja „offenbart“ war, und dem,
was an neuen Gedanken fih eindrängte. Jeder
Beobachter unferer heutigen religiöfen erhält:
nifle weiß, daß wir felber noch mitten in ſolchem
Ringen drinftehen. Dies muß man fih gegen:
wärtig halten, wern man auh unfer Problem
richtig fehen will.
Die Grundlage für die chriftlicde Ausgeſtal⸗
tung des Problems des Mebels bildet bis auf
diefen Tag die Lehre des Apoſtels Paulus, der
fie in erfter Linie im Römerbrief und in dem
befannten 15. Kapitel des erjten Korintherbriefes
‚entwidelt hat. Es entipridt durchaus der Her:
funft des Paulus aus dem Judentum, daß er hier
allesnatürlihdelebelgrundfäglid
unterdasfittlideunterordnet. Nidt
nur der Tod ift ihm „der Sünde Sold”, fondern
auch „das ängftliþe Harren und Sehnen der
Kreatur” ift eine Folge des Gündenfalles der
Menfchheit, fie ift mit diefer zugleich und um
ihrer willen „der Bergänglichkeit mit unterwor:
fen“. So wenigftens ift der betreffende Abfchnitt
(Römer 8) zumeist verftanden worden, und, wie
ich glaube, mit Redt. Die Auslegung, Paulus
meine mit dem hier von ihm gebrauchten Worte
ktisis (Luther: Kreatur) nicht die außermenjch-
lihe Schöpfung, fondern die außerchrijtliche
Menjchheit, fcheint mir gezwungen und wohl
mehr aus dem Wunſche hervorgegangen, Paulus
von der Lehre freizufprechen, daß auch die Leiden
und der Tod der Tiere durch den Sündenfall
des Menfchen verurfacdht feien. Wie dem aber
auch fei: auf jeden Fall hat Paulus für den
Menſchen alles phyfifche Uebel als Folge und
Strafe der Sünde aufgefaßt. Daran follte man
nicht durch apologetifche Künste zu drehen und zu
deuteln verjuhen. Wenn Paulus in den allbe-
fannten Worten vom Tod fpricht, der „durch
eines Menfhen Sünde in die Welt getommen
ift” uſw., fo meint er nicht einen abftraften Be-
griff eines „geijtlichen Todes” oder dergleichen,
fondern ganz real das phyfilche Sterben, das
Aufhören des irdifcdyen Lebens, natürlich ein
Ichließlih und mit befonderer Betonung der das
mit verbundenen Gewifjensnöte u. a., aber doch
nicht diefe allein, fondern auch den phyſiſchen
Vorgang. Er fußt dabei ganz offenbar auf den
Worten des Genelisberichts (Gen. 2, 17). Wenn
er ferner 1. Ror, 15 als „Stachel des Todes”
m — — —
die Sünde bezeichnet, ſo fol das ebenfalls nicht
etwa, wie manche Apologeten gerne möchten, das
phyſiſche Sterben aus der religiöfen Betrachtung
bejeitigen, fondern entweder, wie es zumeift auf:
gefaßt wird, bejagen, daß die Sünde dasjenige
jei, was den Tod ganz bejonders bitter mache,
oder aber, was ich nadh der Grundbedeutung des
Wortes kentron (Biehtreiberftachel) für viel
wahricheinlicher halte: daß die Sünde fozufagen
der Treiber ift, der dem Tode feine Beute zu-
treibt, oder auch: deffen fih der (hier perfonifi-
zierte) Tod als Antriebsmittel bedient‘) Mag
man nun aber im einzelnen auch die Worte des
Apoſtels jo oder fo deuten, im ganzen tann man
meines Crachtens nicht, ohne ihn zu vergewal-
tigen, beftreiten, daß er das phyfilche Uebel dem
moralifchen unterordnet, es aus dieſem herleitet.
Daß dies fo ift, geht {hon daraus hervor, daB
feine Worte zwei Jahrtaufende hHindurdy von
allen fo verftanden worden find, außer von ge:
wilfen Theologen, die gerne etwas anderes her-
auslefen wollten, weil fie felber anderer Mei-
nung waren und nicht gerne im Widerfpruch zu
der anerfannten Autorität der Kirche Stehen woll-
ten. Sn chriftlichen Laienkreifen wird Paulus
auch heute noch fajt überall fo verjtanden. Nur
wo man durch apologetijche Schriften auf die
Schwierigkeiten aufmerffam geworden und auf
die anderen Interpretationen als Austunftsmit-
tel hingewiefen ift, verficht man gelegentlich diefe.
Die Schwierigkeiten der paulinifchen Lehre find
nun allerdings fo groß, daß von Anfang an zahl-
reiche chriftliche Theologen andere Lehren ver-
treten haben und zwar feineswegs etwa nur
folche, die als „Ketzer“ verworfen wurden, fon-
dern auh Autoritäten der Nechtgläubigfeit, wie
3. B. Athanafius. Zu ftar? leuchtet {hon dem
einfachen Menfchenverftande ein, daB Tod und
Leid Naturordnungen find, ohne die man fih
eigentlich die Welt gar nicht denten tann, und
zu wenig motiviert erfcheint doch gerade dem
Gottesglauben die Vorftellung, daB Gott die doch
an dem Sündenfalle Adams ganz unfchuldige
Tierwelt um diejes Falles willen mit verdammt
baben follte. Sobald man jedoch hier an Paulus’
Lehre abftreicht, und nur noch den Tod des
Menfchen auf feine Sünde zurüdführen will,
Ipricht wieder alle natürliche Analogie dafür,
daß auch beim Menfchen der Tod Naturordnung
und nicht ſekundär erworbene Eigenfchaft ift.
So ift die Kirche zu einer fozufagen offiziellen
und endgültigen TFeitlegung der Lehre über die-
jen Bunft niemals recht gefommen; das hat je-
—
5) Der ganze Spruch ift im übrigen deutlid) eine An:
lehnung an Hoſea 13, 14.
28 Das Problem des Uebels in der Welt. _
doch nicht gehindert, daß fie in der Praxis ziem-
lich eindeutig doch fih auf den Standpunft des
Paulus geftellt hat. Um das einzufehen, braucht
man nur unfere gebräuchlichen Grabliturgien
oder die große Menge der Ofter-, Totenfeft- und
Allerfeelenpredigten fih zu vergegenmärtigen.
Einerlei, wie weit es fidh dabei um ein Entgegen:
tommen an die fogenannte „Gemeindetheologie”
oder um eigene Heberzeugungen der Urheber und
Ausführenden handelt: der Gefamterfolg ift auf
alle Fälle, daß niemand, der nicht die näheren
Verhältniffe tennt, hinter allem diefem auh noch
andere Lehren als die des Paulus vermuten
würde. Stellt jedoch in öffentlichen Distuflionen
einmal ein Zweifler die Bedenten gegen diefe
Lehren offen heraus, fo erhält er zumeift hödjit
ungenügende Antworten. Zwar pflegt man ihm
ohne weiteres guzugeben, daß „ſelbſtverſtändlich“
Leid und Tod in der außermenfdlichen Schöpfung
vor dem Menfchen vorhanden gemejen fein tönn-
ten. Aber die Naturwiſſenſchaft fei doh auch
niht unfehlbar. Im übrigen meine ja Paulus
gar nicht fo febr das phyſiſche Sterben als viel-
mehr den „geiſtlichen Tod“, und auf der anderen
Seite fei doh auch gar nicht zu beftreiten, dah
in fo und fo vielen Fällen Leid und Tod tatfädj:
lih Folge der Sünde feien (was natürlich nie-
mand je beftritten hat). Nahdem dann fo glüd-
lih alles mit halben Eingeftändnijfen und halben
Wahrheiten durcheinander gerührt worden ift,
weiß der Frager überhaupt niht mehr, woran
er fih eigentlich halten foll. Erjtens exiſtiert Die
ganze Frage eigentli gar nicht, wenigjtens
brennt fie noh nit auf den Nagel, da ja ‚gar
nicht ficher ift, ob die Naturwiſſenſchaft nicht irrt.
Zweitens hat Paulus das ihm Borgemworfene
aber ja eigentlih gar nicht gejagt und drittens
hat er damit doch eigentlich Recht gehabt.
Angefichts einer folhen unwürdigen Sadjlage
muß jeder Freund ehrlichen und klaren Denkens
folgendes fejthalten und immer wieder feftitellen:
Naturmilfenichaftliche Urteile haben (vgl. „Un:
fere Welt” Nr. 7, 1923) zwar vielfady) nur mäßige
MWahrfcheinlichkeit, vielfach aber auh fo gut wie
abfolute Sicherheit. Solche Urteile noch zu be:
ftreiten, 3. B. etwa der Kugelgeftalt der Erde und
der Sonne oder der eleftromagnetifchen Lidt-
theorie noch zu widerjprechen, fällt feinem ver-
nünftigen Menfchen ein, der die zwingenden
Gründe, die zu ſolchen Urteilen geführt haben,
- wirklich kennt. Hierzu gehört aber aud) das Ur-
teil, daß Leiden und Tod vor dem Menicen in
der Welt gewefen find. Wenn, wie mandhe
neuere Forjcher lehren, der Stamm desfelben ge-
fondert von den übrigen Tierftämmen fchon
früher als zur Tertiärgeit eriftiert hat, fo ift es
Doch eine reine Sophifterei, wenn man darauf:
þin etwa im Jura oder gar im Paläozoikum
[don von „Menfchen“ fprechen will, um fo
ichließlich herauszufriegen, daß womöglid) der
Menſch am Anfang der ganzen Schöpfung ftehe.
Durh alle die endlofen Jahrmillionen dieſer
Perioden hat diefer angebliche „Menſch“ nicht die
geringften Spuren intelligenter Tätigkeit hinter:
laffen. Wenn alfo die Vorfahren des heutigen
Menfchen vielleicht auh fon fehr früh gefon-
derte Entwidlungsbahnen gegangen find und die
Menichenaffen nicht von ihnen abzweigten, fon-
dern eine Parallelentwicklung darftelten (fo
neuerdings wieder Dacque), jo waren doh
eben diefe Vorfahren prattifch auch nichts ande:
res als ihre tierifchen Zeitgenoffen. Von mora:
lichen Begriffen konnte bei ihnen ebenfo wenig
die Rede fein wie bei diefen, den anderen Tieren,
auh. Es ift jchlimm, daß fo etwas nod aus
drüdlich gejagt werden muß. ch weiß aber,
daß wenn ih es hier überginge, alsbald fidh
hinter {olhe Gedankengänge der apologetiſche
Wunſch wieder verfchanzen würde. Damit ift
es alfo nichts. Es bleibt dabei, daß man Leid
und Tod der Tierwelt fchlechterdings nicht ohne
die unfinnigften Verdrehungen und Phantafte:
reien als Folgen menſchlicher Sünde hir
ftellen tann. Das, was den Namen Menje erft
wirklich verdient, tritt nah allem, was wir
wiljen, früheftens im Tertiär auf diefer Erde auf.
Was vorher war, mag gefonderter Tierftamm
geweſen fein, war aber fein Menfch in unjerem
Sinne des Wortes. Das ift fo ficher, wie über:
haupt nur irgend ein naturmiffenfchaftliches Ur:
‚teil fein fann, und darum hat es nicht den ge:
ringften Zweck, hier noch auf die „Unficherheit
naturmwifjenfchaftlicher Schlüffe” zu poden.
Zweitens follte dann aber nicht minder tlar
und offen zugegeben werden, daß diefe Erkennt:
nis allerdings in beftimmten Punkten einen nid)!
zu überbrüdenden Gegenſatz zu der Lehre des
Apoftels Paulus bildet. Man follte endlid
darauf verzichten, diefen umzudeuten, um ihn
vor dem Vorwurf des Widerfpruches gegen die
Wiffenfchaft zu bewahren. Paulus war ein Kind .
feiner Zeit und fonnte mit ihr irren. Er hai
in diefem Punkte geirrt, das foll man ĝt
geben und nicht durch einen Schwall von Worten
über den „geiftlihen Tod“ ufw. zu verhüllen
Seine Theorie klingt dem einfaden
ſuchen.
Nachdenken freilich plauſibel genug, ſie entſpricht
einem unmittelbaren Gefühl. Der Tod des mil
Selbjtbemußtfein und eigener Verantwortung
ausgeftatteten Menfchen fommt uns allerdings
in gang anderer Weife unnatürlich vor, als der :
des in dumpfem Triebleben befangenen Tieres.
)
Das Problem des Uebels in der Welt. 29
Wir fühlen alle — aud) die Ungläubigen werden
das zumeift zugeben — das relative Recht der
Hoffnung auf Unfterblichkeit, denn es liegt in
uns etwas, was nad) diefer verlangt: die höheren
geiltigen Werte, die wir vor dem Tiere voraus
baben. Uber daraus folgt nicht, daB wir vor
fo und foviel Jahrtauſenden einmal unjterblid)
geichaffen wurden, fondern beitenfalls, daß wir
mittels diefer höheren Werte an einem vergäng>
lichleitsfreien Dafein teilhaben und zwar gerade
fo viel, wie wir folche Werte tatfächlich aufzu—
weifen haben. Unfer tragifches Schidfal aber ift,
Daß wir diefen Schaß, um mit einem anderen
Worte des Mpoftels zu reden, „in einem irdenen
Gefäß” tragen müflen, aber nicht etwa erft in-
folge eigener Schuld, fondern von Natur aus.
Die Folgen diefer Einficht find nun viel wei-
tertragend, als man gemeinhin zugeben möchte.
Hat Paulus in diefem Puntte geirrt, fo ift es
niht nur fein Unrecht, ſondern einfach unfere
Pflicht, uns zu fragen, ob dann nicht vielleicht
feine ganze Auffaffung des Uebels von Grund
auf reformbedürftig ift. Wir brauchen darum
feine tiefe Erfaffung der „Sünde“ als folche
nicht preiszugeben, aber die Frage ift, ob er
damit, daB er in ihr den legten Quell alles
Uebels überhaupt fah, Recht gehabt hat. Dieje
Trage muß m. E. unbedingt mit Nein beantwortet
werden, wenigjtens wenn man unter „Sünde“
das verfteht, was bei uns Menichen jo heißt,
d. h. bewußter Widerftand gegen Gott und feine
Ziele oder „Gebote“. Diefe „Sünde“ ift nicht die
legte Quelle, fondern nur der eine Ausfluß
aus der. Quelle alles Uebels. Der andere ift das
phyfiiche Uebel. Beide entijtammen allerdings
der gleichen Quelle, nämlih dem Umftande,
daB der individuelle Wille zum
Leben fi felber als einziges Ziel
fett und dadurd in Widerſpruch ſowohl gegen
die anderen Weſen als gegen den Gejamtmillen,
d. i. Gott, gerät. Wenn man dies, alfo die
Selbſtſucht des Individualmillens,
an fih als „Die Sünde” fchlechthin bezeichnen
will, dann freilid ift es rihtig, daß
alles Uebel aus der Sünde ftammt.
Aber das ift dann ein anderer Begriff des
Wortes Sünde, als der, den Paulus meint, der
dabei durchaus an die bemwußte Sünde eines
feiner felbit bewußten und mit freiem Willen
ausgeftattet gedachten Weſens gedacht hat. Mit
jenem weiteren Begriffe wandeln wir ſchon auf
den Bahnen indifcher Weisheit, wie fie bei uns
befonders durch Schopenhauer und Hartmann
verbreitet worden ift, haben uns aber ziemlid)
weit von dem Standpuntt des Alten Tejtaments
und des urfprünglichen Chriftentums entfernt.
Das wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß im
ipäteren Chriſtentum febr oft ſolche Gedanken
ihon ausgefprodyen worden find. Die großen
deutfchen Myſtiker, ein Jakob Böhme oder
Meifter Edhardt, haben alle zu foler viel tiefes
ren und weiteren Auffaffung geneigt, aber das
ift eben der Einfluß germanifchen Geiftes, der
fih da bemerkbar madıt. Für das Judentum und
auh für Paulus gibt es Sünde nur als be-
mußten Miderfpruh gegen göttliche Gebote.
Dieje find den Heiden zwar aud) bekannt, „denn
Gott hat fie ihnen ins Herz gelegt,” aber gang
unmittelbar und dirett doch nur durch „das
Geſetz“ Mofis dem auserwählten Bolt offenbart,
deffen Sünde daher (bei den Propheten und auh
bei Paulus) um jo größer ift. Bon irgend
welcher Naturhaftigfeit ift dabei zunächſt gar
feine Rede; bei den altteftamentlichen Propheten
ipielt eine „Erbfünde” überhaupt faum
eine Rolle, und auh bei Paulus, dem Urheber
diefer jpäter durch Muguftin zur offiziellen
Kirchenlehre gewordenen Lehre, ift diefe Crb-
fünde nicht etwa ein urjprünglicyer Naturbe-
itandteil, fondern eben erft jetundär durh den
„Sündenfall” Adams in die urfprünglich davon
freie Menfchenart hineingebracht. Man muß fidh
durchaus tlar machen, daß hier zwei einander
ausfchließende Auffaffungen zufammentreffen,
eine jüdifch anthropogzentrifche und eine ger—
manifch naturverbundene. Die eritere geht von
der „Sünde“ in ihrer höchitentwidlten Form
aus, wie fie bei Menſchen mit freiem Willen als
bewußter Widerfpruh gegen befannte Gebote
des SGittengejeßes auftritt, und ſucht alles
Uebel niederer Ordnungen gulegt als Folgen
folder Sünde zu begreifen und zwar als
Folgen im moraliid - juriftiihem Sinne
(Strafen), niht etwa im Sinne logifcher oder
faujaler Notwendigkeit. Die andere erfennt in
diefer menfchlichen „Sünde“ eine Teilerjcheinung
eines viel allgemeineren Phänomens, das nicht
auf den Menfchen beſchränkt ift, fondern die
ganze Welt durchwaltete und nur auf der
höchſten Stufe, da, wo freie Selbitbeitimmung
vorhanden ift, als die uns geläufige bemwußte
„Sünde“ erfcheint. Beide Auffaffungen haben,
vom Standpunfte praftifchen Chrijtentums aus
gejehen, ihre Vorzüge und ihre Schwächen. Die
erjtere ift offenbar der zweiten darin überlegen,
daß fie jeden Verſuch der Entſchuldigung durch
BZurüdführung auf „Naturanlagen” von vorn-
herein abfchneidet, wie folche Verſuche feit den
Anfängen des Chriftentums jtets aufs neue ge-
macht worden find. Praftifch genommen muB
tatfächlich jede religiöfe Ethit den Menfchen fo
behandeln, als ob er jchlechthin frei wäre, fonft
leidet unfehlbar der Ernft der Verantwortung.
Auf der anderen Seite macht aber diefe Auf-
faſſung nur allzu leicht ungeredht und blind
gegen die tatfächlichen, unverfennbaren natür-
lichen Bindungen auh des Menfchen. Hat man
doch im Mittelalter gar nicht felten fogar Kinder
wegen irgend weldyer „Verbrechen“ getötet oder
beftraft, die ihnen nad) age der Dinge und nad)
modernem Strafredht aus dem einfachen Grunde
gar nicht angerechnet werden durften, weil ihnen
die Vorbedingungen zur richtigen Einficht nod
fehlten. Bon allen praftifchen Fragen aber ab-
gejehen gerät jene Auffafiung nun außerdem in
die oben erörterten unmöglicyen Folgerungen
hinfichtlich des außermenfdlichen Uebels. Schon
dadurch allein erweift fie fidh als undurdyführbar,
und es fommt hinzu, daß fie nicht einmal bei
Befchräntung auf den Menjhen voll befriedigt.
Denn es bleibt auf diefem Standpunft doh nicht
nur unverftändlih, warum Gott mit Adam zu:
gleich die Tierwelt zur „mataiotes” (—-Vergäng-
lichkeit, Luther: Eitelkeit) verdammt, fondern
man fieht auch nicht im geringjten ein, warum
die noh gar nicht geborenen, alfo doch ebenfalls
an Adams Sündenfall völlig unfchuldigen Nach—
fommen desfelben gleichfalls von vornherein in
den Stand des „non posse non peccare“ t)
verjegt werden müſſen. Tatſächlich madt jede
ſpätere chriftliche Theologie und Apologetif an
diefer Stelle eine Anleihe bei der zweiten Auf-
faffung, 3. B. indem fie auf die erfahrungs=
mäßige Erblichkeit gewiſſer unmoralifcher UAn-
lagen und dgl. verweift. Sie ftüßt fih alfo ftatt
auf die innere Logik ihrer Sätze bier plößlid)
auf die vernunftgemäße Erkenntnis der Tat-
jahen und manchmal ganz direft auf indild-
germanifche Gedantengänge. Daß die Tatjachen
zu einer Lehre vom „radifalen Böfen“ in der
menſchlichen Natur führen können, hat nicht nur
Kant, fondern nah ihm noch viel eindringlicher
v. Hartmann gezeigt. Jn diefem Betracht leijtet
der zweite Standpunft erheblich mehr als der
erite, der den in ſich infonjequenten Verſuch
unternehmen muß, etwas, was als rein Jittliche
Tat urfprünglich begriffen ift, nun doch wieder
naturhaft fejtgelegt und übertragen fein zu
laſſen.
Steht alſo die theoretiſche Undurchführbarkeit
des erſteren Standpunktes feſt, ſo wird es
ſchließlich nicht darauf ankommen, ihn nun doch
mit allen möglichen apologetiſchen Mitteln und
Einſchränkungen ſcheinbar zu halten, ſondern
vielmehr umgekehrt dafür zu ſorgen, daß auf
1) Ausdruck von Auguſtin — nicht ohne Sünde ſein
können.
30 Das Problem des Uebels in der Welt.
dem anderen, der modernen Erkenntnis der
Melt allein entſprechenden, der in den alten An-
ſchauungen jtedende tiefe ſittliche Ernſt nicht
verloren geht. Hier liegen die Sünden des
neueren liberalen Proteftantismus und die
lebten Gründe dafür, daß die Orthodorie beider
Konfefjionen immer wieder fih auf das Tängft als
theoretifh unmöglich Erfannte verfteift. Man
fürchtet nicht ohne Grund, daß durch eine rein
evolutioniftifche Weltanſicht der Sündenbegriff
vermwäflert werde, daß an die Stelle der Günde
das bloße Zurüd in der Entwidlung gefegt
werden folle, und daß damit dem fittlihen Ber-
antwortungsgefühll das NRüdgrat gebrochen
würde. Jn der Tat find nicht felten folche be=
denflihen Folgerungen aus der neueren Cr-
fenntnis gezogen worden. Wir ftehen hier an
dem eigentlichen tiefften Graben zwiſchen rechts
und lints, pofitiv und liberal, joweit man über:
haupt bei dem ließen aller Uebergänge in der
Praris des kirchlichen Lebens von einer folchen
Scheidung in zwei Parteien reden darf. Die
Lehre von der Sünde und die damit aufs
innigfte verbundene von der Erlöfung find der
eigentliche Streitpunft, alles andere, auh 3. B.
die Stellung zur „heiligen Schrift” u. a. find
dem gegenüber nur fetundär. Nun ftehen die
Dinge offenfichtlich fo, daß auf jeder der beiden
Seiten ein Teil Recht und auf jeder aud) ein
Teil Unrecht liegt, ſonſt wäre es nidyt zu er-
klären, daß auf beiden gleichzeitig fo viele gleich
ernfte, glei) gebildete und gleih zum Guten
entfchloffene Geifter zu finden find. Es ift aber
auch gar nicht fo ſchwer, die Synthefe zu finden.
Sie lautet einfach dahin, daß in den theoretifchen
Anfchauungen, foweit fie in Natur- und Ge-
ſchichtswiſſenſchaft hineinreichen, der Liberalis-
mus im großen und ganzen fchon heute Recht
behalten hat, feine wejentlichjten neuen Erkennt:
niffe find tatfächlich bereits zum Gemeingut der
Theologie aller Richtungen, wenigftens in
der evangelifchen Kirche, geworden. Auf der
onderen Seite hat aber der fog. „alte Glaube“
offenbar die größere religiöfe und fittliche Kraft
bewiefen, (auf den Durdjfchnitt des Volts-
lebens, nicht die einzelnen Individuen geſehen),
er muß alfo etwas haben, was feinen Gegnern
fehlt oder doch bei dieſen in Gefahr fteht, ver:
[oren zu gehen. Und das ift eben die tiefere Er:
fallung der Sünde. So erwächſt ganz von jelber
die rage, ob diefe denn notwendig an die alten
dogmatifchen Theorien gebunden ift, und ob die
moderne der paulinifchen Lehre teilweife ent-
gegenftehende Erfenntnis notwendig zu [agerer
Auffaffung führen muß. Dieje Trage, die ich
noch immer für die YZentralfrage der heutigen
theologifchen Lage halte, muß m. €. verneint
werden. Es ift vielmehr durchaus möglich, auh
auf modernem Boden der Sünde ihren ganzen
Ernit zu belafjen, ja ich möchte faft behaupten,
Daß die moderne Einfiht das Problem der
Sünde noch viel tiefer angufaffen erlaubt als die
alte, die doch, wie die Gefchichte zeigt, nur allzu
leicht auh zu einem juriftifchen Formalismus
erjtarren tann (vgl. Anſelms u. a. Lehren). Es
wird hier wie überall in der Religion gelten, daß
der Erjag der primitiveren, anthropozentrifch
und anthropomorphiſtiſch verfahrenden Vorſtel—
lungen durch theoretiſch geläuterte zwar Den
Halbgebildeten leicht von Gott wegführt, weil
ihm feine bis dahin alku maffiven Begriffe ver-
flüchtigt werden, ohne daß ihm ein (für ihn)
brauchbarer Erjaß ſogleich geboten wird, daB
aber derfelbe Prozeß denjenigen, der ganz hin:
Durchdringt, zu einer vertieften Erfaffung des
Alten zurüdführt.
Tür die moderne Erkenntnis ift wie erörtert
das, was Paulus als „Sünde“ bezeichnet, näm-
lid der bewußte Widerftand gegen Gott,
nicht das einzige, fondern nur eine bejondere
gorm des allgemeinen Uebels, feine höchite
Spike, die es nur im Menſchen erreicht, weil
Diefer das einzige uns befannte Weſen mit
Selbitbemußtfein und freiem Willen ift eine
Verantwortung reicht deshalb auch genau jo
weit, als er diefe ihn vom Tier unterfcheidenden
Qualitäten wirflid hat. Darüber hinaus hat er
aber mit dem Tiere teil an dem allgemeinen
Schickſal, daß jeder Teil diefer großen Schöpfung
feın Dafein nur auf Koften anderer Teile führen
fann. n diefem Sinne ift feine Selbſtſucht,
d. h. fein auf eigene und Arterhaltung gerichteter
Wille doh auch naturhaft bedingt und feine fitt-
fiche MBerfönlickeitsfchuld, ſondern höchitens
metaphyfifche „Schuld“ irgend einer übergeord-
neten Inſtanz (davon reden wir gleich nod).
So ift der Menih als Bürger zweier Welten
gieichzeitig frei und unfrei, verantwortlich und
entfchuldigt, und jedes einzelne Individuum trägt
auch ein verfchiedenes Map von Verantwortung,
je nachdem, wie weit in ihm die Ablöjung des
perfönlich bewußten fittlihen Willens vom trieb-
haften Leben der Tierheit fortgefchritten ift. Wir
werden fo nicht erft in foldye unmöglichen Tragen
uns einzulaffen brauchen, ob beijpielsweile der
Neandertaler oder Heidelberger Menſch aud
fchon gejündigt haben und der Erlöjung be-
dürftig waren oder niht. Die alte Dogmatit
wird folgerichtig gezwungen, ſolche Tragen auf-
zuwerfen und mit [charfen Grenzbeftimmungen
zu beantworten, die doch in Wirklichkeit zu den
Das Problem des \lebels in der Welt. 31
` überall vorhandenen Webergängen in Wider-
ſpruch geraten. Daraus folgt aber nicht, daß
wir nicht verantwortlicd) wären, wenn etwa unfer
Vorfahr vor 100 000 Jahren es auch noch nicht
war. Wir find es, fo gewiß wir wirfliche Men-
ihen find. Niemand kann fih durch die evolu-
tioniftifche Betrachtung feiner etwaigen Abtunft
tatfächlich diefer Verantwortung entziehen, denn
in dem Augenblick, wo er fie anitellt, beweiſt er
ja durch eben die Fähigkeit, ſolche Betrachtung
anjtellen zu fönnen, daß er gerade fein Tier
mehr, fondern etwas anderes ift, ein Weſen, das
Wiſſenſchaft treiben und dementſprechend auch
bewußt ethiſch handeln kann. So bleibt ihm alſo
genau dieſelbe Verantwortung wie dem, der
über den Urſprung des Sittengeſetzes und der
Sünde andere Vorſtellungen hat, ja ſie wird eher
noch größer. Denn je ſtolzer der moderne Menſch
auf das iſt, was er erreicht hat — und wer wäre
ſtolzer darauf als gerade die freidenkeriſchen
Gegner der Religion? — um fo klarer wird auch,
daß von dem, dem viel gegeben ift, auh viel
gefordert wird. Eine richtig zu Ende gedachte
Entwidlungslehre mindert alfo den Ernit der
Verantwortung nicht im geringiten, hat dafür
cber den großen Borteil vor der früheren Auf»
fajjung, daß fie zugleich dem naturhaft Bedingten
Des Uebels zwanglos gerecht wird. Gie ftreicht
olfo auch nicht die „Erbſünde“, im Gegenteil, fie
bietet diefer tieffinnigen Lehre erft die rechte
Unterlage. Es wäre doch eine höchit oberfläch—
lihe Auffaffung, wenn man, mit den oben ange—
führten Gründen gegen die paulinifche Ausge—
jtaltung dieſer Lehre, mit ihr felber fertig zu
fein glaubte. Das macht ja gerade die über-
aus ftarfe Ueberzeugungskraft diefer Lehre für
einen tiefer fittlidy empfindenden Menfchen aus,
daß er mit dem Apoſtel die Wahrheit der Klage
fühlt: „Wollen habe ich wohl, aber Bollbringen
des Guten finde ich nicht. ch elender Menje,
wer wird mich erlöfen von dem Leibe diefes
Todes?” Ganz gewiß bleibt dies richtig, auh
wenn wir einjehen, daß nicht ein „Sünbenfall”
Adams, fondern das ineinander von Freiheit
und Notwendigkeit, das nun einmal unfer Teil
ift, daran ſchuld iſt. Denn das ift eben unfer
Menfchenlos, daß durch die erlangte Freiheit das,
was dem Tiere nur natürlicher Trieb war, uns
unter Umjtänden zur Sünde werden muß. Go
jind wir Sünder, weil und foweit wir frei, „erb=
fündig”, weil wir dabei zugleich naturgebunden
find, und doch durch eben diefe Naturgebunden-
- beit, und foweit fie tatfächlich reicht, in gewiſſem
Sinne auch nicht „fündig“, fondern nur gefellelt.
Das ganz unauflösliche Ineinander von Schuld
32 ` Z Das Problem des Uebels in der Welt.
und Schidjal,’) das jedes Menfchen Leben durd-
zieht, läßt fih nur fo völlig verftehen.
Wenn wir nun bier ſtehen blieben, fo würde
man uns allerdings mit Redt den Vorwurf
machen können, daß dies alles zwar vielleicht
richtig fei, aber in die eigentlichen Tiefen des Pro-
blems doch nicht hinabreiche. Die ſchwerſte Frage
erhebe fih ja nun gerade jeßt erft, nämlich die
Frage: wie denn nun jene „Urfünde”, die Selbit-
ſucht des Eigenmwillens, metaphyfiich zu deuten
und zu werten fei. Und bier wird der Chrift jtets
fi in einem gewilfen Gegenjag zu indiſch—
ſchopenhaueriſchen Anfchauungen befinden, fo
nahe er an diefe im ganzen auch heranfommen
mag. Er wird immer wieder diejen zweierlei
entgegenhalten. Zum erften, daß fie die Günde
zuletzt doh ganz in einen Naturfaftor ver:
wandeln, und dadurd) die Verantwortung dem
Menſchen ganz abnehmen, ja daß fie legten
Endes das Uebel ganz in Gott felber hineinver-
legen. Bei Hartmann wird ja dem Abſoluten
die doppelte Eigenfchaft beigelegt, Wille und
Vernunft zu fein und der ganze Weltprogzeß ift
nad) ihm der Weg, auf dem der an fih blinde
Dafeinsmille fih von feiner dunftlen unbemwußten
Gelbftfuht durd die Entwidlung der Vernunft
felber befreit, um fih fo fchließlich in das Nicht-
fein freiwillig aufzulöfen und damit dem ja doch
niemals zur Befriedigung führenden Streben zu
entfagen. Eine folhe im Grundjaß peflimiftifche
Stellungnahme widerſpricht aber Zweitens gu-
dem offenfichtli” dem an fih optimiftijchen
Grundcharatter des Chriftentums, das, ohne fein
Weſen aufzugeben, niemals zugeben tann, daß
der Wille zum Leben an fih die Urfünde fei,
vielmehr in diefem den an fich guten Ausfluß
der unendlichen Schöpferfraft ſieht. Diejer
Optimismus, den das Chriftentum mit dem
Judentum teilt, ift auf alle Fälle ein integrieren-
der Beftandteil desjelben. Und darum ift es
und nicht die indiihe Weisheit trog all ihrer
Tiefe die Religion des das Leben im Grunde
bejahenden und die Welt meifternden, nicht an
ihr verzweifelnden Europäers. Uns erfcheint der
Buddha Gautama, der, getrieben von immer
düftereren Gedanken, fchließlich heimlich in der
Nacht fein blühendes Weib und feinen Knaben
verläßt, um zuerſt im Büßerleben und danı in
der gänzlichen Ertötung des Dafeinsmwillens den
„Pfad des Heils” zu finden, nicht als die höchite
Potenz menſchlicher Größe, fondern als ein zwar
2) Es ift in prachtvoll fünftleriicher Geltaltung 3. B.
in r. v. Bagerns hervorragendem Roman „Die Wund-
male” dargeftellt.
Edler und Großer, aber Srregegangener, einer
der, von Jugend auf überfättigt dur das
Luxusleben eines indifchen Fürſtenhofes, Tchließ=-
lih das Nächitliegende und Sclichtejte im fitt=
lihen Leben nicht mehr fab, wie denn ja auch
bei uns der Buddhismus fehr häufig die legte
Zuflucht nicht etwa ſchwer angefochtener und
leidender, fondern durd; den Befiß aller Kultur—
güter überfättigter Menſchen wird. Es ift mehr
als nur ſymboliſch, wenn das Chriftentum fidh
demgegenüber zu allen Zeiten feinen Meifter
gern als Baft auf der Hochzeit zu Kana gedadht
und ihn als foldhen unzählige Male bildlich dar=
geftellt hat (man dente 3. B. an ©. v. Gebhardts
befanntes Bild). Das Chriitentum bejaht den
Willen zum Leben als an fih gut, weil göttlicher
Art und Herkunft und muß deshalb — allen jo
vielfach eingedrungenen asketiſchen Strömungen
zum Trog — zulegt auch die diefem Willen als
Werkzeug dienenden Naturtriebe an fih gut
heißen, foweit fie niht zur Beein-
träbhtigung anderer führen. Da die
Ernährung tatſächlich zumeift nur auf Koſten
anderen Lebens möglich ift, jo müßte folgerichtig
das Chriftentum zuerſt auf diefem Gebiete den
Beginn des Uebels fudhen. Wenn es Statt deffen
gerade umgelehrt fo oft das Ellen und Trinten
als völlig gleichgültige Dinge, den Trieb zum
anderen GBefchlechte dagegen geradezu als die
Urfünde behandelt hat, fo ift das ein glatter
Widerfprud gegen fein Grunddogma von der
Schöpfung und nur durd das Ueberwiegen
fpäterer fetundärer Einflüffe zu erklären. Die
ungeheuren geijtigen Werte, welche die Liebe
zwifhen Mann und Weib gefchaffen hat und
denen fidh tatfächlicy fein Menfch, auch der ver—
ranntejte Asket nicht, entziehen tann, diefe Werte
hat das Chrijtentum allen Grund ebenfo zu
preifen wie die Wunder der Schöpfung, ja nody
mehr, denn durch wahrhafte Liebe braucht an
fih niemand anderem ein Leid zu geichehen,
während das Vöglein, das dort auf dem Baum
uns ein Loblied zu Ehren feines Schöpfers zu
fingen fcheint, vielleicht im nächſten Augenblid®
eine unglüdlice Raupe langjam zu Tode hadt.
Aus diefem Gefichtspuntte ift 3. B. auch der
Wagnerſche „Parzival“ trog aller feiner Hoheit
und feiner vielen wahrhaft driftlichen Ideen im
Grunde undriftlich gedadht; er fteht auf dem
Boden Schopenhauers und der Inder, denen die
geichlechtliche Liebe ganz direkt dasjenige Mittel
ift, deffen fich der unfelige Wille zum Leben be-
dient, um immer aufs neue das Leid diefes Da-
jeins zu entfachen. |
(Schluß folgt.)
Bo —— Ge rah nn — = m
Aftronomie und Weltanfhauung bei griehifhen Philofophen. 33
Aftronomie und Weltanfhauung bei griechiſchen Philo-
fophen. Bon Dr. Paul Meth. — (Fortfekung.)
Da der „Kosmos“ die Ordnung und Boll-
endung fchlechthin darftellt, fönnen feine Formen
nur die vollendetiten fein: darum muB die
Erde Kugelgeftalt Haben! Darum müſſen
auch alle Gejtirne auf Kreifen umlaufen, und
Das Weltall felber muß eine Kugel fein. Die
in grober Annäherung richtige Ausfage über die
Kugelform der Erde ift alfo nur aus einer philo-
fophifchen Erwägung hervorgegangen. Nad der
Zahlenlehre der Pythagoräer ift die Zehn eine
bejonders heilige und volltommene Zahl, folg-
Gh müflen es zehn Kreife fein, auf denen fih
Die Sterne um den Mittelpuntt der Welt drehen.
Die Zehnzahl wird dabei auf eine höchft eigen-
tümliche Weife berechnet. Die fieben Wandel-
Tterne, Mond, Mertur, Benus, Sonne, Mars,
siupiter, Saturn durchlaufen fieben Kreife.
Mit der Firfternbahn ift die Zahl acht ers
reiht. Die Erde ſelbſt ſteht nicht ftill
im Mittelpuntt der Welt, fondern dreht fih
um ein Zentralfeuer in einem Tage,
und zwar fo, daß die eine Erdhälfte immer
den Ausblid ins Weltall behält, während die
andere Halbkugel dem Sentralfeuer zugekehrt ift.
Eine Gegenerde bewegt fih auf demjelben
Kreife um das Zentralfeuer, uns ewig unfichtbar
immer hinter dem Feuer ftehend. Mit Erde und
Begenerde ift die Zehnzahl in der pythagoräifchen
Melt erreiht. Durch die eintägige Drehung der
Erde um das Zentralfeuer fommt diefelbe Cr-
Iheinung zuſtande, als ob fih alle Gejtirne in
einem Tage um die Erde drehten. Daher wird
dem Firfterngewölbe auch nicht die tägliche Um-
mälzung gegeben, fondern Philolaos nimmt eine
febr langſame, vieltaufendjährige Umdrehung der
Hiriterntugel an. Diefe langdauernde Um—
drehung der Fixſterne um den Weltmittelpunft
ift offenbar nur aus Entſprechungsgründen hin»
zugefügt worden. Die Kegelbewegung der Erd:
achfe, die fogenannte „PBräzeffion“,
eine fcheinbare Drehung des Fixſterngewölbes
gegen die Sonnenbahn, aber die Präzeſſion ift
erft im zweiten Jahrhundert vor Chriftus von
Hippard) entdedt worden. Die Kenner der grie-
chiſchen Wiflenfchaft lehnen den Gedanken ent-
fchieden ab, daß Pythagoras oder Philolaos die
Präzeflion gefannt hätten. Gerade die phanta-
ftifchen Elemente des pythagoräifchen Weltbildes,
die Zutaten freier Erfindung, enthalten entwid:
Tungsfähige Keime und Anfäße zu weiteren Fort-
fchritten auf dem Gebiete der aftronomifchen Cr-
fenntnis. So war nur nod ein Meiner Schritt
erzeugt zwar
P)
nötig, um bdie Gegenerde als Halbkugel der
Gegenfüßler mit der eigentlichen Erde zu vers
binden und aus der vorher befchriebenen Bes
megung beider Erden die Achfendrehung cines
einzigen Erdförpers zu machen. Dann war die
icheinbare tägliche Bewegung der Geftirne in
der neuzeitlichen Weiſe erklärt. Aber auch ohne
dies bedeutet die Loslöfung der Erde aus der
Mitte des Weltalls erfenntnistheoretifch einen zus
funftsreichen Fortſchrit. Wird doch dadurd
zum eriten Male die Möglichkeit gewaltiger Bes
mwegungen zugegeben, die wir garnicht durdy Cr-
ichütterungen wahrnehmen; denn ähnliche Be»
denfen find es doch, die den kindlichen Verſtand
von der Annahme einer bewegten Erde abge-
. ihredt haben. Ferner wird im pythagoräifchen
MWeltgebäude die Erde ausdrüdlid mit den
andern Geftirnen auf eine Stufe geitellt, denn
fie rechnet in der Zehnzahl mit und fie bewegt
fih nad) Art der andern: fie wird zum „Pla:
neten“. Innerlich war damit auh das Welt-
gebäude mit der Sonne als Mittelpuntt vorbes
reitet worden, denn wenn man überhaupt erjt
gewagt hatte, eine Bewegung der Erde auszu-
denken, fo fonnte man ihr auch jede andere Be:
wegung, aljo auch die jährliche Ummälzung um
die Sonne zuſchreiben. Beſonders zu betonen ift
noch, daß im pythagoräiſchen Weltgebäude in ges
radezu bahnbrechender Weife die Bewegung zum
erjten Male als eine relative Erfcheinung erfannt
wird, d. h. daß es für die Befchreibung einer Be-
megung gleichgültig ift, welchen Körper man als
ruhend oder bewegt anlieht: Der Reifende in
einem ftehenden Eifenbahnzuge glaubt zu fahren,
wenn fih ein Zug auf dem Nebengleis in Be-
wegung fekt. Oder um auf das aftronomifche
Beifpiel einzugehen: Die Erfcheinungen des Auf»
und Unterganges der Erde werden ebenfo gut
durch die Achjendrehung der Erde wie durch eine
täglife Umdrehung des Himmelsgewölbes in
entgegengejetter Richtung bejchrieben. Die Be»
wegung ift eine Lagenänderung der Körper
gegeneinander oder relativ zueinander. Diele
Relativität der Bewegung wird im pythago-
räifchen Weltbilde ausgewertet, um die fcheinbare
tägliche Umdrehung der Sterne aus einer täg—
lichen Kreisbewegung der Erde zu erflären. Hier
biegt zwar ein Tehlgriff in der Wahl der Er—
flärungsmittel vor, indem der Erde eine Achſen—
prehung hätte zugefchrieben werden follen, aber
mierfenntnistheoretifchen Urteil ver:
34 Aftronomie und Weltanfchauung bei griechiſchen Philofophen.
liert die Erklärung dadurch nicht an Bedeutung.
Wenn wir uns niht auf den Standpunft der
heutigen Willenfchaft ftellen, fondern die Aftro-
nomie des Pythagoras als Ausdrud einer philo-
iophifchen Weltauffafjung werten, fo ift die Lehre
von dem Sphäreneinklang nicht als Entgleifung,
fondern als die Krönung der pythagpräiichen
Weltauffaffung anzujehen. Pythagoras nahm
an, daß ſich die Durchmeifer der Planetenfreife
wie die ganzen Zahlen 1 : 2 : 3 verhalten, ent-
ſprechend feinem Glauben an die allbeherrichende
Zahl. Andererfeits hatte er entdedt, daß die
Verfürzung einer jchwingenden Saite auf }:', 35
uſw. ihrer urfjprünglichen Länge die Oktave,
Quinte ufw. des Grundtons der Saite ergibt.
Die für das Weltgebäude angenommene und in
der Muſik entdedte Zahlenharmonie vermählen
fih in der phantaftijchen Lehre des Sphären:
eintlanges. Die Planetenbahnen follen nad)
ihren Größenverhältniffen wie die Obertöne einer
Gaite tönen und damit auh dem Obr die Ein-
heit des Weltenbaues fundtun, allerdings nur be-
vorzugten Menfchen hörbar, zu denen fih Pytha=
goras felber rechnete.e Wir gehen wohl nicht
fehl, wenn wir annehmen, daß er in entrüdter
Verſenkung in die Schönheit des Alls geglaubt
þat, die Klänge der Sphären mwirflih zu ver-
nehmen.
Der Kosmos, die Berförperung göttlicher
Schönheit, an der fih die Außeren und inneren
Sinne in gleiher Weiſe erbauen, verträgt
feinen Untergang. Diefe Welt muß ewig
währen, fonft wäre die Gottheit ja nicht voll-
fommen. Das Rätfel der Ewigkeit löſt Pytha-
goras durch die ewige Wiederholung: Nad einer
Umdrehung der Firfternfphäre follen auh alle
Planeten wieder ihre Anfangsitellungen ein-
nehmen, und nun follen alle Ereigniffe in der
Welt fih wiederholen. Heraklit hat diejen Ge-
danfen wahrfcheinlich von dem älteren Pytha—
goras übernommen. Die Welt erjcheint dem
Pothagoras als ein riefiger Organismus, Die
regelmäßige Wiederholung aller Vorgänge er-
innert an die ſich wiederholenden Lebenstätig-
feiten. Die Welt „atmet“ in langjamen Zügen,
die Jahrtaufende umfaſſen!
Sin der pythagoräifchen Aftronomie hat fih
der griechifche Geift ein unvergängliches Dent-
mal geſetzt, denn das echt griechiſche Gefühl für
Mah, Schönheit, Einklang, findet im pytha-
goräifhen Kosmos den ſtärkſten Ausdrud. Das
Weltall, wie es Pythagoras fah, ift ein Gebilde
jeiner Weltanſchauung, und diefe wieder fchöpft
aus dem Anblick der Sternwelt und ihrer Schön-
heit neue Kraft des Glaubens.
Nur die Lehre von den Zahlenverhältnifjen
der Töne ruht bei den Pythagoräern auf dem
Unterbau, auf welchem fih das Gebäude neugeit-
liher Naturforſchung erhebt: auf dem Verſuch.
Sm übrigen droht fih die Naturphilofophie auf
dem Wege, den Pythagoras und feine Schüler
mit fo viel Hoffnung und Begeifterung bejchrei-
ten, in einem trügerifchen Helldunfel von Ber:
nünfteleien zu verlieren. Zwar treiben aud) wir
die Aftronomie, wie alle ftrenge Naturforfchung,
in pothagoräifhem Sinne, wenn man darunter
verfteht, daß wir von der Natur verlangen, dağ
fie großen Geſetzen unterworfen ift, die wir in
Bahlenbeziehungen ausdrüden. Aber wir arbei:
ten dabei durchweg mit Verfuchen oder Beob-
achtungen Hand in Hand. Der Verſuch führt
uns zu Gefeßen, deren Folgen für das Denten
mit Hülfe der Mathematit gezogen, fidh wieder
fchrittweife durch das Experiment prüfen iaffen.
Wie aber der griechifche Geift nah Pythagoras
den legten Reit des Erdenftaubes abfchüttelt, und
wie fih in den reinen Wetherhöhen des Kosmos
auch der reine Berftand, gepaart mit Forderungen
des Gemüts, eine Welt fchuf, jehen wir an
Platon. Wohl haben wir von ihm das Jıhöne
Wort: „Die Altronomie zwingt uns, empor zu
ſehen und führt die Seele von dem, was hie
nieden ift, nach dort“, und hierin zeigt er feine
innere Verwandtſchaft mit Pythagoras. Uber
nun tut er den jhon angedeuteten Schritt weiter:
Der menſchliche Geiſt erfaßt den Kosmos aus
fich felbft heraus; dazu ift noch nicht einmal das
Eichverfenten in den Anblid der Sternenmelt
nötig! Die Himmelsmunder find nad) Platon,
nach einer Aeußerung in feiner Schrift „Der
Staat”, nicht darum befonders erhaben, weil wir
fie über uns erbliden; mir können dieſelbe
Schönheit und denfelben Erkenntniswert in der
Tiefe fuben und finden. Und die legte Tiefe,
aus der dem Weiſen die reinfte Wahrheit quilt,
ift der menfchliche Geift, der Gedanken zu fallen
vermag, die bis in die dunfelften Geheimnille
des Kosmos hineinleuchten. Iſt doch die menfdy
liche Seele ein Teil der „Weltſeele“, und daher
kann der Menſch in ſich den Sinn der Bell
finden, die Welt verftehen und ergründen. In
Platons Augen ift die Welt nady einem großen.
„Zweck“ geftaltet, der ihr Dauer und Ordnung
verbürgt. Der Kosmos verkörpert die „Boll
fommenheit“. Dem Kosmos liegt ein Leitgedante
zugrunde, der fi) dem großen Denter als die
„dee des Guten“ offenbart. „Das Gute” ift
der furze Ausdrud, eine zuſammengefaßte
Formel für das herrfchende Weltprinzip, das J.
allen Veränderungen entzogen ift und über dem Æ;
MWechfel der Erfeheinungen thront. Es beherrid
die veränderlichen Dinge und prägt ihnen DIE
Aftronomie und Weltanſchauung bei griechiſchen Philoſophen. 35
Geſetze auf. Daher rührt z. B. die Geſetzmäßig—
keit im Laufe der Sterne. Das „höchſte Gute“
kann nicht untergehen, das iſt Platons natur:
philojophifhe Religion; die wahre Weſenheit
der Welt ift ein unveränderlich Bleibendes, Wer-
den und Vergehen find nur vorübergehend. Die
Welt, regiert vom „höchſten Guten“, ift ewig.
Das ift nur zu denten und zu verftehen als ewige
Wiederkehr, wie fie Pythagoras lehrte. Nach
dem großen „Weltjahr”“ haben alle Geftirne
wieder dieſelbe Stellung zueinander, und alle Cr-
eigniffe auf Erden fehren wieder wie die Be-
mwegungen im Kosmos. Platon vergleicht die
„dee des Guten” mit der Sonne, beide „er:
leuchten”, beide find die Erzeuger des Wachſens
und Gedeihens der Gefchöpfe. Und wo die Ber:
gleichbarkeit fo weit geht, da ftellt fih, noch an=
fangs taum bewußt, die Gleichjegung ein. Es
bleibt der freien Deutung überlajfen, ob Platon
in fpäteren Jahren in der Sonne eine Ber-
törperung der weltbeherrfchenden „dee des
Guten“ gejehen hat; jedenfalls haben Philo-
fophen nah ihm aus foldyen Vergleichen des
athenifhen Meiiters die Anregung zu einer
Sonnen- und Lichtphilofophie gefchöpft, die die
Beziehungen zwifchen Aftronomie und Welt-
anſchauung befonders eng knüpfen follte. Immer
wieder verfudht Platon die Sdee des Guten zu
umfchreiben, fie uns nahe zu bringen. Er findet
fie endlich in den drei Begriffen der Schönheit,
Wahrheit und im Maß, dabei in enger Be-
ziehung zu pythagoräifchen Anſchauungen blei-
bend, denn das Maß ift eben die in Zahlen aus»
dDrüdbare Form und Geſetzmäßigkeit. Daher
fordert Platon, daß die Entfernungen der Pla-
neten von der Erde, um die fih alle Gejtirne
drehen, in gewiſſen, einfachen, ganzzahligen Ber-
hältniffen ftehen, und folgert daraus mit Pytha-
goras die Sphärenmufit. Der gange Kosmos
muß, als volltommenjtes Wefen, die voll-
fommenjte Geftalt haben, das ift die der Kugel.
Der Kosmos ift alfo nicht unendlich groß, denn
das unendlich Große wäre geftaltlos. Das Ge-
fühl für Maß und Form verbietet dem atheni-
ſchen Weifen, eine unendliche Welt anzunehmen.
Freilich bleibt dabei unerflärt, was fich hinter
den Grenzen der Kugel befinden foll Ganz
pythagoräijch gibt er auch der Erde Kugelgeſtalt
und folgert daraus richtig die Exiſtenz von Gegen:
füßlern, die Begriffe „oben” und „unten“ rela-
tivierend.
Während fih in diefen Zügen des aftronomi-
ſchen Weltbildes faum fchon etwas Eigenes findet,
geht Platon bewußt über feine Vorgänger hin-
aus, wenn er die „Zwedmäßigfeit” der Welt be-
tont. Er fühlt fih von den älteren Philofophen
nicht befriedigt, welcdye nad) den Gründen fragen,
„woher” die Welt jo und niht anders fei. Platon
glaubt, daß man durch die frage nach den ding-
lichen Urfachen die legten Gründe nicht aufdede.
Diefe lägen vielmehr in den jenfeitigen „Zwecken“.
Die fosmifchen Vorgänge find nicht blind wir-
tenden Naturfräften zugufchreiben, die eigentliche
Erklärung alles Gefchehens fließt aus einer Biel-
itrebigfeit des Kosmos nad) dem „Beſſeren“, nad)
Berpolllommnung. Die tosmifche Entwidlung
wird — wie die menſchliche Gefellfchaft — von
der „Gerechtigkeit“ beherrich, in dem Sinne wie
Heraklit die Rachegöttinnen als Hüterinnen des
„Rechts“ über die Bahn der Sonne maden läßt.
Die Wirkung der Gerechtigkeit ift es, daß alle
Geftirne ihre vorgeichriebenen Bahnen Durch»
laufen und einander ihre Kreife nicht ftören.
Platons Einjtellung, auh in ajtronomifchen
Dingen, ift im höchſten Maße folgernd, der Ber-
Stand ift der „König des Himmels und der Erde”.
(So 3. B. im „Philebos” bezeichnet.) Da jpricht
aus ihm der hervorragende Mathematiker: fo
wie er die Eigenfchaften geometrifcher Gebilde
durch bloße Weberlegung finden fann, glaubt er
auch, die Natur aus feinem eigenen Innern þer-
aus ergründen zu können. Die hohe fünftlerifche
Befriedigung, weldye die Beichäftigung mit der
Mathematit gewährt, ergibt das Bindeglied zwi-
jhen der Berftandes: und Gefühlsfeite in der
Platonifchen Weltanfhauung. Jene innerjte
Ueberzeugung, daß der Kosmos nad) fünjtlerifchen
Grundfägen gefchaffen ift, ift für Platon gleidh-
bedeutend damit, daß die Welt im großen wie
in den kleinſten Teilen mathematijche Gejeße be-
folgt. Daher werfen ihm die Gegner vor, er
habe die Natur „vermathematifiert”. Damit
wird man aber feiner Geiftesart nicht gerecht,
denn fein Sinn und feine Freude an mathemati-
ichen Formen ift ftets an ein ftarfes, urjprüng-
liches Gefühl für Schönheit gebunden, und nur
durch diefes Gefühl glaubt er die Geſetze des Welt-
alls zu verſtehen, fagen wir richtiger: „nachzu—
fühlen“, in die Geheimnijfe der Werkſtatt des
MWeltichöpfers zu jchauen.
Es wurde ſchon vorher auf Platons Lehre von
der Meltfeele hingewiefen. Auch diefe Boritel-
lung wird in eigentümlicher Weife mit der
Aftronomie verquidt; fie foll dadurch dem Ber-
ftandnis näher gebracht werden: Im Weltall er-
folgen lauter Kreisbewegungen als Ausdrud der
Bolltommenheit des Kosmos. Im Haupte des
Menichen bewegen fih feine, unfichtbare Teil:
chen, und ſoweit fie geordnete Bahnen in Kreijen
ausführen, bringen fie die edlen und vernünftigen
Gedanken hervor. Alfo beherricht diefelbe Nar-
monie den Kosmos wie den harmonilchen, guten
36 Das Problem des Genius im Lichte der Naturwiſſenſchaft.
und weifen Menſchen. Die Menfchenmelt iſt
denjelben Regeln wie die Gejtirnwelt unter-
mworfen, infofern als die Streisbewegungen in
beiden Fällen eine Begleiterfcheinung der inneren
Vollkommenheit im phyfitalifchen wie ethifchen
Sinne find. Aber eine noh engere Verknüpfung
zwiſchen der Welt des Kleinen und Großen findet
Platons Gedantenflug: Wenn die Bewegungen
der Teilchen im Haupte zum Bemwußtfein ge-
hören, müffen auh im Weltall die Bewegungen
der Sterne von Gedanken und Empfindungen be-
gleitet fein, d. bh. der Kosmos ift ein leben-
Diges Weſen, freilich von ganz anderer Be»
Ichaffenheit als alle anderen bekannten, mit Be-
mwußtfein begabten Wefen, weil er aud) ein Da-
fein unter einzigartigen Bedingungen lebt. Er
Ichließt alles in fih, daher braucht er fein Organ
zur Nahrungsaufnahme; und er tann die Glieder
zur Fortbewegung entbehren, denn er führt als
volltommenftes Weſen fchon die volltommenfte
Bewegung aus, das ift der Umſchwung um fih
jelbft. Der Kosmos umfdließt ſelbſt Wefen
niederer Stufe, das find die Sterne, welche höher
geartet als die Erde, die Wohnungen der Seelen
nach dem Tode abgeben. Die Gedanten find zum
Teil ähnlidy wie die Fechners im „Zend-Avpeſta“.
Platons tosmologifche Lehren entfernen fih weit
von dem, was wir heute Wiſſenſchaft nennen.
Uns Steht manhe Anfiht älterer Naturphilo-
fophen näher als Platons Metaphyfit. Wenn
3. B. Anaragoras die Himmelstörper für Steine
hielt, fo wurde er zwar von Platon und Mri-
itoteles dafür angefeindet, aber er hatte doch den
Weg betreten, auf dem die Ergebnifje der moder:
‚nen Spelttralanalyfe liegen.
(Schluß folgt.)
Das Problem des Genius im Lichte der Naturwiſſen⸗
ſchaft. Bon Dr. Scherwatzky.
Das Problem des Genius ift fo alt wie die
Menichheit ſelbſt. Schöpferifhe Naturen wie
Dichter und Denter haben immer eine Sonder:
ftellung gehabt. Im Altertum galten fie als
heilig: ein Gott fchien aus ihnen zu fprechen!
Das gilt für die Welt des alten Teftamentes
genau fo gut wie für die der Germanen und
Römer. Erft bei Beginn der Neuzeit wird das
raturmiljenfchaftlich-philofophilche Problem, das
in und hinter dem „Genius“ ftedt, gefehen. Wohl
jpürte man auh damals die in den genialen
Menſchen wirfende „höhere“ Macht, aber der
Menſch der Renaiffance war rein naturwillen-
ichaftlich eingeftellt und der Weberzeugung, dab
fi) alle Probleme reftlos in wiſſenſchaftlicher (das
hieß für ihn zunächſt in naturmiffenfchaftlicher)
Weiſe löfen laffen müßten. Der fpätere Mas»
terialismus geht an dem Problem wie an allen
geiftigen Problemen achtlos vorüber. Erft durd
Die Neubegründung der Philofophie dur Kant
und vor allem durch die Romantik wird das
Problem des fchöpferifchen Menfchen wieder le:
bendig. Gegen die rein philofophifche Auffaffung
diefer Frage wendet fih die beginnende Natur:
wiljenfchaft der Zeit um 1840. Seitdem ift das
Problem ein Gtreitgebiet zwifchen der Natur:
wiljenfchaft — genauer der Piychologie — und
der Philofophie geblieben. Es ift ein typifches
Grenzproblem. — Das geniale Denten ift oft ge-
nug geichildert worden, da es immer wieder zu
Deutungen reiste. Zur Klärung der Frage wird
$)
es gut fein, an der Hand des vorhandenen Ma-
terials die wefentlihen Grundzüge herauszu—
arbeiten, ehe eine Scheidung der Gebiete erfolgen
tann. (Das ift gerade heute wichtig, da die ganze
Trage durch die Arbeit von Giefe: „Das außer:
perfönliche Unbemwußte” in ein neues Stadium
zu treten fcheint.)
Am befannteften find die Ausjagen der Mdh-
ter geworden, und dort ftehen unſere klaſſiſchen
Perjönlichkeiten im Vordergrunde der Forſchung.
Goethe betont einmal, daß die Snfpiration in
niemandes Gemalt fei; fie ftände über alle
irdifhe Macht erhaben und fei dem Dämoniſchen
verwandt. An Schiller fehreibt er darüber: „Ich
glaube, daß alles, was das Genie als Genie tut,
unbewußt gefchehe. Kein Werf des Genies tann
durch Reflerion und deren nächite Folgen ver:
beflert, von ihren Fehlern befreit werden.”
Schiller hatte furz vorher gemeint: „Der Künft-
ler fängt ftets mit dem Unbemußten an. Er
hat fih glüdlich zu ſchätzen, wenn er durch das
tlarite Bewußtſein feiner Operation nur fo weit
fommt, um die erjte dunkle Totalidee feines
Werkes in der vollendeten Arbeit ungefchwächt
wiederzufinden. Ohne eine folche dunkle, aber
mächtige Totalidee — die allem Technilchen vor:
hergeht — tann fein poetifches Wert entftehen.”
Ein anderes Mal ftodte in ihm diefer „Medha:
nismus”, und er fchreibt an Goethe: „Was ift
unfer Wille, wenn die Natur verfagt! Worüber
ich jhon fünf Wochen lang brütete, das hat ein
Das Problem des Genius im
milder Sonnenblid binnen drei Tagen in mir
gelöſt.“ Goethe beftätigt: „Wir können nidyts
tun, als den Holzftoß erbauen und recht trod-
nen; er fängt alsdann euer zur rechten Beit,
und wir verwundern uns felbjt darüber.“ Beſſer
tann der Mechanismus unbewußter Arbeit —
jenfeits und autonom vom Ich — nicht gefdil-
dert werden. Diejelbe Erfcheinung finden wir
auch beim Schaffen Feuerbachs. Er fagte ein-
mal: „Es ift eine fanfte, felige Macht, die mir
zuweilen die Hand führt; die Bilder haben ihren
eigenen Willen, und wenn fonft nie, folge ich
hier gern.“ Bekannt ift auh, daB Mozart die
Gedanken jtrommweife und ganz plöglih tamen;
woher und wie, das wußte er nicht. „Alles das
Binden und Machen geht in mir nur wie in
einem Starten Traum vor; aber das Ueberhören
fo alles zufammen ift doh das Beſte.“ Aehn—⸗
liches willen wir auh vom Schaffen Beethovens,
den die Melodie des „Opferliedes“ fein Leben
lang verfolgte wie Goethe die Tauftidee.
Aber auch das mwiffenfchaftliche Denten arbeitet
in ähnlicher Weife. Am klarſten geht das aus
Nietzſches Worten hervor: „Man hat, man Jieht
nicht, man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt,
wie ein Blig leuchtet ein Gedanke auf mit Not-
wendigfeit in der Form und ohne Zögern —
ih habe niemals die Wahl gehabt. Alles ge-
ſchicht im höchſten Grade freiwillig, aber wie im
Sturm, wie Treiheitsgefühl, wie Unbedingtfein,
wie Macht von Gottheit.“
Ueberbliden wir die angeführten Ausſprüche,
fo ergibt fich deutlich, daß die Anfpiration wohl
gefucht werden tann, aber nicht erfcheint; daB
plötzlich jedes geiftige Können erlifcht und zwar
oft auf Jahre hinaus, um plöglih wieder auf-
zutaucdhen. Allen genialen Menjchen ift diefe
ausgefprochene Ohnmacht gegenüber dem „her-
beirufen“, „abftellen“ oder „geftalten” irgend
eines intuitiven Gedankens eigentümlich. Ein»
heitlich ift auch die Empfindung eines völlig
jelbftändigen, vom Willen unabhängigen Ge-
ihehens im Menſchen. Es herricht fein Pro-
duftionsgefühl, fondern durchaus das Gefühl des
Empfangens. Der geiftoolle Lichtenberg hat das
einmal fo ausgedrüdt: „Nicht ich dente, fondern
es denft in mir.”
Ebenfo rätjelhaft wie die Gleichheit der, Bor-
günge des intuitivegentalen Denkens ift aud die
Gleichförmigkeit menfchlicher Ideen und ihre
Bleichartigkeit bei verfchiedenen Völkern und
Zeitaltern. Eine begrenzte Zahl von „Ur:
gedanten” wie Scidfal, Gottheit, Seele, Recht,
Empfindung, Kraft, Stoff, Sein, das Körper:
liche, der Weltfchöpfer, der Gutgefell, die Sünde
ufw. findet fih bei allen Völtern in allen Zeiten,
Lichte der Naturwiflenfchaft. 37
gleichgültig ob fie durch Kontinente oder Ozeane
oder Durch abgrundtiefen Bildungsunterfchied ge-
trennt find. Intereſſant ift nun, daß fih diefe
Urideen genau fo bei Minderfinnigen wie bei
Kindern wiederfinden; die Vermandtichaft zwi-
ſchen kindlichen Zeihnungen mit denen primis
tiver Völker auf der einen Seite und denen der
Minderfinnigen auf der anderen Geite ift ver-
blüffend, und ebenjo rätſelhaft. Nätfelhaft ift
auch die Periodigität, die geregelten Zeitabläufe,
in denen diefe Ideen auftauchen. Wir wiljen
aus dem Schaffen H. Wolfs, Heines, Grillpar-
gers, Goethes und Schillers von jenen plößlichen
„Ihöpferiihen Paufen”, die den Dichtern fetbft
jo peinlich waren und dodh für ihr Schaffen von
unendlicher Bedeutung geweſen find.
Die Wege, die zur Löfung aller diefer Pro-
bleme, die mit dem intuitiven Denten in feinem
weitelten Sinne gegeben find, führen fünnen,
jind doppelter Natur: der eine ift der der Phäno-
menologie. Sie verfucht, Die im Bewußtſein ge:
gebenen Fragen rein philoſophiſch zu erforfchen,
unabhängig von ihrer pſychologiſchen Bedingt-
heit. Für fie ift der Dualismus Geift und
Materie ein Urdatum, eine lebte Gegebenheit,
und ihre Löfungsverſuche find von der piycho-
fogifchen Methode abſolut verichieden. Der pfy-
chologiſche Weg iit naturwiffenidhaft-
Tid orientiert. Er führt über das Gebiet der
Dentpigchologie, der Piychoanalyfis, der ver-
gleichenden Ceelenfunde. Diefen Weg Ichlägt
ein Buch ein, das in feiner willenfchaftlichen
Tolgerichtigkeit und äußerſten Konfequenz nieder:
Hchmetternd wirft: Giefes „Das außerperfönliche
Unbewußte“. Unter Verwendung eines erftaun=
lich vielfeitigen Materials fuchte der befannte
Stuttgarter Piychologe den oben ſkizzierten Pro⸗
blemen rein naturwifjenfchaftlid auf den Leib
zu rüden. Er nimmt an, daß es eine befondere
Energie außerhalb des Menfchen geben müffe,
die er das „außerperfönliche Unbewußte“ nennt,
das heißt: er bricht radikal mit der alten pſycho—
Togifchen Anfchauung, als ob das Gehirn der Ur-
{prungsort unferer Erlebniffe wäre. Das in-
tuitive Denten ift nicht mehr ein fchöpferijcher
Alt des Menſchen, jondern beiteht in feinem
mwefentlichen Anhalte in der Aufnahme von
Außenreizen, deren Ort außerhalb des Ichs liegt,
deren näherer Charafter aber noh undefannt
ijt. Wir denten alfo niht, mit uns wird gedadjt
— es maht uns denken. Wie die Umfegung
des es denkt in ich denfe erfolgt, darüber gibt
Biefe teine Antwort. Er begnügt fih mit der
Theorie, daB es objektive Denfreige gibt, ener-
getiſcher Natur, nicht unähnlich den eleftrifchen
Wellen, die unfer ch beeinfluffen und fo den
38 | Seeliſches Heilverfahren.
Menſchen zum jchöpferifchen Denten führen.
Weiher Art freilich diefe Energie ift, willen wir
nicht, doh nimmt Giefe an, daß fie im mejent-
fichen elektrifcher Natur ift. Man wird alfo mit
Biefe fagen können, daß hinter den intuitiven
Gedanken fo etwas wie „Gedankenwellen“
itehen, auf die der Menſch mehr oder weniger
reagiert. So gibt es feine Eigenproduftion der
Ideen durh den Menſchen, fondern nur nod ein
Gereiztwerden. Damit jintt das intuitive Den-
ten etwa auf die Stufe der Wahrnehmung her”
ab: es wird zur Aufnahme von Reizen. — Zwar
fann jeder Normalmenfcd hören, auh Ton und
Schall unterfcheiden, aber längjt nicht jedermann
ift mufitalifh. Die Mufikalität ift eben eine fpe-
zifiſch beſchränkte Eigenschaft des Menfchen, und
ebenfo ift das intuitive Denten eine ſpezifiſche
Geite des Denkens, alfo nur bei hochyentwidelten
Typen zu finden. Es ift ebenjo autonom wie
die unmittelbare Sinnesmahrnehmung, die aud)
nur zuſtande kommt, wenn ein Wußenreiz
realiter gegeben ift. Eine lebte Trage ift nun,
mie wir uns die Energiewirtung im Einzelnen
zu denken haben. Auf Grund feflelnder Zuſam⸗
menfaffung pfychologifcher und anderer Beob-
achtungen fommt Gieſe zu dem Ergebnis, daß
diefe Energie nicht das Großhirn, fondern gu-
nächſt das vegetative Nervenſyſtem zu beein-
fluffen fcheint. Das letere ift dann alfo etwa
einer Art Antenne vergleichbar, welche Die
Energie auffängt. Das alte Volkswort, daß Ge-
danten in der Luft liegen, befommt einen völlig
neuen Sinn.
Giefes Gedankengänge find von ungeheurer
Kühnheit in ihrer Kombination des befannten
Tatjachenmatertals und der Deutung derfelben.
Seine Hypothefe des außerperjönlichen Unbewu p-
ten (das „es denkt“ im Menfichen bedeutet) ift
jo etwas wie eine .geiftige Revolution. Der
Energiegedante feint, wie ſchon Ditwaldt es
fih erträumt hatte, leßter Weltgrund zu werden.
Uber es ſcheint doh nur fo. Was Giefe gibt, ift
naturwiſſenſchaftliche Hypotheie, was
er aufklärt, find die Vorgänge beim Denten, be-
fonders dem intuitiven Denfen. Was er darüber
zu fagen hat, ift den Gedantengängen der mo-
dernen Philofophie, vor allem der Phänomeno-
logie verblüffend ähnlich. Auch die Phänomeno—
logen fprechen von einem Schauen der Ideen;
auch fie find überzeugt, daß der Menſch die Ideen
nicht fpontan erzeugt, aud) fie treiben Bemwußt-
feinsanalgfen. Uber alle Aehnlichkeit darf doch
nicht darüber hinmwegtäufchen, daß Giefes Unter-
fuhung grundſätzlich naturmilfenjchaftlich
eingestellt ift und bleibt. Cie unterfudht das
naturwiſſenſchaftlich-pſychologiſche Zuſtandekom—⸗
men von Denkreizen. Aber über das Weſen des
Gedachten ſelbſt ſagt ſie nichts aus, (denn die
elektriſche Erklärung der een als Energie—
träger iſt ein Widerſpruch in ſich, das Finden
und Wirken einer Idee hat ja nichts mit ihrem
Weſen zu tun). Gieſe führt bis an die mög-
lihen Grengen der modernen Piychologie: fie
fann wohl verfuchen, den Aft der Inſpiration
natumviffenfchaftlich begreiflich zu maden, aber
das Ewige, das in und durch diefen Aft erfaßt
wird, bleibt ihr reftlos verjchloffen, da es feinem
MWefen nah jenfeits der Naturwiſſenſchaft
ſteht.
Seeliſches Heilverfahren. Bon Oberarzt Dr. Müll er C
Jn einer der legten Nummern der „Deutichen
Mediciniſchen Wochenſchrift“ eröffnet Prof. Pleſch in
Berlin unter der Ueberſchrift „Die poho - phyſiſche
Reaktion als Heilfaftor” jehr lehrreiche Ausblide auf
ein bisher planmäßig erft wenig bearbeitetes Gebiet
ärztlichen Handelns Seine Ausführungen bejchäftigen
fit) mit der befannten, außerordentlich innigen Wedel-
wirfung zwiſchen feelifdyem und förperlihem Geſchehen,
die er nah Möglichkeit Heilzweden dienſtbar gemadt
wilfen möchte. Es verlohnt ſich etwas eingehender hier-
uber 3u berichten.
Pleſch geht von der Tatladje aus, daß jedes Organ
(3. B. Mustel oder Drüje) fid ohne unſer Wiffen und
Wollen auf das Maß und den Umfang der von ihm zu
erwartenden Leiftung ganz automatisch einftelt. Wem
ift nicht das eigentümliche, pſychiſche und phyſiſche Cr-
lebnis befannt, wenn er 3. B. beim Treppeniteigen
nod) eine Stufe vor fih 3u haben glaubt, aber tatiächlich
ion oben angefommen ift?! Man empfindet es mit
aller Deutlichkei: man war ſeeliſch und körperlich auf
die mit dem Belteigen der noh erwarteten einen Stufe
verbundene Mebrleiftung genau eingeitellt und durd
den ganzen Körper Blingt es nun wie das Empfinden
einer Enttäufhung. Vielleicht noch deutlicher hat man
diefje Mikempfindung irrtümlicher Cinftellung auf
Mehr: (oder Minder:=) Leiltung, wenn man 3. B. einen
Cimer oder eine Kanne rajh aufheben will, über deren
Leer: oder Gefülltjein man fi) im Irrtum befunden hat:
man empfindet im bebenden Arm fofort ein deutliches
„Differenzgefühl“ zwiſchen der unrichtig geſchätzten
Raft und der von den Armmuskeln tatſächlich bereitge-
itellten Kraft.
Die phyſiologiſche Grundlage diefer Vorgänge ift
einmal die durch Meffungen feitgeitellte Tatſache einer
genau nad) dem Maße der Leiſtung veritärkten Blutzus
fuhr 3u dem arbeitenden Musfelgebiet, und zweitens
ge — — ——
— `
©eelifhes Heilverfahren.
ein der vorgeftellten Leiftung entſprechend ftarfer, vom
Bemwußtjein durch die Nerven in die Musteln ent-
fendeter Impuls (Antrieb). Natürlich erfolgen Zuſtrom
von Blut und „Nervenenergie” in einem Körperteil
nad Boritellung, aber vor Beginn der Leitung —;
daher die Entitehung des Täujchungsgefühls bei irriger.
Schätzung.
Dieſe pſycho-phyſiſche Wechſelwirkung macht nun nicht
Halt vor der Grenze des Einzelmenſchen: Cs ift eine
allbefannte Tatjade, daB jeder Vorgang von einiger
Bedeutung oder Intereife nicht nur das Gemüt aller
näher Beteiligten feflelt, fondern bei ihnen aud unmill-
fürlide, oft fichtbare Entladungen in das Körperbe-
wegungs-@ebiet verurfadht: Bei einem Ringkampf 3. B.
malt fih deffen Verlauf in allen feinen Einzelheiten
nicht nur in den Mienen der lebhaft beteiligten Um-
ftehenden, fondern man ſieht fie auch — wenn aud oft
nur angedeutet — alle vorfommenden Handgriffe und
Bewegungen mitmaden. Das befannte Sprichwort
„Wes das Herz voll ift, des geht der Mund über“ gilt
eben nit nur für ſprachliche Entladungen, fondern für
das ganze Körperbewegungs-Bebiet überhaupt.
Die Einwirkung pſychiſcher Geſchehniſſe auf phyſiſche
Vorgänge beichräntt fidh übrigens keineswegs auf das Ge-
biet w i l [ f ü r Liher Bewegungen (Spredy: und Körper:
mustulatur), fie ſchafft auh tiefgreifende Veränderungen
auf jenen körperlichen Gebieten, die dem Willenseinfluß
gänzlid” entzogen find: Herztätigkeit, Blutgefäßweite
und Verdauungsarbeit unterliegen in hohem Grade
dem Einfluß feelifher Zuftände. Schreden und Angit,
Aufregung und Scham verurfadden Erröten und Er:
blaffen, Herzklopfen und Beichleunigung der Ber:
dauungstätigteit.
Vielleicht find diefe jedem geläufigen Erfahrungen
des täglichen Lebens uns teineswegs ſehr verwunder:
lid; denn es handelt fih dabei ja um — oft plößlid) ein-
fegende — lebhafte Affekte, und wir find gewohnt, von
diejen Starte Rüdwirtungen auf körperliche Zuftände
zu erleben. Biel erftaunlicyer ift folgende Beobachtung,
die an die leichtverftändlihe Erfahrungstatfadhe an-
fnüpft, daß Qungenjchwindjüchtige bei körperlichen Be-
mwegungen Temperatur - Steigerungen erfahren: Bei
folden Kranten fünnen nämlidy leichte Fieberzunah:
men ſchon auftreten, wenn fie nur mit lebhaftem Sn-
tereffe turnerijhen Webungen anderer zuſchauen! Nadh
allem bisher Gejagten muß uns diefe Möglichkeit aber
doch einleudhten: Der affektbetonte Anblid der Turnen:
den löſt in dem intereffierten Beſchauer zunächſt leb-
bafte, gleichgeartete Bemwegungsporitellungen aus; —
lebhaftere Bemwußtjeinstätigkeit bedeutet aber an und
für ſich ſchon Steigerung des GStoffwedjlels und Be-
jhleunigung des Blutumlaufs. Diefe träftigen Bor:
ftellungen haben nun ferner das immerwährende Be-
ftreben, ihre Nervenenergie in die zugehörigen Mustel-
gebiete abfließen zu laffen mit der Wirkung des Mit-
madens oder Nachahmens der gefehenen und lebendig
mitempfundenen Bewegungen. Bei Menſchen mit leb-
baftem Temperament oder von geringer Selbitbe»
berrihung werden tatſächlich auch Mitbewegungen zu-
jtande tommen (vergl. das oben erwähnte Beiſpiel vom
Ringtampf); die meilten werden deren Zujtandefommen
zwar unterdrüden, aber diefe „Unterdrüdung” ift ja
®
39
wieder nichts anderes als eine weitere Energie-Ent-
ladung in die fog. Antagoniſten (d. h die entgegengefeßt
arbeitenden Muskeln) zur Hemmung der unbewußt an-
geltrebten Bewegungen. Der anjdeinend ruhig Ju-
Ihauende verrichtet alfo tatſächlich ein nicht geringes
Map geiltiger und körperlicher, fih in Trieb und Gegen-
trieb nulos erjchöpfender Arbeit, deren Wirkung auf
einen tubertulöfen Körper jehr wohl derjenigen
mäßiger, förperlider Arbeit gleichkommen tann.
Die hier zum Nadteil des Körpers wirkfam ge:
wordenen Vorgänge können und follen nun aber auh
nah Möglichkeit feinem Nuken, d. h. dem ärztiıchen
Heilbeitreben, dienftbar gemacht werden. Bei vielen Cr-
frantungen unleres Bewegungsapparates (Brühe und
Entzündungen von Knochen und Gelenken) ift begreif-
liher Weije die völlige Ruhigftellung erjtes Erfordernis;
zum beichleunigten SHeilungsverlauf ift ferner ein ver:
verjtärkter Blutzufluß (Hyperämie) dringend erwünjdt.
Die völlige Ausſchaltung aller Bewegungen rüdt aber
die Gefahr des fo febr gefürdteten Mustelfhwundes
durch Untätiglfeit (Dnaktivitäts - Atrophie) bedroh:
lich nahe.
Zur Befriedigung dieſer pofitiven und negativen Not-
wendigkeit foll das von Pleſch empfohlene pſycho—
phyſiſche Heilverfahren uns wertvolle Dienſte leiften
tönnen. Der Erkrankte muß bei völliger Ruhe feiner er-
frantten Bliedmaße unter ftarter Willensanjpannung
feine Vorftellungstätigteit auf geeignete Bewegungs:
complere (Bergfteigen, Radfahren, Hanteln, Klimmen
u. a.) einftellen; er wird dann bei Vermeidung ſchäd—
licher Bewegungen dodh dem verlegten Bliede die zu
feiner Heilung erforderlide, größere Blutmenge und
„Nervenenergie“ zuführen. In ähnlider Weite foll 3. B.
bei unzureichender Abjonderung der Berdauungsjäfte
der Anblid mit Appetit eflender Perjonen, ichmad-
hafter Speilen oder auch nur deren deutliche Vorſtellung
die daniederliegende Tätigkeit der Magen- und Darm-
drüfen fräftig anregen. Verſuche diefer Art an Hunden
find ſchon vor Jahrzehnten durch Pawlow mit deut-
lihem Erfolge angeftellt worden. In welchem Umfange
aud die Tätigkeit der übrigen Organe des menſchlichen
Körpers (Nerveniyitem, Sinnesorgane, Entwidlung
des feimenden Lebens) dur) unſer Willens- und Bor-
itellungsleben in tiefgreifender Weiſe zu beeinjluflen
find, bedarf noch weiterer Feſtſtellung. Jedenfalls er-
fordert jede derartige Beeinfluffung des Körperlcbens
dur ſeeliſche Vorgänge eine ungewöhnlich ſtarke
Willensanjpannung.
Am Schluffe feiner Ausführungen jagt Pleidh: „Die
naturwiſſenſchaftliche Forſchung hat die Aufgabe, die Cr-
iheinungen zu ergründen und zu erflären. Je weiter
unjere Erkenntnis gediehen if, um fo weniger
„Wunder“ bleiben übrig. Und fo glaube ich, daß, wenn
wir der pſychiſchen Beeinflußbarteit organiſcher Ber-
änderungen denjenigen Plagg in der Therapie einräumen,
der ihr ohne Zweifel gebührt, die „Wunderheilungen“
eine noch weitere Einſchränkung erfahren werden.“
So richtig der Inhalt diefer legten Zufammenfafjung
an ſich ift, jo will er uns doch in feiner nüchternen, nur
das Negative betonenden Weile nicht völlig befriedigen.
Wir modernen Menſchen glauben zwar aud nidt an
„Wunder“ und „Wunderheilungen“; aber es will uns
40 Der Giegeszug der Hertzſchen Wellen.
doh ſcheinen, als ob die unendliche Weisheit, die in un-
geahnter und oft ans „Wunderbare“ ftreifender Weife
durch alle Lebensporgänge waltet, allen Anfprud auf
unfere Ehrfurdt und Verehrung hätte, und wir würden
Dielen Empfindungen bei befonderen Anläffen gern
Ausdrud gegeben jehen.
Der Siegeszug der Hertzſchen Wellen. Bon Georg v. Haffel
Als im Jahre 1888 Heinrich Herb feine berühmten
Verſuche ausführte, durdy die es ihm gelang, das Weſen
der eleftromagnetiihen Wellen zu ergründen und die
Geſetze feitzuftellen, denen fie unterworfen find, dachte
weder der Entdeder noh die Oeffentlichkeit daran, daß
die Ergebniffe der Erperimente die Grundfteine eines
neuen Zweiges der Technik fein würden und daß diefer
eine Entwidlung einjchlagen würde, die an Schnelligkeit
und Großartigleit von feinem anderen Zweige der
Technik auh unr annähernd bisher erreicht wurde.
Heinrich Hertz felbit verneinte dem Ingenieur Huber
gegenüber die Möglichkeit, elektrifhe Wellen zur Ueber:
tragung von Telephongeipräden zu benußen. Andere
Forſcher dagegen bauten mit edt dichteriſcher Be-
geifterung auf den kleinen Hertzſchen Laboratoriumsver-
ſuchen ein großartiges Phantafiegebäude auf. Befonders
waren es Profeffor Threlfall in Sidney und Crooks in
England, die begeiftert mit glühenden Farben diefes Zu-
funftsgemälde darftellten. Croots fchrieb in der „Forth-
nightly Review“, 1892, in einem Aufſatz, betitelt „Some
Possibilities of Electricity“, ein Zutunftsbild, welches
faft vollftändig in Erfüllung gegangen ift. Zu denen,
die den Verfolg ihrer früheren Ideen, die drabtlofe Ber-
bindung durch Induktion herzuftellen, aufgegeben hatten
und fih dem Studium der elektriſchen Wellen widmeten,
gehörte der Engländer Rodge. Im Jahre 1893 machte
er jhon Verſuche, die Eriftenz der Hertzſchen Wellen
durch einen neuen Wellenanzeiger, den Kohärer, feftzu-
itellen, und es wurde möglich, mit Hilfe diefes empfind:
fihen Indilators die Entfernungen zwiſchen Sender und
Empfänger zu vergrößern.
Wenn wir den Entwidlungsgang der Hertzſchen
Entdedung verfolgen und denjelben graphiſch darftellen,
fo erhalten wir die nebenftehende Zeichnung. Die Kurve,
die von den Herbichen VBerfuchen im Jahre 1888 ausgeht,
fteigt bis zum Jahre 1900 nur wenig an. Die be-
deutendften Verſuche, die in diefem Zeitabjchnitt ftatt-
fanden, waren die im Jahre 1893 von Lodge in Eng:
land, bei denen eine Reichweite von 36 m erzielt wurde;
dic von Popoff in Rußland im Jahre 1895 mit einer
Hödjftreihweite von 5 km. Ferner die Verſuche von
Marconi im Jahre 1897, bei denen ebenfalls eine Reid-
weite von 5 km erzielt wurde, die aber in demfelben
Jahre auf 14 und 18 km gefteigert werden fonnte.
Die Berfude von Slaty in demjelben Jahre er-
weiteren die Reichweite auf 21 km. Diele
Entfernung zwiſchen Sender und CGmpfänger wurde
aber dur Marconi bezw. die von ihm ge:
gründete „Wireleß Telegraph and Gignal Com:
peny“ dur die VBerfuhe im Jahre 1899 auf
45 km, dann auf 52 km und ſchließlich auf 136 km
ausgedehnt. Im Jahre 1901 gelang es derfelben Ge:
fellfchaft bei ihren Verfuchen, Entfernungen von 175 und
300 km zu überbrüden. Angefeuert durch dieje günftigen
Ergebniſſe errichtete Marconi eine Sendeftalion in
Poldhu in Cornwallis, mit einer Antenne von 70 m,
und eine Empfangsftation auf Signal-Hill bei St. Johns
in Neufundland. Am 12. Dezember 1901 wurden die
erften von Europa gejandten Signale in Amerika
empfangen. Die Kurve der Reichweite ftieg von
diefem Zeitpunkt an ftändig fteil empor und er-
reichte 1919 ihren Höhepunkt. Es war dies die
Ueberbrüdung der Entfernung zwiſchen Nauen
und Avanui auf Neufeeland, die 20 000 km be⸗
trägt. Damit war bewiefen worden, daß von
einem Orte ausgefandte Hertzſche Wellen unfere
3490 km adhu - uggel Hil
ki -Table Yed
—8 ku RE
55 Mıllıonen Am Erde -Mars _
Erde in ihrem gejamten Umfang umfließen können, denn
die von Nauen ausgeltrahlten Wellen breiten fi nad
allen Seiten aus und treffen darum den Empfänger
jewohl von der einen wie von der anderen Seite. Die
drahtiofe Telegraphie hat alfo im Jahre 1919 die größt-
mögliche Reichweite auf unferer Erde erreicht, und damit
ſcheint den Hertzſchen Wellen, wenigitens denen von der
bisherigen Länge, ein Halt geboten zu fein, denn die
wilfenichaftlihen Forſchungen haben die Exiſtenz einer
die Wellen zurüdwerfenden Gasſchicht über der Erde
feltgeftellt. Das Fragezeichen auf der graphiſchen Dar-
ftelung: „Wann werden die Hertzſchen Wellen die
55 Millionen km überbrüden, die die Erde von dem
Mars in feiner günftigften Oppofition zur Erde tren:
nen?“ dürfte alfo unbeantwortet bleiben, vorausgefeßt,
daß die Theorie von der Undurdpringlichkeit der unferen
Planeten umbüllenden Gasſchicht auh für lange Wellen
gültig ift.
Helium. E 41
Der Menfcengeift fteht aber nicht ſtill und begnügt
fit nit mit dem Erreichten. Schon hat er zu feiner
Betätigung neue Wege eingelchlagen, er ift jebt daran,
die hohen Antennen abzubauen. Im Jahre 1914 glaubte
man nod, um die Weltzeitfignale überall auf der Erde
bemerkbar zu maden, eine 14 km lange Antenne, die
am Abhang des Pic von Teneriffa herabgeführt werden
follte, nötig zu haben, und 1919 zeigte die Verbindung
zwiſchen Nauen und Avanui, daß dazu fhon etne Un-
Helium. Bon Dr. 5. Bönte.
Die Amerifaner werden den Zeppelin mit Helium
füllen. Was ift Helium? Zum vierten Male bereits
beichäftigt dieje Frage die Deffentlichleit Bor zehn
Jahren las man in allen Zeitungen, daß Profeflor
Kamerlingh Onnes in Leiden den Nobelpreis erhalten
babe, weil es ihm gelungen fei, durch Berflüfjigung
des Seliumgafes in feinem weltberühmten Kälte-
laboratorium dem abfoluten Nullpunfte bis auf einen
Grad nahe zu kommen. Bor dreißig Dahren, als
Ramjayg und Rayleigh die jogenannten Edelgaſe ent-
dedten, unter denen das Argon durch techniſche Ber-
wendbarteit die größte Beachtung gefunden hat, war
es ein Ereignis, als Ramſay im Cleveit, einem feltenen,
nah feinem Entdecker Cleve in Upfala benannten
Mineral, außer dem Argon bei ſpektroſkopiſcher Unter-
fuhung das Helium nachweiſen konnte, ein Element,
deflen Speftrallinien ein Bierteljahrhundert früher von
Lockyer in London im Spektrum der Sonnenprotube:-
rangen zuerst bemerfi worden waren. Die hellſte
Spettrallinie im Heliumfpeftrum ift eine charakteriſtiſche
gelbe Linie, die der gelben Natriumlinie D jo nahe liegt,
daß nur die genauelte Meſſung der Lichtwellenlängen
über die Nichtidentität entſcheiden tann.
Die Wellenlänge der Natriumlinie beträgt 5896 A.⸗
C., d 5. Angftrömeinheiten, worunter die Phyſiker
den zehnmillioniten Teil eines Millimeters verjtehen.
Die Wellenlänge der gelben Seliumline ift etwas
feiner, nämlid 5876 A.E. Nur durch Beachtung
diejer feinen Unterſchiede konnte die Heliumforjchung
zu der hohen Vollendung gelangen, die ihr heute ge:
ftattet, der Luftihiffahrt wichtige Dienfte zu leilten.
Der Hergang war alfo folgender: Durch Erhigen von
gepulvertem Cleveit mit Kaliumdichromat wurde ein
Gasgemiſch, Cleveitgas, entwidelt. Durch diefes ließ
Ramjay elektriſche Funken ſchlagen, um ein Speftrum
zu erhalten. Da dasfelbe außer den Argonlinien eine
der Natriumlinie febr naheliegende gelbe Linie auf:
mies, übergab Ramſay eine mit dem (Lleveitgafe ge-
füllte Geiblerfhe Röhre dem befannten Chemiter (und
Geiſterſeher) William Crootes, der in der Meſſung von
Lichtwellenlängen befonders geübt war. Crookes ftellte
feft, daß die Wellenlänge den oben angegebenen Wert
hatte. Damit war die Identität mit dem durch aftro-
phyſiſche Beobachtungen entdedten „Sonnenelement“
Helium erwiefen. Doc ift fein Vorkommen auf der
Erde an feltene Mineralien gebunden Aus 1 kg
Eleveit erhält man ungefähr 7 1 Heliumgas. Der
- Hauptoorzug diefes Gafes vor dem bisher zur Füllung
tenne von 250 nr genügt. Und heute regijtrieren fon
Amateurftationen mit Hilfe von Dadantennen Wellen,
dic ihren Urjprung auf der anderen Seite des Dieeres
baben. Schrumpfen die Antennenanlagen in demjelben
Tempo, wie es feit 1914 bis heute der Fall ift, zu:
jammen, fo werden wir bald durch elektriſche Wellen in
Gang geſetzte oder regulierte Uhren in der Weſtentaſche
tragen.
der Luftichiffe dienenden Wailerftoffgafe, deffen Feuer-
gefährlichleit beim Ausftrömen in Luft durh Knall-
gasbildung erhöht wird, beiteht in feiner Unentzündlid:
teit. Hinfichtlic) der Gemidhtsverhältniffe und der Trag-
kraft jteht Helium zwifhen Wafferjtoff und Leuchtgas.
Es ift zweimal jo ſchwer wie Waſſerſtoff, Hat aber
fajt dreimal fo große Tragkraft wie Leudtgas. 1 cbm
Waſſerſtoff wiegt 90 gr, 1 cbm Helium. 180 gr, 1 cbm
Leuchtgas 520 gr, 1 cbm Quft 1300 gr.
In neuerer Zeit hat fih gezeigt, daß die fogenannten
radioaktiven Körper beitändig Helium ausjtrahlen.
- Diefe Strahlung oder Emanation ift aber von dreifadher
Art, fie enthält nämlich poſitiv elektriſche Helium-
itrahlen, negativ elektriſche Kathodenftrahlen und kurz:
wellige Röntgenitrahlen. Man unterjcheidet fie durch
Anwendung griedifher Budjftaben als a:Strahlen,
P-Strahlen und y:Strahlen Erſtere, alfo die pofitiv
geladenen SHeliumijtrahlen, laffen fih nad einer von
Crootes entdedten Methode ſichtbar madhen und jo ge-
nau unterſuchen, daß man fogar die Atome zählen fann,
die ein radioaktiver Körper in einer gewillen Zeit,
3. B. in einer Minute, ausſtrahlt. Jedes Helium-
atom verurfadt nämlich beim Wufprallen auf einen
Zintblendeihirm ein Aufbligen oder, wie Crootes es
nannte, Szintillieren, das man im Dunteln mit der
Zupe beobachten tann. Diefe Methode ift jo empfind-
lid, daß es 3. B. genügt, einen Körper, den man auf
Radioaktivität unterſuchen will, mit einem Lederlappen
abzureiben und leßteren im Dunfeln in die Nähe des
Zinkblendeſchirmes zu bringen, um mit der Qupe das
Szintillieren zu beobadten. Es leuchtet ein, daß man
Heliumquellen auf der Erde nad) ſolchen und ähn-
lichen Methoden leichter als dur) Anwendung des
Speltralapparates entdeden fann. Jn der atmojphäri-
jhen Luft fommt Helium nur in fehr geringen Men-
gen vor. Während nämlid 107 1 Luft 1 1 Argon
enthalten, tommt auf 666 000 I Luft nur 1 1 Helium.
Unter den Mineralien, die Helium enthalten, ragt
dur Ergiebigkeit bejonders der auf Ceylon gefundene
Thorianit hervor. Erwähnenswert ift auh ein braji»
lianifcher, Zirton und Uran enthaltender Sand ſowie
ein Mineral der fogenannten Ditrocitgruppe, das in
den Kryolithgruben Grönlands gefunden wird.
Zuleßt, aber last, not least, ift zu erläutern, in
weldhem Sinne man Selium als das idealfte aller Gafe
bezeichnet. Die Phyſiker verftehen unter dem Begriff
des fogenannten „idealen Gajes”, dem die in der Natur
vorfommenden wirklichen Giſe nur angenähert ent-
42 Kleine Beiträge.
iprechen, ein gedachtes Gas, in weldyem nad) den Gas: idealen Gafes am nädjften und eignet fih am meilten
gejegen von Mariotte und Gay-Luffac das Produft p. v zur Heritellung eines idealen Gasthermometers. Da=
aus Drud und Bolumen der abfoluten Temperatur T mit hängt es zufammen, daß der Nobelpreis dem er-
proportional ift. Das trifft aber für die wirklich eriz folgreichen Forſcher verliehen wurde, dem es nad) vielen
jtierenden Gaje nur in befchräntten Bereichen annähernd Bemühungen gelang, das lange als „intoerzibel“ be-
zu. Große Abweichungen dagegen zeigen fi in der zeichnete Gas endlich dodh zu verflüffigen. Diefe lange
Nähe der Verflüffigungspunfte, wo aus diefem Grunde erwartete Hödjitleiftung vollbrachte Kamerlingh Onnes
die Gasthermometer verjagen. Da nun Helium von am 10. Juli 1908. Durd weitere Verſuche mit flüf-
allen befannten Gafen den tiefiten VBerflüffigungspunft jigem Helium tam er dem abjoluten Nukpuntte bis
befigt (— 269° C), fo fommt es auch dem Begriff des auf einen Grad nahe.
Aus dem Leſerkreis, u @
— — —
In einem ſchneearmen Winter (1922 oder 1923?) ging erklären? Gurit, Paftor in Priſchwitz bei Sauer.
ih) an einem warmen und flaren Tage des Februar Das Phänomen ift offenbar fo zu erklären, daß die
oder März vormittags zwiſchen 9 und 10 Uhr nah der Luft an jenem Tage und in jener Gegend mit Waffer-
Stadt, die nordnordöftlid von unferem Dorfe liegt. Dampf völlig gejättigt gewejen ift, und daß eine plöß-
Rechts vorwärts von mir ftand die helle Sonne über lihe Kondenfation des Waflerdampfes eingejegt hat, wie
dem Dorfe. Links hatte id) eine weite Ausficht über die fie auch ſonſt häufiger, befonders in Gebirgsgegenden,
Selder, die im, Nordweften von Bergen begrenzt wurde. zu beobadıten ift. Es regnet dann aus falt heiterem
Der Himmel war vollftändig tlar, feine einzige, noh Himmel, was nebenbei bemerkt fo gut wie immer das
jo fleine Wolfe war fihtbar. Geregnet hatte es auh Vorzeichen eines eintretenden Witterungsumfclages ift.
nicht; es war alles ganz troden. Plötzlich bildete fih Die KRondenfation ift im vorliegenden Falle jo raſch
auf dem blauen Himmel ein volltommener Regenbogen, erfolgt, daß es jofort zum Regnen, nicht erft zur Bil-
der mit feinem weftlihen Ende an die Berge rührte dung der winzig fleinen, eine Wolfe bildenden Tröpf-
und mit dem anderen an die Stadt reichte. Nach einigen chen gefommen ift. Diefer Regen hat dann in befannter
Minuten entitand an den Bergen eine ftarfe, gelbiide Weiſe die Erjcheinung des Regenbogens erzeugt; erft
Wolfe. Der Regenbogen aber blieb beitehen, das weft- nadträglid hat fih dann auh die Wolfe aus feineren
life Ende auf dem Hintergrunde der erwähnten Wolfe, Tröpfchen, die in der Luft ſchweben, gebildet. Zum Zu-
der übrige Teil am blauen Himmel. Die Wole, die ftandefommen eines Regenbogens ift nämlidy eine Wolte
deutlich als Regenwolke zu erfenneg war, überzog all- niht nötig, fondern nur die größeren Tropfen fallenden
mähli den ganzen Himmel. Der Bogen war noh Regens in denen das Licht auf eine befondere Meife
eine Zeitlang fihtbar, verſchwand aber allmählich, wäh- gebrodyen bezw. gebeugt wird. Jedenfalls ift aber ein
rend ein heftiger Regen von großen Tropfen einſetzte. ſolches Phänomen ſehr felten und wohl wert, der All:
Das Ganze hat wohl 15 bis 20 Minuten gedauert. Wie gemeinheit befannt gegeben zu werden.
ift ein Regenbogen auf wolfenlofem blauen Himmel zu Bavink.
Kleine Beiträge. | &
Beobachtet die Mondfinfternis am 8. Februar! einjchaltet und diefe abblendet. Dadurd) können die
Jeder unferer Lejer, der fih im Beſitz eines Meinen von dem Mondförper ſelbſt nad) allen Richtungen zu:
Fernrohres oder auch nur eines guten Prismenglafes rückgeworfenen Lichtitrahlen nun aud über den Mond-
befindet, tann ohne große Schwierigeit eine Veobachtung boden dahingleiten, fie legen alfo eine recht großen
maden, die, falls fie ſichergeſtelli ift, febr mwidhtig ift. Weg in der am Boden dichteſten Lufthülle zurüd, fo
Der befannte Forſchungsreiſende Paul Sarafin hat doh fie diefe Iuftblaue Farbe erzeugen. Saraſin hat
nämlich bei einer folden Sinfternis mit einem nur run in der Literatur nah ähnliden Beobadtungen ge-
ſechsmal vergrößernden Zeißglas folgende Beobachtung ſucht und eine ganze Anzahl gefunden, die freilid wieder
gemadt: Als die BVerfinfterung am weiteften vorge: in Vergefienheit geraten waren, fo daß heutige Werte
Ichritten war, die leuchtende Mondſichel alfo am ihmal- nichts mehr davon melden. Mädler hat das Licht kurz
ften, da zeigte fih an deren Innenfeite gegen den rötlich Tor und nad) der Totalität gejehen. Schmidt hat es
feuchtende Mondförper eine ſchmale Sichel in leuchtend aud gejehen, führt es aber auf die Erdatmofphäre zu-
himmelblauer Farbe. Sarafin ift der Meinung, dag tüd, was fiher faljh ift. Daß es noh Spuren von
cr hier in der Tat einen Nachweis für das Vorhanden- Luft auf dem Monde gibt, geben mehrere Forſcher zu.
fein einer fehr dünnen Mondatmofphäre hat. Deren Dichte Schröter hat die Hörnerjpigen des nur zwölf Stunden
beträgt nur wenige Taufendjtel derjenigen der Erdluft, alten Mondes beobachtet und gejehen, wie fie nad) dem
ift aber ausreihend, diefe Erfcheinung zu bewirken. dunklen Mondförper Hin deutlih einen graulichen
Unter den gewöhnliden Umftänden ift fie nit nad» Schimmer zeigten. Das Dämmerlidt des Tages hat
teisbar. Hier aber tritt der Fall ein, daß der Erd- offenbar die reine blaue Farbe niht auffommen laffen.
förper fi in die fenkrecht auffallenden Sonnenjtrahlen Andere haben das blaue Licht gejehen, wenn die Sonne
Ausfprade. 43
über einem großen NWinggebirge aufgeht. Dieſe find
nah außen fteil abfallend, aber nad innen febr
flade Schalen. Wenn nun bier das Licht der auf-
‚gehenden Sonne darüber ftreift, jo ift das Beden im
Grunde noh dunfel, oben aber geht der Lidhtitrahl auf
eine weite Strede durd die in dem Beden enthaltene
Luftmaſſe und erzeugt wiederum den blauen Schimmer.
Wie man Sieht, lohnt es fih aljo, den Mond auch unter
| Ausſprache. |
Anfragen.
Es ijt eine befannte Tatjacdhe, daß dreifarbige Ragen
(ſchwarz⸗weiß-⸗gelb) immer weibliden Geſchlechts find,
und daß man dieje Färbung nur erhalten (fonjervieren)
tann, wenn men jolde Kagen mit ſchwarzen Katern
paart. Wie ift diefe auffällige Erjcheinung zu erklären?
Gibt es etwas Aehnlidyes in der Tierwelt?
Dd’ Bonin, Landrat a. D., Bahrenbujch bei Rakeburg.
Vorftehende Anfrage ift nicht ohne eingehende c;peri-
mentelle Prüfung 3u beantworten. Es handeli fidh
offenfihtlid um gefchledhtsgebundene Koppelung von
Erbfaltoren. Das „Wie“ lann nur durch Erperimente
feftgeftellt werden. Ob diefe jchon vorliegen, weiß id)
richt genau, erinnere midh aber, irgend eine Notiz über
dreifarbige Raken ſchon gelejen zu haben. Am beiten
wird es fein, Sie bitten Herrn Profeſſor Dr. Erwin
Bauer Berlin-Dahlem, Kaifer Wilhelm-Inftitut, Ab:
teilung Vererbung — um genaue Auskunft. Cs ift jebt
in den Bererbungsfragen fo mandes in lub, daß ich
es für nötig eradjte, nur fichere und einwandfreie Uus-
funjt zu geben. Rabes.
Die Beltimmung über das Dfterfeft heißt doh: Oftern
fallt auf den erften Sonntag nah dem erjten Bollmond
sad) Frühlingsanfang. Nun fiel in diefem Jahre Früh-
lingsanfang auf den 20. März, der erite Vollmond da-
nadh auf den 21. März, 5 Uhr 20 Minuten, Oltern je-
dodh, das nadh obiger Beitimmung auf den 23. März
fallen follte fällt auf den 20. April. Im vorigen Jahr
mar der Trühlingsanfang am 21. März, der erjte Boll-
mond danad) am 1. April, 2 Uhr 20 Minuten, Dftern
hätte auf den 8. April fallen follen, fiel aber auf den
1. April. Wie fommt dies? Ift die obige Diterbejtim-
mung unvollftändig oder was ift die Urfache?
Profeflor Dr. V opb.
Die vorjtehende Anfrage wurde freundlichit von Herrn
Prof. Nölde-Bremen beantwortet:
Daß die wirkliche Lage des Ofterfeftes der befunnten
Regel (erfter Sonntag nah dem erjten Frühlingsvoll-
mond) nicht immer gemäß ift, erklärt fi daraus. daß
die übliche Teitlegung des Termins auf jehr alte Mond-
tafeln zurüdgeht. Er ergibt fih niht aus der altrono-
miſch beitimmten Lage des Nadhtgleichenpunftes. Die
Unterſchiede können eine ganze Woche betragen.
Fr. Nölde.
In „Unfere Welt”, 1924, Heft 11, findet ſich in dem
Aufſatz „Bon Kolloiden und Kriftalloiden“ von Dr.
Hans Bleher zu Anfang eine Pleine Unftimmigteit:
diefem Gefichtspuntt zu beobachten, um fo mehr, als
nur geringe Hilfsmittel dazu gehören. Einwandfreie
Beobachtungen können aljo jehr wertvoll fein und der
Wiſſenſchaft einen großen Dienft leijten, wie ja über-
haupt immer wieder darauf hinzuweiſen ift, daß es eine
ganze Menge Aufgaben für den Sternfreund gibt, wo
er fi wiſſenſchaftlich mit Erfolg betätigen tann.
Riem.
„Zeichnen wir uns die Lage jolh eines Waflerreiters
.. . . (bis) als Ginuslinie bezeichnet.” Was gemeint
ift mit diefem anſchaulichen Beilpiel, ift flar. Aber die
Deutung der Wafferwellen ift faljch, vielleicht auh, dem
Zwede entjpredyend, zu kurz gegeben. Eine Waffer-
welle ift immer eine Kombination von Transverfal-
und Longitudinalwelle. Lebiere erzeugt eine jeitliche
Berihiebung des Wafferreiters in der Wellenrichtung,
fo daß der Reiter im allgemeiniten alle eine Ellipfe,
im jpeziellen Falle (bei gleiher Amplitude der Longi—
tudinal- und Transverfalwelle) einen Kreis befchreibt.
Daraus rejultiert eine Welle mit flachen Tälern und
ipigen Bergen, die bei jtarfer Amplitude oben einen
Schaumfamm tragen tann.
Dann noh eine Anfrage: Führt man in wenigen
Zentimeter Entfernung vom Auge auf Drudidrift
ihauend den Rand eines Papieres ſenkrecht zu den
Scriftzeilen jtehend langfam vor das Auge, dann fan:
gen in der Nähe des Randes die Schriftzeihen an zu
wandern, wie wenn man durch eine bewegte Linje
ihaut. Dit dieje Erjcheinung phyliologii im Auge be-
gründet und wie, oder hängt fie mit Beugungserfdei-
nungen des Lichtes zufammen?
Crid Krumm, Lehramtsaffeffor, Kehl (Baden).
Antwort: Die nit volljtändige Erklärung der
Wafferwellen hat Herr Dr. Bleher zweifelsohne im
Sntereffe der Einfachheit jo gegeben. Ich befenne, daß
ih es, obwohl mir der wirkliche Sachverhalt natürlich
befannt ift, im Unterricht auh zumeiſt jo made. Die
vollftändige Theorie der Wafferwellen ift einigermaßen
verwidelt. Wir haben in Göttingen bei F. Klein mal
ein ganzes Kolleg darüber gehört. Ich möchte deshalb
die Bezeihnung „falſch“ nit gern unmwiderfprochen
laſſen. Bl.s Erklärung ift in ufum delphini etwas
ftart „itilifiert“. Das ift in populären Darftellungen
manchmal unvermeidlid.
Die an zweiter Stelle erwähnte Erſcheinung möchte
id) unbedingt für eine der vielen „optiſchen Täuſchun—
gen” halten. Es gibt meiner Erinnerung nad ein
neueres Bud), das allerlei ſolche Täuſchungen jehr über-
ſichtlich zuſammenſtellt. Kann einer unjerer Lefer den
Titel angeben? Bapvint.
Man weiß doh heute, wie noh auf ©. 204 von
„Uniere Welt” erwähnt ift, daß Chlorophyll teine
Eiſen-, jondern eine Magnefiumverbindung ift. Wie
find denn nun die Verſuche zu erklären, daß Pflanzen,
die mit eifenfreier Nährlöjung großgezogen werden, tein
44 Raturwifienfchaftliche und noturphilofophifhe Umfchau.
Blattgrün entwideln? Sollten die Eifenverbindungen
in der Nährſalzlöſung eine katalytiſche Rolle [pielen?
Stwdienrat B. in Schw.
Wer gibt Antwort? Bapint.
Dftern 1925 findet in Hannover die 27. Haupt-
verfammliung des Vereins zur Förderung des mathe-
maliihen und nalurwiſſenſchafllichen Unterriis ftatt,
und zwar vorausfitlid vom Sonnabend, 4. bis Mitt-
woch, 8. April. Die Verhandlun,en der Hauptfigungen
jollen jih um die Themen gruppieren: „Unterricht und
Technik“ und „Die Beziehungen der mathematifch:natur:-
wiflenichaftlihen Fächer untereinander und zu den
anderen Fächern“. in vierter Tag foll fyortbildungs-
und Ausbildungsfragen gewidmet fein. Auskunft er-
teilt der Ortsausſchuß.
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
a) Anorganiſche Nalurwiſſenſchafien.
Die „Maſſenfuggeſtion der Relafivitätstheorie“ ift
eine Brofchüre des betannten Einfteingegners Gehrde
betitelt (Verlag H. Meußer, Berlin), weldye zu lejen
ganz amüfant ift. G. Stellt darin in chronologiſcher
Reihenfolge eine große Menge von Prefleftimmen und
anderen Weußerungen zufammen, die deutlicd) zeigen,
wie die Relativitätstheorie zunächſt zur großen Mode
wurde, und wie dann in allen Ländern die allgemeine
Begeilterung allmählich nadließ und in Satire und
Sntereflelofigteit oder Bekämpfung umidlug In
maſſenpſychologiſcher Hinficht ift die Lektüre recht lehr-
reich. Bom Standpunkte objeftiver Beurteilung aber
. muß meines Cradtens Bedenken dagegen erhoben
werden, daß ©. hier ohne genügende Kritik nur diefe
jozujagen öffentlidye Seite der Sade darftellt. Es ent-
fteht dadurd in dem lefenden Laien der faljche Gin-
drud, als ob auh die Fachwelt ähnlich wie die Deifent-
lichkeit zuerjt eine maßlofe Ueberſchätzung der Theorie,
dann eine immer Deutliddere Ablehnung gezeigt hätte.
Dies ift leineswegs der Fall. Weder Einftein felber,
noch die feine Theorie 3u den wertoolliten modernen
Horihungen zählenden Phyſiker (melde die über:
wiegende Majorität bilden) find jchuld an jenem „Ein-
fteinrummel”, den gewille Preffeorgane und Verleger
in Szene gejebt hatten. Sie haben deshalb aber aud)
teine Beranlaflung, jet hinterher zurüdzuziehen. Die
Fachwelt jteht nah wie vor auf dem einzig des exakten
Forſchers würdigen Standpunkt: Abwarten und immer
aufs neue nachprüfen, folange bis eine eindeutige Ent-
iheidung erzielt ift. Bisher liegt eine folde nicht vor.
Daß hin und wieder einmal ein Forfcher, wie 3. B.
vor kurzem wieder Norman Campbell (Nature
113, 784) vor übertriebener Einſchätzung der Relativi-
tätstheorie warnt, ift nur gut. Er bebt mit Redt her-
vor, daß ſowohl Einftein, wie aud der hauptfädy-
lichſte Vertreter der Relativitätstheorie in Cngland,
Eddington, aud anderweitig viel zu große
Schöpfungen aufzuweifen haben, als daß ihr Ruhm
Schaden leiden fünnte, wenn die Relativitätstheorie fidh
nicht bewahrheitete. Auf jeden Fall aber liegt eine
Leiſtung eriten Ranges vor ſchon deshalb, weil die
Theorie zu unzähligen wichtigen neuen Frageltellungen
angeregt hat.
Hierfür gleih ein Beilpiel. Um die von der Rela-
tivitätstheorie behauptete Identität von Schwere und
Trägheit nadjzuprüfen, hat ein Phyſiker namens P.
Hey! das Gewidt von AKrilfallen beitimmt, die in
allen möglichen Richtungen aufgehängt waren. Da alle
jonftigen Eigenſchaften im Kriftall fi mit der Richtung
ändern, jo wäre vielleiht zu erwarten, Daß dies aud
bei Gravitation und Trägheit der Fall wäre, und daß
dann bei gleicybleibender Trägheit Unterfchiede im Ge-
wicht fih bemerfbar madhen würden. (Ganz vermag id)
nad) dem kurzen Referat in den Phyſikaliſchen Berichten
Nr. 23, ©. 1143, allerdings nicht einzufehen, inwiefern
bier eine Beltätigung des Einfteinfcyen Aequivalenz⸗
fates vorliegen fünntee Dazu müßten meines Er:
adhtens eher Fallverjuhe oder den Eötvösſchen Ber-
juden ähnliche Zentrifugalverfudge mit Kriftallen ange-
itet werden.) Das Reſultat war übrigens negativ.
Es ließ fiġ feine Aenderung mit der Richtung feft-
itellen. i
In Nr. 113 der Nature erörtert Brauner, ein
alter Schüler und Freund Mads, noh einmal die
Stellung Mads zur modernen Alomiſtik. Er teilt nicht
Einjteins Meinung, daß Mad), wenn er länger gelebt
hätte, vielleicht feine Anficht über die Atomiftit geändert
haben wünde. — Cs ift nur gut, daß Mad es nicht
mehr nötig gehabt hat, einen Blid in die „Phyſikaliſchen
Berichte” von heute zu werfen. Ungefähr die Hälfte
aller Arbeiten Handelt darin von Forfchungen über den
Bau der Materie. In Heft 24 derfelben (S. 1730)
finden wir 3. B. eine wichtige Arbeit von Harkins
und Ryan (Journ. Am. Chem. Soc. 45, 2095) auf-
geführt, in der diefe Forſcher durch gleichzeitige Photo-
graphie nah Wilſonſcher Methode von zwei Seiten ber
die Bahnen von a-Teilden und etwaigen Brudjftüden
von Atomen genau feitgeftellt haben. Es find im
ganzen 21000 Bilder aufgenommen. Die Zahl der
von den im Bilde feitgehaltenen a-Teildhen durd»
flogenen Atome wird auf etwa 12 Billionen gejchäßt.
Trob diefer ungeheuren Zahl finden fih nur drei Auf-
nahmen, welche deutlich erfennen laffen, daß das a-Teil-
dien einen Rüditoß erfahren hat, alfo ziemlich genau
zentral auf den Kern eines anderen Atoms aufgetroffen
jein muß. Und auf einem einzigen diejer Bilder ift
nun aud 3u ſehen, wie buchltäblich das getroffene Atom
total zertrümmert wird. Es gehen von dem Treffpunft
nit nur drei (wie auf den anderen Bildern), jondern
mehrere Wegfpuren aus, das ftoßende a-Teildhen ſelbſt
ijt um 165 Grad nad) rüdwärts abgelenft. — Bejonders
bemerftenswert an den Harkinsſchen Photographien ift
nod, daß auf ihnen noh eine bejondere Art von
Elektronenſtrahlen 3u fehen ift, die Harfins P-Strahlen
nennt. Dieje find offenbar aus durcdquerten Atomen
durch das a-Teildhen losgelöjt, haben aber viel größere
Reichweite als die bisher in diejer Art beobadteten fo-
— —
genannten ö-Strahlen. H. nimmt deshalb an, daß fie
aus tiefer liegenden Schichten des Atoms losgeriffen
jind (aus der fogenannten K-Schale).
Ein Rätjel, welches der modernen Atomphyſik viel
Kopfzerbreden gemadjt hat, ſcheint H. Krefft (Ann.
dò. Phyſ. 75, 75; Phyſikaliſche Berichte 23, 1664) end-
tidh gelöft zu Haben. An den fogenannten Kanalitrahlen
(fliegenden pofitiv geladenen Teilchen in Bakuumröhren,
f. Nr. 4, 1921) hatte Start den „Dopplereffett“, d. i.
die Verſchiebung der Speftrallinien durh die Bewegung
bei Beobadhtung in der Flugrichtung oder ihr entgegen,
nacdhgewiefen. Die hieraus berechnete Geſchwindigkeit
ſtimmte jedod niemals genau mit der auf eleftromagne-
tiihem Wege gemeffenen überein. Kr. hat nun gezeigt,
daß die Differenz fih dadurd erklärt, daß die auf den
Dopplerefett bin unterfudhten Spettrallinien von un:
geladenen Atomen herrühren, während die eleftromagne:
tiſche Beitimmung nur die pojitio geladenen Teildyen
erfaßt.
Einen neuen einfachen Demonffrationsverfuh zur
direfien Beitimmung der Geſchwindigkeil der Kathoden⸗
firahlen gibt Fr. Kirchner (GPhyſikaliſche Zeitſchrift
25, 302; Phyſikaliſche Berichte 23, 1665, 1924) an. Die
Elektronen durdlaufen zwiſchen zwei Kondenfatorplatten
ein elettriides Wechlelfeld veränderliher Schwingungs:
zahl. Richtet man diefe fo ein, daß die Zeit, während
der das Elektron fih in diefem Felde befindet, gerade
glei einer halben Schwingungsdauer ift, fo erhält man
auf dem FZinffulfidfhirm eine ſcharfe Linie, in jedem
anderen Falle dagegen zwei.
Ueber die demifhe Bindung als dynamiſches Problem
bat Born in einem Bortrage auf der SInnsbruder
Berfammlung berichtet, der in Nr. 52 der Naturmiffen-
ſchaften abgedrudt ift. Born ftellt bier in fehr klarer
und überfichtliher Weife unfere bisherigen Senntniffe
über dies Problem, an denen er felber fehr weientlichen
Anteil hat, zufammen. Bon einer völligen Löſung find
wir noch weit entfernt. Dod tann man bereits für eine
ganze Anzahl phyſikaliſcher Konftanten Beziehungen aus
den theoretifhen Vorftellungen der Atomiſtik ableiten,
insbejondere für die fogenannten polaren Verbindungen,
wie 3. B. Salze.
Weitere folde Konftantenbeziehungen leitet Qafa:
reff in einer Arbeit in den Comptes rendues 178,
1716 (Phyſikaliſche Berichte 23, 1642) ab. Ift N die
Anzahl der Moleküle in der Bolumeneinheit fo muß
nah Q. der Elaftizitätsmodul mit der Rubit-
wurzel aus der vierten Potenz von N, de Schmelz:
wärme mit N felber und die ultrarote Eigen:
frequenz mit der Quadratwurzel aus N proportional
fein für verfcdjiedene Metalle. Die Beftätigung diefer
Beziehungen durch das Erperiment ft nad) ihm be-
friedigend.
Die früher fo lange vergeblich geſuchte Brechung der
Rönfgenftrahlen ift neuerdings von dem berühmten
Röntgenforfher Siegbahn im Berein mit zmei
anderen Forſchern Larffon und Waller, mit
Hilfe von Kriftallprismen, auf welde die Strahlen
unter einem fehr kleinen Wintel einfallen, nachgewieſen
worden. Die Foricher erhielten fehr fchöne und Mare
photographifdhe Aufnahmen des gebrochenen Strahles
Naturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifhe Umfhau,
—
neben dem direkten und dem reflektierten (Naturwiſſen⸗
ſchaften 52).
In Nr. 52 der Naturwiſſenſchaften tommen Miethe
und Stammreid nod einmal auf die von Haber
ausgeführten Analyfen ihrer Quedfilberlampenpräparate
zurüd. Nach den mitgeteilten Zahlen muß allerdings
auch der Unbeteiligte fchließen, daß an der behaupteten
Berwandlung des Quedfilbers in Gold dodh etwas daran
fein tann. Man wird gut tun, weitere Unterſuchungen
abzuwarten und die Forſcher ebenfowenig vorſchnell zu
verjpotten, wie vorjchnell von der Erfüllung des alten
Alchymiſtentraumes zu reden.
In Nr. 6, 1922, von „Unjere Welt” haben wir über
die von Johnſon-Rahbeck genauer unterfudhten
eigentümlihen Anziehungswirkungen zwiſchen einer
Metallplatte und einer Halbleiterplatte (Adat, Schiefer
und dergleichen) berichtet, die in der Technik der Tele:
graphie eine bedeutende Rolle als fogenanntes elet:
troftatifhdes Relais fpielen. In einer Arbeit
in der Zeitfchrift für Phyſik 27, 74 (Phyſikaliſche Be:
richte 23, 1664) hat nun W. Kramer gezeigt, dab
diefe Vorrichtung zugleih eine ziemlich große Gleid-
richterwirkung befigt, d. 5. daß fie Strom in einer
Richtung bedeutend leichter Hindurdläßt als in der
anderen. Es fdeint, daß aud die Wirkung der. foge-
nannten Konfaftdefeltoren in der Funkentelegraphie fid
auf diefem Wege erflären läßt.
Der Schmelzpunft und Siedepuntt des Kohlenſtoffs
war von Fajans und Ryſchkewitſch (Natur:
wiſſenſchaften 1924, Nr. 16; Poyſikaliſche Berichte 23,
1799) mittels Durchſchmelzen von Graphitſtäbchen durd
Wecjelitrom zu etwa 3800 Grad abj. beftimmt worden.
Da dieje Ergebniffe angegriffen worden find, fo ver:
öffentliden Hagenbadh und Lüthy in Nr. 51 der
Naturwiflenfchaften ihre nah demfelben Prinzip ange-
ftellten Unterſuchungen, die noh genauere Ergebniſſe
hatten. Es wäre danad) der Schmelzpunft 4060 Grad
und der Giedepunft (unter Atm.-Drud) 4072 Grad
abjolut.
In der Novembernummer 1924 von „Unfere Welt“
wurde über neue Unterfudyungen von Abderhalden
betr. die Chemie der Eimweißitoffe (Proteine) berichtet.
In Nr. 50 der Naturmiffenfchaften, welche den Jahres-
beridt der Kaifer Wilhelm-Gefellfhaft und eine Reihe
von Aufſätzen aus dem Kaifer Wilhelm - Inftitute in
Dahlem enthält, finden wir nun einen Bericht von
M. Bergmann über „neuere Proteinddemie”, der
den Beriht Abderhaldens nadh vielen Seiten hin er:
gänzt. Da die Ergebniffe nur für den Chemiler ohne
weiteres verſtändlich find, müflen wir leider von näheren
Ausführungen abfehen.
Die von 2. Cramer entdedte Möglichkeit einer
Entwidliung phofographiihen Bildes nah dem Firleren
ift vor einiger Zeit von den Gebrüdern Qumiere urd
Seyewehb genauer unterfuht worden (Comptes
rendues 178, 1765; 179, 14; Phyſikaliſche Berichte 23,
1691/92). Sie fanden, daß die bisher zumeift fchlechten
Nejultate eines folhen Vorgehens dadurch verurſacht
werden. daß das Fixierſalz das latente Bild angreift.
Diefe Wirkung lann indes durch Zufah von Alkali ftar?
herabgefeßt werden. Wenn man auf ein Liter dreißig:
prozentiger Firierfalzlöfung 10 ccm konzentrierten Am:
46
moniaks zugibt und nur 5 Minuten figiert, fo erhält man
bei nadträglidem Entwideln ein normales Negativ.
Zum Entwideln benutzten die Berfafler folgendes Re-
zept: Löſung I: 1000 g Waffer, 180 g Sulfit (waſſer⸗
frei), 75 ccm zehnprozentige Silbernitratlöfung. Lö—
jung II: 1000 g Wafler, 20 g Sufit, 20 g Baraphenglen:
diamin. Zum Gebraud 150 ccm von I gemiſcht mit
30 ccm von II. Es wurde ferner feftgeitellt, daß nicht
alle Silber reduzierenden Flüſſigkeiten als Entwidler
wirkſam find, fondern nur foldye, die einen photographi=
ſchen Entwidler als reduzierende Subſtanz enthalten
(nicht 3. B. Formaldehyd), daß aber die Entwidlung mit
folgen auch gelingt, wenn das latente Bild zuerjt mit
einem Entwidler, wie 3. B. Diamidophenol, gemajchen
wird. — Weitere Einzelheiten möge man in den Dri-
ginalarbeiten nadjlefen. Ich habe diefe jo ausführlid)
mitgeteilt weil gerade auf diefem Gebiete auh der
Dilettant vielleicht noch mande wilfenjchaftlidy wertvolle
Endeckung maden tann, wenn er ſyſtematiſch erperi-
mentierf.
In der Zeitichrift „Die Kinotechnik“, Jahrgang 6,
Heft 19/20, gibt F. P. Liefegang, Düffeldorf, einen
intereffanten geſchichtlichen MWeberblid über „die Çr-
findungsgeihichte des Lebensrades“ von der eriten Be-
obachtung des fogenannten Zaunphänomens durd 3. M.
(Sohn Murray?) im Jahre 1820 bis zu Plateaus und
Stampfers Erfindung des eigentlihen Lebensrades, das
die Vorftufe des modernen Kinos bildet.
Der vielbeadhtete Vortrag von A. Kühl auf der
Innsbruder Verſammlung, in weldem diefer Münchener
Forfcher die Erflärung der Marstanäle auf rein phylio-
logifh-optiidem Wege aufs neue fehr wahrſcheinlich
machte, ift in Nr. 51 der Naturmiffenichaften abgedrudt.
Ich muß geitehen, daß die beigegebenen Bilder mir per:
ſönlich die behaupteten auftretenden „SKontraftlinien“
nur jehr ſchwach gezeigt haben. Aber vielleicht liegt das
an der mangelhaften Reproduftion. Kühl faßt das Er:
gebnis dieſer wichtigen Unterfuhungen in folgenden
Sägen zufammen: Die Planetenoberflähe ift wie die
der Erde und des Mondes in Wirklichkeit überjät mit
feinen, ſcharf definierten Einzelheiten, die unter der Auf:
lösbarkeit der Fernrohre ilegen. Die Grenzübergänge
von Gebieten mit verfchiedener Flächendichte folder
Einzelheiten geben Beranlaffung zu phyſiologiſch-opti—
ſchen Grenztontraftlinien im Beobadıterauge, die meilt
unter der Merkbarteitsgrenze liegen. Stellenweije wer-
den fie indeffen zwiſchen gerade eben auflösbaren Pla:
netendetails über die Empfindungsfchwelle gehoben und
als „Marstanäle” fichtbar.
Unfer verehrter Mitarbeiter, Prof. W igand -Halle,
bat in den Ann. d. PH. 75, 279 (Phyſikaliſche Berichte
24, 1745) eine größere Arbeit über jeine Erfahrungen
betr. die Meflung Iuftelettriiher Zuftände im Flugzeug
und Ballon veröffentliht. Das für den Laien inter-
effantefte Ergebnis der zahlreiehn Verſuche ift wohl,
daß dur) das Laufen der Motoren ftets eine Potential:
Differenz des Flugzeugs gegen die umgebende Quft von
mehr als 1000 Bolt entiteht. Das Spannungs gefälle
überjchreitet jedoch nie 2000 Bolt pro Meter, jo daß eine
Zündungsgefaht für Lenkballons hierdurch ausge:
ſchloſſen ift.
_ Raturwiffenfchaftliche und naturphile ſophiſche mſchau
Cine ganze Reihe von Arbeiten über das Problem
des Dogelfluges finden wir in den Phyſikaliſchen Be-
richten, Heft 23, ©. 1633 ff., referiert. Zwei Auffäße
von Karpen -Budapejt behandeln das Problem des
Gegelfluges bei lediglich horizotnalem Wind. Eine Ar-
beit von Jdrac aus den Compets rendues unterfudhte
erperimentell den Flug des Albatros. Das Er:
gebnis war, daß entgegen früheren Annahmen aud der
Albatros nicht vertifale Windtomponenten ausnußt, die
etwa durch die Wellen entjtehen, fondern daß es aud
bei ihm ſich um die Geſchwindigkeitsdifferenzen zwiſchen
horizontalen Quftitrömen in verſchiedenen Höhen über
dem Nulljpiegel handelt. Die Differenzen werden na:
türlich ebenfalls durd) die Ablenkungen der Luftftrömung
an den Wellen erzeugt. wei weitere Arbeiten von
Breguet und Lachmann beſchäftigen ſich mit der
no% wenig erforſchten Wirkungsweiſe des in einzelne
gedern zeripaltenen Schlagflügels.
b) Biologie.
Die Serodiagnofe, die die „Blutsperwandtfchaft” des
Menden mit den höheren Affen bewiefen bat und die
in der medizinifcyen und gerichtlihen Praris eine folde
Bedeutung erlangt hat, wird feit 1911 von CE. Mes;
dazu verwandt, um aud die Eiweißverwandtichaften der
Pflanzenfamilien zu ermitteln. Das Ergebnis diefer,
jest abgejchloffenen, Unterfudyhungen, über die Mez auf
der legten Innsbruder Naturforjcherverfammlung be:
richtet hat, ijt ein neuer Stammbaum des Pflanzen-
reiches, der nadh Mez den Vorzug hat, erperimentell be-
gründet zu fein. Damit glaubt Mez einen erakten Be:
weis für die Entwidlung der Pflanzen (und damit des
Lebens überhaupt) aus einer einzigen Wurzel erbradt
3u haben. — Ohne ein Urteil über die Mezſchen Er:
gebniffe abgeben zu wollen, — das muß einer ein:
gehenden Prüfung der Einzelheiten vorbehalten werden
—, mödten wir hierzu bemerlen, daß der Schluß von
der chemiſchen Aehnlichkeit der Eiweiße zweier Organis:
men auf ihre gemeinjame Abjtammung niht zwingend
ijt. Die Ausführungen haben daher auh zum Teil
Widerfprud erfahren, fo von dem befannten Spyitematifer
R. Wettjtein.
Den Umfang, den die Zellftimulationsforfhungen an-
genommen haben, erfieht man am beiten aus dem Um:
tande, daß der Beröffentlihung ihrer Ergebnifle eine
neuerdings eigens zu dieſem Zweck gegründete Zeit:
Ichrift dient („Die Zellſtimulationsforſchungen“). Aus
dem Inhalt des erſten Heftes. erwähnen wir bejonders
(nad) einem Beriht in Naturwiflenichaften 52, 24) die
Berjuhe von Bleisberg, die unter anderem die
für die Landwirtſchaft wichtige Tatſache ergaben, daB
die Reizung auh noh wirkt, wenn zwifchen ihr und
der Ausſaat eine längere Zeit verftridgen ift. — Ber:
judt von Bopaff und Teskoff zeigten, daß die
Zellreizung auch die Regeneration verloren gegangener
Körperteile bei vielzelligen Tieren (Plattwürmern)
fördert.
Ueber die Frage der Orientierung der Zugvögel
ihreibt 9. Wachs in Heft 51 der Naturmwiffenjchaften
1624. Er führt aus, daß es fih bei den Zugvögeln, bei
denen Junge und Alte gemeinfchaftli ziehen, um eine
von dem einzelnen Vogel erworbene und im Gedädht-
nis behaltene Ortstenntnis handelt. Cine Erklärung
Neue Literatur. 47
fehlt für das Drientierungspermögen der Vögel, bei
denen Junge und Alte getrennt fliegen oder die weite
Meeresitreden überfliegen. Die Annahme eines be-
jonderen Drientierungsjinnes ift eine Sceinerflärung.
Das hier vorliegende Problem jteht aber nicht vereinzelt
da, jondern es begegnet uns aud bei anderen Tieren
(Siihen, Walen, Robben, Bienen, Fledermäufen, Maul:
würfen).
In Heft 47 der Naturwiffenichaften 1924 jdildert
von Friſch febr anziehend und ausführlich feine hier
jeinerzeit erwähnten Forſchungen über die „Sprade“
der Bienen.
gür die Befämpfung der Infektionskrankheiten ift die
Ftage von Wichtigkeit ob bejtimmte Parafiten auf einen
ihnen eigentümlihen Wirt angemwiejen find oder ob fie
auh andere Tiere infizieren können. Verſuche von
Keſſel über Infeltionen von Mäufen und Ratten mit
menjhlihen Darmamöben ſprechen für eine Beantwor-
tung im leßtgenannten Sinne. (Univerjity o. California
Publications i. Bool. 20, 23; Naturwifjenjchaften 52, 24).
Die Krebsforihung hat zwei neue wichtige Ergebnifje
zu verzeichnen. F. Blumenthal und feinen Mit-
arbeitern Auer und Meyer ift es, wie wir einer
Darftellung der „Frankfurter Umſchau“ in Heft 47, 24,
entnehmen, gelungen, zum erſten Male ein Bakterium
zu entdeden, das einen menſchlichen Krebs verurjadt.
Es ſcheint ein Verwandter eines Balteriums zu fein,
dis einen dem menjdliden ähnlichen Pflanzenkrebs
hervorruft. Damit ift natürlid) nicht gejagt, daß jeder
— — — —— — — —
Krebs durch Paraſiten erzeugt wird; im Gegenteil ſteht
von mindeſtens zwei Krebsarten feſt, daß ſie nicht para—
ſilären Urſprungs ſind. — Weitere Aufſchlüſſe über das
Weſen der furchtbaren Krankheit bringen Unterſuchun—
gen O. Warburgs Maturwiſſenſchaften 50, 24).
Warburg konnte feſtſtellen, daß dem krankhaften Wachs—
tum der Krebsgeſchwülſte ein anormaler Stoffwechſel
der Krebszellen zugrunde liegt. Auf Grund dieſes Er—
gebniſſes glaubt er, daß Sauerſtoffmangel in den Zellen
den Anreiz zur Bildung der Krebsgeſchwülſte abgibt,
der einerſeits wieder verſchiedene Urſachen wie Gefäß—
ſtleroſe, Druck, Bakterien (ſ. o.) haben kann. Die Frage
allerdings, wie die als Krebs bekannten äußeren Er—
ſcheinungen mit den von Warburg feſtgeſtellten Stoff—
wechſelvorgängen zuſammenhängen, bleibt noch unge—
klärt.
Der Nobelpreis des Jahres 1924 für Medizin und
Phyfiologie ift dem Leidener Profeffor Wilhelm
Einthoven für feine Arbeiten über die Herzaftions-
itröme, das heißt elektrifche Ströme, die durch die Herz-
tätigfeit im Körper entitehen, verliehen werden. Eintho—
ven ift der Erfinder des „Einthovenſchen Saitengalvano-
meters”, mit dem man dieje Ströme feſtſtellt. Es ift
ipm gelungen, das Gejeß diejer Ströme zu entdeden
und damit das Glektrofardiogramm — fo nennt man
die graphiiche Darftellung der Ströme — zu enträtjeln,
was von großer Bedeutung für die Erkennung von
Herzkrankheiten ift.
Alle in diefer Zeitihrilt beiprod. guten Bücher beiorgt jede Buchhandlung und die Sorfimentsabt. des Keplerbundes
R. Sapper, Das Element der Wirklichfeit und
die Welt der Erfahrung. Grundlinien einer anthro-
pozentriſchen Naturphilojophie. C. H. Bediche Verlags:
buchhandlung, Münden. 250 ©. Geh. 6 M. Der
Berfaffer, Profeffor in Graz, will in diefem Buche
zeigen, wie weit man heute mit einer an Shopen-
bauer, Leibniz und Hartmann orientierten
voluntariftiiden Metaphyfit in der Naturphilojophie
fommt. An die Stelle der fih bewegenden Atome der
mechaniſtiſchen Phyfit will er die „Entelechie“, d. h.
„die Ichrealität als einfache, zielftrebig wirkende, quali-
tatio durch ihren Zielinhalt beitimmte, wiffende und
wertende Größe“ feßen. Im erften Kapitel jchildert er
die atomiſtiſch mechaniſche Naturauffaffung, im zweiten
den Bemwußtfeinsinhalt, im dritten das Ich als Be-
wußtjeinstatfahe und beweiſt, daß weder diejes nod
jene als Element der Wirklichkeit angeſehen werden
fönnen. Im vierten Kapitel wird der Wille als „sum
efficiens“ an die Stelle des Cartefifhen „sum cogi-
tans“ gejeßt; im fünften will der Berfaffer nachweiſen,
daß, abgejehen von den Tatjahen der Affoziation die
Ertenntnisfunttionen niemals reftlos von dem Schema
mechaniſcher Kaufalität begriffen werden fönnen, ſon—
dern einer finalen Grundlage bedürfen. Gie find als
Diener des Willensfubjefts aufzufaffen. Im nächſten
Kapitel wird das Werten dem voluntariftiihen Schema
des Berfaffers eingeordnet. Das widtigfte Kapitel ift
das jiebente, welches „die Entelechie und die materielle
Welt“ behandelt. Auf diefes war ih am meiften ge:
Ipannt, weil id) hier einen Weg von den feelifchen Ur-
eiementen zur Welt der „realen Dinge“ zu finden er:
hoffte. Das Rejultat ift leider ein rein negatives. Der
Verfaffer „beweift” in der übliden Weile die Sub-
jektivität der Grundbegriffe Ausdehnung, Raum und
Bewegung und ftellt als neue Erklärungsprinzipien den
„alloziierenden“ und den „Ddiffoziierenden“ Wirktungs-
typus der Enteledien auf. Wie der planmäßig wirkende
menihlide Wille 3. B. die Formen der Kunft erzeugt,
jo erzeugt auch die wirkende Entelehie Formung und
Geitaltung, — wie fie das aber anfängt, wird leider
‚nicht gejagt. In einem Anhang wird die modernite
Phyſik als Zeuge dafür herangezogen, daß die Grund-
begriffe des Mechanismus fubjeftive Gebilde feien. Das
ahte Kapitel behandelt das Körper-Seele-PBroblem; es
ift erfreulich, daß der Verfaſſer entgegen vielen anderen
Bertreiern feines Standpunftes ehrlich zugeitellt, daß
auh auf diefem Standpunkte diefes Problem ebenjo
wenig lösbar ijt, wie auf dem mechaniſtiſchen. Das
48 ne: Neue Literatur.
—
folgende Kapitel befchäftigt fi mit dem in der Konfe-
quenz des eingefchlagenen Weges liegenden biologijchen
Bitalismus und das legte endlich, das wiederum grund-
- legend wichtige Fragen behandelt, ift dem Berhältnis
der Entelecjie zur anorganijhen Welt gewidmet. Hier
ganz befonders mußte fih wie im fiebenten Kapitel die
Leiftungsfähigteit der Theorie des Verfaſſers erproben.
Jh muß leider jagen, daß ih bei allem ehrlidyen Willen
aud hier arg enttäufcht war. Irgend eine Spur eines
Weges, der von der Enteledie zur Materie hinüber:
führen könnte, habe ich auch hier niht gefunden. Der
Verfaſſer felber gibt zu, dap feine Theſe auf diefem
Gebiete bloßes Poftulat bleibe. Nur in der jeltbe-
ftimmten Form der Kriftalle glaubt er ein Zeugnis für
das Wirken der affoziierenden Tätigkeit der Entelechien
jeben zu dürfen. Ferner beruft er fih auf die oft be-
merfte Analogie des Kraftbegriffs der Mecdanit zu den
menſchlichen Willenshandlungen, und außerdem will er
in den fogenannten Minimumprinzipien eine „imma-
nente Teleologie” jehen. Es muß hierauf meines Er-
achtens erwidert werden, daß es erjtens nicht richtig ift,
wenn der Berfafler (Seite 226) behauptet, daß Das
Wahstum eines Kriftalls ebenjo wie das eines orga-
nijgen Individuums in der Größe begrenzt fei. Daß
zweitens die neuere Phyſik den Kraftbegrifi frei von
jenem Anthropomorphismus zu definieren imftande ift,
daß drittens die vielberufenen Minimumprinzipien nur
eine Scheinteleologie enthalten (fiehe darüber „Unfere
Melt“ 1920, Heft 5, Sp. 162). Auch jonjt enthält dies
Kapitel Behauptungen, die nicht unwiderſprochen bin:
gehen können, jo 3. B. die, daß die NRegenerationsjähig:
teit der Kriftalle im weſentlichen gleichartig der der
Lebeweien fei (Seite 229). — Alles in allem: ih glaube
nicht, daß diefer neue Verſuch eines metaphyſiſchen
Spiritualismus glüdlidyer ift als alle feine Vorgänger.
Der Weg vom Phhyſiſchen zum Geelifhen ift von
beiden Seiten her verrammelt. Wie aus diefem
jenes werden könnte, erfährt der Lefer in diefem Buche
ebenjowenig, wie er bei Haedel das Umgefehrte erfährt.
Man falle diefe Kritit nicht als dogmatiſche Borein-
genommenheit auf. Ich bin felber überzeugt, daB das
berühmte Problem jchließlich dodh noh einmal eine an-
nehmbare Löfung finden tann. Aber hier jehe ih feine,
fondern die klaffende Lüde ift durch bloße Poftulate
ausgefüllt, wie bei allen früheren Verſuchen gleicher
oder entgegengejegter (materialiftifcyer) Art. Dod darf
und muß das Bud) als die ernſt zu nehmende Arbeit
eines den Dingen auf den Grund gehenden wohlorien-
tierten Denters angefehen werden, die niht mit den
zahlreihen populären Gegenjdriften gegen den Ma-
terialismus auf eine Stufe zu ftellen ift. Man tann aus
ihm lernen, wieviel der dem Materialismus entgegen:
gefeßte Standpunkt heutzutage zu leijten imſtande ift.
T. K. Defterreich, Die philofophiihe Bedeutung
der mediumiſtiſchen Phänomene. W. Kohlhammer,
Stuttgart. 2 M.
weiterte Faſſung eines auf dem zweiten Internationalen
Kongreß für parapſychologiſche Forſchung in Warfchau
im Herbſt 1923 verlefenen Bortrages dar. Der betannte
Bortämpier des willenfchaftlien Okkultismus will hier,
ausgehend von der als wahr und edt unterftellten
Realität der verjdiedenen ottulten Phänomene wie
Teiepathie, Heilfehen, Teiekinefie, Materialifation uſw.,
— Das Scdriftden ftellt die er: '
unterfudgen, welche Folgerungen fih daraus in Hinſicht
auf Erfenntnistheorie, Metaphyfit und Weltanſchauung
ergeben. Es muß zugeftanden werden, daß diefe Unter—
ſuchung auch für denjenigen, der nicht mit dem Ver:
faffer der Meinung ift, dap die Tatfachenfrage [don
entfchieden fei, höchſt intereffant und nußbringend ijt.
Man fann De. das Zeugnis nicht verjagen, daß er fid
auch hier als weit- und tieffehender, außerordentlich klarer
Kopf bewährt hat, als den wir ihn von einer großen
Reihe wiffenfchaftliher Arbeiten her tennen. Es ft ein
Genuß, ji” von ihm durch die mannigfachen Wege des
erhofften Neulandes führen zu laffen und eine Unzaähl
neuer, nun erft fommender Fragen emporfteigen zu
jeben. Mit Recht fagt er an mehreren Stellen, daß die
eigentliche Arbeit des wiſſenſchaftlichen Okkultismus erft
beginne, wenn erft einmal das gegenwärtige Siadium
hinter uns liege, wo es fiġ im Grunde immer nur um
die reine Tatfachenfrage handele. Es ift rüdhaltlos
anzuerkennen, daß die von De. hier aufgeftellten For:
derungen durchaus im Geiſte echter Wiffenjchaft gehalten
find. Diefe fann nicht mit dem bloßen Daß zufrieden
fein, fondern muß nun vor allem die Frage des Bie
und Wodurch in Angriff nehmen. Wie viele neue
Probleme da auftauchen, das möge man in dem lejens:
werten Schriftchen felber nachleſen, das id gem
empfehle, obwohl id), wie ſchon angedeutet, in Hinfig!
auf die Tatjachenfrage anderer Meinung bin als der
Berfaffer. Eine Bemerkung aber fann ich zum Schluß
nicht unterdrüden. Gerade beim näheren Verfolgen dei
von De. mit viel Geſchick entwidelten einzelnen Mög
lichleiten des Wie der (angebliden) Telepathie- um.
Phänomene ift mir mit faft unüberwindlicher Deutlid;
feit der Eindrud aufgeftiegen: es ift tatfächlich für diejes
Wie nah alledem, was De. da jelber entwidelt, faum
eine andere Erklärung denkbar als die, daß — die be:
treffenden Erfcheinungen gar nicht auf „ottultem” Wege
zuftandegetommen find. Dies ſchien mir nämlid) fof
zwingend daraus hervorzugehen, daß die angebliden
„oltulten“ Wahrnehmungen der Medien eine geradezu
lächerliche Uebereinftimmung in allen ihren Qualitäten
mit den normalen Wahrnehmungen aufweifen. Gie
fehen Farben wie wir im Wadjzuftande, fie erklären,
daß fie den betreffenden Gegenftand „von unten“ oder
„von oben“ her jähen (der in Wahrheit Hunderte von
Meilen entfernt ift); fie lejen dierfach zufammenge:
faltete Briefe, die fein Menſch, wenn fie völlig durd:
fihtig wären, entziffern könnie, weil die Schriftzüge fid
völlig überdeden, als ob der Brief aufgefaltet vor ihnen
läge uſw., tura fie geben überall gerade ſolche Wahr:
nehmungen an, wie man fie vorausfehen müßte, wenn
3. B. die Betrugshnpotheje zuträfe. Mir erſcheint das
im hödjften Maße auffallend und nidyt gerade fehr ein:
leuchtend. Wenn wirklich eine folde, alle Raum: und
Zeitgrenzen überſchreitende innere Erleuchtung egiftiert,
ſollte diejelbe dann wirklid) ausgerechnet an ganz die:
jelben jetundären und primären Empfindungsqualitäten
und Beziehungen gebunden fein wie die normale? Aud
aus Deiterreihs Worten ſpricht an mehr als einer Stelle
die Verwunderung über eine folde — sit venia verbo
— Naivität der oftulten Kräfte. Ich rate dem Lefer
jeiner Broſchüre hierauf einmal ganz befonders 3N
achten. Bavin.
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Godesberg a. RY. u. Derhen a. ò. Giss
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Herausgegeben Schriftleitung:
vom Professor
Keplerbund Dr. Bavink
Detmold Bielefeld
Inhalt:
Das Problem des Uebels in der Welt. Von B. Bavink. ® Astronomie und
Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr. Paul Meth. &
Naturwissenschaft und Weltanschauung. Von Dr. Max Müller. ® Aus-
sprache. ® Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ®
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erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post oder Buchhandel, viertelj. 2.— Goldmark.
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Oesterreich: Postsparkasse Nr. 15603b. Sehwelz: Keplerbund-Postscheckkonto: Zürich Nr. VIII. 10635.
Holland: Dr. W. var der Elst, Utrecht, Julianalaan 13, Postrekening 52198. Amerika: Rev. W
Meinecke, Chicago (Jll.) 5647 So. Rockwell St. Mexiko: M. Lassmann, Apartado 549 Mexiko D. F.
Alle Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. verlag od. Geschäftsst. des — Detmold.
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Astronomie und Weltanschauung bei griechischen Philosophen. Von Dr. Paui Meth. [Schluß.) ® März-
wanderung. Von R. Fuchs. ® Skizzen aus Italien — Sizilien. Von Dr. E. Lücke. ® Fährten und -Spuren.
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Pflanzen den Winterschlaf? Von Herbert Henne. ® Pelorie bei Anemone pulsatilla? Von Erich Mahler. ®
Fiugspiele der Krähen. Von H. Osthoff. ® Der Sternhimmel im März. ® Häusliche Studien. ® Kleine
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ersten Vierteljahres (Mk. 2,—) unserm Postscheck- l Die Geschäftsstelle.
konto Hannover 45744 überweisen zu wollen. Wir | “m
nehmen an, Zahlungen, die bis 20. März nicht eir- | Z3llIIMMRUNMNNRNMLRUMHEEERREE
gegangen sind. zuzügl. der entstehenden Unkosten = iā ” =
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Herausgegeben vom Naturwiſſenſchaftlichen Berlag des Keplerbundes e. B. Detmold.
Boftichedtonto Nr. 45744, Hannover.
Scriftleitung: Prof. Dr. Bavink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Aufläge fiehen die Derfaffer; ibre Aufnahme madht fie nit zur Weuberung des Bundes.
XVII. Jahrgang
Das Problem des Uebel in der Welt. son 2. Bavin. ®
März 1923
Heft 3
Schluß.) |
Neben der Anerkennung des Lebensdranges
an fih fteht nun aber im Chriftentum auf der
anderen Geite die ebenfo entichiedene Ber-
urteilung jeglihder Art und Form der Gelbft-
fudt, und das eigentlihe Problem
liegtdarin, wiejene Unerfennung
und diefe Berwerfung fid vertra-
gen, da doh anicheinend beides: Lebensmille
und Gelbftjucht völlig zufammenfallen, man alfo
ſcheinbar nur beides zugleich annehmen oder ab-
lehnen tann. Das leßtere will der Buddhismus,
das erjtere verfuchen feit alter Zeit gewiſſe Strö-
mungen in. Philofophie und Religion, die im
Egoismus niht etwa ein Uebel, fondern das
eigentliche Prinzip alles Yortfchritts erbliden
wollen. (So vielfach bei neueren Freidenkern,
die andererfeits aber im vollen Widerfpruch da-
mit von allgemeiner Menjchenliebe überfließen.)
Wir haben nun feon oben offen ausgeſprochen,
daß eine rationale Auflöfung diejes Problems,
meldes nur das „Problem der Theodizee” in
anderer Faſſung ift, nicht möglich ift. Wir müf-
fen anertennen, daß hier metaphyfifche legte Ge-
þeimniffe in unfer Dafein hineinragen, die uns
undurdpringlich find. Aber wir tröften uns bei
diefem Verzicht mit zwei Dingen: Zum erften mit
der Einfiht, Daß unsdieletten Gründe
des Dajeins der Welt theoretif h
dodh auf ewig verfdhloffen bleiben.
Das Problem, warum überhaupt eine Welt da
ift, und warum gerade diefe und feine andere,
ijt der vernunftgemäßen Erkenntnis unzugäng-
lih. Wir können nur feftjtellen, wie diefe Welt
tatfächlich ift und wie fie in fih zufammen:-
hängt in Raum und Zeit. (Problem der Kon-
tingenz f. Nr. 4:5 1922.) Zum andern aber er:
wägen wir, daß wir als menfchliche irdifche
Wefen an die Form der Beit, ſowohl in fubjef-
tiver wie in objektiver Hinficht, gebunden find.
Die Zeit ift „Form des inneren Ginnes“ (Kant),
fie ift auch Ordnung der äußeren Welt, wenn
auch vielleicht eine andere Ordnung, als die
innere (Einftein). Gott aber fteht jenfeits von
Raum und Zeit, feine „Ewigkeit“ bedeutet
niht eine unendlich fortgefegte Zeit, fondern
eine außerzeitlihe Eriftenzform. Was für uns
in der Zeit hintereinander ift, das „ift“ oder
„gilt“ für ihn einfach; er fieht die Welt „uno
aspectu“. Und darum ift aud) die „Schöpfung“
fein zeitlicher Anfang, fondern eine reine „Urs
heberfchaft”, etwa vergleichbar einer logijchen
Begründung, bei der wir aud von „Folge“
iprechen, obwohl wir diefes Wort nicht zeitlich
oder räumlich meinen. Go heißt: denn das
Theodizeeproblem vom Standpunkt metaphyji-
ſcher Einficht aus niht mehr: wie fam in eine
von einem guten Gott geichaffene und urfprüng-
lih gute Welt das Böſe hinein (das wäre zeit-
lih gedacht), fondern: wie fteht es mit dem Ber-
hältnis der Teilwillen zum univerfellen göttlichen
Willen, der fih jelber in diefe Teilmillen frei:
willig jpaltet?) Warum muß überhaupt eine
folche Spaltung fein? Vielleicht, weil nur fo
Bielheit in der Einheit möglich ift? Aber warum
bejteht dann niht troßdem eine vollflommene
Harmonie der Teile untereinander, wie bei den
Einzeltönen eines Akkords? Offenbar ift die
Schöpfung jo eingerichtet, daß alles ineinander:
1) In diefer Faſſung erfennt man, daß es mit dem
Problem der Willensfreiheit im Grunde zufammenfällt.
Beide müſſen jozujagen erft in die Sprade von Ein:
jtein Minkowski überjegt werden.
— —
ae a E E ——
50
ng ——
— i ae nn nn
greift und das Gange einen riefenhaften Organis-
mus darftellt. Uber warum ift diefe Einrichtung
mit Leid verfnüpft? Müßte es nicht jener
Raupe eigentli Freude machen, wenn fie ihre
naturgemäße Beftimmung erfüllt, vom Bogel
gefreifen zu werden? Ebenfo Freude, wie wenn
fie ihr Kohlblatt fript? Hier ift unfere Weis-
heit zu Ende. Nur eines fönnen wir nod)
jagen: Wenn Gott alles in allem ift, wenn die
ganze Schöpfung vom Elektron bis zum Men-
ichen fein Wert ift, fo ift er auh in dem Leid
und dem Uebel gegenwärtig, ja er ledet es mit.
Wie unfer Wille ein (in gewilfem Umfange ver:
jelbftändigter) Ausfluß feines Willens, fo find
auch unfere und natürlich ebenfogut der übrigen
Geichöpfe Empfindungen und Gefühle aud feine
Zuſtände. Das ift der legte Sinn des Wortes,
daß fein Sperling vom Dache fällt ohne feinen
Willen. Das Ehrijtentum fann einen gemiljen
Einſchuß von Pantheismus niht entbehren, ohne
auf die Stufe eines deiftifchen Gottesbegriffs zu:
rüdaufinfen. Un diefer Stelle haben wir vor
allem von unferen großen deutfchen Myſtikern
zu lernen. Gott ift (als Schöpfer und Erhalter)
„nicht ferne von einen jeglichen unter uns”, nicht
etwa nur fo, als ob er überall „Dabei“ wäre,
nein, fondern fo, daß er mitten darin ift. „Gott
ift in mir das Feu'r und ich in ihm der Schein.
Sind wir nun niht einander ganz inniglich ge-
mein?” fingt Angelus Cilefius. Rein transcen:
dent ift Gott immer nur als Werter und Richter,
nie als Schöpfer. DaB das Chrijtentum dies fo
oft nicht beachtet, ift die Urfache dafür, daß es
vielfach nicht über den deiftifchen Gott des alten
Judentums hinaustommt. (Bgl. Nr. 6, 1921.)
Das Problem wird dadurch zwar nicht gelöft,
wie der Widerfpruch in die Welt fommt. Aber
er wird für uns tragbarer, wenn wir glauben,
daB Gott felber ihn mit uns trägt.
Und hier ergibt fih der Teßte und weiteſte
Yusbli und ermweift fih die Ueberlegenhe't des
Chriftentums über alle anderen Religionen. Es
gibt einen Weg, auf dem Wille und Wille itatt
zum Gtreit zur Einheit zurüdfinden können.
Diefer Weg ift die Liebe, jegt nicht im irdifch®
menschlichen Sinne, fondern in dem des Apoftels
in jenem berühmten Hymnus 1. Kor. 13 ge:
nommen. Es ift die Liebe, die fih nicht felbft
fucht, fondern das des anderen, ja die fid) jelber
freimillig und gern für den anderen opfert. Auf
diefem Wege und nicht auf dem der Verneinung
des Willens an fih löft im Prinzip das Ehrijten-
tum den Widerſpruch des Dafeins. Denn das
ijt ja der Grundgedante feiner Erlöſungslehre,
daß ſogar Gott ſich ſelber in dieſer Liebe opfert
Das Problem des Uebels in der Welt.
= 1.20. — on —
für feine Gefchöpfe. Wie in jenem Widerjprud,
jo ragt auh in dieſer Erlöfung das Transcen-
dente, jchlechthin über unfer Berftehen Erhabene,
in unjere Welt hinein.
nicht durch äußere „Wunder“ bezeugt zu fein,
wie mancher als unbedingt notwendig fefthalten
zu müjjen meint. Wer aus fachlichen Erwägun:
gen heraus gegen diefe Bedenken hat, habe fie.)
Sene Erlöfung vielmehr ift felber das Wunder,
ebenjo wie der fie begründende Widerſpruch des
Dafeins ein Wunder, d. h. ein uns undurchdring—
liches Geheimnis, ift. Schöpfung, Fall und Er:
löſung — dem naiven Berjtande der Gläubigen
ungezählter Jahrhunderte waren fie alle drei
zeitlich gefchichtliche Ereigniffe. Dem geläuterten
Nachdenten find ficherlich die erjteren beiden Ur:
daten der Welt, metaphyfifche legte Gegeben:
beiten, auf einander nicht zurüdführbar und nicht
jelber zeitlich, fondern in allem Seitlichen gegen:
wärtig.”) Die Erlöfung hingegen ift zwar dem $
nun einmal an die Zeit verhafteten Menjcen
gegeben in einer zeitlich gefchichtlichen Geftalt,
an die er fih halten fann und foll, aber an fió
ift fie auch überzeitlich, wie die beiden anderen.
(Es braucht deshalb >
— —
Sean
Sie ift der Aft, durch den der gefpaltene Wille |
wieder zur Einheit mit fidh felber gelangt, nun
IST SIIN S DADA
aber nicht mehr zur Einheit der Indifferenz, fon: 3
dern zur Einheit harmonifchen SJneinandergrei:
fens aller Teile. Das abgrundtiefe Geheimnis
des Weges diefer Erlöfung aber heißt: Opfer.
N
Nicht in dem menſchlich-allzumenſchlichen Sinne )
des Heidentums, das auch ins Chriftentum teil:
weife eindrang, als ob Gott zuerft eine Art von J.
Bezahlung haben müffe, damit er die Sünde aus F
tilgen könne, fondern in dem Sinne der Gelbit:
hingabe aus dienender Liebe.
Wer an diefe göttliche Liebe glaubt, der ift er
[öft, und wer fich felber in ihrem Sinne opfett,
wer, mit Chrifti Worten gejprochen: „fein Leben
verliert um meinetwillen, der wird es finden.”
Denn diefer Tod ift nah dem Glauben des
Chriftentums die Bürgfchaft für den Anteil an
einem ewigen, nicht der VBergänglichfeit unter:
worfenen Leben. Pflanze und Tier müffen
fih opfern, weil fie nicht anders fünnen, jedes
muß dem höheren Zwede dienen. „Was fie
wilfenlos find, fei du es wollend, das iſt's.“ Der
Menih, der feine Selbftfucht in der Liebe über E -
windet, nimmt eben damit teil an Der Melt:
erlöfung, und dies ift tatfächlich der einzige Weg: |
der ihn von allem Uebel innerlich frei madi,
auch von dem phyſiſchen. Es ift zugleich ſeine
höchſte Beſtimmung, die alles andere mM fid
>) Bgl. hierzu des Roſtocker Theologen Althaus Bud)
von den „leßten Dingen“.
i!
(Marc. 10, 45.) 1
ichließt, auh die „natürliche Moral”. Denn auh
alles Große in Wiſſenſchaft, Kunſt, Technit,
Wirtfchaft und was es immer fei, wird nur auf
dem Wege des Opfers erreicht. Der Denter, der
Künftler, der Erfinder, der Baterlandsverteidiger,
fie alle bezeugen, daß es wahr ift: feet Ihr nicht
das Leben ein, nie wird Euch das Leben gewonnen
fein. In diefem höchſten Ziel einigen fih alfo die
natürlichen mit den ſittlichen und religiöjen Auf:
gaben. Daß der eine feiner ganzen Anlage nah
mehr für den einen, der andere für den anderen
Zweig bejtimmt ift, braudyt dann feine Urfache
für einen Rangftreit mehr zu fein. „Es find
mancherlei Gaben, aber es ift ein Geift”. Eine
Ahnung davon, wie das fein fünnte und fein
jollte, haben wir im Auguft 1914 in Deutjchland
befommen. Da waren tatjächlih in weitem
Make alle natürlichen und geiftlihen Gaben mit
einander einig zur Erreichung eines gemein:
famen Bieles, der äußeren und inneren Stär-
tung des ſchwer bedrohten Vaterlandes. Jn
ſolcher Einigteit follten fie immer verbunden,
itatt wie fo oft in gegenjeitigem Argmohn und
Hader entzweit fein, dann trüge die Menjchheit
den auf fie fallenden Anteil wirklich Dazu bei,
daß „dein Reich fomme”.
Wir follen und mülfen uns allerdings flar
machen, daß damit nur u n fer menfdlicher An—
teil praftifch geklärt ift. Das Problem der Theo:
dizee, Das theoretijch überhaupt unlösbar ift, ver-
liert praktiſch für den Menfchen feine
Furchtbarkeit, wenn diefer fih in Gottes Liebe ge-
borgen weiß und damit zugleich in fich felber die
Selbftfudht im Grundfaß überwindet. Es ift aber
wiederum nichts als menfchliche Weberhebung,
— oft aud) bloße findliche Naivität —, wenn wir
meinen, damit fei das die ganze Welt be:
hberrichende Problem auch ſchon gelöft. Die
ErlöfungdesChriftentumsgiltden
Menſchen. Wie es mit der übrigen Schöp-
fung jteht, das. ift uns verborgen, und wir fünnen
daran aud) praktiſch fo gut wie nichts tun. Lebt:
lih wird wohl aud; eine tiefe Wahrheit in den
von der deutſchen Myſtik ebenfo wie von Hart:
mann und anderen gelehrten Auffaflung fteden,
daß der ganze MWeltenvorgang gemiljermaßen
eine Art von Eelbiterlöfung Gottes fei. So ent-
ichieden auch das Chriſtentum die peffimiftische
Wendung diefes Gedantens bei Hartmann oder
im Buddhismus ablehnen muß, fo wird es doch
andererjeits gerade wegen feines Gedanfens an
den mit Chriftus leidenden Gott die Möglichkeit
ins Auge faffen dürfen, daß vielleicht Gott feine
„vor aller Welt” (dies aber außerzeitlich genom-
men) bejtehende Seligfeit des Sichjelbftgenügens
= Dag Problem des Uebels in der Welt. ćč 51
mit der relativen Unjeligfeit diefes Weltlaufs
vertaufcht (wiederum muß man einen zeitlichen
Ausdruck gebrauchen, um Außerzeitliches anzu:
deuten), um dadurch die höhere Stufe der Selig-
teit, nämlich die freie Harmonie der Liebe einzu—
taufchen. Bon folchen Dingen läßt fidh felbft-
redend nur ftammelnd fprechen. Unfer an die
Zeit und den Raum verhaftetes Denken verfagt
da naturgemäß. Und nichts ift der wahren Re-
ligion abträglicher geweſen, als daß die Kirche
jo oft verjucht hat, diefe nie anders als in Sym-
bolen ausdrüdbaren Dinge in nüchternen, ſchein—
bar flaren, in Wirflichkeit unverftändlichen oder
nichtsfagenden Dogmen festlegen zu wollen. Wer
von ſolchen transcendent göttlichen Dingen das-
jenige erfahren will, was der Menfch davon er:
fahren kann, der muß fih niht an die Dogmatif,
D. i. den grübelnden Berjtand, fondern an die
religiöfe Kunſt wenden, am beiten an die Mufit,
die eher als alles andere mit ihrem Sneinander
von Konfonanzen und Difjonanzen den Ginn
des Weltfeins enthüllen tann. Wer bei Beetho-
ven allen Donnergroll der Schöpfung, alles
tieffte Leid, aber auch alle höchſte Luft des Da-
feins erlebt, wer dann bei Bach die Engel im
Himmel ihr „Sanctus, fanctus Dominus” an:
jtimmen hört und bei Brahms in alles mitreißen-
der Schlußfuge das himmlifche Loblied mitfingt:
„Herr, Du bift würdig, zu nehmen Preis und
Ehre und Dant und Ruhm. Denn Du baft alle
Dinge geſchaffen“, der ahnt von fern, weshalb
Gott nicht Gott allein blieb, fondern eine Welt
ſchuf. Und der ahnt auh, — er bildet fih nicht
ein, damit etwas Berftandesmäßiges zu willen —,
dah hinter dem Sterben des einzigen Menfchen,
der Gottes Willen wirklich reftlos erfüllte, mehr
itedt als nur ein Heldentod und ein leuchtendes
Beijpiel, vielmehr eine metaphyfifche Tiefe, die,
mögen die alten Dogmen längft überholt fein,
doch immer von neuem unfer Denten reizt,
darüber nachzugrübeln. Es zeigt fih darin ein
Weltgefeg, das Opfer heißt, und das Gott fidh
felber überall, nicht nur in diefem Tode für diefe
Menfchheit, erfüllt. Alles VBergängliche ift nur
ein Gleichnis, aber es ift auh ein Gleichnis,
es jtedt dahinter wirflich ein Emwiges und be-
londers jeder reinjte Typus eines Gefeßes oder
einer Idee läßt uns dies Ewige ahnen. In die-
jem Gehalt an Emwigem liegt die überwältigende
Kraft jolcher Einzelbeifpiele und Fälle. Wie tief
bat Plato gefehen, als er es zur „Idee“ des voll:
fommenen Gerechten gehörend erkannte, daß
derjelbe unschuldig verfolgt und hingerichtet mer:
den müljen! Und wenn niht Plato (falls die
betreffende Stele des „Timäus“ ſpätere Jnter-
52 2.2... Das Problem deg Uebels in ber Welt.
polation fein follte) dann die chriftlichen Philo-
fophen, die diefen Gedantengang fchufen, oder
Paulus, von dem fie dazu angeregt wurden
(Phil. 2). Es läßt fih auch heute nod) unendlich
tiefer Sinn aus den uns allen befannten Stel:
fen?) des Neuen Teftaments herausholen, der
weit von allem flachen Rationalismus der Auf:
färung weg zu legten unfagbaren Geheinniffen
fühbtt. Man muß nur dem modernen Menſchen,
der wahrlich längſt wieder eingefehen hat, dah
mit dem Verſtande nicht alles zu machen ift, nicht
sumuten, daß er unbejehens die alten Gedanken:
gänge nachwandeln foll, fondern ihm in jeiner
Sprache, d. h. in der der Philofophie und Meta-
phyfit unferer Zeit, davon reden. Gie ift
nicht flacher, eher tiefer als die vor 1800 Jahren; _
fie unterjcheidet fi) von Diefer aber vor allem
in dem einen Puntt, daß fie feine Konftruftionen
duldet, die mit dem erfahrungsmäßigen Willen
in Widerfpruch geraten. Gie ift, wie Hartmann
jagt, induktive Metaphyfit.
Die altkirchliche Dogmatik fann uns deshalb
nicht mehr genügen, weil fie in diefem Betracht
Die von unferer Erkenntnis aus zuläffigen
@renzen überfchreitet, an fih folgerichtig, denn
te gog damit nuir die Folgerungen aus ihrer
Grundthefe von der Zurüdführung alles Uebels
auf menſchliche Sünde. Diefer entjprechend ließ
fie mit der Erlöfung der Menſchen auch die der
Kreatur mitgefeßt fein (vgl. Röm. 8, 20/21). In
einer tief ergreifenden Dichtung zeigt ein neuerer
Dichter‘) wie es in Wahrheit damit fteht. Er
läßt Chriftus in den 40 Tagen der Verſuchungs—
geichichte in der Wüſte mit Lilith, der bekannten
mythologiichen „erjten Frau Adams” zufammen-
treffen, die ihn durch einen Trant die Stimmen
der Tiere verftehen lehrt. Nun muß er 3. B.
hören, wie drei Raben fih darüber beraten, wie
fie einen gewiſſen franten Hafen erbeuten wol:
len. Der eine will ihm die Augen aushaden,
der andere ihm den Bauch aufreißen ujw. Darauf
zieht dann das Drama jelber an uns vorüber.
Chriftus bittet, von all dem im Innerſten er-
Ichüttert, den Bater, ihm diefe Laft wieder ab-
zunehmen. Er wolle fein Leben der unglüd:
lihen und fündigen Menfchheit weihen, das
andere auch noch auf feine Seele zu nehmen,
gehe über feine Kraft. — Das ift nun natürlich
Dichtung, aber es liegt in ihr ein tiefer Sinn,
der wohl nicht erft ausdrüdlich entwidelt zu wer:
den braudt. Es ift Gottes Geheimnis, wie er auh
diefen Widerjpruch auflöfen wil. Wir müf-
* 3. B. 2. Kor. 5, 19; 30b. 3, 16.
9) W. Widmann, Der Heilige und die Tiere; Halle,
Niemeyer.
ſen uns damit begnügen, dem Gott,
der uns den Chriſtus gab, zuzu—
trauen, daß er audb hierfür Rat
weih, und unfererfeits nur alles zu vermeiden,
was die Uebel in der außermenfdlichen Schöp-
fung noh unnötig vergrößern könnte In
diefem Betracht hat die Chriftenheit ebenfalls
noch viel von Indien zu lernen. Nicht nur der
Tierſchutz, — natürlidd innerhalb vernünftiger
europäilcher Grenzen und niht in der abfurden
Vebertreibung des Anders, der fih fein ganzes
Keben dadurch Tahmlegen laßt —, fondern auch
der „Naturſchutz“ find, wie wir heute jehen, gott-
gewollte menſchliche Aufgaben. Ein Verfahren
wie 3. B. das gegen die nordamerifanilchen Büf—
fel ift nit nur „Ichädlih” im ökonomiſchen
Sinne, es ift Sünde gegen den Schöpfer, der
Leben aud) in diefer Form wollte. Wenn von
ſolchen Forderungen nichts im Neuen Teftament
fteht, fo beweiſt das niht das Geringite gegen
ihre Geltung. Wie hätten die Berfafjer jener
Schriften alle einzelnen derartigen Aufgaben
vorausfehen und würdigen können? Unjere
Sache ift es, da, wo fie eine Yüde ließen, unferer-
feits uns über Gottes Willen klar zu werden,
vielleicht auch einmal zu erkennen, daß fie in
diefem oder jenem Punkt felber noch nicht die
volle Wahrheit hatten, und fo unfererjeits „Das
Amt zu führen des Neuen Tejtaments, nicht des
Buchftabens, fondern des Beiftes”. Die Mög-
lichkeiten und die Lebenskräfte des Chriftentums
find noch lange nicht erjchöpft, wie viele wähnen,
denen der Blid auf die legten drei Jahrhunderte
mit ihrer zunehmenden Spannung zwiſchen
Chriftentum und Kultur die Augen blendet. Es
bedarf nur einer der Wandlungen, die das
Chriftentum nun fon fo oft durchgemacht hat,
um unverfehens eine Fülle neuer Quellen Iprin-
gen zu laffen, die vielleicht wieder auf Jahr:
hunderte hinaus Leben und Kraft fpenden tön-
nen. Daß mir zurzeit auf einem toten Punkte
find, fühlt jeder, aber auh wohl, daß alles auf
einen neuen großen Anfang wartet. Der dog:
matifhe Kern eines ſolchen Neuen
wird, das ift meine Ueberzeugung, eine
gründliche Revifion der Lebre vom
lebel in der Welt fein, die prat-
tifhe Folge aber eine neue Ver-
bindung von Religion und Rultur.
Darüber zum Schluß noh ein paar offene
Worte. Eine Religion, der alles natürliche Uebel
lediglih Folge des fittlihen ift und die dem-
zufolge auch ihre Ethit ausſchließlich auf
die innere Erlöjung abitellt, fann notwendig in
Bezug auf das äußere Uebel, das ja dann nur
Das Problem des Uebels in der Welt. l | 53
Gottes Strafe für die Sünde oder ein Er⸗
ziehungsmittel iſt. nicht zu einer entſchloſſenen
Verneinung kommen, ſondern wird ſtets dazu
neigen, dasſelbe als „gottgewollt“ (zu unſerer
Warnung und Beſſerung) mit beinahe ſympathi⸗
ſchen Gefühlen anzuſehen, die natürlichen Be—
ſtrebungen auf ſeine Beſeitigung zu belächeln,
den Glauben an die Möglichkeit ſolcher Beſeiti—
gung als menſchliche Ueberhebung und Aufleh—
nung gegen die göttliche Erziehung zu betrachten
und gar in natürlichen Verſuchen, fittliche und
fogiale Zuftände zu beffern, die grundlegende
Irrlehre von der an fi guten und edlen
Menfchennatur (firchengefchichtlich: den Pelagia-
nismus) zu wittern. Niemand tann beftreiten,
daß foldhe Stimmungen weithin auch im Chri-
ftentum unferer Tage noh berrfhen. Wenn
troßdem auf der anderen Geite gerade das
Chriftentum einen hervorragenden Anteil an der
Abftellung einer ganzen Reihe natürlicher Uebel
hat, wenn es 3. B. vor allem in der Kranten-
und Hilflofenfürforge bahnbrechend gewirkt hat,
jo widerſpricht das dem eben Gefagten nicht.
Denn das Chriftentum motiviert diefe Art der
Befämpfung natürlicher Uebel auf feine Weife,
nämlid als fittlicye Qiebespflicht des Menfchen
gegen den Menfchen; anders gefagt: als Be-
lätigung der durch die innere Umwandlung er-
zeugten Gejinnung des Chriften. — Gerade dies
ift es aber nun befanntlid), was dem Chriften-
tum in unferer Beit fo außerordentlich viel Un-
feindung zugezogen hat, vornehmlich bei den
breiten Volksſchichten. Der Vorwurf, der hier
immer wieder erhoben wird, ift diefer, daB man
nicht Almoſen, fondern Gerechtigkeit, nicht
Liebesgaben, fondern tatkräftige Mithilfe an der
Befeitigung unerträglicher Zuftände erwarte.
Diefer Vorwurf ift, wie wir von unferem Stand-
puntte aus jagen müffen, zu einem gemiffen
Teil berechtigt, und hier fommt nun die eminent
praftifhe Bedeutung unjerer fcheinbar fo ab-
ftraften Erörterung zutage. Denn auf unferem
Standpunfte müffen wir zugeben, daß in der
Tat die übliche chriftliche Begründung all jener
lozialen Tätigkeiten unzulänglid; ift. Sie dürfen
nicht bloß fozufagen von Gnaden der indivi-
duellen Moral oder „Heiligung” leben, fondern
verlangen, um ihrer jelbjt willen gewertet zu
werden. Der Gott, der ridhtet und
wertet, der Bott des zweiten Ar—
titels, rihtet und wertet nidht nur
die Sünde, fondern aud das phy-
fiſche Uebel. Das legtere für „gott-
gewollt” einfah hbinzunehmen, ift
genau fo gottlos, wie die Sünde
einfadh als „gottgemwollt”“ gelten zu
laffen. Alles Uebel ift ein Nidt-
feinfollendes, einerlei ob phyjfi-
ihes oder moralifdhes. Und darum ift
es ganz ebenjo fittliche Pflicht an fih, Krant-
heiten gu heilen, wie Sünden zu befämpfen,
Menſchen zu menfchenwürdigen Dafeinsbedin-
gungen zu verhelfen, wie ihnen von böfen Neis
gungen und Trieben loszuhelfen. Jedes ohne
das andere ift unvollftändig und nur die halbe
Wahrheit. Es ift wohl überflüffig, nog näher
auszuführen, was eine entjchlofjene Anertennung
diefer Süße für die Entwidlung eines neuen
hriftlichen Volkslebens insbefondere bei uns in
Deutſchland bedeuten würde. Man fage nidt,
es fei doch Schließlich ganz einerlei, ob man 3. B.
die Kranfenheilung oder dergleichen aus der
Forderung der allgemeinen Menfchenliebe oder
aus der des Kampfes gegen das phyfifhe Uebel
degriinde. Die Hauptfache fei, daß fie gefchehe.
Es ift nicht einerlei, ob die Religion neben der
Kultur herläuft, was wahrhaftig viele Chriften
fchon für einen Sdealzuftand halten, oder ob fie
diefelbe durchdringt und adelt, wie das bei allen
gefunden und jugendfrifchen Völkern der Fall ift.
Es ijt eine traurige Berzichtpolitit, wenn man
Xe Religion dahin treiben will, daß fie die Kul-
tur fidh ſelber überläßt und froh fein foll, falls
man fie nur in ihrem reife in Rube läßt. Re-
ligion ift entweder alles oder nidhts. Niemand
tann zween Herren dienen, auch ein Bolt als
Ganzes niht. Entweder man hat nur eins von
beiden, Religion oder Kultur, oder man hat
beide als eines, als Ineinander, d. h. eine von
Religion bejeelte und durchgeiftigte Kultur, wie
das v. Soden in feinem vortrefflicden Aufſatz
jo ſchön am Schluß ausgeführt hat. Jn unferem
gegenwärtigen Zuftande laufen zumeift die na-
türliden und die fittlichsreligiöfen Aufgaben des
Menfchen völlig unverbunden nebeneinander her;
das ift auh bei unzähligen guten Chriften jhon
fo zur Gewohnheit geworden, daß fie gar nicht
mehr merken, wie unfinnig diefer Zuftand ge-
rade vom Standpunfte ihrer Religion eigentlich
ift. Seht ihr denn nicht mehr — möchte man
jolhen zurufen —, daß es derfelbe Gott ift, der
euch ſowohl die natürlichen Dafeinsaufgaben wie
die ſittlichen Ziele fegt? Iſt denn erträglich, dab
zwiſchen dem erjten und dem zweiten Artikel in
eurem Katechismus ein dider Trennungsitrid)
mitten hindurchgeht? Jefus hat mindeftens die
Hälfte feiner Zeit und Arbeitskraft auf die Lin-
derung phyſiſcher Leiden verwendet. Man tue
doh nicht immer fo, als ob er das immer und
überall nur getan hätte, um dadurch indirekt
54
„Seelen zu retten“. Das hat er auch gewollt, —
jelbftverftändlicd —, es war ihm ficher auch nod
wichtiger, als das andere. Aber dies andere hat
er ganz ficherlich zunächſt auch um feiner ſelbſt
willen gewollt; helfen hat er wollen, ganz ein-
fah und fchlicht: helfen, Uebel abjtellen, dem
was fein follte, aber nicht ift, auch hier zum Da⸗
fein verhelfen. Aus Menjcyenliebe? Gelbitver-
ftändlih! Auch wir follen alles, was wir an
anderen und für andere tun, „aus Menfchen-
liebe” tun. Wer wollte unfere barmherzigen
Schweſtern entbehren? Aber wer ift auf der
anderen Seite fo töricht, von dem mediginilchen
Forſcher oder dem Entdeder fremder Erbteile
oder dem Künftler zu verlangen, er folle das,
was er tut, auh „aus Menfchenliebe” tun? Hier
find wir in Gebieten, wo der objeltive Zweck das
Wort hat, und der hat genau dasſelbe Recht von
Gottes Standpunft aus wie der fubjeltive, ja
wer weiß, vielleicht in vielen Fällen ein größeres.
Berüdfichtigen wir das, fo wird es uns mit
einem Male tlar werden, daß auh Tragen, wie
3. B. die der Raffenhygiene und Bevölterungs-
politi? vom Standpuntfte der Religion aus feines-
w:gs immer fo rein fubjettiviftifh behandelt
werden dürften, wie das zumeift gejchieht. Die
chriftlich orientierten Erörterungen diefer Fragen
kommen zumeift nicht über das Gebiet der reinen
individuellen Moral hinaus. Daß es neben die-
fer das ebenfo berechtigte Intereſſe der Gejamt:
moral und — der Gefamtgejundheit gibt, igno-
riert man oft genug völlig. Man hat 3. B. in
neuerer Seit, feit man auf die Wirkung der
natürlichen Auslefe durch Darwin aufmerffam
geworden ift, dem Chriftentum oft vorgeworfen,
daß es durch feine unterfchiedslofe Pflege alles
Schwachen und Kranten, natürlich unbeabfichtigt,
die Volksgefundheit tatſächlich ſtark zum Ungün-
ftigen beeinfluffe, da es „negative Ausleſe“ be-
treibe oder mindeftens die pofitive Ausleſe, das
Ueberleben der Tüdhtigften, hemme. Jn der Tat
ijt nicht zu leugnen, daß mindeſtens diefe Gefahr
beteht, das Chriſtentum alfo alle Urfache hätte,
wenn es denn feine grundfäßliche Forderung des
Schußes gerade der Schwachen nicht aufgeben
will und fann, doh gleichz:itig fiġh mit großem
Ernft darum zu fümmern, durch weldye Mitte!
den üblen Folgen folder an fih guten Beftre-
bungen vorgebeugt werden fann. Wer di: Ge:
fellfichaft mit der Erhaltung und liebevollen Pflege
ungezäblter, ohne diefe zum Untergange verur-
teilter Epileptifcher, Trunffüchtiger, Schwaächſin—
nig:r, moralijch erblidy Belafteter uſw. beglüden
will, hat auch die Pflicht und Schuldigfeit, da-
rüber nachzudenten, wie diefe @ejellichaft vor
Das Problem des \lebels in der Welt.
den bedrohlihen Folgen foler grundfäglicen
Erhaltungspolitit zu bewahren ift. Ganz ähnlid
liegt die Sache. auch bei zahlloſen anderen Fra:
gen, 3. B. der Frage der Gleichberedhtigung der `
Menfchenraffen, der Bevölterungspermehrung,
der Frage des Krieges u.a. m. Sch muß es mir
leider verfagen, nicht nur aus äußeren Gründen,
fondern aud) aus inneren, an diefer Stelle hier:
auf näher einzugehen. Auf dem im vorigen dar:
gelegten und begründeten Standpunft ergibt fid
zu allen diefen Fragen eine durchaus eindeutige
Stellungnahme im Sinne eines vernünftigen
Ausgleichs zwilchen der Forderung des religiöfen
deals und der nüchternen Erwägung der realen
Verhältniſſe. Alle diefe Fragen find im übrigen
nur Teilfragen des großen Komplexes „Religion
und Kultur”, auf den wir in anderem Zuſam—
menhange noch einmal zurüdtommen müffen.
Nur auf eine Seite der Sade fei hier zum
Schluß kurz eingegangen, weil fie mit einem
Einmande zufammenhängt, den man gegen die
ganze hier gegebene Darftellung vielleicht von
hriftlicher Seite aus erheben könnte. Man wird
mich nämlich vielleicht auf die Worte der Berg-
predigt verweilen, daB wir „dem Uebel nid
widerftreben follen”. Es heißt aber m. ©., den
Sinn diefer Worte Jefu völlig mißverjtehen,
wenn man aus ihnen herauslefen will, Jefus -
habe geboten, feine Jünger jollten in der Well
ruhig alles Uebel fih auswirken laffen und ihm
nur durch die innere Liebesgefinnung entgegen:
zutreten fuchen. Soldye Folgerungen, welde
Tolftoi und viele andere daraus gezogen haben,
fcheitern nicht nur an der klaren Tatfache, dab
Jefus feinerfeits keineswegs alles Vebel hat
gehen laffen, wie es ging (man denfe an die
Tempelreinigung und an feine Heilungen), fon:
dern auh daran, daß fie die Worte aus dem
Zufammenhang herausreißen, in dem fie ge
ſprochen find. Einerlei, wie weit nun die „Berg:
predigt” auf freier Kombination ifoliert über:
(ieferter Sprüche durch den Evangeliften beruht,
foviel fcheint doh aus dem ganzen Zufanımen:
hange tlar, daß fidh Jefus mit den fraglicen
Worten auf die innere Gefinnung der einzelnen
Menfchen beziehen wollte, die feine Jünger fein
wollen. Der ganze Abfchnitt handelt von dem
wahren Sinne des „Gejeßes“, den Jefus in das
Innere verlegen will. Jn diefem. Zufammen:
bang: fann der oft zitiert Ausſpruch von dem
rechten und linfen Baden ufw. nur befagen, DaB
die Gefinnung eines Jefusjüngers gegen feine
Mitmenfchen eine fo liebevolle fein folfe, daß er:
auch wenn ihm Unrecht zugefügt wird, nicht dem
Wunfch nah Radhe und Vergeltung Raum gebe,
Das Problem bes- Uebels in der Weit. 55
fondern feinen Gegner durch Liebe innerlich zu
überwinden tradte. Mit diefer Gefinnung hat
das Ehriftentum tatfächlich die Welt erobert, und
zwar obwohl fie oft genug in die häßlichen Berr-
bilder kriechender Unterwürfigfeit ausgeartet ift,
die in fo vielen Erzählungen, 3. B. in Felix
Dahns Romanen faritiert ift. Angefichts von
Menſchen, die wirklich die innere Größe haben,
die Jefus hier vorausfeßt, entfinkt tatſächlich dem
Böfen jehr oft am Ende der Mut, Böfes zu tun.
Allein damit ift nicht im geringjten gejagt, daß
nun auch, abgejehen von feinen eigenen perjön:
lichen Angelegenheiten, der Jünger Jefu alles
Böſe fih ungehemmt auswirken laffen follte, daß
er fih verfolgter Unfchuld nicht, nötigenfalls auch
mit Gewalt, annehmen, daß er Verbrecher nicht
beftrafen helfen, daß er der blutigen und rohen
Gemalttat nur mit frommen Reden entgegen:
treten folle, womöglidy gar in Fällen, wo der
Ueberfallene feinem Schuge ausdrüdlich anver:
traut war. Ein folches Berhalten ift fein Chri-
ftentum, fondern entweder Feigheit oder Ber-
rüdtheit, und es gar vom Staate zu fordern,
heißt: die Guten den Schlechten wehrlos aus»
liefern. Hier gilt vielmehr gerade der umge-
fehrte Sag: ihr follt widerjtreben allem Uebel.
Der lUnterfchied liegt darin, daß das Uebel in
diefem Falle für den Handelnden reines Objelt
ift, während er in dem von Jefus gemeinten
galle felber als Subjekt daran beteiligt ift. In
letterem Falle machen Rache und Bergeltung als
jubjeftive Wünfche das Uebel noh ärger, im
erften dagegen würde gerade umgekehrt die Ub-
lehnung alles „Widerftrebens” das Uebel ver-
größern. Auch die Bergpredigt denkt alfo m. €.
nicht daran, das Uebel als objektive Tatjache zu
fanttionieren. Im Gegenteil, man tann fagen,
dah der in Rede ftehende Ausſpruch gerade den
3wed hat, diefes objeftive Uebel zu mindern, in:
dem er offenbar vorausjeßt, daß das Streben
nach perjönliher Rahe das Uebel feineswegs
aus der Welt jchafft, fondern nur ärger madıt
(man dente 3. B. an die furdhtbare Blutrache).
Er will alfo gerade einen richtigeren Weg zur
Befämpfung des Uebels zeigen und zwar den,
ten der einzelne für fich angefichts feiner perfön-
lihen Intereſſen gehen foll. Daraus aber eine
Univerfalvorfchrift auch für die Gejamtethit, d. h.
für das richtige Verhalten, 3. B. des Staates
gegenüber feinen Untertanen oder der Staaten
untereinander zu machen heißt ein an fih ge:
fundes Prinzip durch Uebertreibung zu Tode
hegen. Für die Fragen der Gejamtethit fommt
der Geſichtspunkt perfönlicher Rachegelüfte ja gar
nicht in Betracht. Hier handelt es fih einzig
darum, durch welche Verhaltungsweifen tatſäch⸗
lid das Uebel als objeftive Größe auf ein Mini-
mum zu reduzieren ift. Dies nah allen Seiten
hin aufs forgfältigfte zu überlegen, die Erfahrun-
gen der Jahrhunderte fih gunuße zu machen und
danach die Geſetzgebung, die internationalen Be-
ziehungen ufw. zu regeln, ift in diefem Falle die
Forderung auch der Religion, denn dazu hat
Gott dem Menfchen den Berftand gegeben.
Diefe Säge richten fidh, wie leicht erfichtlich,
niht nur gegen ſolche Strömungen, welde, wie
es feit Beginn des Chriftentums geſchehen ift,
aus der Bergpredigt und dem Chriftentum über:
haupt nicht nur die Verwerfung des Krieges als
eines Uebels, fondern auh die Verwerfung des
Kriegsdienftes für den einzelnen folgern, wie
überhaupt gegen jeden Nichts-als-Bazifismus im
bürgerlichen oder internationalen Leben, der
ichließlich tatenlos zufehen will, wenn der Un-
iyuldige vergewaltigt und das eigene Bolt von
einem radjgierigen und graufamen Feinde ver:
nitet wird. Gie richten fih vielmehr aud)
gegen die nicht feltenen Stimmen auf der ent-
gegengefeßten Seite, die im Kriege eine bejondere
Art göttlicher Ordnung zu fehen glauben und das
Verbot der Bergpredigt dahin auslegen, daB es
Irrtum und Sünde fei, an der Abichaffung der
Kriege durch internationale Verträge zu arbeiten.
Bon unferem Standpuntt aus find beide Extreme
glei falfcy und verderblid. Wir folgern —
ganz abgefehen von einzelnen aus dem Zufam:
menhang herausgeriffenen Ausſprüchen, ſtamm—
ten ſie auch von der höchſten religiöſen Autorität
ſelber — aus den Grundlagen unſerer ganzen
Erörterung, daß beides: der klare Kampf gegen
alles objektive Uebel und die ebenſo klare Ein—
ſicht in die einmal vorhandene Wirklichkeit des
Uebels ganz gleich wichtig iſt. Wir folgern, daß
deshalb von ſeiten der Religion nicht nur alles
getan werde, um dem Uebel, hier insbeſondere
dem Kriege, entgegenzuarbeiten, ſondern daß
durch ſie auch der Glaube geſtärkt werde, daß
ſolche Arbeit nicht vergeblich ſei. Es iſt auf
unſerem Standpunfte nicht chriſtlich, ſondern un—
chriſtlich gedacht, wenn man mit hochmütigem
Naſerümpfen die Beſtrebungen auf Herbeifüh—
rung internationaler Verträge lächerlich macht,
da die Menſchheit nun einmal ſündig und daher
zu gegenſeitiger Bekämpfung verdammt ſei. Wir
folgern aber auch umgekehrt, daß pazifiſtiſche
Ideologie nicht blind mache für das, was wirk—
lich iſt, und ein grauſam geknechtetes Volk nicht
noch weiter in die Knechtſchaft hineintreibe. Es
ift nicht chriſtlich, ſondern unchriſtlich, wenn man
den Schafen predigt, daß ſie die Wölfe in Ruhe
56 Aftronomie und Weltanſchauung bei griechiſchen Philoſophen.
laſſen follen, wenn man die Strafgeſetze ab-
ſchaffen will, um die Verbrecherinſtinkte nicht zu
reizen, wenn man einem vergewaltigten Volke
den Willen zum Widerſtande gegen die Gemalt-
tat ausredet. Die Religion, die wir hier meinen, _
glaubt an das Gute, aber ift darum nicht blind
für das Böfe. Gie ift ein unauflösbares nein:
ander von Optimismus und Peljimismus. Gie
fieht die Uebel in ihrer ganzen nadten Häßlich—
teit, aber fie fieht fie, um fie zu überwinden, denn
fie glaubt an einen Gott, der größer ift als das
Uebel. Nur eine ſolche Religion verbürgt einem
Menfchen und einem Volke die Zukunft.
Aſtronomie und Weltanſchauung bei griechffchen Philo
fophen. Bon Dr. Paul Meth. — (Schluß)
Platons mathematifche Genialität blieb nicht
auf der Stufe ftehen, die von den Pythagoräern
bereits ertlommen war. Er foll im höheren
Alter erfannt haben, daß die Darftellung der
Himmelsbewegungen einfacher ift, wenn man
die Sonne zu ihrem Mittelpunft macht, als
wenn man fie um die Erde gehen läßt. Er
warnte nämlidy vor einer falfchen Auffaffung
der Bahnen von Sonne und Mond. Das legt
die Vermutung nahe, die eben ausgeſprochen
wurde. Wenn Platon wirklich fpäter im engſten
Kreife gelehrt hat, daß fih die Planeten um die
Sonne bewegen, — eine aftronomifche Folge-
rung aus dem metaphyfiichen Vorrang, weiden
die Sonne als Sinnbild des höchjten Guten bei
ihm fchon befaß — fo fielen diefe Gedanken dod)
auf unfruchtbaren Boden. Die Beit war für
folche Borjtellungen, die jo hohe Anforderungen
an die geometrijche Abſtraktion ftellen, durch
aus nicht reif, und felbft Platons bedeutendfter
Schüler, Ariftoteles aus Stageira, war niht
imstande, den feften Boden der Erde zu verlaffen
und das Planetenigftem in der Sonne zu ver-
antern. Daß der Schüler feinem Lehrer in die-
fen fchwierigen Gedanken niht zu folgen ver:
mochte, liegt wohl vor allem an dem Mangel an
gründlichen Kenntniffen des Ariftoteles auf dem
Gebiete der Mathematit und Aſtronomie; gibt
er doch freimütig zu, daß er fich in folchen Fragen
auf „Kenner“ berufen müffe, und daß er fidh fein
eigenes Urteil darüber bilden könne. Obwohl
die Aftronomie des Ariftoteles die Zufammenftel:
lung eines bloßen Liebhabers der Sternkunde ift,
hat fie doch auf die fpätere Entwidlung oder
rihtiger „Hemmung“ der wiljenjchaftlichen Him-
melstunde fo ſtark eingewirft, daß man fie nicht
übergehen fann. Tür welchen Gemwährsmann
follte fih Ariftoteles entjcheiden, wenn fidh in einer
aftronomifchen Frage die Anſichten feindlich
gegenüberſtanden? Maßgebend war dann für
ihn, wie fidh die eine oder andere ajtronomijche
Anſchauung feinen philofophtihen Gedanken:
A
— — —
gängen einfügte. Darum können wir die Aſtro⸗
nomie des Stagiriten nicht wie die Meinungs
äußerung eines Fachmannes werten, feine
Himmelslehre ift vielmehr ein Ausdrud feiner
Weltanſchauung. Der Kosmos des Ari:
ftoteles muß als Verkörperung jenes geiftigen
MWeltbildes gefehen werden, das durd anderthalb
SJahrtaufende in der chriftlichen Scholaftit nad-
gewirkt hat. Das aftronomifche Weltbild des
Ariftoteles wächſt logiſch aus zwei Grundjäßen
hervor, die höchſt bezeichnend für die geiftige Ein-
ftellung ihres Urhebers find.
1. Die Dinge des Himmels find grundfäßlid)
der Urt nah, von allen Dingen diefer Erde ver
ichieden.
2. Hinter der Firfterniphäre thront der „erite
Beweger“, der alle Bewegungen des Kosmos
im Umfchwung erhält.
Diefe beiden Säße find fo ausgefprochen „theo:
logiſch“, daß es fein Wunder ift, wenn fie auf
die Scholaftit des Mittelalters einen ftart
werbenden Eindrud machten. Es ift die mit
der Lebensverneinung weſensverwandte, edt
„fromme“ Naturbetrachtung, in der die Erde
Ichlechter ift als das ganze übrige All. Dasjelbe
will der erfte Sat ausdrüden. Man fragt fid
nur, warum die Erde dann vom „erjten Be
weger“ — das ift eben Gott, der Schöpfer des
Kosmos, — zum Mittelpunft gemacht wird, um
den fih alle göttlichen oder halb göttlichen Ge
ftirne, geheftet an ihre Sphären, ſchwingen müſ—
fen. In der ariftotelifchen Aſtronomie bleibt die
fer Widerfpruch unaufgeflärt. Hier gehört als
Ergänzung zur Kosmologie und Weltanjchauung
des Stagiriten geradezu das Chrijtentum, das
den Bewohnern des Weltmittelpunttes, den
Menfchen, eine jenfeitige Beftimmung gegeben
hat. Dadurch wird der Menſch über die Natur
binausgehoben: Die Welt ift für ihn da, er
nimmt eine bevorzugte Stellung im Kosmos eth.
Damit fchließt fih eigentlich erft die erwähnte
Lücke im Gedantengange des Ariftoteles. — —
shna
Aftronomie und Weltanſchauung bei griechiichen Phifofophen. 57
Bu dem erften der beiden obigen Grundfäße
gehört als ergänzende Ausführung die Lehre,
daB das Schwere, Unedle, Vergängliche nad)
unten, d. h. zur Erde, ftrebe, das Leichte, der
Aether, das Reine, Unvergängliche nach oben.
Jedes Ding bat feiner Natur nach einen bes
ſtimmten Ort im Weltall, den es auffudht. Se
nahdem in den Dingen eine nähere oder fernere
Berwandtichaft zum Göttlichen, aljo Unvergäng-
lichen, fih auswirtt, find fie dem Sig des „eriten
Bewegers“ und damit der äußerſten Weltiphäre
näher oder ferner. Danach find die Firiterne
das Reinjte, fie befunden ihre Unvergänglichkeit
auh am deutlichjten Durch die unveränderliche
Geftalt der Sternbilder. Ariftoteles tadelt die
Anhänger der Atomlehre, wie Demofritos, weil
fie lehren, daß die Tirfterne aus demjelben
Material wie die Erde beftünden. Dieje Anficht
glaubt Ariftoteles gar nicht beffer entkräften zu
tönnen als durh den Vorwurf, daß feine Geg-
ner dadurch den Unterfchied zwifchen „vergäng>
lich“ und „unvergänglich“ verwifchen. Dieſe Cnt-
fcheidung ſteht alfo für ihn als Forderung außer
jeder Erörterung; mit ihr fchlägt er jede andere
Lehre aus dem Felde. Nichts tann deutlicher
zeigen, daß ihm die Aſtronomie nur ein Beilfpiel
ift, feine Weltanfhauung ins rechte Licht zu
fegen, nicht eine Wiffenfchaft, die ihre Behaup-
tungen vorurteilsfrei und felbjtändig zu begrün-
den hat. Die jpätere Entwidlung der Aftronomie
hat dem Stagiriten Unrecht gegeben. Seine An-
fiht über die Phyfit des Kosmos mußte ganz
verworfen werden. À?
Einen Ausgleich) zwifchen der ariftotelifchen
und der atomiſtiſchen Anfchauung, die auch die
heutige ift, gibt es in diefer Frage niht. Denn
Ariftoteles „erklärt“ den Rosmos, indem er alles
in die Unterfcheidung: „hie Erde, hie Weltall”
hineinpreßt. Der gegnerifche Standpuntt findet
die „Erflärung” der Beobachtungen an den Ge-
ftirnen gerade dadurch, daß er vergleichbare Cr-
iheinungen mit den irdifchen Vorgängen auf-
juht und die auf der Erde entdedten phyfitali-
jhen Gefege auf das Weltall ausdehnt: Man
braucht dabei nur an die Speftralanalyfe zu
denken. Ariftoteles’ Erzählungen find ein Selbft-
betrug, denn fie „erflären” die Fernen des Welt-
alls durch etwas ganz Unbekanntes, durch die
Untergötter, welche auf den Gejtirnen ihren Gig
haben. Die große Ordnung, welche von dem
oberjten Herrſcher ausgeht, hat zur Folge, dah.
alle Bewegungen im Kosmos in Kreifen vor fidh
gehen müflen. Da alle Bewegungen der Ge-
ftirne vom „erften Beweger” von dem Umkreis
aus den inneren Sphären mitgeteilt werden,
mußte Ariftoteles eine befondere Vorrichtung
für feinen Kosmos erfinnen, der verhindert, daB
eine innere Sphäre in die Bewegung der benad):
barten äußeren hineingeriffen wird. Er er-
fann deshalb die zurüdrollenden Räder zwiſchen
den Sphären. Diefe Räder hoben die Bewegung
der Außeren Kugel auf, fo daß die innere dann
ihre eigene Bewegung erhalten fonnte.
Platon fchrieb dem Weltall Vergäng—
lichkeit zu; denn alles Entjtandene fei auh
vergängli. Daß dagegen die Unvergäng>-
lich keit des Firmaments zu den Vorausſetzun⸗
gen bei Ariſtoteles gehörte, ſahen wir ſchon.
Er beruft ſich hierbei noch auf die uralten Be⸗
obachtungen der Chaldäer und Wegypter, aus
denen fih feine Veränderungen unter den Stern-
bildern erfennen ließen. Cs gäbe alfo teine
tosmifchen Perioden, wie Platon will, fein Welt-
jahr. Der unveränderliche Sternhimmel muß
von Ewigkeit her gewefen fein, denn nur linge:
ihaffenes tann ohne Veränderung fein.
Das find in großen Zügen die aftronomifchen
Lehren des Ariftoteles, die zwangsläufig aus den
vorangeftellten naturphiloſophiſchen Grundſätzen
folgen. Um aber dies Weltbild abzuſchließen,
müſſen wir uns noch erinnern, daß Ariſtoteles
die Exiſtenz des leeren Raumes leugnete, eine
Lehre, die noch lange als „horror vacui” (Angft
vor dem Leeren) in den Köpfen der Natur-
forfcher Verwirrung anrichtete. Uns interefjieren
hier nicht die ſpitzfindigen Schlüffe, durch die
Ariftoteles zu feiner Behauptung tam. Be-
achtenswert find feine aſtronomiſchen Schluß»
folgerungen für uns: Da es feinen Raum ohne
Materie geben foll, fo muß das Weltall dort zu
Ende fein, wo die Materie aufhört; das ift an
der Grenze der Firfterniphäre. Die Gottheit
außerhalb ift raum- und zeitlos. —
Das aftronomifche Weltbild des Ariftoteles
verblaßt febr, wenn man es gegen das Platons,
feines großen Lehrers, hält. Den athenilchen
Dichterphilofophen treibt über das damals noch
dürftige Tatfachenmaterial der SHimmelstunde
eine großzügige geiltige Anfchauungstraft hin
aus. Das Streben, ein mweltbeherrichendes Et-
was, das fih als Maß und Schönheit offenbart,
durch Ueberlegungen über die Grundlage aller
Erſcheinungen zu erfaflen, führt ihn bis an bie
Grenze der Weltauffaffung mit der Sonne als
Mittelpunft empor. Er fieht Welten entftehen
und vergehen, ein glüdliches Sicheinfühlen in
den Kosmos maht ihn dabei frei von dem
augenblidlichen Eindrud der Unveränderlichkeit
des Weltalls. Die arijtotelifhe Welt dagegen
ftellt einen mit ſchwerfälligen Bewegungsgliedern
58 Aftronomie und Weltanfhauung bei griechiſchen Phifofophen.
überladenen Mechanismus dar. Der Mangel
an Entwidlungsmöglidjteiten des Ganzen. macht
fein Bild des Kosmos reiglos, als wäre es vor-
ausbeftimmt, in die |pätere Philoſophie religiöjer
MWeltüberdrüfligteit aufgenommen zu werden.
Sein Kosmos ift Ausdrud für feine Geijtesein-
ftellung, wie der von Schönheit und Leben er-
füllte Kosmos des Platon Ausdrud ift für diefen
athenifchen Philofophen. Des Stagiriten Spal-
tung der Welt in die fchlechte Erde und den voll-
fommenen Himmel mußte die Zuftimmung der
Lebensperneiner finden; dagegen ift der pla-
tonijche Kosmos das Symbol einer alles einen»
den Weltanfchauung, die zwiſchen Weltichöpfer
und Geſchöpf feine grundfäßlichen Unterjchiede
fieht, fondern durch die Idee des Guten alle Teile
miteinander verbindet und fie in der Weltjeele
als in einer höheren Einheit aufgehen läßt. Die
Unendlichkeit der Welt haben beide Philoſophen
verneint: Platon, weil die Welt das Maß ver-
förpert und die Unendlichkeit für den Griechen
ein „Un“maß ift, das in dies Weltbild nicht hin-
einpaßt. Die Unendlichkeit ift nicht mehr durch
Zahlen und Verhältniſſe zu faffen. Hier liegt
mehr eine ideelle Qeugnung der Unendlichkeit
vor, bei Ariftoteles hingegen eine materielle
Leugnung, wie fchon ausgeführt wurde. Daß die
Welt [ehr groß fei im Bergleidy zur Erde, be-
tont der Stagirit allerdings. Troßdem hat man
bei feiner Kosmologie das Gefühl, in einer engen
Höhle eingefchloffen zu fein, weil er das Bor-
handenfein des leeren Raumes fo fchroff ablehnt.
Den entgegengefeßten Standpuntft in der Trage
der Unendlichkeit der Welt nahmen die Atomi-
ften ein, deren Hauptoertreter, Demofritos
aus Abdera, Platons Zeitgenoſſe war. Auf unfe-
rem bisherigen Gang durch Die griechiſche Philo-
jophie fanden wir in allen Lehren vom Kosmos
ein ftartes metaphyfifches Clement vor. Dies
fehlt bei Demofrit, und darum ijt feine Dar:
ftelfung des Kosmos diejenige, die fpäter der
mathematifhen Rechnung unterworfen werden
tonnte. Denn er und feine Anhänger brauchen
nur die Begriffe Raum, Zeit und Materie, um
die Vorgänge im AU zu beichreiben; mit den:
jelben Begriffen arbeitet auch die Galilei-New—
tonſche Mechanit. Eine befondere „Aftronomie“
hebt fih aus ihren Lehren niht heraus. Die
Eigenart ihrer atomiſtiſchen Weltauffaffung tritt
erft in den legten und jchwerften Frageftellungen
der Weltentwidlungslehre zu Tage, nämlich in
der bedeutfamen Löfung, die das Problem nad
dem Woher und Wohin des Weltalls findet. Die
Entwidlung des BWeltalls wird von der Platon-
lehre aus begriffen und bejchrieben. Der Blig
in den fleinften Ausjchnitt der Welt offenbart
dem Utomiften das Weltengeheimnis. Nach der
Art des Vorgehens ift hier das Verfahren vor:
gezeichnet, welches das mathematiſche Genie Leib-
niz' und Newtons zur ftrengen Wiſſenſchaft erhob:
Das Weltgefchehen durch Differentialgefege zu
befchreiben. Die Annahme kleinſter, unteilbarer
Korpusteln, auf Griechiſch: „Atoma“, hat der
Scule des Demofritos den Namen gegeben, weil
auf diefer Grundlage fih die ganze Weltent:
ftehungslehre aufbaut. Zwiſchen den Atomen
ift leerer Raum; alfo wird das Vorhandenfein
des Raumes an fih, ohne Materie, gefordert,
während nad) Ariftoteles der leere Raum ein
Unding ift. Erft zwei Jahrtaufende jpäter haben
fih die Grundanfchauungen der Atomiften in der
Entwidlung der Naturmwillenfchaften voll aus
gewirkt. Aber Demofrit hat die große Frucht⸗
barkeit feiner Atomhypotheſe flar vorausgelehen,
wagt er es doch, von ihr aus eine Weltent⸗
ftehungslehre abzuleiten, der wir auch heute nod
unfere Bewunderung nicht verjagen fünnen.
Seine Vorausfegungen und Biele find faft die
gleichen, wie die des großen Königsberger Philo-
fophen, der in feiner „Naturgefchichte des Him-
mels” die berühmte Theſe niederfchrieb: „Gebt
mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt
daraus entjteht!" Auch Kant fuchte zu erklären,
wie fi) aus einem großen Haufen von Atomen
Fixſtern- und Gonnenfyfteme bilden fünnen,
ohne daß übernatürliche Kräfte eingreifen. Die
großartige Phantaſie Demofrits erfüllt das Welt-
all mit unendlich vielen Atomen, die in ewiger
Tallbewegung durch den Weltraum begriffen
find. Er dentt fih, daß die Teilchen verfchieden
ſchnell fallen, dadurch zufammenpralfen und fih
zu Wirbeln vereinigen, die den Anfang der
Weltenbildung darftellen. Kant geht auh vom
Fall der Atome aus, nur läßt er ihn nad An
ziehungsmittelpunften durch die Schwerfrajt er
folgen. Nach Demotrit find die Bedingungen
für die Entftehung von Welten an vielen Stellen
des Univerfums gegeben, und daher entftehen
und vergehen unzählig viele Welten neben- und
nacheinander. Während der Stagirite Himmel
und Erde für artverfchiedene Derter des Kosmos
hält, gibt es im atomiftifchen Weltbilde teine aus
gezeichneten Stellen des Univerfums, das phyfi:
kaliſch in allen feinen Teilen gleichartig ift Da
mit find die Ergebniffe der Spektralanalyſe vor’
weggenommen, damit ift die bevorzugte Stel:
[ung der Erde erfchüttert und die Lehre von der
Sonne als dem Mittelpunkt der Erdbahn einer
feits, Brunos Behauptung von der Bielheit der
Sonnenfyfteme andererfeits fchon vorbereitet
1
E
— ⏑⏑—
Aftronomie und Weltanschauung bei griechiſchen Philofophen. 59
Der ewige Fall der Atome bedeutet ein unauf-
haltfames Dahineilen der Körper durch den Welt-
raum. Und damit fieht Demotritos in feiner
Welt ähnliche Bewegungen wie die heutigen
Altronomen in den GSternftrömen. Seine Welt
ift unendlich groß, auf fie paßt nicht das „Maß“
im Sinne anderer griechifcher Philofophen; fie
verliert fih im Kleinen und Großen ins Unſicht⸗
bare und ift deshalb für die meiften Gelehrten
des Altertums nicht faßbar.
Weltanſchauung Demofrits das Heraufdämmern
eines neuen Weltgefühls, das dem, wie Spengler
fagt, „apollinifhen” MWeltgefühl des klaſſiſchen
Menſchen mit feinem Empfinden für Schönheit
der Form fremd ift. Diefe andere Anfchauungs:
mweife, welche in Pythagoras und Platon ihre
höchſten Vertreter hat, erjchöpft ſich in der jtati-
IchenAuffaffung vongorm- und Zahlenharmonie.
Die ewige Wiederkehr, welche die Philojophen
lehren, trägt noch in die Bewegungen des Alls
das ftatifche Weltgefühl hinein. Denn die un—
zähligen Wiederholungen von Tod und Neuge:
burt des Kosmos find wie Pendelichläge der
Weltenuhr, wie die Schwingungen um eine fta-
tifcye Bleichgewichtslage. Die Seele des De-
mofritos dagegen fteht gang unter dem Eindrud
dynamischer Vorgänge. Das geiltige Anſchauen
der im unendlichen Strome dahinfließenden
Atome ift das innere Urerlebnis des Abderiten.
Das unerfchöpffihe Werden und Vergehen in
der Bewegung, im Fluß ohne Quell und Ende,
der aus der Unendlichkeit fommt und in die Un:
endlichkeit drängt, ift der Kern feines Weltbildes.
Es ift aus einer „fauftilchen” Geele geboren,
wenn wir Spenglers Ausdrud für den Renaij-
fancemenfhen anwenden. Jn der Tat hat De-
mofrit mit den faft zweitaufend Jahre jüngeren
Dentern diefer Zeit mehr VBerwandtichaft als
mit dem Typus des klaſſiſchen PBhilofophen, und
darum erjcheint das Weltbild des Atomiſtikers
fo vielen feiner Zeitgenoffen fremdartig.
Demotfritos hat für feine Welt mit aller Ent-
ſchiedenheit das Berurfachungsgefeg angenom-
men: „Nichts geichieht grundlos, fondern alles
mit Grund und Notwendigkeit.” Tür das
„Wunder“ ift nun fein Raum mehr. Der Ato-
mift ift ein Feind des Aberglaubens, darum ift
feine Weltanſchauung nichts für die findlichen,
mwunderfreudigen Menfchen, fondern fagt nur
logifch gefchulten Gelehrten zu. Auch jchmeidhelt
diefe Lehre nicht der menfchlichen Eitelkeit, denn
fie fieht den Menfchen nur als etwas Unbedeu:
tendes an, ein Weſen, das fih viel zu wichtig
nimmt, und zwar find es kosmologiſche Schlüffe,
die zu folder Beurteilung der Erdbewohner
Bedeutet doch die
führen: Nämlich bei der Gleichartigkeit aller
Teile des Weltalls müffen an vielen Stellen die
Lebensbedingungen für organifche Wefen, alfo
auh für Menfchen oder menfchenähnliche Ge-
icyöpfe, vorhanden fein. „Eine einzige Getreide-
ähre auf einer weit ausgedehnten Ebene wäre
nid wunderfamer als ein einziger Kosmos in
der Unendlichkeit des Raumes”, jagt ein Rad-
folger Demofrits. Das heißt, es gibt viele, uns
niht fichtbare Sternſyſteme und Damit viele
Körper wie unfere Erde, die dadurch zu einem
unbedeutenden Atom herabfinft.e Und mit fei:
nem Planeten wird der Menfch zu einem Nidyts
vor der Unermeßlichkeit des Alls; diefe Klein
heit des Menfchen und die Laft der Unendlichkeit
auf ihm gibt der fittliden Weltanfchauung des
Abderiten die befondere Note. Der Berkünder
diefer jungen und darum noch überwältigend auf
die Mitwelt wirtenden Lehre — fo weit fie über-
haupt begriffen wurde — fteht als der abgeflärte
Naturphilofoph vor uns, der fidh als unbedeuten-
des Weſen inmitten des Ablaufs der Erjcheinun-
gen fühlt, die von ehernen Naturgejegen be-
herrfcht werden und über den kleinen Menjchen
dahingehen, ohne ihm Beachtung zu fchenten.
Solche Erkenntnis gibt dem, der fie fih ganz zu
eigen macht, eine kosmiſche Seeleneinjtellung,
d. h. das Gefühl, als Teil zum ganzen AM zu
gehören, ohne darin eine Sonderftellung einzu
nehmen. Diefe Stimmung erzeugt Demut, und die
Ueberzeugung, daß „nichts grundlos geſchieht“,
dämpft die inneren Erregungen. So erreidht De-
mofrit fein Ziel: die Ruhe der Seele. Geine ja-
genden, raffenden und anmaßenden Mitbürger,
die fih als wichtige Mittelpunfte der Welt be-
trachten, zwingen dem abderitifchen Weifen nur
ein Lächeln ab; darum fteht er vor ihnen und
der Nachwelt als der „lachende Philofoph”.
Bei Demotrit tritt nicht die urfprünglicde
Einheit, die apriorifche Verbindung von äußerem
und innerem Weltbild, von Kosmologie und Welt-
anfchauung zu Tage wie bei anderen griechifchen
Meifen. Bei ihm Tiegt das Schwergewicht zu-
nächſt auf der naturmwilfenfchaftlichen Lehre. In
den bewunderungswürdigen, großzügigen Gedan—
fenreihen feiner atomiſtiſchen Weltdarſtellung,
feiner „Himmelsmecdanit” — wenn man eine
moderne Bezeichnung anwenden darf — ift De-
mofritos in feinem eigentlichen Element. Seine
Meltlehre ift naturwiſſenſchaftlich und rein lo—
gifch, ohne jede metaphyfifhe Zutat. Erft das
fertige Weltbild wirft feinen Abglanz auh
auf die Seele, fie von allem Kleinlichen des
Erdenmwallens löjend. Die naturwifjenjchaftliche
Geite des atomiftischen Weltbildes wurde fpäter
60 Naturwiffenfchaft und Weltanſchauung.
volfstümlih. Aber feine ethifch = erzieherifche
Kraft, die fidh in der Lebensführung und -auffaf-
jung des Begründers ausmirfte, ging dabei oft
. verloren. Demofrits Lehre, als wiſſenſchaftlicher
—
——
Materialismus aus der Studierftube des Ge
lehrten in die breiten Maffen getragen, diente
nur zu häufig der Halbbildung und anmaßen-
den Urteilslofigkeit als Kleid.
Naturwiſſenſchaft und Weltanſchauung. Bon Dr. Mag Müller. @
Ende des 19. Jahrhunderts (1899) erſchien ein
Bud) aus der Feder des Jenaer Zoologen Ernft
Hädel, „Die Welträtfel”, das gemaltiges Auf-
leben erregte. Ein Naturforjcher von Ruf ging
bier mit allen Mitteln feiner Wiffenfchaft zum
Ihärfften Angriff gegen Gottesglauben und
Kirche vor. Der Menſch ift nah ihm nicht eine
Schöpfung Gottes „ihm zum Bilde“, fondern ein
Stammesverwandter des Affen, im Laufe einer
ratürliden Entwidlung — Evolution — ent:
jtanden. Die SJefuslehre des Chriſtentums ift
ibm eine plumpe Gefhichtsfälfhung. Als ich
noh auf der Schulbank fah, wurde das Bud),
das in einer vielgelefenen Volksausgabe unter
die Maſſen verbreitet war, von uns Schülern
mit SHeißhunger verfchlungen, und mancher
wurde feinem Gott abtrünnig, um nie wieder
zu ihm zurüdgufinden. Die Wiffenfchaft hatte
es ja ermiejen: „der Menih ftammt vom Affen
ab — und niht von Gott!” Die Evolutions:
lehre ift nun freilich nicht von Hädel aufgeftellt
worden. Er hat fie nur durch fein Buch volts-
tümlich gemadt und in ihr für feine Welt-
anſchauung, den Materialismus, eine wefentliche
Stüße gefunden. Nah dem Materialismus ift
alles in diefer Welt materiell, d. h. ftofflich,
körperlich; das Geiltige ift nur eine „Funktion“
des Stoffes; unſere Seele ift alfo nur eine
Funktion des Leibes. Wurde diefe Weltanfchau-
ung auh von den Tachphilofophen als haltlos
gefennzeichnet, jo wurde Hädels Lehre doch
die Weltanfchauung der Maſſen — und niht
nur in Deutſchland. Daß nun mit diefem rein
theoretifchen Materialismus mit: feiner Leug-
nung aller geijtigen Werte ein praktiſcher Ma-
terialismus Hand in Hand geht, ift durchaus
folgerichtig. Denn wenn es feinen Gott gibt,
feine Seele und fein Leben nach dem Tode, fo
icheint es ja in der Tat das Richtigſte zu fein,
ron den Genüffen diefer Welt mitzunehmen, was
fih mitnehmen läßt, in diefem „Rampf ums Da:
fein” das Recht des Stärkjten walten zu laffen,
nur auf den eigenen Vorteil bedacht, ohne Hem-
mungen des Gemwiffens. Der Weltkrieg war der
— — — —
graufige Ausklang des materialiſtiſchen Zeit:
alters.
Das große Leiden und Sterben brachte
aber zugleich den Umſchwung, deſſen Zeugen
wir im gegenwärtigen Augenblicke europäiſcher
Geſchichte ſind. Wie weit ſind wir heute von
jenem Wahn der Häckelzeit entfernt, die da
glaubte, mit ein paar Schlagworten alle Welt-
rätfel löfen zu können! Die neufte Natur
forfhung hat uns das Staunen und die Ghr-
furcht vor dem Geheimnis wiedergefhentt. Gie
ift tiefer eingedrungen in den einbau des
Stoffes und hat uns aufgezeigt, wie die Heinften
Teilen der fcheinbar toten Materie, die foge
nannten Atome, fih in Wirklichkeit daritellen als
eine Wundermelt im Kleinen, — jedes Atom ein
förmliches Sonnenfyftem mit einem Atomtern
als Sonne, und Elektronen, die wie Planeten
und Monde in unheimlich fchneller Bewegung
darum freifen. Nichts von toter Materie alfo,
fondern allerlebendigftes Leben! Und das Eigen
tümliche dabei ift, daß der Stoff, je mehr man
ihn in immer Eleineren Musmaßen verfolgt, ſich
Ichließlich immer mehr verflüchtigt, fo daB endlid
eine Subſtanz gar nicht mehr übrig bleibt. Was
nun eigentlih im Grunde die Elektronen find,
das ift uns no% unfaßlich. Wir ftehen hier vor
Rätjeln und Geheimnifien. Diefer Welt des
Kleinsten jteht die Welt des Größten gegenüber,
das Forjchungsgebiet des Aftronomen. N
unſere Welt endlih? Hat fie Grenzen? Die
Relativitätstheorie Einfteins will uns darauf
Antwort geben. Aber diefe Antworten find ganz
anders als die der Materialiften, die wie IM
Menfchentörper jo auh) im Weltall eine legten
Grundes einfache große Maſchine fahen. Die
Relativitätstheorie arbeitet dabei mit — dem
Deritande des Einfältigen ganz unfaßbaren —
neuen Borjtellungen der — fcheinbar fo tiaren
— Begriffe von Raum und Zeit, daß wir auf
bier vor einer Fülle des Wunderbaren ftehen,
von dem fih die Häckelzeit nichts träumen
ließ. Ebenfo ſchwierig ift die fogenannte
Raturwiffenfchaft und Weltanfhauung. 61
Quantentheorie, gegenwärtig der Mittelpuntt
der geſamten Phyfit, ungeahnte Ausblide öff-
n:nd auf eine alles durchziehende geheimnisvolle
Geſetz- und Zwedmäßigkeit, wobei nicht nur die
für unantaftbar gehaltene lex continuae na-
turae, — das Geſetz der Gtetigkeit im Wirken
der Natur —, über den Haufen geworfen wird,
fondern aud ein ganz eigentümlidyer Zug von
Zielftrebigkeit im Wirken der Materie in die
neugeitlihe Phyfit einzuziehen fcheint.) Ja,
die theoretifhe Phyfit, die am meiteften in
unbetannte Gebiete vorgedrungene Wiſſenſchaft,
ift fo recht das Gebiet der Rätfel und Wunder, die
freilich dem Laien nur ſchwer verftändlid) find.
Der Geift der Forſchung ift jedenfalls nicht mehr
der des neunmalweifen Hädelianers; je tiefer
wir in die Geheimniffe der Natur eindrigen,
dejto verwidelter wird fie für uns.
Bon allen Naturmwiflenfchaften weift die Bio:
logie noch die meiften Materialiften unter ihren
Forſchern auf. Aber fie find verhältnismäßig
jtill geworden und wagen fih im Grunde doh
nicht recht mehr daran, mit naturmiffenfchaft-
lichen Erfenntniffen und Methoden zum Angriff
gegen die Religion vorzugehen.
Naturforſchung und MWeltanfhauung find
eben zwei wejensverfchiedene Gebiete. Natur:
forfhung erjchließt uns lediglich das Weltbild,
d. h. das So-Sein (genauer: das uns So-Er-
fcheinen) des Wirklichen. Je nad) dem Fort-
ſchritt der Forfchung ändert fih das Bild, Lügen
werden ausgefüllt, Erweiterungen vorgenom«
men, Irrtümer rihtiggeftelt. Auf der Suche
nad) einer das Weltbild frönenden Weltanfchaus-
ung verläßt man nun das Gebiet der Natur-
1) Es Handelt fih dabei um folgendes: Nad) der
alten Auffaffung wird das, was im nächſten Augen-
blid geichieht, beftimmt durch das, was in dem jeßigen
Augenblid ift, und durch dies allem. Nach der neuen
Auffaffung, wie fie die Quantentheorie fordert, wird
aber ſeltſamerweiſe das jeßt Geichehene ſchon beftimmt
"dur das, was im nächſten Dingaugenblid gejchehen
wird! Eine dem „gefunden Menidenverftande” taum
faßbare Borftellung! Die Zukunft wirkt mit an der
Beltaltung der Gegenwart! Nadh der alten Auffaffung
zeritreut fich bei dem Wirken in der Welt des Kleinſten
eine Welle von der Wellenerregungsitelle aus nad) allen
Richtungen, ganz unbefümmert um etwaige Apparate,
die die ausgefandte Energie auffangen fünnen. Nad
der QDuantentheorie aber ift der Ausfendungsporgang
von vornherein mitbeitimmt durdy die Dinge, die die
ausgefandte Wellenenergie aufnehmen follen! Es madıt
aljo den Eindrud, als ob der Wellenerreger weiß, wo
feine Energie bleiben wird! Er ftreut diefe ſozuſagen
nicht blind um fih, jondern ſchießt fie, ein nie fehlender
Schüte, feinem Ziele 3u! Wie man früher eine raum:
überwindende Fernkraft für die Wirkungen der Planeten
aufeinander annahm, fo jet eine zeitlihe Fernwirkung
zwiſchen den kleinſten Teilen der Materie!
willenfchaft und zieht zu der Weltertlärung
Elemente hinzu, die anderen Gebieten entftam-
men. Die Weltanfchauung fragt fo nicht nad
der Welt als folder, wie fie der Naturforfcher
beichreibt, fondern nad) ihrem eigentlichen tief-
ften Wefen. In diefen Fragen ift die Natur-
willenjchaft (fie follte es wenigſtens fein) neu-
tral; und es ift auch durchaus möglich, daß fih
mit einem und demfelben Weltbild, eben weil es
neutral ift, mehrere ganz verfchiedene Welt:
anſchauungen vereinen laffen. Auch der Gottes-
glaube gehört nicht in die Naturmiffenfchaft.‘)
2) Die neue Philofophie, die Gott als reinen Geift
begreift, die alfo auf dem Standpuntt fteht, daß aud
nur reme Geiltwirtungen von ihm ausgehen und aus:
jagt werden können, hat Gott völlig „entweltlicht“.
Sie lehnt auh grundjäglid alle Erörterung der Trage
der Weltihöpfung durch Gott ab, — aud Kants lt⸗
entſtehungsgedanken aus der „Kritik der reinen Ber-
nunft“: Gott als die Idee des ſchlechthin Unbedingten
gegenüber der Welt anzufehen, die nur Bedingtes auf-
weile; alfo Gott als Schöpfer der Welt und als den
Allmädtigen gegenüber feiner Schöpfung Rehmke
ſchreibt (in der Zeitfchrift „Grundwiſſenſchaft“, 5. Bd.,
©. 28): „Gott muß von der Welt (der Dingwelt) ſchlecht⸗
bin freigehalten werden, außer aller Beziehung mit „die-
jer Welt“, d. h. der Dingwelt, gefebt fein für das reli-
giöfe Bewußtfein. Bor „phyſiktheologiſchen“ Phantafie-
BEN als angeblih begründeten Meinungen hat felbft
ant in der Kriti? der Urteilstraft gewarnt, wenn er
aud, durd feine Idee „Gott“ verleitet, Doh nicht ganz
aus der überfommenen religiöfen Kosmologie fih hat
herausarbeiten und fomit nicht hat abmweilen können,
daß die Gejamtbetrahtung der Welt, „als ob”. fie von
Gott und daher zwedgefeht fei, beitehen bleibe. Aber
dies zeigt deutli, daß Kant, der den fosmologifchen
Gottesbeweis „zermalmt”“ hatte, fih troßdem nicht von
dem althergebradyten Gedanten, daß Gott eine Be-
3iehung zur Natur, d. i. zur Dingwelt habe, losmachen
konnte. Crit wenn Gott völlig entweltlicht ift, alfo
außer aller Beziehung zur Dingwelt, zum „Fleiſch“ ge-
dacht ift, werden Religion und Wiſſenſchaft in der Bruft
des Einzelnen zulammenmwohnen fönnen, tann das ein-
zeme menſchliche Bewußtiein ungeftört und durch nichts
in der Welt beirrt, religiös fein, d. i. mit feinem Gott
leben. Dies ift reines Geiltleben, rein geiltiges Ber:
hältnis des menſchlichen Bewußtieins zum göttlichen Be-
wußtjein..... Sobald nun aber ein Bewußtjein aus
feinem religiöfen Leben heraus wieder verfudt,
„Kosmologie“ zu treiben oder, was dasfelbe jagt, „Welt:
anfhauung” zu beihaffen und den „Sinn des Lebens”
zu entdeden, briht das Unglüd herein . Wenn wir
nur erft jo weit wären, daß wir über dies Bedürfnis
nad) „Weltanſchauung“, das im Grunde ein irreligiöfes
ift, hinweg wären, dann könnte der helle Tag der Re:
ligion andredyen; denn jede Weltanſchauung führt den
Religiöfen, der doh als folder nichts mit der Welt,
jondern nur mit Gott zu tun hat, wieder in die Welt
hinein und von Gott ab, fo febr fie auh die Abhängig:
feit der Welt von Gott betonen mag; während freilid)
die reine Religion von Beilt zu Geift das menſchliche
Bemußtfein in die Welt hineinführt, jofern eben zu
diefer Welt menidhlide Bemwußtjeinswefen (an
menſchliche Leiber getnüpft) gehören, die ein jedes als
religiöfes dem göttlichen Bewußtiein verbunden find.
62 Naturwiffenfhaft und Weltanfchauung.
3n der Tat tann es ja einem religiöfen
Menfchen ganz gleich fein, was die Natur-
willenichaft findet. Die Bibel ift fein na:
turmiffenfchaftliches Lehrbuch, deffen Lehrjäße
dur Ergebniſſe der Wiſſenſchaft eine Be-
rihtigung oder Miderlegung zu fürchten
hätten. Nie kann Wiſſenſchaft das Geringjte
gegen lebendige Religion, die eben fchließlich auf
ganz anderem Grunde verantert ift als auf dem,
auf welchem fih verjtandesmäßige Wiſſenſchaft
bewegt. Um es in eine Formel zu bringen: Reli-
gion ift im Kern nicht Wiſſenſchaft, jondern Gebet.
Wenn daher auch umgekehrt Religion fih zu
ftügen glaubt auf fcheinbar noh fo ſichere Cr-
gebniffe der Naturwiſſenſchaft, jo ift das ein ge-
fährliches Unternehmen; denn was dann, wenn
die Stüße doch zuſammenbricht? Gie braudt
eine ſolche Stüge wirklich nicht.
Nicht, als ob die Naturmwijjenfchaft der
d:r Religion nun eine ſolche Gtüße biete,
fondern nur als ein überaus bemerfens-
wertes Zeugnis für die Abkehr unjerer
jeßigen Zeit vom Hädelgeift wolle man es auf:
nehmen, wenn nun von einem Buche die Rede
ift, das jeßt genau foldes Auffehen verurfadht
wie es einit die „Welträtfel” taten, nur im um:
gefehrten Sinne. Es ift das Bud) des Profeffors
der Paläontologie (Urmelttunde) an der Mün:
hener Univerfität, Edgar Dacquk: „Ur:
melt, Sage und Menfdheit.”) Es
stellt fi als eine fchroffe Abſage dar an die
alte Abftammungslehre, nad) der der Menſch ein
Seitentrieb der Affenfamilie ift. Dacque ftellt
am Schluß feiner Beweisführung feft: „So
haben wir auh in Ronfequenz rein naturmiffen-
Ichaftlihen Zuendedentens den Beweis, daß eine
andere Borftellung vom Kommen und Werden
des Menfchen gar nicht vorhanden und wahr-
Iheinli” überhaupt nicht möglich ift als Die,
welche uns als ältejte und fejtgefchlofjenfte Lehre
in allen Mythen und Religionen entgegentritt:
daB der Menſch ein eigenes Weſen, ein eigener
Stamm ift, uranfänglich gewefen, was er fein
und werden jollte, wenngleich mit allerlei grund»
legenden Beränderungen feiner Geftalt.“
Solcderlei Yehre würde nun taum foles Auf:
lehen erregen, wenn niht Dacqu& einer unjerer
bedeutendften Naturforfcher wäre, der einen
Lehrftuhl an einer der angelehenften deutfchen
Univerjitäten inne hat. Dacqué beichränft fih
abor nit darauf, eine Widerlegung der alten
Abftammungslehre zu geben, an deren Stelle
er feine „Typenlehre“ fegt, fondern er zeigt auch
an vielen anderen Punkten auf, daß die alten
*) Oldenbourg, Münden. 1. u. 2. Aufl. 1924. 359 ©.
Sagen, Mythen — und aud die altteftament-
lihen Erzählungen von den Naturgefchehnifien
— einen ganz anderen Wahrheitsgehalt haben,
als die bisherige Wiſſenſchaft Wort haben will
So ift ihm beifpielsweife die Sündflut ein Cr-
eignis, das, von gewaltigen fosmifchen Wirkun-
gen hervorgerufen und riefige Ummälgzungen
auf der Erdoberfläche hervorrufend, wirklich ftatt-
gefunden hat, — am Ende der Kreidezeit; —
während man bisher in der Sintflutfage, die fidh
ja bei vielen Völkern findet, nur die Ueberliefe
rung von Fluten erblidte, die fih in verhältnis
mäßig neuerer erdgefchichtlicher Zeit ereignet
haben. Ja, Dacque gibt niht nur eine natur
wiſſenſchaftliche Erklärung für die Möglichkeit
des in der Erzählung im Bud) Joſua, Kapitel 10,
Vers 12ff., berichteten Naturereignijfes, jondern
findet es in den Sagen anderer Völker beftätigt.
(Es handelt fih um die befannte Stelle, wo der
. König mit Gott redet und vor dem verjammel-
ten Kriegsvolk fpricht: Sonne, ftehe ftill zu
Gibeon, und Mond im Tale Ajalon! „Da ftand
die Sonne und der Mond ftille, die Sonne mitten
am Himmel, und verzog unterzugehen, beinahe
einen ganzen Tag; und war fein Tag diefem
gleich, weder zuvor noch danad“ .. .)
Die Sagen find für Dacqué eben nicht will
türlihe Erdichtungen, allegorifcher Art, jondern
Erinnerungen an wirkliche Gefchehniffe, und
deren Weberlieferer „haben unter dem Eindrud
und dem Bemwußtfein übermältigendfter Wirt:
lichkeit geftanden!”
Der Raum verbietet es, im einzelnen aufzugei-
gen, wie Dacque feine Beweife führt; aud tann
nicht auf feine Topentheorie eingegangen werden,
die er an Stelle der alten Abftammungslehre auf
ftelt. Nur feine Widerlegung eines möglichen
Einwandes gegen feine Lehren fei angeführt.
Wenn der Menſch, wie es nah ihm der Fall fein
foll, wirklich ſchon in fo ältefter erdgefchichtlicher
Zeit gelebt haben foll, wie fommt es dann, da
wir aus jenen Erdperioden zwar von den ver
Ihiedenartigften Tieren Spuren ($offilien)
haben, vom Menfchen aber feine einzige? Denn
die Bunde vom fofjilen Menfchen gehen nur in
das Diluvium zurüd, für die davorliegende erd”
geihichtliche Zeit, das Tertiär, hat man folde
Gunde zwar behauptet, aber ein wirklich ficherer
Fund ift bis heute noch nicht feftgeftellt. Die nod
vor dem Tertiär liegenden geologifchen Zeitalter:
Kreide, Jura, Trias, Perm- und Steinkohlen⸗
seit haben uns auh nicht die leifeften Spuren
vom Dajein des Menfchen geliefert, fo ſehr man
die betreffenden Schichten auh durchitöbert hat.
— Wenn man nun feine Menfchen aus jener
|
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oi Entwi N. Sene uralte Menfchhen,
es geführt bon $ uć im einzelnen nad:
Si Derfchiedenften Diler Tate ber Sagen
P des sadamitiihena ° CT Unterfcheidet den
en Mengen en
Geiftesgaben ausae |
geitattet als mir, di
M a m Hellſehen ein letes Ueberbleibjel
w — en Begabung haben. Es iſt die Zeit
Ythen, mythenhaften Helden, die Beit der
taden: und Lindwurmkämpfe, von denen uns
te Sagen erzählen. Das Gondwanaland ging
bonn in der (noadhitifchen) Gintffut unter, n
bie enſchen, von ihren Wohnfißen vertrieben,
befiedelten andere Candftriche. Atlantis wurde
nun die Heimat der Menſchen, — jene fagenhafte
Belt zwiſchen Europa und Amerita, von ber
uns u. a. Plato im Timäos berichtet und von
der die Kunde Solon aus Aegypten mitgebracht
hat, wo er fie aus alten Geheimberichten von
Prieftern gehört hatte. Auch Atlantis verfant
im Meere, — zu Ende des Tertiärs. Die Wogen
des atlantifchen Ozeans bedecken jenes alte eft-
land und mit ihm die Spuren feiner Bewohner,
der ſpäteren Roachiten, bei denen die Natur-
fidtigteit mit zunehmender Großhirnentfaltung
einer immer ftärteren Entwidlung des Verftan-
des gewichen war. Die älteren Diluvialmenfchen
telen fih für Dacque dar als Periöten (Um:
wohner, Nebenbemohner) der Atlantis. Auf den
Untergang der Atlantis folgt das Diluvium mit
dem uns durch Funde befannten Eiszeitmenfchen
als kulturloſem Reſt. Dann ſetzen im Alluvium
die geihichtlichen Kulturen ein. Es beftand aber
idon eine Atiantiskultur!
Ich tann es nicht als meine Aufgabe anjehen,
bier zu Dacqués Theorien Stellung zu nehmen.
Der Berfaffer rechnet fein Wert felbjt zu denen,
die, „aus der Enge wagnerhafter @elehrtenftube
berausführend zum Dfterfpagiergang , einen „ers
ſchauten“ Gedanken als folchen vermitteln wols
len und denen der eigentliche Wiffensftoff Neben-
lade ift. Dacque hat wohl zugleich an Speng:
lers „Untergang des Abendlandes“ gedacht,
wenn er dis m. —
zeichnet; e Bücher dieſer Art
„Es ift wi |
— ie i
Dir aus einem gotifchen
bliden. der Berne über di ſchen Dom, den
ſeine e Häufer ragend er.
Eindru A Sefamtiorm macht — er
— 63
wie folgt kenn⸗
Onheits und Materi
a erialfehl
en u. arme Quaber find —
er
gen oder ein Fenſter
romaniſch ſtatt gotiſch; oder die Rei
Pfeiler ijt verſchoben; oder a
gefügt, die zu einem anderen Bau
gehörten und notgedrungen bier
mwältigenden Eindrud, mit berjelben Gemiß-
heit und Wahrhaftigkeit feiner Gefamtton-
jtruftion ragt er wieder über die Däder, und
wir geben uns dem, was er uns wahrhaftig
vermittelt, jeßt nach der kritiſchen Prüfung
mit vollerer Ueberzeugung wieder bin und
{hauen mit dem Geift des Meifters, jtatt über
den verkehrten Quader mit dem Steinmeß zu
ſchelten.“
Nun dürfen dieſe gewiß ſehr ſchön klingenden
Worte uns freilich nicht darüber hinwegtäuſchen,
daß auch eine noch ſo geiſtvolle Schau doch nicht
den Boden der Wirklichkeit unbeachtet laffen darf.
Eine Methode, die fih nad) Hegelſchem Vorbild
nur in großangelegten Spekulationen ergeht
oder doch wenigſtens eine Annahme durch eine
andere ebenſo unbegründete ſtützt, wird immer
etwas Anfechtbares haben. Freilich: unſere Zeit
ſchwelgt ja im Gefühlsmäßigen, im „Irratio⸗
nalen“, und begeiſtert ſich ſchnell für jede künſt—
leriſche „Schau“. Abkehr vom rein Verftandes-
mäßigen iſt Trumpf, in Frankreich noch mehr
als bei uns. „Intuition“ iſt das Schlagwort,
das unſere Zeit im Banne hält. Nun ift Dagegen
gar nichts einzuwenden, aber wir ftehen bann
nicht mehr im Gebiet der Wiſſenſchaft, ſondern
dem der — Kunſt, — die gewiß ein ebenſo
berechtigtes Kulturgut iſt wie jene. Aber ſolche
Bücher ſollen dann nicht den Anſpruch darauf
machen, wiſſenſchaftliche Werke zu ſein. Sie ge—
hören in das Bereich der — Dichtung. Keyſer—
lings Reiſetagebuch eines Philoſophen — um
noch ein Beiſpiel zu nennen — gehört zur Kunft,
zur Dichtkunft, nicht zur Wiſſenſchaft. Aehnlich
su werten find — nur daß fie noch eine Stufe
64 Naturwiffenfhaft und Weltanfchauung.
tiefer ftehen — Erzeugniſſe wie die eines gez
willen Frang von Wendrin, der jebt die Menſch—
beit mit den Früchten feiner Geiſtesſchau be—
Ichentt; nad) feinem jüngften Bud) liegt das
Paradies in — Hinterpommern! Dacques Bud
ſteht freilich unendlich höher. Dacque ift immer:
þin ein Fachmann von Bedeutung, der uns
immer etwas zu fagen hat, auch wenn feine
Grundidee (wie die Spenglers) niht Zuſtim—
mung findet. Aber lebten Endes gehört fie
doch in jene Gattung, die ih zur — Dichtung
rechne. Es ift mir feinen Augenblid zweifel-
haft, daß das Bud) feinen Weg maden wird,
zumal es den Lefer von der erften bis zur Ichten
Geite in Atem hält, — genau fo wie Spenglers
Bud, das ja auh von der Zunft von „durchaus
ordentlichen PBrofefforen” in Grund und Boden
verdammt wurde. Es Steht wohl zu erwarten, daß
Dacqués TFachgenoffen in manchen feiner Gedan⸗
fen Bföße Phantafien fehen werden,*) eine Gefahr
würde fein Buch nur werden, wenn vertrauens-
jelige Laien darauf ihren religiöfen Glauben
ftüßen wollten. Sie würden in genau denjelben
Fehler verfallen, nur in umgefehrtem Sinne,
wie einft die Gottesleugner der Hädelfchule, die
ihren Unglauben auf den unficheren Grundpfei-
lern der Lehren erbauten, die fie den „Welträt-
fein“ entnahmen. Noch einmal: Weltanfcyauungen
und Religionen laffen fi niht mit natur
wiffenfchaftlihden Mitteln beweiflen (— und
widerlegen); eine Weltanfchauung, ein religiöfer
Glaube, liegt in einer anderen Ebene als das
Weltbild, das in diefer Beziehung völlig neutral
ift. Das fei ausdrücklich feſtgeſtellt.
Und troß alledem:
Daß ein folhes Budh überhaupt gefchrieben
werden fonnte, wohlgemertt das Budh cines
ernst zu nehmenden Naturforfchers von Ruf, das
ift für mich allerdings ein „Zeichen der Zeit“.
Wie fern find wir jeßt der Hädelgeit, wenn
Dacque fein Buch denen widmen tann, „die er:
tennen, daß wahres Berftehen Glaube ift”, und
wenn er etwa fein Eingangstapitel ſchließt mit
den Worten:
„Wenn nach dem ſchönen Wort von
1) Bavink faßt feine ablehnende Stellung wie folgt
aufammen: „In der Fixigkeit war ih dir über, aber in
der Nichtigkeit warft du mir über,“ jagt Bräfig zu
feinem Freunde Korl Hawermann; es ſteht 3u fürchten,
daß D. dies aud zu feinen Freunden und Kollegen von
en und den Nachbarwiſſenſchaften wird jagen
miiffen.”
Echwart?) die abendländiſche Forſchung fih bis-
þer nicht um das Geelenheil ihrer Jünger zu
kümmern brauchte, wenn fie der Herausarbeitung
des Stoffes allein leben fonnte, fo ift das nicht,
wie es diefem hohen Geift wohl fcheinen mag,
ein Endzuftand und vielleicht eine Art Befreiung
geweien, fondern es war der Porbereitungs-
dienst zu einem aus diefer Wiffenfchaft eben dodh
allmählich erwachſenden Priejtertum, das mit
feiner fauftifhen Innerlichleit taum an ein epi-
turäifches gemahnen, fondern die Brunnen der
Tiefe öffnen und vielleicht wieder bei einer Berg-
predigt feine Erfüllung finden wird.“
Nachwori.
In der Anm. 4 auf dieſer Seite hat der Herr Ter:
fa'fer ſchon erwähnt, daß ih das Dacquéſche Bud ab-
lehne. Die angeführten Sätze ftammen aus einer Be-
fpredung im „Hannoverſchen Kurier”, Die ich dort vor
einiger Zeit veröffentlidte.e Ich kam mid über ein
foldes Buch nicht freuen, fo jehr ic) es begrüße, daß
die deutfhe Naturwiflenichaft ſich in ein pofitives Ber:
hältnis zur Metaphufit zu ſetzen verfudt. Wenn dies
Verhältmis jo ausfieht, fo muß idh fagen: lieber gar
nicht als fo. Dann möge Sdillerss Wort von dem
zu früh fommenden Bündnis lieber noh fünfzig Sabre
länger in Geltung bleiben. Ich bin, wie die Lefer
meiner Veröffentlichungen willen, feit Jahren dafür ein-
getreten, daß die Spezialmwiflenichaft den Anichluß an
die gemeinjame Mutter, die Rhilofophie, wieder juchen
müffe und habe die „Hupothejeophobie* des Machſchen
Zeitalters als einer der erften mit flaren Worten be-
fümpft, zu einer Zeit, wo nod faſt die gefamte Wiffen-
fhaft im Banne des Pofitivismus ftand. Uber unge:
fihts des Dacquéſchen Budes überfam mid eine Art
von Heimweh nad den friftallffaren und logiſch fo
») Œ. Schwark, Charakterköpfe aus der antiten Lite.
ratur. 2. Reihe. Leipzig 1910. ©. 34ff.: „Epikur legt
auf eine erafte Erklärung der Naturvorgänge feinen
Wert und erhebt es zum Grundfaß, mehrere zur Aus-
wahl nebeneinanderzuftellen .. . . Er war midt der
erite unter den Nachfolgern des großen Naturforfchers
. (Demotrits), der die atomiſtiſche Hypothefe nit als
ein Prinzip der Forſchung, fondern als Beltandteil einer
Meltanihauung behandelte und entwidelte . . Er
folgt nur dem Zuge feiner Beit, wenn er die willen»
ſchaftlichen Aufgaben, die der lekte originelle Denter
der Nachwelt geftellt hatte, veracdhtete und beijeite jchiebt:
derfelbe Prozeß läßt fih auh bei den Erben der plato-
niſchen und ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft beobachten . .. .
Die helleniſche Philoſophie war ſeit Plato, ja ſeit So—
krates Wiſſenſchaft und Weltanſchauung zugleich. Wenn
die moderne Wiſſenſchaft auch ſchwer mit dem Dogmatis-
mus hat ringen müſſen, mit dem die Kirche als Erbe
der griechiſchen Philoſophie die Menſchheit durchtränkt
hatte, eines verdankt ſie der geiſtigen Herrſchaft der von
den chriſtlichen Kirchen gehüteten Offenbarung doch: ſie
konnte fih erflufio der Forſchung widmen und brauchte
fi) um das Seelenheil ihrer Adepten nicht zu kümmern
wie ihre helleniiche VBorgängerin, die auf feinen Detalog
und feine Bergpredigt verweilen fonnte.”
=
Ausſprache. 65
abſolut ſauberen Darlegungen œs großen Anumeta-
phyſikers, der jo oft Newtons Wort zitiert hat, daB
„Hypotheſen, feien es phyſiſche, feien es metaphnitjche,
in der Naturwillenichaft feine Stelle hätten“. Dacques
Hnpothefen gehören zu der Art, die Newton ſicherlich
nicht hätte paflieren laffen. Mit ſolchen Ideen, wie er
fie entwidelt, fann man tatfächlich alles und jedes be-
mweifen, was man will. Ganz gewiß hat die unmittel:
bare „Weſensſchau“ in der Naturwiſſenſchaft ja gut
ihre Stelle wie in jeder Wiſſenſchaft, die ſich weiter-
erimwideln will. Ohne folde wäre Marmwell nie zu
feiner eleftromagnetifhen Lichttheorie und Bohr nie
3u feiner Atomiſtik gefommen. Aber das eben ift das
Charatteriftitum der miflenjchaftliden Phantafie, daf
fie fid) felber gezügelt weiß durch die Erfahrung, daß fie
nicht mit einem, wenn aud vielleicht grandiofen Hypo—
thefengebäude als Kunſtwerk zufrieden ift, fondern zur
erit und zuleßt fragt, ob es aud ftimmt. Das Heißt
Ausſprache.
Neumittelwalde, 30 Oktober 1923.
Sehr geehrter Herr Profeſſor!
Ich habe etwas auf dem Herzen, was ich Ihnen
ſchreiben muß, weil ich eine innere Verpflichtung dazu
empfinde. Es betrifft die Wunderfrage und die damit
zuſammenhängende Frage der Gebetserhörung. Die
Diskuſſion darüber iſt ja zwar abgeſchloſſen, aber das
tann doch nur ein vorläufiger Abſchluß fein. Und ſelbſt'
wenn fie in abfehbarer Zeit nicht wieder auflebt, tann
id wenigjtens Ihnen gegenüber gewillenshalber nicht
ihweigen. In der Stille meines vor kurzem zu Ende
gegangenen Urlaubs ift es mir zu einer inneren Nöti-
gung geworden, die jchweren Bedenken auszujprecdhen,
die ih gegen die bisherige Art der Behandlung der
Frage habe. Ich will damit feine Beleidigung aus:
ſprechen, aber ih tann nicht finden, daß die Wunder:
ufw. Frage in wiffenfchaftlidem Sinne behandelt wor:
den ift. Wohl ift von verſchiedenen Geiten gejagt
worden, was in diefer NHinficht fein fönnte und was
nicht fein könnte; vielmehr: was nad) der wiſſenſchaft—
fihen Dogmatit des Einzelnen fein dürfte und was
nicht fein dürfte Aber ift das das Erfte und Cnt-
icheidende? Fragt nicht die Wiffenfchaft bei allen anderen
Gelegenheiten zuerit: „Was ift?“, unbefümmert darum,
ob das nach landläufiger Meinung fein tann oder nicht
fein tann. Mir kommt es fo vor, als würde die
nüchterne Wirklichkeit in der Wunder- uſw. Frage von
manchen Bertretern der Naturwiſſenſchaft aus natur-
wiffenjchaftlih-dogmatiichen Gründen geradejo vernad):
läffigt, wie die naturwiſſenſchaftlichen Tatfachen gelegent:
lid von theologiſcher Seite aus theologifc) - dogmati-
ſchen Gründen. Bei der wiſſenſchaftlichen Feſtſtellung
von Tatſachen ift es aber doch vollkommen gleidh-
gültig, was irgendwer für möglich oder nicht möglich,
für denkbar oder undenkbar erklärt.
Wir pflegen von Wundern zu ſprechen, wenn etwas
geſchieht, was nach unſerer Kenntnis vom gewöhnlichen
Lauf der Dinge nicht hätte geſchehen können oder
in Newtons Sinne, die Gründe aus den Erſcheinungen
induzieren (rationes ex phaenomenis deducere), was
darüber ift, das ift in der Naturwiſſenſchaft vom Uebel.
Nach meinem Gefühl fteht das Dacquéſche Buch durd-
aus auf einer Stufe mit Haedels Welträtfeln. Nicht
natürlich in der Tendenz, die ift vielmehr gerade ent-
gegengefeßt, über in der Dberflächlichteit der Methode
und der dadurd bedingten Gefährlichkeit für das lejende
Nublitum. Herr Dr. Müller meint, „eine Gefahr
würde das Bud nur werden, wenn vertrauensjelige
Laien darauf ihren religiöfen Glauben gründen würden”.
Sch fürchte, dah diefer Sag nur allzu rajh aus der Form
der Irrealität in die der Tatſächlichkeit übergehen wird
— und nit nur bei Laien. Ich fehe auh kommen,
dah meine Warnung ungehört verhallen wird, denn
was man wünjdt, das glaubt man nur allzu gern.
Dixi et salvavi animam. Bapvint.
H
brauchen, oder wenn etwas nicht geichieht, was nad)
unjerer Kenntnis vom Lauf der Dinge eigentlih hätte
gefhehen müffen. Liegen bier aus der Gegenwart oder
näheren Vergangenheit glaubwürdige und nadyprüfbare
Berihte von Tatſachen in genügender Anzahl vor,
dann fann ich nicht begreifen, wie aufrichtige, die Wahr:
heit unporeingenommen fuchende und prüfende Men:
ſchen das, man möchte beinahe jagen „maffenhafte” Ge-
ſchehen von Wundern beitreiten können.
Aus der ungeheuren Fülle von Tatſachen möchte
ih nur einige, ganz wenige, berausgreifen. Da
it Georg Müller von Briftol, der große englijche
Waifenvater; er hat über feine Gebetsanliegen fürm:
lid Buh geführt. Seine Tagebuchaufzeichnungen dürf:
ten noch vorhanden und dem Forſcher zugänglid) fein.
Er hat vermerft, wann er dieje oder jene Sahe im
Gebet vor Gott zu bringen begonnen hat, und wann
ihm die Erhörung geſchenkt wurde Wollen Sie etwas
äbnliches, uns näher liegendes unterfudgen, dann beachten
Sie bitte die Blätter „im Dienjte des Königs”, die vom
Diakoniſſenhauſe Miehowig bezw. deffen Oberin, der
weithin befannten Schweſter Eva von Thiele-Windler,
herausgegeben werden. Ausgiebige Beute würden aud)
die meilt mehr als nüchternen Berichte der Heiden-
Miffionsgejellichaften liefern. Nicht felten berichten
quh die Zeitungen Dinge, die man ehrlicherweije als
Wunder bezeihnen muß. Cs mag zehn Jahre her fein,
daß die Kaiferin in einem Breslauer Krankenhauſe am
Bette eines Kindes ftand, das viele Stodwerte her:
unter auf die Straße gefallen war und feinen Schaden
genommen hatte. Nur zur Beobachtung war es jicher:
heitshalber ins Krankenhaus gebradht worden. In der
Zeitung konnte man Tefen, das Kind fei „„wie” durd)
ein Wunder““ dem jideren Tode entgangen. Diefes
itereotgpe „wie“ ift bezeichnend: Es ift die Der:
beugung der Preffe gegen den Unglauben mit feiner
Munderangit. — Was mag im Kriege an Bewahrungs—
wundern alles erlebt worden jein? —
66 Ausſprache.
Dann noch zwei Leſefrüchte aus den Ferien.
Friedrich von Bodelſchwingh (Ein Lebensbild, 1. Aufl.,
Pfennigverein der Anſtalt Bethel bei Bielefeld, Seite
72/73) beridhtet von feinem Basler Lehrer Haug, wie
diefer eines Pfingftmorgens zu ihm fagte: „Heute vor
vier Jahren habe ich mein Augenliht wiederbefommen
und zwar auf das Gebet des lieben Pfarrers Blum:
hardt.” (Bei diefer Gelegenheit darf ich nicht unter:
laffen, auf das Lebensbild Blumhardts von Zündel auf-
merffam zu maden, in dem eine Fülle von Wundern
mwahrheitsgetreu berichtet wird.) —
I. Ziegler in feinem lefenswerten (aud) in politifcher
Hinfiht in Bezug auf die Frage eines chriſtlichen Kom-
munismus febr lehrreihen) Bude: „Ein Königstind”,
Verlag der Zieglerfhen Anftalten in Wilhelmsdorf und
ter Buchhandlung der ev. Gefellihaft in Stuttgart, 2.
Auflage, Seite 209 bezw. 160, erzählt, wie man den
Lehrer Thumm in Wilhelmsdorf als einzig in der Not
der Gemeinde dazu geeigneten zum Vorſteher gewählt
habe, obwohl er die Schwindſucht in fo hohem Maße
hatte, daß er fhon längere Zeit nicht mehr Schule hielt
und feine Auflöfung täglid erwartete. Er lehnte die
Wahi jelbftverftändlih ab. Aber die Brüder jagten
ipm: „Du darfit nicht Sterben; wir baben für Dein
Reben gebetet, und der HErr wird Dih uns ſchenken
und Didh genefen laffen.” Thumm ift genefen und hat
jahrzehntelang der Gemeinde vorgeltanden. Der Mili-
tärarzt, der ihn einſt als jungen Menſchen untzrjudt
und als Todestandidaten gefannt hatte, wollte feinen
Augen niht trauen, als er viele Jahre hernach dem
längit Totgeglaubten begegnete. — —
Nur lUnmiffenheit, Verbohrtheit oder Bösmilligteit
tann das immer neue Geſchehen von Wundern leug-
nen. Geſchehen fie aber heute, dann find fie aud
früher geſchehen, und es ift nicht wohlgetan, jeden
Wunderbericht kurzerhand als Märchen und Mythe zu
ftempeln. —
Ih möchte auh das noch ausjprecdhen, daß nad
meiner Erkenntnis nit bloß göttliche, Inden aud
ungöttlide Mächte die Urſache von Wundern fein
fönnen. Doh es würde zu weit führen, mid darüber
noh ausführlich auszulaflen, und ich fürdite, daß ich jo
idon Ihre Geduld, hochgeehrter Herr Profeffor, ftart in
Anfprud genommen habe. —
Auf dem dunklen Gebiet des Spiritismus hat die
Wucht der Tatſachen dazu geführt, niht überall mehr
nur Schwindel und Einbildung zu fehen. Der Re-
fpett vor den Tatfaden, in denen die Welt
des Lichtes und der Liebe in die äußere Sinnenwelt
hereinreicht, muß bei allen dentenden Menjchen größer
werden, und das ift zu fordern im Namen edıter Willen:
ſchaft.
Mit vorzüglicher Hochachtung
G. Leßmann, Paſtor
*
Da die vorstehenden Ausführungen zunädjft nicht für
die Veröffentlichung in „Unjere Welt” beitimmt, inndern
en mid privat gerichtet waren, jo bitte id) die anders
denfenden Lejer, jih nicht an den ftellenweife etwas
idjarfen Ton derjelben zu ftoßen. Der Berfafler hat
meines Erachtens vollkommen Redt, wenn er jagt, daß
die Theorien fid unbedingt nad) den Tatſachen 3u richten
Gaben, und daß fomit, wenn genügend viele von glaub-
haften Zeugen beglaubigte Wunderberichte vorliegen,
ein unvoreingenommener Menſch die Möglichkeit von
Wundern nicht beitreiten folle. Er meint nun, in den
von ihm angeführten und älteren Schriften diefe Be-
tichte zur Genüge beglaubigt zu finden. Die Frage
ift aber ja jet eben die, ob diefe Be:
richte wirtlid überzeugend find Tem
das wird der Herr Einfender ja wohl zugeben, daß
die Beweislaft in diefem Falle auf dem
Behaupter und niht auf dem Beitreiter
ruht. Nicht lebterer hat alfo zu erweifen, daß die frag:
lien Berichte unglaubwürdig, ſondern eriterer, daß fie
glaubwürdig und über jede Kritik erhaben find.
tenne nun leider von den von ihm angeführten Schriften
feine, um über diefe allgemein etwas fagen 3u fünnen.
Aber ſchon der eine Tall, den er anführt, heint mir
3u zeigen, wie wenig ſicher die von ihm gezogenen
Schlüſſe find. Das ift der Fal des Lehrers Th. in
Wilhelmsdorf. Daß nämlich ſchwer Tuberkulöje wider
alles Erwarten, aud wider die ärztliche Diagnofe, noch
genefen und jahrelang leben können, ift eine ganz all:
gemein befannte Erſcheinung; ich felber tenne mehrere
derartige Fälle aus nächſter Nachbarſchaft. Ich will
gewiß niemand daran hindern, eine folde Heilung ge-
gebenenfalls als „Gebetserhörung“ aufzufaflen, aber er
muß troßdem zugeben, daB jo etwas aud jonjt vor:
fommt und daher feinen zwingenden Beweis für
Wunder vorftellen tann. Daß man es als Wunder auf:
faffen fann, nügt uns bier nidts. Es handelt fid
darum, ob man es als foldes auffaffen muß. Und
da zeigt diefes Beifpiel meines Erachtens nur, wie leicht
man in dhriftlihen Kreifen oft diefes „muß“ nimmt.
Diefe Betrachtung ſcheint mir aud in den beiden anderen
Fällen zuzutreffen. Ich muß geitehen, daß fie mid) fo,
wie der Herr Cinfender fie vorträgt, in teiner Weile
überzeugen. Im Falle des Lehrers Haug müßle zu-
nächſt doh mal die Art der betreffenden Augencrfran-
fung feititehen, ehe man darüber irgend etwas Sidjeres
jagen könnte. Es gibt hyſteriſche Blindheit, die unter
Umftänden durd) eine ftarte Suggeſtion geheilt werden
tann. Ich behaupte nicht, daB H. eine foldye gehabt
habe, aber idy verlange, ehe ich midh von einem folden
Bericht überzeugen laffe, daß man diefe oder andere
ebenjo leicht „natürlih” zu erflärende Urſachen aus-
ſchließt. Aehnlich in dem erften alle, wo ein Kind
„mehrere Stockwerke“ herunterfällt. Wie viele? Wie
boh war jedes? Ic tenne ein junges Mädchen, die
das Gleiche erlebte. Das Fenſter war hoch genug, daß
jedermann bei einem Tall da hinunter den fofortigen
Tod erwartet hätte. Sie blieb auch unverleßt. Meines
Wiſſens hat aber weder fie jelber, noh ihre Verwandten
das als Wunder aufgefaßt. Es ift befannt, daß Be-
trunfene in foldyen gefährlichen Lagen ebenfalls oft un—
verlegt daponfommen, wo Normale tot oder jdywer ver-
let hinweggetragen werden. Iſt das auh jedesmal ein
Wunder? Wenn aber hier die natürlide Erklärung ge-
nügt, warum dann nicht in ähnlidyen anderen Fällen
auch? — Kurz: fo einfach, mie der Herr Einjender dieje
Fälle aniteht, find fie meines Eradtens niht abgemadıt.
Wenn er am Schluß den Offultismus zum Wergleich
heranzieht, jo hat er damit auh ganz Redt. In beiden
Raturwiffenfchaftlihe und naturphilofophifche Umſchau. 67
Fällen handelt es fi aber nicht, wie er und mit ihm
fo viele glauben, darum, daß eime gewiſſe wiflenichaft-
liche Dogmatit dem berichteten Unerhörten von vorn:
herein ablehnend gegenüberjteht, jondern darum, daß der
moderne, kritiſch geichulte Menſch, gewibigt durch die
in hunderten von Fällen bemwiejene ofienbare Kritik⸗
‚ Iofigleit „gläubiger” Kreife, mit Recht jet zuerſt bün-
dige Beweiſe verlangt, ehe er etwas wieder glaubt,
was fi) in jo und jo vielen Fällen als Täuſchung und
— gelegentiih auh — Betrug erwiejen hat. Kann man
ibm das verübeln? Aus diefem Grunde muß id den
Vorwurf zurüdweiten, nur „Unwiſſenheit, Verbohrtheit
oder Böswilligteit tönne da3 immer neue Geſchehen
von Wundern leugnen“. Da ich demnächſt näher auf
die Wunderfrage zurüdzutommen gedente, fei es hier:
mit genug. Bapint.
Zu dem Artikel des Herm Profefior Dr. Dennert
in Nr. 12, 1924, „Betrug der Medien”, möchte
id nur einige furze Bemerkungen bringen dürfen:
1) Die Feitftellung, daß meine Abweifung des Okkul⸗
tismus als Stüße der Religion (in Nr. 6) nicht gegen
Herm Profeflor Dr. Dennert gerichtet fein fonnte.
2) Die Frage, ob denn ein naturphiloſophiſcher Schluß
wirtlih eine Beweis traft für den haben fann, der,
von Religion oder Philofophie (Kant), gezwungen, den
Berftand des Menſchen als primäres Mittel, fi
von der Eriltenz des Geiltes überzeugen zu fönnen,
oblefnen muß. Mit anderen Worten, ob es über:
haupt eine Wiſſenſchaft gibt und einen Weg, auf dem
der Rampf gegen den Materialismus Ausſicht auf Er:
folg haben tann. Ob eben niht der Geiſt fih nur dem
Ge ift erfchließt durch innere — nicht finnlie — Cr-
fahrung und nit dur Wiſſenſchaft! Ich halte alfo
einen wiffenfhaftliden Kampf gegen den
Moaterialismus für abjolut ausſichtslos, vor allem aber
ausſichtslos durch Meaterialifationsphänomene Hier
will man durch Erfcheinungen niht etwa philofophiid
ſchließen auf G@eilt, der der Erſcheinung zugrunde
iiegt, jondern man glaubt ihn in Kräften, Energien
oder Formen, die feine Materie find, zu ſehen. Was
aber der Menih finnlih wahrnimmt, ift eben
Materie und nidt Geift. Anders fann ih den
Begriff Materie nit definieren und für „eilt“
habe ich feine andere Tefinition als die negative: Nicht
Materie — Sinmlich nit Wahrnehmbares. Sein mir
undelanntes Weſen tann ich nicht definieren. Ad
Halle die Materialifationsphänomene durchaus nicht alle
für Betrug, jondern für Realitäten, aber eben nur für
eine willlommene Erweiterung unferer Erkenntnis von
der Materie und darum erjdeint es mir für den
Naturwiſſenſchaftler Pflicht, perfönlich bei aller Stepfis
ih damit zu beidhäftigen und nit — weil hier leider
einmal die Naturerjdeinung mit dem Menjen ver-
bunden ift, der betrügen tann — das Sind mit dem
Bad auszufhütten und fi” mit Vorurteil zu wappnen,
wa3 niht wiſſenſchaftlich wäre. Ich halte auh die Un-
griffe der materialiſtiſch eingeftellten Preffe, die tat-
\ählih in der Belämpfung des Okkultismus einen
blinden {fanatismus verraten und fih die Sade redt
leicht maden — für einer Kampf gegen das eigene
Fleiſch und Blut. Nochmals: es läßt ſich meines Crad-
tens lediglich vermuten, daß der Erfcheinung eine nicht
materielle Erijtenz mit Verſtand, Wille, Selbjtbewußt:
fcin, — alfo etwas Perſönliches zugrunde liege, aber
nit wiſſenſchaftlich beweiſen. Zum wiſſenſchaftlichen
Beweis brauchen wir Wahrnehmbares und dann be—
finden wir uns eben im Reich der Materie. Ohne eine
allgemein gültige, poſitive und abſolute Definition von
Geiſt kann es auch nie gelingen, das Verhältnis von
Geiſt zur Materie und ihre Grenzlinien zu beſtimmen.
3) Noch ein Wort zu der Frage: Wer hat zu be—
meijen? Immer der, der behauptet hat. Es ift
doch ganz ſicher, daß eine Erſcheinung, die ich nicht als
Betrug zu entlarden vermag, deswegen doh nod) Be:
trug fein fann und id habe dann auh das Redi und
die wiſſenſchaftliche Pflicht, mit diefer Möglichkeit
zu rechnen und fie in der wiffenfhaftliden
Prefle zu erörtern. Es fann mir feiner zumuten:
„weil du die Erſcheinung niht entlarven konnteſt, fo
mußt du fie fo gelten laffen, wie ich fie dir erklärt
liebe.” Wohl aber darf er verlangen für jeden ein:
zelnen Fall, den ih als entlarot verfündige,
— mas einer neuen Behauptung gleidtommt, —
daß ih ihm dann den vollen wiſſenſchaftlichen Beweis
dafür erbringe. Nun behauptet eine Naturerfcheinung
ſelbſt garnichts über fi; wenn aber ihre Eiklärer
eine fefte Behauptung aufitellen, dann haben fie aud
die Bemweispflidt. Können fie ihr nicht genügen, dann
tennen fie vom Naturwiſſenſchaftler auh feinen Beifall
erwarten, vielmehr müffen fie fid) feine wiſſenſchnftliche
Efepjis nicht nur gefallen laffen, fondern weil fie der
Eade ſehr förderlich ift, herzlich dankbar dafür fein.
MWeihenzell. Hahn, Pfarrer.
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften.
In einer Arbeit, betitel „Wanderung der Jonen in
feften Elektrolyten“ hat G. C. Schmidt die Uus-
fendung von pofitiv geladenen Metallionen aus Salzen
unterfucht, die auf einem reinen Nidel: oder Platin:
draht angebradht waren und hier auf etwa 400 Grad
erhigt wurden (Zeitichrift für Elektrochemie 30, 440;
Phyſikaliſche Berichte 1925, 1, 39). Es wurde feft-
geitellt, daß faſt alle Salze in diefer Weife pofitive Ionen
ausjenden, Daß Zufag von Halogenen die Ausfendung
vermehrt, daß ſchon bei fehr niedrigen Spannungen (von
1 Bolt aufwärts) die Emiffion beginnt u. a. m. Das
Verhältnis von Ladung zu Maffe diefer Teilden hat
Ih. Bolmer m einer weiteren Arbeit (Zeitfchrift für
Phyſik 26, 285; Phyſikaliſche Berichte 1, 41) unter:
juht. Es ergab fih, daß man es hierbei mit ganz
beijonders „weihen“, ò. b. hier: langſamen Anoden-
ftrahlen 3u tun þat. Cine Ueberraſchung in cdyemifd;er
Hinſicht zeigte ſich injofern, als der beim Ausfällen
von Kupferfulfat mit Jodkalium erhaltene Niederidjlag,
der in allen Lehrbüdern der Chemie als ein Gemiſch
von Kupierjodür Cu) mit überjhüfligem Jod ange:
68 Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umſchau
gleiche Lage zu den Windungen fommt. Nun gibt aber
iproden wird, ſich als deutlich zweiwertige Jonen Cu
enthaltend erwies.
Aus Frankreich fommi mal wieder eine Nachricht
über eime vorläufig mit viel Reſerve aufzunehmende
„Entdedung“. U Nodon will (CE. R. 176, 1705)
feitgeitellt haben, daß die Radioaktivität (gemefien an
der photographifhen Wirkung und an der Sonifation)
durch den Einfluß von Strahlungen fid ändert, die von
der Sonne oder anderen Welttörpern ausgehen. Die
Wirkung diefer Strahlungen auf das Radium fol den
betannten magnetifchen Wirfungen der Sonne parallel
gehen. Abwarten!
Eine ähnlich unerwartete Entdedung glaubt ein deut:
iher Privatgelehrter, X. Hofmann in Mehlem bei
Bonn, gemadt zu haben. Nadh den Angaben feiner
Brofhüre über „Magnetifche Kräfte in der Atmofphäre”,
die 1923 im Verlag von Mube-Leipzig erichienen ift
(was fie einem Phyſiker nidyt gerade empfiehlt), hat 9.
einen Apparat konftruiert, der in jehr empfmdlicher Weite
Störungen des maynetifchen Feldes der Atmofphäre feft-
zuftellen erlauben fol. Der Apparat hat den Borzug,
von jedem Phyfifer ohne alle Schwierigkeiten nachkon
ftruierbar zu fein. Er beiteht aus einem Solenoide aus
emem weichen, ausgeglühten Eifendraft von 20 m
Länge. Das Solenoid ift ca. 0,5 m lang, hat etwa
40 Windungen von etwa 16 cm Durchmeſſer und die
Dide des Drahtes beträgt etwa 2 mm. Der Draht ift
nun nicht in üblicher Weife einfach gewidelt, jondern
in der Mitte des Solenoids ift die Widelungsridtung
umgefehrt, jo daß beide Hälften desjelben entgegengejebt
umlaufen werden. Innerhalb des Golenoids find auf
einem ‘Bretten drei möglichſt gleiche Magnetnadeln
(horizontal ſchwingend wie üblich) angebracht, die eine
genau in der Mitte, die beiden anderen etwa in den Mit-
ten jeder der beiden Solenoidhälften. Die Achſe des Sole:
noids wird in die Oſt-Weſt-Richtung geftellt. Hofmann
gibt nun an, daß dieje beiden feitlihen Nadeln dauernde,
mandmal fleme, manchmal aber auch recht groß
werdende Schwankungen (bis zu 60 Grad, einmal fo:
gar bis zu 72 Grad) angezeigt hätten, die er auf die
Einwirkung vorüberziehender magnetifcher Wirbel oder
dergleihen zurüdführen will. Die Ausſchläge erfolgen
bei beiden Nadeln in entgegengefegtem Sinne, jo daß
3. B. beide Nordpole nah innen, nah der Mitte des
Solenoids zu abgelenft werden. Wie er jelber angibt,
find feine Arbeiten bisher von den maßgebenden Fad-
leuten abgelehnt worden. Wenn idh fie troßdem hier
erwähne, jo geidjieht es deshalb, weil ich nad) einer
Korrelpondenz mit dem Berfafler es nicht für ganz aus:
geichloffen halte, daß ihm damit tatſächlich Unrecht ge-
ſchehen ift. 3n feiner Broſchüre gibt er allerdings die
Berfude in einer Form an, die aud mir fofort als fo
wenig einwandfrei erſchien, daß ich fie zunächſt glatt
abzulehnen geneigt war. Er Hat nämlich zuerſt nur
eine Nadel benußt und diefe zur jedesmaligen Ablejung
der ſeitlichen Stellungen nad) den beiden Mittelpunften
der Spulenhälften hin verfhoben. Da die Cijendraht:
mwindungen felbjtredend eine fräftige nfluenzwirfung
auf die Nadel ausüben müflen, fo könnten abweidyende
Stellungen der Nadel in den beiden Geitenitellungen
auf diefe zurüdgeführtt werden, weil es falt
unmöglich ift, daß die Nadel jedesmal in genau die
H. an, daß er die gleihen Refultate auch erhalten habe
mit einem Apparat mit drei bezw. zwei feititehenden
Nadeln, den Ruhjftrat-Göttingen nad femen Angaben
beritellt. Wenn dies zutrifft, fo ift das ja leicht auch
in Nachprüfungen feitzujtellen, und um jolde 3u er
möglichen, habe ih hier die Notiz aufgenommen. Es,
werden unter unferen Leſern ficherlid) welde fein, die
Zeit und Geduld haben, fih einen jo einfadyen Apparat
felber 3u bauen und ihn eine Zeit lang forgfältig zu
beobachten. Natürlid”) müflen alle Störungen mög-
licht ausgefchloffen werden, was bei empfindliden mag=
netiſchen Apparaten bekanntlich eine fehr ſchwierige Auf-
gabe ift. Ueber die Ergebniffe etwaiger Verſuche werde
ih gern hier Bericht eritatten laffen, auh wenn fie
negativ ausfallen. Sehr einfah wäre 3. B. eine Nad-
prüfung dadurch, daß zwei derartige, nicht weit von
einander aufgeitellte Apparate unabhängig von einander
gleichzeitig beobadjtet werden. Sind atmoſphäriſche
magnetiihe Störungen an den Ablenkungen ſchuld, fo
ift anzunehmen, daß fie fi) bei folden einander nahen
Apparaten in gleicher Weile zeigen werden und zugleid
ijt die Annahme, es handle fih um Urſachen m den
Apparaten felber, natürlich faſt ausgeichlofien.
Nr. 2 der Naturmwiflenicyaften enthält zwei intereffante
Aufſätze aus dem Gebiete der phyfiologiichen Chemie.
Der erite mit dem etwas ſchwer verfitändlichen Titel
„Zur Syntheie der moletularen Aſymmeirie“ behandelt
das aud in diefen Blättern (3. B. 1921, Sp. 177 von
W. Eitel) mehrfah erörterte Broblem, wie es
in den lebenden Weſen zum Aufbau
folder Moletüle fommt, welde einen
unifommetrifden Bau haben und infolge-
deſſen die fog. „optifhe Aktivität”, jowie eine unſym⸗
metriihe Kriftallform (Rechts: oder Lintsform) erzeugen.
Solde Stoffe find 3. B. die Weinfäure, der Trauben:
zuder, die Milchſäure u. a. Seitdem Paſteur zuerft
diefe Verhältniffe näher unterfucht hat, ift diefes Problem
cit zum Gegenitand auch naturphilofophiicher Erörierun«
gen geworden. Bei allen fünftliden chemiſchen Syn-
tbefen foldyer Stoffe erhielt man nämlid) jtets entweder
die „inattive“ Mopdifitation des betreffenden Stoffes
oder aber die Rechts: und Linksform in gleiden Men-
gen. Da fidh die beiden entgegengelehten Formen oft
in ihrer phyfiologifhen Wirkung ftar? unterjcheiden (jo
wirft 3. B. inaktiver Kampfer nicht halb fo Start wie
der natürlide Rechtskampfer; ähnlich ift es mit dem
Eocain), jo war es eine wichtige Frage der chemiſchen
Technik, wie man aus folden Gemiſchen die beiden ein-
zelnen Komponenten erhalten fünnte. Schon Paſteur
hatte gezeigt, daß dies in manden Fällen dadurd er
möglicht wird, daß beim Ausfriftallifieren fi neben-
einander Rechts- und Linkskriſtalle bilden, die man
dann mit der Qupe und Pinzette ausfuchen tann. In
anderen {Fällen fann man 3. B. das Gemiſch der beiden
entgegengefeßten Säuren mit einer aftiven Bafe neu-
tralifieren, wobei fi) dann Unterſchiede im Berhalten
der beiden Salze ergeben, die zur Trennung führen
fönnen. In wieder anderen Fällen, fo 3. B. bei der
Milchjäure, wird die eine der beiden Komponenten durd
Einwirftung von Batterien leichter zerjtört als die
andere, die deshalb bei nicht 3u langer Einwirkung
Raturwifienfchaftlihe und naturphilofophifhe Umſchau. 69
übrig bleibt. In allen diefen Fällen aber bedient man
ji entweder ſchon vorhandener aktiver Körper als
Hilfsmittel oder aber die Intelligenz des ausfuchenden
Chemilers erfegt die zielitrebige Wirkung des lebenden
Drganismmus. Deshalb hat aus diefen Ergebnifien der
Vitalismus oft eine Stüte für feine Behauptung zu
nehmen gefudt, daß die Lebensvorgänge von einem
überphyſikaliſchen Prinzip geleitet würden (vgl. aud
W. Eitel a. a. D.). In dem angeführten Auffat teilt
nun Byt, der ſchon früher auf diefem Gebiete Hervor-
getreten ift, gelegentlich” des 50jährigen Jubiläums der
jogenannten Gtereocdhemie unfere heutigen Kenntmiſſe
in dieſer Frage überſichtlich zuſammen. Er jtellt ferner
die Hypotheſe auf, daß das in einigen Fällen beobadhtete
Weberwiegen der einen der beiden formen bei der
chemiſchen Syntheſe darauf zurüdzuführen jei, daß die
zuerft in der Flüſſigkeit gebildeten Kriftallfeime
je nad) zufälligem Zufammentreffen der Atomtraftfelder
mehr linte oder mehr rechte Aggregate ergeben. Wenn
auf diefe Weife einmal Tlüfligfeiten mit moletularer
Aſymmetrie entjtanden find, fo fann eine der beiden
Bafteurfhen Methoden zur weiteren Zerlegung der
primär entitandenen Gemiſche in die beiden aktiven
Komponenten führen. Da nun die optifch aktive Stoffe
enthaltenden Organismen (wie 3. B. die Batterien)
dieje Stoffe ftetsnurindereinender beiden
Formen enthalten, fo tann nad) Byt nunmehr von
jeiten der Chemie folgende Alternative gejtellt werden:
Entweder haben fih die einzelnen Arten von folden
Organismen jede an einer einzigen beftimmten Stelle
zum eriten Male gebildet und von da aus verbreitet.
Dann tann die vorhandene Links: oder Rechtsaktivität
auf den eben erörterten Zufall der Kriftallifation zurüd:
geführt werden. Oder aber jede diefer Arten hat fih
an mehreren Stellen der Erde zugleid) oder nad) ein:
ander gebildet. Dann mußten fih diefe Zufälle jim
Mittel herausheben und gleichviel von beiden Arten
entitefen. Da das aber nicht zutrifft, muß in diefem
Falle die Entitehung nur einer tatfächlich vorkommenden
Mopdifitation auf das Wirken univerjeller, die ganze
Erde gleihmäßig beeinfluffender afymmetrifcher Kraft:
felder (3. B. zirtularpolarifierten Lichtes) zurüdgeführt
werden. Die Entſcheidung über diefe Alternative will
B. den Biologen überlaffen. Die PBitaliften werden
ihm einwenden, daß er eine dritte Möglichkeit außer
Acht gelaffen Habe, nämlid die Entitehung der Aſym—
meirie eben durdy die vitalen „Entelechien” oder der-
gleichen. Worauf B. freilich erwidern wird, daß damit
überhaupt nichts erklärt, fondern das Problem rur in
eine metaphyſiſche Dimenfion verſchoben fei.
“ "Der zweite der erwähnten Auffähe beſchäftigt fidh mit
den Zwiſchenproduklen im Stoffmedhjel der höheren
Pflanze. Der Berfaffer, ©. Klein in Wien, gibt eine
trefflihe turze Ueberjicht über das bisher Erreichte in
den Fragen der Affimilation der Kohlen:
jäure der Atmung und der Afjfimilation
des Stidftoffs. Hinſichtlich der erjteren darf heute,
dur) eigene Verſuche des Berfaffers, die berühmte
Baeyerſche Hypothefe, dah Formaldehyd (CH>O) das
erfte Produkt der Affimilation fei, als erwiejen gelten.
Bei der Atmung ift Ucetaldehyd nad) dem von Neuberg
mit fo großem Erfolg bei der Gärung angemwendeten
Verfahren als Zwiſchenprodukt nadygewieien. Am mwe-
nigiten geflärt find noh die Verhältniffe bei der Affi-
milation des Stidftoffs. Feſt fteht nah KI., daß Am:
moni? und Salpeterjäure gleih gut von der Pflanze
verwertet werden können, jedod im Licht die letztere,
im Dunfel das erjtere beffer ausgenußt wird. Ob aber
im übrigen aller Stidftoff guerft zu Ammoniak reduziert
und dieſes dann etwa mit bereits vorhandenen Gub-
tanzen zu Aminoſäuren aufammentritt, oder ob andere
Swifchenprodufte, wie 3. B. Blaufäure (HCN; vor:
mamid (H . CO . NH2) u. a. m. auftreten und diefe
zum Aufbau der Eiweißitoffe verwendet werden, fteht
nod dahin. Kl. fcheint im ganzen mehr der erfteien
Auffaflung zu uneigen. Im übrigen zeigten feine Ber-
juhe, daß die Affimilation des N in den erſten Shhritten
jhon in der Wurzel vollzogen wird.
Die Wegenerihe Hypolheſe der Kontinentverihiebun-
gen hat noh immer erneute Diskuflionen im Gefolge.
In Nr. 5 der Naturmiflenichaften erörtert H. Hof:
mann -Jena eine Reihe moderner Probleme der Tier:
geographie. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die
Wegenerſche Hypotheſe bei manden desielben, 3. B.
dem Yalproblem glatt verjagt, während fie in anderen
Fällen nicht mehr leiftet als die alte Brüdentheorie
(Beitehen ehemaliger Landverbindungen) aud.
Andererfeits bridt Ed ardt in dem folgenden Artikel
eine Lanze für Wegener vom Standpunfte der Klima:
tologie aus. Er findet, daß fidh bejonders die Eiszeiten
durch die Wegenerſche Hypotheſe im ganzen recht gut
erklären laffen, wenn er aud einiges daran geändert
ſehen will, und zum Schluß jagt er: Gider wird über
furz oder lang aud von der Wegenerſchen Theorie der
Ausſpruch Schopenhauers gelten: „Der Wahrheit ift ein
furzes Siegesfelt beichieden zwiſchen den beiden langen
Zeiträumen, wo fie als parador verdammt und als
trivial gering geihäßt wind.“
b) Biologie.
In Nr. 7 1922, jowie Nr. 1 1924 erwähnten wir
die in kurzer Zeit berühmt gewordenen Finflerihen
Kopftransplantafionen an Woaflerfäfern. F. wollte bei
diefen Verſuchen gezeigt haben, daß der überpflanzte
Kopf eines Männdens einen vorher weiblichen Körper
umjtimmen könne. Wiederholung der Verſuche insbe:
jondere durch von Lengerken hat nun ergeben,
daß anſcheinend eine arge Selbittäufhung Finklers
vorliegt. Bei v. R.s Verſuchen ergab fih überhaupt
feinerlei Verwachſung des Transplantats mit dem neuen
Träger. Er vergleicht die %.ichen Angaben über Ueber-
pflanzung von Woaflertäferföpfen auf Gelbrandleiber
(„Unfere Welt” 1924, ©. 20) mit der Behauptung, man
könne erfolgreich einer Kuh einen Löwenkopf aufpfropfen.
Alles in allem alfo anfdeinend ein böjer Hereinfall.
Zum Glüd kommt fo etwas innerhalb der deutſchen
Wiſſenſchaft doh verhältnismäßig redt felten vor. Leider
find die Verfude auch jhon in die naturphilofophifche
Literatur übergegangen. Sie würden in der Tat, wenn
wahr, ziemlich erhebliches philojophifches Intereſſe ge:
habt haben.
Bon jeher hat den Menſchen die Frage, ob und wie
eine Dorausbeitimmung des Geſchlechts der Nachkommen
möglich ift, ftar? bejchäftigt, und auch Heute find wir
LEE
- = — ——
noch weit von ihrer Löſung entfernt. Einen Schritt vor-
wärts auf dem Wege zur Löſung bedeuten die Verſuche,
die Correns mit Lichtnelfen angeltellt hat. Sie
zeigten, daß bei Pflanzen das Alter der Eizellen ohne
Einfluß auf das Geſchlecht ift, wohl aber das Alter bei
Pollenkörner. Ne älter die Pollenförner waren, tefto
mehr verichob fid das Verhältnis der Geſchlechter in der
Nachkommenſchaft zugunften der männlichen Pflinzen
(Sigungsbericdyt der Preußiſchen Akademie der Wiffen-
ſchaften 24). Erwähnt fei hierzu noh, daß eine lieder:
tragung diefer Feſtſtellungen auf menſchliche Verhältniſſe
nicht angängig ift.
Zum Pithecanthropusproblem ſchreibt Weinert in
Heft 40 der „Frankfurter Umſchau“ 1924. Cine Reihe
von Forſchern jteht befanntlicdh auf dem Standpunft, daß
die auf Java gefundene Schädeldede, die fjeinerzeit als
von dem berühmten „Zwiſchenglied“ zwiſchen Affen und
Menſch herſtammend angefprodyen wurde, ein typiſcher
Affenſchädel einer ausgeltorbenen Riejengibbonart fei.
Weinert vergleidt die Stirnhöhle des Pithecanthro-
pus mit der vom Menſchen und von den Affen. Danad
tann man den Bithecanthropus nicht mit dem Gibbon
in Verbindung bringen, weil diejem die Stirnhöhle ganz:
lich fehle. Nadh der Geftalt der Stirnhöhle und dem
Berhältnis zwiſchen Hirnraum und Schädellänge ftehi
der Pithecanthropus zwiſchen Schimpanſe und Neander:
thaler, während die Stirnhöhle des Gorilla in der ent:
gegengefeßten Richtung von der regelmäßigen Stirn:
höhle des Schimpanfen abweicht. (Natürlich bringt diefe
Reihenfolge feine Abſtammungsverhältniſſe zum Aus:
drud.) — Dieſe Feititellungen ſprechen für die Anſicht
daß der PBithecanthropus der Sproß eines Geitenzweiges
der Menſchheitsentwicklung ift.
c) Naturphilofophie und Weltanfhauung.
Die Feltnummer der „Naturwiſſenſchaften“ anläßlich
des SOjährigen Jubiläums der Berliner
Phyſikaliſchen Geſellſchaft (Heft 3, 1925)
enthält einen horhintereflanten und beadytenswerten Bor-
trag, den Piang bei ver Feſtſitzung gehalten hat. Der Bor-
tiag führt den Titel „Bom Relativen zum Abſolulen“.
An der Einleitung behandelt PI ein Beiſpiel aus der
Geichich!e der Chemie. Die fogerannten Atomgewichte
der Elemente waren zuerſt injofern relativ, als ein
Vielfaches dabei unbeltimmt blieb. Man konnte 3. B.
für das Atomgewicht des Sauerſtoffs ebenjo gut x wie
16, für das des Calciums ebenjo gut 20 wie 40 ujw.
rchmen. Durch die Einführung der Avogadroſchen
Kegel lieh Sich Diele Unbeitimmtheit beheben. Troßdem
bheb das Atomgewicht eine relative Größe inſofern,
als die aus der Chemie befannten Zahlen nur die Ver:
haltniffe der Atomgewichte untereinander, nicht aber den
cbjoluten Betrag derjelben angaben. Audy dieje Rela-
tivität ift heute, wo wir die abfoluten Gewichte der
Atome bis auf etwa 1 Prozent genau angeben können,
in ein „abjolutes” Wilfen verwandelt. Bon dieſem Bei—
Ipiel aus erhebt jih nun PI zu einer umfafienderen
Kritik des von ihm hier jo bezeichneten „Burismus“,
tworunter er die hauptjädlid von Mac) veriretene
Richtung veriteht, die immer wieder auf Fritiiche Säube
tung der gebrauchten Begriffe von allen überflüſſigen
Weitandteilen dringt.
euf Einführung neuer Ideen bedachten Kidytung die:
__ _ Raturwiffenfchaftiihe und naturphileſephiſche Ymfchau
Wenn Ve Vertreter der anderen,
jen Puriften gegenüber einen jo ſchweren Stand hatten
(vgl. Bolg man n), fo erflärt Plant dies jehr treffend
dadurch, daß jene Puriſten ja gerade nur das als zu:
lajlig erachen, was aus den fon anerkannten Arivmen
der Wiſſenſchaft logifch folgt, während die anderen erh
um die endgültige Geftaltung der von ihnen geſuchten
neuen Axiome ringen mülfen. Es ift, jagt PI, nod
fein einziges Axiom als fertiges Syſtem wie Palas
Athene aus dem Haupte des Zeus entiprungen, fondern
es lebt zunädjt nur unvollfommen, ja oft mehr oder
weniger unfiar in der Phantaſie feines Erzeugers und
erbliet häufig erft nad) ſchweren Geburtsmehen das
Ridt der Defientlichkeit. (Dies trifft übrigens für
lands eigene große Leiftung, die Quantenhypotheſe,
nicht 3u.) Bon dem nunmehr jhon der Gefdidte an:
gehörenden Beijpiel der Atomiftif wendet fid) der Red:
ner dann weiter 3u moderneren nod im luffe befind-
lidhen Fragen, jo der nah dem Abfjolutwer:i der
Energie eines Körpers, dem Abſolut—
wert der Entropie und ähnlidem. Jein ift hier
unter anderem befonders die Bemerkung, daß „gerade
eine Theorie der Relativität zur Beitimmung des Ab:
jolutwertes der Energie eines phyſikaliſchen Gebildes
geführt hat“. Zum Abfolutwert der Entropie führt da:
gegen die Quantenlehre, gemäß welder ein phyſikaliſches
Syſtem nur einer ganz beftimmten endlidgen, wenn aud
ſehr großen Anzahl von Zuftänden fähig ift. Die fid hier:
aus weiter ergebenden Folgerungen, die im Endrejultate
einen Erjaß der früheren Stontinuitätsporftellungen durch
die Vorftellung disfreter Mannigfaltigfeiten überhaup!
und damit eine „Arithmetifierung der ganzen Phyfit” al:
möglich erjcheinen laffen, - daß Plang feine Sympathie
diefen Beſtrebungen zuwendet, ift neu —, beleudiet PI.
in weiteren furzen Ausführungen. Sodann zeigt er,
daß ein Gegner, der ihm insbefondere die Relativitäts:
lhaorie vorrüden könnte, im Irrtum ift, wenn er meinen
jollte, man fönne nur mit 'relativen Begriffen arbeiten.
„Eine Leugnung des Abſoluten überhaupt käme nad)
meiner Meinung auf dasfelbe hinaus, wie mwenn je
mand, der nad) der Urfadhe eines eingetretenen Creig:
nilfes forfcht, falls er einmal die Entdedung madıl, dah
ein gewiller Umftand, den er eine Zeit lang für die
Urſache hielt, nidyt dafür in Betracht fommt, nun daraus
den Schluß ziehen wollte, daß das Ereignis überhaup!
feine Urjache gehabt hat. Nein, man fann ebenjowenid
alles relativieren, mie man alles definieren oder alles
beweifen fann. Tenn wie bei jeder Begriffsbildung
von mindeltens einem Begriff ausgegangen werben
muß, der feiner bejonderen Definition bedarf, und wie
jede Beweisführung von einem Oberjaß ausgehen muh,
der ohne Beweis als zutreffend erkannt ift, jo knüpft
jedes Relative im legten Grunde an etwas jelbftitänd!:
ges Abſolutes an. Sonſt ſchwebt der Begriff oder dT
Beweis oder das Relative (i. e. die „Beziehung”. DE)
in der Ruft, ähnlidy wie cin Rod, für den fein Nagel
zum Aufhängen da ift . So ift aud) in der viel:
fad) mißverftandenen WRelativitätstheorie das Abſolute
nicht aufgehoben, fondern es ift im Gegenteil durd ſie
nod jhürfer zum Ausdrud gekommen, daß und inwte:
fern fidh die Phyſik allenthalben auf Abjolutes gründet
Denn wenn das Abſolu‘e, mie mande Erfennini®
'Deoretifer annehmen, nur im eigenen Erleben zu finden
u”
wäre, jo müßte es grundjäßlid jo viele Arten von
Phyſik geben, wie es Phyſiker gibt, und wir würden der
Tatſache verjtändnislos gegenüberftehen, daß es menig:
itens bis zum heutigen Tage möglich ift, eine phyſika—
liſche Wiſſenſchaft aufzubauen, deren Inhalt für alle fid
als der nämlid erweift. Daß nidt wir aus
Zwedmäßigfeitsgründen die Außen—
welt jhaffen, jondern daß umgefehrt
Die Außenwelt jid uns mit elementarer
Bewaltaufzwingt, iſt ein Punkt, welder
in unſerer ſtark von poſitiviſtiſchen
Strömungen durchſetzten Zeit nicht als
ſelbſtverſtändlich unausgeſprochenblei—
ben darf. Indem wir ... von dem Ein:
zelnen, Konventionellen und Zufälli—
gen dem Allgemeinen, Sachlichen und
Notwendigen aujtreben, ſuchen wir hin:
ter dem Abhängigen das Unabhängige,
hinter dem Relativen das Abjolute, hin:
ter dem VBergängliden das Unvergäng:
lide Undfjoweitidfche, zeigt ſich diefe
Tendenz nicht nur in der Phyſit, jondern
in jeglicher Wiſſenſchaft, ja nicht nur
auf dem Gebiete des Wiſſens, ſondern
auh auf dem des Guten und dem des
Schönen.“ Dieſe lapidaren Worte des eriten Phy-
iters Deutſchlands verdienten es, in allen SHörjälen
unserer Hochſchulen angeichlagen zu werden. Gie deden
jih jo völlig mit dem, was id) immer wieder vertreten
habe, daß ih unfere Lejer nur bitten fann, den ganzen
tiefgründigen Vortrag felber nadjzulefen. Einen Auf:
jag mit genau dem gleidyen Thema, den ich ſchon halb
rertig hatte, als ih diejen Vortrag las, hoffe ih troßdem
nod bringen zu Dürfen, da er gerade auf die legten
bei PI nur flüchtig erwähnten Gebiete und auch auf
das von ihm gar nicht erwähnte der Religion eingehen
soll.
Das Kantjubiläum hat, wie begreiflid), eine Unmenge
von „Feſtſchriften“, Reden, Vorträgen uſw. gezeitigt.
Auf einiges davon, was mir vorliegt, fei mit ein paar
Worten bingewiefen. Die Annalen der Philo:
jopbie und philoſopiſchen Kritif, gegen-
wärtig herausgegeben von H. Baihinger und R.
Schmidt, Berlag F. Meiner:Leipzig, beginnen mit
einer KRant-Feftnummer ihren vierten Jahrgang
und fünden darin im Anfang eine Erweiterung ihres
Arbeitsprogramms an. Während fie bisher in der
Hauptjade der „Als Ob-Philoſophie“ Waihingers fid)
mwidmeten, wollen fie nunmehr fih der anderen Aufgabe
zuwenden, „durd frucdhtbares Zujammenmirfen der
Philofophen im engeren Sinne mit den Vertretern der
pofitiven Wiffenjchaften den ſchroffen Gegenjaß unjerer
Zeit, der zwiſchen Idealismus und Poſitivismus, zwi-
ihen Bhilojophie und Einzelwiſſenſchaft bejteht, zu über-
minden.“ Man tann diefem Programm nur von Her:
zen Glück wünfdyen. Die vorliegende erjte Nummer ent:
hält einen Aufjag von R. Schmidt über „Kants Lehre
von der Einbildungstraft” und, was uns beſonders in:
terefliert, einen folden unferes verehrten Bundes:
freundes Geheimrat Profeffor Boltmann Königs:
berg mit dem Thema: „Kant und die theoretiihe Phyjit
der Gegenwart“, jowie einen dritten Aufjaß über „Kant
__Raturwiffenfhaftlihe und naturphiloſophiſche Umfchau.
ui een
und Driefh“ von O. SHeinicden, den wir eben:
falls 3u unjeren &reunden zählen dürfen. Bon Volt:
manns lehrreiden Ausführungen feien bier befonders
folgende Säge am Schluß hervorgehoben: „Würde Kant
auf Grund des heute vorliegenden Materials der mathe-
matiſchen und phyſikaliſchen Wiffenfchaften der Gegen:
wart in gleicher Weile zur Metaphyſik fortfchreiten und
jeine Kritit der reinen Vernunft ſchreiben können, wie
er es auf Grund der Mathematit und Phyſik feiner Beit
getan? Die Frage ift nit unwidtig, bildet doc) heute
rod für viele Kants Kritit der reinen Vernunft ein un-
umjtrittenes Evangelium, dem heute noh nidt nur
fritiihe Philofophie, jondern auh Grundanſchauungen
und Lehren für Mathematit und Phyſik in unveränder:
ter Form zu entnehmen wären... . Täuſchen wir uns
niht, unterſchätzen ſchon Kantianer ſtrikteſter Objervanz
den Einfluß mathematiſch-phyſikaliſcher Vorbildung auf
feine Kritif, jo dürften fie erft recht unterſchätzen, was
mathematijchphylifaliihe Bildung der Gegenwart be:
deutet . . . Ih tann Fr. Harms nur zuftimmen:
‚Wie die Kantiſche Philojophie nun einmal gegeben ift,
bleibt nichts anderes übrig .. . ., als ihre Borausjegun:
gen 3u afzeptieren; ihr Mangel läßt fi nicht von
jiemder Hand vebefiern, fo wenig als dies bei Kunft-
werfen möglich ift? Wir können weder den Stand:
punft einnehmen, daß an Kants Werfen reitlos alle
Stüde und Entwidlungen weiterer wiffenjchaftlicher
Forſchung zum Scheitern verurteilt fein werden, nod
tonnen wir eine Rettung darin erbliden, im Sinne einer
MWeiterentwidlung eine Umdeutung an Kants Werten
vorzunehmen.“ Dieſen Worten Volkmanns tann id)
(Bk.) nur zuftimmen.
Von ganz hervorragendem Intereſſe war ferner für
mid) der Aufſatz von Heinichen über das Derhältnis
von Kant und Driefh. H. der in neuerer Zeit fid viel:
fad) als geſchickter und eifriger Interpret des von der
Biologie zur Philojophie übergegangenen, Kant an
Schwerverſtändlichkeit noh übertrefienden Drieih aus-
gewiejen hat, legt hier in einer überaus klaren Weiſe
ſeine Yuffaffung dar, daß und wie der leßtere das Werf
des Königsbergers erft richtig vollendet habe. Oder
eigentlich noh nicht vollendet, jondern vielmehr die wirt-
li tragfähige Grundlage für die von Kant eigentlich
geplante „Metaphyfif der Natur” und „Metaphyſik der
Sitten” gejchaffen habe: Tenn in Kants Wert fei das
der Grund aller Unflarheiten und Widerjprüche, daß
er nicht reinlich die Aufgabe der Logif als „Drdnungs:
lehre” und die der Metaphyfit als „Wirklichkeitslehre”
auseinandergehalten habe. Id) tann 9. in vielen Bunt:
ten nur beiltimmen, jo 3. B. wenn er jagt: „Die rigoroje
Üblehnung aller bloßen Wahrfcheinlidykeit hat Kant vor
Schwierigfeiten geitellt und zu WBerzichtleiitungen prin-
3ipieller Art gezwungen, die gar niht entſtehen und
nötig find, wenn man die Tatſache im Auge behält,
daß vom Wiffen zum Glauben eine Brüde mit taujend
Pfeilern führt, die dem Willen zunächſt noch feititchen,
allmahlidy immer ſchwankender und ſchließlich jo luftig
werden, daß wir in den Glauben hinein nur nod ſchwe—
ben” (mit „Blauben“ ift hier notabene nicht der religiöſe
Glaube, fondern die willenichaftlie „Vermutung“ ge:
meint), An manden Punkten mußte ich freilih aud
mem Fragezeichen jegen, jo wenn 9. den Drieichichen
72 = Reue Literatur.
— — — —
Beweis für die Rotmendigtel bejonderer vitaler Er:
lärungsfaftoren der Organismen (Dr.s „Enteledien“ )
für vollkommen erbradt hält, wenn er als einziges wirt-
lih „Gehabtes“ das — en anſieht u. a. m. Doch
empfehle ich die Lektüre diejes vortreffliden Aufſätzes
gern einem jeden, der fih für die moderne Philojophie
interefliett. Er wird durch ihn mitten in die heutige
Broblemlage hineingeführt.
Bi
Alle in dieler Zeitichrift beiprom. guten Bücher beiorat jede — und die. Sorfimentsabt. des Keplerbundes
M. Baerting, Der Vaterfhuß. Neue Wege zur
Erhaltung der Manneskraft. Volkshygieniſcher Verlag,
Dresden. Nach dem Untertitel hatte ich zuerjt ange-
nommen, daß es fih hier um eine der zahlreichen mehr
oder minder bedenklichen populärmedizinifchen Schriften
handelt, in denen einem ungefund gewordenen Geſchlecht
fünftlihe Wege zu gefünftelter Scheinheilung gewiejen
werden follen. Ich hatte daraufhin die Rezenſion ab-
gelehnt, aber die Durchſicht des mir troßdem zugefandten
Buches zeigte, daß der Untertitel irreführt. Vaerting,
der auh fonjt vielfah als Eugenifer hervorgetreten ift,
will etwas ganz anderes, als nervös und ſexuell über-
reizten Männern zu den taufend Mittelhen noh ein
neues anpreijen. Er mill zeigen, daß die ganze moderne
Raſſenhygiene (Eugenit) auf einem grundjäßlichen
Holzwege fei, wenn fie immer nur an den Schub der
Mütter und Kinder, aber niht an den der Väter dente.
Nach feiner Meinung ift uns die ſchließliche Entartung
ebenjo wie allen früheren Kulturvölkern jicher, wenn
wir nicht erkennen, daß durch unfere gejamten jozialen
Berhältniffe gerade der widhtigite Faktor der Vererbung,
nämlid) die männliche Keimzelle, unheilbar gejchädigt
wird. An einem großen Tatjachenmaterial will V. nad):
weijen, daß jowohl der männlide Organismus als
Ganzes, wie insbejondere die männlichen Keimzellen
ungleid) empfindlicher gegen alle Arten von Schädigun-
gen find, als die weiblichen, und daß es daher eine un:
jinnige Ordnung der Dinge fei, wenn man dem Manne
alle Arbeit im Lebenskampfe aufpade, die Frau dagegen
nah Möglichkeit von folder zu entlaften fume. Die
Ritterlichkeit des Mannes und die Eigenſucht der Frau
verbinden fih hier nadh feiner Meinung 3u einem un:
heilvollen Bunde. Sicherlich enthalten die von V. vor-
gebrachten Gedanken mandes Wahre. So ift 3. B.
zweifellos wohl erwiefen, daß gerade geijtige Arbeit auf
den Mann eine feimjchädigende Wirkung hat, und daß
lid) jo die verhältnismäßig große Zahl unbegabter Nad-
tommen begabter Bäter erklärt, weil diefe faft alle erft
in fpäterem Alter zum Heiraten fommen. Die Forde-
rung, gerade den hochbegabten jungen Männern die
Frühehe zu ermöglichen, ift jhon oft erhoben worden.
Es ift ftatiftiih erwiejen, daß die erjten Kinder folder
Männer im Durchſchnitt viel begabter find als die
lebten. Die verbreitete und von demokratiſchen Gleich):
machern gefliffentlidy genährte Meinung, hohe Begabung
‘ei an ſich zumeift nicht erblich, ift falſch. Die Erblich—
teit tritt nur zumeift nicht in Erjcheinung, weil fie durch
die Keimjhädigung verdedt wird. Anderen Sätzen des
Berfaffers wird aber eine nüchterne Kritit entgegen:
treten müffen. Daß es, wie er möchte, eigentlich das
Naturgemäße jei, wenn das Weib die ſchwere Arbeit
tut und der „empfindlichere” Mann die leichtere, wird
durch die ganze Natur widerlegt, wo fat überall das
Männden die Rolle des Starfen und Schüßenden jpielt,
und offenbar ift das beim Menſchen auh von Anfang
an jo gewejen. Hier jteht B. im Banne feiner wunder:
lien Theorie, daß das körperliche Kräfteverhältnis der
Geſchlechter lediglich ein Produkt der fozialen Verhält—
nifje jei und in einem Amazonenjtaate ebenfo gut um:
gefehrt fein könnte. Die einfache Gegenfrage genügt,
warum denn bei den nädjtverwandten Affen und
anderen Säugetieren die Sade ebenjo ift. — Es iji
nicht anzunehmen, daß V. mit ſolchen ertremen Forde-
rungen Glüd haben wird. Doc tann es nicht jchaden,
wenn auh die Gejehgeber einmal bedenken, inwieweit
jeine {Forderung auf größeren „Vaterſchutz“ A
berechtigt ift.
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1,20 M, gebunden 2.— M. Stuttgart, Kosmos, Gejell-
Ihaft der Naturfreunde. Franckhſche Verlagshandlung.
— Dem Kenner mittelalterlider Schriftwerke ift es be:
fannt, welche Rolle ajtrologifche Gedanfengänge oft in
ihnen jpielen; der Geſchichtsfreund weiß, wie fehr oft
führende Geilter vergangener Zeiten aftrologifhen Spe-
fulationen verfallen waren, und aud heute nod) zeigt
ein Blid in die Tagesblätter oder eine Durchſicht der
Neuerjcheinungen des Bilchermarftes häufig das Inter-
efje an der Aftrologie. Der Streit über Wert oder Un:
wert aſtrologiſcher Forſchung geht Hin und her. Dak
dabei auf Seiten der Bekämpfer und Verteidiger mand-
mal recht große Unklarheit über das eigentlide Weſen
der Aſtrologie herrſcht, iſt Tatſache Um gerecht urteilen
zu fönnen, muß man Werden und Wefen der Ajtrologie
tennen, muß man auh mit den Grundlagen des moder-
nen aſtronomiſchen Weltbildes vertraut fein. Dieſe
Kenntniffe vermittelt in angenehmer Weiſe das oben
angezeigte Wert. Klar jchildert der Verfafler das Ent:
itehen des aſtrologiſchen Weltbildes, er weiß feflelnd zu
plaudern von den Beeinfluffungen, die ajtrologijches
Denten und Fühlen auf den Menjchen der Vergangen—
heit gewann; er zeigt die oft wunderlide Miſchung von
Irrtum und Wahrheit, von Gelehrjamteit und unfrudht:
barer Spekulation, die im aſtrologiſchen Syſtem fih
findet. An allen Stellen, au da, wo aſtrologiſche Dar:
legungen gegeben werden, ift das Büchlein durchaus
verftändlid. Im Schlußwort ſchlägt der Verfaſſer die
Brüde, die von dem ewig richtigen Kerngedanfen der
Aitrologie herüberführt zum Denken unjerer Zeit. A.
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„UNSERE WELT“
erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post oder Buchhandel, viertelj. 2— Goldmark.
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Was ist und was soll Weltanschauung ? Von Dr. G. Adolf Schmitt. ® Frühlings Einzug im Gebirge. Von
Reinhold Fuchs. ® Der heutige Stand der Marsforschung. Von Prof. Joh. Riem. ® Die Relativität der
' Länge. Zu Einsteins Relativitätstheorie.. Von Dr. Bremer. ® Dalier, Indogermanen und Germanen. Ein
neues Bild vom heutigen und urzeitlichen Europa Von Studiendirektor Dr. Müller. ® Die Natur der Heide-,
Moor- und Salzpflanzen. Von Prof. D, Dr. E. Dennert. ® Warum sind die Pflanzen grün? Von Alfred
Knappe: ® Das Feuerland. Mit 5 Bildern auf besonderer Beilage. Von Studiendirektor Dr. Müller. ®
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' Studien. ® Naturwissenschaftiche Umschau. ® Neue Literatur.
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uutttierte Zeitſchrift Tür Raturwilienihait und MWeltanihanung
Herausgegeben vom Naturmwifienichaftliden Verlag des Keplerbundes e. V. Detmold.
Boftichedtonto Nr. 45744, Hannover.
Schriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Auffäge fichen die Derfeffer;ihre Aufnahme macht fie nicht zur Meukerung des Bundes.
XVIIL Jahrgang
April 1923
Heft 4
GErfenntnistheorie und Wirklichkeit. Bon Rudolf Weinmann. P
Borbemerftung: Ih bitte alle philoſophiſch
irgendwie intereffierten Lejer, den folgenden Auffak
ganz bejonders zu beachten, dem ich reftlos zuftimme.
Möchten diefe m. E. den Nagel auf den Kopf treffenden
Worte doch endlich beherzigt werden! Dann ftände uns
eine neue Blüteperiode der Philofophie bevor, die fih
bislang in ewig unfruchtbarem Zirkel um das Wert
Kants herumgedreht hat. Bapınt.
Die Zeichen mehren fih, daß der Subjeltivis-
mus und Phänomenalismus der legten philo-
ſophiſchen Epoche feinem Ende zugeht. An feinen
eigenen ertremen Formulierungen führt er fich
klbft ad absurdum, feine Zu⸗ und Ueber:
Ipigungen find zugleich feine unfreiwillige Selbft-
auflöfung. Er bat feine Hiftorifche Million er-
füllt, die äußerſten SKonfequenzen der fubjetti-
viftilchen Seite des Kantianismus zu ziehen. Er
hat zweifelsohne gedankliche Möglichkeiten auf-
gezeigt, die in der Geſchichte des philofophifchen
Denkens einmal auftauchen mußten und darin
ihren Pag verdienen. Aber fchlieklich find fie
dodh nur ein fpefulatives Gedankenſpiel gemefen
— genau fo wie die mit Emphafe „über:
mundenen“ metaphyfiichen Gebäude eines Hegel,
dichte, Schelling, ja vielleicht noh mehr als diefe
—, das in einer logifhen Sadgaffe fein Ende
findet. Mit Hufferl, Ridert, Carnap wie mit
Natorp und Cohen ftehen wir fchließlich vor der
— von Natorp ernft gemeinten! — Dilemma:
Frage: „Wiffen wir denn überhaupt, ob die Eri-
ſtenz — exiſtiert?“ Wenn Philofophie zu
loldem Zweifel führt, parodiert fie fich felbft;
und wenn das Philofophie ift, zwingt fie uns,
Philofophie als Zerrbild menfchlicher Vernunft
überhaupt abzulehnen. Dann allerdings tann
der gefunde Menfchenverftand im philiftröfeften
Sinne des Wortes triumphieren,
Aber es gibt einen gefunden Menfchenverjtand
im guten Sinne. Er ift identifch mit menfdhlicher
Vernunft und es muß eine Philofophie geben,
die ihm genau fo wenig widerftreitet wie die ge-
famte konkrete Wilfenfchaft des Geiftes und der
Natur.
Es muß nur endlich die „kopernikaniſche Wen:
dung” gegen allen Bewußtleinmonismus voll:
zogen werden. Cs ift ein grotesfes Vorurteil,
zu glauben und zu behaupten, daß der philo-
fophifche Ichſtandpdunkt diefe Wendung invol—
viere. Selbftverftändlicy gerade umgekehrt! Der
Standpuntt: alles ift Bemußtfein, Crfanntes,
Empfundenes ift — auf erhöhtem Niveau —
Anthropozentrismus äußerfter Objervanzg. Denn
wie vorfichtig und wie vielfagend und wie fom-
pliziert terminologifch fih jeglicher Phänomena-
lismus auch gebärden mag, wie raffiniert er dem
abfoluten Golipfismus mit feinen abfurden und
tompromittierenden Konftquenzen auszumeichen
verfucht: legten Endes tann eben die bewußtſeins—
moniftifche PBofition nichts anderes heißen, als
daß nur das individuelle Ich, das konkrete Einzel:
bewußtfein des gerade Philofophierenden „eri:
ftiert” — eriftiert es denn wirklich”? muß man
mit Natorp fragen! —, daß in diefem Eriftieren-
den alle Eriftenz, alle Wirklichkeit eingefchloffen
ift. Es führt eben feine Brüde aus diefem Ich
zu anderen Ichen außer über eine irgendwie vor:
ausgefeßte, zunächſt fogar höchſt materielle
Außenwelt. Und keinerlei „Bemußtjein über-
haupt“, „Allgemeinbewußtfein“, keinerlei Operie—
ren mit „Ermwartungsurteilen” „@eltung” ufw.
tann darüber hinwegführen, hinwegtäufchen.
Die weiteſte Formel, die lekte Pofition des
phänomenaliftifchen Erfenntnistheoretifers fann
immer nur fein: Abhängigkeit alles Seins, alles
74 Grlenntnistheorie- und Wirklichkeit.
Geſchehens, aller Wirklichkeit, der Gefamtwelt
vom Ganzen der menfchlichen Ertenntnis. Rid-
tig verftanden eine Gelbitverjtändlichkeit: mir
fönnen nur als Menſchen fpredhen und es
bliebe nur Selbjtverdammung zum abfoluten
Schweigen, wenn uns folche Erwägung irgend-
wie beitimmen follte.. Schweigen wir aber nidt,
jo müffen wir natürlich auh über lebte philo-
fophifcye Dinge diefer oder jener Meinung als
Menſchen urteilen. Darüber fann es weder
Distuffion noh finnvolle Skepſis geben. Es wäre
ein Müncdhhaufenfches Beginnen, fih davon, vom
Menfchjein und als-Menſch-denken, emanzipieren
zu wollen.
Die „Exiſtenz“⸗Frage, auf die der Erkenntnis»
theoretifer zielt, wird davon auch garnicht be-
rührt. Für fie ift allein von Ausſchlag, daß
bezw. ob alles Eriftente ein menjchliches Bewußt-
fein vorausfeßt und in weldyem Sinne, mit wel-
hen folgen. (Daß diefe gragejfelbft von
Menſchen gejtellt, von Menfchen erörtert und be-
antwortet wird, fchaltet, weil jelbitverjtändlidh,
aus.) Wenn man nun felbft dem Bewußtieins-
monismus und PBhänomenalismus jeglider
Artung die Borausfeßung eines menſchlichen
oder Menfchheitsbewußtfeins in jedem Sinne
und mit allen Folgen ohne weiteres und ohne
jede Dppofition oder Einfchräntung zugibt, fo
ift er troßdem und von vornherein in feiner
eigentlichen Abficht widerlegt, durch fih Telbit
widerlegt.
Denn: das vorausgefeßte menſchliche Be-
mwußtfein fekt ja bereits den Menſchen vor—
aus! Ob nun als Individuum oder Gattung!
Der Begriff, die Idee „Menſch“ ift gar nicht fap-
bar oder aufitellbar, ohne daß irgendwie der
real erfahrbare, d. h. pſychophyſiſche Menſch, die-
fies wirkliche Stüd der wirklichen Welt jhon als
eriftent gilt.
Alfo: ob menfchlidyes oder Menfchheits = Be-
wußtfein, individuelles oder gattungsmäßiges —
der Menfch ift vorausgefeßt, der diefes Be-
wußtfein hat, und mit diefem Menfchen die ge-
famte Außenwelt, deren Teil er ift.
Man kann alfo fogar noch weiter gehen wie
ih in meiner Arbeit „Philofophie, Welt und
Wirklichkeit") gegangen bin, und fagen, daß
nicht nur die Anerkennung der andern Jehe
(Battungs-Ich!), fondern fogar der Golipfismus
im Grunde die Eriftenz der Welt fchon invol-
viert. So daß alfo der ertremfte Subjettivismus
und PBhänomenalismus felbft {hon — erkennt:
nistheoretifcher Realismus ift. Und legten Endes
) Verlag Oldenbourg, Minden.
vom Realiften gar nicht erft widerlegt oder be-
ftritten werden muß.
Das wäre das lebte Glied in der langen Kette
der Gründe, die den ertenntnistheoretifchen
Idealismus in jeder Form und Spielart zu-
gunften des Realismus entwurzeln.
Um auf die übrigen Hauptgründe, für Die
ih auf meine oben genannte Schrift vermweile,
nur ganz turg hinzudeuten, fei folgendes ange-
führt:
Nur die realiftiihde Grundanficht fchafft und
ermöglicht die Einheit zwiſchen Bhilofophie, fämt-
lien Einzelmifjenjchaften der Natur und des
Geiftes, dem praftifchen Leben und dem gefun-
den, natürlidden Menfchenverjtand. Leßteren als
antiphilofophifh, ungeiftig, mindermwertig zu
brandmarfen, liegt gar feine Veranlaffung vor.
Denn er verträgt fih mit allen tontreten
Wiſſenſchaften einfchließlich Logit, ja er ift nichts
anderes, tann nichts ander:s als diefe felbit fein:
unfere Bernunft ift nicht zerlegbar, es gibt nur
eine, die Vernunft. Entfteht ein Zwieſpalt
zwiſchen ihr und einer erfenntnistheoretifchen
Dottrin, fo ift die ſe im Unredt.
Auf idealiftifcher, phänomenaliftifher Erkennt:
nistheorie als Bafis läßt fich fein praftifcher, tein
wiſſenſchaftlicher Schritt tun, fein Eedanke for:
mulieren, fein Sag niederfchreiben. Man billigt
deshalb der konkreten Willenfchaft (vomit man
die Naturmwilfenfchaft meint) eine Art „provilo-
riſchen“ Standpuntt zu, von dem aus fie den
Kosmos zunächſt als real hinnehmen darf. Zum
Schluß fommt der Philojoph und verwandelt
Erde, Menfchen, Sonnen und Sterne, Welt und
Meltengeichichte, Strahlungsenergien und Ridt-
jahre in eine Art Nichts. Unmöglich, in feiner
Sprache auch nur ein Stüdchen des wirklichen
Befchehens auszudrüden. Ebenfo unmöglid) aber
auch — und das vergißt der Philoſoph gerne —
geifteswifjenfhaftlich etwas in phäno—
menaliftifcher Sprache auszufagen. Nicht nur
Pſychologie involviert allenthalben eine Be-
ziehung zwilchen geiftiger Innenwelt und einer
ihr gegenüberftehenden Außenwelt der objektid—
rhylifaliichen Reize, der nervöfen Vorgänge in
einem phyſiſch eriftierenden Bemußtfeinsorgan
(Gehirn), ganz ebenfo wird Ethbifund Meta-
phyſik finnlos, wenn Menfchheit und Welt,
ftatt als reale Größen gu gelten, zu einer Be-
wußtfeins - Fatamorgana verflüchtigt werden.
„Welt“anfhauung hebt fih felbit auf, wenn
„Welt“ nicht real eriftiert und Gegenftand der
„Anfhauung“ wird. Auh idealiftiiche
Metaphyſik bedingt realiftifde Cr-
fenntnistheorie! (Hört es! BR).
mn. — — — -r
Die Sprache ſelbſt zwingt zum Realis-
mus. Sie verweigert den Dienſt dem Phäno—
menaliſten. „Anſchauung“, „Erfahrung“, „Er:
kennen“ — alles erheiſcht ein Subjekt, das ein
ihm gegenüberſtehendes Obijekt erfaßt, abbildet.
Der Grundbefund iſt allenthalben ein dualifti-
iher. Wenn der metaphyfifche Idealis-
mus das Außen nah dem geiftigen Innen dann
auch geiltig interpretiert, fo hat er doh
den real-objeftiven Beſtand des zunächſt mate-
riellen Außen bereits zugugeben! Der Geiftes-
Monismus ift bedingt und erhält erft feinen
Ginn durd) einen vorausgegangenen Dualismus.
Die naturgegebene Zweiheit wird nur
monitih umgedeutet. —
Auch der Apriorismus — der eigentliche Ur-
grund für alle fubjeltiviftifchen und phänomena-
fiftiiden Tendenzen — zwingt weder zu einem
raum- und zeitlofen Ding an fih, nod führt er
in feinen legten Konſequenzen zur Auflöfung
alles Seins in Bewußtfein. Wenn Kant die un-
überbrüdbare Kluft aufriß zwiſchen Ich und
Nicht-Ich, weil unfere Anfchauungs- und Dent:
formen apriorifh, „alfo” nur (!) fubjektiv feien,
jo müffen wir, auf dem Boden der Entwidlungs-
iehre ftehend, aber auch aus dem Prinzip der
jedenfalls für uns Menfchen allenthalben fih
offenbarenden und geltenden Teleologie heraus
diefe Kluft nachgerade wieder [hließen und
Welt und Ich in entwidlungsmäßig gewordene
„Harmonie“ ſetzen. Diefe Harmonie ift eine „prä-
ftabilierte” infofern, als fie der „Erfahrung“ vor»
ausgeht. Erfahrung fegt a ein, wenn Be-
Metapſychik und Weltanfhauung. soo: Bon Dr. meb. Rudolf Tifhner. C?
Bekanntlich find die metapſychiſchen oder ot:
fulten Erfcheinungen noch nicht allgemein an:
ertannt, und es könnte als verfrüht erfcheinen,
daß man ihre Bedeutung für Theorie, Philofophie
und Religion erörtert; ich meine aber, es ift
doch aus mehreren Gründen gerechtfertigt, ein:
mal zu diefen Fragen Stellung zu nehmen, um
in mehr, da die Gegner auh Gründe theoretifcher
Art gegen die Metapfychit ausfpielen, und
anderfeits von den Anhängern vielfach die of-
fulten Erfcheinungen untritifh in religiöfem
Sinne verwendet werden. Wir wollen alfo ein-
mal verfuchen, ın gerechtem Abmwägen das je-
weilig Richtige der verfchiedenen Standpunkte
f. Stzuftellen, dabei die Tatfachen diesmal auf fih
beruhen laſſend.
Hauptfählich drei Befichtspuntte finden wir
da vertreten. Erſtens den der materialiftifch-
tiſchen Idealismus.
Metapſychik und Weltanſchauung. 75
mußtfein und Bewußtfeinsorgan ſchon vorhan-
den find. Die apriorijche Organifation ift ge-
worden, aber niht durch Erfahrung, fondern
durch fih anpaflende Entwidlung.
Und darum find die Grundformen des Be-
wußtfeins auch die Grundformen der Welt, in
Die das Bemwußtfein zweds Erfaffung eben diefer
Welt hineingeftellt ift.
Sn den Elementen (Formen, Kategorien) des
Bemußtfeins tritt uns das Cepte, Realfte auh
der Welt entgegen.
Raum und Zeit und Raufalität find eben des:
balb jo durchaus objektiv und real, weil fie fo
untilgbar fubjeltiv find. Weber die Realität der
Beit kommt felbft der extremſte Ich-Philofoph
und Bemwußtfeinsmonift nicht hinweg, denn das
Bewußtſein f elb ft ift und ftellt fih dar durch:
aus und nur zeitlich. Wer alfo Bewußtſein zu:
gibt, gibt damit auch Zeit zu.
Mathematiſche Phyfit, fynthetifche Urteile
a priori find fein Problem, fondern eine Selbit:
verftändlichkeit; fein Wunder, fondern eine Not-
wendigfeit. Oder auch: fie find das gleiche Wun-
der wie die Eriftenz überhaupt. Daß und wiefo
etwas erijtiert, ift und bleibt das legte, unerklär-
lihe. Uber dem Eriftierenden Raum und Zeit
und Raufalität nehmen, heißt der Eriftenz die
— Eriftenz nehmen. Bor allem: es fehlt zu dies
jem Beginnen jeder zureichende Grund. Wir
müſſen über das Kant'ſche Ding-an-fich den Weg
zum Ding gehen; nur dann entgehen wir der
x- und der 0-PBhilofophie des erfenntnistheore-
moniftifch Eingeftellten, die der Meinung find,
daß es diefe Dinge deshalb nicht geben fünne,
weil fie in ausgefprochenem Gegenfaß zu den Er:
gebnijfen der modernen Naturwiſſenſchaft ftehen.
Unverhohlen ausgeiprochen wird das im öffent-
iichen Schrifttum allerdings felten, aber wer aus
mündlichen Erörterungen die Anfichten und Cin-
wände diefer Kreife fennt, der fühlt auch aus `
den Arbeiten diefe Einwände und eine dadurd)
erzeugte Antipathie hindurd.
Anders ftellt fih eine immer noch febr einfluß:
reiche philofophifche Richtung, der Neufantianis-
mus, zu dem Dffultismus. Der Neufantianis-
mus behauptet, diefen Phänomenen fomme gar
feine weltanjchauliche, metaphyfifche Bedeutung
zu. Meift bleibt es bei diefem allgemeinen Ber:
dikt; nur felten hat man fih, foweit ich febe,
ausführlicher dazu geäußert. Uber bei den Ge-
16 Metapfochit und Weltanfchauundg.
bildeten, bei denen ein folder Ausſpruch von
philojophiicher Seite einiges Gewicht hat, pflegt
fo etwas trog feiner Allgemeinheit zu wirken,
und der Offultismus ift in Rückſicht auf feine
metaphyfifche Bedeutung erledigt. Kürzlich hat
der Berner Philofoph R. Herbert fih über
diefen Punkt etwas ausführlicher geäußert („Neue
Züricher Zeitung“, 8. September 1923, Nr. 1220)
und es fei bei der Bedeutung der Sache etwas
darauf eingegangen. Herberg fchreibt: „Meta-
pſychologiſche Forſchungen find in erfenntnis-
theoretiiher Hinficht grundfählich bedeutungslos,
da fie des transcendentalen Charakters ent-
behren.” Das will fo verftanden werden: Nad)
dem Neufantianismus ift jede Tatfachenfeftitel:
fung für die rein apriorifche Geltungswiſſenſchaft
der Erfenntnistheorie ohne jede begründende Be-
deutung; es gilt alfo dies Zurückweiſen der er-
fenntnistheoretifhen Bedeutung der metapſychi—
ſchen Tatſachen gerade fo gut aud für alle
anderen Erfahrungstatfadhen. Der Neutantia:
nismus behauptet alfo die durdygängige Be:
deutungslofigfeit der Erfahrung für die Erkennt:
nistheorie, während er die Eriftenz einer Meta-
phyſik überhaupt ablehnt. So ift denn im
Rahmen diefer Anfchauung die Zurüdweifung
der metaphyſiſchen Bedeutung der Metapſychik
fiherlich folgerichtig, aber nur wer fih diefem
Iholaftifchtalmudiftifchen Begriffsgewebe ver-
icyrieben hat, wird diefe TFolgerung anerkennen
müjfen. Es tann natürlich nicht die Aufgabe
diejer Zeilen fein, in eine Widerlegung des Neu-
fantianismug einzutreten; es fei nur gejagt, daß
neuere Richtungen in der Philofophie, als deren
Bertreter ich befonders Külpe, Driefd,
Meffer und Nikolai Hartmann nenne,
die Unbhaltbarfeit feiner Behauptungen erwieſen
haben und ihm gegenüber einen fritifchen Realis-
mus vertreten, der erftens den Tatfachen der Cr-
fahrung beffer gerecht zu werden geftattet und
zweitens auch noh Raum für eine Metaphyjfit
läßt, in deren Rahmen auh der Metapfychit
Gerechtigkeit widerfährt, wie wir das befonders
. bei Driefch jehen.
Schließlich fei noh auf eine dritte Richtung
eingegangen und ihre Stellungnahme in Bezug
auf die weltanfchauliche und metaphyfiiche Be-
deutung der Metapſychik; es find die unfritifchen
Dfkultiften, Theofophen und „Myſtiker“, die man
wohl am beiten unter dem Namen der „magi-
ihen Idealiſten“ zufammenfaffen fann. Für
diefe Richtung ift der Okkultismus das Eintritts-
tor in die Metaphyfif; die okkulten Tatjachen
beweifen angeblich ohne weiteres diefe meift
mehr oder weniger buddhiftiich angehauchte Welt-
anſchauung. Angeblich wird durch die okkulten
Geſchehniſſe die Realität des Aſtralleibes be-
mwiejen; nah diefer Richtung werden ſowohl die
Ericheinungen der Telepathie und des Hellfehens
als auh die der Telefinefe und Materialijation
chne weiteres ausgedeutet. Und die Trance-
äußerungen vieler Medien, die fih fo geben, als
ob fie von Merftorbenen herrühren, werden
meift, ohne viel Kritit daran zu üben, als das
genommen, als was fie fih ausgeben, und bilden
jo angeblid) ein feſtes Beweismaterial zugunjten
des Spiritismus.
Jm folgenden wollen wir nun fehen, was von
den Behauptungen der verfchiedenen Richtungen
zu halten ift, wobei ich den Neufantianismus
nicht weiter berüdfichtigen werde, da fih mit
einer Rıayrung, die den Tatſachen der Erfahrung
eine Bedeutung jenfeits diefes Erfahrungsbe-
reiches überhaupt allgemein abitreitet, eine
Erörterung über den weltanfchaulicyen und meta:
phyſiſchen Wert bejonderer Tatfaden er-
übrigt.
' Wir haben es alfo jet damit zu tun, die fih
diametral gegenüberjtehenden Behauptungen der
naturaliftifhden Monijten einerfeits und die Der
magijchen Idealiſten anderfeits zu erörtern.
Während die einen behaupten, die angeblichen .
oftulten Tatjachen würden den nun einmal eg-
perimentell fejtgeftellten Tatjachen, wie fie die
Wiffenfchaft angehäuft Hat, widerfprechen und
tönnten deshalb niht wahr fein, erbliden die
anderen darin eine Beltätigung ihrer myjtifchen
Anfichten und nehmen deshalb ungefähr alles,
was an offulten Tatjachen berichtet wird, un:
befehen hin. Einig find fih beide Richtungen
nur darin, daß der Okkultismus im Rahmen
einer rationaliftiichen Anficyt feinen Pla Hat
und vielmehr nur myſtiſch aufzufaflen fei, was
die einen mit Entfegen, die anderen mit Be-
friedigung feftitellen.
Zuerft fei die beiden Parteien gemeinfame Be-
hauptung beiprochen, daß der Okkultismus zur
„Moftit” führe. Was ift mit diefem Nätfelmort
gemeint? Das Wort Myftit wird fehr viel mi-
braucht; man pflegt das Verſchiedenſte darunter
zu verjtehen. Der Naturmillenfchaftler nennt
ungefähr alles myjtilch, was er auf Grund feiner
augenblidlihen Anfchauungen niht verfteht; ich
meine aber, man follte das Wort nur in engerem
Sinne verjtehen; ja, am beften folte man es
nur in dem Sinne der mittelalterlihen „My:
ſtiker“ wie Ekkehard ufw. verftehen, die nicht
mit dem Berjtand, der Ratio, zur Erkenntnis
der Welt fommen wollten, fondern durch Ber-
fentung, durch Intuition und durch Eftafe. Der
Metapfohit und Weltanfhauung. 77
moftifhe Weg der Erkenntnis ift ein irrationaler
Weg; wenn man alfo meint, daß der Ottultis-
mus zur Myftit führe, jo will man damit fagen,
daB die ofkulten Phänomene innerhalb einer
rationalen Anſchauung niht begreifbar find.
Sehen wir einmal zu, was von Diefer Be-
hauptung zu halten ift. Wenn wir uns erft den
parapigdhifchen Tatfachen des Hellfehens und der
Zelepatie zuwenden, fo ift es ſicherlich mert-
würdig genug, daß gemiffe Menichen unter Um-
ſtänden ein Wiffen haben können, das fie nicht
durch die Sinne erworben haben, während diefes
Biffen vielfach ganz in der Form von finnlichen
Borftellungen, ja, nicht felten in der Form von
Wahrnehmungen auftritt. Zur Erklärung, — fo:
weit man bisher von Erklärung reden tann, —
ſtehen ſich im mejentlichen zwei Theorien gegen:
über, die phyfitalifche, die der Meinung ift, daß
es fih um Schwingungen handele, und diejenige,
die Darin im mejentlichen ein rein piychiiches
Phänomen fehen will. Falls die „Wellentheorie”
richtig fein follte, fo wären diefe Phänomene
alfo durchaus im Rahmen der üblichen Anfichten
der Naturwilfenichaften erflärbar. Andernfalls
wären fie allerdings nicht im Rahmen der Nas
turwiffenfchaft verjtehbar, ohne damit aber
irrational zu werden, denn Pſychiſches gehört
ebenfogut zur Welt wie Phyſiſches; die Phäno-
mene der Aufmerffamteit, der Affociation, find
gleichfalls pigchifche Phänomene, die wir als piy-
hiidhe Urphänomene hinzunehmen haben. Als
folche find fie alfo weder irrational noh myſtiſch.
Was die paraphyſiſchen Phänomene der Ma-
terialifation und der Telefinefe angeht, jo tann
man auch von ihnen niht fagen, daß fie im
Rahmen der modernen Naturanfchauung grund-
ſätzlich unerklärbar feien, Nach den neueren
Forſchungen handelt es fih bei der Telekineſe
garnicht um unvermittelte Fernbewegung — die
übrigens gar niht unerhört wäre, ich erinnere
nur an die Gravitation, — fondern um
Bewegungen durch Glieder, die vom Organis-
mus des Mediums „materialifiert” werden;
beiden Phänomenen liegt alfo diefelbe Erfchei-
nung zu Grunde, über die fih bisher aus Mangel
an genaueren Forfchungen wenig fagen läßt,
aber es liegt fein Grund vor, daß diefe Phäno-
mene niht in dem rationalen Syſtem der
Wiffenfchaft, in der Nähe von Zeugung und
Wachstum fowie Regeneration untergebracht
werden können.
Auch die vierte Dimenfion, die man mehrfad)
— ob mit Recht oder Unredt, fei hier nicht er-
örtert — zur Erklärung mander Phänomene
berangezogen hat, ift gewiß an fih nichts Jr-
rationales. Gie ift auh fonft von Mathema:
titern unabhängig vom Okkultismus, ja, bevor er
dort erörtert wurde, in den Kreis ihrer Betrady:
tungen gezogen worden. Dasfelbe gilt von derzeit:
lihen Borfchau, dem Prophegeien; auch dies ift
nur eine Tatjachenfrage, die man nidt von
vornherein, — wie es mehrfach gejchehen ift —,
als „Unfinn” abtun darf, indem man fagt, die
Wirkung könne niht eher da fein als die Ur-
fache.
Ich lehne es im allgemeinen ab, in voreilig
unfritifcher Weife mancher Ofkultiften mich auf
die Relativitätstheorie zu berufen, möchte hier
aber doh einmal darauf hinweifen, daß 3. B. der
befannte Mathematiker Weyl in feinem Buche
„Raum, Beit und Materie” davon fpridht, daB
nad) der allgemeinen Relativitätstheorie es prin-
zipiell gefchehen könnte, daß man Ereigniſſe
miterlebt, die 3. T. erft eine Wirkung künftiger
Entfchlüffe und Handlungen find. Es fei aud)
niht ausgefchloffen, „daß eine Weltlinie, insbe-
fondere die Weltlinie meines Lebens, in die Nähe
eines Weltpunftes zurüdtehrt, den fie ſchon ein-
mal paffierte. Daraus würde dann ein radi-
faleres Doppelgängertum refultieren, als es je
ein €. T. A. Hoffmann ausgedacht hat“. Weyl
betont, daß tatfächlich in dem Weltgebiet, in dem
wir leben, derartiges niht vorfomme, aber id)
meine, daß die prinzipielle Möglid-
teit folder Vorkommniſſe nad) den Anſätzen
der allgemeinen Relativitätstheorie es nicht ge-
ftattet, wenn nun tatſächlich derartiges vor-
tommen follte, als „Unſinn“ zu brandmar-
ten. Es wäre dann vielleicht fogar denkbar,
die Anſätze fo einzurichten, daß ein Vorkommen
derartiger Ereignifje in unferem Weltgebiet niht
nur grundfäßlich, fondern auch tatſächlich ver-
ftändlih würde. Sch will auf diefe Ausfüh-
‚rungen niht allzu viel Gewicht legen und wollte
damit nur zeigen, wie vorfichtig man fein muß,
irgend etwas als Unfinn zu begeichnen. Uber
auch, wenn man die Beziehung auf die Relativi-
tätstheorie ablehnt, wäre immer noh die Mög:
lichkeit vorhanden, zu einem Berftändnis der
zeitlichen Vorſchau zu tommen. Belanntlid)
prophezeit die Wiffenfchaft auch fonjt vieles, etwa
eine Mondfinfternis auf Grund der ihr zur
Verfügung ftehenden Kenntniffe, aber nicht des-
halb, weil die Wirkung früher da ift als die Ur-
fahe, wie der Einwand gegen das zeitliche Fern-
leben lautet, fondern weil fie gewifle Kaufal-
reihen genügend überfieht, um auf Grund Ddiefes
Willens ein Ereignis in ferner Zufunft voraus:
fagen zu können. Die Vorherſage bei der zeit-
lichen Borfchau gefchieht nun aller Wahrſchein—
78 Metapſychil und Weltanfhauung.
lichleit nah niht auf Grund des Ueberſehens
von Kaufalreihen, fondern auf Grund eines auf
irgend eine andere Weife erlangten Willens,
über das wir nichts Genaueres fagen können,
immerhin genügt in dieſer Hinficht die Tatjache
des willenfchaftlichen Prophezeiens, um aud) die
zeitliche Vorſchau nicht von vornherein ablehnen
zu müffen. (Vgl. zu obigem meine Arbeit
„Okkultismus in feinen Beziehungen zu Srratio»
nalismus und Myſtik“. Pſych. Studien 1924,
Nr. 1 und 2).
Nachdem wir fo gejehen haben, daß man die
oftulten Phänomene niht von vornherein als
irrational ablehnen tann, fragt es fih, was fie
denn ſonſt in naturtheoretifcher und metaphy⸗
fifcher Hinficht bedeuten. Wie oben fon kurz
erwähnt wurde, gibt es viele Menjchen, die der
Meinung find, daB die fog. ofkulten Tatſachen uns
ohne weiteres die größten metaphyjifchen Auf-
ihlüffe gäben. Darin ftedt eine Webertreibung,
aber meiner Anſicht nah doch auch ein bered-
tigter Kern. Sehr viele Erfahrungstatfachen
haben einen metaphyfifchen Sinn und metaphy-
iifche Bedeutung, es führen alfo febr viele
Brüden in das metaphyjifche Bereich, grundfäß:
lih find demnach die oftulten Tatfachen nicht Die
einzigen, die uns metaphyjifch etwas zu fagen
haben. Anderfeits aber liegt diefer Behauptung
von der großen metaphyfifchen Bedeutung ein
richtiges Gefühl davon zugrunde, daß die okkulten
Tatfahen eine Sonderftellung einnehmen, ohne
daß allerdings tlar wird, worin die Berechtigung
beruht, fie als bejonders bedeutfam für die
Metaphyfit anzufprehen. Meiner Meinung
nach beruht die befondere metaphyfiihe Bedeu-
tung der offulten Erfcheinungen darin, daß es in
eigenartiger Weile Grenzphänomene zwiſchen
der phyſiſchen und pſychiſchen Welt find.
Es ift ein methodifch febr berechtigtes Streben
der indultiven Willenfchaft, ein Phänomen mög-
lichft rein und von fremden Beimengungen ifo-
liert gu ftudieren, handele es fih nun um einen
chemifchen Körper, eine phyjifalifche Erjcheinung
oder einen pfychologiſchen Vorgang; wenn aber
die völlige Iſolierung nicht möglich ift, fo ſtrebt
man menigitens darnach, die Verſuchsbedin—
gungen möglichſt zu variieren. Gerade von
diefem methodifchen Befichtspunft aus feinen
mir nun Die metapfgehilchen Ericheinungen
von einer bejonderen Bedeutung für eine in-
duktive Metaphyfit zu fein, denn bei ihnen
steht Materie und Geift nicht in der gewöhn—
lichen Beziehung zu einander, ja, bei den Phäno-
menen der Telepathie und des Hellfehens fcheint
das Wefentliche der Erjcheinungen ein rein
feeliicher Vorgang zu fein. Aber wenn man
das auch beftreiten follte, fo fteht jedenfalls das
eine feft, dap bei den metapſychiſchen Phäno-
menen die Piyche in einer andern Beziehung zu
der Materie Steht, als wir es ſonſt gewohnt find.
Gerade die Andersartigkeit diefer Beziehungen
ift das Mertwürdige an diefen Erfcheinungen,
gerade deshalb widerjegt man fih ja vielfach
ihrer Anerfennung.
Worin beiteht denn nun des Genaueren der
Unterſchied zwifchen den gewöhnlichen pfychifchen
Vorgängen und den parapſychiſchen? Die nor-
male Wahrnehmung beruht immer auf gemiffen,
die Sinnesorgane treffenden phyſiſchen Reizen,
beim SHellfehen dagegen findet ein Wiffen ftatt,
ohne daß die Sinnesorgane eine Rolle fpielen
und ohne daß irgendwelche phyfiichen Reize
nachgewiefen oder auh nur wahrfceinlich
wären. Das Piyhifche ift alfo hier dirett tätig
ohne phyfiiche Vermittlung und erfährt auf diefe
Weile um Gegenstände und Vorgänge. Aehnlich
liegt die Gade bei der Gedankenübertragung
und beim Gedanfenlefen, auh hier ift eine Ber-
mittlung durch phyfitaliide Wellen durdyaus
unerwieſen und unmwahrfceinlih. Im einzelnen
läßt fih bisher leider wenig fagen, dazu find die
Dinge noh zu wenig geflärt, aber die einfache
Tatfache, daB zwei Individuen ohne materielle
Zwifchenglieder geiftig mit einander in Berbin-
dung treten fönnen, feint mir metaphyfilch von
der größten Bedeutung zu fein; fie zeigt, daß in
der Tat das Pſychiſche nicht notwendig an das
Materielle gebunden ift, fondern eine Gonder-
eriftenz hat, eine Tatjache, die fih ſonſt nur auf
ihwierigen erfenntnistheoretifchen und meta-
phyſiſchen Pfaden erfchließen läßt. Ob man mit
Myers nun annimmt, daß hier eine „Piycho-
rhagie“ eintritt und etwas Geelifches fih ablöft
und von dem einen Individuum zum andern
geht oder ob man annimmt, daß diefer Tatbe-
tand ein Hinweis für ein überindividuelles
Geelifches ift oder ob — wie E. v. Hartmann es
cusdrüdt —, hier ein Telephonanfchluß ans Ub-
folute vorliegt, laffe ich unentfichieden. Nah
derfelben Richtung weifen die Tatſachen des
Hellfehens; auch hier laffe ich es unentichieden,
in welchem Einne man die Erfcheinungen deuten
fönnte. (Ueber die pfyodiftiiche Theorie der para—
pſyichiſchen Erfcheinungen fiehe meine Bücher
„Weber Telepathie und Hellfehen, Münden, 2.
Aufl. 1921 und „Monismus und Dfkultismus“
Lpzg. 1921). Auch Driefch vertritt die pſychi—
ftifche Theorie, fih dabei auf meine längeren
Ausführungen beziehend.
Wie ift nun die Sachlage bei den paraphyſiſchen
Metapſychik und Weltanſchauung. 79
Phänomenen im Vergleich mit den normalen
Bewegungen, die wir 3. B. mit unſern Glied-
maen verurfahen? Bei einem gewöhnlichen
Willensaft wird Materie unter Einfluß von
etwas Pſychiſchem bewegt, durch einen Nerven:
impuls zieht fich der Mustel zufammen, nachdem
der Willensentichluß, alfo etwas Piychifches,
vorbergegangen ift. Bei der Meaterialifation
und der Teletineje ſehen wir aud, daß fid
Materie unter dem Linfluß von Pſychiſchem,
nämlich den Borftellungen des Mediums, be-
wegt. Während wir aber bei dem normalen
Willensakt diefen Vorgang, daß etwas Geiltiges
Einfluß auf Materie gewinnt, zur Not vielleicht
mechanifch deuten fünnen im Sinne der Piydho-
pbyfiologie und der Parallelismustheorie, nad
der die materiellen Vorgänge in unverbrüc)-
lichem Zufammenhang Stehen, ohne daß das
Pſychiſche irgendwelchen Einfluß darauf bat,
vielmehr nur ein bedeutungslofes „Epiphäno-
men” darftellt, ift diefe mechaniltifhe Deutung
bei den parapfgchifchen Phänomenen nicht mög:
lih. Wir haben dabei nicht, wie im Körper, vor:
bereitete Leitungsbahnen, auf denen das phy-
fifhe Gefchehen ablaufen tann, Hier ift es im
wahren Sinne des Wortes mit Händen zu
greifen, daB Piychifches auf Materielles mirtt,
indem Mechanismen irgendweldyer Art fehlen
und die PBaraltelismustheorie ausfcheidet. Mit
Recht betont übrigens Driefch, daß es fih auf
dem Boden der vitaliftilcden Anfchauung nur um
Diftanzunterfchiede handelt, eigentlich fei jede
Aktion des Pſychoids auf den Mustel ebenjo gut
„paraphyſiſch“ wie eine Materialijation.
Wie man fieht, haben wir auf beiden Gebieten
der Metaphyfit eine eigenartige Trennung des
normalen Zufammenhangs von Leib und Seele
und es fann nicht ausbleiben, daß die veränderte
Stellung diefer beiden Reiche zueinander uns
auch Seiten erbliden läßt, die bisher nicht fo flar
hervortraten. Alles in der Metapſychik ſpricht
ein gewichtiges Wort zu Gunften des Bitalismus
und weiter zu Gunften der Wechſelwirkungs—
theorie.
Auch in erfenntnistheoretifcher Hinficht ſcheinen
mir die metapſychiſchen Tatſachen von Belang zu
fein. Die hellfeherifhen Erfahrungen werden
allem Anfchein nah auf einem Wege gemacht,
der von dem Wege, auf dem wir fonft unjere Er-
fahrungen mittels unferer Sinne gu maden
pflegen, gänzlidy abweicht, befonders die foge-
nannten pfochoftopiichen (piychometriichen) Cr-
perimente, bei denen die Berfuchsperfon an
Hand eines Gegenitandes übernormale ganz
Ipezielle Ausfagen über die Vergangenheit eines
Gegenstandes und feiner Befißer macht, fcheinen
mir es auszufcließen, daß irgendwelche phyfi-
kaliſchen Reize dem Menſchen die Kunde von
den Dingen übermitteln. Was nun die Seher
auf Grund ihrer auf ganz andern Wegen er-
haltenen Kunde fagen, ftimmt im wefentlichen
mit den finnlidden Erfahrungen überein. Man
fönnte diefe Tatfache im Sinne des erfenntnis-
theoretifchen Realismus deuten, fie weilt darauf
hin, daß gewiſſe Eigenfchaften den Dingen wirt-
lid) zukommen. |
Auch die zeitliche Vorfchau, deren Wirklichkeit
von den Hauptgebieten der Metapſychik noh am
unficherften ift, wollen wir einmal als erwieſen
anjehen und zufehen, was fih daraus für meta-
phyſiſche Folgerungen ergeben würden. Die
Möglichkeit der zeitlichen Vorſchau ſcheint darauf
hinzudeuten, daß eine menfchliche Freiheit nicht
befteht, immerhin fragt es fih, ob diefer auf den
erften Blid zwingende Schluß gerechtfertigt ift.
Auch der Anhänger der Freiheit beftreitet ja
nicht, daß die Handlung eines Menjchen auf nor-
malem Wege bis zu einem gewiſſen Grade vor-
ausfagbar ift, die freiheit ift alfo nur relativ.
Außerdem ift die zeitliche Vorſchau mit zahl:
reichen Fehlern behaftet; wenn wir davon ab:
fehen, daß man mit den Skeptikern fagen könnte,
die falfhen Vorherſagen feien die Regel und
alles andere nur Zufall, jo tönnte man diefe
Srrtümer entweder als Unpolltommenbeiten
deuten, wie man 3. B. aud) bei einer als wirkſam
anerfannten SHeilmethode Verſager fieht, man
tönnte aber in dieſen Srrtümern auch den
Tingerzeig fehen, daß eben eine gewiſſe, nicht
porausfehbare Freiheit der Handlung beiteht.
Wenn wir alfo auch diefe Frage vorerjt unent-
ichieden laffen müffen, fo zeigt ſich dodh, daß die
zeitliche Borfchau, zumal wenn wir fie erft ein-
mal erperimentell ftudieren fünnen, berufen ift
über folh wichtige Fragen, wie die menſchliche
Freiheit, ein gemwichtiges Wort zu ſprechen, auch
befteht begründete Ausficht, daß wir dann über
das uns fo rätfelhafte Phänomen der Zeit zu
neuen Auffchlüffen tommen.
Ein anderes wichtiges Gebiet fei ausführlicher
beiprochen. Bekanntlich geben manche Trance:
äußerungen von Medien fidh fo, als ob die Mit-
teilungen von einem Berftorbenen fommen; auf
dDiefer eigenartigen Erfcheinung hat der Spiritis—
mus fein Gebäude erridtet. Es muß aber gleich
hier betont fein, daß dies nur eine Deutung
ift; an fih würden die Phänomene aud eine
andere Erklärung geftatten. Während alfo der
Spiritismus eine unermwiejene voreilige Deutung
des Tatbeftandes darftellt, die von vielen
80 __________....._Metapfpchit und Weltanfhauung.
Forſchern abgelehnt wird, tun die Gegner aus
Untenntnis, Gedantenlofigkeit oder auh mit Ab⸗
fit jo, als ob Spiritismus und Okkultismus
dasjelbe wären, vielfach anjcheinend, um damit
den unfritifchen Beifterglauben dem wiſſenſchaft—
lien Oftultismus an die Rockſchöße zu hängen.
Anderfeits rüden aber manhe metapſychiſchen
Forſcher von vornherein weit vom Gpiritismus
ab und meinen, die Frage des TFortlebens nad
dem Tode fei eine Frage des Glaubens und der
Religion. I
Dazu ift mandherlei zu bemerten. Die Frage
des Fortlebens nah dem Tode, wie fie angeblich
durh die Mitteilungen der Medien bewiefen
wird, ift eine reine Tatjadhenfrage, wie aud
Driefcd betont; follte auf irgend eine Weife
diejes Fortleben mwifjenfchaftlich erwiefen werden,
fo müßten wir das ebenfo wie irgend eine andere
Tatſache der wiſſenſchaftlichen Erfahrung fühl
und vorurteilslos annehmen. Bon diefer Frage
aber verjchieden ift die Frage der Unfterblichkeit.
Es könnte ja fein, daß dies Fortleben nur
mehr oder weniger lange dauert, ja, wenn man
fih einmal auf den Standpuntt ftellt, daß das
Tortleben bewieſen ift, fünnte man mandes zu
Gunften der Meinung anführen, daß diefes
Hortleben nicht unbegrenzt ift.
Aber, wie ich fon betonte, halte ich den Be-
weis für das Fortleben nicht für erbradt, prin-
zipiell befteht die Möglichkeit, die Mitteilungen
der Medien auh animiltifch auf Grund hellfehe:
riſcher und telepathifcher Fähigkeiten zu erklären.
Zugegeben muß aber werden, daß die Erflä-
tungen auf diefer Bafis vielfach doch recht ver:
widelt find und man dabei dem lUinterbemußtfein
Fähigkeiten zufchreibn muß, die in diefer Aus:
dehnung fonjt nicht feitgeftellt find, während die
jpiritiftifche Erklärung von beftechender Einfad)-
heit ift, falls man den erjten Schritt tut. „Nur
der erfte Schritt toftet etwas“, aber es fragt fid,
ob damit das Erreichte nicht üb'rzahlt wird.
Wenn alfo auh die Beweiſe der Spiritiften mir
nicht zwingend zu fein fcheinen, fo darf man doh
anderfeits nicht jagen, daß fie ohne Gewicht
wären; gewiß find es Anzeichen (Indizien), die
es g ftatten, ja nahe legen könnten, die Tatfachen
in fpiritiftiijchem inne zu deuten, man darf alfo
von einem Indizienbeweis fprechen, wie es deren
viele in der Willenichaft gibt. Bei einem Jn-
Dizienbeweis fann man vielfadh nicht fagen,
wann er anerfannt werden foll, es ift
tas in gemwilfen Grenzen Temperaments:
und Gefhmadsfahe; aber es könnte dod
der Zeitpunkt kommen, in dem man den
Bemeis, wenn auch nicht für abjolut zwingend.
-eng begrenztes — Fortleben,
jo doch für fo gewichtig halten müßte, daß die
Wagſchale fih zu feinen Bunften fentt. Auch ein
lo £ritifcher Forfcher wie Po d more betont das.
Welchen Wert hat nun die Metapſychik in reli-
giöfer Beziehung? Auch hier möchte ich ihre
Bedeutung im Gegenfaß zu einer großen Partei
niht überjchäßen, ich meine aber, fie ift auch nicht
ganz ohne Wert. Wie ich fchon erwähnte, halte
ift es für verfrüht, wenn niht überhaupt für
falich, die Metapſychik im Sinne einer myftifch-
buddhiftifchen Religion zu deuten. Auch falls
man die fpritiftilche Hypotheſe für erwieſen an-
liebt, dann ift mit diefem Fortleben wenig ge-
wonnen, denn der religiöfe Glaube verlangt nicht
ein zeitlich begrenztes — vielleicht fogar ziemlid)
iondern Un:
terblicdheit und den Erfahrungsbeweis da-
für tann der Spiritismus nicht geben.
Aber damit ift der Spiritismus noh nicht er-
ledigt. Insbeſondere geht es niht an, aus
dem unbcdeutenden, ja vielfach läppifchen Cha-
rafter der Mitteilungen Schlüffe nad) der Ridh-
tung zu ziehen, daß es erjtens wenig wünſchbar
fei, in diefer Art fortzuleben und außerdem auch
recht unmwahrfcheinlih. Habe denn wirklich ein
Iserftorbener nichts anderes zu fagen? Mit einem
gewiſſen Recht weijen die auf dem Boden der
Ipiritiftifchen Hypotbefe ftehenden Forſcher dar:
auf hin, daB das Befremdende fortfällt oder
wenigitens gemildert wird, wenn man annimmt,
daß es die Traumfchichten der Seele find, die fidh
äußern, gerade fo wie auch in diefem Leben vie
Phänomene der Telepathie meift in einem
traumartigen Zuſtande auftreten, außerdem
werden uns die Mitteilungen dur) das Medium
im Trancezuftand übermittelt; beides fönnte
an dem läppifchen Charakter der Mitteilungen
Schuld fein.
Weiter wäre allerdings noh gegen die Be-
deutung dieſer Tatfachen und ihrer ſpiritiſtiſchen
Erklärung zu fagen, daß es überhaupt ein Mi-
verjtehen des Religiöjen bedeutet, wenn man fih
einen Glauben experimentell b:weifen will; es
wäre das ein Verfennen des Weſentlichen am
Glauben, der „über Vernunft und Wiſſenſchaft“
in einem Att bejfondcrer Art Stellung zu der
Welt nimmt, und gerade in diefer Befonderheit
fein Glüd findet.
Aber ich meine, daß dennoch der Spiritismus
nicht ganz ohne religiöfen Wert ift. Erjtens wird
ein Menſch, der fi) von der Wirklichkeit des
Spiritismus überzeugt zu haben glaubt, wenn
er früher der Religion gleichgültig oder feindjelia
gegenüberjtand, nunmehr ganz anders zur Reli-
gion stehen, ftimmt er dod) in einem wichtigen
Etwas über Algen und ihr Studium. ! 81
Buntte mit ihr überein. So fann alfo der Spi-
ritismus die Brüde zur echt religiöfen Ein:
ftellung fein. Bielen Menfchen ift aber eine echt
religiöfe Einjtellung niht möglich, für fie tann
der Spiritismus eine Art Erjaßreligion bilden;
fie finden bier ihre SJenjeitshoffnungen erfüllt
und fühlen fih von der in gewiſſem Sinne idea:
Iiftifchen Weltanfchauung, die ihrem Leben feinen
Sinn gibt, befriedigt. Wenn man aud) die gei-
ftige Höhe des heutigen an Allan Kardec und
Davis antnüpfenden Spiritismus niht allzu
groß bewerten mag, fo jtände nichts im Wege,
ihn nach der Ritung hin auszubauen, die der
geiſtvolle Fechner in feinem „Zend-Aveſta“
gewiejen hat. (Vgl. darüber meine foeben er-
fchienene „Geſchichte der okkultiſtiſchen For-
ihung“ Baum-Berlag, Pfullingen.)
Damit ift jedoch die Bedeutung der Metapiy-
hit für die Religion nicht erfchöpft.e Auch wer
den Spiritismus ablehnt, wird troßdem durch die
Anerfennung der metapſychiſchen Erſcheinungen
den religiöfen Phänomenen gegenüber eine
andere Stellung. einzunehmen geneigt fein wie
der moderne Pofitivift oder naturaliftiiche Mo-
nift. Wie wir oben ſahen, |prechen die meta=
piychiſchen Erjcheinungen fo ftart wie feine
anderen unferer Erfahrung für ein Reidh des
Seelifchen, das nicht nur ein Erzeugnis materiel-
fer Borgänge ift, fondern von ihnen unabhängig
eriftiert. Und die Erfcheinungen [prechen weiter
dafür, daß diejes Seeliſche uns alle miteinander
verbindet und uns umgibt. Wir tommen alfo
auf Grund diefer Erjcheinungen zu Borftellun-
gen von einem überindividuellen Geelifchen, einer
Weltſeele, wie fie der ftar? religiös eingejtellte
Neuplatonismus und von Neueren Shelling
und Eduard von Hartmann vertreten
haben; ja auch mit einem theiftiichen Stand-
puntt, wie ihn James in feinem Werte „Ein
pluraliftifhes Univerfum” eingenommen bat,
wären diefe Phänomene durchaus vereinbar, und
es ftände wohl auch nichts im Wege, die Er:
Scheinungen im Rahmen des landläufigen drift-
lichen Theismus zu verjtehen. Jedenfalls find
fie ein ftarfer Hinweis auf ein felbjtändiges
Reih des Geiltigen.
Zufammenfajjend wird man fagen dürfen, daß
die metapſychiſchen Erfcheinungen weder die Be-
fürdhtungen der Naturaliften noh die Hoffnun—
gen der magifchen Sdealiften rechtfertigen; es
ift nicht einzufehen, daB diefe Dinge nicht ebenfo
gut oder fchlecht rational verjtehbar find wie
viele andere Dinge unferer Erfahrung; jeden-
falls liegt fein Grund vor, fie als irrational von
vornherein abzumweifen. Weiter fahen wir, daß
die Phänomene vermöge ihrer Eigenart von
großer naturtheoretiicher und metaphyſiſcher
Bedeutung find, da fie die beiden Hauptgebiete
unferer Erfahrung, das phyſiſche und das piydji-
idhe, in einem ungewöhnliden Zufammenhang
zeigen und dadurch uns fonft nicht befannte Be-
ziehungen zu ftudieren gejtatten. Und auch der
religiöfe Wert der Phänomene darf, wenn man
aud die Anfprüche der Theofophen zurüdmweijen
muß, nicht gering geſchätzt werden.
+
= e measa i m —— —
— ⸗ — TI 2
Etwas über Algen und ihr Studium. Bon 6. R. Bieter @
: „Saft du felber an was Spaß —
So erzähle andern das.“
Ariftoteles, II. Band, 2. Teil.
Nun bin id) mehr als 60 Jahre alt geworden
und wußte nohh bis vor kurzem jo gut wie nichts
von Algen. Warum und Woher ih nunmehr
Wiſſenſchaft über fie habe, will ich erzählen. Zu:
nächſt ftelle ich folgendes feft: Diefe halb tieri-
ichen, halb pflanzlichen Gebilde können, wenn es
gut g:ht, dreihundert Meter lang werden. Es
gibt eine Sorte Algen — fie trägt den leicht zu
behaltenden Namen Dedogonieae —, die den
Frauenrechtlerinnen bejonders gut gefallen wer:
den, denn in ihr gibt es nur „Zwergmännchen“
— fie find nur fo eine Art Nebenproduft der
Weibchen. Es gibt Algen der allerverfchiedeniten
Geſtalt, der berrlichiten Farben, vom dunflen
Rot bis zum Schönen Weih. Man kann, wenn
man Zahnmeh und die nötigen Apparate hat,
. aus dem Meerestang, der zu den Algen gehört,
Jod machen und damit das Zahnfleifch bepinfeln,
und wer das nicht nötig hat oder nicht will, tann
„Tang“ durch eine kleine PBeränderung zu
„Dung“ maden und ihn auf den Ader ftreuen,
oder fann auch mit gemilfen Sorten Bich füttern.
Dies alles weiß ich feit vierzehn Tagen aus
Meyers Konverfationsleriton vierter, gänzlich
umgearbeiteter Auflage, Seite 341—346. Wa-
rum ich dies aber dort las und lernte, will ich
nun, um auch andere für das Studium auf
dieſem intereffanten Gebiete zu begeijtern, mit:
teilen. Da aber, wie oben erwähnt, manhe
Algen 300 Meter lang werden, fo fann aud)
meine Ausführung nicht fo ganz furz fein.
Am 3. April 1764 wurde Frang Carl Mertens
in Bielefeld geboren als Sohn eines preußifchen
82
an der Bielefelder Akziſe mit acht (!) Talern
im Monat angeftellt wurde. Da er feiner Länge
wegen unter Friedrich Wilhelm I. als Soldat
eingezogen war, fah der Bater mit Schreden und
Grauen feinen kleinen Fr. C. — es fei diefe Ub-
fürzung geftattet — unheimlich fchnell empor-
wachſen. Der Länge des Sohnes entipracd die
Höhe feines Tleißes. Aber wie zwei Schweine
beffer freffen als eines alleine — in einem Blatte
für „Naturfreunde“ ift dies Gleichnis wohl er-
laubt! — fo lernen auh zwei Knaben beffer zu»
fammen als jeder für fih. Darum ließ der
Bielefelder Bürgermeifter, Brand, Fr. C. ges
meinfam mit feinem Sohne in den alten
Sprachen und dergl. unterrichten und zwar mit
ſolchem Erfolge, daß Fr. C. Ion mig fünfzehn
Jahren anderen Knaben Privatftunden gab und
eine kleine Summe für das fpätere Studium
der Theologie erfparte. Da traf den faum
17jährigen Jüngling der harte Schlag, daß er als
Soldat eingezogen wurde. Als es dem Bürger:
meifter gelungen war, ihn gu befreien, fam ein
neues Unglüd: es erblindete der Bater; feinem
Stellvertreter mußte er von den acht monatlichen
Talern, wovon fünf Perfonen leben follten, drei
abgeben. Mit blutendem Herzen brauchte die
Familie die Beinen Erfparniffe des Fr. C. auf.
Aber er erhielt ein Stipendium von 87 Talern,
mit dem er die Univerfität Halle brzog. Des
blinden Baters Abfchiedsworte lauteten: „Ich
bitte Did, Fr. C., tomme mit einem unbefledten
Herzen zurüd.” Unter Entbehrungen, wie fie
felbft heutige, arme Studenten faum tennen,
jtudierte Fr. C. Theologie. Der Aufforderung
eines Profeflors zu predigen fonnte er nidt
nadhtommen, weil er weder einen fchwarzen
Rod noch ſchwarze Strümpfe befaß, die unter
anderem für eine Predigt damals nötig waren.
Rah einigen Anjtellungen in "Bielefeld und
MWandsbe wurde er Lehrer am Pädagogium in
Bremen, mit einem Gehalt von 400 Talern. Für
diefes Gehalt mußte er von Morgens fieben bis
Abends aht Uhr mit einer einftündign Mit-
tagspaufe in der Schule unterrichten; hinterher
gab er noch Privatitunden.
bürdung bradte Fr. ©. feine Schule auf eine
vorbildliche Höhe; als das Bremer Bädagogium
in die „Handelsichule“ umgeändert wurde, ward
er ihr erfter Direktor. Mit 26 Jahren verheiratete
er fi) und war jehr glüdlich.
Nun kommen wir den Algen näher! Jn feinen
fnappen Mußeftunden hatte fih Fr. C. ſchon als
Knabe mit Botanik beſchäftigt. Er kannte die
ganze Flora von Bremens Umgebung. Dadurch
Trog diejer Ueber-
Gtwas über Algen und ihr Studium.
Feldwebels, der nad) dreißigjähriger Dienitzeit
wurde er mit einem Arzte in dem drei Stunden
entfernten Begefad, Dr. Roth, befannt und von
ihm in die Algenkunde eingeführt. In aller
Frühe lief Fr. C. des Sonntag morgens nad;
Vegeſack, im Sommer wie im Winter, auch im
Ihlimmiten Wetter; und Nachts im Dunteln
zurüd. Georg III. von England hatte als Rur-
fürft von Hannover diefem Dr. Roth fo viel Land
an der Wefer gefchentt, wie er haben wollte. In⸗
folgedeffen legte Roth fih einen großen Garten
an, in dem er alle möglichen Pflanzen fo ſorgſam
aufzog, wie ein Bater feine Kinder. Da er einen
reihen Schwiegervater hatte, jo baute er fih in
Hoffnung auf fein fpäteres Erbteil ein Wohn-
und ein Treibhaus. Aber als er gerade darin
eingezogen war, madjte der Schwiegervater
Bankerott, und Dr. Roth mußte fein Leben lang
die Schulden abtragen. Daraus tann man lernen
ſparſam zu fein, fo lange man felbjt noh nichts
in der Tafche hat.
Dr. Roth hat das Verdienſt, feinen vier-
zig Jahre jüngeren freund Mertens in die
Schönheit und Mannigfaltigfeit der ihm’ bis-
her unbefannten Algenwelt eingeführt zu
haben. In dem denfwürdigen Orte Rigebüttel
erblidte Fr. C. zum erften Mal das Meer, und ein
brennendes Verlangen erfüllte ihn, feine Ge-
heimniffe zu erforſchen. Ganze Kiften und Kajten
von Algen fchleppte er nach Haufe und ftellte
mifroftopifche Unterſuchungen mit ihnen an,
trodnete fie ab, bejchrieb fie, und widmete Jahre
lang jede freie Minute diefen feinen Lieblingen.
Jn Bremen hatte er viel Gelegenheit, in die
gerne jeg:Inde Kapitäne mit Erfolg um Ein—
fammeln von Algen zu bitten. So wuchs feine
Sammlung bald zu der bedeutenditen in Deutfch-
land an. Pflanzen, die fih nicht konſervieren
ließen, zeichnete er jo fein und anmutig in bunten
arben ab, daß fie jedes Künjtlerauge erfreuten.
Botanifer aus ganz Europa baten ihn um
Doublctten, aber einen Verleger für fein erites
foloriertes Wert fonnte er trog feiner Berühmt:
heit nicht finden. Man kann fagen: ein wahres
Algenfieber ergriff Mertens. Er vergaß jede Rüd»
fiht auf feine Gefundbheit, und wenn ihn nicht feine
Botanifiergänge immer wieder zu weiten Wan-
derungen veranlaßt hätten, hätte fein von Natur
fräftiger Körper fchon viel eher verjagt.
Der Beruf und die Algophilie füllte Fr. C.'s
Leben fo aus, daß er feine Zeit hatte, fih um das-
politiihe Leben viel zu befümmern. Aber
Napoleon war roh genug, jeinerjeits Mertens
Studium durch die Kontinentaljperre zu ftören,
die das weitere Einlaufen von Algen durd
freundliche Kapitäne ſowie feinen Briefwechfel
Etwas über Algen und ihr Studium. 83
mit englifchen Botanitern hinderte. Und was nod
Schlimmer war: Die Sperre ward Schuld, daß
die Eltern der englifchen Penſionäre, die bei ihm
wohnten, fein Geld für den Unterhalt der Söhne
herüberfchiden konnten. So fam Mertens famt
jeinen Algen in manhe Schwierigkeit. Ueber⸗
haupt war feine Lieblingsbeichäftigung nicht ohne
Gefahren. Die beiden Freunde, Roth und
Mertens, waren nad) der Inſel Fehmarn ges
jahren; fie entfernten fih jo weit vom fichern
Strande, daß fie von der Flut überrafcht wurden
und beinahe, beide Arme voll Algen, ertrunten
wären. Wie fie das angeftellt haben, da die
Ditjee keine Flut und Ebbe tennt, tann ich nicht
angeben. Uber, wie der geehrte Lefer wohl fchon
gemerft hat, fonnte Mertens ja mehr als
andere Leute. Eines Nachts rutfchte unfer Freund
auf der Rüdmwanderung von Vegeſack den Deidy
herunter. Er wäre unfehlbar in die Wefer ge-
fallen, wenn nicht ein alter Weidenbaum den ab-
mwörts rollenden Gelehrten aufgefangen hätte,
jo daß nur der Hut und die von Dr. Roth ge-
ſchenkten Algen in den Strom taumelten. Es ift
ergreifend, daß ein Baum, alfo eine Pflanze dem
großen Freunde der Pflanzenwelt das Leben
retten mußte! Diefem unbewußtem Dante der
Pflanzenwelt fchloß* fih die Gelehrtenwelt mit
Bemußtjein an:
. Halle ernannte ihn zum Dr. phil., die akade⸗
mifche Naturforfchervereinigung Wiens machte
ihn zu ihrem Ehrenmitgliede, ebenfo ähnliche
Geſellſchaften in Philadelphia und Paris, in
Regensburg und Hannover, in Lund Ind Halle.
Die höchſte Ehre, die einem Botaniker begeg-
nen fann, ift die, daß eine Pflanze feinen Namen
erhält. Auch diefe Ehre ward Fr. C. eine Zeit
lang in hohem Maße zu Teil, indem in allen
Weltteilen entdedte Pflanzen den Namen
„Mertenfia” erhielten. Allerdings ftellte fich bei
vielen heraus, daß fie {hon anderweitig befannt
und benannt waren, aber der Lejer weiß, daß
einige Gewächſe noch heute als „Mertenfis“ be-
zeichnet werden. Und diefen Ruhm erreichte Fr.
C., obwohl er noch immer zwölf Stunden Unter:
richt täglich gab! Dabei führte er noh einen leb-
haften Briefwechfel mit nachweislich 43 Gelehrten.
Eine der fchwierigften Tragen ift die der Ber-
erbung. Es fcheint, daß fie auf dDiefem Gebiet der
Algenforfchung gelöft ift; denn Mertens hatte
einen Sohn, der jhon mit 18 Jahren eine große
Berühmtheit in diefem Fache war. Als Mitglied
eines freiwilligen Corps marjdjierte er mit in
Paris ein. Wie waren die großen Naturforicher
an der Seine erjtaunt, wenn ein blutjunger
preußifcher Soldat bei ihnen eintrat und fofort
mit ihnen über Algen verhandelte. Hier lernte
er auch den febr reichen Algologen Turner aus
Darmouth kennen, der ihn mit über den Kanal
nah Zondon nahm. Jn beiden Hauptitädten
ward Heinrich befchworen, feinen Bater zu
Ihiden, auf deffen Schäße und Kenntniſſe man
erft recht begierig war. So machte fih der Bater,
dem der Sohn die Wege fo fchön bereitet hatte,
1816 auerjt nah Paris auf. Er fchreibt: „Paris
fieht wie ein unaufgeräumter Ballfaal am Mor-
gen nad) dem Balle aus. Die Beamten find auf
ein Drittel ihres Gehaltes geſetzt, die Wiſſen⸗
Ichaften jchlummern.” Seine fünfzig feltenften
egotifhen Algen, feine feinften Zeichnungen,
feine ſchönſten Befchreibungen, feine teuerften
Bücher hatte er in eine Kiſte gepadt und fie auf
einem GSegelfchiffe gleich nah London gefandt,
wo er von Gelehrten wie Labillardidre, Juffien
uſw. in Paris reich befchentt, im Haus feines
älteften Sohnes antam. Zunädjft überzeugte er
fih von der glüdlichen Ankunft feiner Kifte und
befuchte dann die berühmteſten Botaniker Eng-
lands auf ihren Gütern. Unter ihnen befaß Lord
Bulad ein Privatmufeum mit fünfzehntaufend
. Gegenftänden, die in einem Katalog von 149
Seiten überſichtlich zufammengeftellt waren. Es
befand fi) u. a. eine Sammlung von Farren,
Moofen und Weiden darunter, wie die Eng-
tänder überhaupt ein mertwürdiges Intereſſe
für Weidenbaumfammlungen hatten. Mertens
hatte viel Gelegenheit, mit feinen Kenntnifjen
zu glänzen, ohne es au wollen. Unbekannte
Pflanzen vermodte er meiſtens fofort zu be-
ftimmen, falſch beftimmte in die richtige Klaſſe
einzuordnen.
Und nun tam der große Tag, an dem er einer
Reihe von Gelehrten feine Schäße vorlegen follte,
im Anfchluß an einen Vortrag über die Algen.
Wer befchreibt fein Entfegen, als er am Abend
vorher die Kifte öffnet und nur Steine darin
findet und Heu, das noch dazu verjhimmelt war.
Eine Arbeit von 18 Jahren, von vielen taufend
mitroftopifchen Unterfuchungen, war vergeblid)
gewefen; im buchftäblichen Sinne: unerjeßliche
Schäße waren für die Wiſſenſchaft verloren!
Mertens war wie zerichlagen. . Er fonnte die
Nacht nicht fchlafen, er erfchien leichenblaß vor
der Berfammlung und teilte ihr unter Tränen
fein Unglüd mit. |
Diejer Diebitahl, jo muß leider der Wahrheit
gemäß berichtet werden, war ſchon auf der
Meier, alfo in Deutjchland, begangen. Ein
Cdiffsjunge hatte die Kiſte erbrochen und in
feinem Xerger, feine Eßſachen darin zu finden,
den Inhalt herausgenommen und in Vegeſack
84 Etwas Über Algen und ihr Studium.
an einen Juden verſchachert. Diefer hatte die
meilten Blätter als Einwidelpapier an Laden-
geichäfte verkauft; die fchönften bunten Beid
nungen hatte er als Bilder verfchleudert. So
war die Sammlung in alle vier Winde zerftreut.
Nur langjam erholte fi) Mertens von diefem
Schlage. Er war ja aud) in der Tat fehr fchwer,
und es tam aud noch hinzu, daß damals — in
den erfiten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts —
in vielen Kreifen Deutfchlands fchon fowiefo eine
febr rührfelige tränenreiche Stimmung herrichte.
Aber noh mehr Grund als zum Weinen um
Algen follte Mertens, der von fih fagen durfte:
„Ich zweifle, daB zehn Menfchen in ganz Bremen
mehr arbeiten als ich“, befommen. Zunächſt
arbeitete er zufammen mit Dr. Rod) an der Her:
ausgabe der „Flora Deutfchlands“, deren Fertig-
jtellung fih durch acht Jahre hindurch erftredte.
Die Erſparniſſe, die er durch Privatitunden oder
Schriftitellern erwarb und die er in einer mit
trodenem Qugzerner Heu (Medicago sativa L.)
gefüllten Blechdoſe fchlau verborgen hatte, be-
nute er 1820 zu Reifen nach Dänemark und
Schweden. Der König leßteren Landes ließ fih
von dem großen Botaniker darüber belehren,
was alles an fchönen Gewächſen in der Tiefe
feines Meeres zu finden fei.
Der Sohn Heinrih tat es indeffen nicht
unter einer dreijährigen Reife um die Welt,
die Nicolaus I. von Rußland zu willen:
ihaftlihen Zwecken ausgerüftet hatte. Bon
ihr brachte er mehr als zweitaufend Algen
und Phanerogamen mit. „Sollte ih es
wohl erleben, von Deinen Schäßen noh etwas
zu jehen zu befommen?“ fchreibt der 67jährige
Bater erwartungspoll. Jndeffen befchreibt, gra-
viert, zeichnet, unterfudht Heinrich feine herr:
lihen Schäße in Petersburg; Bater und Sohn
eröffnen fozufagen ein Rompagniegefchäft in der
‚Algentunde, wobei einer den andern bereichert.
Nur zaghaft ließ Vater Mertens noch einmal
feinen Sohn in die weite Welt ziehen, — aber
es handelte fih um eine neue Entdedung gelieb-
ter Algen. Ein ruſſiſches Kadettenſchiff follte
nach IJsland fahren, das reiche Beute verfprad).
Es ift rührend zu leſen, wie Paterliebe und
Algenliebe in dem Herzen von Fr. C. kämpften:
einerfeits die weite Reife, die eifige Gegend —
andererjeits die dort zu erhoffenden neuen
Schätze! Die Hoffnung überwand die Furcht;
Heinrid) fuhr ab. Schon fah man vom Schiff
aus die Gletſcher und Schneeberge IJslands,
feine grünen Weiden, feine fchwarzen Telfen da
liegen, — das Algenherz Heinrichs fchlägt in
ftürmifchen Schlägen —, da teilt der Kapitän
ihm mit, daß die angefichts Islands zu eröffnende
Schiffsorder laute: „Ohne zu landen nah Kron=
ftadt umkehren!“ Ja, die Algen fordern harte
Opfer von denen, die fich ihrem Dienfte ver:
ichrieben haben. Aber nicht genug mit diefer
Enttäufhung! Auf der Rüdfahrt brah an Bord
Typhus unter der Mannfchaft aus; wie ein Held
juht Heinrich ihn Tag und Nacht zu befämpfen
und die Kranten zu pflegen. An Leib und Geele
geſchwächt fommt er in Petersburg an; tiefes
Heimweh ergreift ihn, aber ehe er die Seinen
wiederfieht, ftirbt er am 29. September 1830
in dem fernen Lande. Anderen dienend, ver:
zehrte er fid.
Indeſſen ift in Hamburg die große Natur-
forfcherverfammlung und Bater Mertens ihr
Mittelpuntt. Frau und Tochter hat er mitge-
nommen, damit fie die fehnfüchtig ermartete
Rückkehr Heinrichs im Hafen miterleben möchten.
War der Bater doch ebenfo als Bater me als
Gelehrter auf diefen Sohn ftolg. Einftimmig
wählten ihn die Teilnehmer zum Borfißenden
der botanifchen Abteilung; in- wie ausländifche
Gelehrte feierten ihn neidlos als den Größten
in ihrer Mitte, fo daB der befcheidene Mann
durh alle Ehrungen fidh tief bedrüdt fühlte.
„Ich habe nie,“ fo fchreibt er, „in meinem ganzen
Reven in unfhuldigen Genüffen aller Art fo
gleichfam gefchwelgt wie in diefen zwölf Tagen.
in Hamburg.” Ein faft unleferlich gejchriebener
Brief voll Hoffnungslofigfeit und Heimweh
Heinrichs erwedte in den Eltern die trübjten
Ahnungen, und nad) vierzehn Tagen traf fie der
ſchwerſte Schlag: die Todesnacdricht des hoff-
nungspollen Eohnes. So febr der Bater fidh
bemühte, fidh tapfer und gläubig in Gottes dunkle
Wege zu finden: fein Leib wie fein weiches Ge-
müt brachen unter diejer Raft zufammen.
Profeſſor Poftels und Dr. Franz Ruprecht
ordneten in Petersburg den — vor allem von der
Weltreife her ftammenden — Algennadjlaß. Nico-
laus I. ftiftete dafür zehntaufend Rubel, ferner
250 Tsreieremplare des fünjtlerifchen Großfolio-
Bandes, in dem Heinrihs Schäße veröffentlicht
wurden. Dem Bater ficl die wehmütige Auf.
gabe der Korrektur der Zeichnungen und Blätter
au. Der Eine fäet, der Andere fchneidet! Afıhma
und Rheumatismus plagten den fchwer geprüf-
ten Mann immer ftärfer, ohne ihm fein Gott«
vertrauen rauben zu fünnen. Selbſt feine Lieb-
linge, die Algen, fonnten ihn niht mehr auf-
muntern; fie wurden ihm zum Ballaft auf feiner
legten Reije, den er über Bord warf. Am 18.
Juni 1831 ging er ruhig heim, mit Gott und
ollen Menſchen im Frieden. Er hinterließ in
Wie man bie Sterne hören tann. 85
442 Großfolio-Kartons mehr als dreißigtaufend
getrodnete Pflanzen, die auf das fauberfte ge-
ordnet waren. Es war das größte Herbarium,
das je von einem Einzelnen angelegt ift. Leider
fand fih weder in Bremen noch in Deutfchland
Intereſſe dafür. Der Direktor des kaiferlich ruffi-
jhen botanifchen Gartens in Petersburg faufte
es für 7000 Taler Bold an, wodurch nicht nur
für die Zukunft diefes Herbariums, fondern auh
für die Witwe des Gelehrten erfreulich gejorgt
war. Co jtatteten die Algen ihrem Entdeder
über fein Grab hinaus fozufagen ihren Dant
ab, wie denn überhaupt, um mit einem Worte
in Goethes Stil zu ſchließen, die eingehende Be-
Ihäftigung mit der Natur einen gar fehr bedeu-
tenden Einfluß auf das Leben des Menichen hat.
Wie man die Sterne hören fann. Bon Stusiendirettor Dr.M. Mütter.
Nah dem griediichen Philojophen Pythagoras geht
die Bewegung der GBeltime im MWeltenraum niht ge-
räuſchlos vor fi, fo wie wir uns beim Anblid des
Sternenhimmels uns das gewöhnlich wohl vorftellen,
jondern: wie eine Kugel, die wir an einen Faden binden
und nun ſchnell mit der Hand herumſchwingen, einen
ſauſenden Ton erzeugt, fo meinte der griechiſche Weife,
ergebe fidh aud bei der Bewegung der Weltentörper
durch das Weltall eine fürmlide „Harmonie der
Sphären“ aus dem Zufammenfluß des Tönens der ein-
zelnen Körper zu einem harmoniſchen Weltakkorde.
Goethe denkt an diefje Vorftellung, wenn er in feinem
„Hauft“ den Erzengel Raphael den Lobpreis des Herrn
beginnen läßt mit den Worten:
Die Sonne tönt nad) alter Weife
In Bruderfphären Wettgefang .. .
Bir. Menſchen vernehmen die Harmonie der Sphären
nit, die nad) der Yauftitelle allein jhon die Herrlid-
teit der Schöpfung verfünden würde. Ift es, weil man
etwas, das man dauernd gleihmäßig hört, jchließlich
gar nicht mehr wahrnimmt? Wie ja auh der Müller
in feiner Mühle oder der Arbeiter in der Fabril erft
dann aufhorchen foll, wenn die Maſchine zum Stillſtand
tommt?
Wenn nun im folgenden von einer neuen Erfindung
berichtet wird, die es ermöglicht, die Sterne wirklich zu
„hören“, jo handelt es fih freilih nicht um das un-
mittelbare Hören des Saufens der Sternenfugeln, fon-
dern genauer um das Hören des Sternenlichtes. Wenn
ein Sternenſtrahl bei der Wanderung eines Sterns in
eine bejtimmte Stelle eines Inftrumentes einfällt, jo
löft er eine eleftrijche Wirkung aus, und diefe wird in
eine Schallbewegung umgewandelt, die man dann ab:
hören tann. Das ift das Wefentlicje bei der neuen Er—
findung, die rein praktiſch zunädjft die Bedeutung hat,
dab man die Zeit (die legten Endes Sternzeit ift!) ge-
nauer als bisher, rein mechaniſch, mit Ausſchaltung der
Vehlerquellen des menſchlichen Beobadhters, beftimmen
oder, wenn man will, — abhören tann. Diefe vorläufige
Andeutung wird jofort verftändlicher werden, wenn nun
näher auf die neue Erfindung eingegangen wird.
Wie geht denn jeht die Zeitbeftimmung vor fi? In
den aftronom:jhen Obfervatorien — bei uns in Pots-
dam, in England in Greenwich uſw. — figi der Be-
odachter vor feinem Teleflop. Er richtet feinen Blid
angeipannt auf einen bejtimmten Stern, der langjam
feine Bahn befchreibt. Nun läuft quer über die Linſe
feines Inftrumentes ein feiner Draht, — mie das
Fadenkreuz in unſern Militärferngläfern. Im Augen-
blid, wo fein Stern den Draht überſchreitet, drüdt er
auf einen Knopf: und nad diefem Zeitpuntt werden
die überaus genauen Feitmefler des Obfervatoriums
eingejtellt oder verbeflert. Uber ein menſchlicher Be-
obachter bleibt immer ein Menſch: die Zeit vom Pe-
obacdhten des Sterns bis zum Drüden des Signaltnopfes
ift vielleicht febr, jehr klein, aber es ift immer eine Beit-
ipanne von gewiffer Dauer, die noh dazu bei ver-
ſchiedenen Beobachtern, ja fogar bei demjelben Beob-
achter, wenn er einmal frijd, das andere Mal müde
ift, verfchteden fein tann. Es fommt aber auf aller:
tleinfte Bruchteile von Sekunden an, ſonſt jtimmt eine
ganze Reihe wiſſenſchaftlicher Berechnungen niht, die
in letter Linie auf der Sternzeitmefjung beruhen: Pol-
abplattung der Erde, Verſchiebung der Feſtländer der
Erdoberflähe ujw. Zwei Franzoſen, Ferrie und Iou-
auft, haben nun einen Apparat erfunden, der den menje-
lihen Beobachter und damit das jubjeltive Element
ausichaltet. Die Umjegung des Lichtfignals in ein elef-
triides bewirten fie mittels der fogenannten photo-elet-
triihen Belle.
Ihre Wirkung beruht auf der Tatjache, daß gewiſſe
Elemente, wenn fie beleuchtet werden, kleinſte Teilen
Elektrizität abgeben. (Wir müffen — nad) den neue-
ften Forſchungen — uns die Elektrizität tatſächlich wie
einen Stoff vorjtellen, und die kleinſten Clektrizitäts-
teilden nennt man in der Sprade der Wiſſenſchaft:
Elektronen.) 3u den Körpern, die bei Beltrahlung
Clettronen ausfenden, gehört aud) das Metall Kalium.
"Mit Luft oder Waſſer zufammengebradt, reagiert es
febr heftig, indem es fih gierig mit dem in der Luft
wie im Waſſer enthaltenen Sauerftoff zu vereinigen
trachtet. Man fchließt es daher in Form eines Metall-
plätthens in eine luftleere Glasbirne ein, die ftatt Quft
Argon oder Helium enthält, beides fehr träge Gafe, die
fi mit dem Kalium nicht verbinden. Das ift im
wejentlichen die photoeleftriiche Zelle, in die auf der
einen Geite durch einen Glasfenfterfpalt der Strahl
fällt, der die Elektronenausftrahlung auslöfen foll. Die
Elektronen Strömen in den Raum, den das träge Gas
einnimmt, und fpalten einige der Gasatome, die da-
durch 3u Eleftrizitätsleitern werden, was bewir!t, daß
nunmehr ein eleftriiher Strom leichter durch die Zelle
hindurchgeht als vorher. Dieje Veränderung der Leit-
fähigkeit ift mittels eines Metallringes mekdar, Ser in
In ——
- -a
—
* X 22 ze .. ”
86 Das neue Windkrafiſchiff.
der Birne angebracht und mit einer elektriſchen Batterie
verbunden ift.
Wie die Ausmaße der Elektronen winzig klein find,
— Milliarden gehen auf eine Nadelſpitze, — fo ift auf)
die Zeit, die Der ganze Vorgang dauert, unendlicd Klein.
Wir haben nun, grob geſprochen, Licht in Elektrizität
umgewandelt. Ganz winzig ift die in Frage fommende
Strommenge. Aber wir haben ein Mittel, winzige
elektriſche Wechſelſtröme zu verftärten, ſowie durch ein
Mitroftop winzige Gegenſtände dem Auge vergrößert
werden. Das ift die jedem Funkfreund bekannte Elek⸗
tronenröhre oder Glühkathodenröhre. Mittels einer ge-
eigneten NRadioapparatur ift es den oben genannten
Erfindern in der Tat gelungen, den Strom fo zu ver:
ftärten, daß er als Radiowelle weitergefandt werden
tann. Die Umwandlung einer eleftriihen NRadiowelle
in eine Schallwelle aber ift eine alte Sade, jeder Funt-
freund „hört“ ja dauernd „Elektrizität“.
In der Pragis geht die Sade nun fo vor fidh, dab
der Gternitrahl durh das Teleftop — ftatt in das
Auge des Altronomen — in die photoelektriſche Zelle
fällt und die gejchilderten Vorgänge auslöft, jo daß man
in leter Linie im Radioapparat einen deutlichen Ton
hört. Genauer: in dem Augenblid, wo die Erde auf
ihrer Bahn fo weit ift, daß es fcheint, als fei der
beobachtete Stern Hinter den Draht des Teleflops ge-
langt, ift der Lichtjtrahl einen Augenblid unterbrochen;
der im Funkapparat abgehörte Ton ijt im felben Augen:
blid ein anderer. So fann man Gternzeit mechaniſch
meſſen, jo tann man, wenn man will, die Sterne fingen
hören, jeden Morgen und jeden Abend.
„Scientific American“, deffen Bericht über die neue
Erfindung ich hier wiedergegeben habe, knüpft daran
eine reizvolle Betrachtung mit Ausbliden auf weitere
Möglidjteiten, die fi aus der Erfindung ableiten laffen,
wenn man befonders die Ummwandlung von einer der
ſechs Energiearten (Licht, Bewegung, Wärme, Schall,
Elektrizität, demifche Affinität) in eine andere ins Auge
faßt. — Auf folden Ummandlungen einer Art von
Der Name Flettners, der heute überall ges
nannt wird, ift in den Kreiſen der Seeleute und
der Luftjchiffer Schon länger befannt. Bor Jah-
ren trat nämlich der genannte Erfinder mit einem
eigenartigen Ruder an die Deffentlicjkeit, das
bier nicht übergangen werden foll, weil feine zu—
nehmende DBerwendung es gemillermaßen als
etivas immer Neues erfcheinen läft.
Uinfere erfte Skizze Stellt das Yletiner-Ruder
dar. Sie maht nicht den Anſpruch, die Formen
des wirklichen Upparates zu zeigen, jondern fie
- im Grunde unzulängliden, Einfällen abgeſehen, fehlte
Dag neue Windkraftſchiff. Von Hans Bourquin.
Energie in die andere beruht ja ein weſentlicher Teil
menſchlicher Ziviliſation; immer, wenn eine neue Um:
wandlungsart gelang, ergab fih ein gemaltiger Fort:
Ichritt auf techniſchem Gebiete (Wärme in Bewegung:
Dampfmaſchine; Bewegung in Elektrizität: Dynamo;
Elektrizität in Licht: Glühfaden, Elektrizität in Schall:
Telephon ufm.).
Bon dem Optophon Fournier d'Albes und ähnlichen,
in der Reihe der mögliden Energieumwandlungen vor
allem die von Licht in Elekirigität.‘) Die photoelektriide
Zelle in Berbindung mit dem Radioapparat bedeutet
hier einen neuen Meilenftein auf dem Wege. Der Be:
tihterftatter denkt bei feiner Zutunftsmufit vor allem
daran, daB ja in der Tat die größte Menge
von Energie uns in Form von Kit zuſtrömt
Es ift das Sonnenlicht. Was wir täglid davon
erhalten, fommt der Arbeitsleiftung von 80 Milliarden
Tonnen Kohle gleih! Mit dem Sonnenidein eines
Tages könnten die Räder aller Fabriten der Welt in
Gang gebracht, alle Eifenbahnen und Schiffe auf über
20 000 Jahre gefahren werden! Nur wir haben nid
das Mittel, die Lichtenergie in eine paflendere Energie:
art zu verwandeln. Dürfen wir hoffen, daß eine ferne
Zukunft die Aufftellung einer Unzahl von photoeleltri-
[den Zellen erlebt, die alle Werte der Welt mit nie
verfiegendem Cnergievorrat [peifen? Der Ameritaner
ſelbſt ift zurüdhaltend mit Prophezeiungen, erinnert
aber daran, daß auh Edifons erfte elettrifche Lampe
oder Marconis erfte Verſuche wenig mehr waren als
wiſſenſchaftliche Spielereien. Und Ferriés Erfindung be
deutet ihm mindeftens ebenfoviel, — einen erften Schritt
auf einem Wege zu einem nod ferneren größeren iel.
1) Wiſſenſchaftlich geſprochen find Lichtwellen von elet:
trifhen Wellen nur durch ihre größere bezw. fleinere
Länge verſchieden; der Interfchied ift eigentlich gar fein
grundfäßlicher, fondern nur ein gradiger.
— — ——
mn — —
will nur den Grundgedanken der wertvollen Er:
findung anfchaulih maden. Die große Fläche
bedeutet das eigentliche Steuerruder; Die feine
Dagegen ift die fogenannte Slettnerfloffe. Durch
befondere Vorrichtungen wird zunächft nur diefe
loffe gedreht, und das Waffer ſtellt daraufhin
das große Ruder felbfttätig ein. Es ift tlar, daB
dadurch eine erhebliche Erfparnis an Gleuer
crbeit erzielt wird. Mehr und mehr fommt dies
Ruder in Aufnahme, und es leiſtet nicht nur auf
hoher Gee, fondern auch in der Binnenſchiffahrt
Das neue Windfraftfchiff 87
vortreffliche Dienfte. Wenn beifpielsweife auf
dem Rhein das Binger Loch zu durchfahren ift,
wird auf einem Schiff, das mit dem Flettner:
Ruder ausgerüjftet ift, viel befchwerliche Anſtren⸗
gung vermieden. Im Gegenfaß zum gemöhn-
lichen Ruder kann fih dasjenige nah Fleitner
rings im reife drehen. Es wird dabei nicht an
die in der Skizze angegebene Grenzlinie links
anjtoßen, wenn die Drehung um die Achfe er-
folgt, die teils als Hülfslinie angegeben ift.
zus
Ruderbild.
Die Slettnerfloffe findet aber nicht nur Ber:
wendung auf dem Waffer, fondern auh in der
Luft. Bereits in der Kriegszeit wurde fie zur
Einjtellung von Höhen: und Seitenfteuern bei
Flugzeugen benutzt. Und es wartet ihrer noch
ein beſonderer Dienſt bei Windmotoren. Man
will nämlich Motorflügel mit Flettnerfloſſen ver-
ſehen, die ſelbſttätig vom Winde geſteuert werden,
und deren Lage dann weiter die richtige Ein—
ftellung der großen Flügel oder Schaufeln be-
forgt.
Ehe Flettner fein Rotorfchiff baute, dem wir
uns jekt zuwenden, hat er auf eine andere Weife
verjudt, die Windkraft recht voll auszunußen.
Aud dabei fpielt noh die Floſſe eine ent|cheidende
Rolle. Es jollten nämlich Segel, die aus Metall
gefertigt waren, durch Floſſen genau in die zum
Sahren nötige Lage gebracht werden, die wieder:
um über eine Fahne vom Winde jelbft beftimmt
wurde. Diefer Gedante ift dann fallen gelajjen
worden, und im Flettner-Rotor ift ein Mittel
gegeben, das beffer zum Ziele führt.
Die Wirkung der Flettnerfchen Rotoren beruht
auf dem Magnus-Effelt, der zwar „ſchon feit
1853 bekannt“ ift, über den aber bislang wohl
nur wenige Beicheid gewußt haben. Magnus
fetbft þat ihn faum näher erforfcht; er ift nur
zu der Erkenntnis gelangt, daB er „febr bedeu-
tend” fei.
Worin befteht er und worauf gründet er fih?
Die zweite Skizze foll darüber Auffchluß geben.
Der geichloffene Kreis tell! den wagerechten
Schnitt durd einen Zylinder dar, der in der Rid-
tung der eingetragenen Pfeile — alfo im Sinne
der Uhrzeigerdrehung — umkdhft. Kommen nun
von lints her Luftmaſſen angejtrömt, fo werden
fie hauptfächlich oben — im Bilde — den Zy—
linder umgehen. Denn dort bewegt fih die By-
linderhaut gleichfinnig mit der Strömung, fo daß
wenig oder feine Reibung zwiſchen Luft und
Drehkörper auftritt. Wenn von einem bereg-
neten Bergabhange Wafler herabrinnt, fo ſucht
fich diefes ganz von felbft den Weg aus, auf dem
es feine Höhenfpannung am fchnellften und leih:
teften verlieren tann. So bevorzugt auch hier
die Luft bei der Wahl zwiſchen zwei Umftrö-
mungswegen denjenigen, der als der bequemere
erjcheint.
Es bildet fih auf diefe Weife oben eine ziem-
(ih lebhafte „Lünftliche Zirkulationsftrömung”
aus, bei der eine hohe Befchleunigung der Luft-
teilhen auftritt. Und diefe bewirkt wieder einen
fräftigen Unterdrud, oder einen „Sog“, wie man
lich fachmänniſch ausdrüdt. Dieſer Seraftantrieb
ift in der Skizze durch den Pfeil oben in der
Mitte dargeftellt.
Auf der Gegenfeite entfaltet fih dagegen ein
Drud, der durh den Pfeil unten bezeichnet ift.
Denn bier werden die Quftmaflen durch die Rei-
bung, die durch die Gegendrehung des Zylinders
veranlaßt wird, gehemmt und dadurch zujam:
mengepreßt; außerdem erfolgt ein gewilfer Rüd-
ſtau durch die Teilchen, die aus der Zirkulations—
jtrömung rechts antommen.
Jn der Mitte des Bildes ift ein Pfeil gezeichnet,
der eine Zufammenfaffung beider Kraftantriebe _
bedeutet.
ng, I gu
Kreisbild (Magnus-Effett)
Es bildet fih fo ein Trieb quer zum Winde
aus, und wenn diefer einen Wert hat, fo gilt es,
alles zu verhindern, was ihn mindern fünnte.
Eine Gefahr in diefem Sinne bejteht tatjächlidh.
Denn es wird fomohl der Unterdrud als aud) der
Ueberdrud beftrebt fein, ſich längs der Zylinder:
N
>.
88 Beobachtungen aus dem Leferfreife.
baut nad) oben und unten auszugleichen, wodurd
natürlich der Antrieb in wagerechter Richtung
an Stärke verlieren muß. Bildet man jedoch die
Stirnfläcdhen des Zylinders zu Scheiben aus, die
gehörig überragen, fo tann einer ſolchen Aus—
gleichung gewehrt werden.
Sehen wir uns nun die Flettner-Rotoren felbjt
an, indem wir dabei den Ausführungen folgen,
wie fie Flettner gegeben hat. Im allgemeinen
haben die Schiffe je zwei fih drehende Türme.
Nur auf Segeljachten genügt ein einziger Rotor.
Sene Türme beftehen aus innen verfteiftemn,
1 mm ſtarkem Stahlblech, und erheben fih auf
einem im Sciffsinneren feft verankerten Pivot
auf zwei Gleitlagern. Sie haben einen Durg:
mefler von 2,80 m, eine Höhe von 15,6 m. Die
jhon erwähnten Endſcheiben — die hier nur
oben nötig find — zeigen etwa den anderthalb»
fachen Durchmefler der Türme. Der Antrieb der
leßteren gefchieht durch zwei Elektromotoren von
je 11 Kilowatt Hödjftleiftung, die von Diejel-
mafchinen gefpeift werden. Eine Anlage mit
zwei Türmen wiegt nur 7 Tonnen, während eine
gleichwertige Belegelung ein Gewicht von 35
Tonnen aufweift.
Wir hatten kürzlich Gelegenheit, einen Film
zu fehen, der bei den Fahrten der „Budau” auf:
genommen worden war, die man mit zwei Flett:
nersRotoren ausgerüftet hatte. Das Abfahren,
das Menden um die Hafenmole, vollzog fih
fcynell und ficher; unterwegs begegnete die
„Budau” anderen Schiffen, und es ließ fih leicht
durch Vergleichungen feftitellen, daß fie flott vor-
wärts fam. Daß ein Flettnerfhiff Sturm und
Beobachtungen aus dem Leſerkreiſe.
Vielleiht hat folgende Beobachtung aus dem Lefer:
treis einiges Intereſſe:
In unferer Wohnſtube ift ein großer grauer Ofen mit
Sitplatte vor dem Winter entfernt worden. An deffen
Stelle fteht jeßt das fchwarzpolierte Klavier. Ein Ofen
befindet ſich an anderer Gtelle freiltefed. Nun ift
unjere Rabe, welche feit Jahren jeweils auf dem Ofen-
fig lag, [hon oft auf dem Klavierdedel angetroffen wor-
den, was frühe: nie vorgefommen ift. Das Ruhebett be-
fteigt die Rage nicht, weil fie daraufhin erzogen ift. Erft
jeßt, noch vielen Wiederholungen fällt mir ein, daß der
jeltfame Sitplaß mit der früheren Ofenftelle 3ufammen-
hängt. Ih muß geftehen, daß id) von einer fonft
findigen Kate mehr „Intelligenz“ erwartet habe. Kann
vielleicht ein Tierpfgchologe die Beobachtung oder meine
Einfhägung bewerten?
©. Sch., NReallehrer, Schweiz.
Die im Tebruarheft von „Unfere Welt” berichtete
Naturbeobachtung ruft mir eire ähnlidye ins Gedächtnis
Böen gut aushalten fann, und daß es trog der
hohen Türme eine vorzügliche Stabilität befißt,
ließ fih zwar nicht aus der Darftellung im Tebın-
den Bilde erjehen, fteht aber nach gemachten
lonftigen Beobachtungen feft, ebenfo wie die Tat-
fahe, daß auf eine Erhöhung der Segelwirkung
auf das Zehn⸗ bis Fünfzehnfache zu rechnen ift.
Die Bedienung der Türme ift ungemein ein
fach: fie laffen fih leicht und fchnell in Drehung
verfeßen, und ebenfo leicht wieder bremſen. Ber-
juhe haben erg ‘ben, daß die Haut des Rotors
fih etwa mit 3,5facher Windgeichwindigkeit be-
wegen muß, wenn man den hödjiten Wirktungs-
grad bei einem beftimmten Winde erreichen will.
Der Seemann tann alfo durd die Einjtellung
einer gewiflen Umfangsgefchwindigfeit des Ro«
tors die Kraft, die auf diefen felbft wirft, be-
grenzen. Darum braudt er einen auflommen-
den Sturm niht mehr zu fürdhten. Eine Regus
lierung des Rotors bei einem bejtimmten Kurſe
zum Wind gibt es einfach nit; es befteht alfo
auch feine ungünftige Einftellung, wie fie bei
Cegeln vorfommen tann. Das Flettnerſchiff Hat
eine hohe Wendigkeit, und es dreht rajch auf der
Stelle, wenn man den vorderen Rotor in der
Gegenrichtung umlaufen läßt.
Geit Iahrtaufenden hat fih die Schiffahrt des
Segels bedient. Und man hat diefes mit der Seit
fo vervolltommnet, daß wohl faum ein Fort-
fchritt mehr möglich ift. Wollte man in der Aus»
nußung des Windes weiter tommen, fo mußten
ganz neue Wege eingeflchlagen werden. Und hier
bat Flettner Bahn gebrochen, indem er den
Magnus=Effekt benußte.
— — — —
ST —
P
———— ———— — = —— — —
zurück, die nach Urſache und Begleitumſtänden gleicher⸗
maßen merkwürdig und darum vielleicht wert iſt, ver⸗
öffentlicht zu werden.
Ende Mat oder Anfang Juni 1918 iſt's, wenn id
mich recht erinnere. Der Krieg tritt in fein entſcheiden⸗
des Stadium. Jammer und Elend im Feld wie daheim.
Es gärt in den Maffen, ſchlimme Gerüchte flattern auf,
das Unfinnigite wird geglaubt. —
Die Natur feheint fih um alles Leid der Menſchen
nicht 3u fümmern. Vom tiefblauen Himmel ftrahlt
lodend durchs offene Fenſter die Sonne und madıt mir
das Arbeiten jchwer. Soll id ihr folgen hinaus in den
ladenden Morgen? Schon ſteh ih am enter und füle
in tiefen Zügen die Lunge mit Friſche. Wie täte mir
das Wandern fo gut, wandern mit den murmelnden
gluten des Nedarl —
Doch was ift das? Wie bleicht das blendende Blau,
fabl wird der Himmel und grau, und unheimlih wird
es zumal! Rein Lüftchen regt fih, — und rım rauſcht
es hernieder; das ijt fein Regnen mehr, es ſchüttet mit
Kübeln! — Alles ift das Wert weniger Minuten, und
wieder ftrahlt die Sonne, ladt der Himmel, als wäre
nichts geſchehen!
Roh habe ich mid) nicht recht von meinem Staunen
erholt, da kommt jchredensbleicy meine Hausfrau: „Der
jüngfte Tag ift da, Schredliches ift geſchehen! Schwefel
bat es geregnet!” Auf der Straße bilden ſich Gruppen,
alles ſtarrt auf die Pfühen, dort muß fih das Fürchter⸗
lihe zeigen! — Ich lade natürlich” und fuche der Frau
den Unfinn auszureden. — Schon kommt eine andere
Mithausbemohnerin, deren Mann im Felde fteht und
die das Leben offenbar immer von der leichten Seite
zu nehmen verfteht. Sie will meine Meinung hören.
Wenn fie es nur gewiß wüßte, das mit dem Weltunter:
gang, fie liefe fchnurftrads zur Sparkaſſe, um ihr Cr-
ipartes zu holen und fih nod ein paar vergnügte Tage
oder Stunden zu maden. — So feiden fi) die Geifter.
Auch ich tomme in den Gerud der Trivolität. — Auf
der Straße ſuche ih nämlid ein paar Leute zu be:
ruhigen. Aber was nügt das angefihts der Tatſache,
dab auf allen Pfügen ein Haufen feinen gelben Pulvers
Idwimmt, das an einzelnen geeigneten Stellen fogar zu
fleinen gelben Dünden aufgeſchwemmt ift? Man läßt
e3 fih nicht nehmen: das ift Schwefel! — Ich verfudhe
einen Scherz: „Wenn es alfo wirklidd Schwefel ift, fo
‚jolltet Ihr als Weingärtner doh froh fein, wenn Eud)
der Himmel felber diesmal das Schmwefeln abgenommen
hat!” — Da aber tomme ich ſchön an; ſcheu fieht man
mid von der Seite an, mid), der es wagt, etwas fo
Emftes ins Lächerliche zu ziehen.
Dantbarer find am andern Tage meine Schüler für
meine Erklärung. Ganz können fie diefe zwar nod
niht verjtehen, aber fie glauben fie darum dod gern. —-
Und die Löfung des Rätjels? — In den nahen und
ausgedehnten Waldungen des Strom- und Heuchelberges
— vielleiht trug aud der fernere Schwarzwald das
Seinige dazu bei — Stehen die Tannen in volliter Blüte.
Die großartigen Flugvorrichtungen ihres Blütenftaubes
erlauben es dem leifeften Lüftchen, ihn weithin zu ent-
führen. Ueber dem Nedartal kommt er, wohl infolge
Abfintens — mit waflferdampfüberfättigter, aber zurzeit
Haubfreier Quft in Berührung. Die einzelnen Körnchen
dienen als SKondenfationsterne. Schlagartig fegt die
Kondenjation des überfchüfjigen Dampfes ein und die
Bafler praffeln nieder, mitteninnen aber aud der un-
ſchuldige Blütenftaub. So kommt er in den fchlimmen
Verdacht, ein Auswurf der Hölle und Antündiger des
Beltunterganges zu fein. — Ein Mitrojtop ftand mir
Ausſprache.
Zum Thema: „Entwidlungslehre und Religion“.
In meifterhafter Weife hat der verehrte Schriftleiter
der Monatsſchrift unferes Keplerbundes in einem fih
über Heft 2 und 3, Jahrgang 1924, diefer Zeitjchrift
eritredenden Aufſatze gezeigt, daß es für eine idealiftifche
Beltanihauung gar nicht darauf antommt, ob der
Menih vom Tiere ftammt, fondern einzig und allein
— — — — — — — — — — — —
_ Ausſprache. 89
leider damals nicht zur Verfügung, aber auch ſo iſt
nicht daran zu zweifeln, daß es ſich um Blütenſtaub,
und zwar jedenfalls um Tannenblütenſtaub handelte.
Murrhardt i. W. Ernſt Maag.
Der Aufforderung in Heft 2 von „Unſere Welt” nad-
tommend, fann ih über den Berlauf der Mondfiniter-
nis vom 8. d. M. folgendes berichten:
Der Himmel war hier vollkommen tlar, die Luft
durchſichtig. Oberhalb des leuchtenden Teiles des Mond-
förpers war die Luft ebenjo Hell beleuchet als der
Mond felbit, jo daß die Abgrenzung des Mondkörpers
nicht ganz leicht zu finden war. Es fah aus, als ob
der Mond fi eine Ballonmüße aufgeſetzt Hätte oder
von leuchtenden Haufenwolten umlagert wäre. Zwiſchen
dem Mondtörper und diefer beleuchteten Luftſchicht habe
ih nun die erwartete blaue Linie etwa von 10% bis
11 Uhr deutlich gefehen. Sie hatte ungefähr die Form
eines Rinderhornes, wurde nad” Südoften zu breiter.
Bahrenbufd. v. Bonin, Landrat a. D.
In Nr. 11 von „Unſere Welt” ift ein Bericht wieder-
gegeben, demzufolge die Marskanäle auf optifcher
Täuſchung beruhen follen. Mit anderen Worten ift ent-
weder daS menſchliche Auge oder das verwendete Fern-
robr für das vorgetäufhte Bild verantwortlih zu
maden. Hierbei fällt mir folgendes auf: Trifft die Be-
hauptung zu, daß Auge oder Fernrohr infolge ihrer Un-
vollkommenheit ein unrichtiges Bild erzeugen, jo müſſen
dod bei jedem anderen Stern, welder ähnliche Lichtver-
hältniffe aufweift wie der Mars, die gleiden Kanäle
vorgetäujcht werden. Denn es ift nicht einzujehen, wes-
halb ausgerechnet bei der Betradhtung des Mars das
Auge rejp. das Fernrohr optifch unrichtige Wilder liefert.
Ich Habe noh nie davon gehört, daß auf anderen
Sternen ebenfalls Kanäle gejehen worden find. Aus
diefem Grunde tann mid) die Erklärung, die Marskanäle
beruhten auf Täufchung, auch nicht befriedigen. Ich bin
überzeugt, daß viele Lefer von „Unfere Welt” diefelbe
Ueberlegung angeitellt haben wie ich und infolgedeflen
ebenfalls zur Anſicht gekommen find, daß in dieſer Er:
klärung etwas nicht ſtimmt. F. Sch. in Hbg.
IH bin tein Aſtronom, glaube aber, daß die Cr-
tlärung des bier aufgeworfenen Problems in. den
Worten des Herrn Einjenders liegt, „der ähnliche Lidt-
verhältnilfe aufweilt wie der Mars”. Das wird wohl
eben bei anderen Planeten feineswegs der Fall fein.
Bapvint.
x
64
auf das Ziel, auf das er hinfteuert oder hinjteuern foll.
Der bier geführte Nachweis dürfte in vieler Beziehung
endgültig überzeugend fein. Nur ein einziger dunfler
Punft, über den dieje im übrigen wundervoll durd-
fihtige Darftellung hinweggleitet, dürfte übrig geblieben
fein. Wenn der Stammbaum des Menſchen nun auh
nicht in dem Affen, jo doh mit diefem zujammen an
90 a Ausſprache.
irgend einem noch nicht ganz fejt beſtimmten Puntie
an den tieriſchen anſchließt, dann muß es (logiſch un⸗
abweisbar) irgend einmal ein Geſchöpf gegeben haben,
das typiſch tieriſche und menſchliche Eigenſchaften zu—
gleich beſaß. Zu den menſchlichen gehört nun aber
nach Anſicht mehr oder minder Gläubigen auch der Beſitz
einer unſterblichen Seele, den ein Chriſt — obgleich auch
hierzu ſchon Verſuche ſogar von theologiſcher Seite ge⸗
macht worden ſind — unmöglich leugnen kann, und den
man doh unmöglich Tieren, bis hinab zu den aller-
niedrigften, zugeftehen tann, ohne der urſprünglichen Be-
deutung des Begriffs Seele ganz und gar untreu zu
werden. Aud hier heißt es alfo, Farbe befennen, und
man darf niht über diefen enticheidenden Punkt mit
dem Hinweis auf den fubjeltiven Charakter der Re-
ligion binweggleiten.
Die Unſterblichkeitsfrage ift nun aber nicht bloß eine
jedem pofitiven Chriften unendlid wichtige Sade, an
der er mit allen Fafern feines Herzens hängt, fondern
äugleih ein Poftulat der Religion im fozialen Sinne,
weil nur eine jenfeitig veranferte Weltanſchauung Aus:
ſicht Hat, einen größtmögliden Einfluß auf die Lebens-
führung des ganzen Bolles zu üben.?)
Aber ich meine, daß man teine Scheu, fid) in unlös-
bare Widerfprüdhe zu verwideln, zu haben braudt,
wenn man es unternimmt, diefen fpringenden Punkt
näher zu beleuchten. Denn zunädft: Was ift Un-
fterblichleit der Seele? Ein Fortleben durch alle Ewig-
teiten, bei derem Ausdenten gerade die Seelen, die
diefem Gedanken wirklid) bis zum Ende zu folgen ver-
mögen, zurückſchrecken? Jedenfalls geht es aber bei
diefer Feſtſtellung nicht ab, ohne mit den Begriffen End-
lichkeit, Unendlichkeit zu fjdhaffen zu haben, und man
weiß, daß diefe Begriffe in aller fi) mit ihnen be-
ſchäftigenden Wiſſenſchaft feineswegs eindeutig find.
Den Begriff Unendlichkeit können wir überhaupt nicht
faifen,') fondern wir fegen ihn gewöhnlid nur, wei
wir gleichfalls nicht fallen können, wo etwa die End-
lihleit eine Grenze haben könnte. Unfer Faflungs-
vermögen ift betanntli begrenzt dur unfere Cr:
fahrung, und erfahren haben wir eben nur, daß alle
Dinge ihr Ende haben, und dab man fi nad) dem
Ende nod ein „Ende” — Stüd hinzudenten tann. Mit
einem fo gejtalteten Begriff gedanklich zu operieren,
führt felbftverjtändlih Leicht zu Trugfchlüffen.
Sodann aber fommt hinzu, daß der Zeitbegriff wiffen-
ſchaftlich keineswegs feſtſteht. Es gab und gibt feit
Kant und bis auf den heutigen Tag Fachdenker und
Philoſophen, die den Zeitbegriff aus der wirklichen Weit
der Noumena in die Anſchauungswelt der Phänomena
verlegt haben und nod verlegen. Danah wäre die Zeit
nicht wirklich bejtehend, fondern nur eine Form unferes
Dentens, unjerer PBorftellungen. Man braudt nun
feineswegs dieſer Auffafjung unbedingt zuzuftimmen.
Aber fo lange diefelbe nicht als wiſſenſchaftlich unmög⸗
lih aus der Welt geichafft ift, muß man mit ihr red:
nen und die Möglichkeit diefer Rechnung für die Auf-
ftellung von religiöfen Theorien, die man Dogmen
') Bergi. in diefer Hinficht meinen Aufſatz „Unfterb-
lihfeit in 3. Bande der Zeitſchrift: „Religion und
Geiſteskultur“, ©. 30.
nennt, zugeftehen. Diefen ihr Spiel verderben, che fie
an den Grenzen der Unwiſſenſchaftlichkeit angelangt
find, ift ebenfalls unwiſſenſchaftlich.
Jedenfalls beiteht aber naturwiſſenſchaft Tier die
Verſchiedenheit des Zeitmaßes bei. verfiiedenen
Tierarten, fo daß, fubjektiviftiich gefehen, die Zeit feines-
wegs etwas wiſſenſchaftlich Feſtſtehendes ift, jedenfalls
tein „Elaton” der Dauer der Empfindungen und des
Geeleniebens.
Dazu fommt nod, daß es im Leben nit felten Er:
lebniffe gibt, die nad) unſerem ſubjektiven Empfinden
die Zeit häufig kürzen oder verlängern. Ic ziele natür-
lid mit diefer Bemerkung niht auf die berüdhtigte
Langeweile, fonden im Gegenteil auf Erlebniffe, die
trog der Kürze ihres objektiven Erſcheinens fogenannte
Ewigteitswerte für uns in Anſpruch nehmen, weil fie
einen Glanz auf alle die noh folgenden Tage hinaus:
werfen. Aber felbit die Langeweile ift ein Beweis da:
für, wie wenig auf diefem Gebiete das Subjektive fidh
mit dem objektiven Tatbeftande dedt. Da alfo, mathe-
matifh geſprochen, Unfterblichkeit eine Funktion ift, in
der die Zeit als unendlich eingefebt ift, fo ift cs fehr
notwendig, auf die große Variabilität derfelben, d. $.
alfo auf das Unbeſtimmte diefer Behauptung hinzu-
weifen. |
Alfo, wenn wir von Unfterblichleit reden, fo braudt
damit feineswegs gemeint zu fein: jene Unendlichkeit des
Beltehens, die über all unje. Denten und Urteilen weit
hinausgeht, fondern lediglich die Meinung, beziehungs⸗
weile Hoffnung, daß mit dem leibliden Tode die
Menſchenſeele noch nicht endgültig tot fei, fondern in
irgend einem Sinne weiter lebe oder auch nur weiter:
leben könne. Die Unjterblichleitsiehre ift im Lichte
diefer Erörterung nichts weiter als die beitimmte Ber-
neinung der materialiftiihen oder energetifhen Auf:
faflung des Lebens al3 einer bloßen Erſcheinung wie
der einer Flamme, die ein Körper zu fein fcheint umd
doch nur aus demifchen Energien geipeift wird, Die
eine begrenzte Zeit ihr Spiel treiben, um dann nichts
zurückzulaſſen als ein Häuflein Afe.
Der Glaube an die Unfterblichkeit, in diefer wiffen-
ſchaftlich vorfihtigen Weiſe gefaßt, ift dann auch febr
wohl verträglich mit der Meinung, daß eine Tierfeele,
je nad dem Grade ihrer Entwidlung ein fürzeres oder
gar tein Fortbeſtehen nad) dem Crlöfhen des Lebens
ihres Leibes habe, womit dann die Schwierigkeit einer
endgültigen Ueberbrüdung der tiefen Kluft zwiſchen
Menſchen- und Tierfeele befeitigt wäre.
Und zugleich muß man, um in Bezug auf diefen
ſchwierigen Gegenftand zu verjöhnliden Borftellungen
su gelangen, fi die Forteriftenz nad) dem leiblichen
Tode nit in der kindlichen Weiſe denten, wie jener
biblije rager, dem Jefus die jchlagende Antwort gab,
daß im Himmel nicht gefreit werde; wohl als eine perfön-
liche, mit Berantmwortlichfeit beidywerte und dem Ge:
: fühle von wachſender Vollendung beglüdte, aber nicht
mit dem irdifchen Kleide in Beziehung ftehend, dus wir
Körper nennen. Auch die Erinnerung an die irdifchen
Einzelheiten muß unbedingt getilgt fein. Das ijt aud
ein wiffenidyaftliche® Erfordernis, da gerade die Be:
ladung mit zu viel Gedädtnisftoff einen von Zeit zu
Raturwiffenfchaftlihe und naturphilofophifcehe Umſchau. 91
it eintretenden Tod biologiji notwendig macht, um
wieder einmal tabula rasa zu machen.
Daß mit dieſer Einſchränkung niht das ſelbſtiſche
Intereſſe an einem Fortleben verloren ginge, ift leicht
zu zeigen.) Ich möchte hier nicht weiteren Raum für
) Man vergleiche den Aufſatz de3 Verfaſſers in
„Unfere Weit“ 1910, Spalte 129: „Die dualiftifche Welt-
enſchauung etc.“ und Deiterreidhs: „Phänomenologie“
1910, ©. 226, 245, 501, 502.
die Ausführung meiner bejonderen Gedanken über die-
jen Gegenitand in Anſpruch nehmen und ſchließe meine
Anmerkung mit den poetiſchen Worten, die man Konrad
Ferdinand Hutten in den Mund legt:
„Erft dien’ ih aus auf Erden meine Reit,
Und bin id dann zumal nicht ‚dienftbefreit,
Berteilt man auf den Sternen neues Leh’n —
Mohlan! Ic dente meinen Mann zu fteh’n.“
Bon Adolf Mayer.
Naturwiffenshaftlihe und nafurphilofophiihe Umſchau.
a) Anorganiihe Naturwiffenihaften.
Die Distuffion über die Relativitätstheorle ift nicht
mehr jo ergiebig wie vor einigen Jahren. Die Zahl der
$r gewidmeten Arbeiten ſcheint merflid abzunehmen.
Biel neue Gefihtspuntte find auch in den zuletzt vor:
liegenden Arbeiten anſcheinend nicdyt gefunden. Der
Halieniihe Phnfiter Righi hat eine neue Theorie
des berühmten Michelſonſchen Verſuches ent-
midelt, wonach der negative Erfolg desſelben ſich auf
eine ganz andere Weile erflärt, als durch die Annahme
einer wirklichen oder relativiftifchen Längskontraktion.
Righi will nämlih, indem er die Neflerion der Wellen
an dem ſenkrecht zur Bewegung aufgeltellten Spiegel
nah dem Huygensſchen Prinzip berechnet, bemeifen,
dab. ihon dadurd eine Meine Drehung der Wellen
erjolgt, die gerade den gefuchten Effekt ergibt. (Mem. di
Bologna 7, 69; Phufitalifche Berichte 1925, 2, 164).
Ein anderer italienifher Phyfiter, La Roja, ver-
tdig neuerdings mit Geidid wieder die ſog.
balliftifde Lihthypothefe, d. i. die Am
nahme, daß das Licht die Geſchwindigkeit der es aus-
kndenden Quelle mit annähme, wie das Geſchoß einer
Shiffstanone die des Schiffes. Diefe Hypotheſe ift f. Zt.
von dem Schweizer Phnfiter Rig ſchon ale Erklärung
des Michelſonverſuchs herangezogen, jedoch aufgegeben
wowen auf Grund von Einwänden, die ſpäter dagegen
erhoben wurden. Gie würde ſehr ernithaft wieder zu
distutieren fein, wenn die fogleid 3u erwähnende
neue Lichttheorie von 3. 9 Thomſon fid
weiter als durdführbar erwieje. (Ueber La Rofa vgl.
Bhpfitalifche Berichte 4, 250).
Diele neue Lihitheorie von Thomfon, dem weltbe:
ühmten engliihen Altmeiſter der Phyſik, foll die
Biderfprüde zwifhen der klaffifden
ellentheorie und der neuen Quanten-
theorie befeitigen. Ihomfon nimmt an, daß das
čidt aus einzelnen Wirbeln beftehe, die ihrerjeits von
wachen Wellen umgeben find. Beim Verſchwinden
tines ſolchen Wirbels foll entweder ein Elektron hoher
Geſchwindigkeit ausgeſandt oder eine charakteriſtiſche
(Blende) Strahlungseinheit frei werden. Es gelingt
omſon auf dieje Weife, einen angenäherten Wert für
Planckſche Quantum herauszurednen. (Die
Arbeit bon Thomfon fteht Phil. Mag. 48, 737, ein
Referat Phyſitaliſche Berichte 4, 282).
„me weitere, die Schwierigfeiten der
‘eutigen Ligfiheorie in etwa mildernde Unter-
ſuchung þat Marg (Zeitichrift für Phyſit 27, 248;
Phyfitaliihe Berichte 4, 251) gegeben. Da eine nähere
Darftellung hier zu ſchwierig ift, fei nur das Refultat
angeführt, wona% man ohne Zuhilfenahme der
Einſteinſchen Annahme gefondert erijtierender „Licht:
quanten”, die eine unbegreiflih große Ausdehnung
haben müßten, auf Grund der klaſſiſchen Theorie die
richtigen Zahlenwerte für einige bier maßgebliche
Größen erhält, wenn man nur aus der Quantentheorie
porausjegt, daß für die aufzunehmende Energie ein
gewiſſer „Schwellenwert“ befteht. Die fog. Dimenfionen
des „Lichtquants“ geben nichts weiter an, als die
Grenzen der Breite und Tiefe der Wellenfront, bis zu
denen bei einer von einer feinen Linie ausgehenden
Wellenitrahlung diefer Schwellenwert noch vor:
yanden ift.
Der bedeutendfte amerikaniſche Phyfiter, R. A.
Millitan, Hat vor kurzem einen Bortrag über
die Atomiftit in der modernen Phyfit gehalten, der im
Sourn. Chem. Soc. 125, 1405 (Phyſikaliſche Berichte
2, 99) abgedrudt ift. In diefem Vortrag hat er die
intereffante Angabe gemadt, daB es Bowen ce:
lungen jei, im Baluum die Speltren des einfad
icnifierten Berylliums, des zweifah ionifierten Bo:s,
des dreifach ionifierten Koblenftoffs und des vierfid
ionifierten Stickſtoffs zu erzeugen, die nah Bohıs
Theorie unter einander und mit dem Speltrum des nicht
ionifierten Lithiums übereinftimmen müffen. Auf
Grund der Sommerfeldfhen Theorie ließ fi aus den
Meffungen der Abſchirmungseffekt der inneren
Elektronen genau beredinen. Ebenſo glüdte ihm die
gleide Mefjung in der nächſt höheren Reihe der
Elemente (Mg, Al), und er tonnte fo eine erafte Be-
ftätigung für die von Bohr gemadte Annahme liefern,
daß die beiden inneren Eleltronengruppen in dieſer
Reihe tatfähli mit 10 (= 2 + 8) Elektronen be-
fegt find. i
Einen neuen Weg zur Bereduung der Molekular-
durchmeſſer hat Sirt, der fi ſchon früher um die
finetifhe Moletulartheorie große Berdienfte erworben
hat, angegeben. Er ftelft (Zeitfehrift für phyſ. Ch. 114,
S. 114) auf Grund der neuen Anfiten über die Natur
der Oberflädhenfpannungen und den Aufbau der
Moleküle aus elektriiden Ladungen eine neue Formel
für den Zufammenbang der Dberfläden:
jpansnung und der Berdampfungswärme
auf, aus der man dann den Molekulardurchmeſſer mit
92 o Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofovhifhe Umſchau.
Zuhilfenahme gewiſſer anderweitig befannter Werte
berechnen tann. Die gefundenen Größen Stimmen mit
den nah anderen Methoden gefundenen joweit überein,
als es nah Lage der Berhältniffe zu erwarten ijt. Be-
fonders gut ift die Webereinftimmung mit einem von
Lindemann an dem einatomigen Argon er:
haitenen Wert.
Noch intereffanter ift eine neue Methode zur Be-
ftimmung der fog. Loſchmidiſchen Zahl, bezw.” der
„Avogadroihen Ftonftanten“ (= abfolute Zahl der
Molefüle in einem gegebenen Gasquantum), die
du Nouy gefunden hat. (Phil. Mag. 48, 664;
Phyſikaliſche Berichte 3, 175). Sie beruht auf dem Ge-
danten, daß bei Ausbreitung einer nur ein Molekül
diden Schicht einer zweiten Flüffigteit auf der Ober-
fläche einer eriten die Oberflächenſpannung ein
Minimum beißt. Der Verfaſſer unterfuhte nun
Schichten von ölfaurem Natrium (Delfeife) auf Waffer.
Dieje haben drei deutliche Minima der Oberflächen:
jpannung bei ganz beitimmten Berdünnungsgraden.
du Nouy nimmt an, daß die Moleküle des Stoffes eine
Art von Recdtederform Hätten, und daß die Drei
Minimalmwerte jo zu ftandetommen, daß entweder die
einzelnen Moletüle alle „auf der hohen Kante“ ftehen,
oder bei dem zweiten Minimum auf der mittelgroßen
Fläche ruhen, oder bei dem dritten alle auf der breiteiten
Fläche liegen( man dente an die drei möglihen Lagen
eines Ziegelſteines oder Zigarrenkäſtchens). Er erhält
nun aus den Meflungen die drei Kanten diefes ange-
nommenen Redteders und daraus das Bolumen des
Natriumoleatmolefüls und fein abfolutes Gewicht.
Dann folgt aus feinem chemiſchen Molekulargewicht die
Anzahl der Moleküle in foviel Gramm, wie diefes
Molekulargewiht beträgt, und das ift die fog.
Avogadroſche Zahl; du Nouy erhält für diefe den Wert
60,03.10°, der vortrefflid mit den beiten Beſtimmun—
gen Millitan (60,62.10°) übereinjtimmt. Die
Abweichung darf unbedentlid auf Konto der allzu ver-
einfadhten Annahme quaderförmiger Form des Mole-
füls gejeßt werden.
Bu der immer noh nicht entſchiedenen Streitfrage
nad) der Exiſtenz von Ladungen, die Meiner fein follen,
als ein eleltriihes Elementarquantum, liegen abermals
eine Reihe von Arbeiten vor von Serl, Waſſer
und Daede (Phyſikaliſche Berichte 3, 240 und 4, 258).
Während Serl an den von Bär zur Rettung der
tonjtanten Gleftronenladung ausgeführten Unter:
ſuchungen eine ziemlich fcharfe Kritik übt und Waffer
die Regener -» Königfche Hypotheje einer Gas:
abjorption (vgl. U. W. 1923, ©. 248) ebenſo zu wider:
legen unternimmt und außerdem in einer Erperimental:
unierfuhung Neues über den fog. inverfen photo:
elektriſchen Effekt (negative Aufladung Meiner Kügelchen
durch ultraviolettes Licht) ermittelte, was ebenfalls
gegen die Annahme des konſtanten Elementarquantums
zu ſprechen feint, fommt umgekehrt Daede in einer
rein mathematifch gehaltenen Diskujfion der Verſuchs—
methoden 3u dem Ergebnis, daß dieje Annahme immer
noh „größere Wahrfcheinlichteit beſitzt als jede andere
Annahme.”
Die Bildungswärmen der Salze lafen fih nad
Audubert (C. R. 178, 1814; Phyſikaliſche Be-
richte 2, 101) durch eine der Balmerſchen ähnliche
Serienformel ausdrüden, die, wenn fie richtig ift,
eine neue Methode zur Beltimmung der Atomtonftanten
daritellen würde.
Die Hauptfählid von Langmuir ausgeführte
Theorie der chemiſchen Valenz, wonach zwiſchen polarer
und nichtpolarer Bindung der Atome durch die Eiet-
tronen oder zwiſchen „Elektrovalenz“ und „Kovalenz“
unterſchieden wird, läßt ſich nach Unterſuchungen von
Briggs (Phil. Mag. 47, 702; Phyſikaliſche Berichte
2, 100) nicht durchführen, er findet vielmehr, daß eine
und diefelbe Subftanz, 3. B. Aluminiumdlorid, je nad
den Umftänden ſich wie ein Clektrolyt oder wie ein
Nichtelektrolyt verhält, und dab ferner in gewiffen
Galzreihen ein völlig gradweifer Uebergang der einen
Art der Balenz in die andere vorfomme. Zu einer ähn:
lihen Ablehnung der Lagmuirfhen Unterfcheidung
kommt auh Noyes in einer Arbeit in den Chem. Be:
rihten 57, 1233; (Phyſikaliſche Berichte 2, 101). Er
felber entwidelt eine Theorie, wonad die von Langmuir
porausgejeßten Trennungen in pofitive und negative
Anteile des Motefüls erft während der Reattion ein-
treten. Die von ihm vorgetragenen Ideen haben fehr
viel Einleudhtendes.
Eine Anzahl holländiſcher Forſcher veröffentlichen ge-
meinfam (in den Proc. Amijterdam 27, 425; Phyf.
Berichte 2, 103) eine Unterſuchung, wonad das in den
Körperflüffigteiten ftets in geringer Menge
anweſende Aalium und Calcium duch Radiumemanfion
erjegl werden tann. Dies ſpricht für die [don vordem
ausgejprodene Annahme, daß das Kalium wegen
feiner Radioaktivität dem Organismus unentbehrlich ift.
Die ſehr widtige Frage, ob die Zuſammenſetzung
der chemiſchen Elemente aus ihren Jfotopen ftets Die
gleiche ift, oder ob das Mengenverhältnis der einzelnen
Komponenten und damit das durdjichnittliche „chemijche
Atomgewicht“ wechſeln fann, wird durch eine neue
Unterfuhung der beiden Holländer Jaeger und
Dijtftra (Proc. Amfterdam 27, 303; Phnfitalifche
Berichte 3, 196) beantwortet. Die beiden Forſcher unter-
ſuchten zu diefem Zwede das Clement Silicium,
das fih ebenſowohl aus Metoriten, alfo kosmiſcher Here-
funft, wie aus unferen irdiſchen Gefteinen gewinnen
läßt. Als geeignete Verbindung erwies fih das Silicium-
tetraäthan Si (C° H°).- Die gefundenen Unterfchiede
des Atomgewichts waren kleiner als ein halbes
Promille. Da jedod) die Genauigkeit der Unterfuhungs-
methode noh erheblid) höher ging, jo mußte weiter
unterjucht werden, ob die gefundenen Abweichungen von
Verunreinigungen oder von einer wirklichen Ab-
weihung in der Iſotopenmiſchung herrührten. Da fi
der Brehungserponent mit der gleihen Ab-
weichung ergab, diefer aber bei Iſotopen identiſch ift,
jo mußten die Abweichungen auf Verunreinigungen
zurüdgeführt werden. (Cin unporfidtiger Forſcher
hätte auf Grund des erſten Ergebniffes das Gegenteil
gefolgert). Dies Ergebnis beweiſt, wenn es fih mweiter-
bmn aud) an anderen derartigen Füllen beftätigt, daß die
tatiählid an falt allen Elementen bisher beobachtete
Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umfchau. 93
Bleihheit des Miſchungsverhältniſſes der Sfotopen
nicht, wie es bisher zumeilt gejchah, dadurch zu erklären
ijt, daß die Elemente nad) ihrer endgiltigen Bildung auf
der Erde volltommen durcdheinandergemiiht worden
feien. Denn dann wäre der Cintritt des gleichen
Miſchungsverhältniſſes auf einem anderen Weltkörper
höchſt unwahrſcheinlich. Vielmehr muß gefdloffen
werden, daB innere Wahrſcheinlichkeits—
gründe die Anteile der einzelnen Iſotopen beftimmen,
Gründe, die überall zum gleichen Ergebnis führen, wo
fi} das betr. Element überhaupt bildet.
Eine intereffante neue Erſcheinung bei der
Magnetifierung der Gafe hat A. Glaſer (Mündener
Dif; Ann. der PH. 75, 459; Phyſikaliſche Berichte 4,
215) entdedt. Bei den drei diamagnetifhen Gafen H, N
und COz änderte ſich die „Susceptibilität” (— Größe
der Magnetifierungsfähigfeit) mit fallendem Drude zu-
nädft, wie zu erwarten, einfach proportional dem
Drude. Bei febr kleinen Druden wird die Abnahme
aber langfamer und die Senkung nähert fi) dem drei-
fadhen Werte des Betrages, den man bei proportionaler
Abnahme erwarten muß!e. Zur Erklärung nimmt der
Berfaffer an, daß in fehr verdünntem Zuftande die
Gasmolefüle zwilhen zwei Zufammenftößen Zeit
haben, ſich vollitändig nad) dem äußeren Felde zu
orientieren, während im dichten Zuftande diefe Zeit viel
zu Mein dazu ift und deshalb die Moleküle völlig un-
geordnet find. Diefe Erklärung klingt äußerſt plaufibel.
Die Urfade des fonfinuierliden Spektrums der
Sonnenforona ijt zumeift in der Annahme der Eriftenz
tosmifher Staubteile in diefer Gegend geſucht worden.
Anderfon (Beitichrift f. Ph. 28, 299; Phyſikaliſche
Berichte 3, 181) zeigt auf Grund der Strahlungsgefehe,
daß felbft Kohtenftoffteilden von 1 x Durchmeſſer in
einer Entfernung von einem halben Sonnenradius von
der Oberfläche hon in 5 Sekunde, in der doppelten
Entfernung in etwa einer Minute verdampfen müßten
und daß dies Ergebnis weiter aud für andere, 3. B.
Metallteilchen gilt. Er ſchließt, daß die Annahme foldyer
tleiner fejter oder flüffiger Teilen als Erzeuger des
tontinuierlihen Spektrums niht zu halten fei.
Das Speftrum des dunklen Nachthimmels hat
Dufay (C. R. 176, 1290; Phmſikaliſche Berichte 3,
231) neuerdings unterfudht und gefunden, daß es auf
zerſtreutes Sonnenlicht zurüdzuführen if. Mert-
würdigerweiſe dehnt fih diefes Spektrum viel weiter
ins Ultraviolette aus, wie das Dämmerungsjpeltrum.
Dufay führt dies auf einen größeren Ozongehalt
der oberen Luftſchichten zurüd.
Einen direften Nachweis der elettriihen Ladung der
Erde hat Ramfjauer (Ann. d.. Ph. 75, 449; Phyf.
Berichte 4, 265) erbradt. Eine ifolierte Metallplatte
wird zunächſt leitend mit der Erde verbunden, ſodann
mit einem Metallbleh möglichſt umfaflend zugededt.
Sie gelangt fozufıgen auf diefe Weife in das Innere
der Erde, und wenn nun die Oberfläche eine Qadung
datte, jo muß Diefe jekt nad dem bekannten
Faradayſchen Käfiggejeh zur Oberfläche adfließen. Tat-
ſächlich zeigte ein empfindliches Galvanometer einen
Strom an, d ffen Größe die Folgerung ergibt, daß auf
jedem Quadratmeter Erdoberfläche eine negative Ladung
von etwa 10° Elektronen (d. i. ungefähr ein Fünftel
der fog. elektroftatiihen Ladungseinheit) fikt. Diefer
Nachweis ift ein grundfäßlich intereffanter Beitrag zu
dem Problem „Relativ oder abfolut” in der
PBhyjil. In Mads Medani? wird des näheren
ausgeführt, daß Ladung, Potential uſw. nur „relative
Begriffe“ feien, ebenjo wie Energie und Entropie u. a.
Größen, von denen feine abfolute Beträge, fondern nur
Differenzen beitimmt werden könnten. Wenn Planed
in dem jüngjt hier erwähnten Vortrag zeigte, daß die
neuere Phyſik in Bezug auf die beiden lebteren Begriffe
Yen Weg „vom Relativen zum Abfoluten” gefunden
hat, fo hat der eben geſchilderte Verſuch einen neuen
Beitrag dazu geliefert und damit einen neuen Beweis
dafür, wie einfeitig und ſchief der Machſche
Nurrelativismus war.
In Nr. 9 der Naturw. finden wir ein febr ausführ-
lies Referat von Prey (Prag) über ein Bud) des
Geophyfiters Jeffreys, betitelt: „Die Erde, ihr
Urfprung, ibre Geſchichle und ihre phyſikaliſche Be-
ihaffenheit“ (Cambridge, Univ. Preg 1924). Nadh dem,
was Prey mitteilt, muß man wünſchen, daß das Budy
recht bald ins Deutſche überfegt wird, es enthält eine
bemwundernswerte Menge von Forſchungsergebniſſen
aus allen Gebieten und fcheint ein rechtes Standardiwert
für den Geophyfiter werden zu follen.
Magnuseffelt und MWindkraftihiff behandelt der be-
tannte hervorragendſte Sachverſtändige auf dem Gebiete
der LQuftmedanit, Prof. Brandti - Göttingen, in
Nr. 6 der Naturmwiffenfchaften. Diejenigen unferer Lejer,
die von dieſem heute alle Welt beichäftigenden Thema
etwas mehr willen wollen, als unfer Aufjaß in diefem
Heft bringt, feien auf diefe ausführliche und leichtver-
ſtändliche Darftellung Prandtls hingewiefen.
Das Rätjel der römifhen Kornkammer im Oftjordan-
land ſuchen Befarge (H. 2 der „Naturwiflenichaften“)
und Endriß (RNaturwiſſenſchaften“ 1925, H. 10) zu
löfen. Die Lavamüfte öftlid des Jordan, die heute nur
ganz ſpärlich von Drufen befiedelt ift, muß, wie Trüm-
mer von Städten beweilen, einft von kulturell hod-
itehenden Bölfern bewohnt geweien fein. In der Tat
wohnten hier zur Zeit der Wanderung der Juden aus
Aegypten nad) Paläjtina Getreidebau betreibende Böl-
ter, die blühende Städte befaßen. Möglicherweiie waren
zu diefer Zeit die Vulkane, von deren Tätigkeit die Lava,
die heute das Land bededt, Zeugnis gibt, noh in
Tätigkeit. Funde von in die Lava eingebetteten Haus:
tierknochen beweifen wenigitens, daß zur Beit der Tätig—
teit {hon SHirtenvölfer hier lebten. Der Gedanfe an
den Bibelbericht von der Wolkenſäule, die den Dfraeliten
tags, und der Tjeuerfäule, die ihnen nadts den Weg
wies, liegt nahe. 3n der mofailchen Ueberlieferung. ift
bie Erinnerung an die Zerſtörung der alten Kultur des
Landes durd die Juden aufbewahrt. Eine zweite Blüte
erreichte das Land zur Zeit des alten Roms, fo daß es
3u einer der Kornfammern des römilchen Reiches wurde.
Es wurde zum zweiten Mal vermwültet in der Ueber-
ihwemmung durch den Slam. Das Rätſel ift nun,
wie in dem regenarmen Klima und in der Felswüſte
AUderbau und zumal in folhdem Umfang möglich war.
Vielleicht bringen die Vermutungen von PBaffırge Lich!
in das Dunfel. Nach ihm liegt unter den oberflächlichen
z >i
Es
94 . NRaturwiflenfchaftlihe und naturphiloſophiſche Umſchau
Zavaplatten eine Schicht frudtbaren Bodens, der durd)
VBermitterung der Lava von unten Her entitanden ift,
fo daß man nah MWegräumung des Gteingerölls den
dejten Aderboden findet. Die nötige Feuchtigkeit liefern
die Schneefälle des Winters. Die Möglichkeit, daB das
Land der Kultur zurüdgegeben werden tann, ift nicht
von der Hand zu weiſen, jo daß die behandelte Frage
no% einmal praktiſche Bedeutung erlangen tann.
Biologie.
Den Schwarzwald tann man ſich ſchlecht ohne jeine
himmelanjtrebenden Fichten vorftellen und dody bot er
einft ein ganz anderes Bild. Unterjuchungen von
Star? über die Waldentwidiung im füdliden Schwarz-
wald jeit der Eiszeit (Zeitihrift für Botanik, 16, 24;
„Naturmiffenichaften“ 48, 24) ergaben, daß auf eine
Periode, in der nur Kiefern, Birten und Weiden vor-
famen, die noh unter dem Einfluß der Eiszeit ftand,
eine wärmere Zeit folgte, in der Linde und Eiche in
größeren Höhen vorfamen wie heute. Die Kiefer ver-
ſchwand dann immer mehr, an ihre Stelle frat der Eichen:
miſchwald, bis jchließlid Buche, Fihte und Tanne die
übrıgen Bäume im Schwarzwald verdiängten. — Aehn⸗
lih bat man fi nad) den Forfhungen von Firbas
die Waldentwidiung der Oftalpen zu denten. Aud hier
folgte auf die Eiszeit, die Buchen und Tannen zum Ber:
Ihwinden bradte, eine Kiefernzeit, die abgelöjt wurde
dur eine Wärmeperiode, in der Buchen in 1990 m
Höhe wuchſen, alfo in weit größeren Höhen als heute
(„Qotos” 71, 23; „Naturwiſſenſchaften“ 43, 24).
BV. Frang} glaubt ein neues tatfächliches Beifpiel für
eine Ausmerzung des Unzwedmäßigen durch den Kampf
ums Dajfein gefunden zu haben. (Biologiiches Zentral:
blatt 44, 12.) Da es ſolcher nur febr wenige gibt („Un-
fer Welt“ 24, Heft 5, erwähnten wir das neuerdings
von Prell gefundene), ift jedes neu aufgefundene für
die Klärung des Auslefeproblems von der größten Wid-
tigkeit. Bei Franz handelt e3 fi) um folgendes. Man
findet dann und wann abmweidyend gefärbte, nämlich
weißgefledte Schollen. Nah der Unterfuhung einer
croßen Anzahl von Fifchfängen ftellt num Franz feft, daß
die Zahl der weißgefledten Schollen mit dem zunehmen:
den Alter der Tiere abnimmt. Da eine Tarbänderung
bei Schollen unwahrſcheinlich ift, jcheinen alfo die weiß:
gefledten gefährdeter zu fein und eher dem Kampf ums
Dafein zu erliegen. Dafür ſprechen aud die Beobad)-
tungen, die ranz in Aquarien an Scollen gemadyt
hat. Allerdings feinen mir die Ergebniffe von Franz
noch febr der Nachprüfung zu bedürfen. Im übrigen
vergleiche zum gegenwärtigen Stand der Wuslefehypo-
thefe „Unfere Welt” 24, 5.
Nägelis Mizellachypotbele, d. i. die Annahme von
Mizellen-Krümden, ultramifroftopifchen Kriftallen, als
legten Baufteinen der Zelle, hat durch die Röntgenſpek⸗
tıoffopie eine überrafhende Beltätigung gefunden. In
1. W. 1924, ©. 143 wurde jhon über einen Aufſatz von
V. J. Schmidt beridtet, der den heutigen Stand der
Theorie in der Zoologie darftellt. Das gleiche unter-
nimmt ©. Steinbrinft in 9. 1 des Biol. Central-
blattes 1925 für die Botanif. Auch hier haben uns die
Borfhungen von Scherrer, Bolanzi, Weißen:
burg u. a. weitgehende Auffchlüffe über den Feinbau
der lebenden Subſtanz gebradt. Sie beitätigten nicht
nur feine friftalliniide Natur, fondern laffen aud) die
Art der regelmäßigen Unordnung der Kriltalle erfennen.
Sn den Pflanzenfafern insbejondere find diefe in Schrau⸗
ben=Linien angeordnet. In diefer Anordnung erblidt
Steinbrint die Erklärung für die große Tragfähigkeit der
Pflanzenfajern.
Im gleiden Heft teilt 9. Junter die Ergebnifle
feiner Verſuche über die Wirkung ftar? verblinuter Sub-
tanzen auf Pantoffeltiechen mit. Bei diefem Titel ver-
mutet man faum, welcdje grundlegende Bedeutung diefe
Ergebniffe nicht nur für die Biologie, ſondern aud für
Phyſik, Chemie und Naturphilofophie haben. Es fei
zunächſt das Tatſächliche kurz berichtet. Als Junter den
Kulturen von PBantoffeltierden Löfungen verichiedener
Stoffe (Gifte, Zitronenfaft, Drangenfaft) in verfchiede-
ner Verdünnung zuſetzte, zeigte es ſich, daß einerfeits
auch die ftärkiten Verdünnugen — Verdünnungen von
1:107 noch Wirkungen auf die Bantoffeitierdden — Be-
ihleunigung bezw. Hemmung ihrer Vermehrung —
ousüben, daß andererfeits von einer beitimmten Ber-
dünnung ab die dem Stoff eigentümlidde Wirkung auf-
hört und die gänzlid) verfchiedenartigen Stoffe die gleiche,
nur vom Perdünnungsgrad abhängige Wirkung aus-
üben. Entiprehende Ergebnifie erhielten fon 1923
Kolidko und Krawkow bei ähnliden Verſuchen
mit andern Objekten. Sie gingen jogar bis zu Ber-
dünnungen von 1:10°°, und es beiteht fein Grund anzu-
nehmen, daß bei nod) größeren VBerdünnungen die Wir-
tung aufhört. Wie fol aber ein Stoff in folder Ber-
dünnung nod wirkten können? Bei derartigen Ber:
dünnungen können in 10 ccm feine Molefüle der ge-
löften Subjtanz mehr vorhanden fein, ja — ihren Ber-
fall felbit bis zu den Elektronen vorausgefeßt — fogar
feine Elektronen mehr, oder man müßte eine den mo-
dernen Anſchauungen widerjprehende Menge Clet-
tronen im Molekül annehmen. Krauw kow ſpricht von
einer „Umwandlung der Giftſubſtanz in eleftrifche Ener-
gie“, gibt aber felbjt zu, daß das nur ein anderer Name
für den rätlelhaften Vorgang ift.
Die im Folgenden genannten Auffäße führen uns auf
das Gebiet der Bererbungsforfhung. Ketule verfolgt
Naturw. 25, 6) die Dererbung der fogenannten Habs-
burger Unterlippe, der befannten. dem Haufe Habsburg
eigentümlichen Gefichtsbildung. Wie er feitjtellte, handelt
es fih hierbei nit um eine Erbeigenſchaft, jondern um
drei (1. wulftige Form der Lippen, 2. vorjtehender
Unterkiefer, 3. feitlih zufammengedrüdter Schädel), die
unabhängig von einander vererbt werden, und erft,
wenn fie in einer Perfon vereinigt auftreten, zufammen
die genannte Mißbildung erzeugen. Bei den Habs-
burgern war das zum eriten Mal der Fall bei Karl V.
(und feinem Bruder Ferdinand). In der Familie ihrer
Mutter, Johanna der Wahnlinnigen, waren die wul-
ftigen Lippen erblid. Karls Bater, Philipp der Schöne,
hatte von feinem Bater den vorftehenden Unterkiefer und
von feiner Mutter die genannte Schädelform geerbt. Die
Nachkommen von Philipp und Johanna ftellen alfo nach
Mendel die „erſte Hpbridengeneration“ dar.
In U. W. 24, ©. 286 wurde berichtet, daß Santos
das Vorhandenſein von Geſchlechtschromoſomen aud bei
Tflanzen entdedte. Inzwiſchen find nad) einem Bericht
Naturwiffenfhaftlihde und naturphilofophifche Umfchau. 95
in Heft 8 der Naturwiffenfchaften bei einer ganzen Reihe
von Pflanzen Geſchlechtschromoſome feitgeltellt worden.
Es jteht demnad) jebt feft, daß die Vererbung des Ge-
ſchlechts bei den Pflanzen auf diefelbe Weife erfolgt wie
bei den Tieren. In allen unterfuchten Fällen war das
männliche Geſchlecht das heterozygote.
In Brit. journ. erp. biol. I 1924 (Naturwiffenichaften
25, 6) gibt Gates einen zufammenfaflenden Beridt
über unjere Kenntniffe von der Polyploidie, ungewöhn-
life Vermehrung der jeder Art zukommenden Chromo-
jomenzahl. Die äußere Folge diefer Erſcheinung ift
häufig eine Vergrößerung des Wuchſes. Solde Poly:
ploidie wurde künſtlich hervorgerufen (Mardal,
Binktler), anjdeinend beruhen aber aud, was
ſtammesgeſchichtlich wichtig ift, in der Natur die ver:
ſchiedenen Chromofomenzahlen der Arten beitiimmter
Gattungen (Rofe, Weizen) auf erblich gewordener, durd)
Kreuzung entjtandener Polyploidie.
In Heft 8 der Naturwifjenichaften werden einige neue
Ergebniffe über die Reizbemegungen der Pflanzen be-
richtet. Bemerkenswert find vor allem die Verſuche, die
Start über die Leifung des geoftopifhen Reizes an-
geftellt Hat. Er legte Haferkeimlinge wagerecht, bis ihre
Spite ſich infolge ihre negativen Geotropismus nad)
oben zu frümmen begann. Dann ſchnitt er dieje ab und
fete fie auf ſenkrecht wachjende Haferkeimlinge, nachdem
er diefen ebenfalls die Spite abgefchnitten hatte. Dann
begannen diefe entipredyend der in der aufgefeßten Spitze
eingeleiteten Krümmung wagereht zu wadjen. Der
Reiz war aljo über die Schnittfläche weg in das andere
Individuum gewandert, wie das für den Lichtreiz [hon
früher feftgeftellt wurde. (Ber. d. Didh. Bot. Gej. 42,
1924).
Ein Gegenftüd zu den Unterfuhungen v. Friſch's
über die Sprade der Bienen bilden Fidmanns
Unterfuhungen über das Miltellungsvermögen der
Ameifen (Naturwiſſenſchaften 25, 7). Auch die Ameifen
beſitzen die Fähigkeit, fih in beitimmten Maße zu ver:
ftändigen. Eine Ameiſe, Die ein Nahrungs:
tüd nit allein ins Neft fchaffen fann, alarmiert
mit Hilfe ihrer Fühler ihre Genoffinnen im Neft. Da
fie anfcheinend über die Lage des Fundes feine Angaben
machen tann, jo ſchwärmen die alarmierten Ameiſen
regellos aus oder folgen der Spur der TFührerin. Genügt
die Hilfe nicht, fo wiederholt die erſte Ameiſe den Alarm.
Der Alarm unterbleibt, wenn die Nahrung aus Stüd-
hen beiteht, jodah fie von der Finderin durch mehr:
maliges Hin- und Herlaufen geborgen werden fann. Be-
merfenswert ijt aud), daß man vergeblich verjucht, eine
mit der Bergung beichäftigte oder auf einem Meldegange
befindliche Ameiſe durch dargereichten Honig von ihrer
„Pflicht“ fortzuloden. Manchmal läßt fih bei einer
jolen Ameiſe ein regelrechter Kampf der Triebe beob-
achten, in dem immer das foziale fiegt.
Ein ſeltſames Naturſchauſpiel bildete der Injelten-
wanderzug, den H. Prell am 9. September 1924 in
den Alpen beobadıtete (Biol. Zentralbl. 1925, 1). Auf
dem Grat des Hohenjtollen jtehend, fah Prell, wie in
ununterbrodenem Zuge ünfelten, deren Anzahl er auf
1000 Ichäßt, über den Grat von Süden nah Norden ge-
flogen tamen, dabei gegen den Wind anfämpfend. Der
Vorbeiflug dauerte zwei Stunden. Der Zug beitand
größtenteils aus Schlammfliegen, Tagjchmetterlingen
und Libellen. Man fann es nadjfühlen, wenn Prel den
Eindrud „geradezu überwältigend” nennt. Wie aus
allerlei Anzeichen gejchloffen werden tann, haben die Jn-
fetten ihre Wanderung bis zum Aaretal fortgefebt. Prell
nimmt an, daß die Inſekten anfangs dur Quftitrömun-
gen am Talgrunde emporgerifen worden find, dann
jpäter, angelodt durch beſſere Lichtverhältniffe aktiv den
Flug fortgefeßt haben. Immerhin jcheint ihm feine Er»
Härung nicht ganz ausreihend. Sm Heft 1 des Biol.
Zentralbl. beridtet R. Heffe von Zerfförungen von
Bleirohren duch Tiere. Es Handelt fid dabei um
Ratten, Käferſchnecken und eime oftafiatiide Haut-
flüglerart (von der Gattung Hylocopa). Der all der
letztgenannten ſcheint uns am feltjamjten zu fein. Diefe
Hautflügler bohren in die 0,8 mm diden Bleimäntel, die
in den Tropen häufig zum Schuß der Telephonfabel ver:
wandt werden, Deffnungen von etwa í cm Durchmeffer.
Dahinein legen fie ihre Eier mit Futter für die Brut.
Sntereffant ift die Erklärung, die für dies Verhalten des
Inſekts gegeben wird. Danad hält diejes die Bleiröhren
für Bambusrohre, denn jobald die Kabel mit einem Ge:
webe bededt werden, werden fie nicht angegriffen, weil
das Inſekt dann an der weideren Beichaffenheit der
Oberfläche merkt, daß es fih nit um Bambus handelt.
c) Naturphilofophie und Weltanfhauung.
Zwei Sonderabdrude aus der Königsberger Kantfelt:
ſchrift (Dietrichſche Verlagsbuchhandlung, Leipzig) ent-
halten Beiträge von R. Unger: „Der beiticnte Him-
mel über mir... . .“ und von W. Sauer: „Neue
„Horizonte der Kopernitanlihen Wendung‘. Cs ift bei
beiden ſchwer, den Inhalt in ein paar turze Worte zu
faffen. Unger will in der Hauptſache zeigen, wie fih
bei Kant das Verhältnis von wiſſenſchaftlicher Welt:
ertenntnis und praktiſcher Religioſität allmählid) zu
immer geiftigerer Form geklärt Hat. Jn der „Allge-
meinen Naturgefchihte und Theorie des Himmels“ gibt
ibm der geftirnte Himmel noh den religiöfen Gedanten
einer Möglichfeit unendlicher Weiterentwidlung in an-
deren Welten und einer unendlihen Bervolltommnung
unferer Erkenntnis von der Schöpfung an die Hand.
Am Schluß feines Lebens dagegen, in der Kritik der
praftiichen Vernunft, weldye das befannte Wort vom be-
ftirnten Himmel über mir und dem moraliſchen Gefeh
in mir enthält, ift es weniger diefe naturphilofophifche
Seenreihe, als vielmehr eine innere Verwandtſchaft
zwifchen den Eindrüden der Größe der Schöpfung einer:
feits und der Majeftät des Sittengeſetzes andererfeit3,
welde Kant zum Ausdrud bringen will. — Sauers Ab—
handlung ift eine willenfchaftstheoretiiche. Sie behandelt
die Thefe, daß das Grundgeſetz jeder einzelnen Wiſſen—
Ichaft ihr kopernikaniſcher Standpunkt fei, und führt diefe
Theſe an einer verjuchten Gliederung des Syſtems der
Wiſſenſchaften durch. Beide Schriften find Fehr geeignet,
Kant für unfere Zeit fruchtbar zu machen.
Weiter liegt mir vor der am 22. April vorigen Jahres
auf Beranlaffung einer Reihe Iippifcher Vereine, darunter
aud der DOrtögruppe des Keplerbundes in Detmold von
Dr. ©. Schilling -Lage, unferem Mitarbeiter, ge-
haltene Feftvortrag: „Rants Lebenswert als Babe und
Aufgabe“. Ich war damals verhindert, dem Bortrage
jelber beizumwohnen, und eine Kritik post festum er-
96
ſcheint mir ziemlich unfruchtbar. Der Verfaffer will
zeigen, wie Kant „jene beiden großen Grundprobleme der
Philoſophie, das Problem des Gegenſatzes zwiſchen
Glauben und Wiſſen und das des Widerſtreites zwiſchen
Pflicht und Neigung grundſätzlich und ein für allemal
gelöſt habe” (©. 17), indem er, alte, eingewurzelte Dent-
gewohnheiten durchbrechend, die bis dato ftets geübte
Frageſtellung felber angezweifelt habe. Ich weiche von
dem Herrn Berfafler jo ftart in der Bewertung der
Leitung Kants ab, daß es wenig Zwed hat, hier in
einem furzen Referat darauf einzugehen. Doc tann id
den in der Meyerſchen Hofbuchhandlung, Detmold, er-
Idienenen Vortrag empfehlen als gute, leicht lesbare
und tare Einführung in das Wert Kants vom Stand:
puntte eines Santianers.
In den Moniftifhden Monatsheften Juni 1924 (die
Hefte durchzuarbeiten war mir erft jegt möglich) fand
ih einen febr lehrreihen Aufſatz des befannten monifti-
ihen Biologen Kammerer über Amerika. Wie weit alle
feine Angaben zutreffen, fann ih nicht nachprüfen,
nehme aber an, daß das Sachliche im allgemeinen doc
rihtig fein wird. Der Aufſatz behandelt die neuere
Entwidlung des Streites zwiſchen Glauben und Wiffen
in Amerika. Am interefjanteften daran find die An-
gaben über den Verlauf des Kampfes um „Evolutionis»
mus“ und „Tundamentalismus” („alſo“ — fügt 8. hin-
3u — „über Entwidtungslehre und Buchitabenglauben“).
K. berichtet über eine große öffentlidde Debatte zwiſchen
dem Baptiftenprediger Straton und dem Unitarier
Potter, die in Newyork vor überfülltem Haufe ftatt-
fand. „Zwei Maffenverfanmlungen waren nötig, um
die Erörterung durchzuführen: die erjte endigte mit einem
Giege Potters, aber in der zweiten wurde er von
Straton „widerlegt“. Als Handelte es fi um ein
Preisboren, entfcheidet eine Jury, wer gewann: eine
Jury, der fein einziger Biologe angehört! .. . In
Springfield (Kentudy) gelang e8 den Fundamentaliſten
. . . die Bevölkerung derart zu verheben, daß alte
Freundſchaften gefündigt, Läden und Bankgeſchäfte boy:
fottiert wurden, wofern ihre Inhaber im Geruche des
Evolutionismus ftanden. Profeffor U. D. Owens und
ein anderer Mittelſchullehrer wurden ebendort öffentlid)
angeklagt, den gottlofen Darwinismus in der Schule
gelehrt zu haben: fie befinden fidh gegenwärtig in Difzi-
plinarunterfuhung. An der Spike der fundamentalifti:
iden Bewegung jteht aber fein Priefter, fondern ein
PBolititer: W. I. Bryan (vgl. „Uniere Welt” 1922,
Nr. 11)... . „3ft es zu glauben — fo ungefähr ruft
er aus, ermutigt durch ſtürmiſchen Beifall feiner Ju-
hörer —, daß niedere Mleerestiere an Qand gekrochen
icien; hier feien unter dem Einfluß der Sonnenftrahlen
hügelige Borwölbungen an den Meerestieren entitunden
und aus ihnen haben fih die Augen gebildet. Und wer
ſelchem Blödfinn Vertrauen fdyenfe, wolle an den be:
3eugten Wundern der Bibel zweifeln?’ CEbenbürtig war
ein von Kraß vorgebradter „Beweis“ dafür, dıp wir
olles der Vererbung und nichts der Anpaffung verdunfen:
man könne Goldfiſche beliebig lange im Beden eines
Gewächshauſes halten, fie würden doch immer nur Fiſche
und feine Blumen erzeugen.” Kammerer erwähnt! dann
weiter das jhon a. a. O. erwähnie Berbot der Entwid:
lungslehre in Kentudg und North-Carolina und tragt,
aturwiſſenſchaftliche und naturphifofophifhe Umfhau.
welder Zuftand vorzuziehen fei, der deutſche, wo man
nod gar niht zur Einführung der biologiſchen Entwick⸗
lungslehre in die Schule vorgejchritten fei oder der ame:
tifanijche, wo man aus reattionärer Tendenz fie wieder
abſchaffe (biologifher Unterricht, auh in der Entwid-
[ungslehre, war in Amerika an vielen Schulen cinge-
führt). Seine weiteren Ausführungen über das Ber-
hältnis der amerikaniſchen Wiſſenſchaft zur Religion
übergehe ich, lehne natürlich aud) die deutlih in K.s
Worten zu mertende Parteiftellung des Moniften ab.
Troßdem dürfte der Tatbeftand ftar? zu denken geben.
Was im übrigen alles bei dem Unterricht in der Cnt-
widlungslehre heraustommen tann, zeigt überrufchend
ein Blid in eine der bedeutenditen ameritanifhen Dar-
jtellungen der Entwidlungslehre, die von dem drüben
hoch angejehenen Biologen W. Patten herrührt. Das
Buch führt den Titel „Ihe Grand Strategn of Evo-
lution” (etwa: Der große Plan der Entwidlung), ift
zum Unterridyt in höheren Schulen, insbefondere an dem
Dartmouth College, wo der Berfaffer wirkt, beitimmt
und enthält eine großzügige Darftellung der allgemeinen
Entwidlungslehre, die an fih gewiß ihren Zweck vollauf
erfüllt. Das Schlimme daran ift num aber, daß der
Verfaſſer in der fritiflofeften Weife die befannten Zügen
der feindlichen Preffe aus der Kriegszeit über die deutſche
Schuld am Weltkriege in diefe Darftellung hineinverwebt.
Bei Gelegenheit der Darftellung des Darwinismus (den
er ablehnt), fegt er auseinander, wie diefe verderhlicden
Lehren vom allgemeinen Kampfe ums Dafein ufw. ins-
oefondere in Deutichland zur allgemeinen Moral der
Gebildeten geworden feien und Badurd die Hauptſchuſd
am Weltfriege hätten. Ich zitiere wörtlich gemäß einer
von Herrn Direktor Müller freundlihft zur Verfügung
geftellten Uebeſetzung:
„Diefe falfche, kurzſichtige Philofophie der Biologen
mar in mweitgehendem Maße für den Weltkrieg verant-
wortlih. Die deutihen Wiffenfchaftler waren die erften,
d'e fih unummwunden zu Darwins Coolutionslehre be-
fannten; Deutfchlands führende Männer waren die
eriten, die unummunden in die Politit, das Geſchäfts—
leben, die Philofophie und die Religion die höchſt ver:
derblien Lehren vom Kampf ums Dafein und dem
Ueberleben des Tüchtigſten aufnahmen.
Deutichlands Einftellung zur Weltpolitit war das Er-
gebnis feiner entfchiedenen Anwendung willenjchaftlicher
Grundfäße, insbefondere folder der Biologie, auf inter-
nationales Leben. Seine innere Politi? war ein rein
ſcholaſtiſches Bemühen, aus einem tlareren Berftehen
und einer bejleren Nadahmung tieriſchen Qebens und
der Naturgefehe Nuten zu ziehen. In der Hinfiht war
icin Vorſatz völlig geredtfertigt und feine Bemühungen
löblid. Daß man das Naturgefchehen falſch auffaßte,
ift verzeihlih: darin ftand und fteht Deutichland nicht
allein. Aber die praftiide Anwendung feiner Theorie
mit all den gemeinen, herzloſen und verbrecheriſchen
Einzelheiten war eben nur möglich bei einem gefühllofen
Nolte, deffen fittlihe Anlagen und gejellichaftlicder Idea:
lismus zu unreif oder zu ftar? niedergehalten waren, um
fid) gegen die Logik jener Forderungen aufzulehnen.
En Aber für die Melt ift das gut. Denn Deutſch—
land hat der Welt gezeigt, indem es 3u diefem Erperi-
ment all die unvergleichlichen Hilfsmittel körperlicher,
Eine der Urſachen von Deuiſchlands Aufſtieg war die.
Entwidlung feiner Wiffenihaft; die entichiedere Feil-
heit der Wiffenfchaft war eine der vielen Urſachen feines
Falles... .
Wenn der berufsmäßige Wiſſenſchaftler, der gemweihte
Jünger der Wahrheit, ausgeſprochenermaßen fih in
einen liltenreihen Propagandiſten oder ein wiſſenſchaft—
fies Werkzeug des Ränkeſpiels ummandelt, deffen
Hauptoorfa ift, Lügen zu verbreiten und draußen Ber:
mwirrung und Anarhie zu fchaffen, um deito beffer im
trüben Waffer zu filden, — dann wird eben der Beift,
der ihn ſchuf, an der Quelle vergiftet, und die Willen:
ſchaft ſelbſt wird zerſtört. Der Geift der Wiſſenſchaft
und der Geift des Ränkeſpiels ſchließen ſich gegenfeitig
cus und vernichten fih gegenfeitig. ‘Sie fünnen nidt
ouf demfelben Boden gedeihen. Denn fein Menſch und
tein Bolt tann wirkfam gleichzeitig Lügen und Wahr:
beiten übermitteln; Erfolg bei einem Verſuch ſchließt
automatifch Erfolg beim anderen aus.
Dder fehen wir uns die Philofophie der Selbſtſucht
felbft an. Ein veines Raubfyftem muß von dem Mus-
gebeuteten leben; es ift daher in feinem Wachstum auf
jene Hilfsquellen befchräntt. Wenn jene Hilfsquellen auf:
gebraucht find, gibt es nur zwei Auswege, und beide
hiſche Umſchau. 97
Belbjtvernichtung: entweder muß das Syſtem
p gänzli umwandeln, oder fih gegen fid
innen wenden, fih ſelbſt verzehrend.
;B. die ausgebeutete Raffe oder Klaffe oder
chwächt und von Zerftörung bedroht ift, fo
m Ausbeuter durch feine Anftrengung wieder-
werden, es fei denn durch eine Form von
Haft, die, um zweddienlich zu fein, zur Um-
bes Raubjtaates in ein Syſtem gegenfeitiger
n muß.
tits tann in Notzeiten, angeſichts des Feh-
er Hilfsquellen, der wahre Anhänger eines
s folgeritig feinem Mitglied des Syſtems
verweigern, den Nächſten anzugreifen und
„da alle Gründe zur Zufammenarbeit zweds
o des gemeinfamen Feindes verfchwunden
an ſo etwas lieft, jo fragt man fih vergeb-
t folder Wuſt von Irrtum jemals wieder zu-
en foll. Patten ift, wie mir Herr Dir. Müller,
önlich tennt, verfichert, ein Ehrenmann, der an
ger als an ungerechte Vorwürfe dentt. Er ift
yanebücdenen Beihuldigungen offenbar feljen:
igt und, wie ich höre, jeder Belehrung unzu-
Wenn nun fo etwas an einem foldyen dodh
der übergroßen Mehrzahl durch Willen zur
und Wahrheit hervorſtechenden Manne mög-
œ folen wir Deutſchen jemals Hoffen, die
ge dort drüben zu überzeugen, daß die ganze
von U bis 3 Unfinn ift, der nur auf Grund
Infenntnis der wirklichen geſchichtlichen Tat-
der wirklihen Stimmung in Deutſchland fein
m tann?
Ann. der Phil., Bd. IV, ©. 105, Stellt der
$ mehrfach erwähnte Ertenntnistheoretifer
ap eine Unterfuhung über den logiſchen
jang zweier Fiktionen, nämlid) der Drel-
= _ itäf des Raumes und der Kanfalitäl an. Er
femmt 3u dem Ergebnis, daß die „primäre Welt“,
ò. b. die Welt der ungedeuteten Sinnesempfindungen,
nur 2+1 Dimenfionen þat, während die „ſekundäre
Melt“, d. H. die Welt des täglicden Lebens und die
der Wiſſenſchaft 3+1 Dimenfionen (drei Raum: und
eine Zeitkoordinate) hat. Er führt dann den Begriff
der „dDeterminierenden Geſetze“ und der „beichränten:
den Geſetze“ ein, zeigt, daß es folde nur in der ſekun—
dären Welt gibt, und daß diefe „Fiktion“ in logiſchem
Zufammenhang mit der Erweiterung der Dimenfionzahl
con 3 auf 4 fteht.
Unfer febr geichäßtes Bundesmitglied, Sanitätsrat
Dr. Bagenfteher in Merito, Hat im Verlag von
C. Marhold, Halle eine erperimentelle Studie über
„außerfinnlide Wahrnehmung“ veröffentlidt, in der
er feine Verſuche mit einer feiner Patientinnen fchildert,
bei der er dur) Zufall mediale Fähigkeiten entdedte.
Die Darftellung der Einzelheiten würde zu viel Plah
beanjprudyen und ohne ganz ausführlide Wiedergabe
der Protokolle gibt ein Bericht über ſolche Dinge doh
nur ein falſches Bild. — In den Mitteilungen der
Deutſchen Geſellſchaft für wiſſenſchaftlichen Okkultismus
(Oktober 1923) hat Dr. med. Kröner einen Bericht
über „Diagnofenjtellung duch Fernfühlen“ gegeben. Es
98 Naturwiſſenſchaftliche und naturphifofophifche Umſchau.
handelt fih um Berfude, die ein Mitglied der Gefell-
ſchaft, Sanitätsrat Dr. Brud mit einer Frau Elifabeth
3., stud. med., angeltellt hat. Das Medium foll da-
nah imjtande geweſen fein, die Diagnoje eines Falles
aus Dr. Br.s Praxis, an den diefer im Augenblid des
Verſuchs dachte, richtig zu Stellen, fogar in einem zweifel-
haften Falle eine Differentialdiagnofe 3u geben. Ferner
foll fte in einem anderen Verſuche prophetifhe Diagnojen
gegeben haben, indem fie die drei Fälle, weldye an dem
dem Merfucdstage folgenden Morgen zuerit in die
Spredjftunde des Dr. Br. tamen, im voraus ridtig
geihildert haben fol. Ich muß geltehen, daß mid) die
Berichte nicht überzeugt haben. Im legten Falle fehlt
3. B. durdaus bie Beitätigung unbeeinflußter und ver-
trauenswürdiger Beugen dafür, daB die drei prophe-
zeiten Fälle wirfli in der angegebenen Reihenfolge
eintrafen. Í
Ein Zeichen der Zeit ift die Feftrede, die Prof. Dr.
Shauinsland, der verdienftvolle Leiter des
Bremer Städtifhen Mufeums und unfer langjähriger
Bundesfreund, zur Feier des 60jährigen Beltehens des
dortigen naturwifjenichaftlihden Vereins gehalten hat.
Bor zwanzig bis dreißig Jahren wäre ſie ſchwerlich
ander als mit eiligem Schweigen und einem gewiſſen
überlegenen Lädeln begrüßt worden. Heute ift fie
fiherlid mit großem Beifall aufgenommen worden.
Der Redner gibt darin einen furzen, aber febr um:
faffenden Weberblid über alle großen Fortſchritte der
Naturforfhung feit etwa 1900. Er ſchildert die wunder:
vollen Ergebniffe, die hauptſächlich die neuere Phyſik
aufzumweifen hat, er gibt aber auch eine Kritik von
Theorien, die nicht gehalten haben, was fie verſprachen.
Ganz befonders wendet er fi) gegen den Nur:Darwinis-
mus, wobei er freilich meines Eradjtens über das Ziel
ein wenig hinausſchießt. Crit recht würde ich prote:
ftieren gegen den Sap, daß die geſamte Abjtammungs-
lehre nur „eine dee der theoretiſchen Biologie fei, die
zwar für die wiffenfchaftlide Arbeit von bisweilen be-
deutendem Nutzen fein könne, aber in Wirklichfeit dod
meiter nichts wie eine Filtion fei”. Doch enthält die
Rede befonders am Schluß ein fo echtes Empfinden für
das große Wunder, das hinter der ganzen Schöpfung
fteht, daß ich fie gern in den Händen unferer Pfarrer
fähe als Zeugnis dafür, wie fih in der heutigen Natur-
forihung wieder der Sinn für den höheren Gehalt regt.
Hoffentlich nehmen fie ſich nicht gerade das heraus, was
meines Erachtens doh nur 3u unzulängliden apologe-
tiſchen Verfuchen führt. Die Rede ift gedrudt bei Iling
und Lüten in Bremen, als Sonderabdrud der Abhand:
lungen: des naturwiflenjchaftliden Vereins Bremen,
Bd. 26, 1.
Eine ausgezeichnete Pleine Schrift fei an diejer Stelle
unferen Lejern dringend empfohlen, ich meine den Ub-
drud des Vortrags, den unfer verehrter Bundestreund
Rıofeffor Dr. Gruner:Bern auf der PBappenheimer
Teiltonferenz der „Deutich-driltliden Studententonfe:
renz“ 1921 gehalten hat. Der Vortrag, der im urde:
verlag erſchienen ift, behandelt das DBerhälfnis des
modernen phylitaliihen Weltbildes zum chriſtlichen
Glauben. Gruner führt darin zunächſt mit feinem be-
fannten Geſchick, auch Schwierigſtes in leicht verjtänd-
liche Form zu bringen, die Grundgedanfen der Reıativis
täistheorie aus, wobei er erfreulicherweife fehr ftar? be-
tent, daß dieſelbe weit entfernt, einer relativiftiichen
Philoſophie Vorſchub zu leiften, gerade umgefehrt die
cbjeftive abfolute Realität des Weltſeins hervoitreten
läßt. Den Kern der Darlegung bildet dann eine Aus:
einanderfegung über einen etwaigen Verſuch, auf Grund
der Einftein » Mintowstiihen Lehren nun erft redt
einen Determinismus ftrengfter Richtung au be-
gründen. Gruner zeigt, daß wir über die Natur der
allgemeinen „Weltfunttion“ nichts wiffen. Sie tann
vielleiht unendlidy vieldeutig fein und die Weltiinien
unjeres Bewußtſeins Lönnen an unendlich vielen Stellen
„Berzweigungspunfte” haben, d. h. in religiöfer Faſſung:
„Bei. Gott ift der ganze Weltplan einſchließlich aller
Möglichkeiten für alle Zeiten fertig da, aber
welche diefer Möglichkeiten er für uns zur Wirklichkeit
werden laffen will: das ift feine Sade. Die notwendig
determiniftifhe Form, in der wir uns das phhfitalifche
Weltbild denten müffen, um e3 verftehen zu fünnen,
bat deshalb über die Frage eines wirklich objektiven
Determinismus, die rein pbhilofophifch religiös zu De-
antworten ift, gar nichts auszufagen.“ Zum Schluß
geht der Vortrag auf die Jittlich:religiöfe Seite des Da-
feins ein und zeigt aud hier, daß die „Nelativität“ in
der modernen Phyſik nichts mit einem Relativismus im
ſittlich-religiöſen Sinne zu tun hat. Nicht beitreten tann
ih dagegen feinem Sage: „Es ift gut verjtändlid, dab
die Erlöfung der Menfchheit, die abfolut und von uni»
verfeller Bedeutung fein muß, ſich dodh eben konzentriert
ın einem zeitlichen Ereignis auf einem Punkte diefer
Erde”. (©. 28.) Gewiß ift „in dem allgemeinen gött-
lichen Weltenplan aud der winzig Meine Brudjteil
unjerer Menichheitsgeihichte enthalten, fomit auch ihr
Erlöfungsplan darin vollgültig niedergelegt.” Aber
daraus fann meines Erachtens nimmermehr etwas
_ anderes gefolgert werden, als daß diefer Plan eben für
diefe unjere Menichheit gilt. Bon einer kosmiſchen Er-
weiterung desfelben wiffen wirnidts, und nichts
garantiert uns, daß ausgerechnet wir der, wenn aud
nicht förperliche, fo dodh geiltige Mittelpuntt des Uni-
verfums fein müßten. Daraus, daß für die Menfchheit
an diefem Punkte das Xbfolute faßbar wird (in der
Sprade des Apoftels ausgedrüdt, daß für uns „Bott
in Chrifto war”), folgt niemals, daß dies nun ohne
weiteres auch für den ganzen Kosmo3 gilt. Diefe bei
den rein geozentriichen Weltbild im Altertum freilich
ſelbſtverſtändliche metaphyſiſche Enweiterung ift meines
Erachtens heute eine unzuläſſige Verallgemeinerung
eines an ſich — vom Standpunkte der Menſchheit und
diejer Erde aus — ridtigen Sages. Man kann viel-
leicht noch einen Schritt weiter gehen und in dem, was
bier auf Erden geſchah, ein Typiſches und damit zeitlos
Gültiges erfennen. Uber deshalb bleibt doh diefe e in-
malige Geididte hier bei uns ein Einzelfall und hat
nicht als folder, jondern nur durd das, was er an
Ailgemeinem enthält, dieje typiide Bedeutung. Doğ
darüber fann man weiter fi auseinanderfegen. Als
Ganzes jei der tiefgehende Portrag wärmitens
empfohlen.
Neue Literatur. 99
us." ZU — —
ie in dieſer Zeitichrift beiprom. guten F Bücher beiorat jede Bumpandinne und die Sorfimentsabt. des A des m
Baltian Shmid, Peitalozzi und wir. (117 ©., -Standpunft vertritt, gegen die anderen Kenner des Ge-
Rösli und Co., Münjter. 1923.) Ein kleines Buh bictes, die zu einem anderen Schluß gefommen find,
für Pädagogen, das Eintehr, Umkehr und Rückkehr auszujpielen: „Wir jahen oben, daß es nicht gerecht—
z2
predigt. Peſtalozzis uralte Grundforderungen find, bei
— — — —
— — —
— —*
allem Reformeifer unter einem Wuſt von Unnaktürlich—
feit und Unmwahrhaftigfeit verjchüttet. Der Weg von
uns zu PB. zurüd ift zugleich der „vom Intelleftualismus
zur Harmonie”. Bejondere Behandlung erfahren, als
eeignetite Mittel, der Unterricht in der Naturkunde und
im Deutſchen. In der Wuseinanderjfegung mit den
Problemen der heutigen Schulpädagogif erfreut die
maßvolle Art, mit der der Verfaſſer vor dem über-
triebenen Perſönlichkeitskultus eben vergangener Tage
want. Peſtalozzi ift ein Weg und ein
Hiel: durh Anſchauung zu Wahrheit, Gejchlolfenheit,
Sittlihfeit und Gott. Umfangreide Anführnugen aus
P.S „Abendſtunde eines Einfiedlers“ leiten das Büch—
lein ein wie ein Bibelwort die Andacht eines Gläu—
bigen.
Baftian Shmidt, „Die Spradhe und andere
Ausdrudsjormen der Tiere“. (Rösl und Co., Münfter,
1923. 158 ©.) Mit Ddiejer kleinen Schrift, die aus
jabrzehntelangem Umgang mit Tieren hervorgegangen
it, will der Verfaſſer zur Mitarbeit an diefem neu:
entitehenden Willenszweige anregen. Eine Fülle von
Beobachtungen aus dem ganzen Tierreid), beſonders
Haustieren und Inſekten, wird in anſchaulicher Spradje
im Lichte diejer Frage behandelt. Ein Büchlein für
denfende Tierfreunde.
R. Tiſchner, Geſchichte der ofkultiftiihen (meta=
pſychiſchen) Forihung von der Antike bis zur Gegen:
wart. 2. Teil: Won der Mitte des Jahrhunderts bis
zur Gegenwart. (Pfullingen, Baum, 1924. 371 ©.)
Diefe Fortfegung der „Geſchichte der ofkultiftifchen
Forſchung“ von Auguſt Ludwig ftellt fi) als eine
fleißige, überſichtliche Arbeit dar, die dem Verfaſſer
alle Ehre madt. Tiſchners Einftellung zu den okkul—
tiſtiſchen ragen ijt befannt. Er ift Animiſt; von
Haus aus Naturwiſſenſchaftler, hat er die Einfeitigkeit
des naturalijtiiden Monismus erkannt und vertritt
einen vitaliftiih gerichteten „empiriſchen Dualismus“.
So beurteilt er die in Frage fommenden Erſcheinungen
natürlich anders als einer, der durch eine moniftijch-
poſitiviſtiſche Einſtellung von vornherein gewiſſe intellef:
tuelle Hemmungen mit an die Wertung der Phänomene
beranbringt So erkennt T. immerhin mandes im
Gegenjag zu den Forfchungen feiner Vorgänger an,
deren ablehnende Stellung er nah allem für unberech—
tigt halt. Eine Tatjache ift jedenfalls auffällig: daß
nämlich jeder, der den Dffultismus ernſtlich ſtudiert, zu
einer mehr oder minder bejahenden Stellung gefommen
it, mit einer Ausnahme: Moll. Doh T. jagt, es
sehe niht an, diefen einzigen, der einen ablehnenden
fertigt wäre, Moll eine ſolche Autorität zuzubilligen.
Sa, bei Licht befehen, fann er überhaupt niht als ge-
nauer Kenner des Gebietes gelten; meines Wiffens
hat er mit feinem Der anerfannten bedeutenderen
Diedien der lebten Jahrzehnte eine auh nur etwas
längere Berjucdhsreihe angejtellt.” Bejonders berüd:
ſichtigt T. die englifch-amerifanifhen Forſchungen, aber
auch die anderen Länder, einjchließlih Deutſchlands,
jind fo eingehend behandelt, daß das Werft T.s ein vor:
zügliches Nachſchlagebuch bildet.
Charles Baudouin, Die Macht in uns.
(Dresden, Sibyllen-Verlag, 1924. 177 S.) Von der
Nancyer Schule ift bei uns Emil Coué beſonders be-
fannt geworden. „Es ift der Geijt, der fih den Körper
baut!” Das ift die Loſung der Nancyer, und bejonders
auf den Gebieten der Erziehung und der Medizin find
fie richtungweifend geworden, ein neues Beien für
die Abfehrung des Zeitgeiltes von der medaniftifchen
Naturauffaffung der Hädelzeit. Der Titel des hier vor-
liegenden Budes jagt jhon genug: B. zeigt, daß „den
geijtigen Tätigkeiten viel mehr Macht und verläßliche
Genauigkeit innewohnt, als wir je geahnt hätten“, er
regt uns an, bier „den Quell der fittlihen Kraft, der
Herrihaft über unfer Innenleben zu ſuchen“. Mand
treffende Bemerfung enthält das Bud, fo bei der friti-
jhen Betrahtung der erperimentellen Piychologie und
ihrer Anwendung in der Berufsberatung, wo B. zum
Beijpiel mit Recht meint, legten Endes fei dodh immer
nur das Dnterefie, die Luſt und Liebe als Anzeichen
des Triebes, der inneren Berufenheit, von ausſchlag—
gebender Bedeutung. So hätte die Berufsberatung in
ihrer gegenwärtigen Geltalt mehr die Aufgabe, Leute
mit ungeeigneten Anlagen von einem Beruf fernzu:
halten, jei aljo mehr in diefem negativen Sinne von
Wert. (W Hugo zum Beilpiel hätte nah den Ergeb:
nifjen der Reifeprüfung die befte Ausjicht gehabt, in
den exakten Wiflenjchaften Herporragendes zu leilten,
und pätte jomit eine techniſche Hochſchule beziehen müſ—
ien; aber deshalb wird niemand behaupten wollen, er
jabe feinen Beruf verfehlt, als er — gegen den Willen
des Baters — der inneren Stimme folgte.) Wie jchon
für Coué nicht der Wille, fondern die Einbildungstraft
die Triebfeder des Handelns ift, fo fordert auh B.
lo:gfältige Pflege der Phantajie, gerade mit Hinblid
auf das tätige Leben; und dieje Pflege, deren beites
Hilfsmittel die Kunſt ift, erfeheint jomit nicht mehr als
bloßer Lurus, jondern als Lebensnotwendigfeit.
Dr. Wilhelm Prag, Das Forfhungsgebiet des
Dfkultismus, (Stuttgart, Streder und Schröder, 1924.
163 ©., tart. 2,40 M.) Das Bändchen ift eine febr
100
fiare Weberjiht über die Tatfaden und NRätfelfragen
des Oftultismus, aber ſelbſt für eine Einführung etwas
fnapp gehalten. Man hätte lieber eine gründlichere
Behandlung eines beitimmten Fragenkomplexes als
dies Durchfliegen aller. Der Berfafier hat das wohl
ſelbſt gefühlt; denn er weiſt feinem Lefer durch Lite-
raturnachweife jelbft die Wege zu tieferem Eindringen
in die einzelnen Gebiete. Wohltuend ift die fachliche
. Haltung P.s, der die Gründe der Bejaher wie der Ber-
neiner einer gleich vorurteilsiofen Prüfung unterzieht
und ſchließlich die Entjcheidung offen läßt.
KR. Hahn, Grundriß der Phyſik, Il. Teil für die
Oberftufe höherer Lehranjtalten und für Fachſchulen.
2. Aufl. mit 336 Fig. B. ©. Teubner, Leipzig und
Berlin. 1924. — Diefes Phyſiklehrbuch ift meines
Wiſſens das einzige, das entichloffen den Ergebniffen
der modernen Forſchung auf allen Gebieten, ſoweit es
für. die Schule möglid) ift, Rechnung zu tragen fih be-
mübt. Es unterjcheidet fidh ferner von der übergroßen
Mehrzahl der heutigen Lehrbücher dadurch, daß es nicht
wie diefe das Erperimentelle und Techniſche, fondern
das Logiſche in den Vordergrurd ſtellt. Es entwidelt
die phyſikaliſchen Begriffe und Geſetze faft ohne Be:
zugnahme auf jpezielle Apparate und VBerfudsanord-
nungen. Das hat den großen Borzug, daß es den
Lehrer febr wenig in erperimenteller Hinficht bindet; -
natürlid aud den Nadteil, daB es für den Schüler
vielfah ein wenig unanſchaulich und abitraft wirft.
Doch wird diefer Nachteil wohl reichlich wett gemadt
durch die treffliche Klarheit und Cinfachheit der hegriff-
‚ lichen und mathematifhen Entwidlungen. Hahn ver-
fteht es vorzüglich, überall den nächſten Weg zum Ziele
zu finden und dadurch auch das Schwierigere verhält:
nismäßig leicht zu machen. Auf der anderen Seite hat
er febr vernünftiger Weife eine Unmenge entbehrlicher
Einzelheiten und Breitheiten des üblichen Lebrganges
geftriden oder doch Stark reduziert, um dadurh Plah
für die neueren Forfchungsergebniffe zu gewinnen, eine
Forderung, die Referent feit langem erhoben hat. Bon
den leßteren, die Hahn in diefem Bude bringt, die aber
in den meilten Schulbüchern heute noch fehlen, feien
bier folgende angeführt: die finetifche Gastheorie bis
zur Berechnung der Lofhmidtihen Zahl (8 36); Die
erweiterte Zuſtandskurve der Gafe (nad) van der Waals,
§ 56); der Garnotiche Kreisprogeß und der zweite
Hauptfaß; die Strahlungsgefehe von Wien und menig-
tens in graphifher Darftellung auh die Planckſche
Kurve; die Formeln der oszillatorifchen Entladung; die
Berechnung des Berhältniffes von e;m bei den Ka-
thodenftrahlen; eine ausführliche Darftellung überhaupt
der Korpustular- und Röntgenſtrahlung und Radio:
aftivität; Jonentheorie der Entladungen in Gafen;
eleftromagnetijche Lichttheorie;, Zeeman-Effekt; Spet-
tralgefege einjchließlich folder der Röntgenfpeftren, und
im Sclußkapitel Relativitätstheorie und Quantenlehre
mit Bohrſchem Atommodell. Critere wird bis zur Ber-
inderlicheit der Maffe und zur Maffenenergieformel
gefördert; letzteres nicht volljtändig mathematiſch durd
geführt, jondern nur fummarifch beſprochen. Weiterhin
finden wir hier nod die Aſtonſchen Ergebniffe und
Rutherfords Clementenabbau. So bringt das Bud)
Neue Literatur.
tatſächlich alles, was ein moderner Phyfiflehrer nur
wünſchen tann. Ich ftehe nit an, es in Rüdfiht auf
Stoflauswahl als das weitaus befte aller vorhandenen
Lehrbücher zu bezeichnen. Nicht ganz jo völlig einver⸗
itanden bin ich mit der Art, wie der Berfaffer hier und
ba feinen Stoff behandelt. An manden Stelfen ſcheint
mir die Darftellung doh allzu abftratt, auch hatte ich
einige kleinere ſachliche Bedenten. Da ih midh aber
darüber mit dem Verfſaſſer dirett auseinandergejeßt
habe, feien fie bier übergangen. Alles in allem darf
dies Budh mit groer Freude begrüßt werden.
Dr. A. A. Friedländer, Eigenes und TFremdes
zu der Freud’ihen Pſychanalyſe. (I. A. Barth, Leipzig
1923, 47 ©., 1 A). Eine verdienftlihe Zufammen-
ftelung von Beiprehungen älterer und neuerer
Schriften der pigchanalytiihen Bewegung, wie fie im
Anſchluß an Freuds Lehre entitanden. F. nimmt
einen im weſentlichen ablehnenden Standpunft zur
Viyhanalgfe ein. Man glaubt es ihm wirklich, daß
feine vornehme ſachliche Einjtellung „jo etwas wie —
Entfagung“ verlangte; denn der Mift, den einige
Schüler Freuds, ihres „Meiſters“ Anfichten populari-
fierend und vergröbernd, verzapfen, ift geradezu
fürdterlid. Scamröte erfaßt einen, wenn man lieft,
welche etilen Schweinereien Leute wie Groddek in
unfte ſchönen Märden wie Sneewittden hinein
„deuten“. Man tann nur F. beipflidten, wenn er in
der Seranziehung der Piychanalyfe zur Püdagogit
ernfte Gefahren fieht; „die praftiide Anwendung der
Pſychanalyſe durch Nicht-Aerzte,” fast er mit Redy,
„it Kurpfufcherei.” Der Himmel bewahre uns und
unfer Bolt vor den Analytilerinnen, die an der Spibe
von Kindergärten ftehen, wie fe Melanie Klein
gründen will! Mit Recht weilt bier %. auf die
Schädigungen Hin, die dur ſchematiſche Pſychanalyſen
mit ihrem unveränderliden feruellen Einſchlag ver:
urſacht werden fünnen. Nun, glüdlichrweiie ift es noch
nit jo weit, da — mie übereifrige Freudianer
triumphierend behaupten —, die Pſychanalyſe „die
Religion und den Gottesglauben überwunden hat.”
Friedr. Schreyvogl, „Kalholiſche Revolution“.
Leipzig 1924. Der Neue Geilt-Verlag, Dr. Peter Rein-
hold. Brofchiert 2,40 M. Unter katholifher Revolution
veriteht der Verfaffer den Willen zum Aufbau einer
befferen Welt, und es foll die Aufgabe diefer Revolution
fein, die Wirklichkeit ihrem ewigen Sinn anzunähern.
Es handelt fih aljo um ein bewußtes Höherhinauf. Für
Schreyvogl ift die geiftige Ummälzung eine fittlihe For-
derung, und der fatholiihe Gedanke erjcheint ihm ge-
eignet, fie — joweit das überhaupt möglid ift — zu
verwirfliien. Das Schriftchen ift in einer erweiterten
Form als Einführung in die „Staats: und Wirtichafts-
lehre des Thomas von Aquin“ verwandt worden, und
der doctor angelicus wird aud in die Beweisführung
eingezogen. Mande Gedanten und Behauptungen des
Verfaſſers können vom proteftantifhen Standpunkt aus
nicht ohne weiteres zugegeben werden; wenn er anderer:
feits in feiner Darftelung ſich bemüht, die katholiſche
Politik ſcharf zu trennen von dem fathofifhen Ge -
danten, jo mag man ihm vielfady beipflidten.
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so alt, wie einer unserer Betriebsleiter war, als unser
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Schriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Aufſätze ſlehen die Verfafſer; ibre Aufnahme macht fie nicht zur Aeußerung des Bundes.
XVIL. Jahrgang
Mai 1925
Het 5
Die am 2. April in Caffe! tagende Kuratoren:
verſamlung unferes Bundes hat jchwermwiegende
Beratungen gehalten, von denen ih das Wid-
tigfte und allgemein Snterefjierende hier mit-
zuteillen und unjeren Bundesmitgliedern zur
Stellungnahme vorzulegen habe. Wir wünjchen
eine möglichſt weitgehende Beteiligung derjelben
an einer Ausſprache darüber, und ich bitte, die
Yeußerungen direft an meine Udreffe, Bielefeld,
Kajtanienftr. 14 zu richten. Natürlich tann ich
nicht veriprechen, daß all jolhe Aeußerungen
bier zum Abdruck tommen, behalte mir aber
vor, einiges nah Wunſch mit oder ohne Na-
mensnennung zur SRennzeichnung der Stim—
mung zu veröffentlichen.
Der Materialismus ift tot. — So jagt man heute
ellgemein, und es ift etwas Wahres daran. Die Ab-
iage an ihn in der öffentliden Meinung ift ziemlid)
einhellig außer bei denjenigen Kreifen, die fih ihre gei-
fige Nahrung von den Leitern der „proletarifchen
wreidenter“ und ähnlichen Organifationen vorjegen
laffen, die aber, wenn fie auch die jozialiftifche Preſſe
noh größtenteils und die fommuniltiiche fait ganz be: .
berrichen, doh auh jhon innerhalb der deutſchen Ar-
kiterídhaft auf ſteigenden Widerſtand ftoßen, wie zahl—
teihe Erſcheinungen der legten Jahre gezeigt haben.
Sn den fog. höheren Boltsidichten gilt es zweifellos
heute bereits als unmodern, wenn man etwa nod für
Haedel oder gar L. Büchner ſchwärmen wollte und
ein verftändiger und zugleich wirklich religiäjer Menſch
von heute bat meiltens jhon mehr mit der Abwehr
alles möglidgen Aberglaubens als mit der des vor 30
Jahren alles beherrichenden Unglaubens zu tun.
Unter diefen veränderten Zeitumſtänden fonnte fid
sie Leitung des Keplerbundes der Einfiht nicht ver-
Idließen, daß die urſprünglich den Hauptcharakter des
Keplerbundes ausmachende Kampfftellung gegen den
Materialismus Haeckel-Oſtwaldſcher Richtung heute zu
einem großen Teil entweder gegenſtandslos geworden
it, oder doh ganz andere Methoden der Bekämpfung
Bon Kepler zu Leibniz? rn a Bat 7 P
P)
bedingen würde wie früher. Denn dieſer Materialis:
mus herrſcht heute eigentlih nur noh in weiten Kreis
fen des arbeitenden Volles und ift hier von den geis
ftigen Führern jo hoffnungslos mit politif hen und
wirtſchaftlichen Motiven verquidt worden, daß uns,
wenn wir den Kampf auf diefem Gelände aufnehmen
wollten, nichts weiter übrig bleiben würde, als uns
ebenfalls auf das politifhe Gebiet 3u begeben. Nun
will ich feineswegs behaupten, daß folde Arbeit über:
flüffig wäre. Aber fie würde ganz andere Mittel und
einen ganz anderen Kreis von Mitarbeitern erfordern
als fie unferem bisherigen Bunde zur Verfügung ſtehen.
Es bleibt aber auh abgefehen hiervon genug 3u
tun. Denn wenn der Keplerbund fih bisher im wejent:
lien an Schichten gehalten hat, die bis zu einem ge-
wiffen Grade an der Bildung unferer Zeit teil hatten,
jo ift aud in diefen Schichten heute ſchon keineswegs
alles fo beichaffen, daß wir unfere Aufgabe für erledigt
angehen fünnten. Es ift wohl richtig, daß der alte
Wiaterialismus ziemlich tot ift. Aber was wir an fei-
ner Stelle in unferem geiltigen Leben jehen, ift ein
nichts weniger als erfreulies Bild. Bei den von den
Naturwiſſenſchaften und der Technik herfommenden
geiftigen Führern herrſcht noh immer eine ſtarke Bor:
liebe für einen zwar niht materialiftifh, aber pofi-
tiviftifch begründeten Steptizismus, der den Sinn
für alle höheren Werte faft noch ſicherer tötet, als der
Haeckelſche Monismus, der doh wenigitens nad einer
einheitlien befriedigenden Weltanſchauung ftrebte,
wenn aud das, was er als folde anbot, nur ein Surro-
gat war. Es ift fehr zu bezweifeln, ob es unfererjeits
els reiner Gewinn zu buchen ift, wenn man heute in
naturwiſſenſchaftlichen Kreijen allgemein über Ddiefen
„Monismus” lädelt.e Denn man lädelt darüber lei:
der viel weniger deshalb, weil diefer metaphyſiſche
VBerfuh ein Verſuch mit untaugliden Mitteln war, als
vielmehr deshalb, weil es überhaupt ein folder Ber:
ſuch war. Mit anderen Worten, man lehnt in diejen
Kreijen nicht etwa die materialiſtiſche Metaphufit und
Weltanſchauung, fondern jede Metaphyſik und Welt-
anſchauung überhaupt ab. Das aber ift falt ſchlimmer
als das Ueberwundene, denn damit verneint man im
102 BE EDER
Grunde die. Exiſtenzherechtigung alles- Glaubens über-
haupt, -oder:. 3m, wenigfteg,‘.- man billigt ihm
feine objettice Geltung zu. Er ift von dieſem vornehm
agnoſtiſchen Standpunkte aus beitenfalls eine zuläfiige
„Fiktion“, von irgend einer objektiven Geltung der
höheren Werturteile der Gittlicjleit, Religion uſw. ift
auch hier, ja hier erft recht, zumeift feine Rede. — Auf
der anderen Seite jehen wir heute eine große Schar
von geiltigen Führern, die vornehmlich” von den og.
Geiſteswiſſenſchaften herkommen und die nun, ebenfalls
auf den pofitwiltifhden Grundcharakter der Natur:
wiſſenſchaften podend, die letztere grundfäßlid und
völlig aus dem höheren Kulturleben verbrängt und in
Die Niederungen ber bloßen praktiſch zivilifatoriichen
Aufgaben verwiejen willen wollen. Das Spenglerſche
Wert hat in diefer Richtung verheerend gewirkt, und
die allgemeine antiintelleftualiftiiye Strömung der
Zeit, befonders in der Jugendbewegung, kommt diefen
Tendenzen entgegen. Ginge es nad ihnen, jo fümen
wir in abjehbarer Zeit dahin, daß die eratten Willen:
haften als rein theoretifches Erkennen der Wirklich:
feit und die Tedmit als praftiide Beherrſchung
derfelben völlig als KRulturfaltoren beifeite-
geihoben würden, daB man Leiltungen wie die von
Newton oder Darwin, von Kepler oder Bohr, als
überhaupt niht mehr zur „Kultur“ gehörig unbeküm⸗
mert ignorieren und fih dabei noh als Führer wahrer
Kultur fühlen und oujjpieien dürfte. Unferen Feinder
im Auslande könnte das gerade paffen, wäre es dod
die „Rückkehr zum Geifte von Weimar“, jo wie fie
fih diefelbe denten. — Neben diefen Strömungen ſehen
wir in den breiten Schichten der mehr oder minder Ge.
bildeten ein wahres Babel von neuen weltanſchaulichen
Beitrebungen aller Art. Wohl nod nie, feit die Welt
Steht, nicht einmal in den Zeiten der ausgehenden Antike,
Hat ein ſolches Durdyeinander in philoſophiſcher und reti:
giöfer Hinficht geherricht wie im heutigen Deutfchland.
Aus diefer Gejamtlage ergibt fih wie mir fcheint
nun zwangläufig die neue Aufgabenſtellung. Unfer
Arbeitsgebiet bleibt — das ſchicken wir jeder
Erörterung voraus — das Grenzgebiet der
Naturwiffenfhaften gegen die übrigen
Rulturgebiete, vornehbmlih gegen die
PBpilofopdie und Religion. Denn Hier:
durh allein Hat der Seplerbund feine Eriftenz-
berechtigung neben dem Kosmos und anderen
rein naturwiſſenſchaftlich eingeſtellten Unter⸗
nehmungen einerſeits und den rein alademifh ar-
beitenden philoſophiſchen Gefellichaften, wie 3. B. der
Rantgefellichaft, ſowie den kulturphiloſophiſch orientier-
ten Bünden, wie 3. B. dem Euckenbunde, andererfeits.
Es gibt außer dem Keplerbund nur noh eine Ber-
emigung ähnlider Art, das ift die Mündener Gefell-
haft „Natur und Kultur”; dieſe ift aber ſpezifiſch
katholiſch⸗ konfeſſionell eingejtellt, während unfer Bund
von Anfang an interkonfeffionell geweſen ift. An die-
fer Weite beabfidtigen wir jedenfalls feitzuhalten.
Wir wollen aber auf der anderen Seite
nunmehr tiar betonen, daß nidt die
Raturwiffenf daft, jondern die Welt
anfhauung unfer eigentlidftes Ziel ift.
Die Naturwiffenfhaft ift infofern für
Bon Kepler zu Leibniz? __
uns rihtunggebend, als fie unfer Ar.
beitsgebiet begrenzt. „In der Beichräntung
zeigt fih erft der Meifter“, wir können und wollen
nicht alle möglichen an fi febr intereffanten Kultur:
probleme der Gegenwart in unferen Kreis ziehen, f on-
dern nur diejenigen, die in irgend einer
wenn aud lofen Beziehung zur Natur:
wiſſenſchaft ftehen. Unfere Aufgabe auf diefem
Gebiete ift dann von doppelter Art. Wir haben die Wege
aufzuzeigen, die von der Natumviffenfchaft zu den an-
deren Gebieten hinüberführen, und wir haben denen,
die von diefen anderen Gebieten herfommen, zu zei:
gen, in wie weit fie in naturwiſſenſchaftliche Erkennt:
nis mit oder ohne ihren Willen mit verflochten find.
Mit der erften Aufgabe wollen wir denjenigen Na:
turwiſſenſchaftlern (Technitern, Aerzten uſw.) dienen,
die ſich über die Enge ihres Faches hinaus nad) einer
Einordnung desfelden in das größere Ganze der Qıl:
tur fehnen, weil fie tlar fehen, daß nicht alle geltenden
Urteile, wie der Haedelismus meinte, auf naturwifjen:
ſchaftlichem Wege zuftande fommen. Mit der anderen,
die natürlich der bisherige Bund auch in weitem Um:
fange ebenfo wie die erjte erfüllt hat, wollen wir den
Angehörigen anderer Fächer und Berufe, wie z. 2.
dem Philologen, dem Juriften, dem Theologen, dem
Vebrifanten und Kaufmann uſw. dienen, die an fo
und fo vielen Stellen es merken, wie naturwiffenjhafl:
(ide Erfenntnis entfcheidend in ihre eigene Tätigfeil
eingreift und die deshalb unbedingt einer zuverläfiigen
Dorlegung, die zugleich das Wichtige vom Unwidligen
3u jcheiden verfteht, bedürfen.
Darüber hinaus aber wollen wir allen, die überhaupt
über die tieferen Fragen des Dafeins nachdenken, hei:
fen zur Klarheit zu kommen, und das foll, wie es fat:
ſächlich immer die eigentlichfte Aufgabe des Bun:
des gewefen ift, jegt aud) in feinem Programm an der
Spike ftehen. Wir entgehen dadurch zugleid dem
Borwurf. der dem SKeplerbunde vom Beginn feiner
Tätigleit an immer wieder gemacht worden ift, dem
Vorwurf, daß wir „Naturwifienfchaft” fagten und
„Weltanſchauung“ meinten und trieben. Sagen wir
es aljo ehrlich und unmißverftändlich zu allererft: was
uns zuſammenhält, ift ein gemeinfames Stre:
ben nah einer dem Materialisgmus ent:
-gegengefegten, alfo idealiftifh und re
ligiös beftimmten Beltanfhauung. M
diefem Ziele find wir alle, ob katholiſch oder evon:
gelifh, ob orthodog oder liberal, immer einig gemein,
und darin wollen wir einig bleiben. Inſoſern liegen
die Dinge aber heute anders als früher, als es taum
mehr nötig ift, in gebildeten Kreifen noch die Rot
wendigleit oder das Redt folder Weltanſchauung
darzutun, nad der fih ja alle Welt fehnt. Was mit
beutebrauden,iftnihtdie Verteidigung
des Rechtes folder Weltanfhauuns.
jondern die Aufweifung der Wege, dit
nun wirtlid in das erfehnte Land füh
ren. Wenn je eine Zeit eine ſuchende genannt wel:
den tonnte, dann gilt das von der unfrigen. Hier liegt
alfo unfere pofitive Aufgabe, und id; glaube, diefe |
an ſich erheblidy befriedigender als die negative blofet
Abwehr. Was wir den zahllofen Suchern und Fio
_Bon Kepler zu Leibniz?
gern umferer Tage zeigen möchten, das ift der Weg,
der zur wirtliden Zufammenfafjung
allerKräfteunjeres Beiftes und Gemütes
in einer harmoniſchen Einheit führt,
ju einer Beltanfhauung, inder Gefühl
und Hillen ebenſo ungeihmälert zu
ihrem Rechte tommen, wie der erten:
nende Berftand, den wir leineswegs
beifeitefhieben wollen wie jene Ueber:
tritifer des „Intellettualismus“, den
pirabermitdenanderen Seelenträften
zu einer wahrhaften Syntheſe bringen
vollen,nidtnurzu einem notdürftigen
Kompromiß.
Dus ift ein febr hohes Ziel, und es ift uns Mar,
dab wir dasfelbe nicht fertig unferen Freunden und Le:
km vorſetzen fünnen, fondern daß es in ftiller, lang-
ſamer Arbeit heranreifen muß. Diefe Arbeit wird in
der Hauptfache philofophifcher Natur fein müffen. Selbft:
veritändlic jegt fie voraus, daß aud das rein Wiffen-
Haltlihe einwandfrei erledigt wid. Wir werden
darum nadh wie vor es als eine der weſentlichſten Auf-
gaben unferes Bundes betrachten, über die naturwiflen:
haftlichen Forjhungsergebniffe nad) Kräften völlige
Klarheit zu ſchaffen, und bei der Stoffauswahl nod
mehr als bisher uns dabei von dem Geſichtspunkt lei-
ten lafen, daß wir nur dasjenige bringen,
was wirtlih von grundfäßlider Be-
deutung iſt, dagegen an fidh intereffante, grundfäg-
lich aber nicht gerade neue Dinge den Fadeitfchriften,
Km Kosmos uſw. überlaſſen. M. a W. wir
vollen das rein Naturwiffenfdaftlide
einfhränten auf das, was in irgend
tiner Beziehung zu anderen Kulturge
bieten, vornehmlich zu philoſophiſchen
oder religiöfen Fragen fteht oder über:
haupt von irgend einem allgemeinen
Inte treffe ift. Schon das ift weit mehr, als wir
latſächlich erledigen fünnen, an Stoff wird es uns alfo
auch bei diefer Beſchränkung niemals fehlen. Gerade
damit aber hoffen wir den Bedürfniffen febr weiter
Rreife von Nichtfachleuten entgegenzutommen; denn
dieje wollen ja doh zumeift niht dieje oder jene fadh:
oifenjhaftli) vielleicht febr intereſſante Einzelheit
wilen, fondern nur das, wovon fie fid) irgend einen
Gewinn für ihr allgemeines Weltbild verfprechen. Um
ein paar Beifpiele anzuführen: die großen Fragen der
Entwicklungslehre, die Probleme der Vererbung und
Raſſenforſchung, die Grundlagen der heutigen Hhyjit,
die Frage der Giltigkeit der. Naturgelege u. dgl., das
find alles Dinge, über die jeder gern Bejdeid wiſſen
mogte und Beſcheid willen muß, der fih wirklich ein
zureichendes Bild von der Welt, in der er lebt, maden
vil. SHierüber ein wirklich eraktes, einwandfreies
Biffen weiteften Kreifen zugänglich zu maden, foll alfo
nod wie vor unfere erfte Aufgabe fein. Auch unfere
allgemein beliebte „midau“ foll diefem Zwede weiter
nen Dazu wollen wir dann aber auh ganz dirett
die wirhtigften naturphilofophifhen u. a. ragen be-
handeln, um aud hier nah Möglichkeit Klarheit zu ver-
breiten. Man kann aud diefe Arbeit recht wohl ohne
t
Voreingenommenheit und Tendenz betreiben. Dieſe Ob⸗
m 103
jettivität zu wahren, wird aud ferner meine größte
Sorge fein. Wenn idh vielen unferer Freunde, aud
meinem verehrten PBorgänger, darin mandesmal des
Guten zu viel getan zu haben ſcheine, fo bitte ich diefe
Freunde, zu bedenten, daß auf teine andere Weife
unſere Pofition innerhalb der Kreife der Naturmwiffen-
ihaft felber zu halten ift. Denn, wo man Tendenz
wittert, da wird man verſtimmt. Wir ftehen leider in
der naturwiſſenſchaftlichen Welt und im großen Publi-
tum da mit dem Stempel „kirchlich approbierte Natur:
wiſſenſchaft“, ja folde Urteile finden fi fogar in
wiſſenſchaftlichen Darftellungen moderner philofophifcher
Strömungen. So unberedtigt diefes Urteil oder- Bor-
urteil fein mag, wir müffen mit feinem Borhandenfein
rechnen. Brechen werden wir es nur, wenn wir in
langer geduldiger Arbeit wirtli Gutes, Objektives,
SHaltbares und Wertvolles leiften. Dazu müffen dann
freilich nun auch alle diejenigen mithelfen, die es fünnen.
Wenn alle warten wollen, um „erft mal zuzufehen,
was dabei herauskommt“, dann geſchieht überhaupt
nichts, denn allein tann id) mit den wenigen Mitar-
beitern, die wir jet befigen, die Aufgabe unmöglich
leiften. Ob es gelingen wird, neue Kräfte mobil zu
maden, muß die Zukunft ausweifen. Wir wollen
unfer Möglidjites tun.
Hier drängte fi) uns nun nod eine febr wichtige
Frage auf. Sit es nicht vielleicht angebradjt, bei dieſer
Gelegenheit die Welt nachdrücklich darauf aufmerfam
3u maden, daß der Keplerbund ein grundfäßliches neues
Arbeitsprogramm fih gefegt hat? Das würde am radi:
falten dur eine Aenderung des Namens des Bundes
bewirft werden, und wir haben deshalb ernſtlich er:
wogen, ob wir uns für eine ſolche entſcheiden jollen,
und welder neue Name etwa in Frage füme. Diefe
rage fei hiermit auh unferen Mitgliedern und
Freunden vorgelegt.
In Betracht tommen unjeres Erachtens vor allem
drei Vorſchläge. Der eine geht dahin, den Namen
Keplerbund mit dem weniger engen einer „Keplergeſell⸗
haft“ zu vertaufhen. Dafür ſpricht die Beibehaltung
cener gewiſſen Hiftorifhen Kontinuität, dagegen der
Umftand, daß mit foldyer geringfügigen Uenderung im
Grunde wenig gewonnen, fie aljo eigentlih dann ganz
überflüflig wäre. Als zweiter Vorſchlag füme in Be:
tradht die völlige Weglafiung eines Namenshelden und
eınfader Titel, wie etwa „naturphilofophifche Gefell-
Ihaft“ oder dgl. Gegen diefen Vorſchlag dien den
meijten von uns erjtens 3u fpreden, daß damit unfer
Charakter in der Oeffentlichkeit ſofort erheblich ver-
waſchener und ausdrudslojer würde, zum andern, dab
es jehr ſchwer ift, einen Titel diefer Art fo zu finden,
daß er niht zu viel und nicht 3u wenig befagt. Der
jceben angeführte klingt reichlich anſpruchsvoll, denn in
diefer Weife pflegen rein wiſſenſchaftliche atademifche
„Geſellſchaften“ fih zu bezeichnen, und eine folde zu
ſein beanſpruchen wir weder, noch würden wir, wenn
wir es zu werden beabſichtigten, unſere Aufgabe im
Volksleben erfüllen. — Der dritte, und wie mir ſchien,
tefte Vorſchlag geht dahin, ſtatt des Namens Kepler in
Zukunft den Namen Leibniz zu wählen. Dies be—
derf einiger näheren Begründung:
Unfer bisheriger Namenspatton Kepler war nicht
104
nur ein großer Witronom, fonden aud ein findlid)
frommer Mann und eine wundervolle, echt deutſche
Perfönlichkeit, wie wir uns nur recht viele wünjdyen
. fönnen. Aber eins war er nicht, er war fein Philo-
ſoph, zum wenigiten fein guter. Was fi an philofo-
phifchen Ideen bei ihm findet, ift reichlich phantaftifcher
Natur und für uns Heutige völlig unbrauchbar. Der
Erfinder der Differential: und Integralrechnung da—
gegen und Entdeder des Energiejahes in der Medani?
war nicht nur, wie dieje feine Leiftungen zeigen, einer
ver großten Forſcher aller Zeiten, jondern er bejaß da-
zu fait alle anderen Eigenfdaften, die zujammen den
Begriff der Kultur im hödjiten und beiten Sinne des
Lars ausmaden. Er war ein Weltmann und Diplo-
niat son vollendeten Formen, ein Menjd von feinjtent
äſthetiſchen Empfinden, felber tein ſchlechter Dihter,
und er war irey alledem ein aufrichtig frommer Mann,
deilen tiefes, religiöfes Gefühl 3. B. in einem febr
ſchonen, noh heute in manden Geſangbüchern ftehenden
PBaflionsliede zum Ausdrud tam. Das alles aber bil-
dete — und das ift für uns die Hauptjadde — bei ihm
niht ein unvermitteltes Nebeneinander, jondern wurde
3u einer wahrhaft imponierenden inneren Einheit ver-
bunden, weil Leibniz in erjter Linie Philofoph war und
als folder nah der Harmonie und dem Ausgleidy aller
einzelnen Seiten feines reihen Geijtes ftrebte. Wir
biauchen feine Monadenlehre (die übrigens mit Unrecht
von jolchen verjpottet wird, die ihren tiefen Sinn gar
nicht verftanden baten), niht anzunehmen, ebenjo-
wenig feine Löfung des Iheodizeeproblems für gut zu
befinden; worauf es hier antommt, das ijt das Ideal ei:
ner, joweit es Menjden überhaupt möglich ift, vollendet
harmonischen Gejamtperjönlidgfeit, in der alle beiten
Kräfte des menjcdlidyen Beiltes, einſchließlich der reli-
giöfen, ſich zu einer vorbildlihen Einheit zufammen:
fügten. Und diejes Bild ift auch von den Fleten rein,
die leider einen anderen, ſonſt vielleicht nod) Größeren,
den von Weimar, in einigen Punkten entitellen. Ob
man nun troßdem aud an Leibniz, wie das ja nur na:
türlih ift, dieje oder jene Menſchlichkeit auszuſetzen
findet, ob man ihn vielleiht ouh ein wenig zu intellef-
tualiftifh nennen möchte und mit Mahnde eine Ergän-
zung durch Goethes ftarfes und warmes Erleben als
wünſchenswert empfindet — für die Arbeit, die unfer
Bund in der Gegenwart zu leiften hat, dürfte fid
ſchwerlich ein befierer Namensheld finden. Denn dieje
innere Einheit ift das But, das uns abhanden ge-
tommen ift und das wir bewußt oder unbemwußt alle
erjehnen. Wir willen heute, daß aud ein Leibniz erft
am Anfang eines langen dornenvollen Weges jtand,
den die europäiſche Menjchheit noh gehen mußte, vom
naiven Glauben an das Objeft zur Bereinfamung des
Subjetts und wieder zurüd zum wahren Objelt. Die
„Aufklärung“, deren Vertreter er war, mußte im ver-
offenen Jahrhundert erft noch ganz andere ungeahnte
Weiten erreichen, ehe der moderne Kulturmenid dazu
tommen fonnte, fid) wieder auf das zu befinnen, was
trog aller Kritit und alles Relativismus unveränderlid),
weil ewig giltig, befteht. Uber gerade darum dürfen
wir mit Freude auf einen Mann wie unjeren Deutſchen
Leibniz bliden. Wie anders ift das Bild, das er bietet,
wenn wir ihn mit den franzöfiichen Spöttern und Ma:
Bon Kepler zu Leibniz?
terialiften, einem Qamettrie oder Boltaire, oder wenn
wir ihn mit dem philiftröfen Engländer der Auftlärung
vergleiden! An den fpäter auch in Deutjchland zutage
getretenen Sünden diefer Art, vor allem in der fog.
Leibniz-Wolffſchen Schule, ift L. felber ganz unſchuldig
Er verhält fih zu ihr etwa jo wie ein Luther zu der
fteifieinenen Orthodirie des 17. Jahrhunderts. Der Spott,
den Goethe im Fauft über diefe Art Philojophie er-
giebt, trifft nicht den von ihm zeitlebens fehr Hochge-
fhäßten Leibniz ſelber, jondern feine ſcholaſtiſchen
Nachbeter.
Dies ſind die wichtigſten der in Caſſel geäußerten
Gedanken. Wir bitten unſere Mitglieder alſo um eine
recht eindringliche Ueberlegung und gegebenenfalls um
Stellungnahme dazu. Entſchieden iſt noch nichts end-
giltig, wir wollen zuerſt die Stimmung im Bunde
ſelber in Erfahrung zu bringen ſuchen.
In der äußeren Organiſation des Bundes iſt inſofern
eine Aenderung eingetreten, als unſer langjähriger ver:
dienter gefchäftsführender Direktor, Herr W. Teudt,
nunmehr endgiltig fein Amt abgegeben hat, das er
ihon in den legten Jahren nur nod gegen feinen
Wunſch fortgeführt hat, weil tein Erfah da war. An
feine Stelle tritt Herr Direftor Dr. Müller:Lage, der
Schıriftleiter des „Naturfreundes”. Gleichzeitig ift der
Vorſitz im Borftande an den willenjchaftliden Leiter,
aljo an midh, übertragen und Herr Direktor Teudt ift
zum ftellvertretenden Vorfigenden unferes Kuratoriums
ernannt worden. Jn das Kuratorium felbft ift an
Stelle des verftorbenen Oberſt Mende Herr Direktor
Brandt in Caffel eingetreten. — Alle nicht die inneren
(grundfäglien) Fragen betreffenden Zuſchriften wolle
man gegenwärtig an die Gefcyäftsitelle des Bundes in
Detmold richten. Jene dagegen ftets dirett an mid),
damit feine WVerzögerungen eintreten, ebenfo alle re-
daktionellen Zufchriften für „Unjere Welt”.
Die örtliden Organifationen des Bundes, joweit
ſolche nod beftehen, werden ſchon hier darauf aufmerf:
jam gemadt, daß ihnen vor der Hauptverſammlung
nod ein Schreiben zugehen wird, worin fie aufgefordert
werden, ihr Weiterbejtehen ausdrüdlich zu erklären, an-
fenft die Bundeszentrale fie als nicht mehr beftehend
betraddten und gegebenenfalls am Orte neu zu organi-
fieren verfuden wird. Diefer Schritt ift nötig, um eine
rechtlihe Unterlage dafür zu ſchaffen, daß wir endlich
den Ballaft zahllofer längjt eingejchlafener, nominell
aber noh bejtehender Ortsgruppen ufw. loswerden, der
uns nur hinderlich ift, wenn wir mit neuen Männern
eine neue, ausſichtsreichere Arbeit beginnen wollen.
Selbſtredend denten wir niht daran, das, was nod)
irgendwie lebt, „abjägen” 3u wollen, freuen uns viel-
mehr über jedes: Lebenszeichen, das uns zukommen
wird. Die Bundesleitung muß aber, zumal nad) der
Umſtellung des Arbeitsprogramms, eine gewiffe Hand:
habe befitten, um fier zu gehen, daß nun aud neuer
Geiſt möglichſt überall einzieht. Rechtsgiltig werden alle
dieſe Beſchlüſſe natürlich erft durch die Watifizierung
ſeitens der Hauptverſammlung, auf die wir wegen ihrer
grundſätzlichen Wichtigkeit für das weitere Schickſal
unſeres Bundes ſchon heute nachdrücklich hinweiſen.
Von dort aus ſoll dann ein neuer Aufruf mit alten und
neuen Namen in die Oeffentlichkeit hinausgehen.
Intuition und Intuitionismus.
105
Intuition und Intuitionismus. Bon Univ.-Prof. D. Wilh. Bruhn. H
Das Leid unferer Tage beginnt feine Segens-
fräfte zu entfalten: die Umſtellung der befinn-
licheren @eilter vom Fluffe der Erfcheinung auf
die Dauer überfinnlider Wirklichfeiten. Ein
tajtendes Suchen nah dem Unmittelbaren geht
Durch unfer Bolt, fchlägt als Flamme hervor in
neumgftiijder Dichtung und erpreflioniftifcher
Kunft, im Rufe nah Metaphyfit in der Philo-
fophie und in der Kriſis der Sugendbewegung
und lodt als Irrlicht die Maffen zu den Spiri-
tiften, Oftultiften und Anthropofophen.
An dieſer fchijalgeborenen Wende nehmen
auch die exakten Willenichaften teil. Ausgepräg—
ter als je tritt das Beftreben hervor, an die
feften Ergebniffe der Forſchung die naturphilo-
ſophiſche Hypotheſe zu fchließen, welcher die Rich»
tung von dem Bielfachen der Erfcheinung auf die
Realität einer legten Einheit immanent ift. Wie
man aber auf diefer Seite bemüht ift, mit willen:
ſchaftlichen Mitteln dem nahezutommen, wovon
der {fromme lebt, fo fucht auf der andern eine
moderne Theologie in ehrlicher Arbeit das reli-
giöfe Erlebnis zum Gegenjtand exakter pſycho⸗
logiſcher und gefchichtlicher Forfchung zu maden,
um die Brüde zwifchen Erleben und Willen zu
ihlagen. So hat der Drang der erfchütterten
Seelen feine vielverfprechende Pflege gefunden,
und vielleiht waren wir dem Biele der Ber-
föhnung zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft noch
nie ſo nahe wie jetzt.
Aber zwiſchenein in dieſe beſonnene Arbeit
drängt ſich das Ungeſtüm derer, denen jedes für
ſich: Erkennen oder Erleben, zu wenig iſt, die
beides auf einmal wollen. „Das Himmelreich
leidet Gewalt.” Es foll erftürmt werden durch
ein unmittelbares Zugreifen der Geele, welches
zugleich erfchöpfend-abfolutes Willen fein wil.
Diefe Methode der Ungeduld wird Intuition ge:
nannt: Innenfchau, nämlich des Wefentlichen in
ber Erſcheinung.
Es hat wenig Wert, zu unterfuchen, was diejer
Begriff dem MWortfinn nad) bedeuten müßte,
noch, in weldyen Bedeutungen er tatjächlich heute
ſchillert. MWertooller ift, herauszufühlen, was
jene reife wirklich erjtreben, wenn fice ihr
Suchen mit diefem Schlagwort etikettieren. Dies
ſcheint aber dreifacher Natur zu fein. Zunächſt:
man will nicht mehr nur an etwas glauben;
man will vielmehr das Ueberfinnlihe als Beſitz
und Kraft im tiefjten Wejen fpüren, es haben
und es fein. Wiederum foll folches Erlebnis
nicht nur fubjektiver Befig, ſondern objektive Er-
tenntnis fein, und zwar nicht bloße Hypotheſe,
ſondern abfolut:s Wilfen. Endlich will fih der
Suchende nicht mehr mit der myftifchen Schau
des Innen⸗Ich begnügen, fondern der Kosmos
ift es, auf beffen verborgene Wirklichkeit der
fauftiihe Drang gerichtet ift. Ein kosmifches
Schau-Wiffen erjtrebt man, und das ummittel-
bare Empfangen des befinnliden Ich foll die
untrüglihe Methode dazu fein.
Dies ift augenscheinlich der Zug der Zeit.
Was wir bei Dfkultiften und Gteinerianern
fehen, ift nicht Einzelerfcheinung, fondern nur die
marfantefte Berdichtung der Feitatmofphäre.
Mit der „Weſensſchau“ fegt es ſchon ein.
Spengler jchaut das kosmische Wefen in der Ge-
Ihichte, Keyferling den Ginn des Lebens in den
Dingen, Barth dringt durch den Bibelt:rt ins
Myſterium. Wenn das anthropofophifche „Beift-
auge” die Gefamtjtruftur des Kosmos aus der
„Akaſhachronik“ ‚herauslieft, ift dies nur bie
traffefte Form eines kosmiſch⸗überſinnlichen Er:
fenntnisdranges, der offenbar tief im Bedürfen
der Zeit fißt. Hier ift mehr als Modefache, mehr
als indifcher Importartikel, mehr auh als die
bloße Wiederaufnahme der Gnofis; hier Ipricht
der urmenſchliche Drang nad) dem Unmittel-
baren, aus dem auch die Gnofis nur als einzelner
Trieb aufichoß, jener Drang, der im Abendland
zuerft in Heraflit, dem Dunklen von Ephefus,
die intelleftualiftifche Dede durchbrach, der feit-
‚dem nie aufhörte, die aus dem Altertum über:
nommene Berjtandes: und Begriffstultur zu
unterminieren, der feit der großen Ernüchterung
nah Hegel jtärfer als je fih aufbäumte, mit
Bergjon in die Willenfchaft einzog und heute ein
vom Schickſal zermürbtes Geichleht im Sturm
erobert. Liegen hier aber vernachläffigte menfd)-
liche Bedürfnilje vor, fo fann auch eraftes Denten
an der Bewegung der Zeit nicht vorübergehen,
muß fih vielmehr fragen: Hat Wiſſenſchaft ein
intuitives Erfajlen dr Realität anzuerkennen?
Als Erlebnis? Und zugleih auh als Willen?
Wo liegt das Recht, wo der Irrtum der Beit-
Itrömung?
In der Tat zeigt jedem von uns die unmittel:
bare Celbitbefinnung Gegebenheiten auf dem
Grunde des Bemwußtfeins, die weder mit den
Sinnen, noh mit dem Denten etwas zu tun
haben. Wir lernen uns in der äußeren Wahr-
nehmung als Körper, in der inneren als fließende
Komplere von Worftellungen, Gefühlen und
MWollungen tennen; wenn wir troßdem um
106
unfer SIchfein als die Dauer im Wechfel wiffen,
jo gefchieht es, weil wir vermöge eines irratio—
nalen Organs, eben des intuitiven, imftande find,
durch die fubjektive Erfcheinung der äußeren und
inneren Wahrnehmung hindurch unfer eigenes
Weſen als ein Transfubjeltives, Nichtfinnliches
und Nicdhtrationales zu erfajlen. Nicht anders
ftoßen wir erlebend durch die äußere Erfcheinung
bindurd in das Weſen der anderen Perſönlich—
teit, wird uns die wahrgenommene Raum: und
Zeitwelt vermöge eines unmittelbaren Wirklich—
feitsfinnes zu einer von den Bemußtfeinsfate:
gorien unabhängigen Realität, offenbart fih uns
ein überlinnlidyes Sein in Natur und Kunft als
das Schöne und Erhabene, im Sittlichen als das
Bolltommene, im Religiöfen als das höchſte But.
In allen diefen Fällen liegt der Anſpruch auf
das intuitive Erfaffen einer nichtfinnlichen Wirt-
lichkeit vor, und die Wiflenfchaft muß anerkennen,
daß diefer für fie unerflärliche Anſpruch als eine,
foviel fie beobachten tann, allgemeinmenjdliche
Tatfärhlichkeit gegeben ift.
Indeſſen, befinnen wir uns recht, was denn ei-
gentlich folchem Erleben gegeben ift. Jedenfalls
nicht das Wefentlih an fidh, fondern das We-
fentlide inderErfcheinung, denn von die-
fer fommt das erlebende Ich, felber Erfcheinung,
nie los. „Wann Gott in die Seele fpricht,” Tagt
Eckhart, „ſogleich da es die Seele trifft, wird cs
geteilt.” Nicht die Sonne felbjt ift es, die wir
ichauen, fondern ihr im Spiegel! der Seele ge:
brochener Strahl. Als Strahl aus einer anderen
Welt aber werden wir nur dasjenige Erlebnis
werten Dürfen, das unjerer auf die finnliche Er:
ſcheinung gegründeten Erfahrung gegenüber als
ein Ganz-Anderes auftritt, alfo das fehlechthin
Nichtfinnliche, Ungeftaltete, Unausdrüdbare. Daß
das geſchaute Objekt in feiner unantaftbaren
Andersart als ein mysterium tremendum et
fascinosum (Otto) verbleibt, ift das eine Mert-
mal echter Intuition. — Das andere ift der Ber-
sicht des fchauenden Subjekts auf alles Selbitge-
ftaltenwollen. Denn da das Wefentliche der Çr-
iheinung gegenüber das Ganz-Andere ift, fo
fann es nur jo weit in die letere eingehen, als
diefe ihren Erfcheinungscharafter abgelegt hat
und felber Weſen geworden ift. Da nun das Ich
feinen Erfcheinungscharafter nicht völlig ab-
jtreifen fann, ohne fich felbjt aufzuheben, fo tann
aud niemals das Weſentliche ungebrochen in
dasfelbe eingehen, eine Tatjache, die zu über-
jehen der eigentliche Fehler der Myſtik ift. Biel-
mehr können wir nur fo viel fagen: daß in dem
gleichen Maße, in dem es dem Sch gelinge,
mejentlic) zu werden, auh das Weſentliche in
Intuition und Intuitionismus.
ihm Geſtalt gewinne. Das Höchſtmaß diefes
Weſentlich-Werdens aber ift in der Intuition ge-
geben als der unmittelbaren Eelbjtbefinnung, in
welcher das ſuchende Ich als Erfcheinung feine
Aktivität bis auf das Mindeitmaß der abfoluten
Hingabe zur Empfängnis herabmindert: je mehr
es das Gelbftgeftalten durch die geformte Bor:
ftellung aufhebt und nur noch reines Empfangen
geworden ift, um fo ungehemmter ftrömt das
Objett ein. Demnach ift das reine, d. i. allem
Borftellen gegenüber apriorifche Empfangen das
fubjettive, die völlige Unbegrifflichkeit und Un-
ausdrüdbarfeit das objektive Kennzeichen echter
Intuition.
Wo diefe Merkmale vorliegen, haben wir das
Erreichbare: das Umſchloſſenſein eines Trans-
fubjeftiven durch das Subjeft, ein unmittelbares
Innemwerden nichtfinnlicher Wirklichfeiten im Ich
und Nicht:Ich; ewiges Licht, wie es fih im Be-
mwußtfein bricht und noh in den „Emotionen”
des Individuums qualitativ und quantitativ
anders fith brechen mag, dennodh ewiges Lidt,
nicht erzeugt vom Subjekt, fondern aufgefangen.
Wo aber nicht mehr das Myiterium als unaus=
drüdbare Wirklichkeit gefehaut wird, fondern ein
Begrifflich-Anfchauliches, ein Weltenaufriß, eine
Weltanichauung, da ift das Objekt des Schauens
nicht mehr das der Erfcheinung gegenüber Gang-
Andere, alfo auch nicht mehr das Wefentliche,
fondern das verendlichte Weſentliche. Das ob:
jettive Merkmal echter Intuition ging verloren,
weil die fubjeftive Bedingung nicht innegehalten
wurde: das reine Empfangen wurde zu fubjet-
tivem Geftalten. Sobald aber das Gubjeft die
eigenen fchöpferifchen Kräfte fpielen läßt, ift auh
die Sphäre des MWefentlichen verlaflen: wir haben
es nun mit dem relativierten Objelt, mit dem
Mittelbaren zu tun. Dann fchaut das intuitive
Jh nicht mehr das Leben, fondern das Spiegel:
bild des Lebens in feinem Intellekt. Ob es nun
das gefegmäßig-Togifche Denken ift, welches feine
Begriffe, Urteile und Schlüſſe an das unmittel-»
bare Erlebnis bindet, oder ob es fih um ein Ge-
fräufel von Gedanken und Bildern handelt, wie
es fih unter der einfegenden Spontaneität einer
traumbhaft-bildnerifchen Synthefe über den Tie-
fen des Erlebnifjes bildet, immer ift es nur noch
der Sintelleft, der feine Fäden aus dem Erlebten
Ipinnt, und je mehr fih das Subjekt in fein Ge-
Italten verliert, um fo mehr verfidert ihm auch
die urfprüngliche Kraft zum MWefentlichen, bis es
Ichließlick ratlos vor felbftgefchaffenen Berr:
bildern Steht. Diefe Art der Selbftbetrachtung,
welche Gedanken und Bilder für das erlebte Db-
jett nimmt, weil der metaphyfifche Affekt ihr den
Intuition und Sntuitionismus.
— — — — — —
Blick für die Grenzlinie zwiſchen Empfangenem
und Dazugeſtaltetem ſtumpfte, iſt nicht mehr echte,
ſondern unechte Intuition und das Schwelgen in
ihr ein ungeſunder und unfruchtbarer Intuitio⸗
nismus. Denn ob es ſchon gut und notwendig
ift, dap der Jntellett das Unausdrüdbare in feine
Begriffe fpannt, um die ewige Kraft in den All-
tag überzuleiten, fo ift es doh Selbſttäuſchung,
wenn er die höchite Evidenz der reinen Empfäng-
nis mit dem produltiven Rauſch des Selbſt—
geftaltens verwechlelt, und Faljchmüngerei, wenn
er die eigenen Erzeugniſſe für das Objekt an fih
ausgibt. Dies Urteil trifft aber zwiefach auf
jene ungejeßlid”formende Syntheje zu: was
an einem Genius wie Heraklit auch dann noch
groß und fruchtbar bleibt, weil diefem ein Gott
gegeben hat, fein tiefer im Wejentlichen wurzeln—
des Sein nod bis in die entlegenften Gedanten-
ausftrahlungen hineinzutragen, fo daß ſelbſt feine
Duntelheiten noch für uns andere Wegweifer
zum Licht des Eigenlebens werden — das wird
unerträglich, wenn es der Durchſchnittsmenſch iſt,
der fi) im Ausipinnen feiner Erlebnifje gefällt
ınd uns die Alltäglichleiten aus feinen Treib-
häufern für Offenbarungen auftifcht.
Kann demnadh die Willenichaft das Erlebnis
des Ueberfinnlichen nur in gewijlen Grenzen als
eine ſeeliſche Tatjächlichkeit von unmittelbarem
Charakter und allgemeirimenfchlicyer Bedeutung
anerkennen, fo wird fie noh zurüdhaltender mit
dem Prädikat der objektiv-wifjenichaftlichen Gel-
tung fein müffen. Denn ein folches tann für fie
immer nur das Ergebnis eratter Forſchung auf
Grund finnliher Wahrnehmung und ihrer logi-
jhen Berarbeitung fein; was wollen wir aber
mit Wahrnehmung und Logit gegenüber einem
nichtfinnlichen und alogifchen Objekt ausrichten?
Hier bleibt zulegt nur der Sprung ins Leere, den
wir Dentnotwendigteit oder Hypothefe nennen.
Selbit von einer allgemein-menfclicyen Tatfäch-
lichkeit, wie fie das reine Erlebnis darftellt, tann
zu der Realität immer nur der Schluß leiten,
das ift die jubjeftive Nötigung, von der fein
Menſch erweifen tann, ob fie im wirklichen Wefen
der Dinge begründet oder eine dem Subjekt an:
haftende Illufion ift; um wieviel mehr wird da
eine träumende Metaphyſik an zwingender Ob-
jettivität einbüßen, da fie nicht auf das ſeeliſche
Urfaktum jelbft, fondern auf fein Spiegelbild im
Intelleft des Efotorifers baut und Dielen Bau
nicht mit der Syntheje des gefeßlichen Denkens,
ſondern mit der freifchaffenden Kraft der Phan:
tafie aufführt! Ein Geltungsnachweis fann für
den Willenichaftler nicht in dem Glauben der
Phantaſie an fih felber gelegen, fondern nur
107
inſoweit möglich fein, als für den unvermeidlid)
legten Schluß vom Subjekt auf das Objelt das
tragfähigite Fundament geſucht wird. Dies ift
im Erlebnis des transfubjeltiven Schleins, der
Cartefianifchen Grunderfahrung, gegeben, weil
diefe mit der Eriftenz des Ich, dem Sicherſten
von allem, unauflöslih verbunden ift. Hier
haben wir es mit einer Erfahrung zu tun, deren
Subjeftivität durch ihre unbejtreitbare empirijche
Allgemeingültigteit in gewiſſem Grade objekti—
viert wird, wodurch fie freilich immer noh nicht
exaktes Wilfen, wohl aber zu einem Fundament
geworden ift, von dem aus der Schluß auf die
Realität eines Transfubjefiven fih am ehejten
wagen läßt. Alle anderen Realitätserfahrungen
bis hinauf zur Religion find für das unbeſtech—
lihe Denten von der Ichexiſtenz ablösbar, fie
ichweben alfo in der Luft und können Geltung
nur in mittelbarer Weife beanjpruchen, nämlich
infoweit als fie, unter den gleichen fubjeftiven
Merkmalen der Unmittelbarfeit und höchſten
Evidenz wie jene Grunderfahrung zuſtandege—
tommen, fih analogifh auf die Geltung der
legteren berufen dürfen. Eine andere Brücke
vom Erleben zum Wiſſen als diefe des erfah-
rungsmäßig fundierten Schluſſes vom Gubjeft
zum realen Obj.tt gibt es nit. Wo mehr als
eine derart bedingte Geltung für jubjeltives Er:
leben beanjprucht wird, da tann es nur auf dem
Wege geichehen, daß ein ungeduldiger metaphy-
fiicher Uffekt jene gegebene Diöglichkeit ohne wei-
teres durch die willfürliche Borausjegung lekter
Identität von Subjekt und Objekt erjeßt: die
künſtliche Notbrüde einer rationaliftifchen
Wunſchmetaphyſik, weldye der vorfichtige For-
ſcher nicht betreten tann.
Iſt dies aber das Ergebnis wiſſenſchaftlicher
Selbftbejinnung, fo erhellt, daß der Wifjenfchaft-
ler der metapbyfifchen Gegenwartsftrömung mit
ihrem Anſpruch auf ein intuitiv-fosmifches Wij-
fen nur kritiſch gegenüberftehen tann. Wohl
unterliegt es feinem Zweifel, daß dieje gejamte
Bewegung aus einem großen und ſtarken Neu-
erleben geboren ift, welches den Rüdichlag gegen
eine intellettualiftiide Weberktultur und den
Niederjchlag der erjchütternden Zeitereigniffe dar-
jtellt, und daß das Weſen diefes neuen Lebens
eben das ift, was wir als echte Intuition gezeich:
net haben. Alle diefe auf ein unmittelbares Er-
tennen gerichteten Theorien unferer Zeit, von
der Wejensichau an bis hin zum anthropofophi=
jhen Hellfehen, find nichts anderes als die intel-
leftuelle Aeußerung einer vollzogenen Achſen—
drehung dcs erlebenden Ich vom Eubjeft zum
Objekt, die Rüdfehr von der Reflerion zu dem
unmittelbaren Wirflichfeitsbemußtfeir des naiven
108 —
Menſchen. Die überwältigende Wirklichkeit des
Kosmos ift es, Die den „Reiſephiloſaphen“ zum
Propheten madt. Und gerade in den Steiner-
ſchen Anfchauungen, mag man im übrigen über
fie urteilen, wie man wolle, lebt die gleiche er-
ſtaunliche Kraft innigjter Fühlung mit der Seele
des Alls, wie wir fie bei Herallit bewundern.
Dies ift aber ein Fattor, deffen Wert für den
Neubau des Beiftlebens man nicht zu gering ver:
anfchlagen foll. Iſt auh der Schauer der Chr-
furdht vor den Geheimniffen des Kosmos erft
der Vorhof zur KRunft, Sittlichkeit und Religion,
fo führt doch ſchon der nächſte Schritt ins Heilig:
tum. Wir find heute „arm am Geift” geworden
und brauchen vorerft nichts fo dringlich wie den
bloßen Halt im leeren Raum. Wer nun diefem
ohnmächtig-fehnenden Gejchlecht die Tür ins tos-
mifhe Myſterium auftut, tut Großes an ihm.
Auf der anderen Seite ift nun aber eben dies
das Verhängnis der heutigen Bewegung, daß fie
ihre zeitgeichichtliche Sendung: in die Tiefen des
Erlebniffes zu leiten, aus dem fie felbft geboren
ift, unter dem Einfluß des metaphyſiſchen Affefts
vertennt und aufs fchwerite beeinträchtigt. Wie
einft {hon Heraklit das prophetiſche Erlebnis in
ohnmächtig-dunflen Paradorien vom geftalten-
den Urfeuer, dur; das fih im Kreislauf das
Gegenfägliche eine und wieder trenne, verltrö-
men ließ, jo wird auch das ftarfe Erleben der
Gegenwart durh einen unverfennbaren Drang
zur Berfinnlichung in die Niederungen des Be-
grifflich-Anfchaulichen abgeleitet, in denen es Ge-
fahr läuft zu verfidern. Man hat des Unend-
lihen einen Hauch verjpürt, aber man ift nicht
ftar? genug, es in feiner unantajtbaren Größe zu
laffen. Unfähig, den horror vacui zu überwine
den und ins Mejenlofe zu greifen, um dort das
Mefentliche zu finden, hält man fih lieber an
das Breifbare der intellettuellen Geitaltung und
täufcht fih über ihren problematifchen Charafter
durch fünftlihe Steigerung des gejtaltenden
Subjetts hinweg. Echte Intuition geht unter im
Intuitionismus fchwelgender Gedanken: und
Bilderſchau. Eidetifche Einftellung wird Maſſen—
artitel. Alle Innerlichkeit Schelerfcher Gedan—
fen, alles Geiſtſprühen Spenglers, alle Weisheit
Keyferlings dürfte uns nicht vergeffen machen,
daß wir es hier nicht mehr mit dem erlebend-
empfangenden Objekt, fondern mit der individu:
ellzintelleftuellen Geftaltung fubjeftiven Sonder:
erlebens zu tun haben, und daß das eritere
immer noch höher als die leßtere bleibt, „foviel
der Himmel höher ift denn die Erde”. Das
Diltanzgefühl muß aber mit Notwendigkeit ver-
foren gehen, wenn der Menſch erft einmal allzu
pertrauensfelig feinem taftenden Denten nach:
Intuition und Intuitionismus.
geht; es ift verloren gegangen in den utopi:
ſchen Traumbildern der Spiritiften und Anthro-
pofophen. Hier ift die Apotheofe des Subjelts
Syitem und Methode geworden: potenziere nad)
beftimmtem Rezept dein Anfchauen und Denten,
fo öffnet fih in dir das „Geiftauge“, und alle
Beheimniffe des Kosmos liegen entjchleiert vor
dir da.
Wo aber das Denten einmal als konftitutiver
Faktor in das Erlebnis hineingelaffen wird, da
wird naturgemäß auch der ihm anhaftende —
und auf feinem Gebiet des Sinnlichen auch
berechtigte — Anſpruch auf objektive Geltung
übernommen und von der logiſchen Funktion
furzerhand auf die traumhaft - jgnthetifche über:
tragen: mit dem Antuitionismus ift der Ra-
tionalismus untrennbar verbunden. Bon die-
jem Anfpruc hält fi auch die eidetiſche We-
ſensſchau nicht frei, obſchon doch das unmittel-
bare Innewerden des Wejentlichen unmöglich je-
mals über die im höchften Falle allgemeinmenfch=
liche Crfahrungsgeltung eines fubjeltiven Er—
lebens hinaustommen fann. Für Spengler ift
das Schauen geſchichtliche Methode. Keyferling
will fchauend den NRealitätsbeweis des fosmi-
ſchen Seins erbringen. Und wieder erreicht dies
Abdgleiten aus der einen Sphäre in die andere
feine markanteſte Erſcheinung in den Gteiner-
ſchen Offenbarungen, die nicht weniger zu fein
verjprechen als die Fortſetzung eratt-naturwiffen-=
Ihaftlihen Ertennens Womit aber wird diefe
Ungeheuerlicyteit begründet? Wer fih je mit
Anthropofophen auseinandergefegt hat, tennt
ihre ultima ratio: das efoterifche Erlebnis. Das
Sonderbemußtfein der Einheit von Ich und ALL,
die alte Brahman-Athman-Theorie, der Frei-
pah für All-Ertenntnis von objektiv-wiſſenſchaft⸗
licher Geltung, Willen legitimiert durch imdivi-
duelles Erleben, dazu ein vielfah widerfpro-
chenes und alfo höchſt fragwürdiges Erlebnis.
Denn uns anderen, die wir dodh auch unfer Cr-
leben haben, zeigt die Intuition ein ganz anderes
Bild: niemals ein Gottfelbftfein, immer nur ein
Cottverwandtfein; niemals ift das fascinosum
ohne tremendum, niemals die Scheidemand zwi»
ſchen Subjekt und Objekt völlig aufgezogen.
Selbſt aber wenn jenes Einheitserlebnis, wie die
Anthropofophen behaupten, als eine allgemein-
menfcliche Anlage ermwiefen wäre, was würde
gewonnen fein? Immer nur ein allgemeingül-
tiges Erlebnis-Taltum, wie wir es tatſächlich im
Ichbewußtſein haben, niemals aber exaktes Wif-
jen, und nur der Schluß bliebe wieder als lekte
Notbrüde vom verallgemeinerten Subjekt hin—
über zum Öbjelt. Wo aber das Nieszu-Bemei-
jende willfürlich zur Vorausſetzung gemacht und
—
das Allerperfönlichhte für das WUllerobjektivfte
ausgegeben wird, da treibt man TFalfchmüngerei,
und Schlimmeres fann man einem um Klärung
feines Erfenntnisdranges ringenden Geſchlecht
nicht antun.
So droht das Starte Neuerleben unjerer Zeit i
in Intuitionismus und Rationalismus zu ver-
fanden. Helfen tann p nur ſtrengſte Selbit-
Die moderne Naturwitfenfhaft auf dem Wege zur Metaphyfit.
109
sucht wiſſenſchaftlicher Selbftbefinnung auf das
Fürſichſein des reinen Erlebniffes gegenüber dem
Intellektuellen fowohl in der pfychologifchen Cnt-
ftehfung wie in der ertenntnistheoretifchen Gel-
tung. Wo aber der Affelt eines metaphyſiſch
überreizgten Geſchlechts diefe Schranken über-
Ipringt, da wird der Wilfenfchaftler nicht ener:
giſch genug proteftieren fünnen.
Die moderne Naturwiſſenſchaft auf dem Wege zur
Metaphyſik. Bon Dr. Sherwapfg.
Die moderne Naturmwilfenfchaft, die in der fog.
Renaiffance entftand, ift charatterifiert durch ihre
empirifche Grundlage. Alles, was jenfeits des er-
fohrungsmäßig Faßbaren liegt, fchien „unmiffen-
Ihaftlih" und darum für die Naturmwilfenfchaft
rerbotenes Gebiet. Der Umkreis der Erfahrung
rerengerte fih aber im Lauf der Zeit immer
mehr, fo jonderbar dies auh zunächlt erfcheinen
mag. Gewiß, die Menge des rein ftofflichen
Wiſſens wuchs ins ungeheuerlidhe, aber die —
im Grunde von Hume zuerft vertretene — An-
fiht, daB die Erfahrung nur auf der Grundlage
der alltäglichen Ginneserfahrung beruhen dürfe,
und daß das einzige (von Hume freilich auh an-
gejochtene) verfnüpfende Band diefer Erfchernun-
gen’ die mechanifche Caufalität fei, diefe Anficht
verengerte das Weltbild auf die Außenfeite der
Erfcheinungen. Alles, was jenfeits der medani-
ſchen Caufalität lag (3. B. die Zielftrebigfeit und
die Geſetze des Lebens) galt als unwiffenfchaft-
lih, als Metaphyfit. Das fo entjtandene Weltbild
hat faft ein halbes Jahrhundert (eigentlich weit
länger) die Geifter beherricht. Es war einfach und
vor allem jo fön handgreiflich deutlich: Darwin
und Hädel (von dem noh ein weiteres zu tagen
fein wird) „löften“ die Rätfel des organifchen
(Hädel jogar des ganzen geistigen) Lebens durd)
ein Mindejtmaß mechaniicher Kräfte; das Welt-
bild von Kant-Laplace ließ das Sonnenfyftem in
Idönfter Einfachheit aus freifenden Nebelfleden
entitehen; die Geologie Lyells endlich erklärte alle
) Anm. d Shriftleitung. Durd ein Ber-
jehen ift in die Märznummer jhon der Aufſatz von Dr.
Müller über das Dacquéſche Buch himeingefommen,
der eigentli nidyt für „Unfere Welt“ fondern nur für
„Naturfreund“ beftimmt war. Zugleich mit ihm folte
in „U. W.” der vorliegende Auffab von Dr. Schyerwahty
erjheinen. Id bringe nun den leßteren doh nod,
weil er der Gade manderlei neue Seiten abgemwinnt,
und füge eine etwas ausführlichere Kritit meinerfeits
hinzu. Bavint.
H)
Veränderungen der Erdoberfläche durch eine un=
unterbrochene Häufung kleinſter VBerfchiebungen
feit Erfhaffung der Welt bis jegt. Jn derbiter
gorm (immer von Hädel abgejehen) tritt dies
Weltbild etwa um 1850 in den Schriften
Büchners und Moleſchotts zu Tage.
Und dodh war es nur eine Scheinwiflenfchaft,
die die Geifter beherrichte (und heute teilmeife
immer noh beherricht). Die „naturmiflenfchaft:
lidhe” Erklärung des Lebens beruhte auf vor:
ſchnellen Hypotheſen, vermechfelte das Benennen
und Einregiftrieren der Erfcheinungen in wiſſen—
ſchaftliche „Syſteme“ mit dem eigentlichen Er:
tlären. Man fa h die eigentlichen Probleme teil:
weile garnicht; der Weg von der bloßen Be-
Ichreibung der Natur zur Deutung und inneren
Erfaffung fien endgültig verrammelt. — Typi-
iher Ausdrud diefer geiftigen Haltung ift das be-
fannte Buh von Hädel: Die Welträtfel. Ich will
im folgenden kurz verſuchen, es als Ausdrud
einer Zeitanſchauung (ih möchte fagen Beit-
geiftes, wenn eben diefe Zeit den Geift nicht fo
ihonungslos befämpft hätte) zu erklären, die
antimetaphyjfifch war.
Als das Buch im Jahre 1899 erfchien, jchrieb
der Berliner Philofophieprofefior PBaulfen das
folgende, geradezu vernichtende Urteil: „Sch habe
mit brennender Scham diefes Budy gelefen, mit
Cham über den Standpunft der allgemeinen
Bildung und der philofophifchen Bildung unferes
Volles. Daß ein folches Buh möglidy war, daß
es geichrieben, gedrudt, getauft, gelefen, be-
wundert, gelobt werden fonnte bei dem Volke,
das einen Kant, einen Goethe, einen Schopen:
bauer befißt, ift ſchmerzlich!“ Trog allfeitiger
Ablehnung durch naturmilfenfchaftliche Forſcher
und Philofophen hatte das Buch um 1900 einen
riefigen Erfolg. Dieſer Erfolg erklärt fih daraus,
dah das Bud Ausdrud einer beftimmten Zeit:
ftrömung war, die fih in ihm wiederfand. Wie
einft Qameties l'homme machine, vor der
110
franzöfifchen Revolution jtand, fo erfcheint dem
Betrachter, der feine Blide vom Jahre 1924 ins
Jahr 1900 zurüdichweifen läßt, Haedels Buch
als der Vorläufer jener großen Revolution von
1918. Der Materialismus mit feiner völligen
Zerſetzung aller geiftigen Werte I" in ihm am
deutlichhten ausgeiprochen.
Wie jede Zeit, fo hat auch die Bortriegszeit
ihre bejtimmte Weltanfchauung gehabt. Für die
Weltanfchauung der Wer Jahre ift neben den ein«
gangs bereits erwähnten Zügen die Verwechſlung
von Bildung und Wiffen charafteriftiih. Das
Schlagwort „Willen ift Macht” beherrfcht diefe
Zeit, und mit ihm der Typus des redynerifc
kapitaliſtiſchen Menſchen. Damit wird auch die
Wertwelt diefer Zeit aufs engfte begrenzt. Alles,
was nicht materiell oder nüßlich jchien, wurde
als Ballaft beifeite getan, und gerade da wirkten
Haedels Welträtjel als ein Buch des Kampfes
gegen die geiftigen Werte, wie fie Kirche und
Chriftentum vertraten.
= ©o ift es nicht verwunderlicd), daß alle die
Kreife, die in Oppofition zur Gefellichaft ftanden,
in Haedels Buch ein geiftiges Erbauungsbud
fahen, in dem ein mutiger Mann ausiprad), was
Taufende von Gebildeten und Gelehrten ebenfalls
zu denten fchienen, aber verfchwiegen, damit dem
Bolte die Religion erhalten bliebe.
Haedels Buh wurde eben als Typus einer ver-
gangenen Beit cdarafterifiert. Es erwudjs in
einem Zeitalter des Spegzialiftentums. Eine un-
geheuerliche Fülle von Willen fien die reh-
nerifche Beherrfchung der Welt zu garantieren,
und in der Naturmiffenfchaft war die „Weltüber:
windung“ auf mechaniſchem Wege fcheinbar greif-
bar nahe. Bei näherem Zufehen jedoch erweiſt
fich diefe ungeheuerliche Betriebfamteit, die den
fogenannten „Siegeszug der Technik” einleitet,
als eine Aufftapelung reines Sadmiljens. An
die Stelle der eigentliyen Werte find Surrogate
getreten, Schlagworte wie „Menjchheit“, „Grand
être“ u. a. m., deren Berlogenheit man nicht
fab oder nicht fehen wollte. Die Welt wird von
technifch-praftiichen Problemen beherricht, neben
denen es andere Probleme einfach nicht gibt.
Diele ganze Zeit ift durch den Weltkrieg bis
ins Innerfte aufgewühlt und umgeltaltet worden.
Er brachte die eigentliche geiftige Krifis, in-deren
Folgewirkung wir noh heute ftehen. Jn und mit
dem Krieg ift ein neues Geſchlecht hochgefommen,
das fidh in feiner feelifhen Eigenart von din
Menjchen, die um 1900 lebten, grundmejentlich
unterfcheidet. Und zwar liegt diejer Unterichied
in der völlig neuen Einfjtellung zur Welt. Die
rein religiöfe Grundjtimmung tritt immer deut:
Die moderne Naturwiffenfchaft auf dem Wege zut Metaphefi.
licher zutage, ohne daß fie fih fchon in beftimmte
Formeln bringen ließe. Bon der Redensart, daB
der Weltkrieg einen Bankrott des Ehriftentums
bedeute, — die man nadh dem Kriege fo oft zu
hören befam —, ift nicht die Rede mehr. Wohl
aber ift der entfeßliche Irrtum erkannt, mit dem
man zur Beit Haedels wirflihde Werte und
Sceinwerte verwechſelte. Der Hunger nad
wahren Werten ift Charafterijtitum der neuen
Generation. Auf allen Gebieten, auf dem der
Dichtung, der Wiſſenſchaft und Kunſt ringt ein
zentraler Gedanke des Chriftentums nah Geftal-
tung: der Gedanke der Gemeinfchaft, dabei tritt
die innerlie Vermwandtichaft der neuen Be-
wegung mit der der deutſchen Myſtiker immer
ihärfer in den Vordergrund Nichts wäre frei-
lih verkehrter, als in ihr eine gefühlsjelige
Wiederbelebung der Romantik zu fehen, oder gar
die. Bewegung für eine gelehrt-hiftorifhe Aus-
grabung aus vergangener Zeit zu halten, nein,
in den Schriften eines Scheler, Gundolf oder Otto
werden die Myftiter nicht zitiert oder neu heraus»
gegeben, fondern das Lebensgefühl in Dielen
neuen Menfchen ift dem der Myftiter verwandt.
Wie in der Myſtik ringt ein neuer Menjchentyp
nad Geftaltung. An die Stelle des rechnenden,
weltbeherrjhenden Menfchen will der hin—
gegebene, offene Menfch treten. Nicht eine
Summe von noch fo großem Einzelmiljen ift jegt
das Endgiel, fondern die Zufammenfchau der uns
geheuerlichen Stoffmengen zu einer inneren und
höheren Einheit, mit einem Worte: die Meta-
vhyſik, die Wiffenfchaft von der Totalität, erwacht
cus langem Schlummer.
Vielleicht ift nichts bezeichnender als ein Gegen»
überftellen des Haedeljchen Buches mit modernen
naturmiffenfchaftlichen Büchern, die ähnliche Ziele
wie das Haeckelſche Buch verfolgen. Unjere Auf:
gabe ift hier nicht, den maturmiljenfchaftlichen
Wert folcher Bücher herauszuftellen und zu unter⸗
ſuchen. Worauf es hier anfommt, ift einzig
diefes: die metaphyfifche Wendung, die für unfere
ganze Zeit charakteriftifch ift, auh in Diejen
Büchern wiederzufinden. Da ift die geiſtige
Befamthaltung diejer Bücher ent[cheidend,
nicht der wilfenfchaftliche Wert der einzelnen Ce-
danken. So betradtet, fünnen die Bücher von
Sellinet: „Das Meltgeheimnis”, Bavinf: „Ergeb:
nijfe und Probleme der Naturwiſſenſchaft“ und
Dacque: „Urwelt, Sage, Menjchheit” als Sym-
bole der ungeheuren geiftigen Wendung dienen,
die wie die gefamte Zeit auh die Naturwilfen-
ichaft ergriffen hat. Das Stroben nad) Syntheſe
und Berinnerlichung ift das Hauptmerfmal auf
tiefem Gebiete. Co ift das Jellinekſche Buch er-
a a —
[U m) ~ ——
— —
wachſen aus dem Drang nach Totalität. Ein rein
wiſſenſchaftliches Buh wie das Bavinkſche endigt
mit dem Bekenntis: „Der neue Idealismus,
nach dem ſich alle Welt nach der langen Trocken⸗
periode des Materialismus ſehnt, er wird nicht
neben und trog den realen Wiſſenſchaften, fon-
dern durch ſie hindurch uns erwachſen.“
Die Höhe erreicht dieſe neue Bewegung in dem
eben erwähnten Buche von Dacqué. Schon die
Bidmung zeigt, wohin der Weg gehen foll; es
ift denen gewidmet, die erfennen, daß wahres
Veritehen Glaube ift. Wenn im Folgenden auf
das Buch etwas näher eingegangen wird, fo ift
aud) hier niemals an eine naturmwiljenkhaftliche
Kritit gedacht (Bavint lehnt das Buch z. B. ab);
es dient uns nur als ein #eichen der Zeit.
Hedel und Dacque bezeichnen die beiden Pole,
zwilhen denen die geiftige Entwidlung von 1899
bis 1924 fih bewegt hat. Der Grundgedante
tes Buches ift diefer: Ausgehend von dem Geſetz
des Zeitgeiftes (Zeitgeift ift für Dacqu& der
organische Baustoff einer beftimmten erdgefchicht-
lihen Periode) fucht Dacque in Mythen, Sagen
und Märchen einen erd- und menfchheitsgefchicht-
lihen Kern, der es erlaubt, noch tiefer in die
Vergangenheit einzudringen, als es bis jegt mög»
lih erſchien.
Jh will verfuchen, ein paar der wichtigften
Gedanken Dacqués herauszuarbeiten. Nad der
allgemeinen Anficht liegt die Geburtsitunde des
Menfhen in der frühen Diluvialzeit. Jn eine
frühere erdgefchichtliche Periode ift bis jet nur
Klaatfh heruntergegangen. Dacqué ſpannt den
Bogen außerordentlich viel weiter. Er fucht die
Epuren der Menfchen bis in die — Steinkohlen-
zeit zu verfolgen. Geftüßt auf die Ergebniffe der
Prägeographie und der Sagen von Atlantis (und
ähnliche) refonftruiert er für das Tertiär eine
Periode der atlantifchen Intelleftualtultur, ein
Zeitalter der geiftigen Religionen, beginnend mit
echter Aftrologie und Sonnentultus; die immer
mehr zunehmende Großhirnentwidlung gibt der
ganzen Zeit ihr Gepräge und führt ohne Bruch
in die Gegenwart über. Am Beginn der Be-
ſiedlung der Atlantis fteht die „Noachitiſche Sint-
Hut“, in der das Godmwanaland, ein jeßt ver-
ſunkener Kontinent zwifchen Auftralien und
Afrita, unterging. Diefe Gondwanazeit fegt
Tacque auf Grund feiner vergleichenden Sagen:
lorfhungen in die Kreide- und Jurazeit. Es ift
en Menfchentypus mit fpreizbarer Hand (die
puren des berühmten Handtieres werden von
Dacqué in diefe Zeit verfeßt) und einem geiftigen
Habitus, der vor allem durch „Naturfichtigkeit“
gelennzeichnet ift. Mus den Forſchungen von
Die moderne Raturwiflenfchaft auf dem Wege zur Metaphyſik. n
111
Frobenius und den Ergebniſſen der Unterfuchun:
gen über das Beiftesteben der fogenannten Primi-
tiven auf der einen Seite und dem Berwerten
des Gilgamefdhepos (das Dacqu& als uralten
Nachklang aus diefen fernen Zeiten anjieht) auf
der anderen Geite will Dacqué Licht in diefe
weltenferne Zeit bringen. Er nennt diefe Zeit
die Zeit der Mythen und der mythenhaften
Könige und der Magier, die Zeit der Drachen»
und Lindwurmkämpfe. Jn diefer Zeit fekt die
Großhirnentwidlung ein und der Individualis-
mus einzelner beginnt fih aus der Natur-
verbundenheit zu löfen. Uber der Verfaſſer führt
uns in noch grauere Fernen. Dem eben gefdil-
derten Menſchengeſchlecht (Dacque& nennt nennt
ihn den „Noachitiſchen“ Typus) geht noch eine
Vorstufe voraus, der „Adamitiſche“ Menſch, den
Dacqu& in die Perm- und Steinfohlenzeit ver:
icht. Er befit amphibijchen 3,ubitus und ift noch
völlig in die Natur eingegliedert, beſitzt alfo
fteinerlei Individualität oder eigenes Denten. —
Von Anfang an aber, das betont Dacqué mit
aller Entjchiedenheit, tritt uns der Menſch als ein
eigenes Weſen entgegen, das gwar körperlich)
mit den Tieren verwandt ift, aber von Uranfang .
an die „höhere Potenz” ift, die vielleicht Die
anderen Stäme aus fih entließ, und eben dur
die Entlaffung diefer Formen immer menfdlicher
murde; der Weg geht vom Faun zum Apol.
Ganz gewiß ift Dacque der legte, der in den
eben ffigzierten Gedanktengängen fo etwas wie
„ſtrenge Wilfenfchaft” gefehen willen will. Sein
Bud trägt ja auch den bejcheidenen Titel: Natur:
hiftorifch-metaphyfifche Studie. Alles was Dacque
über das feelifche Eigenleben der von ihm anə
genommenen Ürzeitmenfchen zu fagen weiß, ift
ja legten Endes niht mehr Hypotheſe, fondern
reine Metaphyjit. Und da liegt die Gefahr allzu
nahe, der einſt Schelling erlag: eine Begriffs:
dichtung zu geben, die den feiten Boden der Tat-
ſachen völlig unter den Füßen verliert. Info:
fern ift Dacqués Buch ftar? romantifch und fein
rein naturwillenfchaftlicher Wert wahrſcheinlich
nicht febr groß. Darüber haben die reinen Na:
turforfcher das legte Wort. Für uns liegt die
Bedeutung des Buches gerade auf philoſophiſch—
religiöfem Gebiet: als Ausdrud einer ganz be-
ftimmten Seitrihtung bat Dacques Werft den-
felben typifchen Wert wie einft das Buch Haedels.
Es ift der Erponent einer neuen Art Wiſſenſchaft,
jener Art, die ich zu bejchreiben fuchte. Befonders
charakteriftifch ift dafür, was Dacqué über das
Verhältnis von Theorie und Wiſſenſchaft zu fagen
weiß. Ein paar Züge feien darum noch hervor:
gehoben Dacque ift feft davon überzeugt, daß
112
über die Witerphilofophie der vergangenen Jahr-
zehnte der Weg hinführt von der Intellektualwelt
zu der Gefühlswelt der lebendigen Religion. Das .
Kaufalitätsproblem genügt nicht zur Erfaffung
der lebendigen Wirklichkeit, fondern weijt über
fih hinaus auf das Tinalitätsproblem. Die
abendländifche Willenfchaft ſteht wieder vor der
uralten Erfenntnis, daB Willen und Schauen,
Willen und Glauben nur im Bunde miteinander
eriitieren können. Gie fteht ferner vor der Er-
fenntnis, daß nicht Die Herausarbeitung des
Stoffes Teßtes Ziel ift, fondern nur Borberei-
tungsdienft zu einem „allmählich erwachjenden
Prieftertum, das mit feiner fauftifchen Innerlich-
teit taum an ein epituräilches Genießen ge-
mahnen, fondern die Blume der Tiefe öffnen
und vielleicht bei einer Bergpredigt feine Er:
füllung finden wird.”
Ich betonte es ſchon öfters und möchte es zum
Schluß noh einmal hervorheben: der natur:
wiflenfchaftliche Wert des Buches von Dacque
fteht nicht zur Disktuflion, das ift nicht Aufgabe
dDiefes Auffaßes. Hier galt es nur zu zeigen, wie
auh die moderne Naturmillenfhaft in das
Zeichen der Metaphyfit tritt. Auch fie wird in
iteigendem Maße von der großen geijtigen Um-
mwälzung (die in ihrem Ausmaß und ihrer hifto-
riſchen Bedeutung die politifyen Veränderungen
weit hinter fih läßt, denn fie fchafft einen neuen
Menfchen) ergriffen, die feit 1900 eingefeßt hat:
der Wiederbefinnung auf die Werte des Geiftes!
Anmerkungen zu vorjiehendem Aufjaß.
Bon B. Bapint.
Der Herr Berfaffer hat im Tert {hon erwähnt, daß
ih das Buch von D. ablehne. Mehr als das: ih halte
es für ein ähnlich gefährliches Buch wie es jeinerzeit
die „Welträtſel“ Haedels geweien find. Wenn Die
Metaphyſik und die religiöſe MWeltbetradhtung reden
tönnten, fo hätten fie angefihts des Dacquejchen Budes
alle Urſache zu rufen: Gott behüte mid) vor meinen
Freunden, vor meinen Feinden will id midh foon felbft
fhüßen! Es ift vorauszufehen, daß dieſes Bud in den
Händen unzähliger „Apologeten“ ein taum wieder gut
zu macdendes Unheil anrichten wird. Schon findet man
es hier und da in den Häujern gebildeter Laien; die
erste Auflage ift, wie der Berlag vor kurzem mitteilte,
in fürzeiter Friſt vergriffen gewejen. Es ift aljo ohne
Zweifel die naturwiſſenſchaftliche Senfation des Tages.
Ebenſo zweifellos aber ift mir, daß die Wiſſenſchaft dies
Buch im großen und ganzen, abgejehen vielleicht von
einigen ſchätzenswerten neuen Gedanken, die cin be:
Deutender Fachmann immer zu geben hat, rundweg ab:
Ichnen wird? — ablehnen muß, wenn fie nicht alle
ibıe guten Traditionen verleugnen will. Denn was D.
da behauptet, das ift jo ungeheuerlih, daß es nur bei
den zmwingendften Beweiſen geglaubt werden könnte.
Non ioten ijt aber gar Feine Rede. Tas Ganze ift
Die moderne Naturwiffenfchaft auf dem Meae zur Metaphofit.
ein genial konzipierter Entwurf, deffen Grundlagen aber
von vornherein in der Quft ſchweben. Zwei Grund-
gedanfen durchziehen das Budh. Zum erften will D.
eine neue Lehre über die Abitammung des Menfchen
aufftellen. Er will feinen Stamm als gejonderte Bahn
bis weit über das Tertiär hinaus, ja bis in das
Paläozoikum (die Permzeit) zurüdverlegen. Dieſem
Stamm follen- die übrigen Tierftämme fozufagen als
blinde Aeſte zur Seite entiproffen fein. Er will zweitens
als Beweiſe dafür und als Grundlagen näherer Er:
mitllungen jener Berhältniffe in Urzeiten die befannten
Sagen der Menfchheit durchmuftern und aus ihnen An»
Hänge an Saurier und Draden, an das Amphibien-
ftadium des „poradamitifhen“ Menſchen und dergleichen
herauslejen. Mit der von ihm dabei befolgten Methode
tann man mit Leichtigkeit alles beweilen. Man braucht
nur ein halbes Dugend Sagen daraufhin durdaujehen,
irgend etwas, was einen entfernten Anklang an die
gewünſchte Behauptung Hat, herauszuholen, das übrige
als fpätere Einkleidung und Zutat wegzulaffen, und man
hat, was man will. Wer eine Satire auf D.s Bud
ihreiben wollte, könnte mit Leidhtigfeit nad feiner
Methode beweifen, daß der Menid) ehemals ein Bogel-
ſtadium durchlaufen hätte, oder daß fein Stamm dereinft
Zeuge des Froſchmäuſekrieges gewejen fei oder der-
gleien. Das Gefährlide an folden Büchern ifi nun,
daß fie die Laien blenden, weil fie eine große Menge
an fih richtiger und längft der Wiflenjchaft betannter,
dem Laien aber neuer Daten in fajt unlöslider Ber-
mengung mit den gewagtelten neuen Thejen bringen,
ganz ebenjo wie das 3. B. die Welteisiehre Hörbigers
tut. Die Durchſchlagskraft, die jenen Beltandteilen mit
Recht zukommt, überträgt fih für den untritifhen Lefer
dann unvermerft auf diefe höchſt angreifbaren Dinge
mit, und fo entiteht ein ganz falſches Bild von dem,
was fiheres oder wahrfcheinliches Ergebnis und dem,
was fühnjte, womöglich längft als undurchführbar er-
wiejene Hypotheſe ift. -
Das Bud fann ih auh niht als emen Weg von der
Naturwillenichaft zu einer neuen Metaphyſik anfehen.
Es bedeutet vielmehr m. E. einen Rüdfall der Natur:
wiſſenſchaft in ungellärte und vage metaphyſiſche Speku⸗
lationen, Naturmwillenichaft nad) metaphyfiicher Methode.
Das ijt nicht der Weg, auf dem wir zu der neuen Meta-
phyſik tommen. Warum mußte denn die alte feiten?
Eben deshalb doch, weil fie ftatt auf dem Boden der
\oliden Wirklichleit zu bleiben, aberwißige Gebäude
reiner Spekulation aufführen wollte, die gegenüber dem
eriten Anhaud der nüchternen Kritit zuſammenfallen
mußten. Man dente an Hegels, mit Sceffel zu reden,
„gediegenjten Mift“. Wollen wir dies Fiasko nod ein-
mal heraufbeihwören? Und damit den Feinden aller
metaphyiifchen und zugleich aller religiöfen Bertiefung
— denn beides geht Hand in Hand — felber Waffen in
die Hände fpielen? D. läßt an vielen Gtellen durd-
bliden, daß eine wahrhaft tief gefühlte Frömmigkeit
hinter feinen Worten ſteht. Das macht ihn unè fym-
pathiſch, aber leider wird er erleben, daß gerade über
icin Buch nun die Feinde aller Religion mit Hohn:
Icchen herfallen werden. Und wir, die wir innerlid) auf
jeiner Seite ftehen, wir müſſen ihn mit Bedauern preis:
geben, weil wir jenen zugeben müſſen, daß fo etwas,
Die moderne Raturwiffenfchaft auf dem Wege zur Metaphafit.
wie D. es bietet, gegen alle willenjchaftlidden Grund-
ſätze verftößt. Bon einer neuen umfaflenden natur:
wiſſenſchaftlichen Hypothefe — ohne folde fommt gewiß
de Wiflenfchaft niemals weiter — muß man das ver:
langen, daß fie das bereits Belannte und durd die
alten Lehren Erklärte mindeitens ebenjo gut, wenn nicht
beffer erkläre als diefe; daß fie aber darüber hinaus
neue weitere Einfichten eröffne. Wenn gelegentlih aud
einmal die erfte Forderung fih eine Einfchräntung ge-
fallen laffen muß (fo 3. B. bei der Bohrſchen Atom-
theorie, die mit der bisherigen Eleftrodynamit in Kon-
flitte gerät), jo muß dod ein folder nur als Proviforium
zuläfliger Nachteil dann erfit recht durch ganz durd:
ſchlagende neue Einfihten und Erklärungen wett ge-
madt werden. Wie fteht e3 aber mit D.s Lehren?
Man ift bisher allgemein der Anfidyt gewejen, daB der
Menſch fider nit vor der Tertiärzeit auf Erden ge:
geweſen ift. Selbit in der Tertiärzeit ift feine Exiſtenz
bisher vielfad) angezweifelt. Die einzigen Spuren, die
da etwa auf ihn hinweijen, die fogenannten Eolithe,
find nicht mit unbedingter Sicherheit als Kunftprodufte
zu ermweifen. Und ein anderes Mittel, uns von der
Exiſtenz des Menſchen zu überzeugen, als das Auf:
finden von Spuren intelligenter Tätigleit haben wir
doch niht, es fei denn, man finde (wovon aber gar
teine Rede bisher war) jogar Sfeletteile. Und nun
kommt D. mit der Behauptung nod viel älterer „Men-
ſchen“. Da tritt denn doch fofort die Frage auf: Welche
Beweife gibt es dafür? Wie kommt es, daß nicht ein-
mal im Tertiär, gejchweige denn darüber hinaus fichere
Spuren menſchlicher Tätigkeit nachweisbar find? D.
antwortet: Vielleicht oder wahrſcheinlich, weil der da-
mals die Menſchen bergende jogenannte Gondwana:
fontinent untergegangen ift. Eine billige Hilfshypotheſe,
die verzweifelt an gewiſſe voreinfteiniche Verſuche der
Erklärung des negativen Ausfalls des Micheljonver-
ſuchs erinnert, die auch dadurch charatterifiert find, daß
die Hypotheſe jelbit ihre eigene Berifizierbarfeit von
vornherein ausjchließt. Es bleibt allerdings bei D.
unklar, wie weit man bei jenen weit entfernten Men-
jhen überhaupt auf den Nachweis von Spuren ent-
widelter Intelligenz rechnen dürfte. Denn D. will die
übermäßige Entwidlung der Intelligenz erft jpäter als
Kennzeichen des „noadjitifhen” Menfchentypus eintreten
laffen. Wodurd) denn nun aber die früheren Menſchen—
typen ſich eigentlih als „Menſchen“ ausweiſen follen,
fagt er nit. Cs genügt ihm das Poſtulat, dağ diefe
ja, wie die jpätere Entwidlung gezeigt habe, die nötigen
„Anlagen“ oder „Entwidlungspotenzen“ gehabt haben
müßten. Cine ebenfo billige Rüdwärtsprojizierung
deffen, was jpäter war, auf die Seit vorher. Die bis-
berige Abftammungslehre, die D. befämpft, geht Darauf
aus, die Urſachen zu ergründen, durch welde die Um: .
mwandlung eines bis dahin tieriihen Weſens in ein
Weſen mit alles andere überragender Gehirnentwid-
lung wohl erfolgt fein könnte. Bei D. fällt ein foldes
faujales Streben einfady fort. Die „Anlagen“ find ja
da, das genügt, alle äußeren Bedingungen find nur
„Anläfle“. D. ift aljo tonfequenter Anhänger eines
jogenannten Cvolutionismus (hier im Gegen-
iag zu der Lehre von der fogenannten Epigenefis —
Reubildung). Bei ihm, wie bei einigen ihm verwandten
113
Deizendenztheoretifern, ift der ganze Artenbildungsvor-
gang ledigli eine Entfaltung von etwas bereits als
„Potenz“ Borhandenem. Ein bequemes Berfahren, das
die weitere Urſachenforſchung überflüflig madt. Leider
jind jene urjprüngliden Anlagen nichts anderes als die
berüchtigten „qualitates occultae“ der älteren Phyſik.
Man fegt einfa} das zu Erflärende als „Anlage“ oder
„Kraft“ oder dergleichen voraus. Die Hauptjache aber
ift dies: Hatten jene „adamitifhen“ oder „vornoadjiti-
jhen“ Menjen wenig oder gar feine menjdlidye In:
telligenz, fo ift beim beiten Willen nicht abzufehen, wie
fi) unter ihnen Traditionen hätten fortpflanzen können,
deren Spuren D. noh nadh Iahrmillionen in unferen
Sagen wiederfinden will. Natürlich tann aud ein
tieriihes Weſen feinen Nachkommen gewiffe Beral-
tungsweifen dur‘ eine Art von „Erziehung“ über-
mitteln, wie wir da3 jederzeit an höheren Tieren wie
Säugetieren und Vögeln beobadten können. Außer:
dem fünnen gewiſſe „Inſtinkte“ vererbt fein. Auf diefe
MWeije könnte 3. B. die inſtinktive Schlangenfurdt der
Menſchen erklärt werden. Aber das ift feine gei-.
ftige Tradition. Solde ift notwendig geknüpft
an begrifflides Denten und artitulierte Sprache,
und gerade das foll es ja einjtweilen noh gar nicht
oder faum geben in jenen Urzeiten der „Menſchheit“.
So bleibt dieje Menſchheit trog aller angeblichen „Po-
tenzen” doch das Nämliche, als was die bisherige Ub-
itammungstheorie fie auh angefehen hat: Tier, aller-
dings Tier mit der Fähigkeit, einmal Menſch zu werden.
Warum das nun aber ein jo grundlegender Unterſchied
von der alten Lehre fein foll, fieht man nidt ein.
Tatſache ift, daß wir fihere Spuren des Menſchen erft
aus den Anfängen des Diluvium3 haben. D.s Hypo-
thefengebäude erklärt das nur mit Zuhilfenahme einer
ganzen Reihe an. fih wenig einleudhtender Hilfshypo-
thefen; das nädjitliegende bleibt dagegen immer wieder
die einfahe Annahme, daß der Menj eben nidt
weientlich älter als etwa das Tertiär ift. Nun könnte
man, wie erwähnt, eine ſolche Schwäche gegenüber dem
bisher Erflärten ähnlidh wie bei Bohrs Theorie ent-
ihuldigen, wenn die neue Theorie dafür anderes in be-
fonders großartiger Weife, wie das bei Bohr der Fall
ift, ertlärte. Davon ift aber bei D. audy feine Rede.
Vielmehr maht der neue Gedante, den er in die Debatte
wirft, die Erflärung der Sagen, wie wir joeben jahen,
nun erft recht unlösliche Schwierigkeiten, denn wie joll
bei mangelnder Begriffs: und Spradgentwidlung eine
Tradition zuftande tommen? Hier fegt D. abermals
eine fühne Hilfstonftruftion, die Annahme einer früher
in viel ftärferem Maße vorhandenen „Naturfichtigkeit”,
einer Art dämonifcher oder wenn man lieber will, „of-
tuiter“ Begabung ein, die nun alles das leijten foll,
was die noch niht vorhandene Intelligenz eigentlid)
leiten müßte. Mit folder Hypotheſenkonſtruktion tann
man offenbar alles Möglide „erklären“. Es ift tein
Wunder, daß D. ſtarke Sympathien mit Hördigers
Welteisiehre empfindet. Etwas von dem fühnen Drauf-
Iostonjtruieren Hörbigers ftedt auh in feinem Bude.
Die nüdterne Wiſſenſchaft aber verlangt feine Phan:
tafiebauten, feien fie auch noch jo glänzend ausgedadıt,
jondern den Nachweis, daß es wirklich oder doch wahr-
114
iheinlid fo gewefen ift, wie die Hypothefe annimmt.
Niemand hat, wohlgemerft, an ji) etwas gegen dies
wiffenichaftlihe Phantafieren einzuwenden, im Gegen-
teil, es ift ganz offenbar, daß darin zu allen Zeiten der
eigentliche Hebel alles Erkenntnisfortfchritts gelegen hat.
Aber da3 eben charafterijiert die Naturwiſſenſchaft im
Gegenjag zu manden anderen geiftigen Betätigungen,
daß fie mit diefer Phantafie fih niht zufrieden
gibt, fondern darüber hinaus den Anfchluß an die Er-
fahrung verlangt. Wer den nicht leitet, mag ein großer
Künftler und als folder ein Genie fein, ein bedeutender
Naturforſcher ift er nidt. Was einen Bohr und
Pland, einen Darwin und Mendel ufw. auszeichnet,
ift eben jenes Ineinander von kühnſter Phantafie und
nüdternfter Kritit, von weiteſtem Ausblid und forg-
fältigjter Rüdfiht auf das Einzelne, das die Erfahrung
lehrt. Gewiß ift, wer nur das leßtere bat, nur ein
wiffenfhaftlider Handwerker und tein Forſchergenie;
ein joldyer ift aber immer noh nüßlicher für die Wiffen-
Zu Bavinfs „Problem des Uebels in der Welt“. æ
. Mader.
Bon Ad
Noch ganz unter dem Eindrud jtehend, welden die
Lektüre der dur” mehrere Hefte von „Unſere Welt“
fih Hinziehenden Abhandlung, die die in der Ueber-
chrift wwiedergegebene Bezeichnung trägt, in iym hervor:
gebracht, möchte Unterzeichneter um die Erlaubnis bitten,
niht um an dieſer Abhandlung etwas verändern oder
verbeffern zu dürfen, jondern nur um zwei Zuſätze oder
Erweiterungen vorzufchlagen. Die Ergänzungsvorſchläge
betreffen nur zwei theoretiih ziemlich untergeordnete
Punkte, die jedoh praftiich gar wohl ins Gewicht zu
fallen fcheinen. Der eine betrifft die vermeintlide
und wirtlide Bröße der Uedel der Welt,
der andere die weientid ertenntnistheo-
retifhde Behandlung der ganzen reli:
gıöfen Frage, während diefelbe, mehr Hifto-
riſch behandelt, noh in ein weit fdhärferes Licht
gejeßt werden tann.
Was Punkt 1 anlangt, fo ift anfcheinend allerdings
der Anteil, den das Uebel in der Welt hat, ganz er-
ſchrecklich groß. Unferer jeßigen Zeit mit ihren furcht—
baren politiihen Erfahrungen erſcheint es ganz be-
jenders jo. Aber auh jhon vor dem Weltkriege galt
beinahe das gleiche, und das läßt die Frage nad) der
Redtfertigung Gottes, des Allmädıtigen, die fogenannte
Theodicee, jo befonders auf der Geele des modernen
Menſchen lajten, und mit jedem Fortſchritt in der
Erkenntnis (worin unſere forſchende und jedes Ber-
tuſchen verdammende Zeit fo große Schritte getan hat)
wırd dies Gewicht ſchwerer zu tragen, fo daß die mei-
ften der Wiffenden an der Möglidyfeit einer leidlidyen
Bilanz nachgerade verzweifeln und jagen: Nein lieber
gar feinen Gott, als einen folgen, der mit dem Teufel
unter einer Dede fpielt, lieber der blinde Zufall. Dann
weiß man doh von vorne herein, weſſen man gewärtia
jein muß.
3m 18. Jahrhundert und noch bis zur Mitte des
Zu DBapinte „problem des Uebels in der Welt“.
ſchaft als ein Phantaft, der nur auf Abwege führt und
Untlarheiten ftatt Klarheit bringt. Es ift zuzugeben,
daß Dacques großzügiger Entwurf etwas Geniales Hat.
Aber das tut es eben nidt.
Der wahre Weg von der Naturwiflenfchaft zur Meta-
phyſik Führt anderswo ber, als wo ihn D. ſucht. Rigt
der Erſatz naturwiſſenſchaftlicher nüchterner Betrachtung
durch metaphyſiſche, wenn auch an ſich packende Kon⸗
zeptionen, ſondern das Erſchauen eines tieſeren Sinnes
hinter allem auch dem ſcheinbar nüchternſten und klarſten
Geſchehen führt zur metaphyſiſchen Vertiefung. Davon
findet ſich bei D. zum Glück auch ein gutes Stück, be⸗
ſonders in den Schlußkapiteln; es iſt aber ſehr ſchwer,
dies Unangreifbare aus dem vielen höchſt Angreifbaren
und Bedenklichen herauszuſchälen, und darum kann ich
dem Laien nicht raten, D.s Buch zu leſen. Will er es
aber leſen, ſo kann ich ihm nur raten, es mit ſehr viel
Kritik zu lejen und das Ergebnis der wiſſenſchaftlichen
Nahprüfung in Ruhe abzuwarten.
19. Jahrhunderts war das anders. Da war die Na-
turwiffenihaft mit ihren ſcharſen Forſcheraugen nod
nicht jo weit entwidel. Da war aud) der Welt⸗Ver⸗
- fehr noh nicht jo allgemein und ausgebreitet, fo da
man ſich von dem Tun umd Treiben fremder Bölter
no Märchen erzählen ließ; da fafelte man nod von
einer Uebereinitimmung, wenigitens am lebten (Ende,
des Guten, Wahren und Schönen. Kur, man ließ
Gott den guten Mann fein.
Seht haben wir hinter den Vorhang geſchaut, jegt
willen wir jo febr viel mehr, und natürlid können wir
nicht zurüd m den Zujtand der alten jeligen Däm-
merung, da die Theologen Gellert, Gleim, Krummacher,
Zſchokke, Oberlin und Hebel die Literatur beherrichten
und der auch in dieſelbe Richtung orientierte wealiftifche
Schiller die Krone trug Die pompöfe Feier von des
legteren Hundertjährigem Geburtstage war der Schluß:
ftein dieſer märdenhaft optimiftiihen Periode in
Deutihland. Danad) wurde uns dur) unfere mit Rie-
ſenſchritten fortichreitende Crlenntnis nad der Mei:
nung des neuen Beiltes der Star geſtochen.
Aber ift es allein die Plarere Erkenntnis der wirt:
liden Welt, die dem Modernen das Berlaffene als
Köhlerglauben ericheinen laßt? Ift es nicht zugleich .
eime Veränderung des Weltbildes in einem ganz an-
deren, in einem mehr fubjeftiven Sinne?
Denn, was man biologijh die Umwelt nennt, das
rt ja gerade der Teil der wirfliden Welt, den wir
zufolge der Geeignetheit unjerer Sinnesorgane zu er:
fennen, mit dem wir uns in Beziehung zu feßen vermö—
gen; und die hierbei in Betracht fommenden Organe des
Meniden find ja nit bloß die Sinne, fondem ebenſo
die Brillen, Mitroffope und Mikrophone, mittelft derer
wir unjere an ſich nur ſchwachen Sinne zu verſtärken
nelernt haben. Als notwendige Folgerung erſcheint
die zunächſtliegende, daß der moderne Menſch gerade
i * - i $ —J
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dalent für diefe Beraubung verlangt.
durch die weitgehende Potenzierung dieſer Hilfsmittel
die größte Umwelt oder mit anderen Worten die beſte
Erkenntnis der wirklichen Welt haben müßte. —
Weit gefehlt. Die umfaffendfte allerdings, aber die
treuefte, — und Hierauf fommt es an — feines:
wegs.
Zu der Verfeinerung unferer ſinnlichen Hilfsmittel
gefellt fih nämlid die Ausbreitung aller Errungen:
ihaften auf die große Maffe der dur Verbeflerung
der Schulbildung rajh anwachſenden Snterefjenten,
furz gejagt: die Demofratffierung der Wiffenfchaft. Das
ZJeitungsmwefen, dann vor faum einem Men:
icenalter der Film und in unferen Tagen ver
Rundfunt vervielfältigen das menſchliche Willen
ins bis dahin für unmöglich Erachtete. Aber ift das
der Mafle Gebotene auh noh eine getreue Wieder-
gobe der wirklihen Welt? Keineswegs. Diefe ge-
ſchieht mit Auswahl und Geihmad und
mitbemwußter Parteilichkeit. Dies ergibt fih
am deutlichſten aus der folgenden Gegenüberitellung:
Der von diefen Neuerungen wenig berührte Menſch,
legen wir: der Bauer, erfährt nur wenig von dem, was
in der großen Welt paffiert; aber fein eigenes beſchränk⸗
tes Leben ift eine brauchbare Durdyichnittsprobe von
Dem, was diejes auh ſonſtwo zu enhalten pflegt: Ar:
beit, Quft, Liebe, Unglüdsfälle. Dagegen in der papiere-
nen Welt der Zeitungen und der neuen Anichauungs-
und Hörapparate wid grundfählihdasbenor:
3ugt, was die Senfationsluft der großen
Waffe erregt. Mord und Totidjlag, Detettiviftifches,
Unglüdsfälle aller Art. Dies ift fo, weil dur den
Induftrieafismus, der mit all diefem technifchen Fort-
jeritt verbunden ift, die Arbeit vereinförmigt und ihres
perfünlidien Wertes beraubt wird, und der in der Fa-
trit? Beichäftigte inſtinktiv nad) einem geiftigen Aequi-
Nah dem
Geſchmack der Kaufenden ridtet ſich die
Ware, und fo erhält der Aermite in Zeitung, Schund-
roman und Kino em gefälſchtes Weltbild,
dünkt fih klüger als der Bauer und ift dodh in diefer
Beziehung weit übler daran. Kein wirklich beobad):
tender, fondem nur noh ein „papierener Menſch“.
Œs ift diefes ein Zuftand, der bekanntlich bis in die
Bahlergebniffe der ftädtifhen Einwohnerſchaft feine
verderblichen Kreife zieht.
Dies hält der Unterzeichnete für den wahren Grund,
warum 3. B. der Schulmeilter, der fih weiſe düntt,
weil er beffer reden fann, meift ein viel ſchlechteres
Urteil hat als der Bauer in politifchen und vielen an-
deren Angelegenheiten. Er weiß mehr, allerdings.
Aber fein Weltbild ift gefälfcht und zwar nad) einer
ganz beitimmten NRidytung hin, in der pejfimiftifchen.
In feinem eignen Leben und dem feiner Familie und
Nachbarn erlebt der Menih genug, um ein Urteil
darüber zu haben, in welcher Weife Gottes Segen und
Mißwachs, Geburt und Tod, Glüd und Unglück fidh
die Wage hält, die Zeitungslejer aber und Filmbefucher
werden überernährt und fchließlich ertränft in Nachrichten
von Grubentataftrophen in Amerika, Sciffbrüden im
Taifungebiet, Erdbeben und Feuersbrünſten in Japan.
So bildet er fih ein, die Wage des Blüds müffe un-
zweifelhaft nah der Seite des Uebels umſchlagen, ge-
Zu Bavinks „Problem des Uebels in der Welt”. 115
tade wie die Schyweden den Eindrud haben, die Deut-
hen müßten alle wandernde Handwerksburſchen fein,
weil man in Schweden fo vielen unferer Nation in
diefer Tätigkeit begegnet, oder wie man früher bei uns
von den „verrüdten Engländern“ ſprach, da in der Zeit,
wo die Engländer noh zu uns tamen, die Origmalität
der Bergnügungsreifenden Defer Nationalität uns
auffiel.
Es will mir vorfommen, als ob die ganze Frage der
Rechtfertigung Gottes ein anderes und weit günftigeres
Anfehen gewinnen wollte, wenn man defen, nur prat-
tijh zu erfaffenden Umitand, der von den Theoretitern
meiſt ganz außer Acht gelaffen wird, in Betracht ziehen
wollte. Das Uebel in der Welt fpielt in ehrlichen Pro-
genten gar nicht eime fo überwältigende Rolle, wie es
nad) dem jet üblich gewordenen und fo in feinem
Entitehen beleuchteten Urteil den Anſchein hat.
Dasſelbe Rejultat ergibt fi) aud aus der genauen
Lebensbetrachtung der tief Religiöfen, die am Ende
ihres Lebens übereinftinmmend bezeugen, daß fie wohl
ſchwer, aber niemals über ihre Kraft geprüft worden
find, was, auch wenn man dieſes Endurteil als illufio-
niſtiſch beanſtanden wollte, doch jo viel bemeilt, daß die
Uebel alle noch erträgli” geweien find; und er:
träglihe Uebel dienen pigchologifh für den Lebens»
fünftler, zu denen gerade die Neligiöfen im höchſten
Veritande diefes Wortes zu rechnen find, als dunfle
olie, auf der fih die glüdlidyen Creigniffe in deſto
glänzenderem Lichte abheben und pſychologiſch gewertet
werden.
Natürlid, wenn wir das, was jegt in Rußland vor
ſich geht, mit deutfcher Empfindfamteit an unjerer
Seele vorüberziehen laffen, fo erftarrt unfer Blut, und
wir zweifeln ftellenweife an der göttlichen Gerechtigkeit.
Uber wir vergejlen dabei, daß ruffiihe Nerven andere
jind als umfere, und daß für ftumpfere Seelen vielleicht
auch ſtärkere Eindrüde mötig find.
Und ganz allgemein gejagt: die Umwelt des modernen
Menſchen ift eine objektive, von fubjeltiven Färbungen
möglichft gereinigte Welt, die eine vortrefflihe Grund-
(age ift für die MWeitererforfhung diefer jelben Welt, die
aber nicht über Glück und Unglüd enticheidet, in dem
Sinn, auf den es bei umferer Unterfuhung antommt,
d i. die perföonlide Empfindung, die bei dem
öſtlichen Menſchen eine ganz andere, niht mit dem-
felten Maßſtabe meßbare ift als bei dem weltlichen,
3. B. dem indiihen Büßer im äußerften Gegenfag zu
den vordringenden Pionieren in den Goldländern des
weſtlichen Canada, und die daher zu gänzlich gefälfchten
Bildern führt, wenn man die Erfahrungen des Einen
in der Sprade des Anderen aufzeichnet, wie dodh im
Intereffe der Gemeinverftändlichleit des Erreichten not-
wendig erachtet wird.
Dies alles in Betradyt gezogen, ſchließt der Unter-
zeichnete a fortiori, daß die Rechtfertigung des
einzigen für Alles verantwortliien Gottes dod
woh! gelingen fünne, wenn wir im Stande wären, bei
jedem Gefchehniffe alle Umjtände, Zeit Ort, Seelen:
itärte in Betracht zu ziehen alfo in Webereinftimmung
mit dem verdienten Scriftleiter von „Unfere Welt” und
nur einen jeiner Beweisgründe kräftig unterftreichend.
w x »
—
Der zweite Punkt, den Unterzeichneter hier zur
Sprache bringen mödjte, betrifft wiederum niht Die
Beweistraft der Bavinkſchen Erörterung, die ihm viel:
mehr nad Inhalt und Umfang nahezu erichöpfend zu
fein feint, fondern nur die Geeignetheit, Eindrud auf
die große Maffe aller an eigenem Glüd, Boltswohl
und nationalem Sinn Beteiligten zu weden. Schon
mehrfach wurde unſrerſeits auf eine etwas abweidyende,
praftiichere Propaganda für die gute Sade in dieſen
Blättern gewiefen. Aber, wen beim erjten Klopfen
nit aufgetan wurde, darf fi eine Wiederholung des
Geſagten nicht verdrießen laffen, und der SHarthörige
wird ſich dem auh bequemen müffen.
Die Begründung Bavints ift umfichtig, tiefjinnig, ge-
nau und ehrlich zugleich. Es ift unſeres Eradtens
nidts daran anzumerfen. Aber wird fie von der
Maffe veritanden werden? Wird fie in Sonderheit von
Denen verjtanden werden, die meinen, jhon klüger zu
fein, und fih gar niht die Mühe geben, fih in die
Leſung (nad) ihrer Meinung) längft überwundener Ge-
jihtspunfte und deren gründlide Ueberdenkung zu
vertiefen? Das aber find die Allermeilten, und fie
müflen ja fo viel liefen und bedenten den Tag über,
das ihnen entweder wichtiger oder wenigitens unter:
haltender erſcheint.
Darum hat der Unterzeichnete es immer verſucht, die
Angelegenheit von einem anderen Ende aus anzu:
paden, nidt von dem der wiſſenſchaftlichen Wahrhaftig:
teit der Zulänglidjteit, jondern von dem des (man
ideue niht vor dem Worte zurüd) Nutzens. Wenn fidh
beweiſen ließe, daß Religion nicht ift eine Sade des
wiſſenſchaftlichen Bedürfniffes, fondern in erjter Linie
der praftifchen Unerläßlichkeit, jo wäre zwar noch nicht
deren Möglichkeit, aber mit der Wünſchbarkeit aud
das Interefie der geduldigen Unter:
fuhung auf wifjenidhaftlidhe Haltbar-
teit gewedt. Damit wäre aber der Beilt erwedt, um
gute Erläuterungen wie die Bavink'ſchen, mit großer
Andacht zu tlefen, und wenn man dazu nidt die
Faſſngskraft befigt, wenigitens autoritativ an deren
wiſſenſchaftliche Begründbarfeit 3u glauben. Damit
aber wäre gerade der entidyeidende Schritt getan. Es
ift dies nicht der erfenntnistheoretijde Weg zur Wahr:
heit, fondern der hiftoriihe. ener ift deutiche, diejer
angelſächſiſche Weije, und idy meine, unjere Vettern
jenfeits des Kanals haben mit feßterer — um es platt
auszudrüden — gute Geſchäfte gemacht.
Der moderne Menſch ift nämlid infolge der nun
vollig aufgededten wiſſenſchaftlichen Unmöglichkeit
vieler Dogmen beinahe regelmäßig der Anficht, daß
Religion überhaupt felber eine überwundene, eine
mittelalterlie Sache fei, die welfe Blüte einer über-
mundenen Kultur und mithin abgetan. — Dem gegen:
über fteht zu beweifen, daß fie Kulturbeltand-
teil, altor der weiteren Entwidlung
bedeutet, und als folde ebenjo wichtig oder wichtiger
ijt wie Wiffenjhaft und Kunft. Diefen Beweis logiid)
zu führen, hat fi der Schriftleiter von „Unſere
Welt” unterzogen mit großem Geichid für den in diejen
Lingen Erfahrenen, für den geduldigen Denfer. Aber ge-
duldige Denfer gibt es eben nicht viele, und in unjerer
Zu Bavints „Problem des Aebels in ber Welt“,
demofratifhen Zeit zumal entideidet die Menge, die
auch in wiflenichaftlidden Dingen die Minoritäten über-
ftimmt, fobald es fi um volfstümlide Intereſſen
handelt. So daß eine ganze Reihe von wiſſenſchaftlich
anerfannten Sätzen immer wieder geradezu ertränft
wird in dem ſcheinbar entgegengejegten allgemeinen
Belang.
Und dazu feint fi) in der Tat die vorläufige Ber-
nadläffigung der Religion wicht allzu ſchwer zu rächen
in der Lebensführung und dem Glüdsitande des ein:
zelnen Menſchen. Es gibt Ungläubige in Fülle, die gute
und feiltungsfähige Menfchen find und auh mit ruhigem
Gewiflen in den Tod geben. Tlugs wird daraus das
Vorurteil deftilliert, daß „man“ der Religion auch) ent-
behren fünne, weil nicht beachtet wird, dab alle jene
ausgezeichneten Ungläubigen noh in der Atmojphäre
einer von Religion durchſetzten Geſellſchaft aufge:
wadjfen find und in derielben noh atmen und leben,
ja, daß viele ihrer Grundfäße, die 3. T. der Philoſophie
entſproſſen fcheinen, bei näherer Unterfuhung ganz und
gar religiöſes Gepräge tragen und nur zum Unter:
ſchiede von den pojitiven Chriften von den Schlacken
nunmehr überwundener kirchlicher Dogmen befreit find.
Alſo beruht die üblide Folgerung einer Entbehrlichkeit
der Religion auf einer unverzeihlichen Oberflächlichkeit.
Mertwürdig, wenn es fih nur darum handelt, den
nußbaren Effelt des Windes auf ein Segelidiff um die
Hälfte oder ein Drittel zu erhöhen, jo wird das nad)
den neuen Grundſätzen ausgejtaltete „Rotorboot“ zu-
vor in hundertfach wiederholten und von Autoritäten
fontrollierten Verſuchen erprobt, ehe man fih dazu
aniidt eine mit der Flettne r'ſchen Entdedung
ausgejtattete Flotte in See ſtechen au laffen. Ja, um
einem Bauer eine beitimmie Düngung anzuraten,
werden forgjältige, vielfady wiederholte Verſuche ange-
ſtellt. Aber ein der Religion beraubtes Bolt will man
teichtfertig feinem Schickſal überlaflen, obgleich nirgends
in der Welt ein Beifpiel dafür vorhanden ift, daß jo ein
Zujtand möglich ift. Seelenruhig läßt man die Bande
reißen, die Kirche und Staat miteinander verfnüpften,
bloß auf die Erfahrung Hin, daß die Kirche hie und da
(wo eben ſchon ein Starter firdlicher Sinn in der Seele
des Volkes Wurzel gefchlagen hat) fi auch ſelbſt zu
helfen wußte. — Und auh wieder nicht merfwürdig
für den, der das Weſen aller Demofratie in der Praris
des Lebens erfaßt hat.
Wenn man forgfältig zu Wert gehen wollte, müßte
dod zunächſt die Frage aufgeworfen werden: fünnen
denn ganze Völker ohne Religion leben?
Damit find wir aber auf hiſtoriſchem Gebiet, und da er:
gibt ſich jogleih das Jedermann zugänglide Nefultat,
taß der Geſchichtsforſcher niemals en die Aufgabe Der
Zergliederung einer Kultur und die Wertung eines
Volkes herantreten fann, ohne neben Wiſſenſchaft, Ge-
werbejleiß, Kunſt auh der Religion betondere Auf
merfiamfeit 3u ſchenken. Mandymal allerdings auch
mit dem Ergebnis, daß firdliche Dinge den allerſchäd—
lichſten Einfluß auf die Entwidlung eines Voltes — wir
brauden nur auf die Geſchichte Spaniens 3u bliden,
um Dies mit Händen greifen 3u fünnen — gehabt
haben.
Dalier, Indogermanen und Germanen.
Für unfern Zwed aber gleidwiel. Auch mit diefem ge-
legentlich negativen Einfluß ift doh bewielen, daß
Religion nit bloß ift: ein Symptom der Kultur,
jendern eine wirfende Urjade, die für die
weitere Entwidlung derielben gar febr in Betradt
kommt. Nicht fterile Blüte oder Monitrofttät, fondern
Frucht und Samen zugleih. Und ferner: fein Bolt
ohne Religion, wie es bei einer bloßen Mon-
itrofität der Fall fein würde. Und endlich: die Be-
jiehungen der Religion zur Moralität und die
Moral: die wichtigfte Sahe im Pölferleben.
Diefe hiſtoriſchen Dinge, Hier nur in ihren Grund:
linien angedeutet, find Jedem leicht verftändfih zu
maden. Man braudt fie nur eben zur Sprade zu
bringen, und deshalb erachtet es der Unterzeichnete als
fo widtig, von diejer Seite her den Hebel anzuſetzen.
Zwar ein jpringender Punkt bleibt noh zu erledigen.
Denn, wenn aud dieje Einficht in den Nuten, ja felbit
die Unentbehrlichkeit die Religion und der Vorzug
der geläuterten chriſtlichen vor den anderen Belennt-
niſſen erfannt werden follte, was ift damit gewonnen?
Eine Religion muß doh auch ihrem dogmatiſchen Be-
ftande nah geglaubt werden. Wie foll der große
Schritt gemacht werden von Ueberzeugung der Nüp-
lichfeit zur Ueberzeugung des Glaubens jelber. Sollen
auh die Nicht-Gläubigen ihre Kinder lernen laffen,
was fie jelber nicht glauben? Das wäre ja, wie er
feibt und lebt, der berüchtigte englifche „Cant” oder die
oberflächliche franzöſiſche Kloftererziehung!
Der berüchtigte engliſche „Cant“ und jedenfalls der
amerikaniſche, ift aber vielleiht gar nicht. jo ſchlimm, wie
e: auslieht, und ift von uns deutfchen Doctrinären mit
Zeidenihaft und daher allzu ſchwarz gefchildert worden.
Das Denten unſerer angelſächſiſchen Bettern ift eben
überhaupt vielmehr empiriſch und weniger ſtreng lo-
giſch, jo daß ihnen die Heuchelei, die in dem jogen.
Cant 3u liegen jcheint, niemals flar gum Bewußtfein
tcmmt. Und dann gibt es ja viele Wahrheiten, und
dazu gehören gerade die tieflinnigen religiöfen, von
denen wir überhaupt nur — Bavin? hat das ja gerade
fo ſchön gefagt — jtammelnd und in dunteln Worten
reden fönnen, fo daß gar manderlei anfcheinend
MWideriprechendes zur en gebradht werden tann,
Dalier, Indogermanen und Germanen.
Ein neues Bild vom heutigen und urzeitlichen
Raſſentheoretiſche Fragen ſpielen in den Kultur—
ftrömungen der Gegenwart eine ziemlich bedeutende
Rolle. Ueberall fteht im Mittelpuntt die Anfchauung
con der Meberlegenheit „der“ hellen Raffe über die
andern, mag es jih nun um Amerika handeln, wo die
Bevorzugung der „nowiihen“ Menſchen die Einmande:
tungsgefeggebung entjcheidend beeinflußt, oder um unfer
eigenes Baterland, wo ſich eine befondere politifcje
Partei (die nationalfozialiftifhde) von dieſem Kern-
gedanken aus entwidelt hat.
Nun jcheint es aber nah den J eines
Privatdozenten an der deutſchen Univerfität Prag, daß
117
oder vielmehr könnte, wenn wir es vermöchten, was in
der belieblen Ausdrudsweife ganz verſchieden lautet.
Und unter Heudyelei follten wir überhaupt nur ver-
ftehen die Entftellung der Wahrheit im eigenen
egoiſtiſchen Intereſſe. Im Intereſſe der geliebten
Anderen wird die Wahrheit vielfah mit reinem Ge:
wiffen verjcdywiegen, von den Eltern bei der Erziehung
ihrer Kinder, von dem Arzt am Kranfenbette und in
anderen Fällen. Warum nicht auch gegenüber unjern
ſchwächeren Boltsgenofien? Heuchelei jollte man fo
etwas nidyt nennen, jondern nur Berjchleierung, womit
natürlich nicht behauptet fein fol, daß es feine von
Kirden geübte Heuchelei gibt oder gegeben hat im
Imtereffe des Geldbeutels der Beſitzenden oder einer
herrichfüchtigen Prieſterſchaft.
Aber man braucht ſelbſt folde gut gemeinten Ber-
ichleierungen nicht heranzuziehen. Die aus der Ge-
ſchichtsforſchung hervorgehende, einem Jeden leidt 3u-
gänglide Wahrheit der Bedeutung der Religion für
das dauernde Glüd und Gedeihen der Bölter und die
hervorragende Rolle des von feinen mittelalterliden
Auswüchſen gereinigten Chriltentums in Diefer Rid-
hmg tann jedenfalls dazu leiten, die Unter:
fuhung nah dem Wahrheitsgehalte
diefer Religion, die fonit als eine mühlame und
wenig dankenswerte Arbeit erjcheinn, mit dem
nötigen Ernft und der Energie aufzu-
nehmen, die diefe geiltige Arbeit erheijcht; und in-
fofern erfheinen dem Unterzeichneten die Zujäße, die
er 3u den hochwillkommenen Erläuterungen des ver:
ehrten Schriftleiters von „U. W.” zu maden vermodjte,
als nicht unmelentlide Ergänzungen und (rweite-
rungen.
Alfo, noh einmal deutlid formuliert. Unſer Bor:
ſchlag zielt weit weniger dahin, gegen den Modernis-
mus eine väterlid jeſuitiſche Gegenreformation, die
auch nad unjerem Dafürhalten ihre jehr bedentklichen
Seiten haben würde, einzuleiten, als aus dem Umftand
der hochbedeutenden Wichtigkeit die nötige Energie zu
gewinnen, den Woahrheitsgehalt unferer Religion in
Darftellungen, wie die des Schriftleiters von „Uniere
Melt“ auf's Ernſtlichſte zu ftudieren.
2
@
Guropa. Bon Etudiendireltor Dr. Müller.
es nicht nur eine einzige helle Langkopfraſſe gibt, fon-
dern mindeltens zwei, und dab 3. B. — um das Haupt:
ergebnis vorwegzunehmen — die germanilche Raffe eine
Miſchung der beiden ift.
Dr. Paudler — fo heißt der Gelehrte — hat feine
Theorie bereits vor vier Jahren in der Zeitfchrift „An:
thropos” dargelegt — unter dem Namen „Cromagnon:
Studien“; jegt hat er fie in Buchform der Oeffentlich—
teit vorgelegt: „Die hellfarbigen Raſſen und ihre Sprad):
ſtämme, Kulturen und Urheimaten.“ (Heidelberg 1924,
Winter, 275 ©.).
Die Cromagnonrafie it nah Klaatih eine Miſchraſſe
118 u
der beiden Raflen des europäilchen Urmenſchen: des
Neandertalmenjhen und des Aurignacmenjden; ihren
Namen erhielt fie nadh einer 1868 aufgededten Fund-
ftätte aus der jüngeren Hälfte der älteren Steinzeit in
Frankreich. Aeußerlich ftellt fie fi) dar als eine ganz
befondere Verbindung von Langkopf und Kurzgeſicht.
Diefe Cromagnonraffe galt nun bisher als im grohen
und ganzen ausgeltorben. Paudler zeigt nun, daß das
feineswegs der Fall ift. Bon den beiden Formen der
Cromagnonraſſe — in Nordafritfa und Südeuropa dunfel
und klein, in Mittel- und Nordeuropa hell und groß —
beleuchtet er insbejondere die letztere, die als zweite helle
Raſſe zu der gewöhnlichen hellen („nordilchen”) Raffe,
von Laien gern germanifche Raſſe genannt, gleichbered)-
tigt hinzutritt. ;
Nach der Landihaft Dalarna in Schweden, wu fie
heute am reinften auftritt, nennt er jie kurz die „Dalifche”
Raſſe. Wir Haben alfo neben dem „nordiſchen“ Men:
ijden noch eine andere helle Raffe, eben die daliſche.
Weles find nun die Hauptkennzeichen des daliſchen
Typus? Jm Gegenjaß zu dem blauen Auge und dem
(rotlofen oder rotarmen) Aſchblond des nordiſchen Men:
ſchen bat der daliihde Menſch graues Auge und (ftart
rothaltiges) gelbblondes Haar. Das ift der weſentlichſte
Unterjcjied, den Paudler nun bis ins tleinfte verfolgt:
das Auge der blauäugigen Raſſe „durchſichtig“, matt und
feucht, das der grauäugigen Raſſe „undurchſichtig“, glân-
zend und troden; das Kopfhaar der gelbblonden Rafle
mwellig, nicht felten lockig, bei der aſchblonden Rafje aber
mehr oder weniger fchliht; der Haarwuchs bei der
dalifhen Raſſe entſchieden ſtärker, befonders was die
Augenbrauen betrifft, die geradezu überhängende
„Wetterdadhybrauen“ werden, wie bei Bismard; der
Dberrand des Wugenhöhleneingangs falt wagerecht,
der obere äußere Wintel faft rechtwinklig; bei der
daliſchen Raſſe eine nad der Geſchlechtsreife raſche Ab-
nahme des Tettpoliters, befonders an den Lippen, fo
daß der Mund oft ausfieht wie ein Schlitz; alles in
allem fehen die Männer mit zwanzig Jahren abgeradert
aus, älter als fie find, verändern fi dann aber wenig
und fehen im Alter eher jünger aus. Klarer als die
Teihreibung bringt die Abbildung den Gegenfaß der
beiden Raſſen zum Ausdrud: die gewöhnliche helle Raſſe
fein und meidh, die dalifche derb und rauh im Gejamt-
bild; fieht der Vertreter der gewöhnlichen hellen Raffe
übrigens nicht etwas Hermann Löns ähnlih? Die
„Idee“ der hellen Cromagnonraſſe ift Hier deutlich zu
ertennen: eine gewiſſe Geradlinigfeit und digkeit, die
das Ganze einem Holzbildwert ähnlich mad, oft einem
verwitterten! Der Grundgedanke diefes Cromagnon:
itils ift das Rechteck. Der Grundgedante des ſchlanken
Körperltils dagegen ift die Ellipie. Diefer zweite
Körperftil ift übrigens niht nur der gewöhnlichen hellen
Kaffe eigen, fondern aud der — kleinen und dunklen
— Mittelmeerraffe, die in Südeuropa und Nordafrika
vorherriht und die, wie wir noch fehen werden, mit der
großen hellen Raffe nahe verwandt ift. Zu den beiden
bier verglichdenen Raſſen fommt dann bei uns nod als
dritter Körperftil der unterjebte, der zwei afiatifchen
Raſſen gemeinfam ift, der orientaliſchen (mit „jüdifcher”
Gejichtsbildung) und der mongoliſchen (mit chinejischer
Dalier, Indoaermanen und Germanen.
Gefichtsbildung). Auf diefe beiden aſiatiſchen Raffen
geht nadh P. der unterfehte Körperftil in Europa zurüd,
obwohl man eine gewiffe Scheu hat, es offen auszu⸗
ſprechen. Der Grundgedante diefes dritten Körperftils
ift der Kreis. Als Hauptmertmal im Charakter findet
Paudler bei der dalifhen Raſſe zähes Teithalten am
Alten. —
Mande Widerfprüde in den Ausfagen der Raſſen⸗
forſcher über die Eigenfchaften der helfen Raſſe — oft
geradezu entgegengejehte Behauptungen — erflären
ih nah hm nun einfah dadurd, daß eben in Wirt-
lichleit zwei Raflen vorhanden find, deren Züge man
zufammenwarf. Es zeigt fih in der Tat, daß die eigent-
lid) germanifche ZFarbenverbindung — rothaltiges Blond
der Haare und blaues Auge — in Wirklichkeit auf einer
Miſchung der beiden hellen Raſſen beruht; indem die
‚Haarfarbe von der daliihen Raffe ftammt, die Augen:
farbe von der nordiſchen. Aber nicht nur die germaniſche
Farbenverbindung ift ein Gemiſch, fondem aum das
ganze germaniſche Schönheitsideal. Denn in der Ju-
fammenftellung der idealen Einzelheiten — gelbblondes
Gelod, blitende Blauaugen unter bufchigen Brauen,
helfe Haut und hoher Wuds, — find Welligkeit des
Syaares, das durh den Glanz und die Trodenheit des
Auges bedingte Bliken und die buſchigen Bruen dalifche
Züge, Augenfarbe und Nafenform find nordiſche Züge.
Auh die „germanishe Treue” und der „germaniſche
Trog” find daliihe Grundeigenſchaften, auf dem oben
erwähnten zähen Fefthalten der daliſchen Raſſe am Alten
berubend.
Die daliſche Raffe war nah Paudler die ältere; von
der blauäugig-afchblonden jpäter zurüdgedrängt, hat fie
fih nur in abgelegeneren Orten einigermaßen gut er-
halten, fo in Schweden im Shupe der großen Seen und
Wälder. In Deutichland ift ihr Kerngebiet das Wald-
gebiet Weitthüringens und Dftheflens. (Ein Bortommen
im öftlihen Mittelfteier erklärt ſich durch mittelalterliche
Befiedlung aus der an die letztere Landſchaft angren-
zenden nordbayerfichen Gegend, eines in Böhmen durch
Ausftrahlung aus dem thüringifchen Gebiet felbft.) Die
Schulfinderftatiftifen zeigen gerade in diefen Bezirken
ein bejonders auffallendes Vorherrſchen der grauen
Augenfarbe gegenüber der blauen fonft. Aud in der
Laufig und in Anhalt finden fih Gebiete, wo die dalifche
Raſſe noch verhältnismäßig rein anzutreffen ift. Aud
hier zeigt fih als Raſſezug das zähe Feſthalten am
Alten, auh an der alten Sprade. Dabei ift es frei-
ih eine Ironie des Schickſals, daß die Tſchechen und
Sorben diefer Spradinfeln jozufagen aus „germanifcher
Treue” zäh am Slaviſchen fefthalten. In Anhalt wurde
ebenfalls noh vor zwei Jahrhunderten ſlaviſch ge-
ſprochen, alfo viele Jahrhunderte, nahdem ringsum
alies ſchon deutſch geworden war; dabei ift das Slapifche
natürlid auch hier erft fpäteres Kulturgut, an dem aber,
als es einmal angenommen war, zähe feltgehalten
wurde.
Die helle Cromagnonraffe ift aber auch außerhalb
Deutihlands anzutreffen, befonders auf den britiiden
Inſeln, ja jogar auf den Kanariſchen Inſeln, wo die
vorſpaniſchen Guanden der Forſchung Thon immer
Rätfel aufgegeben haben, die fih nun im Lidte
der neuen Forſchung löfen. Die Guanden ge-
hören ſicher nicht zu der großen Bölferfamilie der Indo—
germanen; aber die helle Cromagnonrajfe, die urjprüng-
lihe Bevölkerung Weſteuropas, ift nicht nur vorgerma-
niſch, jondern jogar vorindogermaniſch! So ift es aud
wahrjdeinlich, daß das Piktifche der Bewohner Kaledo-
niens feine indogermanijhe Sprade war, jondern eine
vorindogermantihe (das [indogermanifhe] Keltiſche ift
erst um die Mitte des lekten Dahrtaujends v. Chr. vom
Teitland aus nad) England eingedrungen, In der
Tatſache, daß eben
die Helle Cro-
magnonrafie, d.
h. die dalijche, die
porindogermani=
ide Bevölferung
Weiteuropas ift,
würde aud eine
Erklärung dafür
gegeben feim, daß
es gerade im Ger:
manijchen bejon-
ders viele Wörter
gibt, die ſich nicht
in den andern in-
Dalier, Indogermanen und Germanen.
119
Der Südweften Frankreichs war noh in der Keltenzeit
3. T. vorindogermanijch geblieben, wo die Basten eben
noh heute das Zwanzigerſyſtem haben. Aber aud in
Norddeutichland zählte man nah „Stiegen“, in Eng:
land 3. T. nad) Scores und in Dänemark von 66 bis 99
io wie in Frankreich — „mal zwanzig!” Auch das
Albaniſche hat das Zwanzigerſyſtem. Hier jcheint über-
all uraltes vorindogermaniſches Kulturgut vorzuliegen.
Die zweite derartige Kulturerfheinung aus dem Bereid)
der hellen Cro-
magnonrafle ift
das Ausmeißeln
meißeln oder Aus⸗
fügen eines Kno—
chenſtücks aus dem
Gehirnſchädel als
volksmediziniſche
Operation, — die
ſogenannte Trepa-
nation. Dann fal—
len hierher die
ſteinernen Grab—
bauten aller Art,
ferner die Täto—
dog rmaniſchen wierung, ſowie
Sprachen wieder: die hoſenloſe
finden. Sie gin— Extreme Geſichtstypen der beiden hellen Langtopf-Rafjen : Knierocktracht der
gen eben auf die Iinfs der gewöhnlichen hellen Raje (Deutſchet), rechts der hellen Cro-Magnon-Raſſe Männer; fie iſt
— — an ae Bi inalphotographien von Kollmann nod. u
Sprache der dali- Aus Ripleys „Races of Europe, auf ar a ginalphotograp Hochichottland zu-
ihen Raſſe zurüd, hauſe, auh uns
müßten fih alfo im Piktiſchen wiederfinden, deffen Wort:
ihat meiſt im keltiſchen Gewande überliefert ift. Tat-
ſächlich finden fih nun vorindogermanishe Wörter des
Germanifhen im Seltifchen wieder; dahin gehört das
ältefte Wort für den Hering, „Schade“, im Keltiſchen
heute noh Hering bedeutend (Sfadinavia — das n ift
erft durch einen Schreibfehler hineingefommen — = die
Schaden-Aue, d. h. Heringsinjel), und das Wort „Se:
gel“. Auch die jtarfe Veränderung des Germaniſchen,
die es verhältnismäßig früh gegenüber den übrigen ger-
maniſchen Sprachen (außer dem Keltifchen) erfahren hat,
ſcheint eine wiſſenſchaftliche Bejtätigung dafür zu fein,
daß eine indogermaniihe Sprade durd eine porindo-
germanijdje Bevölkerung (die dalifche!) umgejtaltet wur-
de. MWielleiht beruht die germaniſche Worttonverſchie—
bung auf dem Einfluß der nichtindogermaniſchen — da-
liſchen — Urbevölferung. Auch das nichtindogermanifche
Baskiſche dürfte auf die Cromagnonraſſen zurüdgehen.
Nun gibt es aber noch gewille Kulturerjcheinungen,
die zu dem eigentlid) Indogermaniſchen im Gegenjaß
itehen und die ebenfalls durch die Theorie der dalifchen
Kaffe als der nichtindogermaniſchen Urbevölferung
Europas ſchön erklärt werden, zumal fie fih gerade auf
den Gebieten am beiten erhalten finden, deren Be:
wohner aud die daliſchen Wafjeeigentümlichkeiten am
reiniten bewahrt haben.
Da ift zunädft das Zählen nah) Zwanzigern. Sie
ijt aus dem Franzöſiſchen geläufig: 80 heißt hier quatre-
vingt: vier Zwanziger. Ein Parifer Armenhaus für
300 Blinde heißt les quinze vingts: die 15 Zwanziger.
der ſchottiſchen Kriegsgefangenen befannt, und liegt aud
in Albanien zugrunde (woher die griechifche Fuſtanella
ftammt). Für das Germanengebiet ift fie durch Sarg-
junde aus Mooren der Kimbriſchen Halbinjel belegt.
Somit ergibt fih für Nordweſteuropa diejes urzeit-
lie Bild: Seit der älteren Steinzeit ift hier die („da=
liſche“) helle Eromagnonraffe ureinheimiſch, entjtanden
aus der dunklen Raffe mit demfelben Formenſyſtem oder
einer gemeinjamen Borform. Sie blieb teils an Ort
und Stelle, teils breitete fie fi nah Süden aus
(Guanden), teils folgte fie der nad) Norden vordringen-
den Pflanzen- und Tierwelt, — nad) Norddeutichland,
Sfandinavien, England, Schottland. Ihre Kultur ift
bi5 auf obige Reſte verjchwunden, ebenfalls die Sprache,
die freilid noh in Hochſchottland und Irland bis ins
Mittelalter hinein im Piktiſchen fortlebte und von der
die nicht indogermanijden Wörter des Keltiſchen und
Germaniſchen jtammen jowie die Zerrüttung des Baues
diejer beiden Spraden.
Nun zu der neuen Raffe und Sprade, die dieje alte
„daliſche“ zurüddrängte. Es ift die nordiſche Raffe, die
indogermaniihe Sprade. Ihr Eindringen juf aus der
„vorgermaniſchen“ Welt die germaniſche. Welches ift
die Heimat diefer Indogermanen? Es ift dies ja eine
alte Streitfrage. Die Anſicht, Afien fei ihre Heimat,
wird ja niht mehr jo vertreten wie früher; eine große
Rolle jpielte aber noh die Theorie, daß die Sndo-
germanen im Ditjeegebiet beheimatet waren. Im Süd-
often der Ditjee ift der nordiſche (blauäugige) Typ in
ser Tat einigermaßen häufig rein erhalten; am „nor-
TO- oee e a
diſchſten“ find von allen heutigen Völkern die Litauer,
Retten und vor allem die Eiten. Nun zeigt P. aber,
daß es fih Hier nur um ein Erhaltungsgebiet handelt,
nicht um ein Ausgangögebiet (Fehlen einer felbitändigen
urzeitlihen Bodenhinterlaffenihaft; Gürtelform und
Randlage des Gebietes). Er kommt auf Grund feiner
Unterſuchungen fchließlih dahin, die Länder im Now-
weiten des Schwarzen Meeres als Heimat der Indo-
germanen zu erfennen, worauf ja aud bereits ein Teil
der Sprachforſcher hingewieſen bat. Ihre Kultur ift die
iogenannte Tripolje-KRultur, eine Untergruppe der foge:
nannten bandkeramiſchen Kultur. Bon bier aus, von
„Südweltrußland”, wo im Often die Steppe, im Norden
der Urwald, im Weiten das Gebirge entgegenitand,
wandte H der Beovölterungsüberihuß dem offenen
Süden zu und folgte der Donau aufwärts in die men-
ſchenleeren Flußtäler und Ebenen. (P. erhofft von der
indogermaniftiihen Drtsnamenforfhung und der Bor:
seihichtsforfhung eine Beltätigung feiner Theorie.)
Die Einwanderung eines indogermanifden Stommes
in das nachmalige Germanengebiet, alfo die Entitehung
Xr germanijchen Welt aus der vorgermanifchen, bered-
net P. um das Jahr 900 v. Ehr.; fie ift in Deutichland
früher als in Frankreich und ſpäter als in Italien er-
folgt, alles in allem alfo doh verhältnismäßig fpät.
Spradliche Tatfachen ſtützen dies (die germanifche Laut⸗
verfchiebung erfolgte erft Mitte des legten Dahrtaufends!).
Diefer eigentlichen SIndogermanifierung unferes Bater:
landes ging aber bereits voraus erftens die Indogermani:
fierung Süddeutfchlands, wo durd dieje Vermiſchung die
Kelten entitanden (die alfo in Süddeutichland ihre Ur-
heimat hatten) und zweitens die Indogermanifierung Oft-
deutſchlands durch die Illyrier, die Träger der fog. Lau—
figer Kultur; fie brachten die TFeuerbeftattung mit.!) (Das
Illyriſche ift ausgeftorben; der Name Wenden hängt mit
dem der illyriſchen Veneter zufammen; Bineta, Benedig
uiw. Gie find nad) Süden in die Donau, Alpen: und
Karftländer abgedrängt. Dann erit wurden die Ger-
manen Nachbarn der Raflen, auf die fie den Namen
„Wenden“ ihrer früheren Ortsnachbarn nun übertrugen.)
Durch die Beiegung von Ditdeutichland verlegte die
laufigifch:illgrifhe Einwanderung dem Bevölferungsüber:
ſchuß der daliichen Raſſe in Skandinavien den Hauptweg
nad) Süden und Südolten, jo daß der — indogermanijche
-— Bevölkerungsüberfhuß Ungarna nun endlid, ein
Sahrtaufend nad) der Indogermanifierung Indiens, un:
geitört den Weiten indogermanifieren konnte: Italien,
Süd- und Mitteldeutichland, Frankreich, Nordweſtdeutſch—
lond, Britannien, 3. T. die Pyrenäenhalbinſel; Nicht:
indogermaniſches hielt fi zu Beginn unferer Zeitred:
nung nur in Hodichottland, Irland, der Pyrenäenhalb—
infel und im angrenzenden Teil von Frankreich, vielleicht
auch auf Sardinien und Korſika (Iberiſch) und Reſte in
Standinavien. Bon diefen vorindogermanijden Reiten
hat die Römerherrſchaft das meiſte zerjtört, und heute ift
nur das Baskiſche übrig geblieben.
Nun verfuht P. auh eine Zurüdleitung der oft:
europäifchen urzeitliden Welt bis in die ältere Stein-
zeit. Er leitet die „nordiſche“ Raffe (die ja nun folge-
1) Ueber die Laufiger Kultur bringen wir im über:
nädjften Heft einen bejonderen Aufſatz.
Dalier, Indogermanen und Germanen.
richtig gar nicht „nordiſch“ heißen dürfte, fie ift ja —
ofteuropüifch) her von der Menſchenform, die der Anthro-
pologe nad) dem Fundort die von Laugerie-Bafle (in
Frankreich) bezeichnet. Hat der Baum aljo in Südwelt-
ruland gemwurzelt, der Same tft aus dem Weiten ber-
übergemweht. Aus demfelben Samen erwuchs dann die
mit der hellen (ſchlanken) im Formenſyſtem übereinftim-
mende fleine dunkle Mittelmeerraffe. Dieſe ſtammt alfo
nit von der Cromagnontaſſe ab! Bielleiht ift fogar
die helle flante (— nordiſche) Raſſe unmittelbar aus
der kleinen dunklen Mittelmeerraffe entitanden. Als die
Zaugerie-Baffe-Leute nah Often abwanderten (Tem-
peraturfteigerungen am Ende des ſogenannten Bühl-
ftadiums!), wandte fi) bei Hrer Verdrängung aus dem
unteren Teil der Donauländer ein Teil nad) lints (Süd-
weitrußland), — die jpätere nordiſche Raffe. Auf dem
waldarmen, frudtbarmen Boden früh zu ausgiebiger
Tier: und Pflanzenzucht gezwungen, wurde lettere ſelbſt
früh „domeſtiziert“; die Hellfarbigkeit ift eine Folge die-
fes „Xebens neben der Natur”. Der Teil, der fi
nad rechts wandte, ergab die Mittelmeerrafle. Ihre
ſprachliche Schöpfung ift das Semitiſche.“) Danah müß-
ten das Semitiſche und das Indogermaniſche aber ge-
wiffe Uebereinftimmungen zeigen; und dus ift aud
durdaus der Tall (Zehnerigitem, gramm. Geſchlecht
ujw.) Im Weiten des Mittelmeergebietes dagegen blieb
die teine und dunkle Cromagnonraffe vorherrſchend; das
Mittelmeergebiet ift alfo ähnlich fo zwiſchen die beiden
kleinen und dunklen (füdeuropäifh - nordafritanifdyen)
Raflen aufgeteilt wie der Norden zwiſchen die beiden
hellen Raflen der dalifchen und nordiſchen Leute. Aui
Korſika ift im Innern nod die Meine und dunkle Cro-
magnonraffe vorherrihend: Napoleon!
So beruht daS Befondere des Germanentums auj
einer Miſchung von „Vorgermaniſchem“ („Daliihem“)
und Indogermanifhem („Noröifhem”);?) und zwar wäre
aljo die Grundlage des jeßigen Nordifchen gar niht das
„Nordiſche“, jondern das vorindogermaniide „Daliſche“.
Jh habe mich darauf beſchränkt, Paudlers geiftvolle
Darlegungen möglichjt getreu wiederzugeben, — unter
Verzicht insbejondere auf die Bemweisführung, die mir
durchaus einleudhtend erfcheint. Er legt feinen Unter-
fuhungen über die heutigen MUeberreite der daliſchen
Raffe für Schweden die berühmte große Soldatenunter:
juhung „Anthropologica Suecica“ von Fürſt und Regius
zugrunde, für Deutichland die Schultinderfarbenftatifti-
fen; aber fein Bud enthält nicht jene „riefigen Zahlen:
teihen, die, cum grano salis gejprochen, wenn fie fehlen,
jeder vermißt und, wenn fie da find, feiner wirklich [ieft,
geſchweige ſtudiert.“ So ift fein Budh auch dem Laien
verftändlich und genießbar. Aber wichtiger ift, daß es
tatſächlich der Raſſen-, Kultur und Sprachforſchung
neue Wege weiſt und wertvolle Anregungen gibt.
2) Die Juden dagegen ſind — Vorderaſiaten; dieſer
Raſſe entſpricht der „alarodiſche“ Sprachſtamm, heute
nur noch in den kaukaſiſchen Sprachen fortlebend.
2) Aehnlich ift das Finnentum nah P. eine Miſchung
von Inneraltaiſchem (Uraltaiſchem) mit (dazugelomme-
nem) Indogermanifhem. Aber hier bildete fich ein ein-
beitlider Mifchtyp; das Germaniſche hat ben idealen
Typ nur ftellenweife verwirflidt. Jedenfalls wäre das
Finniſche eine dritte „helle“ Raſſe.
Kleine Beiträge.
In Oeſterreich und vor allem in der Schweiz haben
in den legten Monaten die Borträge des Nancy'er
Bharmazeuten Coué großes Aufſehen erregt befonders
our die geradezu wunderbar fcheinenden Syerlungen,
die fidh ſowohl gleich bei feinen Vorträgen vollzogen,
als aud unmittelbar anſchließend daran bei pünli-
licher Ausübung der von ihm gegebenen Borfdriften.
Seine SHeilungen betreffen niht blos nervöſe oder
hyſteriſche Erkrankungen, fordern auh langwierige
gichtifche Leiden und ſolche mit jhon beginnenden Or-
ganveränderungen. Ciner feiner Schüler, Profeſſor
Baudouin in Genf, berihtet fogar von Hauterkran—
tungen, Warzen ufw. die jo geheilt worden feien.
(Eigentlih neu ift die Sade nicht, denn bei Coué's
Bortragsreifen m Nordamerita behauptete die dortige
Rew-Thought-Preffe, das Verfahren fei ſchon feit
etwa 1850 geübt und in einzelnen Kreiſen bis ins
Einzelne ausgebaut geweſen. Aud die Fahrenſtock⸗
idhe „itatuvolenz;” war etwas Wehnlides. Die von
den Nancyer Profefforen Liebault und Bernheim vor
rund 50 Jahren veröffentlihte Suggeltions: Behand-
(ung gehört ebenfalls etwas entfernter hierher.)
Coué bezeidmet fein Verfahren, das fih ihm in der
jetzigen Form am meiften bewährt habe, als „Gelbit-
bemeijterung Dur” bewußte Autofuggeltion”. Man
tann es auch Wach-Suggeſtion, nad) Wintler's Bor-
Ihlag Perjuafion, Ueberredung, heißen. Coué betont
die eigene Heiltätigkeit des Kranten; er will ihn ſchritt—
weife zum Glauben an fih felbit führen, feinem zu
Idywadyen Genejungswillen eine Stüße fein. Er hält
es niht für gut, den Kranten in Schlaf zu verfeßen,
um durch hypnotiſche Suggeltion die Autofuggeltion
terbeizuführen. Zwei Eigentümlidjfeiten feiner Lehre
icen hier erwähnt: eritens, der bewußte Wille müffe
ausgeichaltet bleiben, denn nicht der Wille fei die vor-
berrfchende Kraft im Menſchen, fondern die Einbildung;
tei. einem Widerftreit des Willens und der Einbildung
gewinne ftets die letztere. Die andere eigentümliche
Vorſchrift ift, man müſſe fi den Gag: „mit jedem
Tag geht es beffer in jeder Hinſicht“ morgens und
abends vorjagen, niht blos in Gedanken, jondeın es
müffen die Lippen dabei bewegt werden. Das muß
ojt, 20 mal, hintereinander geichehen. Bei Schmerzen
ſpricht man fidh) vor: es geht vorüber (ga passe). Wer
fih näher über fein Verfahren unterrichten will, dem
fteht ſchon eine ziemlich reiche Literatur 3u Gebot,
etwa: Coué's Schriften, deutiy von Dr. Amann,
Goueismus von Dr. Schulhof, Schriften von Neu:
mann, von Drefier, ein lleines febr gutes Schriftchen
son SHochſchulprofeſſor Dr. Winkler in Wien. Weitere
Austunft erteilt gerne der „Baum-Berlag“ in Pful-
lingen, Württemberg. i
Durch den Coué'ismus ift uns die Frage des Ber-
bältniffes von Leib und Seele, und von dem Unter:
tewußtjein wieder aufs Neue nahegerüdt, wie er
auch Erklärung für mande Rätſel bietet, 3. B. die
Heilungen im Aschepios-Tempel in Eridauros, und
in neuerer Zeit in Lourdes. Auch an die Worte Jefu
jei ermnert, der bei manden feiner Syeilungen dem
Kleine Beiträge.
E
Geheilten jagte: Dein Glaube hat dir geholfen.
, Dr. 9.
Ueber die Kirebsforihung des Kaifer Wilhelm:
Inftituts berichtet O. Warburg („Naturwiffenfchaf:
ten“ 1924, Seft 50) febr feſſelnd. Der genannte
Forſcher ſuchte mit feinen Mitarbeitern die Frage zu
beantworten, ob ein Unterſchied beſteht zwiſchen dem
Stoffwechſel ungeordnet wachſender Krebsgefchwülfte
und geordnet wadjlender Embryonen. Bei Ichteren
findet eine febr ſtart vermehrte Atmung ftatt. Die
Unterfuhung ergab dagegen, dap diefe bei Krebs-
geihwülften ftar? verringert ift. Die Mutmaßung, dap
dies auf Mangel an „Bremmmaterial” beruhe, beftätigt
ji niht; denn ein foldes wie Buder bringt im Gegen:
teil die Atmung der Geſchwülſte zum Verſchwinden. Es
findet Hierbei eine Spaltung des Zuders ftatt, wobei
Milchſäure entfteht, und dieje hemmt die Atmung. Es
ijt zweifellos, daß diefe Zuderfpaltung ein febr tenn:
zeichnendes Mermal der Krebszelle ift. Bei Sauer-
ſtoffabſchluß bildet fie hundertmal mehr Milchſäure als
das Blut. — Bei Sauerftoffzufugr ift die Sade ver
widelter, denn dann (alfo bei Atmung) verbrennt die
Mildyfäure wieder zu dem Kohlehydrat. So ift es 3. 8.
aud bei der Arbeit des Mustels. Diefer VBerbrennungs-
vorgang ift der Größe der Atmung entfpredyend. Iſt die
Atmung ſtark, fo wird fie die Mildfäure zum Schwin⸗
den bringen, fo bei der Mustelarbeit; ift fie weniger
ftart, fo wird die Mildyjäure nicht ſchwinden, wie bei
der Hefe. Es ift nun ſehr wichtig, daß fih die Krebs:
geſchwulſt wie letztere verhält. Bei ihr ift aljo die
Atmung zu Mein im Verhältnis zur Zuckerſpaltung.
Der Vergleich der Krebsgeſchwülſte mit gutartigen
Geſchwülſten zeigt, daB letztere fih zwar ähnlich ver-
halten, aber doch ſehr viel ſtärker die Milchſäure bei
Atmung zurückbilden. Der Unterſchied iſt alſo kein
grundſätzlicher, ſondern ein gradweiſer. Warburg und
ſeine Mitarbeiter haben denn auch den Vergleich mit
normal wachſenden Embryonen durchgeführt. Auch hier
entſteht bei Sauerſtoffabſchluß reichlich Milchſäure. Dies
iſt alſo offenbar eine allgemeine Eigenſchaft wachſender
Gewebe. Bei Sauerſtoffatmung hingegen wird alle
Milchſäure wieder verbrannt. Es ergibt ſich alſo, daß
in der Tat zwiſchen dem Stoffwechſel geordnet und un»
geordnet wadjjender Gewebe ein weſentlicher Unterfchied
befteht: die Atmung normal wadjjender Gewebe reicht
aus, um die Zuderfpaltung zum Verſchwinden zu
bringen, die Atmung der Geſchwülſte dagegen nidt.
Hierbei Handelt es fi offenbar um Störung des Ber-
hältnifjes beider Vorgänge, der Atmung und der Zuger-
jpaltung.
Die Zuderjpaltung ſelbſt ift eine Eigenſchaft aller
Gewebe, auch der ruhenden, bei denen fie durch hin:
teihend feine Methoden fih auh noch nachweiſen Täßt;
fie muß daher an fih eine biofogifche Bedeutung haben.
Meyerhof und Hill halten fie bei Muskeln für
die Energiequelle der Musteltraft, und fo wird in ihr
aud wohl die treibende Energie des Wachstums liegen.
Trog diefer großen Bedeutung tann nun aljo die
122
Zuderfpaltung dod dann verderblid” werden, wenn ihr
nicht ein genügendes Maß von Atmung gegenüberjteht,
durch welche die entitandene Mildyfäure wieder verbrannt
wird. Warburg fapt die wertvollen Ergebniſſe diejer
Unterfuhungen dahin zufammen: Die embryonalen Ge-
webe am Anfang der Entwidiung haben eine febr große
fauerftoffreie Zuckerſpaltung und eine auf dieſe abge—
ſtimmte Atmung; im Laufe der Entwicklung ſinkt die
ſauerſtoffreie Zuckerſpaltung auf den zehnten Teil und
es beſteht eine im Verhältnis große Atmung. Bei der
Bildung von Geſchwülſten aber ſteigt die Zuckerſpaltung
wieder auf das Zehnfache, ohne daß die Atmung dem-
entiprehend folgt. Als einen letzteres bewirfenden
„Reiz“ fiet Warburg Sauerftoffmangel an, der
dur Drud, Sklerofe der Gefäße, Bakterien uſw. ver:
anlat wird. €. Dennert.
Das Zwilhenproduft bei der Kohlenftoffaffiimilation
der Pflanzen.
(Bol. dazu den Auffag von Tormann: „Aus der
Geheimwerkſtatt der grünen Pflanze”, „Natur:
freund“ 1924, ©. 303.)
Die Pflanzen benuben die Rohlenfäure (CO2) der Luft
ober des Waſſers, um mit Hilfe des Sonnenlidjtes, des
grünen Farbſtofſes und des MWaflers SKohlehydrate
(Zuder, Stärke) herzuftellen. So leicht nadyweisbar die-
feı Vorgang ift, jo Unficheres läßt fih von dem eigent-
ligen Weſen des Affimilationsprozefles fagen. Noh
immer ließ fih trog vieler Verſuche bedeutender Forſcher
(3. B. Willftätter) der eigentliche chemiſche Borgang
der Aflimilation in der Pflanze nicht erperimentell zer-
gliedern. Bor ungefähr fünfzig Jahren Hatte Baeyer
die Hypotheſe aufgeftellt, daß die Zuderbildung über den
. Formaldehyd (C Hz O) geht, der ja als Desinfettions-
nd Schnupfenmittel befannt ift. Bom chemiſchen Stand-
punfte aus ift die Bildung des Formaldehyd aus C O:
und Waffer leicht begreiflid), und weiter gelang es dem
berühmten Chemiter Emil Jif her in den Produlten
Ausſprache.
Zum Thema: Enlwicklungslehre und Religion.
Gewiß bedeutet für den in den herkömmlichen Aus-
Deutungen von Unſterblichkeit erzogenen Chriften es
eine Schwierigfeit, wenn er fih das Menſchengeſchlecht
aus Lebewejen hervorgegangen denten fol, denen er
feine „Uniterblichkeit der Seele” zuſchreibt. Und es ift
gut, dab Mayer diefe Scmierigleit zum Anlaß
nimmt, den Begriff der Unſterblichkeit daraufhin zu
unterfucdyen, was eigentlid” mit ihm gemeint fein könnte.
Es ijt mir auch ſympathiſch, daß er in diefem Zuſam—
menhange daran erinnert, daß „Beit” möglicherweife
nur unfere Borftellungsform ift, und daß er diefe Mög-
lichfeit anwendet auf den Gedanfen einer unendliden
Zeitdauer, einer „unſterblichen“ Geele. Aber die Art,
wie er im Einzelnen diefje Anwendung vollzieht, ſcheint
mir nicht ebenfo richtig zu fein. Selbſt wenn man zu:
gibt, daß die Seitvorjtellung in verjchiedenen Tier-
familien (den Menſchen eingeredynet) ganz verſchieden
fein tann, verichiedenen Rhythmus haben tann, jo ſcheint
Ausſprache.
— — — — — — — — — — —
polymerifierten Formaldehyds richtige Zucker aufzu⸗
finden. Damit ift aber nicht geſagt, daß der Aflimila-
tionsprozeß in der Pflanzenzelle derart verlaufen muß.
Neuere Erperimente gingen nun darauf aus, die Formal-
dehydhypotheſe auf Grund zweier Verfudhsmöglidleiten
zu ftüßen. Sabalitſchka (veridiedene Arbeiten in
der Biochemiſchen Zeitihrift Bd. 144, 145, 148) benußte
zu diefem Zwede die Formaldehydfütterung, indem er
die ſchon öfter unterfucdhte Frage prüfte, ob die Pflanzen
Formaldehyd als Nährftoff verwenden fünnen. Wenn
Waſſerpeſt, Kapuzinerkreffe, Belargonien im Dunte'n ge-
halten und von der Kohlenjfäure abgejchloffen wurden,
und man den blattragenden Teilen dafür Formaldehyd
reichte, dann zeigte fidh eine erhöhte Buder- bezw. Stärke⸗
bildung, und das Trodengewiht nahm zu. Diefe Stei-
gerung wird auf eine Umwandlung (Polymeriſatien) des
Sormaldehyds zu Kohlehydraten durch die Pflanzenzelle
zurüdgeführt. Klein (Botaniſche Abhandlungen 1924)
ichlug einen anderen Weg ein. Wenn der Formaldehyd
die Zwifchenftufe darftellen foll, dann muß er fi wäh.
rend des Affimilationsprogeffes nachweiſen laffen. Will:
jtätter war das nicht geglüdt. Klein gelang es
nun, mit Hilfe des Stoffes Dimedon den Formaldehyd
in geringen Mengen bei der Waſſerpeſt fejtzujtellen. Es
war aber nun die Trage zu beantworten, ob der Formals
dehyd auch wirklich beim Affimilationsprozeß und nicht
durch einen anderen chemiſchen Vorgang zuftande ge-
tommen war. Bei zerriebenen Blättern und Pflanzen,
die im Dunteln und im fohlenfäurefreien Raum gehalten
wurden, ließ fih fein Formaldehyd nachweifen, im ſchwa⸗
den Lichte zeigten fi faum Spuren; wenn aber den
Pflanzen Kohlenfäure und reiches Licht zur Verfügung
itand, trat das Formaldehyd leicht nachweisbar auf, ò. 9.
aljo dann, wenn die Pflanzen affimilierten. Die Reſul⸗
tate beider Forſcher ſind neue Stüßen für die Baeyer-
fde Formaldehydhypotheſe.
Albert Pietfd, Menfidendorf.
a
u
mir doch damit nichts gewonnen für die wiſſenſchaftliche
Sicherſtellung eines Unterfdjiedes von Menjh und Tier
hinfichtlich der. Frage nah der „Unendlichkeit“ der fie be⸗
treffenden „Zeit” und mithin nad) der „Unfterblichteit”
eder jonftigen Dauer ihrer „Seelen“. Denn mir Shirt,
daß es gleichgiltig ift, wie groß der Faktor. ift, zu dem
id) als anderen Faktor „unendlich“ feke: es müßte
jedesmal das Produkt „unendlih” fein. Mithin wäre
mit der Tatjadje eines verichiedenen Rhythmus der
Zeitvorftellung noch nichts über die verfchiedene Dauer
der betreffenden Seelen entjdjieden.
Id) meine, man wird nod vorſichtiger fein müflen,
cls Mayer es ift, wenn man die Gedanken über Seele
und ihre Uniterblichteit mit dem geltenden Naturbild
rereinigen will. Man wird bei dem ftehenbleiben
müjlen, was Mayer auch erwähnt, worüber er aber
unglüdlider Weije zu einer neuen Metaphyfit der See-
icndauer hinausgeht: daß nämlid die Möglichkeit,
Zeit fei nur eine Vorftellungsform, überhaupt jeden
Berfuh finnlos madt, von unendliden „Objekten“
mnerhalb diefer Borftellungsform zu reden, wie ja
jede Objektivierung diefer Anfchauungsform dann ſchon
ein Fehler ift. Diefe Einficht befreit mid) ein für alle
Mal von der Angft, ic müßte mih im Kampf der Gei-
iter irgendwie für die objeftive Unfterblichleit der Seelen
erbigen, als fei im Kampfe um fie mein Glaube in
Gefahr. Denn nun weiß id), daß das innerfte Ce-
heimmis, das ih mit diefem Worte eigentlich meine,
ganz abfeits von jeder Frage nad) Zeitdauer liegt
Denn id fann nun mit ihr einzig meinen eine Rätiel:
haftigkeit meiner feldit, für die die Anſchauungsform
der Zeit felbit jhon ein Ausdrud ift, und zwar ein
uneigentlicher.
Dieſe Gewißheit vollendet fih, wenn idy mid) erinnere,
tab der Begriff „Seele“ wiſſenſchaftlich garnicht zu
handhaben ift im Sinne einer objektiven, abfeits von
meinem Bewußtfein beitehenden Größe. Was ich mit
ihr einzig meinen fann, find gewiſſe tiefite Inhalte,
tie mir im Gemüte gegeben find, bejonders beitimm!e
fittlide Nötigungen und Wertungen und gewille, nod
überfittlihde Schauer und Ehrfürchte. Und wenn id)
meine Aufmerffamtfeit auf fie richte, fo merte ich, daß
ih fie zwar nur in der Zeit tenne, eben in meinem
Bewußtfein, daß fie aber in ihrer Inhaltlichkeit mit
der Anſchauungsform der Zeit nit notwendig zu:
fammenhängen. Mit Seele meine ic) alfo meine Ge-
bundenheit an diefe neben der. Zeitanſchauung mir ge-
gebenen Inhalte. „Uniterblichkeit” ift aljo etwas Ge—
genwärtiges und meint einzig folde zeitbefreite
Gegenwart und feine mehr oder weniger lange „ob:
jeftive“ Zukunft. Und fo gerade fommt die religiöfe
Urmemung 3u ihrem Rechte. Religiös widtig ift
bi’ der Trage nad) der „Unfterblichfeit” nicht die Sta:
ttierung irgend einer Metaphyfit, ſondern einzig die
Stage, ob ih jet — gebunden bin an die an:
gedeuie‘en Inhaltlichkeiten, die ich als in der Zeit und
doch als zeitfrei erfahre.
Bom Auftreten der „Unfterblicyteit” im Entwidlungs-
nangen der Menfchen zu jprechen, hat alfo erft von da an
Sinn, wo jene gebietenden majeftätifhen Inhaltlich:
feiten anfingen, fi im Bemwußtfein eines Lebeweſens
Geltung zu verichaffen. Das tann und wird zunädjft
fehr trübe und beſcheiden geſchehen fein; auch jegt find
fie (aufs Ganze geſehen) noh nicht mehr, als eben ein
glimmender Dodt, den Er miht auslöfchen laßt und
der nur in wenigen zur hellen Flamme lodert. — Aber
von diefen Borausfegungen her find die Schwierig-—
keiten überwunden, die der herfömmlidye Seelenglaube
bat, wenn er ſich mit dem Entwidlungsgedanten befaßt.
Und idy meine, daß da nichts von dem lebendigen Ur-
geltein deffen preisgegeben ift, was uns als unfer re:
ligiöfes Sein gewährt ward.
Würdenhain.
Müller, Pfarrer.
Nolurwiſenſcheftiche und nafurhiofonhiche Ufer
— — — ——
a) Anorganiſche Nalurwiſſenſchaflen.
In der engliſchen Zeitſchrift Nature Hat kürzlich eine
löngere Debatte über die Theorie des Hörens ftattge-
finden, über die Phyſ. Ber. Heft 5, ©. 311 berichtet
wid. Ein Forfher namens Scripture hatte
de Helmholtzzſche Reſonanztheorie des
Hörens angegriffen, insbejondere behauptet, der von 9).
angegebene Verſuch, daß ein in das Klavier gefungener
Bota! als Botal nadklingt, gelinge nur, wenn die
Saiten ungedämpft find und auf Lonitanter Tonhöhe
gefungen wird, nicht jedod, wenn der Botal gleitend
gefungen oder nur kurz geiproden wird. Demgegen:
über Stellten Paget und Wilkinſon feft, daß der
Verſuch auch unter diefen Bedingungen gelingt. Auf
andere Beanftandungen Scriptures gegen die Reſo—
nanztheorie erwidert in der gleichen Zeitihrift Hart-
ridge.
Ein ſtatiſches Modell des Heliumatoms hat H. St.
Allen in den Proc. Edinb. Soc. 44, 116 (Phyſ.
Ber. 5, 316) deichrieben. Er nimmt an, daß der Cou-
lombſchen Kraft zwiſchen Kern und Elektron das
Gleichgewicht gehalten wird durch eine „Quantenkraft“,
die mit dem Radius der Quantenbahn direkt, aber dem
Rubus der Entfernung umgefehrt proportional ange-
nommen wird. Dabei foll der Radius der Quanten-
bahn ſelber nadh einem dem Bohr’fchen nachgebildeten
Anſatz fih berecynen. Das Ergebnis foll einigermaßen
mit den Berechnungen des Bandenfpeltrums des
Heliums übereinftimmen.
Der berühmte Kältephyfiter Kamerlingh
Onnes bat neue. Unterfudungen über die von ihm
zuerft beobachtete fog. Supraleiffähigleit' der Me:
talle angeftellt, über die er in einem dem 4. inter:
nationalen Kongreß für Kälteforfhung in London 1924
eıltatteten Referat berichtet Hat. Danach jtehen alle
Metalle, die die genannte Fähigkeit annehmen können,
um eine beitimmte Stelle des per. Syitems herum,
und die Supraleitfähigteit wäre beichräntt auf folde
Metalle, deren VBalenzelektronen nicht mit ihren Bahnen
in einander greifen.
Sehr intereffante neue Entdedungen jcdeint X.
Shüfarew (3S. f. phyſ. Chemie 113, 441; Phyſ.
Ber. 5, 332) gemadt zu haben. Er hat das Auftreten
eleftriiher Ströme in fierten magneliſchen Feldern
innerhalb eleftrolytiicher Löſungen beobachtet. Stellt
man wei gleihe Platineleftroden in ein Neaftions-
gemifh aus Eiſenchlorid und Jodkaliumlöſung, fo zeigt
fih Thon ohne Magnetfeld ein Strom, der von der
größeren zur fleineren Eleftrode geht. Steht nun die
eine derſelben in einem fräftigen Magnetfeld parallel
zu den Kraftlinien, jo wird plößlid ein neuer Strom
erzeugt, wobei die im Felde befindliche Elektrode pofi-
tio wird. Nod interefjanter ift ein anderer Verfud:
Gebt ein Strom durd) einen Elektrolyten und ftellt man
ſenkrecht zu ihm ein Platinplattenpaar auf, fo geht
124
zwiſchen diefen ein Strom über, jobald in der dritten,
zu beiden ſenkrechten Richtung ein magnetiſches Feld
erregt wird. (Der Verſuch erinnert an den befannten
„Halleffett“. Doh wird diefer Querftrom nur in
nächſter Nähe der Elektroden erzeugt). — Die Verſuche
verdienen es, möglichſt umfaffend weiter geführt zu
werden.
b) Orsaniihe Naturwiffeniaften.
Eine WAblenkungstherapie ftellt der Petersburger
Pſychiater W. Bechterew (Bd. 94 d. Zeitichrift
f. d. gef. Neurologie u. Pſychiatrie) der Pſychoanalyſe
gegenüber. Diejelbe foll bejonders dort Anwendung
finden, wo der jtörende Affeft nicht im linterbewußt:
fein des Patienten „eingeklemmt“ ift, jondern umge:
tehrt das Bewußtfein allzu ftart auf ſich konzentriert. .
Solde Tyälle liegen vor allem vor in den lafterhafter
Gewohnheiten, wie der Trunkſucht oder den ſexuellen
Verirrungen, bei welden die Triebvoritellung das Be-
wußtfein des Menſchen fo gefangen hält, daß derfelbe
feine Gedanken nit von ihr losreißen fann und
ſchließlich gegen die beiten Vorſätze die Iafterhafte
Handlung dodh wieder begeht. Uber aud feelilche
Störungen wie Angſt- und Depreflionszuftände find
oft auf eine derartige Konzentration des Bewußtſeins
auf einen Inhalt, das erſchütternde Erlebnis, zu:
rüdzuführen. In folden Fällen tann es alfo, wie
Bechterew ausführt, nicyt darauf antommen, den Sm:
puls erit aus dem Unterbewußtfein pſychoanalytiſch
berauszuheben, ſondern er ift vielmehr durch eine fugge-
ſtive Hinlentung des Bemwußtieins auf andere Tätig:
feiten oder Eindrüde aus dem SKonzentrationsfeld
binauszurüden.
Bon dem Einfluß der Konzentration auf die Perjön-
lichkeit handelt in demſelben Heft auh der Auffah des
Würzburger Piychologen K. Marbe „Ueber Perjön-
lichkeit, Cinftellung, Suggeſtion und Hypnoſe“.
Marbe deutet hier jede ſeeliſche Einjtellung als Be-
wußffeinseinengung und findet damit den Uebergang
zwiſchen der Aufmerfjamteitseinjtellung des Normalbe:
mußtjeins, der Wachfuggeftion und der Hypnoſe, in
weldem Fortgang diefe CEinengung immer höhere
Grade erreiht und dabei auch zu Verfchiebungen des
Terjönlidgleitsbewußtfeins führt.
Benugung der Pathologie zur Berufsberatung er-
itrebt ©. 3. Roffjolimo - Mostau „Piychotedhnif
Pſychologiſches Profil und Konftitution”, in dem:
jelben Band der erwähnten Zeitſchrift). NRoffolimo
Ichnt es ab, die Berufsberatung grundfählid nad
den Mapitäben des normalen Seelenlebens einzurichten,
da dodh gerade die Minderbegabten eine folde bejon-
ders nötig hätten. Er weilt dabei eritens darauf hin,
daß mit gewiffen Begabungsdejetten febr oft ein aus:
oleichendes Weberragen auf anderen Gebieten verbun:
den ift und gefteht dann manden pathologiidyen Ver:
anlagungen fogar einen Vorzug innerhalb einiger Be:
rufsbetätigungen 3u. So halt er die erhöhte Neal:
tivität der Hpfterifchen dort für vorteilhaft, wo es fid
um ein jchnelles Orientieren, feines Verftandnis und be-
deutende Suggeftibilität handelt. Oder Konftitutionen
mit Zwangsvoritellungen erjdyeinen ihm innerhalb der
~ Naturwiffenfchafttiche und naturphilofophifche Umſchau
`
— — — ——— — — — — — —
Berufe als nützlich, in welchen eine pedantiſche Ge:
nauigkeit gefordert wird. |
Eine weitere Abhandlung in diefer, Robert Sommer
gemwidmeten Nummer der erwähnten Zeitihrift be
ſchäftigt fih mit dem Problem der Willensfreihelt.
Otto Wiener berichtet zunädft über die Verſuche,
bei Lebewefen wie bei einem phylitaliiden Syſtem
de Wreiheitsgrade der Betätigung ſeſtzu
ſtellen. R. Goldſchmidt hat fo die Zahl der Frei-
heitsgrade beim Spulwurm auf rund 100000 abge:
ihäßt, indem er die in Zemielben vorhandenen Gang:
iinienzellen zählte und unter Berüdfichtigung ihrer ver-
'hiedenen Funktionen mit einander fomdinierte. Beim
Menſchen füme man auf dieje Weile zu einer Zahl
von freiheitsgraden, welde mit 1 und 6000 Nullen
geſchrieben werden mußte, alfo unvorftellbar groß ift.
Aus ihrer Größe ließe fid) wohl das Gefühl des Men-
ſchen erklären, in feinem Handeln frei zu fein.
Tiefer Gejamtheit der Freiheitsgrade ftellt Wiener in
feiner Abhandlung „Die Freiheit des Willens” dann
aber eine „Freiheitsbereitſchaft“ gegenüber; das ift die
Neigung zur Benußung diejer Freiheitsgrade, die febr
itar? von perfönlier PBeranlagung, Stimmung. Pe-
wußtfeinslage und Körperbefinden (Vergiftung, Tram:
tfenheit etc.) abhängig ift.
Die flüffige Seele erfährt in einem Aufſatz des Würz
burger Piydiaters Rieger über das Thema „Wie
gcht es im Gehirn 3u?” (Heft 2 und 3 des gleichen
Bandes der Zeitſchr. f. d. gef. Neurol. u. Pſychiatrie)
eine Art von Wiederbelebung. Bwar wird von R. die
alte Galen-Destartes’ihe Auffafiung von der dur die
Nervenröhren jtrömenden Seelenflüffigteit abgelehnt,
allein ihm jcheint doh ein Liquidum als Grundlage der
ſeeliſchen Gefichehniffe viel annehmbarer als das Soli-
dum feiter, nur durch eleftrifche Beeinfluffungen mit:
einander in Verbindung ftehender Nerventlümpden.
Die Tätigkeit der Zellen beitehe ja dod) auh innerhalb
des übrigen Körpers in der Abfonderung von Säften,
welde fih miſchen und chemiſch verbinden und dadurch
neue Wirfungen auf den Organismus ausüben. Des
halb fei auch als Tätigkeit der Hirnzellen vor allem
eine Abjonderung von Säften anzunehmen, welde in
unerdlih mannigfaltige Mifcyungsperhältniffe 3u ein-
ander treten können. Als folde Miſchung chemiſch
entſprechend beeinflußter Säfte fcheint Rieger die Ber:
bindung der verfchiedenen Empfindungen 3u der Quali:
tät einer aus ihnen hervorgehenden Stimmung oder
eines fie zufammenfafjenden Gedankens viel leiter
verftändli zu fein, als durd die Annahme irgend:
welcher Ueberleitungen zwiſchen ftarren, in die Nerven:
funftanz hineingeſenkten Eindrüden.
Schließlih fei aus dem fo reichen Anhalt des er-
wähnten Bandes der neurologiſch pſychiatriſchen Beit-
ſchrift noh auf die Erfahrungen mit der jekt fo viel er
mähnten GEncephalographie hingewiejen. Dieſes Ber:
fahren zur Teititellung von Hirngeſchwulſten bejtebt
in der Einführung von Luft in die Hirnhöhlen
(Ventrifeln) unter Abzapfung der diefelben erfüllenden
Flüſſigkeit, wodurch Kontraftwirtungen gegen fih etwa
in diefe Höhlen vorſchiebende Gehimmaflen erzeugt
werden, ſodaß diefe dann auf der Röntgenaufnahme
Raturwiffenfchaftliche und naturphilofophifche Umfchau.
deutlich hervortreten und Anhaltspunfte für eine Ope-
r:tion ergeben. Die Gefährlichkeit diejes diagnoſtiſchen
Terfahrens für den unterfudgten Patienten ift nadh den
bisherigen Ergebniffen relativ gering. Fleiſchhauer—
G:eben gibt hier in feinem Auffag „Zur Encephalo-
giahie“ eine Sterblidykeit von 1 Proz. bei gehirntranfen
Sudividuen an —, der CErmitielungswert des Ver:
j»Hıens hat fih demgegenüber als febr bedeutend er-
w.efen.
Das Arhiv f. d. gef. Piychologie bringt in feiner
legten Nummer (Heft 3 und 4 des 1. Bandes) eine
Abhandlung Wilhelm Steinbergs „Ueber die
Raumvorftellung der Bilindgeborenen.“ . Die pſycho—
legiiden Forſcher Golditein und Gelb hatten zu
dviefem Problem ihre Unterſuchungsergebniſſe an
einem Geelenblinden beigetragen, welder unter vor-
wiegender Benußung feines Tajtjinnes zur Erkennung
der ihm optiſch unertennbaren Gegenſtände zweifellos
3u feiner Borftellung ihrer Räumlichkeit tam, und
hatten daraus den Schluß gezogen, daß aud die Blind:
geborenen feine Raumporftellung befiten. Demgegen-
über erjdeint Steinberg die Forderung, welde der
Seelenblinde an feinen Taftjinn ftellt, doh allzu ver-
ihieden von dem Gebraud), den ein “Blindgeborener
von ibm madt, um derartige Schlüffe zu rechtfertigen.
Der Seelenblinde, der die Gegenſtände wohl fieht, aber
nicht 3u erfennen vermag, ſucht durch fein Taſten ein-
zeine Merkmale an denfelben aufzufinden, durch welde
er fie mit den ihm nod gebliebenen anſchaulichen oder
begrifflichen Vorſtellungen identifizieren tann. Der
Blinde aber juht nad) Beobachtungen Steinbergs durd
fein Taſten nit nur einzelne Erfennungsmertmale an
dem Gegenftand zu entdeden, fondern feine Geſamt—
form, alfo aud feine Räumlichkeit, aufzufaffen.
Rum Hauptbeweisftüd gegen den pſfycho⸗phyſiſchen
Parallelismus in Drieſch's Belämpfung desjelben
bringt Ernſt Mally-: Graz in den angegebenen
Heften des Pſychol. Ardios eine Entgegnung
aus den Grundfäßen der Mengenlehre. Drieſch
itelt nämlihd in feinem Buh „Leib und Seele“
den pſycho⸗phyſiſchen Parallelismus deshalb als un
möglid hin, weil die Mannigfaltigleit des Pſychiſchen
eine viel größere fei, als die mechaniſtiſch denfbare
Mannigfaltigteit des Phyſiſchen. Zu einem Erlebnis:
inhalt, weldem nad) dem Parallelismus eine Gehirn:
tonftellation als Korrelat entjprede, gäbe es immer
noch einen möglichen Aft feiner Erfaflung, zu welchem
dann fein entipredyender phyſiſcher Sadperhalt mehr
eriltiere. Die Gefamtheit möglicher phyfiiher Korrelate
jei alfo [don von einem Teil des Pſychiſchen „bededt”,
jodaß eine durchgängige Zuordnung des Pſychiſchen
zum Phyſiſchen nicht mehr möglid) fei. Diefen Ausfüh:
rungen jet Mally den Hinweis entgegen, daß aud die
Mannigfaltigkeit der phyſiſchen Konftellationen als
unendlich groß anzuſehen ift und daß nad) der Mengen:
lehre die Annahme unberedtigt ift, weil eine unendliche
Menge fi auf einer Teilmenge einer andern Menge
abbildet, könne fie nicht die gleiche Mächtigkeit befigen,
aljo die Möglichkeit, ihre Glieder ein — eindeutig
denjenigen der andern Menge zuzuordnen. Das foll
befagen, daß fi zu allen Anordnungen phyſiſcher Eie-
mente, welde Korrelate für Erlebnisinhalte find, dodh
125
immer noh Ronftellationen denten laffen, welche den
Erfafjungsaften diejer Erlebniffe entipreden. |
Bu der jekt ſoviel erörterten Frage nach Der
Aöglileit außerfinnlihen Wahrnehmens bringt das
14. Heft der „Umſchau“ ein bedeutfames Refe—
rat über Verſuche des Biologen Chr. Schröder
Derjelbe fuggerierte fenjitiven Perjönlichkeiten auf einen
unter 6 gleichen Objekten enthaltenden Gegenitand
gend ein Merkmal: auf einer Karte jollte ein Bild
dergeitellt fein, in einem Fläſchchen ſich ein Duftftoff
befinden etc. Die Aufgabe der Senjitiven war dann,
diefen ſuggeſtiv beeindrudten Gegenjtand wieder zu er-
fennen, ò. h. ihn aus der Zahl der ihm — abgejehen
von diefem fuggerierten Merkmal — völlig gleichen
Cbjekte herauszufinden. Auf die Ausichaltung aller
Hilfen, fogar telepatifcdyer Uebertragungen, wurde größ-
ier Wert gelegt. Troßdem ergaben fi 85 richtige
auf 25 falide Angaben. Die MWahrfcheinlichkeit, dah
diefes Ergebnis nicht dur) ein Wiederertennen, jondern
durch Raten zuftande gefommen ift, beträgt nad) Be:
rehnung Schröders 1 : 36 Septillionen; man müßte
36 Geptillionen mal raten, bis man einmal diefes Ber-
juchsergebnis zuſtandebrächte.
c) Naturphilofophie und Weltanfhauung.
In dem diesjährigen eriten Heft der „Pſychiſchen
Studien” finden wir einen Auffaß des bekannten Bio-
logen Drief h: „Die melapſychiſchen Phänomene im
Rahmen der Biologie.“ Drieſch entwidelt in diefem
Auffag zunächſt kurz zufammengefaßt die Gründe für
feinen Bitalismus und für feine Ablehnung der
Theorie des pſychophyſiſchen PBarallelis-
mus. Cr Hält es dadurh für erwieien, daß die rein
mechaniſtiſche Theorie ſchon bei der Erklärung der nor:
malen Lebenserjdeinungen verfage. Tür die Wir-
fungsweile der von ihm zur Erklärung eingeführten
Entelehien bezw. Pſychoide findet er drei Möglich—
feiten: die Entelechie könne ein materielles Syitem
zunächſt „drehen“, ohne feine Energie zu verändern, fie
tünne zweitens den Bewegungen der Materie Wider-
ſtände leiften (beffer wäre der Ausdrud: Bahnen vor:
zeichnen), wodurd die Atome ujw. gezwungen würden,
beftimmte Bahnen einzwichlagen oder zu meiden, endlich)
tonne die Entelehie nad) Drieſch's eigener „Suspen-
lionstheorie” das Geichehen eine beitimmte Zeit Hindurd)
einfach jupendieren (Energieausgleiche bis zum geeig:
neten Augenblid aufihieben). Bei allen drei Theorien
bleibe das Energieprinzip gewahrt, und aud das Prin-
zip der Eindeutigfeit des Naturablaufs könne als be:
ſtehen bleibend angenommen werden, man müffe nur
zur eindeutigen Borausberedynung der Natur nit nur
die materiellen, jondern aud) die entelechialen Elemente
vollftändig kennen. Jn einem leider ziemlich furz ge-
ratenen Schlußabjchnitt fommt Dr. dann auf das eigent-
lide Thema, wie fi in den Rahmen Ddiejes feines
Vitalismus die offulten Erjcheinungen einordnen wür—
den. Es bleibt hier bei dem nicht neuen Gab, daß das
mediale Unterbewußtſein in ähnlicher Weife die Materie
der Umgebung leite, wie die Enteledyie oder das Pſy—
choid den Organismus. Ich fann nicht finden, daß
mit einer folden allgemeinen Behauptung irgend etwas
gewonnen ijt.
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Ez
—
und
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— ——
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Ule in dieſer Zeitſchtift beipcod. guten Büchet beſotgt jede Buchhandlung und die Sorfimentsabt. des Kepierbundes
W. Liepmann, Weltihöpiung und Weltanihau-
ung. Volksverband der Büdjerfreunde, Wegweijer:
verlag, Berlin. 8 Abbildungen im Tert und 11 Ub-
bildungen auf befonderen Tafeln. 248 © — Da
der „Verband der Bücerfreunde“ im gebildeten Publi-
` Pum eine ziemlidy) weite Verbreitung hat, jo ift es von
bejonderem Intereſſe, was er an MWeltanjchauungs:
literatur feinen Mitgliedern bietet. Ein einziges Bud)
tann bier viel Segen, aber auch viel Unheil jtiften. Die
Gefühle, mit denen ich das vorliegende Bud aus der
Hand lege, find zwielpältiger Natur. Der Berfafler,
der auf dem Titelblatt als Univerfitätsprofeffor bezeit-
net ijt (melher Fakultät ift leider niht gejagt), bejitt
offenbar eine ziemlid; ausgedehnte Kenntnis der moder-
nen Naturmwiffenichaften, insbejondere der biologijden,
während ihm auf dem phyſikaliſch-chemiſchen Gebiete
bier und da Meine Irrtümer unterlaufen. Aber nidt
die rein ſachlichen Kenntniffe, die es vermittelt, geben
diefem Buche fein Gepräge, jondern der ftarte ethiſch—
idealiftiihe Ton, der die ganze Darftellung durchzieht,
und der freilich vielfady zu einigermaßen unklaren Ber:
gleihen, Bildern und Analogien verführt. Der Ber:
faffer jteht in bewußtem Gegenſatz zu Hcedel und allem
materialiftifhden Morismus. Er will diejen den Dualis:
mus von Materie und Geſetz (Logos) entgegenjegen
und ordnet nun, dem lebteren Begriff alles Höhere,
Steale unter. Daneben zeigt das Bud einen jtarfen
Einſchlag von Erotif. Das „Polaritätsproblem”, das
er von den pofitiv und negativ elektriſchen Urbeftand-
teilen der Materie über die jeruelle Differenzierung bis
zu den höchſten jozialen Differenzierungen verfolgen
will, fpielt eine beherrſchende Rolle in dem Bude. Ge:
rade dadurch wird es auf viele Lejer, vermutlich be-
ſonders die weiblichen, einen gewiffen Reiz ausüben,
dem jchärfer kritiſch geſtimmten Lefer dagegen wird
manche diejer Erörterungen allzu verſchwommen und
oberflächlich erſcheinen. Auch in den einzelnen be:
bandelten Problemen vermißte ih vielfad) die nüchterne
tritifche Klarheit. Das Körperjeeleproblem 3. B. wird
zwar ausdrüdlic behandelt, der Materialismus wird
dabei ſcharf abgelehnt, aber wo die eigentliche Schwierig:
teit ſteckt, das erfährt der Lejer aus diejem Kapitel nidt.
Die breit ausgeführte Lehre E. Beders vom „über:
individuellen Seelif hen“ löſt doh das eigentliche
Problem dom wahrhaftig niht, jondern ftellt nur einen
befonderen Fall vor. Ganz ähnlich erging es mir mit
dem Kapitel 8, weldjes das Leidensproblem behandelt.
Es ift ja gewiß richtig und gut, daß der Verfaſſer hier
auf die Tatſache — entgegen dem Peſſimismus Hardels
und anderer — nachdrücklich aufmerfjam madıt, daß
gerade die Größten der Menſchheit, ein Rembrannt, ein
Spinoza, ein Dante ujw., durch tiefites Leiden hindurch
ihre unfterblien Werte hufen. Die Darftellung nähert
ih hier ftart dem Kernpunkte der chriftlihen Belt:
anſchauung. Aber alle folde an fidh ſicher richtige Er:
mwägungen fünnen dod über die grundfäglide Schwer
des Problems der Dysteleologie nur hinwegtäuſchen,
wenn fie allein bleiben, ebenfo wie aud das Problem
des Böfen im befonderen niht damit abzumaden it,
daß man es, wie der Berfaffer als bloßes Zurüd in ie:
Entwidlung erklärt. Es ift befonders anzuerfennen, doh
der Berfaffer ſich an dieſer Stelle ſehr vorteilhaft von
dem uferlofen ethiſchen Optimismus der landläufigen
Fortſchrittsvorſtellung unterſcheidet. Er fieht flar und
hebt es hervor, daß der Sat „Der Menſch ift gut” eine
Unmwahrheit ausfpridt. Ebenſo verdient feine nüchterne
Beurteilung des pazififtifhen Problems alles Lob. Und
doch — bei aller Zuftimmung zu vielem, was er in
diefen Schlußfapiteln jagt — ich vermißte eines: ds
ijt die tiefere metaphyſiſche Grundlegung folder Gegen
jäge, wie gut und böfe, ſchön und häßlid Hier bleib
nad meinem Gefühl der Verfaſſer doh im Bord)
ſtehen. — Alles in allem darf man aber trog mange:
Bedenten im einzelnen fih doc wohl darüber freuen,
daß heute ein ſolches Bud) wieder auf einen ausgededn
ten gebildeten Leſerkreis rechnen tann. Es ift eines der
Symptome dafür, daß die Menſchheit den Materialis:
mus und das Eritiden in bloßer verftandesmäßige
Kühle gründlich) fatt hat. Der religiöfe Grundzug if
unverfennbar.
W. Ernjt, „Der moderne Menſch“. Zwölf Frog
und Antworten. (Halle a. S., 1925, Ev. foz. Preh
verband für die Provinz Sachſen.) Die zwölf Frager
diejer bedeutjamen Neuerjheinung find geftellt von eme:
Perſönlichkeit, welche die Sehnſucht des heutigen Men
iden nad) einer einheitlichen, zum Kern der Erſcheinun—
gen vordringenden Weltanfhauung nicht als ein afo
demifhes Problem betrachtet, jondern fie brennend in
ſich miterlebt. Sie werden beantwortet von einem
Denter, der ebenjo wenig der Wiſſenſchaft äußetlig
gegenüberfteht, jo daß er ihre Ergebniffe als in fih ab
geſchloſſene Einzelheiten hinzunehmen oder abzulehnen
hätte, der vielmehr von dem Geift der wiffenjhaftlihk"
Forihung aus ihren Behauptungen den Wahrheit‘
gehalt zu entnehmen vermag, melder in ihrem Yorigang
erſt nah und nah an die Oberfläche tritt. Bon diek!
Einjtellung zur Wilfenjchaft aus erörtert der Verfall!
hier die wiſſenſchaftiichen Aufftellungen, welde fo of
der Vertiefung unjerer Welt: und Lebensauffafjung we
unüberwindliche Hinderniffe im Wege geſtanden haben‘
den Darwinismus, den Entwidlungsgedanten, den
Hcedelfhen Monismus, die mechaniſtiſche Aufoflun
des Naturgefhehens ufw. Er erblidt dabei in MM
Entwidlungsgedanten eine wiſſenſchaftliche Ertennin“
von bleibendem Wahrheitswert, betont jedod), daß $
beim rechten Verftändnis feiner inneren Notwendigtete
— — ——
— ui we —
—E
Reue Literatur.
zu den entgegengeſetzten Folgerungen führt, als ei zus
erft zu haben dien. Der Entwidlungsgedanfe fordert
die Ablehnung der mechaniſtiſchen Geſchehensauffaſſung
und die Anerlennung geiltiger Geftaltungsträfte in der
Welt. Freilich dürfen diefe dabei niht auf menſchliche
Mapitäbe zugeidmitten fein. Wir müffen uns felbft
auf die Höhe des Beiltes erheben, wenn wir da3 Geiltige
in der Welt finden wollen. Zum Ausdrud diefer For-
derung findet der Berfafler bejonders in feinen Ant-
worten auf die Fragen nad „totem Zufall oder gött:
licher Borjeyung”, nad) der Möglichkeit des Wunders
und nad) der Notwendigfeit einer göttlichen Offenbarung
beionders eindringlide Worte. Wir müflen uns in
unferer ganzen Lebenshaltung für das Geiſtige ent-
iheiden, dann finden wir auh das Göttliche in der
Melt, deffen Offenbarungen wir fonft niht verftehen
oder in das Menſchliche und Untermenſchliche verzerren.
Diefe Ueberzeugung, daß es an un liegt, ob die Welt
einen geiftigen Inhalt Hat oder nicht, führt den Ber:
fafler zu einer freudigen Lebensbejahung und zu einem
feften Bertrauen in den Sinn der Gedichte, die aud
unfer Bolt durch Nacht wieder zum Licht geleiten wird.
Die Aſtronomiſche Zeitfegrif, herausgeg. von
A. Stenzel, eigener Berlag Hamburg, legt uns
drei Probehefte vor, auf Grund deren wir diefelbe
gern den aſtronomiſch intereffierten Lefern empfehlen.
Die Nummer enthalten u. a. Beiprechungen der neuen
Ralenderpläne, der lebten Marsbeobadhtungen mit zwei
pertrefflien Bißtafeln, wertvolle geſchichtliche Bei-
träge uff.
H. Keller. Die Die Halllofigleit der Relativi-
Sätstheorie. Verlag D. Hillmann, Leipzig. Geh. 1.20 M.
Der beigegebene „Wadjzettel“ lautet:
„Diefes Wert erbringt den ımanfechtbaren Nachweis,
dah die Grundbegriffe, auf denen fih die Einftein-The-
orie aufbaut, in ein leeres Nichts zerfallen, und eben:
fowenig beweifend find auch bei näherem Zuſehen alle
die jogenannten glänzenden Beitätigungen, die fie im
Laufe der lekten Jahre durch praktiſche Forſchung er: .
fehren haben will”.
Na affo, warum maden denn die Phyfiler immer
nod jo viel Aufhebens davon?
A. Helffenftein. Das Weſen der Stoffwelt.
Uundamentalertenntnifie, Verlag Fr. Deutide, Le. u.
Wien. Der Berf., der fi darüber beidywert, daß die
Kritik fein früheres Werk über die „Energie und ihre
Formen“ abgelehnt habe, will feine Grundgedanten
bier näher ausführen. Wie ausgezeichnet ihm das ge-
lungen ift, beurteile der Lefer an folgenden Proben:
„SAofidyte ift die Stoffmenge in der Raumeinheit.
Gravel ift die Stoffdichte des Punktes. Gravital ift
der Kreuzungspunft von Stoffbewegungen . . . Atom-
tern ift das aus einer Mehrheit von Gravitafen durd
eine felbftändige gemeinfame Bewegung entitehende
Gebilde” uff. in dulce infinitum. Fett angeftrichen
heißt es auf ©. 72: „Es knüpfen die Schwerlinien von
der Sonne ausgehend, mit den Fäden der Planeten-
ſchiffchen tagein tagaus im Raume eine Unendlichkeit
von Knoten ..... Das Verbinden und Löfen der
Knoten zeigt fi im Flimmern der Siere, hin und
wieder reihen größere Stofftnäuel, eine Sternfchnuppe
leuchtet auf und veridwindet lautlos.”
127
T. R. Deiterreih. Das Weltbild der Gegen-
wart. 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage
E. Mittler u. ©. Berlin. 7.50, geb. 10.— M. Dies
beroorragende Bud, deffen erfte Auflage leider ms.
Ws. in U. W. nit zur Beiprechung vorgelegt ift,
verdient die wärmite Empfehlung und zwar trog des
Bedentens, das die Neigung des Berfaflers zum Otkuf-
tismus erwedt. De. hat es verftanden, fein ganz fabel-
haftes Untverjalwiffen Hier für die Gebildeten aller
Stände fruchtbar zu maden. Es ift taum ein Gebiet
ſawohl der Natur: wie der Rulturwiflenfchaften, in dem
er fi nicht als gründlider Sachlenner erweilt. Gin-
zelne kleine Irrtümer, die ihn hie oder da untergelaufen
fein mögen, haben gar feine Bedeutung Das Beſte
an dem Bude ift das legte Kapitel „Die lebten Pro-
bleme”. Hier entwidelt der VBerfafler in meifterhafter
Klarheit auf dem Grunde eines entichloffenen ertennt:
nistheoretifhen Realismus im Sinne Meinongs und
Huflerls eine umfaffende Wertphiloſophie und endet
mit der Frage nah Herkunft und Sinn der Welt und
des Lebens. Wenn er diefe au nit in fo pofitiv
religidfem Sinne beantwortet, wie id) gewünfdyt Hätte,
jo zeigt er dodh fo Mar den Punkt, wo die Religion an-
zuſetzen bat, daß er tauſenden unferer Gebildeten, denen
der herfömmlide kirchliche Weg verbaut ift, ein Führer
werden fann. Daß er in ühnlihem Sinne wie Den-
nert u. a. den Okkultismus als den wiſſenſchaftlich
eratten Nachweis der Eriftenz des Weberfinnliden an-
nimmt und darauf weiterbaut, bedaure ih zwar aus
den mehrfach in dieſer Zeitichrift dargelegten Gründen,
aber zum Glüd ift ja der Weg zum geiltgen Gehalt
der Welt auh von anderswoher zugänglicy und Oeſter⸗
weih ift fiher der legte, der dieſen anderen Weg
leugnete. Das Bud) fei als Geſchenkwert, insbejondere
für die mit den Weltanfhauungsnöten ringenden jum-
gen Menſchen von 18—25 Jahren, dringend empfohlen.
Es hat meines Willens im der deutfden Literatur der
Gegenwart nit feines leiden, denn die anderen
parallelen Berfude, 3. B. der von Liepmann
(Beipr. auf vorhergehender Seite) können fi) mit diefen
nicht entfernt an ſachlich wertvollen —— und Weite
des Ueberblicks meſſen.
D. Mahncke. Leibniz und Goethe, die Harmonie
iger Weltanfigten. Berlag Stenger Erfurt. Heft 4
der Folge „Weisheit umd Tat“ herausgegeb. v. A. Hof:
mann. 2.75 M.
Der Berfafler, unferen Qefern fein Fremder, der jebt
verdientermaßen den Weg von der Schule zur Uni:
verfität gefunden hat, entwidelt in diefer Schrift, die
ihrer Borgänger durchaus würdig ift, nicht etwa im
Sinne eines „deutihen Aufſatzes“ Parallelen zwiſchen
Goethe und Leibniz, fondern er gibt weit mehr. Als
herooragender Leibnigforfcher zeigt er, was für Schähe
aud für das modernfte philofophifhe Denten, ja gerade
für diefes in Leibnizens jo oft verjpotteter Monadologie
tiegen. Mahnde ift von Haufe aus Mathematiker,
man merkt auf Schritt und Tritt feine genaue Kenntnis
der neueſten mathematiichen Forſchungen. Er hat aber,
wie er felber in einem ebenfo treffliden Aufſatz in den
„Unterridtsblättern für Mathematit und Naturmwiflen-
ſchaft“ jüngft dargelegt Hat, den Weg „Bon Hilbert
3u Huſſerl“ gefunden, ò H. er ift einer der wenigen,
128 Ä Bu Neue Literatur.
und vollftändigen modernen Willens zur metaphyfijchen
„Meiensihau” vorzudringen. . Sein Ergebnis faßt er
in die Worte: „Leibnizens Monadenlehre vereinigt
mit dem objettiviftiiden Unmerfalismus dod) bereits
einen qualitativen Pluralismus und ſubjektviſtiſchen
Individualismus. Sie bereitet damit jhon die große
Syntheſe vor, die dem Geilte der Gegenwart als feine
höchſte Aufgabe geitellt ift: die Leberbrüdung der tie:
fen Kluft zwiſchen den univerfal geſetzlich erflärenden
Naturmwiflenidyaften und den individuell beichreibenden
GBeifteswiffenichaften ... und damit zugleich die Ueber-
windung des Maffenden Weltanſchauungsgegenſatzes
3wilchen der rationalen Geltungsphilofophie und der
irrationalen Lebens: und Erlebnisphilofophie”. Im
Schlußabſchnitt zeigt er, daß Leibniz allerdings dodh
etwas einfeitig die eine Seite der Gade, die univerjal:
mothematifche, bearbeitet hat und daß er deshalb durch
Goethe, den Lebenstünjtler und Typus der freien Per-
jenlicyfeit 3u ergänzen ift. — Die Lektüre diefes Bu-
des war mir ein ebenjo großer Genuß, wie die des
„Willens zur Ewigkeit” (vgl. U. W. 1922, ©. 266).
Mögen recht viele unferer Lefer fih an ihm ebenjo er:
bauen. Solde Philojophie ift es, die wir brauchen.
Dr. med. Fr. v. Kügelgen, Die Mangel-
krantheiten (Avitaminofen). Verlag C. Pahl, Dresden.
Geh. 2.40, geb. 3.20. Der Berfaffer, offenbar ein
heroorragender Sachkenner auf dieſem neuentdedten
Gebiet der Ernährungswiſſenſchaft, verfteht unter Man-
gelfanfheiten die Folgen ungemügender Zufuhr jener
merfwürdigen Stoffe, die man zumeijt heute mit einem
wenig glüdliden Ausdrud Bitamine nennt. Wenig
giüdlid) deshalb, weil nämlich nur einer davon, das
von Fun? fogenannte Vitamin B, die in der orga:
niiden Chemie mit dem Namen Amin angedeutete
Atomgruppe N Hz» enthält; die anderen Stoffe will der
Berfaller deshalb lieber Ergänzungsitoffe oder Kom-
pletine nennen. Er zeigt im einzelnen, welde Krant:
heitsbilder durch Mangel der einzelnen Kompletine
altein oder durch gleichzeitigen Mangel derfelben und
gewiffer Nährfalze, vor allem des Kalts, entitehen.
Tas Bud wird vorausfichtlid) zu einer neuen Offen:
barung für viele werden, leider jteht zu befürchten,
daß jegt die Vitaminitis die weitelten Kreife verjeuchen
wird. Uber daran ift nicht der Berfafler ſchuld, fon:
dern der Unpverjtand der Menden. Sein Bud hat
tatfächlich vielen viel zu jagen, auch den Werzten. Es
ftcht völlig auf wiſſenſchaftlicher Höhe und darf nidi
mit den üblidyen populären G@ejundheitsbüchern ver:
mechlelt werden.
Fr. Brave, Das Chaos als objeftive Weltregion.
MW de Grunter, Leipzig-Berlin, 250 M. Der Ber:
faffer, der Thon im dritten Bande der „Beiträge zur
Philoſophie des deutfhen Idealismus” eine furze Dar-
legung feiner Hauptgedanten gegeben Hat, entwidelt
in diefem Buche ausführlider feinen Verſuch, von der
Kantifchen Erkenntnistheorie aus 3u einem transcen-
dentalen Realismus der Metaphufit vorzudringen.
Cı fegt febr richtig auseinander, daß bei Kant zwar im
Grundſatz die Verankerung der Erfenntnis auf zwei
gleichberechtigten Tragpfeilern, dem jubjeftiven und
dem objektiven, fejtgehalten, daß aber praftiih nachher
. funden und kranken Tagen.
alles Allgemeingiltige doch völlig auf die jubjeftive
Seite gefchoben jei, fodaß für das unerfennbare „Ding
an fih” überhaupt feinerlei Beitimmung mehr übrig
bleibe. Brave will nun zeigen, wie in den apriorijchen
Formen Kants in Wahrheit legte Wurzeln der Dinge
felbjt zutage kommen, die ebenjomohl dem Subjeft
wie dem Objeft angehören. Sie gründen fih in einer
Meltregion die „unterhalb“ dieſer Spaltung liegt,
welche ſich erft im Ertenntnisaft vollzieht. Dieſe Re-
gion nennt Grove die chaotifche, ihre vier Element:
gruppen find die Qualität, die Dimenfion, die Geſtaltung
und die Bildung. Dieſen entiprechen die vier Reiche
des Stoffes: der Kriftalf, die Pflanze, das Tier und
der Menih. Die Durdführung diefes Stufenbaus
ſyſtematiſcher Viergliederung ift für meinen Geihmad
reichlich myſtiſch. „Gemöhnlid meint der Menih,
wenn er nur Worte hört, es müfle fih dabei doch et:
was denten laffen”. Das jagt derfelbe Goethe, in deffen
Beilte der Berfaller das Reih der „Mütter“ zitiert.
Jun, der Alte von Weimar hat ja auh — und viel-
leiht mit gutem Bedacht — allerlei in feinen Fauft
hineingeheimnift. Das Bud aber will ebenfalls, wie
es in der Einleitung Heißt, feine wiflenichaftlide Er:
flärung, fondern eine „Zuſammenſchau m Sinne
Platos“ fein. Soldye Verſuche find an fih zu begrüßen
man muß freilich die große Gefahr dabei nie vergeifen.
daß das metaphyfiihe Gebäude den Boden unter den
Füßen verliert oder in reine inhaltsleere Wortverbin-
dungen ausartet. Ganz feint mir der Berfaller diefer
Gefahr niht entgangen zu fein. Man fann aber trog:
dem allerlei aus feinen Gedantengängen lernen.
Dr. med. I. Fincth. Schlaf und Traum in ge-
(Verlag der Aerztlichen
Rundihau, Otto Gmelin, Münden 1924. 38 St.
Preis 1 A). Die Abficht diejes in der Sammlung
„Der Arzt als Erzieher” erfchienenen Heftes ift weniger
die, wilfenichaftlihe Theorien über Schlaf und Traum
in ihrer größeren oder geringeren Wahrjcheinlichkeit
darzulegen, als vielmehr hinzumweifen auf die mannig-
ialtigen Erfcheinungen, melde Schlaf und Traum im
Wechſel von Gefundheit und Krankheit bieten, uno jo
die Unterlagen für die Bejeitigung der unerwünjdten
unter ihnen zu ſchaffen. Befonders bei der Beiprehung
der Schlafpemmungen gibt die Abhandlung bedeutjame
erzieheriiche Hinweiſe.
Druckfehlerberichligung
©. 90, Spalte 1, 3 .8 v. o., lies: „Etalon“ ſtatt
Elaton.
©. 91, Spalte 2, 3.3 v. o., ſtreiche das Wort „man“.
©. 91, Spalte 2, 3.9 v. o., ftreihe das Wort „Bon“.
Schluß des redaktionellen Teils.
Deutihe &lepperboote am Nordpol.
Amundfen nimmt zu jeinem, anfangs Mai beginnen:
dem Fluge nah dem Nordpol in jedem feiner Flug—
3euge ein Klepperboot mit.
Diefem Heft liegt ein Projpeft bei der Firma H. U.
Wiechmenn, Münden.
— — —— —
annann
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und Realpeogpinnaftum
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Dirett.: Prof. O-Rüpnein Dodesberg —
fliegt im bejegten, Heren im
pr
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Schriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Aufjäbe ftehen die Verfafler; ihre Aufnahme maģi fie nit zur Yeuberung des Bundes.
XVIL. Jahrgang
Juni 1923
Heit 6
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I
Dah Leibniz, der Erfinder des baroden Sy-
jems der präftabilierten Harmonie und Bater
der längft verftaubten rationaliftiichen Auf-
tlärung in Deutfchland, für das GBeiftesleben des
2. Jahrhunderts von Bedeutung fein foll, wird
vielleicht nicht wenige Leſer unwahrſcheinlich, ja
unglaublich dünken. ber für den Tiefer-
Llidenden mehren fih die Anzeichen, daß der
Geiſt des erſten deutſchen Denkers von Weltruf
berade gegenwärtig — trotz der zwei Jahrhun—
derte, die ſeit ſeinem Tode verfloſſen ſind — in
Philoſophie und Wiſſenſchaft zu neuem Leben
erwachen will. Schon äußerlich ift eine ftarte
Zunahme des Intereffes für ihn an dem ge-
waltigen Anfchwellen der Zeibnizliteratur in den
legten Jahrzehnten zu bemerken. Seit um bie
Jahrhundertwende faſt gleichzeitig und ganz un-
“bhängig von einander in England, Frankreich
und Deutichland drei große neue Leibnizdar-
ſtellungen (von B. Ruſſell, L. Couturat und
€. Caſſirer) erſchienen find, die in feinen philo-
ſophiſchen Werten und Handfchriften ganz über-
lehene Iogifche und erfenntnistheoretifche Tiefen
aufdeten, und feit im Jahre 1901 die inter-
nationale Affoziation der Afademien die immer
noch fehlende neutrale Gefamtausgabe feiner ge-
drudten und ungedrudten Scriften und Briefe
endlich zu ſchaffen befchloffen hat, find von der
unermüdlich fortfchreitenden Leibnizforfchung
mmer neue, wichtige Ergebniffe ans Licht ge-
bracht worden. Ich nenne nur die allgemein
geiftesgefchichtlichen und individuell entwicklungs—
gelhichtlihen Unterfuhungen von W. Dilthey,
B. Rabig und P. Beterfen, die Wiederentdedung
der innigen Beziehungen Leibnigens zur reli-
giöfen Myſtik durh J. Baruzi und H. Heim-
Bon Dietrich Mahnte,
Greifswald. H
joeth, endlich die tiefere Erkenntnis der har-
moniſchen inheit aller verfchiedenen Geiten
feiner univerfalen Gedankenwelt durch W. Win-
delband, P. Köhler und H. Pichler. Auch ift
1923, nah langen, mühevollen Jahren der Bor-
bereitung, bejonders P. Ritters, der erfte große
Band der Gefamtausgabe erichienen, enthaltend
den allgemeinen, politifhen und hiſtoriſchen
Briefwechſel bis 1676, von dem volle zwei Drittel
bisher noch nie veröffentlicht waren; es ijt jekt
allerdings ein rein deutfches Wert geworden,
nahdem der Weltkrieg die internationale Bu-
jammenarbeit der Gelehrten, befonders der fran-
zöſiſchen mit den deutichen, aufgehoben hat.
Aber wichtiger nod ift, daß dies eindringende
Leibnigjtudium, je tiefer es fidh in den Geiſt dcs
großen Denters der Vergangenheit ver:
ſenkt hat, diefen in umfo größere Nachbarſchaft
zu unſerer Gegenwart gebracht und ihn uns
immer vertrauter und lebendiger gemacht hat.
Es ift fajt unbegreiflich, wie viele gerade jetzt at-
tuelle Probleme diefer Mann — der freilich
feinen Zeitgenoſſen ein unbegreifliches Wunder
war (pro monstro erat) und den fie garnicht
oder hödjftens ganz äußerlich verstanden — fchon
vor 250 Jahren in feinem weitblidenden Geiſte
vorausgeſchaut und zu löſen verſucht hat. Leib—
niz iſt noch nie ſo „modern“ geweſen wie heute,
denn erſt der gegenwärtige Stand der Forſchung
befähigt uns überhaupt voll und ganz, die Fra—
gen zu verſtehen, mit denen er ſich gequält, und
die Antworten, die er vorahnend darauf ge—
geben hat.
Gewiß, Leibniz war auch ein Kind ſeiner Zeit,
und man hat ihn mit gutem Recht als den ty⸗
piſchen deutſchen Barockphiloſophen bezeichnet.
Aber auch das iſt, tiefer geſehen, kein Beweis
130
gegen, fondern für feine Verwandtſchaft mit der
Gegenwart. Denn gerade jekt beginnt man ja
eingufehen, wie unrecht es war, in der Kunſt des
Barot nichts als ſchwülſtige Künftelei zu finden,
während fih in Wahrheit in feinen dekorativ
überladenen Bauten und feinen alles auflöfen-
den, nicht Scharf abgrenzenden Monumental:
gemälden die Freude am Spiel aller Kräfte, das
Streben nah geiteigerten Aktion und ein un:
befriedigtes Sehnen ins Unendliche auslebt. Es
ijt das ewig gleiche fauſtiſche Weſen des mo-
dernen, germaniichen Menfchen, das, wie in den
Gemwändern aller andern Beitalter der deutfchen
Geſchichte, fo auch im künftlerifchen Stile des
Barodjahrhunderts zur Erfcheinung kommt.
Und fo ift es im legten Grunde auh der edhte,
alte und immer neue deutjche Geift, der in den
verfchnörfelten Syſtembauten des „konſtruktiven
Rationalismus” (wie Dilthey fagt) und ins-
bejondere in der Leibnizſchen Monadologie le-
bendig ilt.
Wölfflin charakterijiert in feinen „Lunftge-
Ichichtlichen Grundbegriffen“ den Unterfchied der
Barod- von der Renaiſſancekunſt unter anderm
durch die Gegenfäße 1) des malerifch verjchmel:
senden Helldunfels zur tfolierenden Umrißzeich
nung, 2) der offenen, fast aufgelöften Form zur
geichloffenen, klaſſiſch ſtreng gefügten Tektonik,
3) der Einheit des Motivs zur Vielheit gleich—
berechtigter Teilſtücke, 4) der drängenden Bewe—
gung nach dem Hintergrunde, in die Tiefe, zur
Ruhe des flächenhaften Nebeneinander. In
ollen dieſen Ausdrucksformen gehört auch der
Leibnizſche Gedankenbau offenſichtlich dem Ba—
rockſtil an. Denn 1) auch in ihm find, wie in
Rembrandts Malerei die fcharfen Grenzlinien der
distreten Einzelwejen verwiſcht durch das Prin-
gip der Kontinuität alles Geins und Gefchehens.
Snsbefondere auf piychologifhem Gebiet löſt
Leibniz die feiten Umriffe der felbjibewußten
Einzelfeele auf durch die „petites perceptions“,
die unendlich) ſchwachen Empfindungen, ſozuſagen
die Empfindungsdifferentiale, in denen fidh unter
der Schwelle des individuellen Bemwußtfeins das
ganze übrige Univerfum geltend madt. 2) Auch
die atektonifche Form oder vielmehr Formilofig:
tcit ift bei Leibniz, 3. B. in der Kompojition fei-
ner Schriften, leicht wieder zu erfennen. Nir-
gends finden wir ein gejchloflenes Syitem, fon-
dern immer wieder neue Cingzelprobleme, mit
einer verſchwenderiſchen, faſt überladenen Fülle
von Kenntniſſen und Gedankenblitzen erleuchtet,
aber nie endgültig gelöft. Ich dente etwa an das
Wer? Leibnizens, das dem Geifte feiner Zeit am
beiten entiprad), an die Theodizee. Welden
Leibnizens Gegenwartsbebeufung. i
Reichtum von intereſſantem Wiſſensſtoff jchüttet
er da aus, wie weite Ausblide eröffnet er nad)
allen Geiten, aber wie formlos und unfyfte-
matifch ift das Ganze angelegt! Und doch ift 3)
diefe unüberfichtliche Mannigfaltigkeit eine große
Einheit, zujammengehalten durch die gleiche
Grundjtimmung und das einheitliche Grundmo-
tiv. Alle für fih bedeutungslofen Einzelheiten
jind auf denfelben majeftätifchen Gefamteindrud
hin geſchrieben: alle follen gottes= und weltfrobe
Begeifterung weden für die Lehre der Harmonie
des Univerfums, in deren Dienft alle Individuen
ftehen, jedes an feinem befonderen Plage. End- .
lih 4) gehören Leibnizens Lebensftil und Welt-
anfchauung auch imfofern dem Barot an, als in
ihnen an die Stelle der Statik die Dynamit. an
die Stelle der flaffiichen Ruhe die moderne At-
tivität, der unendliche Schaffensdrang, das Seh-
nen und Streben nach immer neuen Dimenfionen
des Wirkens getreten ift. Der Begriff der Kraft
und Energie Steht im Mittelpuntt der Leibniz.
ſchen Naturmwiflenfchaft und Philofophie, wie auch
der rajtloje Tätigfeitstrieb den Grundcharakter
feines perfönlichen Lebens ausmacht.
Die legten Punkte aber zeigen deutlich, daß die
Einreihung der Lebens: und Denkart Leibni-
zens in das Baro? (im Gegenfate zur Re-
nailfance) eigentlih etwas ganz anderes und viel
Zieferes bedeutet als ihre Zugehörigkeit zum
Ausdrudsftil einer bejtimmten, eng be-
grenzten kunſtgeſchichtlichen Epoche. Es handelt
ji) dabei vielmehr um eine allgemeine Charat-
terifierung feines Geiftestygpus, in dem die
jeelifhen Eigentümlichkeiten der modernen, ger=
manijchen, nicht der (in der Renaiſſance wieder
erwedten) antifen, griechiſchen Kultur aufge:
wiejen werden. Es ift dasjelbe, was Worringer,
nicht nur in der Kunft, fondern aud) in der Did
tung und Mujit, das „Botifche” nennt: die un:
unterbrochene Steigerung, die unendlice Melo-
die, das unruhige Drängen und Sehnen nad) der
Höhe, wie es in den himmelanftrebenden goti-
jhen Türmen und fo vielen anderen Aeußerun—
gen des germanijchen Wefens zum Ausdrud
fommt. Auh Epengler hat eigentlich genau das
Gleiche im Auge und erweitert es nur auf alle
Gebiete des Geifteslebens, wenn er in feiner
Morphologie der Geſchichte die Weſensverſchie—
denheit der fauftiihen von der apolliniicdyen
„KRulturfeele” herausarbeitet.
Leibniz, der Barockmenſch — das bedeutet alfo
im Grunde, daß er dem fauſtiſch-germaniſchen,
nicht dem apollinifch-griechifchen Seelentypus an—
gehört. Und in der Tat: feine Mathematit ift
nicht die euklidifche Geometrie der endlichen,
itarren Figuren, fondern die Infinitefimalred;-
nung der fließenden Funktionen, feine Phyſik ift
nicht materielle Atomiftit, fondern Dynamit
oder richtiger Energetik, feine metaphyfifchen
Grundeinbeiten find nicht ruhende, distrete Sub-
tanzen, fondern Geſetze kontinuierlicher Ber-
änderungen, feine ganze Arbeitsweife ift nicht
der vollendende Ausbau arditeftonifch ge-
ſchloſſener Werte, jondern die Konzeption gran:
dıofer Ideen, deren Ausführung die Menjchen-
fraft weit überfteigt. Sch dente 3. B. auf prat-
tiſchem Gebiete an feine ungeheuren Pläne zur
miffenichaftlichen, religiöfen und überhaupt ful-
turellen Organijation der ganzen Erde und
Menſchheit, oder auf theoretifhem Gebiet an
feine gewaltige Idee der Univerfalmathematit,
ja der scientia generalis, d. h. eines mit ab-
foluter logiſcher Strenge aufgebauten Syftems
aller möglichen wiſſenſchaftlichen Syiteme,
das die relativ wenigen in der Waturvermwirf-
lihten Syiteme als ein paar ganz fpesielle
Einzelfälle in fih begreifen foll. „Fertig“ wer-
den können Ideen diefer Art natürlich nicht, aber
fie auh nur gu planen, erweitert ſchon den Blig
des Menſchen ins Unendliche und befriedigt fein
fauftifches Sehnen, ſoweit dies überhaupt zu be-
friedigen ift: „3m MWeiterfchreiten find er Qual
und Glüd, Er! unbefriedigt jeden Augenblid.“
In all dem ift Leibniz zwar Barockmenſch, aber
zugleich viel mehr als das, nämlidy ein Typus
des fauftifch-germanifchen Menfchen überhaupt.
Er gehört damit dem großen, einheitlichen Strom
der eigentümlich deutfhen Weltanjchauungs:
bewegung an, die fih (wie bejonders eindrüd-
lid H. Heimfoeth gezeigt hat) um 1300 auerft in
der deutſchen Myſtik des Meifter Edhart nieder-
gejchlagen hat, die dann durch Nikolaus von
Rues und feinen Bopularifator Giordano Bruno
auf die ganze europäifche Philofophie gemirtt
bat, in Deutfchland jelbjt aber von Männern wie
Paracelfus, Balentin Weigel und Jakob Böhme
weiter gepflegt worden ift und hier auh endlich
ihren Höhepunftt im Zeitalter des Ddeutfchen
Sdealismus und der Romantik, durch Denter wie
Fichte, Schelling und Hegel, auh Krauſe und
Schleiermacher, erlebt hat. Als typifcher Ber-
treter dieſes deutſchen Idealismus ift Leibniz
nicht mehr ein bloßes Kind feiner Zeit, jondern.
Repräfentant eines überzeitlich bedeutjamen
Geiſteslebens. Manche Aeußerlichkeit feiner Qe-
bens: und Dentweile, die uns fonderbar düntt,
mag barode Dekoration, eine Ausdrudsform
feines fpeziellen Rulturzeitalters fein. Aber es
ift leicht, dies zeitgefchichtlich bedingte Ranten-
wert abzulöfen und dahinter die großen Linien
Zeibnizens Gegenwartsbedeutung. —
main von Raspe veröffentlicht wurden.
131
des univerſell und ewig Gültigen bloßzulegen
— wie man auch ſein Bildnis nur von der ent—
ſtellenden Allongeperücke zu befreien braucht, um
den eigentlichen, wahren Menſchen wieder zu
finden, der ebenſogut auch noch heute unter uns
leben könnte.
Darum iſt es verſtändlich, daB Leibnizens Welt-
anfehauung nicht nur einmal, als fie zuerſt ans
Licht trat, fondern noch ein zweites Mal in der
deutichen Geiftesgejchichte Epoche hat machen tön:
nen und daß fie fogar, wie mir fcheint, bald noch
ein drittes Mal Epoche machen wird. Leibniz ift
ja zunächſt zwar der Vater der rationaliftifchen
Aufllärung in Deutichland geworden. Aber ei-
gentlich waren es Doch nur wenige, meift ero-
terifche Schriften von ihm, die zur Hauptgrund-
lage des Geifteslebens des 18. Jahrhunderts ge-
worden find, während die große Menge feiner
efoterifchen Werte ungedrudt und unbekannt in
der furfürftlichen Bibliothef zu Hannover fchlum:
nıerte. Ein ganz neuer, tieferer Leibniz offen-
barte fih der erftaunten Nachwelt, als 1765 die
Nouveaux essais sur l’entendement au
ür
Kant wurden diefe der Anftoß zur Schöpfung
feiner neuen Bernunfttritit — und dadurch zu:
gleich zum Fundament für die ganze weitere
Entwidlung der Bhilofophie. Leſſing und Her:
der wurden durd fie in der Ausgeftaltung ihrer
eigenen Weltanfchauung bejtimmend beeinflußt.
Und die von ihnen bei Leibniz wiederentdedten
und meitergeführten Lehren vom unbemwußten
Geelenleben und vom geſchichtlichen Entwid:
lungszufammenhange der Menjchheit bahnten
dann den Weg über die Auftlärung hinaus zum
Zeitalter des Sturmes und Dranges, der Klajjit
und Romantik, von dem die irrationalen Tiefen
und Die geitesgefchichtlihen Bindungen der
Seele wieder entdedt wurden. Nicht nur Shil-
ler, fondern auch Goethe bekannte fih, was man
oft überfehen hat, zur Leibnizſchen (Individuali:
tät und harmoniſchen Zufammenhang vereini-
genden) Weltanſchauung. Fichte erflärte dann
Leibniz fogar für den einzigen leberzeugten
und mit Recht Ueberzeugten von allen Philo-
fophen, und Schelling hielt ebendamals die Zeit
für gefommen, um feine Philofophie aufs neue
mwiederherguftellen.. Denn er habe „in fih den
allgemeinen Geift der Welt, der in den mannig:
faltigften Formen fih felbjt offenbart und, wo
er hinfommt, Leben verbreitet.”
Neue Lebensfeime, die von Leibniz jtammen,
find auch in der philojophiichen Entwidlung des
19. Jahrhunderts immer wieder emporgefproßt.
Leibnizianer waren vor allem Herbart und
132 Leibnizeng Gegenwartshedeutung.
Bolzano mit ihren zahlreichen Schülern (unter
denen 3. B. Robert Zimmermann geradezu von
einer „MWied-rerwedung Leibnizens” in jener
Zeit gefprochen hat), dann einige Jahrzehnte
Ipäter Weiße und Trendelenburg, endlich, wieder
etwas fpäter, Loge und Wundt, deren erfterer
bejonders in der Tiefe, deren leßterer befonders
in der Univerfalität feiner Gedantenwelt an
Leibniz erinnert. (Weitere Zufammenhänge
Wundts und Leibniz’ und den von ihm ausge-
henden deutfchen Idealismus hat fürzlich P. Pe-
terfen, Wundt und feine Zeit, ©. 285—288, þer-
ausgearbeitet).
©o ift es denn tein Wunder, daß aud in der
jüngften Bcrgangenheit wiederholt an. Leibniz
angefnüpft worden ift, und zwar gerade von
führenden Dentern. Schon die Hauptvertreter
der Marburger Kantſchule haben vielfadh, 3. B.
mit ihrer Syntheſe von Sinnlichkeit und Ber-
nunft, Individualität und Univerfalität, über
Kant auf Leibniz zurüdgegriffen; ich erinnere
an Cohens Logifierung der Anfchauung und
Natorps Verſchmelzung der Monadologie mit
der „allgemeinen Logik“.
Neukantianern hat Windelband nicht nur Leib-
nizens Philoſophie Hiftorifch als die allfei-
tigjte und umfaſſendſte in der ganzen Geiftes-
geichichte gewürdigt, fondern feine Monadologie
auch ſelbſt ſyſtematiſch fortgebildet, durch
Anwendung auf ein neues Gebiet, die Ge—
ſchichtsphiloſophie (ſ. ſeine Einleitung in die
Philoſophie, S. 88—92, 343—346). Auch
Troeltſch hat Leibniz für den „eigentlich führen—
den deutſchen Denker“ gehalten und iſt nur, bei
ſ inem eigenen hiſtoriſchen Relativismus, durch
Leibnizens mathematiſchen Abſolutismus abge—
halten worden, tiefer auf ihn einzugehen. Da-
gegen hat Hufierl, der Zertrümmerer des fubjet-
tiviſtiſchen Piychologismus und Begründer der
objektiv gültigen Phänomenologie, in feiner
„reinen Logit” mit bewußter Abficht Leibniziche
Gedanken zu Ende gedacht und fühlt fih über-
haupt nach allen Seiten hin als Erfüller Leib:
niafcher Intentionen. Endlich greifen auh unter
den Metaphylitern der Gegenwart W. Stern
und H. Driefch vielfady auf Leibnizens organo-
logifches Weltbild zurüd. Kurz, überall fieht
man die unvertennbaren Anzeichen einer be-
ginnenden Leibniz-Renaifjance.
II.
Aber — fo fragt vielleicht mander natur-
wilfenfchaftlidy orientierte Leſer — ift denn eine
ſolche Erneuerung der Leibnizichen Philoſophie
heute, nad) den ungeheuren Fortfchritten der
craften MWelterfenntnis und befonders nad) den
Unter den Badener
ummälgenden Entdedungen der legten Jahr-
zehnte überhaupt noch möglih? Allerdings.
Ja, ich wage zu behaupten, fie ift gerade heute
überhaupt er ft möglich: denn die prinzipiell bc-
deutfamjten ortfchritte des 19. Jahrhunderts,
die Energetit und die Entwidlungs:
lebre, bat Leibniz für feine Perfon bereits
150 Jahre eher gemacht als die Allgemeinheit,
in einigen andern Punkten aber, wo die natur:
wiflenichaftliden Grundanſchauungen des 19.
Jahrhunderts zu denen Leibnigens in Gegen-
ja ftanden und darum auh der Anerkennung
feiner Philofophie hinderlich waren, hat zu Be:
ginn des 20. Jahrhunderts Leibniz gefiegt, und
infolgedeffen wird gerade jet auch feine Philo-
fophie wieder befonders aftuell. Leibniz hat
nämlich mit allem Nachdrud gegenüber Newtons
Lehre vom abfoluten Raum, der abfoluten Zeit
und Bewegung die Relativität diefer Na-
turphänomene behauptet und in feiner imma:
terialijtiichen Metaphyſik grundfäßlich zur Gel:
tung gebradt. Troßdem ferner gerade er Die
Kontinuität des Naturgefchehens zum er-
ten Mal ihrem ganzen Umfange nah erfannt
und durch die Differential- und Integralrech—
nung exakt bererhenhbar gemacht hatte, hat er
daneben doc) auch die relative Berechtigung der
diskreten Zerlegung des Realen anerkannt.
Indem er aber hierbei die ftofflichen Atome
richt als die legten „Unteilbaren“ anſah, fon-
dern ihrerfeits wieder als „Welten“ noch tiei-
nerer, nicht ſtofflicher Elemente auffaßte, hat er
jhon etwas von unferer heutigen Eleftronen:
und Energiequantentheorie vorausgeahnt, ja
bereits den hierdurch hervorgetretenen Gegen:
fat zwifchen kontinuierlich-dynamifcher und dis-
kretsftatiftifcher Gefegmäßigkeit (wie Pland for-
muliert) fonthetifch zu überwinden verfucht. Ich
will diefe vier Punkte etwas näher ausführen,
da fie erft. wenig, zum Teil noch garnicht be-
tannt find.
1:
Daß Leibniz bereits den modernen Energie:
begriff und das Gefeß der Erhaltung der Energie
bef-ffen hat, haben gelegentlich ſchon €. du
Bois-Reymond (1870) und H. Poincaré (1881)
behauptet. Aber erft in den legten Jahrzehnten
ift es allmählich durch Caffirer, Gerland, Haas,
Wundt u. a. in immer weiterem Umfange er:
fannt worden, ſodaß Siegel in feiner Geſchichte
der deutichen Naturphilofophie die moderne Ener:
geti? geradezu als Neubelebung der Leibnizſchen
Dynamit hat bezeichnen und darüber hinaus von
dem „Leibnizichen Beifte” hat Iprechen können.
—— — — — —
— kn
der in der modernen Naturphiloſophie lebendig
ſei.
Das ganze 18. Jahrhundert freilich hat hier-
von noch nichts geahnt; auch in der damaligen
berühmten SKontroverje zwilchen den Gartefi-
anern und ZLeibnizianern über das „wahre
Kräftemaß“ (mv oder mv?) ift die eigentliche
Abliht Leibnizens völlig verkannt worden.
d’Alembert und der junge Kant glaubten näm:
lih den Streit durdy die Unterfcheidung zweier
Fälle Ichlihten zu können, in deren einem es
beffer fei, die Kraft mit Descartes durch die „Be:
mwegungsgröße” zu meffen, in deren anderem °
mit Leibniz die „lebendige Kraft“ vorzuziehen
jei. Für Leibniz dagegen handelt es fih (wie er
in einer Abhandlung der Acta eruditorium 1690
susdrüdlich gefagt hat) keineswegs um einen
„Wortjtreit” darüber, ob man die Kraft fo oder
je Definieren und meffen folle, fondern um eine
„fachliche Kontroverfe darüber, was erhalten
bleibt, die Bewegungsgröße oder vielmehr
die Quantität der Kräfte in dem Sinne, wie er
von mir angenommen wird, nämlih propor=
tional dem Produkt aus Gewicht und Erhebungs-
höhe“. Leibniz fragt alfo vielmehr danach, wel-
che exakt beitimmbare Größe ausnahmslos bei
feinem Naturvorgange verändert wird und daher
geeignet ift, die gejeßliche Einheit in der Man-
nigfaltigkeit des Gefchehens evident zu machen.
Und diefe Streitfrage enticheidet er endgültig
durch den Nachweis, daB im Falle fih hebender
und fentender Gewichte nah dem Huygensichen
Schwerpunttsprinzip und den Galileilchen Fall-
geſetzen nicht die Bemwegungsgröße fonitant ift,
freiliġh auh niht die lebendige Kraft (wie
man ſpäter Leibniz untergeſchoben hat), fon-
dern die von ihm fogenannte aftive Kraft
oder potentia agendi, die Fähigkeit Wir-
tungen hbervorzubringen, die er gang
richtig als die Summe der lebendigen Kraft und
der Spanntraft (elastica potentia) oder, wie
wir jet jagen, der finetifchen und potentiellen
Energie erfennt. Wie tlar er fih ſchon über die
hierbei Stattfindende Verwandlung der Bewe—
gungs- in Lageenergie und umgekehrt war,
zeigen deutlich feine Vorfchläge zur Walfermäl-
tigung in den Harzbergwerfen (1678 und 1685)
mit Hülfe von Windmotoren, die bei günftigen
Windverhältniffen das Waller in höher ge-
tegene Baffins pumpen follten, damit in ungün—
ftigen Seiten die dort aufgejpeicherte Energie
zum meiteren Treiben der Pumpen verwandt
werden könnte.
Auch in der Stoßlehre behauptet Leibniz durd-
aus nicht, wie man fälfchlicy gemeint hat, die
_ Leibnigend Gegenwartgbedeutung.
133
einzig: und allgemeine Gültigkeit des Huygens-
ihen Prinzips der Erhaltung der lebendigen
Kraft, fondern er kennt daneben auh das Ge-
jeg der Erhaltung der relativen Geſchwindig—
teiten und das des Fortichritts des Schwer:
punftes und erklärt ausdrüdlich, daß nur beim
elaſtiſchen Stoß alle drei Gejege gültig feien,
beim unelajtifchen Stoß aber allein das legt-
genannte: Wenn er nun trogdem auch im leb-
teren Falle an der „unverlegbaren Wahrheit
des Gefeßes der Erhaltung derjelben Kraft in
der Welt” feithält, fo tann damit unmöglidh die
lebendige Kraft gemeint fein, die ja bier nad
feiner eigenen Erklärung veränderlidy ift, fon-
dern nur die Gefamtenergie im allumfalfenden
Sinne, die beim unelaftilchen Stoß wie bci der
Reibung noch in einer dritten Form zur Cr-
ihyeinung fommen tann, nämlid als Wärme
oder Molekularenergie. Jn der Tat fagt Leib-
nig ganz deutlich, daß hierbei die „totale Kraft”,
d. h. die Bewegungsenergie der Körper als gan-
zer, „durch die kleinen, die Maffe zufammen»
ſetzenden Teile abforbiert” und in „innere Be-
wegungen” umgefegt fei. „Es ift nur dasfelbe
wie bei der Umwechslung von großem Geld in
feines geſchehen.“ Alfo auch die Ummanbdel:
barkeit der mechanifchen Energie in Wärme hat
Leibniz als erjter entdedt, wie er fi) auh um:
getehrt über den Arbeitswert der Wärme, ge:
legentlich feiner Mitarbeit an der Papinſchen
Dampfmafchine und feiner eigenen Erfindung
des Heißluftmotors, völlig tlar geworden ift.
Aber nicht nur naturwiſſenſchaftlich, fondern
auch philoſophiſch ift Leibniz durch diefe Cnt-
dedungen weit über Descartes hinausgekommen.
Er hat nämlich auf Grund davon die alte paffi-
viſtiſche Korpustularphilofophie durch die attiv-
dynamiftifche oder, in unjerer Sprache, die en:r-
getifche Naturauffaffung erfegt und fo von der
Phyſik her eine Pforte zur Metaphyfit eröffnet.
Vis est vera substantia, die tätige Kraft oder
Energie ift die wahre Wirklichkeit, das Ding an
fih. Hinter der fcheinbar toten Materie verbirgt
jih überall eine fchöpferifche Lebendigkeit, eine
Wirkenstraft, die dem Geifte und bemwußten
Willen v2rwandt ift, infofern als auth ihr inner:
fites Weſen das unendliche Streben nach immer
neuer Tätigkeit ift. In dieſer Hinficht ſteht
Leibniz volltommen auf dem. Etandpunfte der
Goethifchen und unferer heutigen W It: und
Lebensanfiht: „Im Anfang war die Tat.”
„Die Gottheit ift wirffam im Lebendigen, aber
nicht im Toten; fie ift im Werdenden und fih
Gerwandelnden, aber nicht im Gewordenen und
Eritarrten.”
134
„Es foll fih regen, fchaffend handeln,
Erft fih geitalten, dann verwandeln;
Pur fcheinbar ftehts Momente ftit.
Das Emge regt fih fort in allen;
Denn alles muß in nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.”
Und dann gilt auch für den Menjen, den
„feinen Gott” oder den „Ichaffenden Spiegel”
der großen Schöpfung (wie ihn Gocthe nad)
Reibnizens Vorgang nennt): „Nur ratlos be-
tätigt fi) der Mann.” „Die Tätigkeit ift, was
den Menſchen glüdlich madıt.”
„Kannſt du mich mit Genuß betrügen,
Das fei für mid) der legte Tag!
Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So ſei es gleich um mich getan!“
Oder wie Leibniz immer wiederholt hat: „Die
Unruhe, die uns tätig macht, iſt für das Glück
der Kreaturen weſentlich. Denn dies beſtehi
niemals in einem vollkommenen Beſitz, der ſie
unempfindlich und ſtumpf machen würde, ſon—
dern in einem beſtändigen, ununterbrochenen
Fortſchritt zu größeren Gütern.“
In der letzten Aeußerung Leibnizens verbindet
jih die dynamiſch-energetiſche Weltanſicht mit
einer andern modernen Aufaſſungsweiſe der
Welt- und Menſchheitsgeſchichte: der evolutio—
niſtiſchen. Auch in dieſer Hinſicht hat man Leib—
nizens wahre Anſicht oft völlig mißverſtanden.
Zwar iſt altbekannt, daß er die verſchiedenen
Klaſſen von Weſen, die das Univerſum bilden,
als ein einziges kontinuierliches Stufenreich be—
trachtet hat, deſſen einzelne Glieder, Menſchen,
Tiere, Pflanzen, Foffilien und ſcheinbar lebloſe
Körper, durch Mittelglieder in ſtetigem Ueber—
gang miteinander verbunden ſind und ſozuſagen
eine einzige lückenloſe Kette bilden. Aber es iſt
immer wieder gemeint worden (niht nur von
fatholifcher Seite, fondern auch 3. B. von Dilthey,
der fonft die zentrale Stellung des Fortſchritts—
gedanfens für Leibnizens Weltanichauung nad):
. drüdlich hervorgehoben hat), er habe hierbei nur
die beharrende Stufenfolge der „ormen“ im
Auge gehabt, die fhon Ariftoteles und die Scho-
lajtit gefannt hätten, und habe vor der Cnt-
widlungslehre im heutigen Sinne halt gemadıt.
In Wahrheit aber hat er nicht nur immer wieder
von dem unendlichen Fortichritt der Natur- und
Menjchheitsgefchichte im allgemeinen gejprochen,
jundern auh im befonderen auf geologijchem
und paläontologifchem Gebiete die bejtändige
Umwandlung der Erdoberfläche ſowie der Tier-
und Pflanzenarten gelehrt, und zwar nicht im
Sinne der Cuvierſchen Kataftrophentheorie, fon:
Leibnizene Segenwartsbebeutung.
dern bereits der ftetigen Leyllichen und Lamard-
Amerikas und den unfrigen zeigen“.
ſchen Entwidlungslehre.. Schon in feiner Pro:
togaea (verfaßt 1691, volljtändig veröffentlicht
erft 1749 dur” Scheidt) erflärte Leibniz für
durchaus glaublich, daß die Veränderungen der
Erdoberfläche „auch die Arten der Tiere meift
umgeftaltet hätten.” Später maht ihm dann
die genauere Beichäftigung mit neuen foffilen
unden vollends zur Gewißheit, Daß „die Arten
jehr ftar? verändert werden können fomohl durch
die Länge der Zeiten, wie durch den Abftand der
Orte, was viele Unterfchiede zwifchen den Tieren
Jetzt ent:
Ihied er fih aud für eine Vermutung, die er in
der Protogaea noh als allzu fühn, der ' Bibel
wider|prechend und an fih unwahrſcheinlich ab-
gelehnt hatte, nämlich daß aus den Walfertieren
der Urzeit, in der noch die Erde größtenteils vom
Meere bededt war, allmählich mit dem Berlaufen
der Fluten Amphibien und fchließlid des Waſ—
fers ganz entwöhnte Landtiere geworden feien.
Man dürfe keineswegs annehmen, daß alle Welt-
förper und auf diefen alle Arten von Lebeweſen
auf einmal gefchaffen feien; ein foldyes Wunder
er abrupto würde dem Sage vom zureichenden
Grunde widerfprechen; vielmehr feien die ge-
genmwärtigen aus den urfprünglichen Gefchöpfen
erft durch zahlreiche Veränderungen und Prä-
formationen entfprungen. Ja, in den (bisher
ungedrudten) Vorarbeiten zur 2. Auflage feiner
Sugendfchrift über die juriftifche Unterrichts:
methode formulierte er fogar einmal den ganz
modernen Gedanken, die Eidographie, d. h. die
Syſtematik der organischen Formen, könne
erft durch die Unterfuchung des Urfprungs
der Arten im Zufammenhange mit der „Ge:
fhichte der Welt als eines Individuums” zur
Bolllommenheit gebracht werden.
Auch diefe naturmilfenfchaftliden Einſichten
hat Leibniz nicht nur im beichräntten fpeziali-
jtifchen Sinne gemeint, fondern alsbald auf an-
dere Seinsregionen ausgedehnt, ja auch ganz all:
gemein, bei der Ausgeſtaltung feiner philo-
ſophiſchen Weltanfchauung, verwertet. Die Pro:
togaea, die Lehre von den „Inkunabeln unferer
Melt“, war nämlich uriprüngli gedadht als
Einleitung zu feinen umfangreihen Anna:
les imperii occidentis Brunsvicenses (ver:
öffentlicht erft 1843 von Perk), in denen er auf
Grund forgfältigiter Handjchriften und Urfun:
denforſchungen die mittelalterliche Gefchichte des
deutfchen Reiches auf eine neue, wiſſenſchaftlich
fefte Grundlage zu Stellen ſuchte. Mit diefer in-
nigen Verbindung der Natur- und Menjchheits-
geichichte, die hier als ftetig miteinander ver:
bundene Glieder einer großen, einheitlichen
Weltentwidlung erfcheinen, nimmt Leibniz [hon
den philoſophiſchen Grundgedanten von Herders
Ideen zur Philofophie der Geſchichte der Menfch-
keit vorweg, die auch die „MWeltgefchichte” nicht
erft mit der Bildung der Menfchheitsitaaten,
fondern mit der Entjtehung der Planeten und
dem allmählichen Aufitieg der organiichen We-
jen, unferer „älteren Brüder”, beginnt und dann
erft als höchſtes und leßtes Glied der unend-
lihen Kette die Gefchichte der verichiedenen Böl-
fer anſchließt — wobei jedes Glied, obgleich nur
Zeil des unüberfehlichen Ganzen, doch auch für
jih ein Ganges, jedes Zweck feiner felbft und
zugleich Mittel zu höheren Zmweden ift.
Die teleologifche Entwidlungseinheit der gan-
zen, die förperliche und die geiftige Wirklichkeit
umfaffenden Welt gehört fhon zu den Grund-
ideen der Leibnizſchen Weltanfchauung. Er be-
geiftert fih mit religiöfem Pathos für den fte-
tigen, unbegrenzten Tortfchritt nicht nur des
Menfchengefchlechts, fondern des ganzen Uni-
verjums dem großen Ziele der göttlichen Welt-
barmonie entgegen und vertritt einen erhabenen
tosmifchen Optimismus — freilid) feinen ſeich—
ten Optimismus der Zufriedenheit mit dem Ge-
gebenen, aber einen tiefen Optimismus des un-
endlichen Werdens und Schaffens. „Ich glaube,
daB die Welt beftändig an Vollkommenheit zu-
nimmt und nicht etwa eine Kreisbewegung voll-
führt; denn dann fehlte eine Zwedurfache. Das
Beharren in demfelben, wenn auh nod fo aus-
gezeichneten Zuſtande würde nicht Freude, fon-
dern Langeweile erzeugen. Das Glüd fordert
einen beftändigen Fortfdritt zu neuen Freuden
und Vollkommenheiten. Das Univerfum gleicht
einer Pflanze oder einem Tier, das zur Reife
jtrebt, nur mit dem Unterfchiede, daß es niemals
den höchſten Grad der Reife erreicht und auch
niemals zurüdichreitet oder altert“. „Denn we-
gen der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums
bleiben im Abgrunde der Dinge immer nod)
Ihlummernde Teile übrig, die erwedt und zu
Größerem und Belferem, mit einem Worte zur
höheren Kultur erhoben werden follen. Und
deshalb tann der Tortichritt nie ein Ende
nehmen”.
Wie modern Leibniz in diefem Puntte dentt,
zeigt fi) noch bejonders darin, daß er fih in
einem ungedrudten Fragmente (das Dilthey
einmal benugt hat) fogar mit cinem Problem
auseinanderfeßt, deffen Löfung Wundt vom
Standpunkt der Gegenwart bei Leibniz vermißt
und feinerjeits durch die Unterfcheidung der phy-
ſiſchen Natur, in der das G:feg der Energie-
I Leibnizens Gegenwartgbedeutung.
135
konſtanz gilt, und der Geiſteswelt, in der nach
dem Prinzip der ſchöpferiſchen Syntheſen oder
Reſultanten immer neue geiſtige Werte erzeugt
werden, zu löſen geſucht hat. Jn Wahrheit geht
Leibniz in diefer Hinficht fogar noh über Wundt
hinaus, indem er beide Grundjäße, das Geſetz
der Erhaltung der Energie und das axioma
perfectionis, in beiden Welten, der phyjifchen
und piychifchen,, für gültig und miteinander
verträglich erflärt. Immer und überall erhält
fi) nah dem genannten Fragmente Ddiefelbe
Quantität von Aktion und Kraft, nämlich die
größtmögliche, aber dabei tann doh beftändig
der Grad der Bolllommenheit wachſen, nämlich
die Mannigfaltigfeit der Formen und die þar-
monifche Ordnung der Einzelweſen. Obwohl
die Menge der Materie und Encrgie konſtant
bleibt, lernt doh die Welt, indem fie ihre An:
lagen entfaltet, immer vollftommen ihren Ur-
heber ausdrüden: denn das Enthaltenfein ift dem
Entfaltetfein nicht gleichwertig (neque involu-
tiones evolutionibus aequipollent).
3.
Während in den beiden bisher erörterten
Punkten Leibniz die naturwiſſenſchaftlichen und
philofophifchen Weberzeugungen des 19. Jahr-
hunderts vorwegnimmt, erhebt er fih in gwei
anderen noch darüber zum Standpunft des 20.
Jahrhunderts. Der fcharffinnige Ariomatifer
der relativiftifhen Raum-Zeit-Lehre, H. Rei-
chenbach, hat fürzlich in den Kantjtudien (Bd.
29, ©. 416 f.) von der hiftorifchen Ungeredtig-
feit geiprocdhen, daß Nemtons abfolutiftifche
Lehre von Raum, Zeit und Bemw:gung niht nur
jahrhundertelang die Anerfennung der viel fort-
ichrittlicheren, fogar der Kantifchen weit über-
legenen Leibnizſchen Lehre hintangehalten habe,
jondern daß die erjtere felbft in der Gegenwart
noh wieder für die Ausbildung der Einfteinfchen
Relativitätstheorie, wenn auh nur durch Heraus—
forderung des Gegenjaßes, von Bedeutung ge-
worden fei, während Leibnizens Einficht in die
Relativität der Bewegung, die dem Denten fei-
ner Zeitgenofjen fo ungeheuer weit vorausgeeilt
und darum zu feinen Lebzeiten natürlich nicht
verftanden worden fci, felbjt heute noch völlig
unbefannt und unwirkſam geblieben fei.
Um ibm nun endlich „die [huldige Anerken—
nung nachzutragen“, macht Reichenbach auf eine
Abhandlung Leibnizens aufmerffam, in der die-
fer, ganz wie jet Reichenbach felbit, Zeit und
Raum als etwas Gefundäres, nämlich als das
bloße Drdnungsichema der primär gegebenen
faufalen Beziehungen zwiſchen den Dingen defi-
niert, und gwar zunächſt oie Seifaige als Ord-
136
nung der faufalen Abläufe, dann erft, nach Ge-
mwinnung des ®leichz itigkeitsbegriffs, den Raum
als Ordnung der Entfernungen des Koegiftie-
renden. Ferner weift Reichenbah auf den
Briefwechfel Leibnizens mit dem Nemwtonianer
Clarke hin, der fih faft wie eine „moderne Dis—
tuffion über Relativitätstheorie lefe“. Hier
leugnet Leibniz fonjequent, daß Raum und Beit,
losgelöft von den Dingen, überhaupt eine Rea:
lität bejigen; fie feien bloß id:ale Schemata der
Vernunft für die möglichen Beziehungen
des Neben- und Nacheinander zwiſchen den allein
mwirtlihen Dingen, etwa wie ein gene»
alogifrher Stammbaum off nbar auh feinerlei
Realität an fich befiße, fondern nur dem Gene-
alogen als geiltiges Drdnungsichema für die re-
alen Abftammungszufammenhänge der Indi-
viduen diene. Darum hat es nach Leibniz aud
feinen Einn, außer der r lativen Bewegung der
Körper gegeneinander etwa noh eine abfolute
Bewegung gegen einen vermeintlicy außer ihnen
beftehenden abfolut n Raum anzunehmen. Be-
wegung gibt es nur da, wo eine beobadt-
bare Xerönderung Stattfindet; da nun die fo-
genannte abfolute Bewegung durch feine Beob-
atung fe'ftellbar ift, fo gibt es überhaupt tine
ſolche. Leibniz bebauptet dies ausdrüdlid) auch
für die Rotationsbemegung, bei der Clarke mit
Newton tie Abfolutheit von der NWelativität
turh das Auftreten der Zentrifugalfraft glaubt.
vnterfch iden zu können. Reichenbach meint
. allerdings, Leibniz habe wohl behauptet,
diefen Cinwand durd eigenartige Anfchauungen
über die Natur der Körper widerlegen zu können,
ohne aber die Widerlegung wirklich durd-
zuführ n, und fei an diefer Etelle von der
relativiftilchen Kinematif doch wieder zu einer
abjolutiftiihen Dynamit übergegangen.
In Wahrheit ift Leibniz aber noh viel mo—
derner, als Reichenbach erfannt hat. Das ergibt
jih mit aller Bejtimmtheit (wie ich [yon in m'i-
ner Echrift über „Leibniz und Goethe”, ©. 39
und Anm. 66, Erfurt 1924, gezeigt habe) aus
mehreren Ausführungen im zweiten Teile des
Specimen dynamicum und der großen Dyna-
mica de potentia et legibus naturae corporeae,
der n Beröffentliung Leibniz unterlaſſen þat,
weil er mit dem erften Teil des Epecimen bei
ſeinen Zeitgenofien gar fein Berftändnis gefun-
den hatte, und die deshalb crit 1860 von C. 3.
Eerhardt getrudt worden find. Hier widerlegt
Leibniz Newtons Einwand durd die Feſtſtellung,
dağ die fcheinbar: Fentrifugaltraft nicht nur
durch die Rotation des betreff nden Körpers,
jondern ebenfo gut durch die entgegengejeßte Ro-
Leihnizens Geaenwartebedeufung.
tation des umgebenden WUethers erklärt werden
tönne. Er löft alfo die Schwierigkeit ganz ähn-
(ih wie fpäter Mad, der die Zentrifugalfraft
relativiftiich als dynnamijche Gravitationswirkung
der rotierenden Tirfterne deutet — nur daB
Leibniz, feiner grundfäßlichen Stellungnahme
entiprechend, eine Nahewirkung ftatt einer Fern-
wirfung zur Erklärung heranzieht. Aud in dy-
namijcher Hinficht jteht Leibniz demnad) auf dem
Standpunkte des Relativitätsprinzips. Ja, er
ift von deffen univerfeller Geltung fo feft über:
zeugt, daß er es zur Grundlage der Ableitung
aller dynamifchen Gefege behauptet maden zu
fönnen und daß er ferner auch fine Metaphyſik
damit zu begründen verfudt. Er jchließt näm-
lih aus der Relativität der Bewegung, daB diefe
nichts abfolutes, wahrhaft Wirkliches fein könne,
fondern daB tem phyfifhen Phänomen der
räumlichen Qageveränd rung in Wahrheit etwas
Unräumliches, Untörperliches, nämlid) eine piy-
chiſche oder doch Jeelenähnliche Tätigkeit einer
Kraftfubftanz zugrunde liegen müffe. Ja, nod)
mehr. Er findet hierin eine „wunderbare* Be—
ftätigung feiner bedeutfamen Lehre von ter
„Benfterlofigkeit“ der Monaden (oder Kraftein-
heiten), nach der „jedes paffive Verhalten eines
Dinges in Wahrheit fpontan ift, d. h. aus einer
inneren Kraft, freilicy bei Gelegenheit einer äu-
peren, entipringt”. Denn wenn 3. B. ein ver—
meintlich ruhender Körper durch einen vermeint:
li bewegten beim Stoß ein Quantum finetifcher
Energie erhält, jo fann man nad dem Rela:
tivitätsprinzip mit gleihem Rechte behaupten,
daB eigentlicd) der erjte bewegt ift und der zweite
von ihm finetifche Energie empfängt. In Wahr:
heit aber haben beide Hypothefen nur phäno-
menale Bedeutung. An fih ift weder der eine,
noch der andere räumlich bewegt und von
außen beeinflußt, fondern den ihnen zugrunde-
liegenden Kraftfubftangen fommen beiden rein
innere, feelifche Energien zu, jede ift Die voll aus-
reichende Urſache aller ihrer Lebensprozefle und
bedarf feines Anftoßes von anderer Eeite —
ganz wie Goethes „enteledilche Monade“ oder
individueller „Damon“ fih rein aus fih felbjt
entwidelt und fein Lebensichidfal voll und ganz
aus der eigenen „angeborenen Kraft und Gi-
genheit” vorausbeftimmt.
4.
Doch ich will midh jegt nicht zu weit in meta-
phyſiſche Grörterungen einlaffen, die zu ihrer
binreihenden Begründung mehr Pla erfordern
würden, als mir zur Verfügung Steht, fondern
lieber zu dem zweiten Punkte übergeh 'n, in dem
Leibnizgens naturmifjenfchaftlihe Einfichten der
@egenwart bejonders nahe ſtehen: zu feiner
turauffafjung. Man tennt Leibniz bisher nur
als den Begründer und fonfequenteiten Ver-
treter der Gtetigkeitstheorie alles Geins und Ge-
ichehens, der mit d:r Differential- und Integral:
rechnung zugleich das wunübertrefflihe mathe-
matiſche Hülfsmittel zur eraften Berechnung
der fontinuierliden Naturvorgänge gejchaffen
habe, und meint daher, die moderne Quantcn-
theorie zwinge zum Berlaffen der von Leibniz
eingelchlagenen Bahnen. Aber auh in dieſer
Hinſicht ijt die Gegenwart noch nicht grundfäß-
lich (wenn aud natürlich febr viel in der Cingel-
ertenntnis der Tatfachen) über Leibniz hinaus
gefommen, fondern fann im Gegenteil vielleicht
von ihm fogar noh Richtlinien für ihre zufünf:
tige Weiterentwidlung empfangen.
Leibniz ift nämlich fein’swegs ein einfeitiger
Tertreter des Kontinuitätsgedantens, jondern
ertennt daneben fehr wohl das Recht Diskreter
Gliederung an. Er leugnet freilich die Realität
von Atomen, d. h. abfolut unzerl gbaren ma:
teriellen Elementen, die voneinander durch ab-
folut leere Zwiſchenräume getrennt wären. Aber
wie in dem nad) feiner Weberzeugung tonti-
nuierlich mit Aether erfüllten Raume doch deut-
lih abgrengbare, alfo relativ diskrete Weltförper
ſchweben, fo hat es auch ein gewilles Recht, die
einzelnen Körper aus gefondertin Korpuskeln
bejtehen zu laffen, zwiſchen denen der Aether
ftrömt oder — was nach dem Relativitätsprinzip
auf dasf Ibe hinaustommt — die im Aether
ſchwimmen. 3. B. führt auch Leibniz felbft die
Spanntraft des Waſſerdampfes auf einzelne
Stöße teiner Teilchen zurüd, die aus dem
Waſſer aufpuffen. Aber freilich), wahre „Atome“
find das nicht. Denn jedes folde Teilchen läßt
fih doh wieder in noch kleinere Elemente ger-
legen. Es klingt wie eine Borahnung der Clef-
tronentheorie, wenn Leibniz (in der Jugend⸗
fchrift Hypothesis physica nova, 1671) das Licht,
das von der Gonne ausftrahlt, auf innere Be-
mwegungen zurüdführt, bei denen gemilje feine
Bartitelhen „in gerader Linie nach außen ge-
fchleudert werden” und dann weiter ausführt:
„Das meifte, was wir im Großen wahrnehmen,
würde ein Scharffihtiger proportional im Kiei-
nen wieder finden; wenn dies ohne Ende fo
weiter geht — was ficher möglich ift, da das
Kontinuum bis ins Unendliche teilbar ift — fo
wird fih jedes Atom gemiljermaßen als
eine Welt von zahlreichen Gebilden heraus»
ft:lten, und es wird WelteninWeltenbis
ins Unendliche geben.”
Leibnizeng Gegenwartsbebeufung.
137
Diefe Annahme der Zerlegungsmöglichkeit je-
Synth fe der kontinuierlichen und diskreten Na-
des Ganzen in fleinere Teile, aber auch diefer
Teile wieder in noch kleinere uſw. zeigt, daß
Leibniz die distrete und kontinuierliche Auf:
faffung nicht als abfolute Gegenſätze anfieht,
fondern jede für relativ berechtigt hält. Die ge-
naue Unterjuchung eines jcheinbar |prunghaft er-
folgenden Vorgangs ergibt immer, daß es fit,
etwa bei der plößlichen Bewegungsübertragung
durch einen Stoß, in Wirklichkeit doch um eine
allmähliche, nur auf einen kurzen Moment zu:
jammengedrängte Umwandlung der finetifchen
Energie des ftoßenden Körpers zuerſt in elaftifche
Energie und dann in finetifche Energie des ge-
jtoßenen handel. Um aber die hierbei auf-
tretende Elaſtizität zu verjtehen, die nad) Leibniz
auf der Störung der inneren Bewegungen der
fontinuierlid durch den Körper ſtrömenden
Metherflüiffigkeit beruht, muß man den Aether
als aus feiten, distreten Kügelchen von kleinerer
Größenordnung zufammengefegt betrachten.
Damit diefe aber elaftiich wirken können, müffen
fie abermals von einer kontinuierlichen Ylüfligkeit
durchftrömt fein uſw. So wedjfeln Feſtigkeit
und Flüffigkeit, Distretheit und Kontinuität pe-
riodifch miteinander ohne Ende.
Am nädjften fommt Leibniz der modernen
Distontinuitätsphyfit an einer ganz unvermu:
teten Stelle, nämlic in feiner metaphyjifchen
Monadenlehre. Nach diefer gibt es exakte Kon:
tınuität überhaupt nicht in der realen Welt der
eriftierenden Dinge, jondern nur in der id:alen
Melt der Möglichkeiten, Eſſenzen oder Gedanten:
dinge. Dementfprechend jchreibt Leibniz, feinen
Zeitgenoff:n auch in diefer Hinficht weit voraus,
den Differentialen ebenfalls tein attuelles Da-
fein zu, fondern hält fie für bloße „nübliche Fit-
tionen“ gur mathematifchen Rationalifierung
der räumlich:geitlihen Erſcheinungen, ähnlich
den imaginären Wurzeln, die man zur Verein:
fachung algebraifher Rechnungen verwenden
tann. (Obgleich es „in Wirklichkeit” feine Diffe-
rentiale gibt, ift es wie Leibniz ausführt, doch
praktiſch vorteilhaft, fo zu tun, „als ob” es Dife
ferentiale gäbe; denn den dabei entjtehenden
Fehler fann man durd „hinreichend“ weit fort-
geführte Teilung „beliebig“ klein madhen.) Die
metaphyfifhe Wirklichkeit ift nicht eine tonti-
nuierliche Einheit, die fih beliebig in eine inde-
finite Menge von Differentialen zerlegen läßt,
fondern eine diskrete Vielheit, die tatſächlich aus
attual unendlich vielen Monaden befteht, die al-
fo mit Hülfe der Differentialrehnung höchſtens
angenähert berechenbar ift. Ich glaube Leib—
nizens Meinung in unferer heutigen Ausdruds-
138
weile am beiten zu treffen, wenn ich feine Mo-
naden, fo weit fie in der phyſiſchen Natur zur
Erſcheinung tommen, als Diskrete Energie-
quanten begeichne. Denn das wahre Wefen
der Dinge an fidh ift ja Kraft, d. b. Energie;
wenn alfo die Welt nach Leibniz in Wahrheit
nicht ein Kontinuum, fondern eine diskrete Men-
ge ift, fo muß fie aus lauter einzelnen Kraft-
teilchen, d. b. eben aus Energiequanten, zufam=
mengejeßt fein. Nur handelt es fih für Leib:
nizens Tpetulative Metaphyfit im Gegenſatze zu
Plancks experimentell begründeter, theoretifcher
Phyſik legtlich nicht um eraft meßbare räumlid)-
zeitliche, fondern um nur innerlid) erlebbare
jeelifhe Energien. Aber jedenfalls ver-
tritt Leibniz in feiner Monadenlehre auh die
diskrete, ftatt der kontinuierlichen Weltanfchau:
ung, indem er das Univerfum aus abjolut ge-
jonderten, felbjtändigen, fi) in unverminderter
Wirtensfähigkeit erhaltenden Individuen befte-
hen läßt.
Doch genau bejehen, ergibt fih auch an dieſer
Stelle fein einfeitiger Sieg der Disfretheit über
die GStetigfeit. Was Leibniz gibt, ift vielmehr,
feiner überall hervortretenden Bielfeitigkeit ent-
iprechend, eine Syntheje der beiden Gegenfäße.
Denn das reale Univerfum der Monaden ift nach
ihm doh eine Verwirklichung wenigjtens eines
Ausichnittes aus dem idealen Univerjum der
Möglichkeiten, und zwar in der Weile, daß jedes
Individuum das ganze Univerfum von einem be-
fonderen Standpunfte widerfpiegelt, etwa wie
eine ebene perſpektiviſche Projektion einen räum-
lihen Gegenftand von einem beftimmten Pro-
jettionszentrum aus darftellt. Da nun das ideale
Univerfum Kontinuität befißt, jo muß aut je-
des individuelle Spiegelbild — die Erlebniswelt
jeder Monade — kontinuierlichen Charakter tra-
gen. Und da ferner die verjchiedenen möglichen
Standpunfte fih ftetig aneinanderjchließen, fo
muß auch die Gefamtheit aller wirklichen Mo-
naden wenigftens angenähert ein Kontinuum
bilden, das allerdings, weil nicht alle Möglich:
feiten verwirklicht find, an manden Stell:n
durch Lücken unterbrochen wird. Trog der Dis-
fretheit der realen Einzelwefen fommt alfo in
Leibnizens Monadenlehre auh die Kontinuität,
fogar in doppelter Hinficht, zur idealen Geltung.
Und obwohl die Monadenwelt in Wahrheit eine
transfinite Menge von aktual unendlich vielen
CEnergiequanten ift, fo läßt fie fih doch mit hin-
reichender Genauigfeit auh als eine indefinite
Unendlichkeit von Differentialen der (unendlich
großen) Weltenergie auffallen.
Leibnizens Gegenwartsbedeutung
Dieſe Leibnizſchen Spekulationen ſcheinen mir
ein gewiſſes aktuelles Intereſſe für die gegen—
wärtige Phyſik zu haben. Es haben nämlich
kürzlich einige Vertreter der modernen Diston-
tinuitätsphyſik (wie Schottky, Nernſt, auh Weyl)
eine radikale Umſturzbewegung gegen die bis—
her unumſchränkte Herrſchaft der ſtetigen dy—
namiſchen Naturgeſetze anzuſtellen verſucht, wäh⸗
rend es vielmehr wünſchenswert iſt, durch ge—
ſunde Reformen das Neue mit dem guten Alten
ſynthetiſch zu vereinigen. Und eben für eine
ſolche Syntheſe kann Leibniz als ideales Vorbild
dienen. — Es handelt ſich in der gegenwärtigen
Phyſik um folgendes Problem. Wenn das ein—
heitliche Weltkontinuum ſich nach der kinetiſchen
Gastheorie, der Elektronen- und Quantentheorie
in lauter ſelbſtändige Individuen auflöft, in
Mückenſchwärme rudweile fliegender Basmole:
tüle und diefe wieder in Planetenſyſteme krei—
jender Elektronen, die portionsweife Energie-
quanten ausjdleudern, dann fcheint cine erafte
Berechnung der Natur durch ftetige Funktionen
überhaupt nicht mehr möglich zu fein, fondern
es gibt in Wirklichkeit nur typiſche Durchfchnitts-
regelmäßigfeiten oder ftatiftifche Wahrjcheinlich-
teiten für große Zahlen von Eingelvorgängen,
ähnlich wie in der Moralitatiftit der freien
menſchlichen MWillenshandlungen. Es ſcheint
alſo, als wenn an die Stelle der bisherigen dy—
namiſchen Geſetze der kontinuierlichen Natur
bloße ſtatiſtiſche Regelmäßigkeiten für zahlreiche
disfrete Individuen oder individuelle Vorgänge
treten müßten. Dagegen hat aber bereits Pland,
und mir fcheint mit vollem Rechte, darauf hin-
gewiefen, daß folche ftatiftiichen Geſetzmäßigkei—
ten nur für eine beftimmte flafle von Na:
turvorgängen in Betracht fämen, nämlich für
die fog. irrevarlibeln Prozeſſe, während
die rejervibeln Prozefje auch gegenwärtig nod
durchaus durch kontinuierliche dynamiſche Geſetz⸗
mäßigfeiten erflärt werden müßten. Und auh
bei den erfteren fei ihre (gegenwärtig allein mög-
liche) wahrſcheinlichkcitstheoretiſche Erklärung
aus den Durchichnitts: oder Mittelmerten großer
Zahlen von Einzelvorgängen lediglich als vor-
läufige Annäherung anzufehen; es bleibe eine,
wenn auch vielleicht unendliche, Aufgabe der Zu:
funft, diefe Gefamtvorgänge eraft aus den dy-
namifchen Gefeßen der darin enthaltenen Elfe:
mentarprozeffe abzuleiten; bei den ſtatiſtiſchen
Regelmäßigfeiten endgültig ftehen zu bleiben,
fei ſchon deshalb ausgefchloffen, weil das Be-
Stehen von Wahrfcheinlichkeitsgefegen im Matro:
fosmos unmeigerlich die ültigfeit dynamiſcher
Die Welt der Pfahlbauten.
Geſetzmäßigkeiten für die allerfeinften Mitros
fosmen vorausfeße.
Genau in der Richtung diejer Planckſchen Aus»
führungen fcheinen mir auh Leibnizens Gedan-
fengänge zur Synthefe der kontiunierlichen und
distreten MWirklichkeitstheorie zu laufen. Auch
er betrachtet jede diskret-ftatiftifche Zergliederung
d.r Realität in endliche Atome oder Quanten
als eine bloß vorläufige Annäherung an die
endgültige Wahrheit, während für die „aller:
feinften Mitrofosmen”, die Monaden, eratte
fontinuierliche Gefeße gelten — genau fo gut,
wie für die ideale Welt der Gedantendinge, de-
ren Spiegelbilder fie find. Allerdings zwingt
die Konfequenz feiner Gedanten ihn, dabei noch
einen Schritt weiter als Pland zu gehen. Zu:
nächſt darf man die Zerlegung der Materie in
Diskrete Moleküle, die durch abfolut materiefreie
Räume getrennt find, und der Bewegung in ein-
zelne Nude, die durch Ruhezuftände getrennt
find, niht als endgültig anfehen, fondern an Die
Stelle radialer Sprünge mülfen immer allmäh-
fie Uebergänge gelegt werden, jede Ede ift,
genauer befehen, fein abgerundet, und jede „Be:
wegung ift am Anfang und Ende Tchmwächer.”
Aber auh die vermeintlich unvermittelte Emif-
fion cines diskreten Cleftrons oder Energie—
Guantums darf man noh nicht als legten Cle-
mentarvorgang anfehen, fondern muß ihn aber-
mals in eine, wieder um einen Grad kontinu—
ierlihere, allmählid an- und abfchwellende
Emiffion noch kleinerer Partikelchen oder Quänt-
chen auflöfen. Leibniz würde auch die Elemente
der heutigen Kleftronen- und Quantentheorie
noh nicht als die abfolut legten Wirklichkeit
atome gelten laffen, fondern auch fie wieder als
Welten noch Bleinerer Elemente auffaffen. Je
weiter man aber in der Zerlegung fortichreitet,
dDeito feiner wird die Annäherung an die exakte
Wahrheit: die ideale Kontinuität einer transfinit
unendlichen Menge von Monaden, in der die
beiden Ertreme: vollendete distrete Zerlegung
Nie Welt der Pfahlbauten.
Der Winter des Jahres 1853/54 war im Gebiete der
Yipen fo falt und troden, daß fih ſelbſt die Greiſe eines
ähnlichen nicht entfinnen fonnten. Die Quellen im Ge-
birge froren ein, die Zuflüffe verfiegten, und die See-
{pegel drunten im Tale ſanken fo jtart, daß weithin
alter Seeboden zutage trat und am Stein von Stäfa
am ſchönen Züridyer See die Waffergrenze noh um
einen Fuß unter dem bisher tiefiten Pegelitrid von
1674 ftand. Schiffer und Mühlenbejiter hatten das
Nachſehen und mußten wohl oder übel feiem. Die
139
und volltommener fontinuierlier Zufammen-
hang, fih aufs innigfte berühren. In diefem
idealen Grenzpunkte, der freilich von der phy-
ſikaliſchen Wiſſenſchaft praktiſch nie endgültig er-
reicht werden fann, würden dann aud die dis-
fret-ftatiftifhe und die kontinuierlichdynamiſche
Gefegmäßigkeit nit mehr im Gegenſatze zu:
einander ftehen, fondern nur verſchiedene Auf:
fajfungsmeifen derjelben wahren Wirklichkeit be-
deuten, und fo wäre beiden ihr gutes, wenn auch
begrenztes, Recht zuerkannt. |
In diefen Leibniz'ſchen Gedankengängen ftedt
gewiß noch viel Problematifches, vor allem durd
die Bezugnahme auf das fo unendlich ver-
mworrene und verwirrende „Labyrinth des Kon-
tinuums“, mit dem Leibniz fih lebenslang
immer wieder gemüht hat, ohne zum lebten
Ziele zu fommen. Aber auch wir haben ja den
rettenden Ausweg aus dieſem Labyrinth nod
immer nicht gefunden, troß unferer modernen
transfiniten Mengenlehre, die uns durch die be-
fannten PBaradorien von Ruſſell, Burali-Forti
und Rihard nur in neue Schwierigkeiten ge-
ftürzt hat. (Klingt es übrigens nicht wie eine
Vorausnahme diefer Paradorien, wenn Leibniz
gelegentlich einer Erörterung über den Wert der
Quotienten 0 durch OO oder nidyts durch alle
einmal erflärt: „Das alle, genommen als Die
größte Zahl, ift ein widerfprudspvoller
Begriffe”?) Jedenfalls glaube ich gezeigt zu ha—
ben, daß die Problematik der Leibniz'ſchen Natur:
wilfenfchaft der Problematit der gegenwärtigen
Phyfit eng verwandt ift und darum noch ganz
aktuelles Intereſſe befigt. Und damit fcheint
mir auch meine weitere Behauptung fchon zum
guten Teile erwiejen zu fein, daß die mit diefen
naturwilfenfchaftlichen Theorien eng verflochtene
Leibniz fhe Philofophie und MWeltanfchauung
gleichfalls noch jet, ja vielmehr gerade jet erft
recht, zu neuem Leben erwedt werden tann.
(Schluß folgt.)
Bon Dr. K. 9. Wels.
Uferanwohner dagegen madten aus der Not eine
Tugend und gingen fdmurjtrads ans Werk, das einmal
freigegebene Land mit Beſchlag zu belegen und gegen
ein erneutes Ueberfluten beim Steigen des Waffers zu
fihern. In Eile wurden Ufermauern errichtet und das
dahinter befindliche Gelände mit Geeletten, den man
dem davor liegenden Seeboden entnahm, bis zur Ufer-
höhe aufgefchütte. Dabei madte man am Dftteil des
Züricher Sees, an einer kleinen Bud zwiichen Ober-
meilen und Doliton füdlid) der Straße nad) Rapperſch—
140
wyl einen merkwürdigen Fund. Bei der Abtragung des
jet trodenen Seebodens, deffen Material Hinter der
neuen Ufermauer aufgejchüttet werden follte, legten die
Arbeiter ein beträchtliches Stüd vom alten Ufer ent-
fernt zahlreide Pfähle frei, die im Boden ftedten.
Zwiſchen ihnen entdedte man ganze Haufen von
Scherben, Hirſchgeweihen, Steingeräten uſw. Man 308
den Lehrer von Dbermeilen zu Rate, der alsbald von
dem Befund Mitteilung an die Züricher „Antiquarifche
Geſellſchaft· madte und dadurd die willenfchaftliche
Unterfudung dieſer Stelle veranlaßte. Die Schrift, die
der Forſchungsleiter Ferdinand Keller noh 1854 über
die „keltiſchen Pfahlbauten in den Schweizer Seen” ver-
öffentlichte, lenkte zum erftenmal die Blide der ftaumen-
den Gelehrten auf diefe jo eigenartige Siedlungsform,
die, wie jhon damals der Berfafler nachweiſen konnte,
feineswegs die einzige ihrer Art war. Man entjann fih
jest älterer Fundftellen, die der von Obermeilen völlig
gliden, man ging nun auf eine förmlide Jagd nad)
neuen Pfahlbauten. Ueberall, wo die Finder von
Pfählen im Seegrunde zu berichten wußten, die ihnen
fo oft ihre Nege zerriffen und die man bei flarer Flut
wohl gar jehen fonnte, oder wo der Volksmund von
Ueberreften alter Zeuchttürme aus der Römerzeit fabelte,
jpürte man nad, und die neuen Funde, fo gleich der
vom Bieler See, übertrafen den Dbermeilener nod be-
trächtlich an Neichhaltigkeit und Pracht der Fundftüde.
Die Zahl der heute befannten Pfahlbauftationen ift er:
ftaunlih gewachſen, und noch immer werden neue Ent-
defungen gemadt. Ueber 200 Hat Die Schweiz geliefert,
etwa 44 allein der Bodenjee umjpült. Dejterreid),
Frankreich und Italien ftellen ein mehr oder weniger
ſtattliches Kontingent, und felbjt bis nad) dem hohen
Norden laffen fih vereinzelt Pfahlfiedlungen nachweiſen.
Ja diefe merfwürdige Siedlungsform zieht fi jogar
durch die geichichtlihen Zeiten bis in die Gegenwart
hinein. Ein Flachrelief von Theben in Aegypten aus
dem 7. Jahrhundert v. Chr. zeigt uns eine Pfahlhütte
vom oberen Nil oder vom Roten Meere. Herodot, der
Bater der griechiſchen Geichichtsichreibung (um 450 v.
Ehr.), gibt uns eine anfchaulidhe Schilderung der Pfahl:
dörfer der thrafifchen Päonier im Prafiasjee. Vergeblich
mühen fih die Griechen ab, die Waſſerfeſten zu be-
zwingen. „Mitten im See ftehen auf hohen Pfählen
3ujammengefügte Gerüfte, zu denen vom Lande nur
eine einzige Brüde führt. In alten Zeiten richteten
die Bürger die Pfähle unter den Gerüften gemeinfam
auf. Später aber beitimmte ein Geſetz, daß für jede
yrau, die einer heiratet, von ihm drei Pfähle aus dem
Drbelosgebirge geholt und untergeitellt werden müjlen;
fie nahmen aber jeder eine ganze Anzahl Frauen. Auf
dem Gerüft hat nun jeder feine Wohnftätte und eine
Yalltür, die auf den See geht. Die kleinen Kinder bindet
man mit einem Fuß an einen Gtrid, damit fie nicht her:
unterrollen. Pferde ımd Laftvieh befommen Fiſche als
Butter (!). Davon haben fie jo viel, daß fie nur einen
leeren Korb an einem Seil in den See 3u laffen
brauchen, um ihn nad) kurzer Zeit ihon bis zum Rande
voller File Hinaufzuziehen (!).“ Auch die Dater, die
Kaifer Trajan befiegte, fannten Pfahlbauten, wie uns
die Trajansjäule in Rom bildlidy zeigt. Ravenna und
Benedig find aus Pfahlanlagen hervorgegangen. Nod
Beute find bei vielen einfahen Völkern Pfahlfiedlungen
anzutreffen. Man tennt ganze Dörfer diefer Art von
Samoa, den Philippinen, von Neuguinea, von Malalta,
vom Kongo, Orinoto u. a.
Die Mertwürdigkeit diefer Siedlungsform, gegen
deren Zwedmäßigteit ſich gewiß mandperlei einwenden
läßt, — man lefe die humoriſtiſche Pfahlbaugeſchichte in
Theodor Bilhers „Auch Einer“ — drängt die Frage
auf, welde Gründe die Menſchen von der früheiten
Vorzeit bis zur Gegenwart veranfaßten, ihre Häufer ge-
rade jo anzulegen. Aus dem angeführten Bericht
Herodots wie aus der Darftellung an der Trajansfäule
geht deutlich hervor, daß das Schußbedürfnis die Men-
ſchen oft zum Pfahlbau führte. Es ift alfo der gleiche
Grund, der die Wenden dazu anreg’e, ihre Dörfer
mitten in die Sümpfe hineinzufegen. Die Pfahlfiedlung
ift alfo als MWafferfefte, als Pfahlburg gedacht. Dak
diefer Grund für die Pfahlbaumenſchen der bewegieren
jüngeren Zeiten der Vorgeichichte in der Tat maßgebend
war, läßt fi oft genug unzweideutig an den Funden
nachweiſen. Das berühmte Pfahldorf von Robenhau-
jen, das zweimal Heruntergebrannt ift, war ganz offen-
fihtlih eine folde Burg, die fogar noh durd eine
Lendbefeltigung, den fogenannten Himmerich, gewiſſer⸗
maben ein Außenwerk, geihübt war. Auch anderwärts
laffen fi) derartige Anlagen und Gteinwälle, oft deut-
lihe Brüdentöpfe, ertennen. Dieje Erklärung leuch—
tet aljo durchaus ein. Wie fonnte man fih beffer ge-
gen einen feindlichen Ueberfall ſchützen als in emer
Wafferburg? Mochte der Gegner fie auh, was da-
mals faum vorgefommen fein dürfte, monatelang be-
lagern, jo gebrah es doh niemals an Trintwaffer und
Nahrungsmitteln; denn beides bot der See in Fülle.
Und niemals war der Abihluß von der Außenwelt
ein völliger; auf leihten Kähnen konnte man das Dorf
jederzeit ungehindert verlaffen und wieder anlaufen.
Da Winterfeldzüge im Altertum, ja bis in die Neuzeit
hinein jo gut wie undurdführdar waren, war der
Pfahlbau in der Tat nahezu unangreifbar, wenn er
außer Pfeilfhußnähe lag.
Aber diefer Grund kommt für die älteften Zeiten
der Pfahlbauten nit ernftlih m Frage. Im den An-
fangstagen diefer Giedlungsform, in der die Bevöl-
ferungsdichte noh verhältnismäßig gering war und die
menſchlichen Wohnſtätten noch recht getrennt lagen, in
der mindeltens gerade im Alpengebiet die Zugangs-
Idywierigfeiten infolge der Unmwegjamteit des Gebirges
und der Dichtigkeit der Wälder noch ziemlich erheblich
porzuftellen find, tann das Schußbedürfnis niht aus-
Thlaggebend für die Pfahlanfiedlung geweien fein.
Wir müffen aljo nad) einer andren Urſache ſuchen und
finden fie in der Natur des damaligen Landichaftsbildes.
Bis hart an die Seeufer reihte der Urwald heran.
Dem gegenüber war der Menſch mit feinen unzuläng:
lihen Geräten madjtlos. In der Ebene baute man
ji an, wo die Heide den Wald niedergerungen hatte.
Sich durch Rodimgen Pla zu ſchaffen, war nom
niht möglid und befannt. Im Gebirge kämpften
dic Seen gegen den Wald und bildeten jma-
ragdgrüne MWafferoafen in den Baummüften. Hier
jtellten aljo die ſchmalen Seeſchlickſtreifen an den Ufer-
rändern der Seen und Flüſſe das geſuchte Freiland.
Die Welt der _Pfahlbaufen.
Hygieniſche Bedenfen werden dem Steinzeitler unbe:
fannt geweien fein, da er, wo es anders nicht möglid)
war, auh ins Moor hinein baute. Entſcheidend war
für ihn allein die Trage der Nahrungsbeſchaffung, und
diefe wurde hier in außerordentlihd günftiger Weile
gelöft. Der nahe Wald bot feinen Wildbeitand, der
täglich zum See hinab wedjlelte. Diefer lieferte reiche
Fiſchbeute. Diefes glüdlide Zujammentreffen gab den
Ausſchlag: nit auf der Höhe, wo fpäter auf faftiger
Weide fein Vieh graft, fondern unien am Uferrande
baut er feine Hütten auf, und zwar, wie wir heute
wijfen, nit oder wenigſtens zumeiſt nicht in den See
hinein, jondern auf deffen Sandſtrand. Die Erfahrungen
lehrten ihn aber, daß der See in Hochwafferzeiten,
bejonders zur Frühlingsſchneeſchmelze und zur Herbit-
regenzeit, auch diefen Strand überflutete.e Dadurch
war die Giedlungsform bedingt. Wollte der Bauer
kin Hab und Gut nicht fortwährend der Waffersgefahr
p:eisgeben, dann mußte er fein Haus über den Hödjit-
waſſerſtand hinausrüden. Das geihah eben in der
Weile, daß er es auf einen entiprecdhend hohen Pfahl:
roft jete.
Die Schweizer Forſchungsreiſenden Paul und Frig
Saraſin haben auf Grund von Beobachtungen und Er:
fundigungen bei den Pfahlbauleuten auf Celebes noch
einen weiteren Grund ins Treffen geführt. Nach der
eigenen Ausſage der Eingeborenen feien diefe aus
hygieniſchen Gründen zur Pfahlfiedlung übergegangen.
Die Anhäufung von Abfällen und Unrat in der Nähe
der Wohnjtätten, der dadurch entitehende Geſtank und
die Seuchengefahr habe fie. veranlaßt, ihre Häuſer jo
arzulegen, daß die wegipülende Flut die Aufgaben
emer modernen Kanalifation erfüllt. Für die älteften
Piahlbauten fommt jedoch dieje Urſache niht in Frage,
dı fie einen großen Teil des Jahres, und zwar gerade
den warmen, vollitändig troden lagen. Anders ſchon
ijt es bei den bronzezeitlihden Pfahldörfern.. Wir ma-
den in den Alpen die merfwürdige Beobadtung, dah
die Steinzeitbauten gewöhnlich unmittelbar am Ufer-
rende errichtet find. Die Bronzexitdörfer dagegen
treffen wir erft ein erhebliches Stüd feeeinwärts, oft
bis 200 Meter und mehr. Der Yortichritt der Technik
genügt nit zur Erflärung dieſer merkwürdigen Cr-
jyeinung; denn fie wird taum ausgereicht haben, Pfähle
von 6 bis 8 Metern Länge in den Eeegrund zu ram:
men. Eine Aenderung in den Lebensbedingungen
aber ift feit der Steinzeit nicht erfolgt; der Menſch
lebt au jekt als Bauer, der nebenbei feinen Nah-
rungsbedarf durch Jagd und Fiſchfang ergänzt und ab-
wechſe lungsreicher gejtaltet. Bedenten wir, daß die
Entitehung diefer Bronzepfahlbauten in die Seiten der
größten nadeiszeitliden Trodenheit fällt, in Perioden
aljo mit tiefitem Waflerjtande der Alpenfeen, jo wer:
den wir nid fehlichließen, wenn wir in der Nähe die:
jer Pfahlbauten den damaligen Uferrand fuchen.
Merkwürdig ift freilich), weshalb man nit auf dem
dımals dodh ausreichend breiten Strande bleibt. Ent:
ſchied bei den Steinzeitlern der Plaßmangel zuguniten
der Piahffiedlung, jo müffen bei den Bronzezeitlern
run wirklich das Schugbedürfnis und vielleidt aud
hygieniſche Erwägungen mitgeiproden haben. Die
Welt war belebter, unruhiger, kriegerifher geworden,
der Befig eines Bronzedorjes verlohnte fchon einen
Heberfall. In der Tat laffen uns jene Zeiten mander-
lei Bölferbemegungen erſchließen. So ſicher wir alfo
in gewöhnliden Zeiten čen fteinzeitlihen Pfahlbau
auf dem Lande zu juchen haben, fo wahrſcheinlich wer-
den wir den bronzezeitliden von Waller umfpült den-
fen müffen. War jener redt eigentlich Wohnftätte,
je wird dieſer mehr zur Tliehburg, neben der man
noh Landfiedelungen befißt, die für gewöhnlich be-
nußt werden.
Das Intereſſe weiteſter Kreife an den Pfahlbau-
forſchungen und ihren Ergebniffen beruht nicht zum
wenigiten in einer gemwiflen Romantif, die diefe Al-
penjeedörfer umgibt. Freilich Hat die moderne For:
[hung mandes davon zeritört; aber es bleibt nod
immer genug übrig, und die landläufigen Bilder und die
vielbewunderten Modelle von Pfahldörfern in den ſüd—
deutſch-ſchweizeriſchen Mufeen haben ihn noch völlig
bewahrt. Die befondere Bedeutung der Pfahlbauten
für die Forſchung dagegen liegt einmal in der vorzüg:
lidhen Ronfervierung aud) der vergänglichen Kulturrefte,
dann aber in der Lüdenlofigleit der Kulturentwidlung
eines beitimmten Zeitabſchnittes. Der Schlammboden
hat zwar fritiflos, aber getreulid” alles aufbewahrt,
was menſchliche Abficht oder Zufall ihm zugeführt ba-
ben, Wertvolles wie auh Abfall. Wenn, was nid
ganz felten eintrat, ein ganzes Dorf vom feuer ver-
zehrt wurde und dann größere Teile mit Hab und Gut
in die Tiefe janfen, dann jpülte der See fehr bald jei
nen Schlid darüber und bewahrte es jowohl vor beute-
gierigen Teindesbliden wie vor lüſternen Sammler-
augen. Wie viel reichhaltiger ift demnad das See-
grundarchiv als Grab und GSiedlungsitätte im Binnen-
lande. Dieje, wenn fie nicht freiwillig geräumt und
daher ihres beiten Inventars beraubt ift, ift ihon oft
genug von älteren, jenes von jüngeren Raubgräbern
heimgejucht worden. Einen Uebelſtand jedoch Hat die
Pfahlbauhinterlaſſenſchaft im Gegenjat zu den Grab-
funden: ibr Kulturbild ift an ſich flächenhaft und ent-
behrt der Perſpektive. Dahrzehnte, ja vielleicht Jahr—
hımderte Hindurdy find Kulturgüter und -abfälle in den
Schlammboden gejunfen, Altes ruht friedli neben
Neuem. Das Grab mit feinem Inhalt dagegen gibt
einen zeitlid) mehr oder weniger begrenzten Ausfchnitt
cus der Vorzeitkultur, freili” auh dem Umfange und
der Auswahl nad) einen Abfchnitt, da man dem Toten
eben nur das mitgab, woran im Leben fein Herz
þing oder was man für wertvoll oder zwedmäßig hielt.
Da wir nun aber die typologiſchen und «hronologifchen
Ergebniffe der Gräberforfhung als Maßitab an die
Hinterlaffenfchaft der Pfahlbauinventare anlegen tön-
nen, find wir aud hier in der Lage, in das dadurd
entitehende Flächenbild die zeitliche Tiefe hineinzutragen.
Was aus dem trodenen Seegrunde an bauliden
Reften emporragte, mochte dem fernitehenden Beob:
achter dürftig genug vorfommen und faum der Bead-
tung wert erjdeinen. Was dagegen aus der Kultur-
Ihiht der Pfahlbauten in die Mufeen gerettet und dort
mwohlgeordnet aufgebaut worden ift, nötigt jedem Be-
ſucher einige QAufmerfjamfeit ab und gewinnt Leben
und Sprade, wenn man fid eingehender damit beſchäf
tigt. Wer die Scriftzüge diefer Urkunden zu deuien
142
verfteht, für den jteht das Pfahldorf wieder volljtändig
da am knirſchenden Strande oder im feichten bläntern-
den Waller der Ulpenfeen, umgeben von der gemal-
tigen Bergwelt, deren ſchneeige Greiſenhäupter fo
greifbar nahe und doch jo fern herniedergrüßen, um:
rahmt von dunklen Wäldern, weltverloren und doch
vom PBulsichlag
fhaffenden Lebens
durchklopft, von
dem uns bis in
das Alltägliche,
Allzualltäglide die
Funde Kundihaft
geben. Da ilt’s
dem Künftler nicht
ſchwer, bildlich) oder
plaſtiſch ferne Ur-
zeiten uns wieder
vor Augen zu
rüden, und es
gehört für uns
nicht zu große
Phantafie dazu, um
uns ſelbſt Jahr-
taufende zurückzu⸗
verfeben und im
Geifte jene Ber-
gangenheit mitzuer-
leben. Tun wir’s
getroft einmal!
Nach mühjeliger
Wanderung auf
wenig geebneten
- Pfaden blinft end:
lich der See, der
unfer Ziel ift, vor
uns auf. Wed
traulidyes Bild
nad) der betlem-
menden Urmwaldein-
famteit. Wir über:
Eliden aus geringer
Höhe die jpiegel:
blante Waflerfläche,
on deren Rändern
ſich mehrere Pfahl-
dörfer Hinziehen.
Auh am Strande
ſelbſt bemerfen
wir leihte Hütten,
dahinter ſchmale
Felder mit Getreide, gerade vor uns auf fattgrünem
MWiefenplan eine Viehherde. Der fie hütende teine
Spit, deffen jchafalartiges Aeußere feine Abjtammung
nch unleugbar verrät, Hat uns fon gewittert und
Ihlägt Lärm. Er ift ein treuer Warner, aber noh fein
eigentlißer Wächter. Erit der Bronzewolishumd
(Canis familiaris matris optimae) war imjtande, den
Kampf mit dem ſchlimmſten Feinde der Herden, dem
Wolfe, aufzunehmen, deffen Blut ihm ſelbſt in den
Adern rollte.e Die braunen Rinder (Bos brachyceros,
Torfrind oder Kurzhornrind) fallen uns durd ihre
Detreidearten der
Pfahlbauten
Die Welt der Pfahlbauten.
Bierlichleit und ihre kurzen Hörner auf und Haben
Betreidemühle von Allensbach
Oetreidebau und Sammeltätigkeil der Steinzeit -
merfwürdige Aehnlichkeit mit dem malaiſchen Banteng.
Auch das „Torfſchwein“, das unter dem Viehbeſtand
des fteinzeitlihen Pfahlbauern emen wichtigen Plab
einnimmt, fieht unferen heutigen grunzenden Gaus-
genoflen dunhaus unähnlid. Man läßt es halbwild
umberlaufen und
tennt nod feine
planmößige Mä-
ftung. Darum fehlt
ipm auch trog Ci-
helmaft die be-
liebte Leibesfülle,
in der wir
jebt den blinzeln-
den Gefellen zu
erjtiden ſuchen.
Wenn uns der
halbnackte Hüter:
bub, der gerade zu
uns tritt, nicht
fagte, daß das dort
„Torfſchaſe“ feien,
wir hätten diefe
3ierliden Tiere mit
dem Hirſchköpfchen
und den aufrechten
Hörnern wahrhaftig
für Ziegen gehalten
und geglaubt, die
Ertreme der Rule
tur berührten fi
in diefem Puntte.
Wie anders fieht
fpäter das Brome-
ſchaf au. Tat-
ſächlich klet tern
auch einige „Torf⸗
ziegen“ umher, klei⸗
ner als unſere
Hausziege, aber
ibr im ganzen
gleidh. Das Pferd
vermilfen wir ganz,
ebenfo die Kape.
Kein Hahnenträhen,
fein Taubengurren,
fein Gänje- und
Enten - Geichnatter
wedt die Pfahl:
leute des Morgens.
Sie ſtehen troßdem mit den Hühnern auf und gehen
mit ihnen zu Bett.
Ein freundlicher Führer Hat fih zu uns gefellt und
weilt voll Stolz auf die Getreidefelder. Wir entfinnen
uns, in den Schaufäften der Pfahlbaumufeen zahlreiche
im Torfmoor verfohlte Getreidekörner gefehen zu haben.
Daß das nur leine Proben waren, hat uns vielleicht
das Führerbüchlein verraten. Ganze Karrenladungen
hat man davon 3. B. aus dem Robenhaufener Moor
gehoben. Die gebräudlichen Getreidearten find nad
heutiger Auffalfung noch etwas minderwertig; aber {don
Obst- und Beerenfrüchte
der Pfahlbauten
Die Welt der Pfahlbauten.
finden wir Weizen, Gerjte und Hirſe.
Die Bronze-
zeit gewinnt den Hafer Hinzu; der Roggen dagegen
erreicht dieje Gegend während der Pfahlbauzeit über-
haupt niht. Auch den Flachs, wie er noh heute als
Wildpflanze in den Mittelmeergebieten zu finden ift,
treffen wir hier bereits an. Bohnen und Linjen halten
* 143
waſſerzeiten Dorf und Land miteinander verbindet,
vielleicht, weil es auch hier der gute Ton erheiſcht, daß
man Gäſte nicht zur Hintertreppe emporleitet, vielleicht
auh mit Rüdficht auf unfer modernes Salonſchuhzeug,
das ihm weder für Knüppeldamm noh Moraff jonderlic)
geeignet erſcheinen mag. Auf fnarrenden Bohlen nä-
in der Metall: bern wir uns
periode ihren der Giedlung
Einzug auf dem und haben Mu-
Piahlbauader. Be, fie einge:
Bon der Be- hend 3u prüfen.
wirtihaftung Welch ein Ge:
des Bodens wire von Pfäh-
hen wir im Bogen von Bodman len, auf denen
Augenblid ge- das Dorf ruft.
tade nidts. 60 000! nitt
As uns aber unfer Begleiter
jpäter unjer | uns gleidh-
Gaftfreund im mütig zu und
Dorje durch fein À s Ä empfindet gar-
Anweſen führt, nicht unſer
können wir in Staunen über
einem Mintel
auh die Ader-
geräte in Au-
genſchein neh:
men. Da ift
die Hirſchhorn—
bade mit lan-
gem Stiel (Fund
von Scufien-
ried =» Riedicha:
den), wie fie
ähnlich no
heute in der
Südfee und im
Herzen Afrikas
3u einfachem
Hadbau ver⸗
wandt wird.
Da ruht auch
der Holzpflug,
der, von Men—
ſchenkraft ge-
zogen, durch den
Fuß des Pflü-
gers in den
Boden getreten,
Entwicklungsreihe der Pfeil-
spilze und ihrer Fassung
Bodman
wu
Bodman Hallmau
Angelhaien
Stechhaken von Bodman
Netzsenier von Unter-Uhldingen
Pfeilspitzen z } 7
die Leiſtung, die
man hier (Bod-
man) mit dem
jiġ jo leicht ab-
nußenden und
immer neu 3u
ſchärfenden
Steinbeile her—
vorgebracht hat.
Und darüber die
zahlloſen Quer—
balken und Bret-
ter. Welch eine
Summe müh—
ſeligſter Arbeit!
Wo bleibſt du,
goldener Traum
von der guten
alten Zeit! Un:
ferm Geleits-
mann leuchtet
wohl Tlangjam
ein, daß er uns
als ausgemad)-
ten Landratten
hier allerlei
%
die Scholle auf- Neuigkeiten zei-
reißt (und von gen und erflä-
Bodman, voll: JAGD -UND FISCHEREIGERÄTE DER STEINZEIT ren fann. Das
ftändig aus dem läßt er fi) wm-
dan. Moor bei gern entgehen.
Döstrup). Aud jteinerne Haden und Pflugidaren Er erzählt uns, wie die ſchweren Eihenpfähle, droben im
verwendet man.
Bir find inzwiſchen am Dorfe angelangt und müſſen
feititellen, daß dieje „Wafferratten” tatfächlich vollftändig
auf dem Trodenen figen. Wir fchreiten über feuchten
tnirſchenden Seefand. Wo der Grund jchlammig ift,
hat man Bretter und Knüppel gelegt, jo daß wir
Ziemlich troden Hinüberfommen fönnten. Aber unjer
Begleiter führt uns doh zum Brüdenftege, der in Hod:
Walde gefällt und im Sommer herabgeflößt, im Win-
ter auf Schlittenkufen herunterbefördert, mit mächtigen
Holzjchlegeln eingerammt werden — freili recht un-
regelmäßig und ohne Sinn für Symmetrie, wie wir
Drdnungsmenfhen feititellen müffen. Wo der Boden
3u hart ift, fihert man den Pfahl durch eine herum-
geihichtete Steinpadung. Am oberen Ende lät man
gerne zwei Aſtanſätze in Form von Traggabeln jtehn,
144
in denen der Querbaum feft und fiher ruht. (Fund im
Moordorf Aihbühl bei Schuffenried). Aber auh Holz:
nëgel und hölzerne Zapfen geben die nötige Feſtigkeit,
und wo das nod nicht genügte, wird das Baltfeil ver-
wandt (Fund von Budau:Dullenried), aus dem man
einen haltbaren Knoten zu fchlingen verfteht. Auf dem
fo gebildeten Eichenroft laftet nun die Plattform, die
die Häuſer trägt. Was wir davon nun vor uns fehen,
— an diejer Stelle wird die Befunddronit der Pfahl:
bauten leider lückenhaft — erinnert uns an die Moor:
dörfer, die wir im jekt völlig verſchlammten, einjt 12
km langen Federſee fanden und die fih wieder mit den
Anlagen von Niederwil und Robenhaujen deden. Das
Moor ift ein trefflier Archivar, einer von der Art,
die nichts wieder herausgibt, was fie einmal mit Be-
ihlag belegt þat. Langjam ift es über Haus und Hof
hingekrochen und hat darüber die Alten geichloffen.
Erſt unjere moderne Spatentechnit hat fie wieder ge-
öffnet. Was wir dort fanden, gleidyt der Sitte unferer
ltammverwandten Pfahlbauleute genau. -
Rechteckig Itehen die Hauswände zu einander, aus
zmei Meter hohen, 4 bis 5 Zentimeter diden Spalt:
brettern gebildet, Die man ſenkrecht aufgeltellt hat. Die
Bauten fönnen an Rauminhalt mit manden neuzeit:
lihen Siedlungshäufern durdaus in Wettbewerb tre-
ien; fie mefjen 70 bis 80 Quadratmeter und umfaſſen
außer dem geräumigen Borplat einen lleineren Ar-
beitsraum und einen mwohnliden Schlafraum. Die
Dede wird, wie wir uns fpäter dur den Augenfcein
überzeugen können, durch Balten gebildet, die im Ab-
jtande von etwa 60 Zentimetern gelegt find. Darüber
ragt auf Sparren und Giebelftangen das hohe, an den
Geiten tief herabhängende Schilfdady empor (Reſte in
Schuſſenried-Aichbühl und Buchau-Dullenried gefun-
den). Die Wände find innen und außen mit Lehm
verfhmiert und dadurch zugleich feuerfiher gemacht.
Fenſter fehlen; aus der Giebellufe kräuſelt bläulicher
Herdrauh empor. Sein Tagesliht empfängt bas
Pfahlbauhaus einzig dur die an der Giebelfeite lie
gende Tür, auf die unfer Begleiter jebt zufteuert und
über der uns ein Tierfhädel und ein tönernes
Mondidol grüßen.
Der Hausherr ift nicht daheim. Sein Weib treffen
wir bei der Bereitung des Abendmahls. Leidt — wir
meinen wohl recht leidt — geſchürzt, läßt fie die ſchwere
Mahlkugel in gleihförmigem Taft über den Mahltrog
gleiten, eine mühjelige, zeitraubende Arbeit ums täg-
lie Brot, das fie in Fladenform auf dem Herde bädt.
(Hunde von Robenhaujen). Unfer Erſcheinen läßt fie
zwar innehalten; dodh behält fie ihre fnieende Stellung,
um jofort die Siigphosarbeit fortzufehen.
Bom Innern der Hütte jehen wir nicht viel; unfere
Augen find an ihr Halbdunfel noh nicht gewöhnt, und
der vom niedrigen Herde auflteigende Qualm hüllt das
Ganze in fein brennendes Grau Da wir außerdem
augenjcheinlidy jtören, treten wir lieber auf die Rampe
zurüd, um den Anblid des Sees zu genießen. Ueber
Stege und Brüden fchreiten wir zur Außerften Waffer:
feite des Dorfes, zu der die Wellen noch gerade heran-
reihen. Seemwärts vor uns in einiger Entfernung erhebt
fid) ein aus Pfahlwerk und durchgeflochtenem Reifig er-
itellter Wellenbrecyer, der das Dorf vor dem Anfturm
Die Welt der Pfahlbauten.
der Hochfluten ſchützen foll. In der Ferne erfennen wir
einige Fifþherboote, jene befannten aus einem Eichen:
ftamm ausgehöhlten ſchwanken Fahrzeuge, rechte See:
Ienverfäufer, die aber von ihren Befigern mit großer
Vertigfeit gehandhabt werden. Unſer Auge wird jedod
porerft durd eine hodende Männergeſtalt abgezogen,
die den Körper in irgendeiner rhythmiſchen Arbeit taft-
mäßig bin und her wiegt. Was tut fie wohl? Wir
tieten näher und bemerten, daß der Mann zwiſchen den
Knieen ein jauber geichliffenes Gteinbeil feitgeflemmt
hält, das er zu durdbohren ſucht. Ein kräftiger Röh—
renknochen, dem das Belentende abgeſchlagen worden ift,
ſodaß hier eine fcyarfzadige Bohrkrone entſtanden ift,
dient als Bohrftab. Das obere Ende dreht fih in einem
etwas ausgehöhlten Widerlager aus Stein, auf den der
Arbeiter [hwer die Bruſt ftüßt. Um den Bohrjtab ift
eine Tierfehne gejchlungen, deren Enden an einem Flik:
bogen befeitigt find. Indem der Mann diejen hin und
ber zieht, dreht er den Bohrer abwechſelnd rechts umd
lints herum. Schon hat fi” die Bohrkrone ein be-
trächtliches Stüd in den Stein hineingefreilen und einen
Zapfen in der Mitte herausgearbeitet. Die Vollendung
erheiſcht freilid) noh mandes Stündlein ſchwerer Ar:
beit. Wird die Mühe Iohnen? Bielleidyt zerfpellt ein
unfeliger Schlag nachher die Art ſchon beim erften Ge-
brauch gerade an dieſer ſchwachen Stelle.
Als wir wieder zum See hinausbliden, jehen wir
die Bootsflottilie heimfehren. Ein Kahn nad) dem an-
dern ftößt an die Gußerfte Pfahlreihe an und wird dort
mit einem Strid angebunden. Die Männer reichen ihre
Tiihbeute in Körben zur Rampe empor, ziehen ibre
Neke herauf und hängen fie zum Trodnen auf. Sie
tragen an der einen Seite die hölzernen Schwimmer,
an der andern die tönernen Nebienter. Auch Angel:
gerät wird geborgen. Zum Teil finden wir unfern
Angelbafen, wenn auh aus Knochen, wieder, daneben
aber aud fleine beineme, an den Eden geſchärfte
Beinftäbchen, in deren Mitte, mandymal durd) ein Loch,
das Ende der Angelſchnur gebunden ift. Wehe dem
Fiſch, der mit dem lederen Köder fih diefes Querftab-
dien einbeißt, das er niht wieder ausipeien tann!
Freilich bemerken wir hier auch Filchereigerät, das un-
fere jetzige Geſetzgebung verbietet: den Fiſchſpeer und
den Stechhaken. Hier gilt noh jeder Vorteil; ift doch
das Leben an fih ſchwer genug.
Auch unfer Baftfreund ift endlid angelangt. Er
tehrt von erfolgreiher Vogeljagd zurüd und ſchwingt
uns grüßend® den großen Bogen entgegen (Fund von
Bodman). Sein Boot überläßt er feinem “Begleiter
und leitet uns 3u feinem Haufe, wo unjer inzwilden
die Ubendmahlzeit barrt: gebadener Ladys, Hirfebrei
und Brot, ein Stüd Hirfchleule vom Mittag her, als
Nachtiſch Aepfel von der wilden Art, die uns nicht
mehr reht mundet, als Getränt Milh und für Gaft
und Gaftgeber Met.
Nachdem fi) unjer Auge an die Dämmerung in der
Hütte gewöhnt hat, können wir nm auch Umſchau hal-
ten. Die Wände find, foweit fie fihtbar find, fauter
mit Lehm verpußt und mit einer matten Erdfarbe ge-
tündt. Der größte Teil ift mit Felen behängt, die
auh den Boten in ein weiches Politer umgewandelt
haben. Waffen und Geräte dienen zugleih als Bim-
Die Welt der PDfahlbauten.
merihmud. An einem Balten Hängen merfwürdige tul-
penförmige Tongefäße ohne Standfläde, die typijche
Pfahlbauferamit, die noh deutlich erfennen läßt, daß
ihr Borbild der noh heute im Orient übliche Wajler:
ſchlauch gewejen jein muß. Die Vorväter unjerer Pfahl-
bauern verwandten als Aufbewahrungsort für Flüſſig—
teiten den Ho-
den- oder Ma-
genjad — von
Stier oder Schaf.
Als letter Nad-
tlang an jene
Zeit fallen uns
die zigenartigen
Warzen auf, die
jegt an den Ge:
faßen der um-
taflenden Hand
fiheren Halt
geben jollen.
Daß man aud)
ſchon andere
Gefäße zu for-
men weiß, be—
weiſen die vor
uns am Boden
ſtehenden fla-
chen Schüſſeln,
der bauchige
Krug und die
Henkelkanne. die
an ihrem Ober—
teil ebenfalls
mit jenen fenn-
zeichnenden
Budelmwarzen
geziert ift. In
einer Ede ent-
deden wir aug-
Unter-Uhldingen 246
Bodman ?%
von der Rechten in fortdauernder Bewegung gehalten,
derweil die Linte den Faden aus dem Moden zupft.
Neben ihr hodt der Knecht, einen hübſchen Korb fled-
tend. Auch wir treten wieder ins Freie hinaus, denn
noch ift man innerhalb der vier Pfähle nicht eigentlich
heimiſch, jondern betrachtet fie mehr als jchüßenden
Notbehelf. Da-
her jpielt ſich
das tägliche Le-
ben auh im
greien ab. Das
bemerfen wir
auh jekt zur
Abenditunde.
Ueberall regen
ſich noch flei—
ßige Hände.
Nicht allzu fern
iſt ein Mann
damit beſchäf—
tigt, mit ſeinem
Druckſtab aus
Hirſchhorn feine
Feuerſtein⸗Säge
zu ſchärfen, und
dort drüben
ihwingt eine
grau die knö—
herne Nähnadel
mit dem Faden
im Oehr, um
ihrem Ehegatten
etwas „am
Zeuge zu flit-
fen”. Aber
ichnell verſinkt
die Sonne þin-
ter den Bergen,
fattblau riechen
Bodman
Sipplingen
den Mebftuhl, die Nachtſchat—
an dem die ten aus den
Hausfrau den Gründen empor.
felbitgejponne- ar s r , Ueber dem See
nen Flachs — * ee wabern die er-
oder den Woll- * * — zn ten Abend-
faden zu feften Sipplingen Bodman Unter-Uhldingen Sippungen nebel. Da it's
Stoffen ver: * ma niht behaglich
mwebt. Was man mehr im freien.
jpäter auf die-
fem Gebiete zu
leiſten imitande
war, das lehren
die Robenhaufener Funde, die jelbjt ein Fachmann an-
fongs für moderne „Parifer Pofamentierarbeit“ zu
halten geneigt war.
Die Hausfrau Hatte an unferm Mahl niht teilge-
nommen; das verbietet hier noch die untergeordnete jo:
ziale Stellung des Weibes. Während wir drinnen nod)
beim Flackerſchein einiger mit Fett geſpeiſten Ton-
lämpdyen plaudern, ift fie draußen längjt wieder tätig
und läßt die vom Wirtel beſchwingte Spindel fchnur:
ren, die, den Faden drillend, langfam zu Boden fintt,
STEINZEITIOPFEREI DER BODENSEEPFAHLBAUTEN
Wir kehren ins
Haus zurüd, und
mährend Drau-
ben der Mond
in das gejpenitiihe Wallen und Ballen der Nebel:
ſchwaden leuchtet, plaudern wir drinnen noh lange
von Leben und Tod, von Gefpenitern, vom
Medizinmann und WPrieftern, kurz von all dem,
was das Herz erfüllt und was man doh nur
mit einer gewillen Scheu andern anzuvertrauen
wagt. Ob wir jhon zu müde waren zu folden tief-
finnigen Gejpräden? Nur eine dunkle Erinnerung ift
uns geblieben von dem Belenntnis der Geelennot un:
jerer Pfahlbauleute. Kaum aber umfing uns der Schlaf
— —
146
auf weichem Büärenfellpoliter, als uns auh jhon der
Traum feltjame Bilder vorgautelte: Stummgeheul und
MWogendrang, Zuſammenbruch des Pfahldorfes, Wieder:
erjtehen beim dröhnenden Klange goldgleigender Bron-
3eärte, herrliche Blüte einer neuen Pfahlbaukultur,
Waffengeflirr und Feuersbrunſt — und dann grabende
Forſcher, die den feuchten Seeſand durchwühlten und
jedes Stüd, das aus ihm heraustam, mit prüfendem
Blid mapen. Und ſchließlich waren wir E ON unter
entnommen.
Die Chemie der Nahrungsmittel und ihr Abbau im menfchlihen Körper.
den Traumgeftalten und ftanden vor den Schränken
und Vitrinen irgendwo in einem Pfahlbaumwfeum und
fahen aus ihren Fundftüden das Pfahlbaudorf erftehen,
das wir ſoeben bejucht Hatten.
Die Bilderbeigaben diefes Aufſatzes find dem Bude
„Die Pfahlbauten am Bodenſee“ von Hans Reinert
(Verlag Dr. Benno Filfer, Stuttgart : Augsburg)
Die Chemie der der Nahrungsmittel und ‚ihr Abbau im
menschlichen Körper. Bon Gtudienrat Götze.
Zur Erhaltung und zum Aufbau des menſchlichen
Körpers ift eine Zufuhr von Nahrung nötig. Hun-
ger und Durft regeln die Aufnahme. Da der menid-
lie Körper fih aus Wafler, Mineralftoffen, Kohle-
hydraten, Fetten und Eiweiß aufbaut, die ftändig in
ihm umgeſetzt, aufgebaut oder auch ausgefchieden wer-
den, fo ift es nötig, daß Erſatz gefchafft wird. Dies
geichieht durch Aufnahme der Nahrung, die ſich aus den
verjhiedenen Nahrungs: und Genußmitteln zufammen-
jet. Die eriteren find für uns unbedingt nötig, wäh:
rend man auf die leßteren — id) erinnere an Alkohol
und Nitotin — mehr oder weniger verzichten rann.
Nun pflegen wir die meilten Nahrungsmittel nicht roh
3u genießen, fondern zubereitet als Speifen, in denen
mehrere Nahrungsmittel zufammen vereinigt find.
Die Erfahrung hat nämlid dem Menjen gezeigt, dap
durd) das Zubereiten in den Speifen die Nahrungsmittel
beffer verdaut und ausgenugt werden als im rohen
Zuſtand.
Von den genannten Nahrungsmitteln liefert uns die
tote Natur das Waſſer und die Salze, während die le-
bende Natur uns im Tier und in der Pflanze mit
Kchlehydraten, Fetten und Eiweiß verforgt. Die lep:
teren drei können nur im lebenden Organismus vor-
tommen, und zwar ift allein die Pflanze befähigt, aus
einfahen chemiſchen Verbindungen, die aus der Luft
und dem Boden entnommen werden, mit Hilfe des Son-
nenlidtes diefe kompliziert aufgebauten Stoffe bilden
3u können. Durch die pflanzliche Koft gelangen fie in
den tieriſchen und menſchlichen Körper, der fie nur um-
geftalten oder zeritören tann. Bei der Umgeitaltung
bildet der Körper die Stoffe, die er zu jenem Aufbau
braudt, bei der Zerſtörung geht eine Verbrennung
dur den Saueritoff vor fih. Der Saueritoff gelangt
bei dem Einatmen der Luft in unfere Lungen, wo er
fit; an die roten Blutkörperchen, das Hamoglobin, an-
iagert und als Oryhämoglobin durch den Körper wan-
dert. In den Geweben erfolgt die Berbrennung der
durh das Blut dahin gebraten Nahrungsmittel, da
fi) der Sauerftoff Teiht vom Hämoglobin befreien
tann. Andererfeits erwächſt diefem Hämoglobin die
Aufgabe, eines Diefer entitehenden Berbrennungs-
produßte, nämlich die Kohlenfäure, zu binden und nad)
der Zunge zurüdzuführen, wo diefe fih ebenfalls vom
Hamoglobin trennen fann und ausgeatmet wird. Man
tann an der Farbe des Blutes erfennen, welde Adern
“
das Blut in die Gewebe oder zurüd nad) der Qunge
führen. Das fauerjtoffreidye oder „arterielle Blut ſieht
bellrot, das fohlenjfäurereihe oder „venſe“ Blut dun:
telrot aus. Wir haben zwiſchen Pflanze und Tier oder
Menſch folgenden grundlegenden Unterſchied: Die
Pflanze bildet Verbindungen, in denen Sonnenenergie
aufgejpeichert ift, im Tier und Menſch wird beim Ab-
bau diefe Energie wieder frei in Geltalt von Wärme,
die leicht in mechaniſche Energie umgewandelt werden
tonn. Unfer Körper verbrennt — abgeiehen von den
Eiweißftoffen — nur fo viel von den Nahrungsmitteln,
um feine Temperatur auf derfelben Höhe zu erhalten
und die verlangte Arbeit leiten zu können, den Reit
Ipeichert er als Fett oder tieriſche Stärte auf, von de-
nen er bei Krankheiten zehren tann. Wir könnten diefe
Qebensvorgänge in der Pflanze einerfeits und im Tier
und Menſch andererfeits mit dem folgenden befann-
teren Naturvorgang vergleihen. Infolge der Erwär⸗
mung dur) die Sonne verdunftet auf dem Lande und
dem Meere ftändig Wafler, wird durch die aufſteigende
Luft emporgehoben und bildet in der Höhe die Wolken.
Die Sonne hat diefe Arbeit geleiltet. Hiermit fönnen
wir die Bildung der Fette, Kohlehydrate und Eiweiß-
itoffe mit Hilfe des Sonnenlidtes in der Pflanze ver-
gieihen. Wenn nun die Wollen fih abregnen und das
Waſſer in Bächen und Flüſſen talabwärts fließt, fo
tenn es wieder Arbeit leilten. Da der Menſch Ständig
von emem Wluffe diefelbe WUrbeitsleiftung erzielen
möchte, der Wafferftand jedoch in den einzelnen Jahres-
zeiten großen Schwankungen unterliegt, fo legt man
Stauweiher an, die den Ausgleich gewährleiſten.
Hiermit laffen fi die Vorgänge im tieriſchen und
menſchlichen Körper auf gleide Stufe Itellen, denn ein
Teil der Nahrungsmittel wird zur Erhaltung der Kör-
perwärme und zur Leiltung der Arbeit gebraudt, ein
anderer Teil aufgejpeicdhert.
Im folgenden wollen wir uns nun den einzelnen
Nahrungsmitteln zuwenden, und zwar foll zunächſt die
Trage: „Was find chemiſch unfere Nahrungsmittel?”
und zum andern die Frage: „Wie baut fie unfer Körper
ab?” beantwortet werden.
Als Baufteine der verſchiedenſten Stoffe, die uns
umgeben, find die Elemente anzufpreden. Vereinigen
ſich zwei oder mehrere miteinander, fo entjtehen neue
Stoffe, die Verbindungen. Aus den Elementen Waj-
ferftoff und Sauerftoff beiteht das Wafler, das im
Die Chemie der Nahrungsmittel und ihr Abbau im menfchlihen Körper.
menſchlichen Körper mit 60—66% am Gejamtgewidt
beteiligt ift. Die beiden (Elemente find Gafe, ihre Ber-
bindung, das Waſſer, eine Flüffigfeit. Es dient im
Blut als Transportmittel für die Nahrungsmittel und
ihre Zerfallsprodufte. Ferner vermag es die Körper:
fubftanz, das Eiweiß, in Quellung zu verfehen; Rüd-
gang der Duellung durh Waſſerentziehung wird als
Durft empfunden.
Als Mineralftoff müflen wir befonders das Kochſalz
unferen Speifen zufeßen, da es weder in den tierijchen
und pflanzliden Nahrungsmitteln noh im Trintwafler
im ausreidenden Maße enthalten ift. Chemiſch beiteht
es aus dem Leichtmetall Natrium und dem Gafe Chlor
und wird zur Bildung der Magenjäure, der Salzjäure,
gebraucht. An anderen Mtineraljtoffen find nod der
Kell und die Phosphate nötig. Den erfteren nehmen
wir in der Form des lösliden doppelktohlenjauren
Kaltes im Trintwafler auf, die lehteren als Alkali: und
Kalziumphosphat in der pflanzliden und tierifchen
Rahrung. Die Mineraljtoffe madhen etwa 5% des
Körpergewichtes aus, davon entfällt das meifte auf die
Knochen, die vorwiegend aus SKalziumphosphat (Cas
(PO.):) beitehen. Außerdem find Bilarbonate und
Bhosphate im Blute, in den Geweben und Sekreten
enthalten, die die Aufgabe haben, alle fih bildenden
Säuren fofort zu binden, jomit unſchädlich zu maden
und infolgedeflen die ftändige Wirkung der Fermente
in den Darmjäften und Zellen zu ſichern. Hat der Kör-
per Mangel an diefen Mineralitoffen, fo treten als
Krankheiten Skorbut, die engliſche Krankheit u. a. auf.
Die bis jekt erwähnten Nahrungsmittel können wir
als die anorganijdyen bezeichnen, ihnen gegenüber jtehen
die organiſchen: die Fette, Kohlehydrate und Eiweiß:
ftoffe. Wie wir bereits feftgeitellt haben, werden diefe
letzteren in unferem Körper abgebaut und verbrannt.
Die folgende Tabelle foll einen Ueberblid darüber ge-
ben, wieviel beim Verbrennen eines Grammes diejer
Stoffe an Wärmelalorien*) frei wird und wieviel Kilo-
grammeter an Arbeit ihnen gleich find. Es liefert:
1 g Fett 9,3 Kalorien — 3971 kgm
1 g Eiweiß 4,1 PR — 1750 „
1 g Kohlehydrate 4,1 j — 1750 „
Ein Beijpiel foll uns dieje Tatfadye etwas veranichau:
lichen. Es fol die Frage beantwortet werden: wie hoc)
tann ein 75 kg ſchwerer Menſch jteigen, wenn jedes
Mal 1 g Fett oder 1 g Eiweiß, bezw. Kohlehydrat
verbrannt wird.
Löſung: 1 g Fett [liefert 3971 kgm. Da der be:
tieffende Menſch 75 kg ſchwer fein foll, jo wird diefe
Reiftung aufgebradt, wenn er um =. m — 53 m
emporfteigt. Genau fo finden wir für 1 g Eiweiß oder
Kohlehydrat den Betrag von ca. 23 m.
Bon den organiſchen Nahrungsmitteln follen nun 3u-
nächſt die Fette beſprochen werden.
— -
*) Eine Kalorie ift die MWärmemenge, die ein Liter
Wafer um 1° C erwärmt. An mechaniſcher Arbeit
müflen 427 kgm geleijtet werten, um in einem Liter
diefelbe Temperaturfteigerung hervorzubringen. Afo
1 Kalorie — 427 kgm. .
147
Die Fette find eine Verbindung aus Glyzerin und
den Tettläuren. Die widtigiten Fettſäuren find die
Palmitin:, Stearin= und Deljäure, aber auh niedere
Fettſäuren wie die Butter- und Kapronjäure können
in ihnen vorhanden fein. Da das Glyzerin ein drei:
wertiger Altohol ift, jo müllen drei Fettſäurereſte
unter Wafferabfpaltung eintreten, wenn ein Fett ent:
jtehen fol.
C:Hs(OH%» + 3 (C»HsCOO)H =
Blyzerin Balmitinjäure
CsHs(CısHsCOO) + 3 H:O
pett Waſſer
Die drei wichtigſten Fettarten ſind:
1) das Tripalmitin CaHCHaiCOO)a,
puntt 61—62° C;
Schmelz:
2) das Triftearin CsHs(CrHsCOO), Schmelz-
puntt 70° C;
3) das Triolein CsHs(CoHsCOO), Schmelz-
puntt —6° C.
Die ette, die im Tier und in der Pflanze auftreten,
find im weſentlichen ein Gemiſch diefer drei Fettarten,
neben anderen Fettarten und freien Säuren. Ihre Be:
ihaffenheit richtet fi) nah dem Anteil diefer einzelnen
Beitandteile; fo unterjdeidet man drei Gruppen: 1. die
felten, 2. die halbfeften, 3. die flüffigen Fette oder Dele.
In der erjten Gruppe überwiegt die Fettart, die den
bechften Schmelzpunkt Hat, nämlich das Trijtearin. Zu
ihr gehören die Talgarten, wie Rindertalg und Sam:
meltalg. Sie gerinnen jehr leidt.
In den halbfejten Fetten gefellt fi) zum Tripalmitin
und Trijtearin noh das Triolein, fodaß fie feymierbar
werden. Zu ihnen muß man die Butter und die
Schmalzarten zählen.
Die flüffigen Fette, wie das Dliven-, Rüb-, Erdnuß:,
Lein:, Mohn-, Rizinus-, Knochenöl und der Lebertran
beitehen vorwiegend aus Triolein.
Die ette der eriten zwei Gruppen liefern uns die
Tiere, die der dritten Gruppe die Pflanzen und aus dem
Tierreich die Fiſche.
Da die Oele und Trane dem Menfden in genügender
Menge zur Berfügung ftehen, an den beiden eriten
jedoh Mangel herricht, fo hat man immer danad) ge-
itrebt, die flüſſigen Fette in die halbfejten überzuführen.
Diefe Abficht hat man in den legten Jahrzehnten ver-
wirfliden können. Das beruht auf der folgenden de-
milden Tatjade. Die Deljäure Cız Hs COOH ift
eine ungejättigte Fettſäure, die noh Waſſerſtoff auf-
nehmen und dann in die GStearinfäure Cı? Hs» COOH
übergehen fann. Bergleiht man die beiden Formeln
miteinander (H-Wafferftoff), fo fieht man, daß fie fih
um zwei Atome MWafferftoff unterfdeiden. Diejes
Härten der Oele ift bereits fabritmäßig durchgeführt,
3.8. in der Bremer-Biefigheimer Oelfabrik, und man
erhält Fette, die vor allem für die Geifeninduftrie ge-
braudt werden.
Die Fette find alfo Verbindungen, die fid zu
16—771% aus Kohlenstoff (C), zu 11—12% aus Waſ—
ferftoff (H) und zu 11—12% aus Sauerftoff (O) 3u-
jammenjeben. Aus ihrem hohen Kohlenftoffgehalt ber-
aus wird die Erſcheinung erflart, daß fie unter unieren
148
Nahrungsmitteln beim DBerbrennen die meilte Wärme
liefern. Für die körperlich ſchwer Arbeitenden find fie
unbedingt nötig. Man könnte nun glauben, dab der
Menſch die Fette den anderen Nahrungsmitteln vor-
zieht. Das geſchieht jedoch durchaus niht, denn wir
find nur imftande, 50—100 g. Fett am Tage aufzu—
nehmen. Dabei foll nod ein großer Vorzug der Fette
den Kohlehydraten und Eiweißltoffen gegenüber er-
wähnt werden. Sie enthalten als „accefloriihe Be-
Itandteile” Phosphatide, das Cholefterin und die Bita-
mine. Die eriten beiden werden vor allem zum Aufbau
der Gehirnfubltanz gebraudt. Die Vitamine find den
Eimweißftoffen verwandt und werden leiht durch Hike
vernichtet. Bis jekt hat man fie noh nicht ijolieren
fönnen, doh weiß man, daß bei ihrem Fehlen Çr-
nährungsitörungen auftreten. Sie find unbedingt für
die Kinder in ihrem Wachstum nötig. Butter und Gi-
gelb enthalten fie in reidem Maße und find infolge-
deffen unerfegbar. Es mag dem kaloriſchen Wert nad
Butter und Margarine gleicywertig fein, aber der Mar-
garine fehlen die wertvollen accefloriihen Beltandteile.
Die Hauptbedeutung der Fette liegt jedoch darin, daß fie
der Körper infolge ihrer Waflerunlöslichteit aufſpeichern
und von dieſen Reſerveſtoffen bei Krankheiten zehren
tann. Diefer Rejervevorrat an Fetten wird aus
tieriihen Fetten oder aus Kohlehydraten, die fih in jene
überführen laffen, ergänzt. Ter letere Vorgang im
Körper ift noch ungellärt. Beſſer unterrichtet find wir
darüber, wie die aufgenommenen ette aufgefpeichert
werden.
Da fie ja wafferunlöslid find, werden fie bereits im
Magen dur em ſchwach fettipaltendes Enzym im
Blyzerin und Fettſäure zerlegt. Reſtlos erfolgt dieje
Umfegung im Dünndarm, wo die Fette durch die Galle
und den Baudjipeichel fein zerſtäubt (emulgiert) werden,
fodaß das fettſpaltende Enzym der Baudjpeicheldrüfe,
das Steapſin, an einer großen Dberflähe angreifen
und die Spaltung vollenden tann:
CG;Hs(CrHsCOO) + 3 H:O =
Triftearin Waſſer
C:Hs(OH)s + 3 CrHsCOOH.
Glyzerin Stearinſäure
Dieſe beiden Zerfallsprodukte, das Glyzerin und die
Fettſäure, können, da fie waſſerlöslich find,
durch die Darmwand hindurchgehen. Tenſeits der
Darmwand oder bereits in ihr können dieſe Teile
ſich wieder zu Fetten vereinigen. Ein Teil da—
von wird aufgeſpeichert, ein anderer verbrannt. Die
Aufſpeicherung geſchieht hauptſächlich im Fettpolſter
der Haut, in den Geweben um die Nieren und im Ge:
tröfe und als Bindegewebe in den Muskeln. Da das
Jett ein ſchlechter Wärmeleiter ift, fo vermindert es die
MWärmeabgabe des Körpers an die Umgebung, ferner
wirft es als Schuß an den Stellen, an denen der Kör-
per einem Drud ausgefett ift. Die Verbrennung des
anderen Teiles vollzieht fih nit im Blut, fondern in
den Geweben. Dort gibt das Oxyhämoglobin den
Swerftoff ab, und bei der Körpertemperatur von
37° C geht die Verbrennung langfam vonftatten. Die
Endprodutte derfelben, die Kohlenjäure und das Waſſer,
fannte man bereits lange. Es tauchen alfo die Stoffe
auf, aus denen die Pflanze mit Hilfe des Sonnenlidhtes
Die Chemie der Nahrungsmittel und ihr Abbau im menfhlihen Körper
die komplizierten organifchen Stoffe aufgebaut hat. Der
Kreisring ift fomit geſchloſſen. Man ahnte natürlich
daß die Verbrennung jtufenweife bis zu diefen End-
produften erfolgt. Da fidh diefe Vorgänge im lebenden
Körper vollziehen, fo ift es verftändlich, daß diefe Zwi⸗
fchenprodufte [hwer zu beobachten find, aber in letter
Zeit hat fi) darin vieles geflärt.
Wer nicht Chemiker ift, den bitte id) diefen Abſatz
zu überfliegen, andererfeits mödte ich ihn nicht über-
gehen, denn für manden wird gerade das von Intereffe
fein. |
Oben war gejchildert worden, wie die Fette in Giy-
zerin und TFettfäure aufgejpalten werden. Ueber die
Nerbrennung diefer beiden Zerfallsprodukte ift man
jcgt gut über die der Tettfäuren, noh niht über die
des Glyzerins orientiert. Man hat gefunden, daß die
Orpdation an dem PeRohlenitoffatom der Fettſäuren
einſetzt:
R . CH: . CH». COOH + O =
R . CO . CH: . COOH + H:0.
Es entſteht neben Waſſer eine Ketonſäure, die jedog
unbeftändig ift und fofort durch Hydrolyſe in eine
Säure, die um zwei Kohlenſtoffatome ärmer ift, und
in Effigjäure zerfällt: |
R.CO.CH:. COOH + HO =
R . COOH + CHs. COOH.
Diefer Abbau vollzieht fi” genau fo wieder an der
Säure R. COOH, bis legten Endes, je nachdem ob die
Anzahl der Kohlenftoffatome des Alkylreſtes gerade
oder ungerade war, nur Eſſigſäure oder Eifigfäure mit
Ameifenjäure zufammen als Zerfallsprodukte auftreten.
An diefen beiden geht dann die Drydation nad) folgen:
den Gleichungen weiter:
CH: . COOH + O = CH:OH . COOH.
Es bildet fih die Oxyeſſig- oder Glykolſäure. Da
dieje die primäre Altoholgruppe enthält, greift an ir
die Orpdation an:
CH:OH . COOH + O = COH . COOH + H:0O
Es entiteht Wafler und die Glyorylfäure, bei der
die Aldehydgruppe für Sauerftoff weiterhin aufnahme:
fähig. ift:
COH . COOH + O = COOH . COOH.
Das Produft diefer Orydation ift die Dralfäure, die
bei weiterer Sauerftoffaufnahme in Kohlenfäure md
Ameifenfäure zerfällt:
COOH . COOH + O = CO: + H . COOH.
Zuletzt wird noh die Ameiſenſäure orpdiert:
H.COOH + O = CO: + H:O.
Mir fehen alfo, daß in der Tat als legte Jerfalls-
produlte der Tettfäuren die Kohlenfäure und das
Waſſer auftreten.
Unter den Kohlehydraten verfteht man eine Gruppe
von Stoffen, die die Zuder und ihnen nahe verwandte
umfaßt. Dan nennt fie deshalb Kohlehydrate, weil fie
an den Kohlenftoff den Wafferftoff und den Sauerftoff
in demfelben Verhältnis wie im Waſſer gebunden ent-
halten. Sie werden in drei Klaſſen eingeteilt: die
Monofacharide, die Difaccharide und die Polyſaccharide.
Zu den Monofachariden, die die Formel Ce Hız Os
Die Chemie der Nahrungsmittel und ihr Abbau im menfchlihen Körber.
haben, gehören der Trauben- und der Truchtzuder.
Beide trifft man in den Weintrauben, den Erdbeeren,
Eiadelbeeren, Johannisbeeren uſw. an, im menfdlichen
Korper den Traubenzuder im Blut und den Gewebe-
fäften und bei Zuckerkranken im Urin. Die Difac»
charide von der Formel Cız Hz On umfaffen den
Rohr: oder Rübenzuder, den Milh- und den Mak:
zuder. Infolge feiner ſtarken Süßigfeit ift der aus der
Zuderrübe oder dem Zuderrohr gewonnene Zuder ein
wichtiger Beitandteil der menicdliden Nahrung. Der
Milchzucker ift in der Milh jtillender Mütter vor:
banden, der Malzzuder bildet fih aus der Stärke der
Gerjte beim Malzprozeß. Zu den Polyfachariden
C x{H: O)y, deren Formeln noh niht einwandfrei feft-
geſtellt find, gehören die Stärke, die Zellulofe und die
tierifche Stärfe oder das Glykogen. Das legtere jpeichert
unfer Körper, da es waflerunlöslid) ift, m der Leber und
den Mustelin auf. Bon den Kohlehydraten find die
Zuderarten ımd die Stärke für den Menden gut ver-
daulich, unverdaulid die Zellulofe. Da die Wände der
Pflanzenzelle aus Zellulofe beitehen und von ihnen nod
wertvolle Nahrungsitoffe eingejchloffen werden, jo mwer-
den fie durch Kochen zerftört, wodurch eine beflere Aus-
nugung der Nahrungsmittel erzielt wird.
Die Koblehydrate haben für die Vorgänge im or-
ganiſchen Koͤrper eine febr wichtige Stellung inne, denn
fie liefem im ruht: und Traubenzuder den Grund:
fein, auf dem fi alle anderen Stoffe im pflanzlichen
und tieriihen Organismus aufbauen. Die Pflanze ift
nämlich imftande, unter Mitwirkung des Sonnenlidtes
und des Chlorophylls, aus der Kohlenfäure der Luft
und dem Waſſer zunächſt das Formaldehyd zu bilden,
wobei Sauerftoff frei wird.
CO: + H:O = CH:O + Oa:.
Bon diefem Formaldehyd ſchließen fih jofort fechs
Moleküle zu einem Monojacharid zufammen: (C H2
O)s = Cs Hai: Oe.
Durch weiteren Zuſammenſchluß können fidh daraus
die löslichen Difacharide oder die unlöslide Stärke und
Zellulofe bilden. Man findet deshalb die Stärke in den
Frühen und die Zellulofe im Gerüjt der Pflanze.
Außerdem muß die Pflanze nod die Fähigkeit be-
fiten, von den Zudern aus die Eiweißftoffe und die
Jette aufbauen zu können, dodh find die Zuſammen—
hänge in diefer Richtung noh micht gellärt. Als Be-
weis dafür fei an die Majt der Schweine erinnert.
Ihre Nahrung fekt fi ja im weſentlichen aus Kohle:
hodraten, nämli der Stärke der Kartoffel und des
Getreides, zufammen, und trog diefer einjeitigen Koſt
vermag der Körper des Tieres große Fett- und Eiweiß:
mengen zu bilden.
Die Kohlehydrate find der Menge nad) die wichtigiten
menſchlichen Nahrungsmittel. Als Stärfe werden fie
in unjerem Brote und den Kartoffeln aufgenommen,
als Zuder im Ruhen ujw. Im Munde beginnt der
Abbau diefer Kohlehydrate durch die Abjonderungen der
Speiheldrüfe mit der Spaltung der Gtärfe in
Malzzuder. Diefe Arbeit verrichtet das in ihnen ent-
haitene Ferment Ptyalin. Vollendet wird fie erft im
Darm durch den Pankreasſaft Hieran fchließt fidh fo-
149
fcrt der weitere Abbau durd die Maltafe des Darm:
faftes vom Malzzuder zum Traubenzuder. Chemiſch ift
der Prozeß eine Hydrolyſe:
CrH201 + H:O = 2 CeH1Oe.
Malzzuder Waſſer Traubenzuder
Aus der unlösliden Stärke ift alfo dur die Wir-
tung der Fermente ein löslides Monoſaccharid ent:
Itanden, das die Darmwand durchdringen und in den
Blut: und Lymphſtrom gelangen tann. Die für den
Menihen unverdaulide Zellulofe wird als Kot abge-
fchieden.
Der ins Blut gelangte Zuder wird nun auf dreierlei
Art benut. Erſtens tann er, da der Yudergehalt im ge-
funden Körper immer gleich ift, als überflüffiger Zuder
in die unlssliche tierifhe Stärke, das Glykogen, über-
geführt werden, das als Vorrat in der Leber aufge:
jpeidert wird. Bei weiterem Ueberſchuß wird zweitens
ein Teil in Fett umgewandelt, und endlid) wird ein gro:
Ber Teil in ten Zellen abgebaut und durch den Sauerftoff
des Oryhäamoglobins verbrannt. Dabei wird Wärme frei,
die der Körper aud in mechaniſche Arbeit umſetzen
tann. Der Abbau vollzieht fih in zwei großen Giufen,
und zwar zerfällt der Traubenzuder zunädft in Ab:
weienheit von Sauerftoff in Mildfäure, und dann
wird dieje in den Zellen durd den Gauerftoff zu
Kohlenfäure und Wafler verbrannt. Es treten alfo die:
jelben Endprodufte wie bei den Fetten auf.
Auch hierfür foll dur die Formeln der ftufenweife
Abbau wiedergegeben werden. Durch Embden ift der
Abbau des Zuders in Milchſäure dahin aufgeklärt
worden, daß im Mustel fih das Laftazidogen, eine
Verbindung aus einem Molekül Traubenzuder mit zwei
Molefülen Phosphorfäure, kefindet, das durh ein
Enzym in zwei Moletüle Mildyfäure und zwei Mole:
tüle Phosphorfäure aufgeipalten wird:
CeH::Os . 2 HsPO: =
Laktazidogen
2 CH:CHOH . COOH + 2 HPO..
Mildyjäure Phosphorfäure
Er konnte feine Annahme damit ſtützen, daß der
Raltazidogengehalt in einem arbeitenden Muste! mit
der Zeit immer lleiner wird, ferner dadurd, daß die
ſchnell arbeitenden und zu großen Leiltungen be-
ſtimmten „blaffen“ Musteln viel Laftazidogen, die zu
Iengjamer, aber andauernder Arbeit beitimmten „ro:en“
Musteln wenig davon befiten. Bei diefem Zerfall
wird bereits etwas Energie frei, die freilich nicht be:
trächtlich ift, viel größer ift die Energie, die durd den
crydativen Abbau der Milchſäure entfteht. Diefer ſetzt
an der fefundären Altoholgruppe der Mildyjäure ein,
es bildet fi) die Brenztraubenfäure:
CH: . CHOH . COOH + O =
CHs . CO . COOH + H:O.
Die Brenztraubenföure tonnie man nod nicht im
Körper faffen, aber ein Ferment im menſchlichen Blute,
das die Brenztraubenfäure in Acetaldehyd und Kohlen:
fäure zu zerlegen vermag:
= 0
CH» . CO . COOH = CH:C Sp} + CO:
Der Aldehyd geht durch jofortige Oxydation in Eilig:
ſäure über, die ebenfalls nachgewieſen werden fonnte.
150
Damit ift man zu demfelben Abbauproduft wie bei den
Detten gelangt und der weitere Abbau vollzieht fih nun
genau jo wie dort. Als Zwiſchenprodukt konnte noh
die Dralfüure nachgewieſen werden, die Endprodufie
find wieder Kohlenfäure und Waſſer.
Die im Glykogen vorhandenen Stärfedepots werden
bei Hunger oder ſchwerer Arbeit vor den Tettdepots an-
gegriffen, gefpalten und als Traubenzuder ins Blut
gebracht. Sie können dabei völlig verihmwinden und
werden bei gerügender Ernährung wieder aufgefüllt.
Gie find alfo dem Körper leichter zugänglid als die
Tettlager.
Die legte Gruppe unjerer Nahrungsmittel find die
. wichtigen Ciweipftoffe. Ihrer prozentualen Ju-
janmmenjegung nad enthalten fie 50—54% Kohlenftoff,
6,5—7,3% Waſſerſtoff, 15—17,6% Stickſtoff, 21,5—23,5
Proz. Sauerftoff und 0,3—2,2% Schwefel. Für das
Eiweiß ift es noch niht gelungen, eine dyemilche Formel
anzugeben. Nur jo viel weiß man, daß die Baufteine
der Eimweißitoffe die Aminoſäuren find, aus denen je
nad Zuſammenſchluß der verfchiedeniten Aminofäuren
recht verjchiedene Eiweißſtoffe entjtehen fünnen, wie das
Albumin, Globulin, Fibrin, Hämoglobin ufw. Diefe
einfahen Baulteine, die AUminofäuren, vermag nur Die
Pflanze aus den anorganifden Stoffen zu bilden,
während die weitere Bildung der Eiweißſtofſe aus den
Aminofäuren neben der Pfanze auh dem Tiere möglid
ift. Für beide find die Eiweißltoffe äußert wichtig,
denn die Stoffe, an die fi) die Lebensporgänge knüpfen,
3. B. das Chlorophyll in der Zelle der Pflanze, die
Blutförperden, die Mustel- und Nervenitoffe und vor
allem das Fleiſch, beitehen vorwiegend aus Eiweiß. Wir
braudyen es alfo unbedingt, um unjeren Körper aufzu-
bauen. Ein beitimmter Teil davon muß in unierer
Nahrung vorhanden fein. Ein fräftiger Mann braudjt
täglich etwa 110 Gramm Eiweiß. Einen Teil davon
liefert uns unfer Brotmehl, — denn in 500 g Mehl
jind 50 g Eiweiß, — den Reit das Fleiſch, Cier,
Milch uw. Die Kriegszeit hat deutlich gezeigt,
dah ein Bolt niht längere Zeit unter einem Mirndeit-
fat von Eiweiß und aud Fetten bleiben tann, ohne
große Schädigungen an feiner Gejundheit zu erleiden.
Das ſtarke Anwadien der Sterblidyleitsfälle durd
Tuberktulofe während und nad) dem Kriege ift auf den
Mangel an diefen Lebensmitteln zurüdzuführen.
Da die Eiweißſtoffe mit Wafler nur folloidale Lö—
jungen geben, jo müjlen fie bei der Aufnahme durch den
— —
a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften.
Bon Behrde ift eine zuſammenfaſſende Darſtellung
feiner Kritik der Relativitätstheorie im Verlag Meußer—
Berlin erſchienen, welde eine ganze Reihe gejammelter
Scriften des Berfaflers enthält. In dem Referat, das
Buderer darüber m den Phyſ. Ber. 7, 421 eritattet,
füllt die Notiz auf, daß der amerikanische Aſtronom
St. Sohn, deffen Ergebniffe bisher eine der Haupt-
fügen der Gegner der R. Th. bildeten, heute auf Grund
eigener Beobachtungen das Bejtehen der von der Theorie
Raturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifhe Umſchau.
menjdliden Körper zuerſt derartig abgebaut werden,
daß Stoffe entjtehen, die fih im Waſſer völlig löſen
und fo dur die Wandungen des Darmtanals hindurd)
in das Blut eindringen können. Diefe Umwandlung
des Eiweißes beginnt im Magen durch das Pepſin und
wird durch das Tropjin der Baudyipeicheldrüfe bis zu
den Aminofäuren fortgefeßt. Diefe können durch die
Darmwand diffundieren. Aus diefen Aminofäuren
tann nun der Körper wieder Eiweiß aufbauen, und
zwar wird es in größerer Menge zur Zeit des Wachs
tums gebraudt, während es ſonſt nur als Erfaß für die
Berlufte durch den Stoffwechſel eintreten muß. Alles
andere wird reitlos innerhalb 24 Stunden verbrannt,
da feine Eiweißdepots angelegt werden.
Der Abbau der Eimweißftoffe, den wir jhon bis zu
den Aminojäuren verfolgt haben, fegt fih bei diejen
weiter fort. Gemwille Fermente können die Amino:
jäure in eine Oryfäure und Ammonia? auffpalten:
R . CHNH: . COOH + HOH =
R . CHOH . COOH + NH:
An den Oryfäuren tann der Sauerftoff wieder an-
greifen, ſodaß Ketonſäuren fih bilden:
R . CHOH . COOH + O =
R . CO. COOH + H:0.
Dieſe Borgänge find nachgewieſen worden. Das bei
der Aufſpaltung entitandene giftige Ammoniat muß
natürlich ſofort unfhädlicd) gemacht werden, und zwar
geihieht es in der Leber durd die Syntheſe des Am—
moniats und der Kohlenjäure zu Harnftoff:
CO: + 2 NH: = CO (NH: + He: O.
Der Harnſtoff ift das eine Endproduft des Eiweibab:
baues, in dem der Stiditoff ausgeſchieden wird. Etwa
30 g Harnftoff finden fih in dem im Laufe eines
Tages abgeſchiedenen Urin. l
Andererjeits müſſen wir noh dem Abbau der Keton-
jäuren nachgehen. Dieſe zerfallen in einen um ein
Kohlenitoffatom ärmeres Aldehyd und Kohlenfäure:
R.CO.COOH=R.C TI + CO.
Der Aldehyd geht dur fofortige Sauerftoffaufnahme
in eine Yettfäure über, jodaß der weitere Abbau fih
genau fo geitaltet wie bei diefen. Sind an dem Aufbau
des Eimeißes auh Aminofäuren des Benzolringes be-
teiligt, jo muß dieſer bei der Drydation gejprengt
werden. Darüber find jedoch Einzelheiten noh niht be-
tonnt.
Naturwiffenfhaftfiche und naturphifofophifhe Umfchau.
geforderten Rotverſchiebung für wahrſcheinlich anerkannt
habe.
Eine neue Erklärung des berühmten Midhelfon-
verfuhs verſucht L. Strum 35. f. Ph. 24, Nr. 1.
(Phyſ. Ber. 7, 465) Wie bier jhon berichtet, hat bie
letzthin ausgeführte Wiederholung des Verſuchs das
meifwürdige Reſultat ergeben, daß eine VBerfchiebung
der Interferenzitreifen tatſächlich ftattfindet (im Gegen:
jag 3u den Grundlagen der Rel. Theorie) jedod nur zu
einem Zehntel des Betrages den die Abſoluttheorie
(Ae:hertheorie) ergibt. Strum macht nun die der Rig-
jen nahefommenden Annahme, daß die Geihmindig:
feit des von einer bewegten Lichtquelle ausgehenden
Lichtes glei) der Normalgeſchwindigkeit co plus einem
Bruchteil der Geſchwindigkeit der Lichtquelle fei (ähnlich
wie bei der Fizeauſchen „Mitführung”). Er fegt alfo
c — Co + a.v wobei « eine Zahl zwiſchen 0 und 1
ift. Das oben angeführte (Milleriche) Verjuchsergebnis
erbält man dann, wenn man a — 0,29 annimmt, wäh:
rend die Annahme a — % oder a — 1 feine Ber:
idiebung ergibt.
niffes erſcheint febr wünſchenswert.
Auf einem anderen Wege verjuht Solá (Spanien)
der Schwierigkeiten der Strahlungsiheorie Herr zu mwer-
den. In einer Arbeit in der „Scientia” (Phyſ. Ber.
6, 397) entwidelt er eine Art Kombination der
Emiffions-: und Wellenhypotheſe. Die
ausgeichleuderten Lichtteilden nennt er Proto:
dynen, fie follen eine erheblich Fleinere Maffe als die
Elektronen Haben und ſich mit Lichtgeſchwindigkeit vor:
wärts bewegen, jedod) infolge ihrer gegemfeitigen An:
ziehung und Abſtoßung nidyt einen geradlinigen Strabi,
fondern eine Sinuslinie bilden, die wie ein geipanntes
Seil {dwingt mit einer Periode, melde nad) der Bohr:
iden Atomtheorie fih durd die Anzahl der Umläufe
der Elektronen bejtimmt. Durch diefje Theorie follen fid
e:flären laffen: der Michelſonverſuch, die Aberration,
Disperfion und Bredung, die Fizeauſche Mitführung,
der Strahlungsörud, die Rotverfchiebung und die Strah:
lenkrümmung im Schwerefelde, jowie der energetiiche
Maffendefett.
Eine febr wichtige neue Arbeit jcheint der engliiche
Thyfiter U. Bramley (Phil. Mag. 44, 720, 1922,
Phyſ. Ber. 6, 396) geliefert zu haben, die leider erft
jest befannt wird. Auf Grund der Annahme, daß die
Energie Maſſe befigt, entwidelt der Berf. die
Strablungsgefeße allein mit Hilfe der
mehanijhden und eleftromagnetijden
Brundgefecehte und berechnet, was das Merkwür:
digſte ift, die Größe des Plandihen Wirkungsquanfums
eınerjeits aus der Gleichgewichtsbedingung für die Ro:
tation des Elektrons, andererfeits aus der Wirkung
auf ein Bolumelement unter YZugrundelegung des
Wertes für den Atomradius. Nimmt man diefen gleidh
15 . 10-'° cm, fo erhält man im leßteren alle für
du Wirtungsquantum 6, 57 . 10-°°, während die erite
Beredhnungsart 5, 92 . 10-°” ergibt. Beide Werte fte-
ben in guter Uebereinitimmung mit den anderweitig
bekannten Werte des Quantums (6,50 . 10-7 nad) den
neueften Beitimmungen). Das furze Referat, das mir
zur Berfügung Steht, laßt leider nicht erfennen, in wel:
der Weife der VBerfafler im einzelnen gerechnet hat.
Wenn es aber niht täufcht, fo bat derfelbe ein ganz
jundamentales Problem teilweiſe gelöft, nämlid) das,
die unverbunden nebeneinanderitehenden Grundtonitan-
ten der gegenwärtigen Phyſik in einen inneren Ju:
Jammenhang 3u bringen.
Den ameritaniihen Phyſikern Bowen und Milli:
fan ift es gelungen, eine Reihe von Gefemäßigleiten,
die im Rönfgenipefttum gefunden waren, im Gebiet
der opflihden Speftren, insbejondere der leichten Metalle
wiederzufinden. Es beftätigten ſich Dabei aufs neue die
Naturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifche Umfhau.
Nähere Nachprüfung diefes Ergeb:
151
von Sommerfeld u. a. entwidelten relativiftifhen
Formeln für die Feinftrufturen. (Phyſ. Ber. 6,
407 aus Phyſ. Rev. 24, 209 ff)
Viel Kopfzerbrechen madt den heutigen Phyſikern
der fogenannte Compfoneffelt (vgl. U. W. 1924, 547)
der eine Hauptfjtüße der Quantentheorie der Strahlung
bildet. Die amerikaniſchen Phyfiter Clar? und Du:
ane haben für die von Clark beobadıteten
Strahlen größerer Wellenlänge, welde bei der Streu:
ung von Röntgenftrahlen beobaditet wurden,
eine ganz andere Erklärung als Compton gegeben. Sie
ichreiben Ddiefelben der Wirkung ausgelöjter Photo-
elettronen zu. Dur febr genaue Meffungen der ge:
forderten Verſchiebungen haben aber Kallmann
und Mar? in Dahlem, wie fie „Naturwiſſenſchaften“
Mr. 14, 297 mitteilen, jüngjt die Comptonſche Formel
eeftätigt, während ihre Ergebniffe mit der Theorie von
Duane und Clark niht ftimmten. Andererfeits hat Du:
cne in Verbindung mit einigen anderen Amerikanern
i1 mehrerern Arbeiten, über die Phyſ. Ber. 6, 407 be:
richtet wird, gezeigt, daß die beobachtete „weidere
Etreuftrahlung” von der benußten Apparatur berrührte.
Sie verſchwand nämlich, mwenn man die Rückwand des
kenußten Kaftens entfernte. Duane erklärt das Ber-
fuchsergebnis jo, daß die an dem Holz (Elemente C
und O) entitehende jogenannte tertiäte Strahlung 3u:
fällig den gleicjen Wellenlängenabjtand von der Primär-
ftrahlung des unterſuchten Molybdäns hat, wie die
von der Comptonſchen Theorie geforderte „Rückſtoß—
ſtrahlung“.
Rönigenſtrahlen äußzerſt kurzer Wellenlänge hat
Thibaud (C. R. 170, 165, Phyſ. Ber. 8, 536) da-
dur ausgemeifen, daß er die Energie der von dieſen
cusgelöften Elektronen feſtſtellte. Es handelt fi um
Strahlen von Ra B und Ra C. Die erhaltenen Wellen:
langen betrugen 2,05 bis 0,704 . 10-'° cm, das ift etwa
10 Oftaven höher als Wellen, deren Länge etwa
den Atomdurchmeſſern gleichkommt und niht weniger
cls ca. 18 Dftaven höher als die äußerſten pioletten
Strahlen des fihtbaren Speftrums.
Kriftalle find bekanntlich nad) der neueren Phyſik
gitterartige Anordnungen der Atome. Der japaniſche
Phyfiter Damada hat nun gezeigt, daß die Be-
grenzung derfelben durch ebene Flächen um
das fogenannte Gefehderrationalen Achſen—
abjchnitte notwendige Folgen der Kleinheit des
Wirkungsbereichs der Atomträfte find. Im einer neu:
eren Arbeit (Phyf. Ber. 8, 510, Phyf. ZS. 25, Nr. 12)
zeigt er weiter, daß die wirklichen Begrenzungsformen
ji als Formen minimaler Oberflächenenergie im vor:
aus beredmen laffen. Für das einfache kubiſche Gitter
findet er als dadurch gegebene Begrenzung den Würfel,
für das flächenzentrierte kubiſche Gitter den Oftacder:
mwürfel (Flußipat), für das raumzentrierte kubiſche
Bitter das Rhombendodetaeder, für das Diamantgitter
das Oktaeder. Damit feint eins der ältelten Probleme
der Kriftallographie endgiltig und vollitändig gelöſt zu
jein.
Die Frage der Derwandlung des Quedfilbers in Gold
hat eine Menge weiterer Arbeiten veranlaßt. Während
Miethbe und Stammreich annahmen, die Um:
wandlung erfolge dadurd, daß der Kern des Hg-Atoms
eine poſitive Ladungseinheit verliere und dadurd ein
Jiotopes des Goldes entjtehe, nimmt Soddy neuer:
dings an, daß umgefehrt in den Kern ein Elektron ein-
drmgt und dadurd) die pofitive Kernladung um eins er-
niedrigt wird. Ein anderer engliiher Forſcher, Saits,
ſtellt entſppechende Verſuche mit anderen Metallen als
Duedlilber (Blei, Wismut) in Ausficht, die er jhon früh:
her angefangen, aber erft nah dem Befanntwerden der
Mietheidyen Unterjuhung wieder aufgenommen hat.
(Nature 114; Phyſ. Ber. 8, 507, 508) — Nahe hiermit
zufammen hängt die Unterfuhung der Iſolopen des
Quedfilbers. Bronſted und Hevejy haben eine
Trennung derfelben mit Hilfe einer Deitillationsmethode
bis zu einem Didjteunterichted von ungefähr einem Hal:
ben Promille erreicht (Phyf. Ber. 8, 507). Die Frage,
ob die Seinjtruftur des Queckſſilberſpek—
trums durch Motope veranlaßt wird oder auf Grund
der Bohr-Sommerfeldfhen Theorie zu erklären ift, hat
neuerdings Nagaoka wieder angegriffen. Er findet,
daß die aus letterer Theorie berechneten Linien jo
zahlreich mit den beobadjteten übereinitimmen, daß die
größere Wahricheinlichteit für die lebtere Annahme
ſpricht. Phyſ. Ber. 8, 569).
Neue Ifotopentrennungen bei Li, Be, Ne, Cd,Te, Bi
berihten Afton und ©. P. Thomfon (Phyi. Ber.
8, 508, 506) |
Ueber die Ausbreitung der Lufferfhäfterungen bei
großen Erplofionen hat Billard gelegentlich der Er:
plojionen ‚von La Courtine intereflante eft-
ſtellungen gemacht (C. R. 179, 617; Phyſ. Ber. 7, 433)
Die Hauptenergie ift nicht, wie man zumeilt glaubt, in
den hörbaren Schallwellen, jondern in ganz langjamen
Schwingungen von ta. 1 fec. Schwingungsdauer ent-
halten, die nah einem von Dufour aufgenommenen
Diagramm in Paris im ganzen etwa 3 Sekunden (alfo
drei volle Schwingungen lang) 3u bemerken waren und
icit genau finusförmig verliefen. Im diefer nicht Hör:
baren Schwingung find die 3u beobadhtenden jtarfen
mechanifhen Wirkungen, wie Zerjpringen der Fenſter⸗
ſcheiben ujw. begründet, und daher erklärt es fi aud,
daß man diefe Wirkungen beobadjtet an Orten, wo die
begleitenden febr viel ſchwächeren Schallwellen gar nicht
mehr gehört werden. Durch diefe Feſtſtellung finden
viele bisher rätjelhafte Beobachtungen eine Aufklärung.
In einem fih über vier Nummern der „Naturwiſſen—
Ihaften“ erjtredenden ausführlichen Aufſatz berichtet
R. Walden über Vergangenheit und Gegenwart der
Stereohemie“. Man verfteht darunter die von van't
Hoff begründete Lehre, daß die vier Valenzen (Wer—
tigteiten) des Kohlenitoffatoms räumlich um das Atom
herum fo angeordnet find, wie die Berbindungslinien
des Mittelpunfts eines regelmäßigen Tetraeders mit
jeinen Eden. Auf Grund diefer feinerzeit äußert ge-
wagt ericdyeinenden Annahme vermodten Le Bel,
van't Hoff, Wislicenus u. a. eine große Reihe
von merkwürdigen Erſcheinungen der organilchen Che:
mie 3u erklären und neue vorauszufagen (vgl. den Auf:
lab von W. Eitelin U. W. 1921, Sp. 177 und unjere
Umſchaunotiz in Nr. 3, ©. 68 1925). Mit Redt hebt
der Verfaſſer am Schluß des Aufjates hervor, wie wun:
derooll fi) die genialen een van't Hoffs wie feines
aturwiſſenſchaftliche und naturphilofopbiihe Umſchau
Meilters Kekulé durch die modernen röntgenolo:
nm —
giſchen Forſchungen beitätigt haben.
Die phyſikaliſchen Konftanten des fläffign Heliums
wurden von Ramerlingb Onnes md Bots nad
einen Bericht auf den internationalen Kongreß für Käl-
teforfhung 1924 beitimmt. Belonders bemerfenswert
ift, daß ein ausgeprägtes Dihgtemarimum bei
2,29° abj. vorhanden ft. Die Dichte betrug bei diefer
Temperatur 1/818 von der des gasfürmigen Heliums
unter Normalumftänden. (Phyſ. Ber. 6, 415).
Ein neues Inftrument zur eraften Beitimmung des
Zaupunfis hat Holtzmann (Ph. 35. 25, 443; Phyj.
Ber. 7, 487) angegeben. Bei den üblichen Injtrumenten
ijt die Beitimmung der wahren Temperatur der Fläche,
die zur Kondenfation dient, im Augenblide der leßteren
ziemlich ungenau. Holtzmann läßt mum durd) ein hoch
poliertes Kupferrogr eine Flüſſigkeit ſtrömen, deren
Temperatur einige Grad unter dem zu erwartenden
Taupunkte liegt. An dem der Eintrittsjtelle der Flüffig-
teit gegemüberliegenden Ende wird das Rohr durd eine
darum gelegte Spirale eleftriiy angewärmt. Dann
bildet fih in der Mitte eine jcharfe Kondenjationsgrenze
und dur Regulierung des Heizitromes laßt fih er-
reihen, dah diefe genau an eine vorgeſchriebene Stelle
3u liegen fommt, wo ein angelötetes Thermoelement
eine genaue Beitimmung der Temperatur, die hier zeit:
lich konſtant ift, geftattet.
Eine wertvolle Zufammenftellung der neueren Be:
ſtimmungen des abfoluten geologlihen Alters von Ge-
fteinen auf Grund ihrer Radioaktivität hat unfer hoch:
verehrter Bundesfreund, Prof. W. ÇE itel Königsberg
in Nr. 17 der Naturmiffenfchaften gegeben. Nady der
von Eitel gegebenen Tabelle beträgt das Alter der um-
terſuchee prätambrifden GBefteine rum
1100—1200 Millionen Jahre. Für devonide Mine-
ralien fand fi) ein Alter von rund 400 Millionen Jah⸗
ren. Doch ſchwanken alle Zahlenwerte febr, es fand
ih 3. B. auch bei gewiſſen präkambriſchen Geſteinen
nur ein Alter von etwa 200 Millionen Jahren.
Ueber die Geſchwindigkeit der Erdbebenwellen und die
elaſtiſchen Konftanten der oberen Erdihichten Handelt
ein Beriht von B. Gutenberg in Wr. 17 der Ra-
turwiflenichaften, aus dem wir insbejondere hervorheben,
daß die Beobachtungen des japaniſchen Erdbebens vom
September 1923 eine verſchiedene Tortpflanzungs-
geihwindigkeit der Wellen über den Ozean und über
die Kontinente ergeben haben.
Zeichnet man die Häufigkeit des Vorkommens der de-
‘mijden Clemente als Funktion ihrer Atomnummer
graphiſch auf, jo erhält man einen Kurvenzug, aus dem
die Edelgefe durch ihre ganz unverhältnismäßig große
Seltenheit ganz herausipringen. Bur Erflärung diefer
Erſcheinung jtellt A fton (Nature 114, 786 Phyſ. Ber.
8. 508) drei Hypotheſen auf: 1) Die Menge der vor-
handenen Edelgaſe fei tatjächlid größer, als man ge:
wöhnlihd auf Grund ihres Gehalts in der Quft an:
nimmt. 2) Die Seltenheit beruhe auf einem bejonders
leihten Zerfall des Atomterns 3) Die Erde habe die
demifch niht 3u bindenden Edelgafe an andere Welt:
körper, die in die Nähe tamen, insbejondere die Sonne,
verloren.
Raturwifenfchaftlihe und naturphitofophifche Imfchau.
Die Trage der grünen Nordlidtlinie ift immer nod
nit endgiltig geklärt. Vegards Zurüdfirhrung der:
ſelben auf feften Stidftoff ift von Cario,
Me Lennan u. a. angegriffen worden. Begard ver:
teidigt feine Theorie auf Grund neuer Erperimente. im
Leydener Kättelaboratorium (Phyf. Ber. 8, 534 ff; 569).
Dem ameritanifhen Aftronnmen Hubble fit es ge-
lungen, im Andromedanebel zahlreide veränderliche
Sterne vom Typus ô Cephei zu entdeden. Da für der-
artige Sterne die bekannte Beziehung zwiſchen Periode
und abfoluter Helligkeit beiteht, die Shapleys be:
rühmten Unterfuhhungen über die Kugelhaufen (U. W.
1922, ©. 220, 232) zugrundeliegt, jo tann man darauf:
hin die Entfernung diejer Sterne im Andromedanebel
berechmen und findet den enormen Betrag von rund einer
Million Lichtjahren. Andererfeits ift es Gubble aud
gelungen, mit einem Riefenipiegeltelestop den Rand des
Rebels in Myriaden von ſchwachen Sternen zu 3er-
legen. Beides zufammen macht febr wahrſcheinlich, daß
der Andromedanebel eine unferem
Milhfitraßeniyitem foordinierte andere
„Wettinfel“ ift. Aehnliche Ergebniffe erhielt
Hubble auch bei den Spiralnebel Meffier 33.
b) Organiſche Naturmwifjenichcäten.
In einem Auffat über Mendel und Darwin in Nr. 17
der Naturmwiffenichaften nimmt 3. Groß ziemlih tem:
peramentooll Stellung gegen jene neueren "Biologen.
die terfuchen, die Leiftungen Darwins vollftändig hin:
ter denen des Mendelismus zurüdtreien zu laffen. Er
meint, Mendel verhalte ji in Wahrheit zu Darwin
wie ein Jupitermond zur Sonne. Mendels Arbeit
„Berfudye über Pflanzenhybride“ fei deshalb fo lange
unbefannt geblieben, weil fie einem Monde ühnlidy tein
eigenes Licht ausgeitrahlt habe; erft Weismanns Keim:
nlasmalehre habe den Mendelſchen Berfuchen ihre
erundlegende Bedeutung verſchafft. Un mehreren
Stellen macht Groß ironiide Bemerfungen über den
„Dunklen Untergrund der Feindſchaft gegen den Dar-
winismus” oder über die „dunkel adaptierten Augen“,
denen das neu am Firmament der Wiſſenſchaft aufge:
gangene Licht (Mendels) jo ſehr wohlgetan habe. Im
übrigen ift der ganze Auffa eine Verherrlichung des
Sarwinismus, dem nad) ihm nur deshalb Heute eine ge:
ringere Zahl von Anhängern zukäme, weil feine großen
Gedanten immer nod nicht AUllgemeingut geworden wä-
ren, dem aber die Zukunft troßdem gehöre. Auch Men-
del habe ſchließlich weiter nichts geleiltet, als was den
Derwinismus beftätige, denn durch feine Ergebnifie fei
der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenſchaften
der Boden vollends entzogen und damit einer der wid-
tigften Einwände gegen die Zuchtwaähllehre endgiltig
entträftet. Die Logik diefer Beweisführung ift nieder-
ſchmetternd. Meier und Müller prozeffieren um ein
Haus. Das Gericht erklärt die von Meier vorgemiejene
Beiißurfunde für unecht, wie Müller immer behauptet
hatte. „Seien Sie froh”, fagt Meiers Rechtsanwalt
34 ihm, „damit wird einer der mwidtigiten Einwände
gegen Ihre Anſprüche aus der Welt geſchafft“. Es ift
ein Glüd für den Darmwinismus, daß feine Aktien nid)t
io fchlecht ſtehen, wie fie nad diefem Verſuch erjcheinen
müffen. Die Schriftleitung der Naturwiſſenſchaften hat
bei der Aufnahme diefes Aufſatzes ausnahmsweife ein:
mal feine glüdlihe Hand gehabt.
Eine mehr als „amerikaniſch“ klingende Nachricht
bringt Kammerer in Nr. 3 der „Moniftifhen Mo—
natshefte”. Bei feiner diesmaligen Einfhiffung in
Bremen habe er den dortigen Bogelzüdter K. Reid
befucht, deffen Auffehen erregende Kanarienzudtergeb-
niffe in Amerika bereits befannt feien, in Deutjchland
aber durch den Dogmatismus der Herridenden Verer—
bungstbeoretifer totgejdywiegen würden. Reih hat nad
Kammerers Angaben Kanarienhähne, die mit Nachti—
gallen zuſammen aufgewachſen waren und dadurch fidh
einen dem Nadtigallenichlag ähnlichen Schlag ange:
wöhnt hatten, zur Nachzucht benußt und dann bei den
Nachkommen dieſer den gleiden nadtigallähnlidgen
Schlag erzielt, ohne daß diefe irgendwie wiederum mit
Nachtigallen oder ihren ähnlich fingenden Vätern zu:
ſammengeweſen wären. Damit hätten wir dann den
ihönften Beweis der Vererbung erworbener
Eigenfhaften, den man fi nur wünjchen könnte
— wenn’s ridtig ijt!?
In der gleihen Notiz berichtet Kammerer von neu:
eren Verſuchen Wiesners, eines Schülers von
Steinad, die ebenfalls febr intereffant find, und
zum Glüd nicht ſolchen Bedenten begegnen, wie Die
eben erwähnten. Wiesner gelang es, Eierjtöde von
Rattenweibden dadurh andauernd am Leben
3u erhalten, daß er fie jedesmal, wenn der Trä-
ger alt geworden war, in ein ganz junges Tier, dem
vorher die eigenen Eieritöde entfernt waren, über:
pflanzte. Bisher Hat der transplantierte Cierjtod drei
folder Wirtstiere überdauert und ift noch immer an:
fheinend ungeſchwächt zeugungsfähig. Das ift ein
neuer Beweis zugunften der Lehre von der „potentiellen
Unfterblichteit” der Zellen.
Die feit Weismann heftig umitrittene Frage der
potentiellen, d. h. in der Anlage vorhandenen, Unfterb-
lichkeit der Einzellee hat nunmehr durch Verſuche K.
Belars mit dem Sonnentierden Actinophrys ihre
endgültige Beantwortung erfahren (Arh. f. Protiſten—
funde 46 und 48, 1922 u. 1924; Naturwiſſenſchaften,
14, 1925). Ihm gelang es, die Sonnentierden 2%
Jahre zu züchten, während denen fie fih nur durd)
Zweiteilungen vermehrten, ohne daß ein der Befruch—
tung ähnlider Vorgang —, bei der jtets ein Teil des
Zellkerns jtirbt, — beobachtet werden konnte. Damit
ift nachgewieſen, daß der Eintritt des Todes bei Ein:
zellern niht in der Natur des Organismus begründet,
fondern eine Folge ungünftiger Außenbedingungen ift.
Aehnliche Ergebniffe hatte zwar {hon früher Hart:
‚mann mit dem grünen Geißelinfujor Eudorina
gehabt, doch ließen fih dagegen immer noh die Cin-
wände erheben, es könnte irgend ein geſchlechtlicher
(aljo mit teilweilem Zelltod verbundener) Vorgang
überfehen worden jein, ferner die Ergebniffe mit einem
pflanzliden Wejen dürften niht auf tieriſche Cinzeller
übertragen werden. Dieſe Einwände werden durd)
Belars Unterſuchungen entfräftet.
Seiner Zeit erregten Verſuche von Ricca über die
Reizleitung bei der Sinnpflanze großes Aufjehen. Sic
154
zeigten, daß der durch Anſengen eines Blättchens þer-
porgerufene Wundreiz auch fortgeleitet wird, wenn der
Sproß durchſchnitten und die beiden Teile durch ein
weflergefülltes Haarröhrdyen verbunden werden. Ricca
309 daraus den Schluß, daB die Weiterleitung des
Wundreizes dur) vom Saftitrom mitgenommene Reiz-
itoffe — Hormone — beforgt wird. Man begegnete
diefen Verſuchen mit ziemlidem Mißtrauen, aber mie
wir den Naturmwiflenichaften, H. 14, entnehmen, werden
fie Durh neue Berfudhe von Snom (Proc. of the roy.
soc. of London 96, 1924) volltommen bejitätigt, der vor
allem nachweiſt, daß die Geſchwindigkeit der Reizleitung
mit der Geſchwindigkeit des Gaftjteigens durchaus im
Einklang Iteht.
Ebenfalls auf das uns einitweilen noh recht geheim:
nisoolle Gebiet der Reize und Reizbeantwortung be-
jiehen fi Unterfudungen von Cholodny (Ber. d.
deutſch. bot. Gef. 42, 1924; Naturwiſſenſchaften 15,
1925), deren meitere Verfolgung wichtige Aufſchlüſſe
über dies Gebiet verjpridt. Sie beftätigen nicht nur
wieder, daß es fih auch bei der Leitung des Schwer⸗
fraftreizges um Reizſtoffe handelt (vergl. U. W. 1925,
©. 95), jondern fie zeigen auch, daß diefe Reizftoffe fo:
wohl bei der pofitiven Erdwendigfeit der Wurzel als
auch bei der negativen Erdwendigkeit der Sproife, ja
auh bei Pflanzen verſchiedener Ordnungen diefelben
jein müffen. Ob ein Organ auf den Scdmerfraftreiz
durch Abwärts: (pofitto) oder durch Aufwärtstrümmung
(negativ) antwortet, hängt nur von dem Bau des Dr:
gans ab.
An die Entvedung Bopoffs von der Möglichkeit
der Hebung des Ernleerirags durch Zellreizung, das
heißt durch Behandlung des Saatguts mit tleinften
Mengen bejtimmter Stoffe, fnüpft fih ein Gelehrten-
itreit zwiſchen Popoff und dem deutihen Forſcher
Loew, der [hon vor Popoff, von anderen Voraus:
jegungen ausgehend, die Möglichkeit, den Ernteertrag
durch Reizmittel zu jteigern, entdedt hatte. Popoff be-
itreitet demgegenüber, daß Loew jhon die Reizwirtung
dicjer Stoffe erfannt hatte. Aus den Veröffentlichungen
Loews feint aber dodh) hervorzugehen, daß es fidh Hier
um einen der in der Geſchichte der Natumviflenichaften
häufigen Fälle handelt, daß gewille Gedanten in der
Luft liegen und gleidgeitig in verjchiedenen Köpfen
fruchtbringende Formen annehmen. Im Biol. Zen-
trelblatt, Heft 2, 1925 nimmt Kern erneut zu der
Frage Stellung Wichtiger aber als diefer Streit ift,
daß er bei jeinen Verſuchen wieder günftige Ergebniffe
durch Behandlung der Pflanzen mit kleinſten Mengen
für gewöhnlich giftiger Stoffe erhalten hat.
Alfred Kühn, dem neben 8. v. Friſch und R.
Pohl der Ruhm gebührt, den Farbenſinn der Bienen
nachgewieſen 3u haben, wendet fidh jekt (Biol. Zentral:
blatt 3, 1925) mit D. Ilſe dem Farbenfinn der Tag-
fclter 3u. Aus ihren Verfuchen geht hervor, daß aud
die Tagfalter Farbenſinn befißen und daß die Tagfalter
durch beitimmte {Farben beſonders angelodt werden,
ohne daß fie jhon Erfahrungen über Verbindung diefer
Farben mit Futter gemadht haben. Dieſe Farben find
fiir die einzelnen Arten ganz veridhieden, jo fliegt der
Kohlweißling inftinttio bejonders auf Rot und Purpur,
der Zitronenfalter auf Blau und Purpur, während auf
Raturwifenfhafttiche und naturppitofophifhe Umfhau.______
das Pfauenauge Gelb und Blau bejonders jtart wirken.
Aus den Verſuchen geht allerdings noch nidyt hervor,
daß die Farben als ſolche erfannt werden, obſchon das
nad) den Erfahrungen mit Bienen und noiis Ber:
ſuchen mit dem Taubenihwanz wahricheinlid ift. Wie
früher für die Bienen bleibt die Möglichkeit beftehen,
daß die Tagfalter nur den SHelligkeitsunterijchied der
Farben wahrnehmen. Weitere Verſuche darüber werden
in Ausficht geitellt.
Nachdem Matthes jhon früher Geruchsvermögen
bei den Molden unter Waller nachgewieſen hatte, hat
er jekt dur) neue Beobadtungen (Geitſchr. f. vergl.
Phyſ. I, 24; Naturwillenichaften 17, 1925) auch den
Nachweis für das Gerudsvermögen der Mole bei
Aufenthalt an Land erbradt. Erſt damit ift eigentlich
das Gerudhsvermögen bei Molcdyen fichergeitellt, denn
nad einer allerdings umitrittenen Definition foll man
nur bei luftförmigen Stoffen von Rieden jpreden
können. Es ift grade die über den befonderen Fall hin-
ausgehende Bedeutung der Arbeit von Matthes, daß fic
die Berechtigung diefer Definition erjcyüttert, denn es
it taum anzunehmen, daß dasfelbe Organ am Lande
zum Riehen, unter Waffer zum Scymeden dient.
Die Milz gehört zu den Organen, über deren Funt-
tion wir nur unfidere Kenntniffe befiken. Abgeſehen
von Ihrer Eigenſchaft als Drüje mit innerer Sekretion
wird fie als das Grab der roten Blutförperchen te-
zeihnet. Nun find neue Milzforfhungen, über die
Barceroft in Naturmwilfenichaften 16, 1925 berichtet,
geeignet, diejer Auffafjung erft zu ihrem wahren Sinne
zu verhelfen. Den Anftoß zu diefen Forſchungen gab
die von Barcroft und andern gelegentlidy einer Reife
nad) Südamerifa gemadte Entdedung, daß mit Iteigen-
der Temperatur die Blutmenge und die Menge der
roten Blutkörperchen wädjlt, während fie mit fallender
wieder abnimmt. Dies brachte Barcroft darauf, nadh
einem Geheimſchatz des Körpers an roten Bluttörper:
hen 3u fuden, und den fand er in der Milz aufge-
itapelt. Die Milz ift, wie die angejtellten Verſuche er-
gaben, ein Speicherorgan für rote Blutkörperchen. Hier
liegen diefe Schiffen für den Gastransport im Hafen
vor Anter, um, wenn ein unvorhergejehener Bedarf
entiteht, zum Beilpiel wenn bei Kohlenorydvergiftungen
die auf Fahkt befindlicyen mit dem giftigen Kohlenoryd
„bejeßt” find, in den Kreislauf des Blutes hinauszu-
iteuern. Dementjpredend zeigte fih, daß Tiere, deren
Milz entfernt war, bei Kohlenorydvergiftung merflid)
ichneller ftarben, als Tiere mit Milz.
F. de Quervain beipridt in H. 14 der Natur-
wiffenijhaften C. Fintbeiners Bud: „Die Pre-
tiniſche Entartung.“ Finkbeiner unterſuchte das Skelett
der Kretinen und verglich es mit dem der Weddas und
vorgeſchichtlicher Menſchenraſſen wie der Pygmäen und
Neandertaler. Auf Grund hiervon kehrt Finkbeiner
wieder zu der alten Theorie zurück, daß der retinis-
mus ein Rüdihlag auf vorgeſchichtliche Menſchenraſſen
und feine Krankheit fei. Quervain lehnt diefe Anſicht ab.
Mar Rubner erörtert in der Dtſch. med. Woden-
ihrift Nr. 7, 1925 (Natumiffenichaften 14, 1925) die
Ernährungsmögligleiten der Menihen und ihre Be-
grenzung. Cr jtellt fejt, daß das Bedürfnis der Völker
nad) den einzelnen Nahrungsitoffen durchweg gleich ift.
Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifche í Umſchau.
mm — — — —— —
Nur im Fettbedarf zeigen ſich Verſchiedenheiten, während
der Verbrauch an Kohlehydraten und Eiweiß derſelbe
iſt. Alle Länder beziehen den größten Teil ihrer Nah—
rungsſtoffe aus der Pflanzenwelt. Mit dieſem gleich
artigen Bedürfnis der Völker vergleicht Rubner die ver-
idiedenen Grmährungsmöglidyleiten der einzelnen
Länder. Er kommt endlid zu dem Schluß, daß die Cr-
nährungsmöglichteit des Menſchen auf der Erde begrenzt
ki, was ſchließlich zu einem „wahrhaft kraſſen End-
tempf der Menſchheit um das Dafein“ führen werde, von
dem uns „nicht mehr ungemeffene Zeiträume” trennen.
c) Naturphilofophie und Wellanſchauung.
Wie Herr Studiendireftor Dr. Müller mitteilt, ſprach
vor einiger Zeit Herr Profefjor Berweyen-Bonn, der
(frühere?) Wanderredner des Moniitenbimdes, in
Detmold in einem vom Monijtenbund veranftalteien
Abend über das Thema „Natur und Kultur“. In der
Debatte madte fi) Profeffor Verwegen in ganz auf-
felliger Weile zum Anwalt des Idealismus, dem wir
alein alle Großtaten des Menichengeiftes verdantten,
jo daß fih Herr Dr. Müller veranlaßt fah, an den
Redner die Frage zu richten, wie fih das denn mit
dem Programm des Moniftenbundes vertrage; in einer
der lebten Nummern der Moniftifhen Monatshefie
habe doch gerade ein febr temperamentooller Aufſatz
geitanden, der den Materialismus als das einzig
Wahre pries, — Meaterialismus fogar in einem ſehr
meiten Sinne (als Pofitivismus, alfo mit Ablehnung
jegliher Ertenntnistheorie und philof. Bejinnung)!
Prof. Verweyen ermiderte, es gehe natürlich nicht an,
alle Artitel der Zeitfchrift als programmatiſche Aeuße
tungen des Bundes anzufehen. Er felbit teile gerade
lie Meinungen des erwähnten Artikelſchreibers durd-
aus nit. Ihm gefalle überhaupt in lebter Zeit vieles
in moniſtiſchen Kreijen nit, und er babe feine
Konſequenzen gezogen! Daß der Vortrag des
Abends unter der Flagge „Moniftenbund“ fegle, fei ge-
gen feinen Willen geidehen, er jpräde trog des Auf-
druds auf den Einlaßkarten rein als Privatmann.
d) Verſchiedenes.
In der Apriinummer der Münchener Zeitſchrift „Na-
tur und Kultur” finden wir einen hödjft auffallenden
Auffah des Herausgebers Dr. Süßenguth über die
prenkifche Unterrichtsreform. Die Zeitichrift verfolgt im
allgemeinen ähnlihe Ziele wie „Unfere Welt“, ift jedoch
konfeſſionell katholiſch eingeftellt. Dies brauchte nun an
ih femeswegs zu hindern, daß ihr Leiter ebenfo wie
das zahllofe andere hervorragende katholiſche wie evan:
geliſche Natuwiſſenſchaftler, (3. B. Reinte und Dennert)
getan haben, tliar erfennte, dap dem Materialismus
keineswegs dadurch zu fteuern ift, wenn man die Natur:
wiſſenſchaften aus dem Lehrplan unferer höheren Sdu-
len möglichft herausdrängt. Alle hervorragenden Na-
turwiſſenſchaftler, die zugleich eine pofitiv freundliche
Stellung zur Religion hatten, haben vielmehr bisher
immer wieder betont, das nur eine genügend
vertiefte naturwifjenfhaftlide Bil-
dung den Schaden wieder gut maden
tann, ımd daß der Haeckelismus nie ſolche Dimen-
fionen hätte annehmen können, wenn man nidyt die na-
turwifienfchaftlihe Unterweifung mit Gewalt der von
Baftion Schmid mit Recht jo genannten „naturwiffen-
155
ſchaftlichen Hintertreppenliteratur” überlaffen hätte, ftatt
fie der einzigen von Natur dazu bejtimmien Stelle, der
Schule, zu übertragen. Es ift Herrn Dr. Süßenguth
vorbehalten geweien, in dem harten Kampfe, den heute
die Vertreter des realiftifden Unterrichts gegen das Her-
ausdrängen ihrer Fächer aus der höheren Schule führen,
d:cjen feinen Fachgenoſſen in den Rüden fallen. Denn
feine Verherrlihung der preußiſchen Reform, der Um-
wandlung des NRealggmnafiums in ein neuſprachliches
Gymnaſium ufw., feine giftigen Ausfälle gegen Män-
ner we Poste, auf die die gefamte Fachwelt mit
Ehrfurcht blidt, müflen als ein joldes Indenrüdenfallen
mirten und werden von den Gegnern des naturwiffen-
ſchaftlichen Unierrihts mit Jubel begrüßt worden.
Hoffentlihd maden recht viele katholiſche Fachkollegen
Herm Dr. Süßengutd den Standpunft unzweideutig
tiar.
Ferienkurſe in Jena. Aus dem wiederum fehr reid-
haltigen Programm der biefes Jahr vom 3.—12. Auguft
ſtattfindenden Kurſe feien folgende Vorträge und
Uebungen aus dem Stoffgebiet unſerer Zeitjchrift be-
fonders hervorgehoben.
Naturmwiffenfhaftlide Themen: „Das
moderne Weltbild auf der Grundlage der Relativität
und der Energetik“ (Prof. Dr. Auerbach), „Populäre
Aftronomie” (Prof. Dr. Knopf), „Zeit: und Orisbe:
ftimmungen mit praktiſchen Webungen“ (Prof. Dr.
Knopf), „Aſtrophyſit“ (R. Kißhauer), „Aſtrophyſikaliſche
Uebungen“ (R. Kißhauer), „Die Kohle und ihre Ber-
wendung in Haushalt und Induſtrie“ (Prof. Dr.
Eller), „Bakteriologie und Hauswirtſchaft“ (Prof. Dr.
Taul Hiridh), „Qebensmittelhemie” (Prof. Dr. Fr.
Schulz), „Phyfiologie der Verdauung und des Gtoff-
wechſels des Menſchen“ (Prof. Dr. Schulz), „Die Bio-
logie im botanifhden Schulunterriht” (Prof. Dr. Det:
mer), „Anleitung 3u botaniſch mikroſkopiſchen Unter:
fuhungen” (F. Krumbholz), „Zoologie, Entwidiungs:
und Bererbungsiehre” (Prof. Dr. Franz), „Zoologiiche
Mitroftopier- und WPräparierübungen” (Prof. Dr.
Tranz), „Erperimentelle Pſychologie“ (Prof. Dr. Ziehen:
Halle), „Pädagogiſche Pſychologie“ (Prof. Liz. h. c.
Dr. Sellmann:SHagen), „Das normale und franfhafte
Geſchlechtsleben des Kindes“ (Prof. Dr. Gtrohmerer).
Weltanfhauungsfragen: „Naturphilo-
ſophie und idealiftiihe Weltanfhaumg” (Prof. Dr.
Deimer), „Tragen der Lebens: und Weltan—⸗
ſchauung“ (Prof. D. Weinel), „Weltanſchauung
und Lebensanihauung in Erziehung, Beruf und
Leben“ (Dr. Graf von Meitalozzi-Berlin), „Pro-
bleme des neuzeitlihen Religionsunterrichts“ (Dr.
Reukauf-Coburg), „Einleitung in die Philofophie nebit
einem Ueberblid über ihre Geſchichte“ (Prof. Dr. Linke),
„Die hauptſächlichſten philoſophiſchen Strömungen des
19. Jahrhunderts“ (Freiherr von Gleichen-Rußwurm),
„Die materialiftifhe Geſchichtsauffaſſung“ (Dr. Dannen-
berg). Außerdem finden noh Vorträge und Uebungen
aus folgenden Wiffensgebieten ftatt: Pädagogik, Bolts-
wirtfhaft, Staats- und Gefellichaftsiehre, GBeiltesge:
Ihich!e, Literatur, Kunſt, Fremde Spraden.
Programme und nähere Auskünfte durd das Gefre-
tariat: Frl. El. Blomeyer Jena, Carl Zeißplatz 3.
Dr. frang Xaver Kiefl, „Leibniz und die
teligiöfe MWiedervereinigung Deutihlends“ (zweite,
weſentlich umgearteitete Auflage, Regensburg 1925,
Verlagsanftalt vorm. G. I. Manz).
Diefes Bud des bekannten katholiſchen Gelehrten
wird unjere Lejer befonders im Hinblid auf die UAn-
regungen von Prof. Bavinks Aufſatz „Bon Kepler zu
Leibniz?“ in der lebten Nummer diejer Zeitichrift inter-
ejfieren. In diefem Zufammenhang find natürlid von
weit größerer Bedeutung als des Berfaflers eingehende
biftorifche Unterfuchungen über den Berlauf der Gini-
gungsverhandlungen feine Ausführungen über die Be-
weggründe der von Leibniz faft während feines ganzen
Lebens fortgefetten Veſtrebungen zur MWiedervereini-
gung der driftlihen Kirchen; gewähren fie uns dod)
einen Einblid in die tragenden Kräfte der Perfönlichteit
von Lebniz ſelbſt. Denn daß Leibniz dieje Verſuche
nicht aus perjönlidem Xedürfnis, fontern nur von
Amts wegen, im Intereffe der Hannoverjhen Hauspoli-
tit, unternommen habe, wird von K. mit aller Ent-
Ihiedenheit abgelehnt. Er erblidt vielmehr hinter feinem
firhlihen Friedensplan jo tiefe und edle Beweggründe,
daß er fih zu einem Urteil über ihn wie dem folgen-
den veranlaßt fühlt: „Derfelbe ftellt fi uns dar als der
treibende Wurzelftod der größten Entdedungen und
Entwürfe des univerjellften Geiltes in der Geſchichte
Europas, als eine der größten menſchlichen Kraft-
(eiftungen, welde je einem erhabenen Ziele geweiht
wurden, als Dentmal deutſcher Vaterlandsliebe, welches
an edler Reinheit und Tiefe feinesgleihen ſucht.“ (St.
15). Den SHauptantrieb in den Leibniz'ſchen Beitre-
bungen zur firdliden Einigung Europas findet 8. in
der Religiofität ihres Urhebers und die Zahigkeit, mit
welcher fie immer wieder von ihm unternommen wurden,
erideint ihm als ficherer Beweis dafür, daß diefe Re-
ligiofität in Leibniz keineswegs die flache, bequeme Auf-
tärungsmeinung war, als welde fie oft angejehen
wird, fondern eine verpflichtende und im Kampf mit
den Schwierigkeiten auch wieder tragende und unter:
ftügende Kraft. Bei diefem Nachweis findet der Ber:
faffer häufig Gelegenheit auf Meußerungen von Leibniz
binzumweifen, welde die Wärme feines religiöjen
Empfindens zu vollem Ausdrud bringen, wie 3 .B. jene
Stelle aus dem Briefe an Pelliſſon, mit welder er fein
Buch fließt: „Ic bin überzeugt, daß es nichts jo Aus:
gezeichnetes gibt wie die Religion Jefu Chrifti und daß
uns nädjit der Reinheit diefer Religion nichts jo jehr am
Herzen liegen muß, wie die Einheit der Kirche Gottes“
(St. 187). Aus der Ueberzeugung von der Bolltommen-
heit der driftlihen Religion erwudhs für Leibniz ohne
weiteres das Ideal einer einzigen kirchlichen Darjteilung
derjelben, an deffen Verwirklichung zu arbeiten er 3u-
gieih als fittlihe Verpflichtung empfand. Dann aber
itedt hinter den Einigungsbemühungen von Leibniz nad)
Kiefls Anficht vor allem auh ein echter, ftarfer Patrio-
tismus, die Sehnſucht nah einem durch feinen Zwie—
jpalt der Weltanfchauung mehr zerrifienen und in feiner
Einigkeit jtarfen deuten Bolt. Die Reunionsperfuche
des Leibniz, jo unglüdlih in ihrem Ausgange, behalten
ihren idealen Wert als Dentmale edelften, deutjchen
Patriotismus und verweifen uns auf das fefte Binde-
glied, deffen die Konfeflionen auh im tiefiten Zwieſpalt
der Weltanjchauungen ftets fih bewußt bleiben fünnen
und follen” (St. 10). Das find Worte, welde bejonders
in der gegenwärtigen Lage unjeres Volkes und gegen:
über der Anregung einer Umwandlung unjeres Kepler-
bundes in einen Leibnizbund höchſte Veachtung ver:
dienen. Und im Hinblid auf diefe Anregung ſei ſchließ—
lid aud noh eine Aeußerung Kiefls über die Vedeu—
tung von Leibniz für unfer deutſches Geiftesleben ange-
führt, welche einen noh weiteren Ausblid gewährt.
„We ganz anders ftände es heute mit dem deutjchen
Geijtesleben, wenn nicht der von Englands Philoſophie
abhängige Kant, jondern Leibniz mit feinem lebendigen
Gottesglauben der Führer des deutſchen Idealismus
geworden wäre!” (St. 11).
Nachtrag zu der Beiprehung des Budes von Fr.
Grave. Das Chaos als objektive Weltregion in der
legten Nummer.
Zur Vermeidung von Mißverftändniffen über den
ſachlichen Aufbau des Buches, welche durch unjere Pe:
ſprechung entitehen könnte, bringen wir gerne folgende
Einfendung des Berfaflers:
„In der Rezenfion fteht, daß den vier chaotijchen
Reihen die vier Reihe des Stoffes entipräden (Kri—
ftali, Pflanze, Tier, Menſch). Dies dürfte nit ganz
die Meinung meines Budes treffen. Diejelbe gebt
vielmehr dahin:
1. Das Chaos enthält die vier Reihe Qualität, Di-
menjion, Geftalt und Bildung.
2. Das Reih der Bildung enthält wiederum vier Un-
teritufen von Bildungsformen, nämlich: Subftantialität,
Bajlivität, Neutralität, Aktivität.
3. Diejen vier Bildeformen (aljo niht den daotijchen
Reichen) entſprechen die vier Naturreicdye:
a) Stoff
b) Krijtall
c) Pflanze
d) Tier einſchl. Menſch.
4. Ich nehme aljo erftens niht vier Reiche des Stof-
fes an, fondern vier Reihe übergreifender „Natur“;
und zweitens faffe ih den Menſchen niht als beſon—
deres Naturreich, jondern halte es hier mit der Zoo—
logie, die ihn dem Tiere angliedert.”
Druckfehlerberichligung.
Folgende Formeln auf Seite 150 eines Teiles der
Auflage ſind durch Druckfehler entſtellt.
1. Formel
R .CHNH: . COOH + HOH =
R . CHOH . COOH + NH:
3. ormel
CO: + 2 NH = CO (NH:?} + He: O.
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ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR NATUR-
WISSENSCHAFT UND WEITANSCHAULING
XVII. Jahrg. Detmold, Juli 1925 Heft 7
Schriftleitung:
Professor
Dr. Bavink
Bielefeld
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Detmold
Inhalt:
Vom Relativen zum Absoluten. Von B. Bavink. ® Leibnizens Gegenwarts-
bedeutung. Von Dietrich Mahnke. (Schluß.) ® Kampf und gegenseitige
Hilfe in der Natur. Von Professor O. Prätorius. ® Die Kohlenlager der
Erde. Von Dr. W, Lohmann. ® Naturwissenschaftliche und naturphilo-
sophische Umschau. ® Neue Literatur.
NATURWISSENSCHAFTLICHER VERLAG DETMOLD
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„UNSERE WELT“
erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post, Buchhandel, oder unmittelbar vom
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7 H der zweiten in unserem Ver- 64
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dem Raupenleben. Von Dr. Bergner. ® Häusliche Studien. ® Kleine Beiträge. ® Der Sternhimmel
im Juli. ® Aussprache. ® Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur
Fankfreund: Seide. Von Dr. E. O. Rasser. ® Die Kohlenlager der Erde. Von Dr. W, Lohmann.
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Hauptverlammlung
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des Bundes
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Unſere Melt
Wnftrierte Zeifiieift für Aulurwiſſenſchuft und MWeltunfhunung
Herausgegeben vom Naturwiſſenſchaftlichen Verlag des Keplerbundes e. V. Detmold.
Poſtſcheckkonto Nr. 45744, Hannover.
Scriftleitung: Prof. Dr. Bavint, Bielefeld.
Für den Inhalt der Aufläge ftehen die Derfaffer; ihre Aufuahme mapt le mit zur Aenherung des Bundes.
en ann,
XVIL. Jahrgang
Juli 1923
Heft 7
Bom Relativen zum Abfoluten. Bon 3. Bavint.
Borbemerfung: Der nadjftehende Aufſatz war
größtenteils ſchon fertig entworfen, als dem Verfaſſer
Plands geeich betitelter Feſtvorirag (ogi. die Umſchau
m Rr. 3) in die Hände fam. Ter Gedantengang be:
rührt jih an manden Stellen mit dem diejes Vortrages,
und jedenfalls darf ic) zu meiner Genugtuung feft-
ltellen, daB die Grundtendenz völlig die gleiche ift. Im
übrigen bezieht fih jedod das folgende mejentlic) auf
Gebiete, die Pland nur flüdtig einmal geftreift hat.
Die Ueberwindung des wiſſenſchaftlichen Relativismus,
die Plancks Hauptziel darftellt, ift mir nur der Aus-
gingspunft für weiterführende Gedanten gemweien. Was
ich 3u dem erfteren Thema zu fagen hatte — und was
li in der Hauptjade mit Plands Anficyten dedt, —
tet in den Auflägen in Nr.i u. 7 von 1923, auf die ich
hier zurüdverweife. Es war dort jhon angefündigt, dap
fih aus dem für die Wiſſenſchaft Geltenden vielleicht auch
wichtige Sclüffe oder Analogien für andere Gebiete
ergeben. Auf diefe foll hier eingegangen werden.
Das Thema „Relativismus“ ift in unferer Zeit
bejonders auf die Tagesordnung gefommen,
als die Einfteinfche Relativitätstheorie alle
Köpfe beichäftigte. In der öffentlichen Meinung
ift vielfach die Anficht verbreitet, daß diefe Theo-
rie gleichbedeutend mit einem fchrantenlofen
philoſophiſchen ‚und wiffenfchaftlicyen Relativis-
mus fei. Diefe Anficht ift weſentlich dadurch mit
genährt worden, daß Einftein felber, ſowie
einer feiner eifrigften Anhänger, der Bofitivift
Pegoldt, die Nelativitätstheorie als jogu-
fagen Phyfit gewordenen Relativismus angu-
jehen geneigt find, ferner dadurch, dap auch die
Gegner Einſteins niht müde wurden, das Publi-
tum dadurch vor der Theorie graulen zu machen,
daß fie fie ebenfalls als „Bolfchewiftenphyfit“
ulm. hinſtellten. Ich fann mid) nun hier nicht
näher auf die Darlegung deffen einlaffen, daß
diefe Beurteilung der Relativitätstheorie den
Kern der Sache gar nicht trifft, daß vielmehr die
‘ Relativitätstheorie, wie jede andere phyſikaliſche
Theorie, nur ein Schritt dazu iſt, an die Stelle
eines bis dahin irrtümlich für endgültig und ab-
lolut Gehaltenen, das fie als nur relativ giltig
erfennt, das wirklich Endgiltige und Abfolute zu
jegen. Jn unübertreffliher Klarheit hat M.
Geiger diefen Sadjverhalt in feiner Brofchüre
über die philofophiiche Bedeutung der Relativi-
tätstheorie entmwidelt, und auh Bland hebt in
dem oben genannten Vortrag dasfelbe ftar? her-
vor. Bei diefen möge man alfo das Nähere
rachlejen. Hier handelt es fih nun aber nicht um
die Relativitätstheorie, fondern um den irrrüm-
ih mit ihr identifizierten Relativismus
jelber. Man verjteht darunter bekanntlich die
Lehre, daß alle unfere Urteile, ſowohl die theo-
retiichen, wie die fünftlerijch-äfthetiichen, wie die
jittlicyereligiöfen, fozialen oder dergl., nur rela-
tive Giltigkeit beanfpruchen fünnten. Dies tann
nun an fidh vielerlei heißen, wird aber zumeift in
dem Sinne gemeint, den die Sophiften des Altere
tums mit dem Sake verbanden, daß „der Menſch
das Mah aller Dinge fei“. Man will alfo damit
jagen, daß es nichts abfolut oder an fih Wahres,
Schönes, Gutes oder dgl. gäbe, jondern daß diefe
Präditate gewiſſen Dingen oder Säßen immer
nur vom Standpunfte beitimmter Menfchen oder
Menfchenklaffen aus zufämen, vielleicht aud)
vom Gtandpunfte aller Menfchen, die ja erfah-
rungsgemäß in fehr vielen Eigenfchaften über-
einjtimmten, aber damit fei doch noch nicht ge-
jagt, ob nicht auh etwas, was für alle
Menjchen wahr, gut oder ſchön fei, für andere
Weſen vielleicht doch falfch, böfe oder häßlich fein
fünne. Kurz: man ftreitet fämtlichen Urteilen den
Charakter abjoluter, fchlechthiniger Giltigfeit
von vornherein ab und läßt nur „relative“ Gil:
tigkeit zu. Ganz befonders wird zumeift noch
darauf hingemwiejen, daB ſolche Urteile fich im
Laufe der Zeiten zu ändern pflegten und da-
158 N
durch bejonders deutlich ihren relativen Cha-
rafter befundeten. Wie fchon das eben ange-
führte Beifpiel der griechiihen Sophiften zeigt,
ft der Relativismus in diefem Ginne febr alt,
fajt fo alt, wie das jelbjtändige Nachdenfen der
Menfchheit über fih ſelbſt und die Welt über:
haupt. Die zu feinen Gunſten fprechenden
Gründe liegen jo auf der Hand, daß es fih fait
erübrigt, fie noch bejonders anzuführen. Jn der
Tat zeigt ja ein einziger Blid in die Gefdichte
Des Denfens, der Kunſt oder der Religion und
Moral, ſowie ein einziger kurzer Ueberblick über
olles das, was von verfchiedenen Völkern an ver:
Ichiedenen Orten und zu verfchiedenen Zeiten für
wahr, gut und ſchön gehalten worden ift und
noch wird, wie unendlich mannigfaltig die Ur-
teile über diefelben Gegenftände find, wie an-
ſcheinend unmöglih der Verſuch wäre, aus
diefem unglaublich vielfeitigen Chorus von
Etimmen der Bölfer auch nur ein paar allerfeits
anerfannte Urteile herauszuhören. Und was für
die verichiedenen Völker gilt, gilt erft recht für die
einzelnen Individuen.
Man hat zwar andererfeits ebenfalls ſchon feit
der griechifchen Zeit ſtets geglaubt, in gewiſſen
Zweigen der menjchlichen Geiltestätigfeit emen
über alle menfchlicye Relativität erhabenen, un-
abänderlihen Befig nachweiſen zu fönnen; vor
ollem hat als folcher die Mathematik gegolten.
Seitdem der moderne durchaus relativiſtiſch ein-
geftellte „Pofitivismus“ jedoch die Erkenntnis»
theorie beberricht, ift auch dies zum mindeften
ftrittig geworden. Jn feiner Konfequenz liegt
die bejonders in Amerika ausgebildete Lehre des
iog. „Bragmatismus”: wahr ift überall (audh in
der Mathematit) das, was für zutreffend zu
halten biologifch zwedtmäßig ift. Es wäre offen-
bar für ein lebendes Weſen, das wie der Menſch
auf Berftandestätigfeit angewiefen ift, höch't un—
amwedmäßig, niht anzunehmen, daß die Gerate
der fürzefte Weg zwiſchen gwei Punkten fei, oder
nicht 3u glauben, daß zweimal zwei vier fei.
Ebenfo wäre es für die Gattung höchſt unvnrteil:
haft, wenn alle Individuen fo egoiſtiſch wären,
daß dadurch ein foziales Leben unmöglich ge-
macht würde uſw. Aus diefen Gründen ift es
durchaus begreiflih, daß die Meajorität über:
all ganz beitimmten Sägen den Vorzug vor
ihren Gegenteilen gibt und daß fie auh Die
Jugend in diefen Sätzen erziehen läßt, um ihnen
ben größten Teil des eigenen Durchichadenflug:
werdens abzunehmen.
Sn Deutichland find die Grundgedanfen tiefes
relativiftiihen PBofitivismus bauptlächlich durch
Ernjt Mach verbreitet worden. Auf feinen Ein:
fluß ift es zurüdauführen, daß der Relativismus
Vom Refativen zum Abfoluten.
en Et ru
in ſtärkſtem Maße die wiſſenſchaftliche Welt,
ganz beſonders die Naturwiſſenſchaft, beherrſcht.
Im übrigen liegt ſelbſtredend auch ſchon von
Hauſe aus dem Wiſſenſchaftler ein gewiſſes
Mak ſolches Relativismus nahe, weil er ja
immerfort mit der Kritik des früher Gefundenen
beſchäftigt ift und weil tatſächlich aller Dogmatis-
mus in der Wiſſenſchaft vom Uebel iſt. Wir
werden unten noch ſehen, warum das durchaus
nicht zu einem grundſätzlichen Relativismus zu
führen braucht, warum vielmehr gerade der
wiſſenſchaftliche Forſcher auch ſehr zwingende
Gründe hat, an der Erreichbarkeit eines wirk—
lichen Wiſſens feſtzuhalten, doch müſſen wir an
dieſer Stelle zunächſt einmal zu verſtehen ſuchen,
wie es zu einem ſolchen Ueberwiegen des Rela—
tivismus in der modernen Welt kommen konnte.
Derſelbe würde ſchwerlich auch in der
Wiſſenſchaft fo ſtarke Reſonanz gefunden haben,
wenn nicht zugleich auf dem allgemeineren Ge—
biete der Weltanſchauung ihm eine mächtige
Zeitſtrömung entgegengekommen wäre. Hier ift
der Führer Fr. Nietzſche. Obwohl deſſen
Lehren, genau genommen, auch durchaus über
den Relativismus hinausführen können, hut er
doch insbeſondere in der Jugend und in allen
künſtleriſch intereſſierten Kreiſen ſehr ſtarl in
relativiſtiſchem Sinne gewirkt. Das liegt an
einer ganzen Reihe ſeiner zwar mehr aphori—
ſtiſchen als ſyſtematiſchen, aber dafür um fo wirt:
famer formulierten geiftreihen Ausſprüche, in
welchen er glatt . das Beftehen einer objeltiven
Wahrheit verneint. Jn feinem Haß gegen alle
überlieferte Autorität hat er vielleicht mehr gejagi,
als in der eigentlichen Ronfequenz feiner Grund-
gedanten lag, tatfächlich hat er jedoch auf dicſe
MWeife in weiteſten Kreifen dem rüdfichtslofelten
Relativismus VBorfchub geleiftet.
Wenn Niebfche der Führer des Relativismus
vor allem in künſtleriſch intereffierten Kreifen
und in der Jugend geworden ift, wie Mad
innerhalb der exakten Wiſſenſchaften, fo ift neuer-
dıngs auf dem Gebiete der Beifteswiffenfchaften
ein noch wirffamerer Vertreter dem Relativis—
mus in Spengler erftanden. Seine Lehre,
daß Kultur nicht etwa die Schaffung gemilfer cb-
jef:iver, d. h. allgemein verbindlicher Werte (des
Wahren, Guten und Schönen) bedeute, jondern
daß es nur einzelne Kulturen, d. b. gewiſſe ınnere
Stil inheiten einer Epoche bezw. eines Bolles
gebe, die fidh in allen ihren fog. „Kulturwerken“
auspräge, fommt ebenfalls auf einen durch
gebenden Relativismus hinaus. Der früheren
Betrachtung der Kultur war diefe doh immer
ter Inbegriff beftimmter Inhalt: Wenn
man einen Newton oder Ariftoteles, einen Leo:
Bom Relativen zum Abfoluten.
nardo oder Beethoven, einen Sefajas oder Paur
lus als Rulturträger und Schöpfer bezeichnete,
fo hatte das den Sinn, daß fie diefe oder jene Art
von allgemeinen Werten (hufen. Nach Spengler
beiteht Dagegen das Weſen ſolcher Rulturträger
ausichließlich darin, daß fie die „Sulturfeele”
ihrer bejonderen Art zum volltommenjten Aus-
drud bringen. Er gebt in diefer Behauptung be-
kanntlich fo weit, daß er jelbft Archimedes und
Leibniz als zwei einander in ihrem mathema:
tifchen Denten völlig unvergleichbare, auf diefem
Gebiete die Belonderheiten ihrer fpeziellen Rul-
turfeele zum Ausdrud bringende Größen gegen»
überjtellt und jede über beide hinausgreifende
gemeinfame „mathematifche Kultur”, an der fie
beide teil hätten, leugnet. |
Diefe ganz turze und felbjtredend höchſt un:
vollftändige geichichtliche Ueberſicht follte nur eini-
ge der in neuefter Beit befonders hervorftechenden
Gipfelpuntte der relativijtilchen Strömung tenn-
zeichnen. In Wirklichkeit handelt es fidh bei
ihnen nur um die gegenwärtig leten Ausläufer
einer allgemeinen Bewegung, die, bereits im
Altertum begonnen, im Mittelalter zeitweife
völlig zum Stillitand gekommen, feit der Re-
naiffance in immer breiterem Strome das euro-
päifche Denten beeinflußt. Es ift der Pro:
Rek der Loslöfung des Individu—
ums vonden Bindungen, diees als
gegeben vorfand, als es zum Be-
mußtlein feiner felbft erwante.
Diefer Prozeß mußte fih, wie die Dinge einmal
tagen, notwendig in der Form eines hartnädigen
und zähen Kampfes gegen diefe überlieferten
Bindungen volßiehen und zwar auf allen Ge-
bieten des Kulturlebens von der Wiſſenſchaft bis
zur Religion, wie unzählige Male dargelegt
worden ift. Durch diefe Kampfitellung war es
aber wiederum bedingt, daB die Vertreter des
Nelativismus, oder wenn man lieber will, der
neu gewonnenen #reiheit, den Krieg nunmehr
nicht nur den gerade vorliegenden Autoritäten,
3. B. dem Ariftoteles oder der Kirche, anfagten,
fondern der Autorität überhaupt, wie das ja
auch heute noh immer wieder geichieht, wo 3. B.
die Jugend fih von den bisher beftehenden
Autoritäten losfagt. Das ift ein Teil der großen
Tragit des Menfchendafeins, die Goethe in dem
Worte ausſpricht: „Wenn wir zum Guten diefer
Welt gelangen, dann heißt das Beffre Trug und
Bahn.“ Denn „dem Herrlichiten, was auch der
Beift empfangen, drängt immer fremd und
fremder Stoff fih an“, kommt dies aber auf einer
fpäteren Stufe dem Menfchen ſchließlich zum
Bemußtfein, fo läßt er nur zu leicht jenes „Herr:
lichfte“ fetber entgelten, was eigentlid”) Schuld
159
diefes „fremden Stoffes” ift. Ohne dichterifche
Einkleidung ausgedrüdt: Die Menfchheit bejaß
eine große Reihe der wichtigſten und höchſten
geijtigen Güter bereits, ehe fie anfing, darüber
nachzudenfen, woher diefe gekommen feien und
mit welchem Rechte fie eigentlich Geltung bean-
ipruchten. Ihr unmittelbar einleuchtender unge-
heurer Wert hatte denjenigen Perſonen, Einrich
tungen, Schriften ufw., in denen fie zu finden
waren, bis dahin eine unbedingte Autorität ver-
Ichafft. Bei der nun einfeßenden fritifchen Ber-
gliederung mußte jedoch unvermeidlich zutage
ftommen, daB auh bei diefen Autoritäten
Menfchliches-Allzumenfcliches in großer Menge
zu finden fei, und dah diejenigen Vorgänge, wel-
che in alter Zeit die fraglichen Werte hervorge-
bracht hatten, ihr Gegenftüd auch heute noch ha-
ben fönnen und tatfächlich haben. Die Erfchütte-
rung, welde für das innere Leben von diefer Cin-
fiht ausgeht, ift etwa der zu vergleichen, welche
das Kind erlebt, das bis dahin in dem harmlofen
Glauben gewefen ift, daß alles, was die Eltern
tun, recht und billig ift, und das nun bei irgend
einer Gelegenheit merkt, daß diefe Eltern auch
mit menſchlichen Fehlern behaftet find. Auch
das führt nur zu oft zu einem völligen Um-
tippen ins Gegenteil, zu einer grundfäßlichen Ab⸗
fage an alle Autorität überhaupt. Es bedarf der
ganzen Weisheit und des ganzen Taftes der Ci-
tern, in ſolchem Falle das Kind allmählich zu ei-
ner wahren „Pietät” zu führen, die fih [ehr wohl
mit klarer Einficht in die menfchlichen Unvoll-
fommenbheiten aud) des pietätvoll Berehrten ver-
trägt. Diefen Prozeß hat die chriftlich abendlän-
difhe Kulturwelt durchgemacht, fie fteht noch
mitten darin. Wenn jedoch nicht alles trügt, fo
bedeutet der Weltkrieg eine neue Zeitenwende in
dem Sinne, daß fie nunmehr den Weg von der
bloßen Verneinung und dem bloßen Relativieren
zur höheren Bejahung und zum wahren Abfo-
luten zurüdfinden wird. Diefen Gedanten etwas
näher zubegründen, tft die Aufgabe diefer Zeilen.
Wir wollen verfuchen, den angegebenen Bor-
gang auf den verfchiedenen Gebieten der Kultur
zu verfolgen und beginnen mit demjenigen Ge-
biete, das feit der klaſſiſchen Zeit immer die Füh-
rung!) gehabt hat, der Wiſſenſchaft.
Das relative Redt alles Relati-
vismus läßt fih dahin zufammenfaffen, daB
esfein Gebiet menfhliden Geiſtes—
[ebensgibt,indemnidtdiemenjd-
lihe Unvollftommenbheit fid ftörend
bemertbar macht. Diefelbe bedeutet dreier-
1) Dies Wort ift hier zunächſt nur zeitlich, nid wer:
tend gemeint.
160
lei: erſtens Unvollſtändigkeit, zweitens Ge-
bundenfein an notwendige Eigenarten der
menfchlichen Organifation und drittens dirette
Irrtümer und Fehlgriffe, (einfchließlid mora:
lifher). Daß in allen diefen drei Beziehungen
die Willenfchaft, d. i. das theoretifche Erfennen
relativ ift, bedarf feines weiteren Nachweiſes.
Aus diefer .Einficht aber folgt dann, daß jeden:
falls in der Wiffenfchaft alles Feſtkleben an vor-
gefaßten Meinungen und Dogmen verfehlt ift,
daß nur bei unbefchränfter Freiheit jenes fortwäh-
rende Sichlelberfontrollieren, welches die Wilfen-
ſchaft übt, gedeihen fann. Dies gilt auh für die-
jenigen Wilfenfchaftszweige, welche fih mit den
Grundlagen des Wiffens felber befaffen, in erfter
Linie die fog. Ertenntnistheorie. Die Entwid-
lung hat gezeigt, daß auch hier der Verſuch ver:
fehlt war, Endgiltiges und Unabänderliches ein
für allemal fejtgejtellt jehen zu wolfen (wie das
mande heute nody vor allem bei Kant ſuchen).
Es bedeutet nun jedoch abermals eine viel zu
voreilige Dogmatifierung, wenn man daraufhin
Den Gak aufftellen zu tönen meinte, „jede wılfen-
ſchaftliche Wahrheit fei demnad nur ein Irrtum
von heute”. Denn an fih ift es febr wohl dent-
bar, daß trog aller Irrtümer und Schranfen dod,
wenn auh langfam, Wahrheit gefunden und
trog aller Subjeftivität doch allmählich Ueberein-
ftimmung in gemwilfen objektiven Urteilen erzielt
werde. Selbſt aber, wenn dies leßtere nicht
möglich fein follte — und es fcheint ja Gebiete zu
geben, wie 3. B. die Philofophie, bei denen man
bisher taum einen allgemein anerfannten Sag
angeben fann — fo wäre damit immer noch nicht
die Eriftenz des Wbfoluten ſelbſt als eine Illuſion
erfannt, fondern immer erft bewiefen, daß wir
als Menſchen zum wenigften in gemwillen Ge:
bieten zu einer eraften Definition desfelben- d.
h. zu einer reitlofen Dedung von Subjekt und
Objekt, nicht gelangen fünnen.
Darum fönnte jedoch immer noh der Glaube
an die Eriftenz der abfoluten Wahrheit über-
haupt zu Recht beitehen, ja fogar notwendig fein,
wenn man überhaupt den geiftigen Zuftand der
Menfchheit begreifen will. So liegt die Sache
nun m. €. wirflich und bier fann, glaube ich, ge-
rade die Kritik der Wiſſenſchaft bahnbrechend
wirfen. Wir haben in dem darauf bezüglichen
Aufſatz (Nr. 7,1923) gefeben, aus welchen Grün-
den der neuere fritifche Realismus nicht nur den
Glauben an einen wirklich eriftierenden objet-
tiven Sachverhalt (das „Ding an fiy“), fondern
auch an eine, wenn auch unvollfommene und ge-
trübte Erfennbarfeit desfelben zu ftüßen vermag.
Das [chlagendfte Argument zu feinen Gunften ift
das dort angeführte Konpergenzargu-
Bom Relativen zum Abfoluten.
ment. Die vielfach geradezu verblüffend wir:
tende innere Mebereinftimmung der auf den ver-
ihiedenften von einander unabhängigen Wegen
erzielten Ergebniffe und allgemein die „rüd®
wirkende Berfeftigung” (Boltmann) aller Teile
des Syftems der wiſſenſchaftlichen Erfentnis ift
das ftärffte und im Grunde unmwiderlegbare Ar-
gument zugunften der Annahme, daß diefe eben
nicht fubjeftive Konftruftion, fondern Erkenntnis
objeftiver Sachverhalte ift. Das Nähere muß
man bei den Meiftern der neueren Erfenntnis:
theorie, bei Becher und Huſſerl, Meffer und Külpe
nacdhlefen. Die Wiflenichaft — und zwar nid
etwa nur die Naturmiffenichaft, ſondern aud die
Geſchichtswiſſenſchaft, überhaupt jede „reale“
Wiſſenſchaft — zeigt per exemplum jedem, der
fih hineinvertieft, jenen eigentümlichen Zuftand
ichwebenden Gleichgewichts, der gleich weit ent-
fernt von totem Dogmatismus, wie von alles
vernichtender Stepfis ift. Am beiten läßt fidh
diefer Zuftand mit dem dynamiſchen Gleichge⸗
wicht beim Radfahren vergleihen. Der Rad-
fahrer fällt eigentlich immergu, bald nad) rechts,
bald nad links. Dadurch aber, daß er jedesmal
nach der gleichen Seite hin fteuert, wohin er
fällt, veranlaßt er (durch die Wirkung der Träg-
heit) ein Umfippen des Rades nad) der entgegen:
gejeßten Seite. Somie er dies merft, fteuert er
obermals umgefehrt ufw. (Man erkennt diejen
Sachverhalt deutlich beim Anfänger, der jedes»
mal erft noch überlegen muß: jet hierhin, jebt
dahin fteuern! Später geht es mechuniſch).
Dies Gleichgewicht ift alfo ein fog.
dynamifdhes,nihteinruhender dw
ftand, fondern ein fortwährendes
„Sih ins Bleihgewidt ſetzen.“ So
ähnlich fteht es alfo auch mit der Wilfenfchaft. Sie
hat fih fortgejeßt vor dem Umkippen nad) redjts,
in den Dogmatismus, und vor dem nad) Iints,
in die Skepfis, zu wahren und befindet fih dabei
im ganzen, wie man fieht, außerordentlich wohl.
Man tann die ältere Erfenntistheorie (bis zu
Kant einfchließlich) geradezu mit den Verſuchen
nergleichen, ein Fahrrad zu fonftruieren, das
ihon zum voraus im ftabilen Gleichgewichte
fein fol. Solche gibt es befanntlih auch; fie
müffen mindeftens drei Räder haben und find
ſehr ſchwerfällig. Kant und alle Erktentnistheo«
retifer vor ihm fuchten fozufagen nach folchen
Stabilitätsbedingungen der Wiffenichaft. Es er-
ſchien ihnen unerträglich und undenkbar, daß
Wahrheit herausftommen könnte ohne folche fta-
bile Grundlagen. Wiefönnteauslauter
bloßen Wahrſcheinlichkeiten jeo
mals Gewißheit werden? Dieer Ge
Dante, fo beitechend er ift, ift aber tatfächlich
Vom Relativen zum XUbfoluten.
fein anderer geweſen als der der mödilchen
Kosmologie: Die Erde muß irgendwie feltge-
halten werden, damit fie nicht herunterfällt, alfo
rubt fie auf einem Elefanten, diefer wieder auf
einer Schildfröte ufw. Cs ift fein Wunder, wenn
aud die Erfenntnistheorie fchließlich zu den Cr-
gebnis tam, daß diefer Elefant nirgends
aufautreiben ift. Die vielberufene fog. toperni-
kaniſche Wendung” hat deshalb in Wahrheit gar-
nicht Kant, jondern erft die neuere Erkenntnis—
theorie vollzogen. Gie gleicht der Kosmologie,
die eingefehen hat, daB das Meltigitem feines
„tragenden Untergrundes“ bedarf, (weil nämlich
die Begriffe Oben und Unten hier gar feinen
Sinn mehr haben). Es ſchwebt frei im
Raum und iftnur in ſich jelber ver:
feftigt. So ftebtaudhdas Syſtemder
Wahrheit fretauffidfelber. Cs hat
gar keinen Sinn, nach Kriterien zu fuchen, ge-
mäß denen a priori entjchieden werden fünnte,
ob es Wahrheit gibt und was Wahrheit ift.
Wahrheit ift das, was zu einander
paßt. Bemweifen, daß es fo etwas geben muß,
fann man fdjlechterdings niht. Uber er-
leben, daß es das gibt, fann jeder,
derfiddieMühbemadt, eineausge-
baute Viffenfhaft zu ftudieren.
Das Ergebnis diefer anfcheinend ziemlich ab-
ftraft theoretiihen Betrachtung ift nun meiner
Ueberzeugung nad) von ganz fundamentaler
Wichtigkeit. Wenn die Geichichte der Willen-
ichaft jo unverkennbar lehrt, daß es wirklich
Wahrheitsertenntnis gibt, fo ift damit eine
außerordentlid ftarfe Inſtanz zu—
gunftendes Glaubens andie Objek—
tivität unferer Ideale überhaupt
gewonnen. Denn mwenn das beal der
Wahrheit tatjäcdhlich keineswegs Dazu verur-
teilt ift, ewig in gleicher unnahbarer Ferne zu
Ichweben, vielmehr „die Wahrheit die Ajymptote
der Forfchung ift”, fo ift fein Grund einzufehen,
warum wir es nicht mit dem Glauben an eine
ähnliche Lage der Dinge auch bei den anderen
Idealen zum wenigften verjuchen follten. Es
mag einer Zeit, die ihr Heil in der Abwendung
von allem „Intelleftualismus” fucht, zwar jchwer
entommen, aber es nichts deito weniger wahr:
Jn der rihtigen Beurteilung der
Reiftungsfähtigfeit unferes Ber-
ftandesliegtderSchlüffelzum gan-
zen Werteproblem überhaupt. Das
foll nicht etwa einen „Primat des Verſtandes“
ſchlechthin bedeuten, ich bin vielmehr durchaus
der Meinung, daß in der Rangordnung
der Werte den fittlich religiöfen die oberſte Stelle
gebührt. Aber das ganze Werteproblem entjteht
161
ja gerade dadurch, daß der kritiſche Verſtand fih
diefer Werte als „Objekt“ bemädtigt. Wir
fönnen ihm das nicht verbieten; das würde gar
nichts nügen, denn jedem foldyen Verſuche würde
unmeigerlich fofort der in feiner Art ebenjo wie
alle anderen fategorifche Imperativ: „du follft
Tıchen, die Wahrheit zu erforfchen” entgegen:
itehen. Wir fönnen nichts tun, als das Problem
folgerichtig zu Ende denten, und da ift es offen-
bar angezeigt, zunächſt mit demjenigen Gebiete
zu beginnen, wo die Berhältniffe am einfachiten
und klarſten liegen. Das ift aber eben das Ge-
biet der theoretiichen Vernunft. Wenn auch nicht
in der endgiltigen Rangordnung, fo muß
dieſes Cebiet deshalb doch in der logifchen Ord-
nung zuerſt tommen. In diefem Sinne hat
Goethe Recht, wenn er den Mephifto von Fauft
fagen läßt: „Berate nur Vernunft und Wilfen-
Ichaft, tes Menfchen allerhöchlte Kraft... . fo
hab ich dich (hon unbedingt”. Wenn reines und
unbeft:chlicyes Wahrheitsitreben mit Notwen:
digkeit von höheren Sdealen und damit von Gott
wegführte,, jo wäre Gott nicht Gott. Denn es
liegt in dem Begriffe Goti, daß er felber die ab-
ſolute Wahrheit ift. Und darum fann und muß
das, was wir auf dem Gebiete der theoretifchen
Vernunft als giltig erfennen, auh zum mindeften
cine gewiffe Bedeutung für die anderen Wert-
Gebiete haben.
Nun will ih mit diefen Worten nicht etwa
fagen, daß wir mechaniſch ein Schema von dem
einen, dem intellettuellen Gebiete, auf alle
anderen Gebiete übertragen könnten und follten,
cifo etwa das abfolut Schöne in demfelben
Einne als die Aſymptote der Kunſt, das abfolut
Gute als die der Moral ufw. ohne weiteres ein-
rühren könnten. Sp einfad) liegen die Dinge
nicht, denn jedes der in Frage ftehenden Gebiete
hat feine eigenen inneren Gefege. Uber lernen
fönnen wir von der Erfenntnisfritit doh
eine ganze Menge, fie gibt uns nicht nur ein
Ichlagendes Beifpiel für den wirflicyen Wert alles
unferes Werteftrebens, fondern fie gibt uns aud)
manhe WUnalogien an die Hand, die uns viel:
leicht in dem ſchwierigen Gelände des allge-
meinen Wertproblems Führerdienfte tun fünnen.
Wir wollen einiges davon hier Plarzujtellen ver-
juchen. Ä
Zunächſt zeigt fi auf dem Gebiete der Er:
fenntnis am eindeutigften und unmwiderleglichiten
die Selbftaufhbebung jedes radıfa-
len Steptizismus. Der Sak: „Es gibt
feine abfolute Wahrheit,” hebt fih tatjächlich
jelber auf, wie leicht einzujehen ift (da er ja
felber Wahrheit zu fein behauptet). Auf diejen
Grundgedanken verweift auh Plang in dem
162
zu Eingang erwähnten Vortrage, wenn er her-
vorhebt, dap alles Relative notwendig ein Ab—
iolutes als Antnüpfungspuntt vorausfeßt, daß
man nichts bemeijen tann (auh feine Relation)
ohne einen Gak, den man fon hat uff. Man
tann nun freilich diefen Sachverhalt nicht etwa
chne weiteres auf jeden ebenfo radikalen Stepti-
ismus auf den anderen Gebieten übertragen.
Denn nehmen wir beifpielsmweife den Gag des
moralifchen Steptizismus: „Es gibt feinerlei ob»
jettive ſittliche Maßſtäbe,“ fo wif ja diefer Sap
jelber fein moralijches Gebot, fondern eine theo-
retifche Wahrheit fein, gehört alfo jelbft nicht zu
dem Gebiet, von dem er handelt, fondern in die
theoretifche Philofophie. Hier fann alfo jener
innere Widerjpruch, der dem theoretifchen radi-
talen Steptizismus anhaftet, niht ohne weiteres
zultande fommen. Er tritt jedoch fofort auf,
wenn unfer Skeptiker nunmehr dazu übergeht,
zu fordern, daß der fraglide Sak etwa in
den Schulen gelehrt werden folle, wenn er fih
fittlih darüber entrüftet, daß die „Dunfelmin-
ner” ihn beftreiten ufw., denn nunmehr legt er
felber offenfichtlih eine moralifhe Forde-
rung zugrunde, nämlih die, die „Wahrheit“
(d. h. das, was er dafür hält), nah Möglichkeit
zu verbreiten. Wenn es keinerlei objeftive mo-
raliſche Forderung gibt, fo beiteht audy diefe nicht
su Redt, und der Kampf des Aufklärers gegen
feine Gegner wird in fih finnlos. Die Abjurdität
ift hier alfo eine prattifche, feine theoretifche. Wie
dort das Denten überhaupt, fo wird hier das
Hondeln überhaupt aufgehoben. In beiden Fäl-
fen löſt fih der Widerſpruch durch die Einſicht,
daß es feinen Sinn hat, das zu leugnen, was die
Borausfeßung überhaupt dafür ift, daß wir als
dentende und handelnde Weſen eriftieren. Db es
einen ähnlichen Widerfpruch auch auf dem Ge-
biete der WUefthetit gibt, bedürfte noch näherer
Unterfuchung, doch wollen wir hierauf nidyt näher
eingehen.
Ein zweiter Gefichtspunft, den uns die Willen:
ſchaft und ihre Kritit an die Hand gibt, verdient
es jedoch, ausführlicher auch auf diefem Gebiete
ins Auge gefaßt zu werden. Wir fahen, daß die
wiffenfchaftliche Wahrheit durch „Konvergenz”
zuftande fommt. Einstein hat einmal gefagt,
das fchönfte Los, das einer phyſikaliſchen Theorie
befchieden fein könne, fei dies, daß fie in einer
neuen, höheren und allgemeineren Theorie auf
ginge. (Er meint das mit Bezug auf feine „ſpe⸗
zielle Relativitätstheorie”, die in der Tat in der
zehn Jahre fpäter entwidelten „Allgemeinen Re»
lativitätstheorie” als Spezialfall aufgeht, etwa fo
wie die Akuftit in der Mechanik oder die Plani-
metrie in der allgemeinen räumlichen Geometrie.)
Bom Relativen zum XAbfoluten.
Diefes Aufgehen der fpezielleren Theorie in der
allgemeineren bedingt nun in allen Fällen in der
Wilfenichaft zugleich) eine präzifere Abſteckung
der Grenzen, innerhalb deren die fpezielle (ältere)
Theorie gilt. Man nehme als Beilpiel etwa den
Energiefag. Zunächſt wurde diefer innerhalb
des rein mechanijchen Gebietes aufgeftellt als fo-
genannter Sag von der lebendigen Kraft (L e ib-
nig) Diejer Sag gilt 3. B. angenähert beim
Pendel, allein er gilt eben auch nur angenähert.
Wir willen nun feit Robert Mayer, daß in
Wahrheit da, wo mechanische Energie fcheinbar
verloren geht, Wärme oder fonft eine andere
Energieform dafür auftritt. Der Leibnizſche Sat
wird alfo in den allgemeinen Sag von der Er:
haltung der Energie als Spezialfall eingeordnet.
Damit wird zugleich fein Gültigkeitsbereich ge-
nauer umgrenzt. Er gilt für Syfteme mit in
der Hauptſache jogenannten fonfervativen Kräf—
ten. Aehnlich verfährt 3. B. die „Allgemeine
Relativitätstheorie” mit der Newtonfchen Gravi:
tationstheorie. Die Nemtonfchen Formeln folgen
aus den allgemeineren Einfteins durdy Speziali-
jatipn auf den befonderen Fall, daß man ſich bei
einer gewilfen Reihenentwidlung auf das erfte
Glied der Reihe befchränten darf. Jn diefem
Falle gelten dann für die Planetenbahnen die
einfachen Keplergefeße. Darf man jedoch bei den
tatfächlich vorliegenden Größenverhältniffen der
betreffenden Maffen, Bahnradien ufw. diefe erfte
Annäherung niht als genügend anfehen, fo er-
gibt die genauere Einjteinfche Formel nunmehr
auch die fogenannte Perihelbewegung des Pla-
neten (die in der Newtonfchen Formel fehlt). Die
erweiterte Theorie zeigt alfo gleichzeitig nicht nur
den vollftändigeren Sachverhalt, fondern aud) die
eraften Grengen, innerhalb deren die alte Theorie
ohne merklichen Fehler als ausreichend genau
angefehen werden darf. Und fo ähnlich liegt Die
Sache in der ganzen Wiſſenſchaft. Der Fort-
Ichritt der Erkenntnis forrigiert nicht nur die ges
machten Fehler, er zeigt auch, woher die Fehler
tommen, und unter weldyen Bedingungen die-
ſelben mertlich find.
In diefer Einficht nun liegt m. ©. ein weſent⸗
liches Hilfsmittel für das Verſtändnis auh auf
dem Gebiete der äfthetifchen und der fittlichen
Entwidlung der Menjchheit. Auch hier gilt, zum
wenigjten ficher auf dem moralifchen Gebiete, Der
Sat, daß die höhere Wahrheit die niedere nicht et-
wa aufhebt, fondern in fich einfchließt und zugleich
begrenzt. Wer einen einzelnen moralifchen Sag
aus dem Zufammenhang der ganzen Sittlichkeit
überhaupt herausreißen und zum abfoluten Ge:
bot oder Verbot machen will, fündigt gegen den
wahren Geift der Sittlichleit genau fo wie ders
jenige, der einen einzelnen Gag der. Wiſſenſchaft
zum abjoluten Dogma madhen will, fih gegen
den Geift der Wilfenfchaft verfündigt. Darin,
daß jedes einzelne Gebot an fih nicht den Cha-
ratter abfoluter Geltung hat, hat alfo der Rela-
tivismus Redt. Er hat aber Unrecht, wenn er
daraus die Folgerung ziehen zu fünnen meint,
demnach fei die ganze Sittlichkeit als folche über-
haupt nur relativ gültig. Dies folgt fo wenig
aus der Relativität des einzelnen Gebots, wie in
der Wilfenfchaft aus eben diefer Relativität des
einzeinen folgt, daß es überhaupt feine Wahr:
heitserfenntnis gäbe. Das Gegenteil ift richtig.
Benn ein Gebot des „Sittenge:
iebes” wirklich mit Recht (d. h. mit innerem,
fttlihen Redt) in beftimmten Füllen
slsnidtgiltigerfanntwerden[Joll,
oiftdasnurdadurdh möglid, daß
es einem höheren und allgemeine:
ren Gefeg untergeordnet wird, das
dann zugleih beftimmt, inmwelden
vVällen und wie weit jenes niedere
Gefeg gilt. Je weiter diefer Prozeß fort:
ſchreitet, defto elaftifcher wird gwar auf der einen
Seite die Moral, defto überzeugender werden
cber auh zugleich ihre Grundprinzipien. Nichts
anderes als ein Teil diefes Prozeſſes ift es u. a.,
wenn die Bergpredigt dem „Ihr habt gehört,
daß zu den Alten gefagt ift” das „Ich aber fage
Cuh” entgegenftellt, dabei aber betont, daß das
Gefeb „nicht aufgelöft, jondern erfüllt werden
folle”. In der Tat geht das ganze „Geſetz“ ohne
Reit in der von Jefus geftellten Forderung einer
innerlichen Gefinnungsmoral auf; feßtere ift aber
unendlich viel höher als das bloße „Geſetz“, fie
enthält zugleich die Möglichkeit für die Fälle in
ih, wo das alte Gefeß verfagt. Den legten über:
haupt erreichbaren Gipfelpunft zeigt das Wort:
Ihr follt vollfommen fein, wie Euer Bater im
Himmel volltommen ift”.
Erheblich mehr Schwierigkeiten madt nun je
dod die Uebertragung unferes Grundgedantens
auf das Gebiet der Aeſthetik. Um das zu
begründen, müſſen wir etwas weiter ausholen
und dürfen uns nicht ſchematiſch an Analogien
binden, die uns feicht auf Irrwege verloden
tönnten. Zunächſt ift allerdings das eine tlar,
dah es auch auf dem Gebiete der Aeſthetik einen
Sah von der Weberordnung der
Berte gibt. Wie die höhere Wahrheit die
niedere umfaßt und begrenzt und das höhere
Eittengejep das niedere zugleich aufhebt und er-
füllt, fo gilt auh in der Kunft, daß das Niedere
dem Höheren dienftbar ift. Was für fih allein
häßlich ift, tann im Zufammenhang eines größe-
ren Ganzen ſchön fein und umgekehrt. Allein
Bom Relativen zum Abfoluten. 163
mit diefer Analogie ift nicht viel gewonnen. Es
fteht vielmehr febr ernitlich die Frage zur De-
batte, ob nicht, wenn auch auf allen anderen
Gebieten ein Nurrelativismus ausgefchloffen
wäre, doh di: Runft als reine „Ausdrudstultur”
gerade ihrem eigentümlicen Wefen nad) das
ſchlechthin Relative fei und fein müſſe, weil es
eben ihre Beftimmung wäre, ledigli Form fub-
jettiver Zuftände und Erlebniffe zu fein. (Die
Sache läge hier dann alfo umgekehrt wie bei der
Religion, die ihrem Weſen nadh der Zug zum
Abfoluten ift. Siehe unten.) Jn der Tat berricht
diefe Auffaffung in der heutigen Kunſt wohl all-
gemein vor. In früheren Zeiten fragte man
nach den objektiven Kriterien, an denen gemeffen
werden fönnte, ob ein vorliegendes Werk ein
Kunſtwerk fei oder nicht. Heute dagegen pflegt
man in fünjtlerifch interefjierten oder tätigen
Streifen allgemein über ſolche Naivität zu lächeln.
Man fragt bier nicht mehr nah den Kriterien
eines Kunſtwerks, fondern lediglich nad
denen eines Künftlers. Daß ein folcher ausge-
Iprochener Subjettivismus Plaß greifen konnte,
ift verftändlih. Denn da die Kunſt, im Gegen:
fag zu der nah Objektivität ftrebenden Wiſſen—
Ichaft ja gerade aktive Geſtaltung ift, fo wird fih
der fünftlerifch Tätige ftets durch jeden Verſuch,
„objektive“ Kriterien des Schönen aufzuftellen,
in feiner Schaffensfreiheit beengt fühlen. Wir
wollen nun aber zufehen, ob in diefem reinen
Subjettivismus, fo vieles an ihm berechtigt fein
mag, nicht doh ein Fehler zu finden ift.
Da kann uns nun zunächft der Umftand jhon
ftußig madyen, daß auch in dieſer [ubjektiviftifch
relativiftilchen Strömung eine offenbare Paral-
fele zu der gleichzeitigen geichichtlichen Entwid:
fung der Erfenntnistheorie zu erkennen ift. Dem
naiven Realismus der alten Erfenntnistheorie
entipricht offenfichtlich der ebenfo naive Glaube
an ein gegebenes, vom Künftler nur fozufagen
zu findendes oder zu erfchauendes objeftives
Schöne, von dem die antite Kunft fichtlich erfüllt
ift. Wenn in gewiffen modernen gefchichtlichen
Romanen einem Phidias oder Sophofles das
moderne reiheitsgefühl des Künftlers beigeleat
wird, fo ift das mindejtens ſehr mit Vorſicht zu
genießen, wenn nicht dirett eine gefchichtliche
Unmöglichkeit. Die Emanzipation des Subjefts
beginnt vielmehr erft ernftlic mit der Renaif-
fance — von einem Anlauf in der helleniftifchen
Beit abgejehen. Erſt das Chriftentum mit feiner
Betonung des individuellen Wertes der einzel:
nen Geele hat die Augen für den Mitrofosmos
des Inneren geöffnet. Die Antike hatte dafür
nur geringes Berjtändnis, daher die außerordent:
lih geringe Produktion 3. B. an echter Lyrik
|
164 Vom Relativen zum Abſoluten. J
gegenüber dem Epos, an echter Porträtkunſt
gegenüber der Darſtellung von Göttern, Helden
uſw., d. h. Typen oder Ideen, an Muſik, die in
vieler Hinſicht die ſubjektivſte Kunſt iſt, u. a. m.
Nun iſt jene Emanzipation des Subjekts aber
offenbar nid auf die moderne Kun ft beſchräkt,
es entfpricht ihr vielmehr in der Ertenntnis
theorie durchaus die Entwidlung von Lote bis
zu Kant, in der in immer fteigendem Maße die
Kriterien der Wahrheit aus dem Objekt weg in
das erfennende Subjeft verlegt werden. Wenn
nun aber auf diefem Gebiete heute ganz deutlich
die Wendung vom reinen „Idealismus“ (das ift
bier natürlich nur erfenntnistheoretifdy zu ver-
ftehen) zum geläuterten „tritifchen Realismus“
fih anfündigt, fo wird man mindeſtens ernſtlich
erwägen dürfen, ob nicht vielleicht aud) in der
Aeſthetik eine ſolche Wendung in abjehbarer Beit
bevorfteht. Und das feint mir in der Tat der
Tall zu fein.
Die Frage, um die fidh unfere Erörterung zu-
nächft zu bewegen hat, ift alfo diefe: Kommt man
auf dem Gebiete des Schönen mit der nurjub-
jeftiviftifhen Auffaffung durch, oder fommt man
mit ihr nicht fchließlich ebenfo in eine Sadgaffe,
wie es offenfichtlid auf dem Gebiete der Cr-
fenntnistheorie fih herausgeſtellt hat? Mir
icdheint nun, daß man diefe letere Frage bejahen
muß. Die Gründe dafür will ich kurz entwideln.
Sie gruppieren fih um zwei leitende Gedanten:
erftens widerfpricht die rein fubjettiviftiiche Auf:
faffung der Aefthetit dem gefchichtlichen Befunde,
und zweitens mwiderfpricht fie der Tatſache, daß
nicht nur die Kunft, fondern aud die Natur
zwingende äjthetifche Eindrüde erzeugt.
In erfterer Hinficht beweiſt nämlich die Ge-
Ichichte dies, daß die Kunſt keineswegs die un:
beichränfte Freiheit in der Wahl ihrer Mittel
hat, die der bloße Nelativismus vorausfeßt. Es
liegt hier in den darauf bezüglichen Gedanken
der meiften modernen Xefthetiter ein Trugſchluß
vor, wie er einem nicht ſtreng mathematiſch
geſchulten Denken leicht unterläuft. Ein ſolches
Denten verwechſelt nämlich zumeiſt die Begriffe
„unendlich viele“ und „alle“. Weil niemand zu
bezweifeln wagen wird, daß Die Runft immer
wieder neue, d. i. alfo unbegrenzt viele
Musdrudsmittel finden tann und finden wird,
fo glaubt man, damit bewiefen zu haben, daß
fie demnach in der Wahl diefer Mittel völlig
„unbeichräntt“ fei. Das ift aber ein Irrtum,
wie man leicht an folgendem Bilde einfieht:
Wenn man auf einer Geraden in Abftänden von
ie einem Zentimeter je einen Punkt angibt, fo
gibt es „unendlich viele” Punkte diefer Reihe;
das find aber längſt nicht „alle” Punkte der Ge-
raden, vielmehr nur ein unendlich kleiner Brud:
teil derfelben, da es ja fogar zwifchen je zweien
diefer Punkte noh unendlid viele Zwiſchen⸗
puntte gibt. Man wende diefes Bild auf die
Mittel der Kunſt an. Sit es wirklich wahr, dah
diefelbe fchlechthin alle Variationen ihrer Mittel
beliebig anwenden darf und fann? Die Ge
Ihichte zeigt das Gegenteil. Ein einziges Bei:
fptel möge bier und muß leider megen des be:
Ichränften Raumes genügen. Jn der Mufit ver:
wenden wir als Mittel Töne (wir bleiben bei der
reinen Mufit). Töne haben viererlei Unter:
fchiede: 1) den der Tonhöhe, 2) den der Tonftärte.
3) den der Tondauer und 4) den der fogenannten
Klangfarbe. Iſt die Mufit innerhalb des Kreiſes
diefer Mittel unbefchräntt? Folgendermaken
liegt die Sache in Wirklichkeit: Unbefchräntt fo:
mwohl in der Theorie wie in der Praris ift die
Tonftärke, auf welcher die fogenannte Dynami!
der Mufit beruht. Wir können vom zarteften
Pianiffimo bis zum Tauteften Fortiffimo jede
Nüance verwenden und tun das auh. Unbe:
ſchränkt könnte ferner in der Theorie vielleicht die
Klangfarbe fein. Wir können das niht feft
ftellen, weil wir praftifch darin befchräntt find
durch die Wahl der einmal gebräuchlichen Jr
ftrumente, deren jedes einen bejtimmten Klang |
charafter hat. Hier alfo ift die theoretifh fon:
tinuierliche Mannigfaltigteit {hon praktiſch eine
distontinuierliche und fogar nur eine endlich -
große. Uber fehen wir von diefen beiden Cle
menten ganz ab, wie fteht es dann mit der
Tonhöhe und der Tondauer? Diele bet
den Clemente madhen zufammen die Melodie
den Rhythmus und die Harmonie aus. Sind ;
wir darin unbeichränft? Die Gefchichte fost
jedenfalls bisher ein deutliches Nein. Die gang!
bisherige Mufit hat fih auf eine getrennte Ton:
folge, alfo eine distontinuierlihe Mannigfaltig:
teit der Tonhöhe befchräntt. Warum? Barum
niht auh mit einer gleitenden Tonfolge, 3 8
einer Heuffirene, „Mufit” maden? Ur der
Rhytmus! Gibt es überhaupt Mufit ohne Rhatt-
mus? Er fei noch fo fompligiert, wie 3. B. heut
bei Strauß oder Hindemith, es ift doch auch Rint F
mus. Rhythmus aber bedeutet Einfehräntung d1
an fidh beliebig veränderlichen Tondauer auf gor?
beftimmte einzelne Werte, alfo Einſchränkung de!
Freiheit. Und dasiftebendasCharaf
teriftifhe,daßindiefer Einſchrän—
tung der Freiheit durd das Belet
gerade der fünftlerifde Charafter
befchloffen liegt. Das Gleiche gilt für di
Tonhöhe. Unfere ganze Mufit ruht auf der fog:
diatonifchen Tonleiter, die fpäter zur fog. temp" F-
rierten (ausgeglichenen) chromatiſchen Tonleitet
Bom Relativen zum Xbfoluten.
erweitert wurde. Auf diefer aber ruht auch alle
Harmonie, d. i. das Zufammenfein mehrerer
Töne. Und innerhalb diefer Harmonie gilt nun
eine neue Beſchränkung der abfoluten Freiheit.
Man jtellt doch eben nicht alle beliebigen Töne
sufammen, fondern man benußt in ganz über-
wiegendem Maße ganz beftimmte „Akkorde“,
d. h. beſondere Tonverbindungen. Ift das nun
alles Zufall oder bloße konventionelle, durch Ge-
mwöhnung von einer Generation auf die andere
übertragene Willlür? Das glaube doch, wer
fann! Man verfucht es ja heute, diefe Befchrän-
tungen der abfoluten Freiheit (Willtür) durch
das Geſetz zu verneinen. Neuere „Romponiften“
wollen die Biertelton- oder fogar Achteltonftala,
ja womöglich die gleitende Tonfolge in die Mufit
einführen, andere ihresgleichen jeden Rhythmus
abſchaffen. Solche Berfuche mögen immerhin
innerhalb gewiſſer Grenzen neue Ausdrudsmög-
teiten eröffnen. Vielleicht tann man damit die
Berrüdtheit unferer Zeit recht gut zum Ausdrud
bringen. Aber glaubt man im Ernft, durch
folche Mäbchen, die doch höchitens als gelegent:
lih dazwiſchen gefeßtes Scherzo diabolico in
stage tommen fünnen, würde die europäifche
Menſchheit von der Mufit, wie fie Bah und
Beethoven, Mozart und Wagner gemacht haben,
abgeführt werden? Nein, die Sache liegt erficht-
fi ganz anders. Die einfache diatonilche Ton-
leiter ift tief in der Natur unferer afuftifchen
Fähigkeiten überhaupt begründet. Man erkennt
das am deutlichſten daran, daß bereits ganz
Beine, nod nicht einjährige Kinder, wenn fie nur
mufitalifch veranlagt find, eine einfache Melodie
in diefer Tonleiter völlig rein nachſingen können.
Man fann dagegen auch nicht einmwenden, daß’
dies lediglich auf vererbter Gewohnheit berube.
Denn erworbene Fähigkeiten diefer Art werden
nicht vererbt. Eben dasfelbe gilt aber aud für
die einfachen Clemente der Harmonie. Daß der
normale Dur-Dreillang wohlklingend ift, — und
das ift doch gleichbedeutend damit, daß er äfthe-
tiſch „ſchön“ ift —, ift nicht durch Konvention zu
erffären, fondern beruht, wie fon die Pytha—
goräer ahnten und wir feit Helmholtz' klaſſiſchen
Unterfuchungen willen, auf ganz beftimmten phy-
fifalifchen, alfo objektiven Gründen. Man fann
jagen, was man will: es läßt fih die Tatfache
nicht aus der Welt fchaffen, daß diefer Dreiklang
als folcher, ganz abgefehen von feiner VBerwen>
dung in der Verbindung mit anderen Akkorden
einen bejtimmten äfthetifchen Wert befikt. Wer
ihn zuerſt erfand, der muß dabei tatfächlich eine
ganz ähnliche Freude gehabt haben, wie ein For-
icher, der eine große neue Wahrheit entdedt, oder
ein Technifer, der eine neue geniale Konftruf:
165
tionsidee findet. Wenn nun ein ſolches als ſchön
empfundenes Element aber durch eine ganz be—
ſtimmte phyſikaliſche Beziehung ausgezeichnet iſt,
ſo heißt das eben, daß hier das Schöne
einen objektiven Untergrund hat,
unddaßesfolglid nihtinunferem
Belieben gelegen hat, den Drei:
flang C-E-G [dhön, die Jufammen-
tellung C-Fis-H dagegen fheuß«
lid zunennenoder umgelehrt. Sol:
cher Tatſachen gibt es nun aber, wie man bei
genauerem Zuſehen leicht findet, eine ganze
Menge, und zwar in jeder Kunft. Der Verſuch
ift feineswegs ausfichts[os, eine allgemeine fünft-
ferifche „Formenlehre“, d. i. eine fyftematifch ge-
ordnete Zufammenftellung aller in der Kunft
verwendeten und verwendbaren formen zu
unternehmen. Oſtwald hat neuerdings da-
mit einen vielverfprechenden Anfang gemacht.
Eine ſolche würde durch ihr bloßes Dafein zeigen,
daß die Kriterien des Schönen niht nur im
Subjekt liegen, fondern auh durch das Objekt
mitbedingt find.
Sch will natürlich nicht behaupten, daß ein
vorliegendes Wert nun darum ſchon ein Kunft-
wert fei, weil es gewiſſe foldye objektive Cle-
mehte enthält. Da, ich will nicht einmal be-
haupten, daß man mit Sicherheit ein Wert das»
raufhin als Kunſtwerk ablehnen könne, weil die
bisher befannten Regeln diefer Art darin nit
zu finden find. oder gar verlegt werden. Das
wäre die unverfälfchte Bedmefferei, die Wag-
ner in den Meifterfingern fo wundervoll tari-
fiert hat. Aber Wagner hat auh gewußt, daß
eine Kunſt völlig ohne Geſetz nichts als ein hilf-
lojes Geftammel ift. Darum muß fih in eben
diefem Werke der zunächſt rein fubjektiviftifch ein-
geftellte Walther von Hans Sachs eine derbe
Lektion fagen laffen, deren Grundton am Schluß
wiederfehrt in dem befannten Wort: „Berachtet
mir die Meifter nicht und ehrt mir ihre Kunſt.“
Die Mufit zeigt vielleicht am deutlichften von
allen Künſten die Exiſtenz gewiſſer, zwar beweg⸗
licher, aber doch andererſeits gegebener, nicht
willkürlicher Grundformen und Grundgeſetze. Es
iſt keine bloße philiſtröſe Intellektualiſierung,
wenn man, im Beſitz einiger grundlegender
Kenntniſſe der Harmonielehre, ſich den Aufbau
eines größeren Muſikſtückes klarmacht, ſondern
das gehört zum vollen Verſtändnis eigentlich un—
bedingt hinzu. In dieſer Hinſicht iſt der Nichts»
als⸗Subjektivismus natürlich erheblich bequemer
als die von uns vertretene Anſicht. Denn wenn
doch alles nur auf die inneren Gefühle — der
moderne Kunſtjargon ſagt „Erlebniſſe“ — an:
kommt, die ich beim Anhören eines Muſikwerkes
166
habe, jo brauche ih mir jene Mühe des Verftänd-
niffes ja gar nicht erft zu machen; fie ftört nur
den Genuß. Wer aber hinter diefe Dinge fieht,
dcr weiß, Daß gerade darauf die größten Wir-
tungen in der Mufif beruhen, daß der Künftler
in volllommener Freiheit und dod) innerhalb des
volltommenen Bejeßes gefchaffen hat. Das eben
ift es, was ihn fozufagen zu einem Gott im
fleinen madjt, der gerade diefe Kunft auch in
feiner ganzen Schöpfung betätigt.
Damit fommen wir zu dem zweiten Puntt:
die rein fubjektiviftifche Runftauffaffung verjagt
auch angefichts der Tatfache, daß nicht nur ein
Kunftwert, fondern auch die Natur äfthetifche
Eindrüde von übermwältigender Kraft erzeugen
tann. Dan tann nun zwar vor der Anerken⸗
rung dieſes Umftandes fih zu drüden verſuchen,
und das tun tatfächlich die meiſten Subjelti-
viften in der KRunft, mit denen man fih in eine
Debatte diefer Art einläßt. Sie behaupten näm-
lih einfach, fie genöffen die Natur gang anders
als ein Kunſtwerk, oder aber fie erflären, daß
ja auch beim äſthetiſchen Natureindrud das Sub-
jeft, nämlich das Subjekt des Belchauers, an:
mefend fei, daß in diefem alfo die Quellen des
äfthetifhen Eindruds zu fuchen feien. Diefe Uus-
wege find aber weiter nichts als Ausflüchte. Denn
erftens fagt die unmittelbare Erfahrung jedem,
ter nicht mit einem Dogma an die Dinge heran:
geht, daß der äfthetifche Natureindrud dem We:
fen der Sache nah in nidyts verfchieden ift von
dem, den ein Kunftwerf erzeugt. Die wunder:
vollen „KRunftformen der Natur”, die 3. B. Haedel
ebgebildet hat, oder die lieblichen Genrebilder
aus Dennerts „Naturidylien” find tatlſächlich
faum unterfchieden von Kunftproduften, und id)
wette, daß, wer es nicht weiß, nicht imftande fein
wird, viele fünftliche Ornamente von vielen jener
Naturformen bei Haedel zu unterjcheiden. Das-
jelbe gilt aber auh von anderen äjthetifchen Na:
tureindrüden. Eine weite Landfchaft kann tat-
fadylid eine ganz ähnliche Wirkung erzeugen,
wie 3. B. ein übermältigender Chor aus einem
Oratorium oder ein großes Baumerf; fie ift von
diefen nicht mehr und nidyt weniger unterfchieden
als diefe untereinander. Steht aber die grund-
fügliche Gleichartigfeit der Eindrüde in beiden
Fällen außer Zweifel, jo verfagt auh die zweite
Ausflucht; die Quelle des Aeſthetiſchen liege eben
im Befchauer oder Hörer der Natur. Denn ge-
rade der Gubjettivift behauptet doch, daß im
walle des Kunftwerts der Künftler das Beite ge-
tan hätte, er wird doch dem das Kunſtwerk Ge-
nießenden höchſtens eine reproduzierende Rolle
zuerfennen. Wer triebe einen ftärferen Per-
jonentultus als gerade die neuere Kunftiünger-
Vom Relativen zum Abfoluten
haft? Gut alfo, wenn alles Weſentliche, was
die neunte Symphonie zum Kunſtwerk macht,
aus Beethoven ftammt, woher ftammt dann das
Mefentliche, was den äfthetifchen Eindrud einer
Alpenlandfchaft oder eines norwegiſchen Fjords
ausmacht? Soll es nun hier auf einmal aus
dem Empfänger ftammen? Mit jenen Aus»
flüchten ift es alfo nichts. Wer fih auf den
Standpunft ftellen will, daß der äſthetiſche Na-
tureindrud lediglich vom Beichauer in die Dinge
hineingetragen werde, muß folgerichtig auch dem
Genießer eines Kunſtwerks die allein ausichlag-
gebende Rolle zuertennen, d. h. behaupten, daB
nicht Bach ſchuld daran ift, wenn die Matthäus-
paffion ſchön ift, fondern er, der Herr Meyer
oder Müller felber, der fie anhört. Das ift offen>
barer Unfinn. Sieht man dies aber ein, fo bleibt
nichts anderes übrig, als anzuerfennen, daß in
der Natur ein ähnlicher äfthetifcher Geftaltungs-
trieb waltet, wie er fih im genialen Künftler
offenbart. Und ift das denn fchließlich jo uner:
hört wunderbar? Stammt denn nid diefer
Menſch felber aus eben diefer Natur her? Wie
find jene diluvialen Mammutjäger denn darauf
verfallen, ihre MWohnhöhlen auszumalen, ihre
Gefchirre, foweit fie ſolche hatten, zu verzieren
ufw.? Sollte es nicht das Nädjitliegende und
Einfadjfte fein einzufehen, daß in allem diefem
wie auch in dem höchſten künſtleriſchen Schaffen
eines Goethe, Michelangelo oder Beethoven
lebten Endes ganz derſelbe Grundzug der
Schöpfung waltet, der es veranlaßt, daß die or-
ganifche Natur uns in fo taujfenden und aber:
taufenden von Geftalten entgegentritt? Man
jagt, tie Natur fei in Wahrheit nur ſchlechthin
da, weder fchön noh häßlich, weder gut noch
böfe, das feien vielmehr nur Begriffe, die wir
Menſchen an die an fih neutrale Natur heran-
trügen. So verbreitet diefe Anficht ift, jo ver-
ehrt und — unmürdig ift fie. Richtig ift daran
nur foviel, daß für eine wiffenfhaftlidhe
Betrahtung die Natur nur fchlechthin Objett,
reines Dafein ohne jeglie Wertung, ift und
bleiben muß, wenn die Wiſſenſchaft nicht ver:
fälfcht werden foll. Wer jenen „Geftaltungstrieb”
(den Elan vital Bergfons) zum Erflärungs:»
prinzip in der Biologie madhen will, der fällt aus
der MWiffenfchaft heraus und verfällt Kants Ur:
teil über die „faule Teleologie“. Uber ein ende-
res ift es, ob diefe wiſſenſchaftlich nüchterne Be-
trachtung ausreicht zu einem befriedigenden Ber:
ftändnis der Welt als Ganzes genommen. Die
Wiffenfchaft verfagt, wie wir früher fahen. na:
turgemäß bei der Fragt, weshalb iiberhaupt eine
Welt da ift und zwar eine folche, wie fie ift. Ge:
rade hier liegt aber das Recht einer äfthetifchen
Bom Felativen zum XAbfoluten.
(und auch natürlih einer ent|prechenden ethi-
Ihen) Betrachtungsmeife der Welt. Was natur:
willenichaftlich angejehen reine Sache, Kaujfal-
zufammenhang ohne jegliche Wertbetonung ift,
tann deshalb dodh gleichzeitig febr wohl auch
unter dem anderen Gefichtspunft betrachtet
w.rden, daf fih in diefem unendlichen Kauſal—
nerus ein übermältigender Geftaltungs- und
Formentrieb offenbart. Sm Grunde Tiegt ja
diefe Auffaffung gerade den fünjtlerifch veran-
lagten Menfchen fehr nahe. Wenn fie faft alle
zum PBantheismus neigen, fo fommt das aus
dem Starten Gefühl für das Recht diefer Betrach—⸗
tıng ber. Dann müßten fie aber folgerichtig
eigentlich auch von der Exiſtenz eines objektiv
Schönen in der Natur überzeugt fein. Gerade
fie müßten rückhaltlos den Worten des Philo-
fophen Defterreich zuftimmen:
„Die Welt muß nicht nur bloß fo nebenher,
jondern ganz ernithaft als Kunſtwerk eines
ihönheitsfchaffenden Gottesgeiſtes verjtanden
werden... . Es gehört zum Weſen der Welt,
Daß ſelbſt das Furditbarjte noh Träger äfthe- .
tiſcher Werte fein tann. Und aud die Sünde
fleiner Dimenfion tritt oft noch im Ecwande der
Schönheit auf und ift, was noh merfwürdiger
ift, auch im inneren Erlebnis zum Teil von äfthe-
tiſchen Raufchgefühlen begleitet . . . Wir mögen
das Aeſthetiſche noch fo tief unter das Gittliche
- Stellen, es ift ein die Welt durchwaltender Wert,
der überall in der Schöpfung im Größten und im
Unfichtbarften eine bis in die legten Struftur-
feinheiten hinein beherrichende Stellung bejißt
und deshalb auch in Gottes Wefen von Bedeu:
tung fein muß.“
Defterreich weiſt auch m. €. völlig mit Redt,
darauf hin, daß die Edwierigleiten des Pro-
blemsder Theodizee auf dem äjthetikchen
Gebiet faum in nenneswertem Grade beitehen.
Daß die Welt von einem abfolut guten Gott
gekhaffen fein foli, das fällt fehr ſchwer zu
glauben. Daß fie von einem fünitlerifch emp-
findenden und wirkenden Gott heritammt, fteht
ihr dagegen ſozuſagen fait an der Stirn ge-
fhrieben. — Wenn das aber anerfannt wird,
dann ift die Furcht wirklich grundlos, die offen:
bar unfere Künſtler immer wieder auf die fubjet-
tiviftifche Seite hinübertreibt, die Anerfennung
folches objektiv gegebenen Schönen fünne der
Kunft unerträglie Felfeln anlegen. Diefe
Furcht fteht dann auf derjelben Höhe, wie etwa
Die eines Forſchers, die Anerkennung eines ob-
jeftiv gegebenen Sachverhalts fünne die Freiheit
der Forſchung beeinträchtigen.
Wenn es wirklich wahr wäre, daß das Schöne
einen objektiven Wert voritellt (ähnlich wenn
167
niht ganz ebenfo wie das Wahre), fo dürfte
vielmehr der Künftler bei all feinem Schaffen die
beglüdende Ueberzeugung haben, daß er, jofern
er wirflich ein wahrer Künjtler ift, ein Teil der
Ihaffenden Weltjeele felber ift, und das Gefühl
des „Inſpiriertſeins“, das bei Künftlern vielleicht
noch lebendig.r ift, als bei den großen Propheten
und den großen Forichern, beftände bis zu einem
gewilfen Grade zu Redt. So hat es zweifels-
ohne aub Goethe mit dem befannten Aus-
ſpruch über Bad gemeint: es fei, als ob fich die
ewige Harmonie mit fidh felber unterbhielte.
Die tiefe innere Wahrheit diefes Ausfpruchs
wird uns noch deutlicher, wenn wir nunmehr
noh auf das Berhältnisvonunftund
Wiffenf haft etwas genauer eingehen. Bei
aller Verfcyiedenheit der Art des Schaffens hat
der große Künftler doch ganz offenfichtlich et-
was dem ganz großen Forſcher nahe Ber-
wandes. Am klarſten wird das, wenn man nidht
gerade die Naturmwillenichaften, welche die vbjef-
tivjte aller menfchlicden Geijtestätigkeiten bilden,
herangieht, fondern diejenigen Willenfchaften, in
denen die fruchtbare Phantafie eine ganz wefent-
lih größere Rolle als in diefen fpielt, 3. B. die
Geſchichte oder die Philofophie. Hier kommt
offenbar zu der reinen fachlichen Erkenntnis nod
etwas hingu, was den Schriftfteller oder Redner
auf dieſem Gebiet erft aus einem bloßen Hand-
werter zu einem wahrhaften Könner macht. Der
große Hijtorifer oder Rulturphilofoph, wie 3. B.
ein Treitfchle oder neuerdings Dilthey,
Scheler u. a. feſſelt unfer Intereſſe nicht in
erjter Linie durch feine Kenntniſſe der „pofitiven
Tatſachen“ (die verjteht fih immer von jelbft),
londern durch die große Linie, die er vor unferen
Augen erjtehen läßt. Daher fommt es auch, daß
weitaus die meijten unter denen, welche fih den
hiftorifchen Fächern widmen, ftar? künſtleriſch
interefjiert zu fein pflegen. Der Pofitivismus
geht gewöhnlich mit einem ironifchen Lächeln
über folches Beftreben hinweg. Für ihn heißt
„Wilfenfchaft" nur, was fih in „eratter“, nüd:
terner Tatjächlichteit fo vorrechnen läßt, daß es
der plattejte Verſtand begreifen fann. Wllein
diefe philiftröfe Auffaffung verjagt in Wirklich:
teit fchon in den fog. eraften Wilfenjchaften
jelbft. Das Belte, was fie zu geben haben, wird
ebenfalls nit durch eine nüchterne NRechnerei,
fondern durch ein der fünjtlerifchen Phantafie
aufs engſte verwandte Genialität gefunden, na:
türlich wird dieſelbe hier aufs ftrengfte gezügelt
durch die fortwährende Kontrolle an den Tat:
fachen. Aber eine Art von Nachſchaffen des
Naturgegebenen im Geijte ift die Phyſik aut.
Nur daß hier das Objekt durchaus die Führung
168 E
hat. In der Gefchichte liegt die Sache im Prinzip
gwar nicht viel anders, bei der ungeheuren Ber-
wideltheit und der Einmaligfeit des Objefts aber
fommt es hier viel mehr als dort auf die fruct:
bare Phantafie an. Der Forſcher muß hier fogu-
Tagen das Befte jelber tun, er muß die zufammen-
faffenden Begriffe erft fchaffen, die ihm in der
Naturwilfenichaft durch das Objekt mehr oder
weniger aufgedrängt werden. Das ift aber nicht,
wie viele Wijlenjchaftstheoretiter gelehrt haben,
ein MWefensunterfchied, fondern nur ein Grad»
unterjchied. Gewiſſe Begriffe drängen fich auch
in der Geſchichte ganz zweifellos ohne weiteres
durch das Objekt auf, trog aller Kompliziert⸗
heit desfelben. So wird 3. B. niemand den Be-
griff der „franzöſiſchen Revolution“ oder den der
„Reformation“ oder den des „MWeltkrieges” als
bloße Schöpfung hiftorifcher Theoretiter anjehen.
Bon diefen zu den anderen, bei denen das
weniger jicher ift, führt aber eine ganz fontinu-
ierliche Stufenfolge. Und die eigentliche Geniali-
tät eines Hiftorifers zeigt fih nur darin, daß er
folche bisher noch nicht bemerkte hijtorifche „Ge⸗
italten”, wenn ich diefen Ausdrud gebrauchen
darf, fiebt. Dann Steht er in einer Linie mit dem
großen Forfcher in den Naturwijlenfcyaften, der
einen durchgehenden Zufammenhang, wie 3. B.
das Energiegefeg oder eine grundlegende neue
Hypothefe, wie 3. B. die Bohriche Atomiſtik, zum
eriten Male gefehen hat. — Bon diefer Art des
Hiftoriters ift es nun nur noch ein weiterer
Schritt in derfelben Richtung zu der Urt des
Künftlers. Diefer jteht tatfächlih der freien
Schöpfertätigkeit Gottes am nächſten, ift am
wenigjten durch das Gegebene gebunden.
Aber ich beftreite eben, daß diefe Freiheit im
Sinne des Relativismus eine vollfommene ift.
Auch er ift vielmehr in einem gewiſſen Umfange
doh durch das Objeft gebunden, ift auch nicht
völlig freier Schöpfer, jondern mehr oder weniger
Schauender. Der Eindrud, den ein ganz hervor:
ragendes Kunjtwert macht, hat deshalb auh in
der Tat etwas außerordentlidy nahe Verwandtes
mit dem, den eine ganz große wilfenfchaftliche
Leiftung macht.
Wie die lettere unter Umſtänden einen febr
ſtarken äjthetifchen Wert vorftellen fann, fo hat
ouch umgekehrt die große fünftlerifche Leiftung
etwas von der theoretifchen Ueberzeugungskraft
der großen Torjchungsergebniffe. Sie wirft
durchichlagend, mit elementarer Gelbitverftänd-
lichleit wie diefe. Wer die moderne Atomiftit in
jih aufnimmt, der tann gar nicht anders, er muß
eusrufen: ja, ficherlich, fo ungefähr muß es fein,
es ift einfach undentbar, daß dies alles Täufchung
fein follte. Gin fo wunderbares Ineinander—⸗
VLom Relativen zum Abſoluten.
greifen ift nur denkbar, wenn in der Hauptfache
Wahrheit vorliegt. Ebenſo wirkt aber auh ein
großes Kunftwert Wer es hört oder fieht oder
lieft, möchte auch ausrufen: Jawohl, fo und nicht
anders muß es gejagt, gemalt, komponiert
werden, anders geht es gar nicht! Jedes große
Kunſtwerk ift in feiner Art und an feinem Pla
überhaupt unübertreffbar: der Mofes von
Michelangelo, die neunte Symphonie von Beet-
boven oder die H-moll-Meffe von Bad, der
Fauſt oder die Antigone oder der dreiundzwan-
zigſte Palm, fie wirken in ihrer Art und an ihrer
Stelle mit diefer unentrinnbaren Selbftverjtänd-
lichkeit. Und das follte auf bloßer Konvention,
Erziehung zu einem beftimmten „Geihmad“,
bloßer Stärfe der jubjektiven Ausdrudsfähigteit
beruhen? Nein, umgekehrt: Derjenige ift der
größte Künftler, der als Subjekt hinter feinem
Werk völlig verjchwinden tann. Sener Mofes,
das ift eben nicht Michelangelo, fondern ein
Wert, das dauert, wenn diefe PBerfon, fie fei fo
itart, wie man immer wolle, gemwejen, längjt ver-
geffen ift. Was weiß man heute nod von der
Perfönlichleit des Phidias oder des Prariteles,
und mer fragt noch Danach, wenn er ihre herr-
lihen Statuen fieht? Lediglich die Dogmatik des
modernen Subjektivismus veranlaßt die Kunſt⸗
ſchwärmer von heute, wenn fie die Neunte hören,
ji) fur Beethovens perſönliche „Stärke“ ufw. zu
begeiftern. In Wahrheit dentt fein einziger von `
ihnen in dem Augenblid, wo er hört und genießt,
ar den Mann, jondern das Wert ift es, was ihn
gefangen nimmt und daß der Mann hier
im Werteaufgehbt,dasebenijtjeine
Größe, ift das, was diefe Kunſt zur „klaſſi⸗
chen“ d. b. Beit und Raum überbrüdenden
maht. Man fann geradezu fagen: alle Kunſt,
die weiter nichts als im Sinne des nadten Rela-
tivismus Ausdrud für fubjeltive Stimmungen
oder dergl. ift, ift von vornherein dazu verurteilt,
bloße Tagesproduftion zu bleiben. Was dagegen
ein Kunſtwerk zum Zeiten überdauernden Werte
macht, das ift gerade das daran, was über diefen
rein jubdjeftiven Gehalt hinaus an allgemein
Menſchlichem oder — Böttlichem darin ftedt.
Sieht man das ein, fo wird man auh zugeben,
daß es der Gipfel der Geſchmacksverderbnis ift,
wenn ſowohl das Publikum wie die Künftler der
reproduzierenden Fünfte, vor allem alfo in der
Mufit, aber auh in der Dichtung, zumeift für den
größten Künftler denjenigen halten, der in das
vorzutragende Werf möglichſt viel von „Eige—
nem” hineinlegt (nur beim Schaufpieler ift es
anders). Das Gegenteil ift richtig. Derjenige ift
der größte Künjtler, der am meiften aus dem
Wert herausholen fann. Uber für das liebe
Leibnizens Gegenwartebedeutung.
Publikum ift es natürlich viel bequemer und faß-
licher, wenn man fidh ftatt an das Wert an die
Perſon des Pianiften, Rezitators, Dirigenten
uſw. hält und eine Preffe, die feine Ahnung da-
von hat, daß deutich fein heißt „eine Sache um
ihrer felbfjt willen tun“, nährt diefe Bequemlich-
feit durch maßlofe Verhimmelungen der betr.
PBerfönlichteiten.
Ich will hiermit nicht behauptet haben, dah
die in Rede ftehenden Werte der Kunft, insbe-
fondere die mufitalifchen, keinerlei Beziehungen
auf fubjeftive Gemütszuftände hätten. Es ift ja
gar feine Trage, daB man tatfächlicy dieſen
Mikrokosmos des Innenlebens auf keine Weife fo
zur Darjtellung bringen fann, wie eben durd) die
Kunft, insbefondere die lyriſche Dichtung und die
Mufit. Es gibt alfo zweifellos fubjettive Kunſt
und Gubjeltives in der Kunft. Bon den Kompo-
niften find 3. B. Chopin und Lilgt, vielfach auch
Schumann, Start fubjettiv bejtimmte Künitler,
während umgefehrt Mozart und Händel fait rein
objektive Mufit bieten. Die ganz großen aber,
Beethoven und Bad, verbinden beides in uner-
reichbarer Vollkommenheit und hier bedeutet es
deshalb eine Verkümmerung der Auffaffung,
wenn man fo tut, als ob beifpielsmweife eine Beet-
hovenfd;e Sonate wie die „Pathetique” oder „Ap⸗
pajjionata” lediglich deshalb fo bewundernswert
wäre, weil fie einen ungeheuren „Weltichmerz”
III.
= „&eibnig umfaßte alle Bijfenfchaften
und bildete fie in der Richtung fort, in der ihre
Zufunft lag“ fo charakterifiert Dilthey die
vielbejtaunte Univerfalität Leibnizens in ihrem
feineswegs nur polghiftorifchen, ſondern durd-
aus produftiv - genialen Weſen. Daß diefe
Charafterijtit für Leibnizens naturmifjenfchaft-
liche Arbeiten wirklich zutrifft, das dürften die
im vorigen Abſchnitte behandelten Beifpiele —
die fich leicht noch vielfach vermehren ließen —
hinreichend beweifen. Daß fie aber auch für feine
anderen Arbeiten gilt, will ich wenigftens noch
für das Gebiet einer zweiten Spezialwiffenfchaft,
der Mathematit, an ein paar Beifpielen zeigen.
Ic übergehe aud) hier wieder zahlreiche Einzel:
entdedungen Leibnizens, wie feine Dyadit, die
fih jet, wie er richtig vorausfah, in der Zahlen:
theorie fo gut bewährt, oder feine „analysis
situs“, die 9. Graßmann in feiner Aus:
dDehnungslehre erneuert hat, und beſchränke mid)
auf zwei Fortichritte von ganz allgemeiner, um:
169
oder dgl. ausdrüdte, gefchweige denn,
daß man ſolchen kleinlich menfclich ſubjek—
tiven Gefichtspunft an die Missa solemnis oder
die H-moll-Meffe ufw. anlegen könnte. Auf
ſolchen Höhepunkten wird vielmehr Objekt und
Subjett eins, und das ift der wahre Grund, war:
um foldye Kunſtwerke tatfächlidy eine Art erlöfen-
der Wirkung haben (unter voller Wahrung des
in dem v. Sodenfchen Auffaß darüber Gefagten).
Das Subjeft, das hier feine eigenen inneren Zu:
ftände in volllommener Weife ausgedrüdt findet,
fühlt zugleich, daB eben diefe Zuftände einem ob-
jettiven Großen, Unbegreiflichen zugehören, in
dem es aufgehen und fih felbjt aufgeben möchte.
Es erbebt vor feiner eigenen Kleinheit und der
Größe diefes weit über feine eigene kleine Sphäre
binausgehenden Objektiven, der „ewigen Harmo-
nie, die ſich mit fih ſelber unterhält” und fühlt
doch, daß umgekehrt auch feine eigene unbedeu—
tende Stimme ein wenn auch winziger Bruchteil
diefer Weltenfgmphonie if. Man muß einmal
ein ſolches Wert nicht nur angehört, fondern
jelber mitgefungen haben, um das ganz nad):
fühlen zu fönnen. Dann aber verjteht man aud,
weshalb die Natur äfthetiiche Eindrüde erzeugt:
es ift derfelbe Bott, der im Künftler, wie in der
Natur geftaltet und fih an feinen eigenen Werfen
freut.
(Schluß ”
£eibnizeng Segenwartöbedeutung. Bon Dietrih Mahnte. (Stu)
faffender Bedeutung, x wir ihm verdanten.
Wenn ich unter — grundſätzlich
wichtigen mathematiſchen Entdeckungen an
erſter Stelle die von ihm ſog. „analysis infini-
torum“ nenne, ſo brauche ich mich nicht auf eine
neue Erörterung des unglückſeligen Prioritäts—
ſtreites mit Newton einzulaſſen. Denn es ſteht
gwar feft, daB die Anfänge von Newtons
Fluxionsrechnung 9 oder 10 Jahre älter find als
die erſten Entdedungen Leibnizens (in der
analysis tetragonistica ex centrobarycis,
25. Ott. bis 1. Nov. 1675). Aber felbft wenn wir
davon abjehen, daß Leibniz feine Entdeduny
von einer ganz andern ©eite her, alfo gewiß un:
abhängig von Newton gewonnen bhat, und
ferner, daB die TFortentwidlung der höheren
Analyfis allein an Leibniz, niht an Newton an-
geknüpft hat (weil nämlich erfterer fein neu ge:
wonnenes wiſſenſchaftliches Handwerkszeug
freigiebig der ganzen gelchrten Welt zur Ber-
fügung ftellte, während leßterer es heimlich fir
170
fih behalten wollte), fo ift jedenfalls das unbe-
ftreitbar, daß die gFrundſätzliche und afi-
gemeine Bedeutung der neuen Methode zu:
erjt von Leibniz erfannt worden ift, während fie
für Newton nur ein Runftgriff zur Löſung
fpezieller, meiſt phyſikaliſcher Probleme
war. |
Leibniz ift nämlich als erfter zu der flaren
Einficht gelangt, daß es nötig fei, die alte
Mathematit der distreten Zahlen und ftarren
Figuren dur die moderne Mathematif der
kontinuierlichen und veränderlichen Größen zu
ergänzen. Er hat immer wieder auf die große
Bedeutung des Kontinuitätsprinzips nicht nur
in der reinen Mathematif, fondern auh in der
Naturwiſſenſchaft hingewiejen und fich felbft der
Entdedung der allgemeinen Gültigkeit dieſes
Prinzips oft und gern gerühmt. Er ift ferner der
Schöpfer des modernen Funktionsbe—
griffes. Auch das Wort „functio“ hat er
auerft, in einer Abhandlung der Acta erudi-
torum 1692, in unjerm Sinne für eine ver-
änderliche Größe, die von einer andern geſetz⸗
mäßig abhängig ift, eingeführt. Und die unge»
heure Bedeutung der Differential- und Integral—
rechnung beſteht nun eben nah Leibniz darin,
daß fie das diefer neuen Art mathematifcher
Größen, der fontinuierlien Funktionen, ange-
meffene „novum genus calculi” darftellt und.
daher überall in der modernen Mathematif und
Phyſik unentbehrlich ift.
Leibniz hat fih aber noch ein zweites un:
ſchätzbares Berdienit auf Ddiefem Gebiete er-
worben, indem er nämlid) die Differential- und
Integralgeichen fo geſchickt erfunden hat, daß
ihnen der rafche Fortichritt der höheren Analyjfis,
ihon gleich zu Leibnizens Lebzeiten, zum gropen
Teile mit verdantt wird; denn gut gewählte
Rechenzeichen rechnen für den Menfchen. Daher
hat die Leibnizſche über die Newtonſche Be-
zeichnungs- und Berechnungsmweije auch in Eng:
land bald den Sieg davongetragen und ift bis
zur Gegenwart völlig unverändert beibehalten
worden.
Auch diefe Erfindung entfprang einer
grundſätzlichen Einficht Leibnizens über
den Wert fymbolifcher Berfahrungsweifen in
der Mathematik, wie man aus feinen zahlreichen
Arbeiten zur „characteristica universalis”
leicht erjehen fann, wie es aber für unfer
Ipezielles Gebiet noch befonders deutlich aus
feinem Briefwechfel mit dem Grafen von
Tſchirnhaus im Jahre 1678 hervorgeht. Diefer,
obwohl auch ein tüchtiger Mathematiker, wollte
von folhen neuen „monstra characterum“
Leibnizens Gegenwartsbebeufung.
nichts willen, fondern behauptete die von
Leibniz in Angriff genommenen Probleme auch
mit früheren Methoden löfen zu können. Leibniz
aber wies darauf hin, daß es fih ihm nicht
darum handle, einzelne Aufgaben bald fo, bald
fo zu löfen, fondern ein gemeinjfames Berfahren
auszubilden, das eine gange, unendlich große
Klaffe von Aufgaben auf einmal erledige. Und
eben um die Zufammengehörigfeit und formale
Gleichartigkeit diefer verfchiedenen Problem:
löfungen zu zeigen, fei auch eine gemeinfame
Bezeichnungsmweife nötig. Im Anſchluß daran
ftellte Leibniz dann auh noch die weitere
Hauptbedingung für eine gute Zeichenſchrift
auf: fie müffe die Dentarbeit möglichft leicht und
die Erfindung möglichft bequem machen, indem
fie die innere Natur und die wahren Relationen
der behandelten Objefte furz und bündig und
Doch eraft zum Ausdrud bringe — eine Be-
dingung, die Leibnizens Differential- und
SIntegralzeichen, wie die Entwidlungsgeidichte
ber höheren Analyfis zeigt, in befonders hohem
Grade erfüllt haben.
2.
Damit find wir ſchon zu der zweiten allgemein
bedeutſamen mathematifhen Entdedung Leib-
nizens gelangt, zu der fiaren Erkenntnis des
Weiens und Wertes der formalen und
Iymbolifhen Mathematit im Unter:
fchiede von der anfchauliden Mathematik. Schon
die Griechen haben die Grenzen und Mängel der
räumlichen Anſchauung bemerkt, wenn man aus
der Betrachtung beftimmter Figuren allgemeine
Süße induktiv zu beweiſen jucht; fie find deshalb
auf den Gedanken gefommen, die Anfchauung -
möglichft auszufchalten und das ganze Syitem
der Geometrie aus einigen wenigen Ariomen
formal:logifcy zu deduzieren, um fo durch Ab⸗
ſehen von allen ſubjektiv-ſinnlichen Beimengun-
gen und durch Beſchränkung auf das objektive
Begriffsgerippe wahrhaft AUllgemeingültiges zu
gewinnen. Aber wenn aud bei Euflid die ganze
Deduftion fon rein formal-logifh ift, fo
werden dodh die Ausgangspunfte der Deduktion
immer noh der Alnfchauung entnommen,
und deshalb bleibt die Geometrie fchließlich doch
von den ſpezifiſch menſchlichen Sinnesqualitäten
und AUnfchauungsformen abhängig. Erft der
modernen formalen Math:matif, wie fie Hilbert
mit feiner axiomatiſchen Methode zur Boll-
endung geführt hat, ift die völlige Ausfchaltung
oller inhaltlich-anſchaulichen Qualitäten gelun-
gen. Diefe definiert nämlich alle mathematifchen
Syſteme, ohne von der anſchaulichen Bedeutung
der in ihnen behandelten „Dinge“ überhaupt zu
Leibnizens Gegenwarisbedeutung.
ſprechen, rein logiſch durch Axiomgruppen, die
zwiſchen den im übrigen gänzlich unbekannten
„Dingen“ (oder eigentlich bloßen leeren Ding—
formen) gewiſſe formal-begriffliche Beziehungen
der Verknüpfung, Anordnung uſw. feſtlegen.
Jede ſolche Gruppe von Axiomen — voraus—
geſetzt nur, daß die in ihr zuſammengeſtellten
einander nicht logiſch widerſprechen — definiert
ein gültiges Gebiet der formalen Mathematik.
Man jagt von ihm dann, daß es (im ideellen
Sinne) „egiftiert”, d. b. daß es logiſch zuläffig
oder denkmöglich ift. Die reale Eriftenz in der
Anſchauungswelt dagegen ift der formalen
Mathematik völlig gleichgültig. Ihre eigent-
lichen Gegenftände find eben garfeine wirflich
wahrnehmbaren, ja auch nicht in der Phantafie
erſchaubaren Dinge, fondern bloße Begriffs:
gerippe von Dingen, die erft durch Umkleidung
mit dem Fleifch und Blut anfchaulicher Erleb-
nisinhalte zu wirklichen Dingen werden fönnen.
Dies formalelogifche deal der modernen
Mathematit hat nun Leibniz bereits ganz klar
vorausgef:hen. Hufferl hat fchon 1900 darauf
bingewiefen, daB die fog. formale Mannig-
faltigteitslehre des 19. Jahrhunderts in Leib-
nigens Jdee der Univerfalmathematif
als des Syſtems aller möglichen Syfteme mit
rein formalen, vom „Inhalt unabhängigen
Deduftiven Zufamenhängen bereits vollitändig
enthalten fei. Auch Couturat hat 1901 diefen
formaliftikhen Charakter der ganzen „scientia
generalis“ Leibnizens, insbejondere feiner
logifh - analytifdhen Auffaſſung der
Mathematit deutlich herausgearbeitet und Die
leßtere im Vergleich zu Kants anſchaulich—
ſynthetiſcher WAuffaffung für weitaus
moderner, ja allein mit der neueren Entwidlung
der Mathematit verträglid crtlärt. (Im Zus
fammenhang damit ift zwiſchen Henri Poincaré
und Couturat ein jahrelanger Streit unter der
Devije: hie Rant — hie Leibniz ausgefochten
worden.)
Aber fo richtig es ift, in Leibniz den Anfän-
ger der modernen formalen Mathematik zu
fehen, fo falſch ift es doch, ihn zum einfeitigen
Bormaliften zu machen. Denn er ift fi aud
über die Grenzen der formalen Vernunft völlig
far gewefen. Damit nämlih eine Mannig:
faltigfeit zufammen gehöriger Säße für ein
objettiv gültiges univerfal - mathematifches
Eyftem erklärt werden darf, ift zweierlei nötig:
Alle Sätze müffen aus einer endlihen Anzahl
von Artomen rein logiſch deduziert werden, und
diefe Axiome ſelbſt müffen als miteinander ver-
träglid, d. h. logiſch widerſpruchslos erwieſen
171
werden. Die erfte Aufgabe kann die formal-
analytifche Vernunft allein löfen, zur Löfung der
zweiten aber, zum Nachweis der compossi-
bilitas, wie Leibniz fagt, d. b. des Zufammen-
möglichjeins der Ariome, ift der Rüdgang auf
die, fonthetifche Anſchauung nötig. Leibniz hält
es aber nicht für richtig, fih hierbei nun doch
wieder der gewöhnlichen finnlicden Anfchauung
der Wirklichkeit zu bedienen, deren Unzuver—
läjligfeit ja gerade den Anſtoß zur Ausbilönug
der formalen Mathematik gegeben hatte. Biel-
mehr empfiehlt er, um dem abjtratten Denten die
unentbehrlihe anſchauliche Lebendigkeit zu
geben, die Schöpfung ganz neuer Symbole oder
Charattere, d. h. konkreter Zeichen, die unter
Ubftreifung der vermwirrenden Kompliziertheit
der Sinneswahrnehmung nur die für den
logischen Aufbau weſentlichen Beziehungen
ſinnlich „repräfentieren“. Leibniz ift niht müde
geworden, den Wert einer folchen „characte-
ristica universalis“ zur anfchaulicyfyntheti-
jhen Werlebendigung der formal-analytiſchen
„mathesis universalis“ hervorzuheben, und
þat fih auch felbft lebenslänglid) immer wieder
um ihre wirkliche Ausbildung bemüht. Wir
hörten Schon von der hervorragenden “Be:
währung feiner Differential- und Integral-
zeichen. Aber aud in der Algebra hat er Bietas
Vorarbeiten ſyſtematiſch vollendet, hat in der
„analysis situs“ einen Kalkül zu ſchaffen ver-
juht, der die geometifhen La g e eigenfchaften
ladygemäßer als Descartes! quantitative
analytifche Geometrie darjtellen follte, und hat
fogar die formale Logik ſymboliſch zu verfinn-
lichen geftrebt, wodurch er, wie Couturat nad)
gewiefen hat, der Vorentdeder des erft im
19. Jahrhundert weiter ausgebildeten Logik⸗
faltüls geworden ift.
Iſt es nun nicht eine glänzende Rechtfertigung
diefer Leibnizfchen Ideen, daß auh Hilbert bei
feiner jüngiten „Neubegründung der Mathe:
matif” als unentbehrlide Hülfsmittel folche
Jahl- und Formelzeichen heranzieht, die er teils
der fombolifchen Mathematif, teils dem Logit-
falfül entnimmt? In früheren Jahren hatte
Hilbert den Berfuch gemacht, die Eriftenzbeweife
aller mathematifchen Gebiete, d. h. die Bemeife
der Widerjpruchslofigkeit ihrer Ariomenfyfteme,
ohne Benußung irgend welcher anfchaulich ge-
gebenen Inhalte zu führen. Dabei war es ihm
gelungen, alle Eriftenzbeweife rein logifch auf
einen einzigen zurüdzuführen, den ver
Suthmetifa; den formalen Eriftenzbeweis der
[eßteren aber hatte er 20 Jahre lang vergeblid)
geſucht. Dieſe Erfahrung, verſtärkt noh durd
172
die Einwände, die von Seiten des „Intuitionis⸗
mus” überhaupt gegen die Zuverläffigkeit der
rein formaliftifchen Begründung der Mathe-
mati? erhoben worden find, hat nun in den
legten Jahren Hilbert veranlaßt, einen anderen
Weg zu verfuchen, und zwar im Grunde den
gleichen, wie er bereits Leibniz vorgeſchwebt
hat. Hilbert vermeidet jegt die frühere Cin-
feitigteit des „Formalismus“, ohne aber in den
Raditalismus der Intuitioniften Brouwer und
Weyl zu verfallen, die nur foidhe mathematifche;ı
Begriffe zulaffen wollen, die durch eine endliche
Anzahl von Schritten anfchaulich „konftruiert”
werden können. Er hält nämlich an feiner logi-
Ihen Methode der Formalifierung und Ario-
matifierung feft, ergänzt fie aber durch das an»
Ihauliche Dperieren mit außerlogifchen, finnlich
gegebenen Zahl- und Formelzeichen, und fo ge»
lingt es ihm in der Tat, den Erijtenzbeweis der
Arithmetit und damit der ganzen bisherigen
Mathematik, einfchließlich der von Brouwer und
Weyl angefochtenen Teile, in voller Strenge
durchzuführen. Die jüngjte Entwidlung der
Mathematik verläuft alfo genau in der Rich:
tung, die Leibniz bereits vor 2% Jahrhunderten
eingefchlagen hat: in der Richtung auf die Sy n-
thbefe des Formalismus und SIntu”
tionismus durch die ſymboliſche
Mathematik.
IV.
Wenn wir nun zum Schluß, joweit es der be-
ſchränkte Raum geftattet, nody einen kurzen Blid
cuf Leibnizens metaphyfiihde Weltanſchauung
werfen wollen, fo wird uns das dadurch [ehr
erleichtert, daß uns von Leibniz niht wie von
vielen andern Philofophen zugemutet wird, jeßt
den feiten Boden der wiſſenſchaftlichen Forſchung
zu verlaffen und zu phantaftifchen Luftichlöjfern
der reinen Spekulation emporzufchweben. Biel-
mehr bleibt Leibnigens Metaphyfit immer in
enger Berbindung mit den Einzelmifjenfchaften,
fteht alfo auh aus diefem Grunde der fpezia-
liftifch orientierten Gegenwart viel näher als die
meiften andern Syſteme des deutſchen Idealis—⸗
mus, Die eine von der Speztalforjchung ganz
unabhängige, nur auf fih felbft beruhende Philo-
ſophie zu ſchaffen ſuchen. Gewiß finden wir
auch in Leibnizens Syſtem manche kühnen, ja
überkühnen Gedankenkonſtruktionen. Aber fie
ſtützen fih dodh immer auf das feſte Fundament
mathematiſcher, natur: oder geiſteswiſſenſchaft⸗
licher Erkenntniſſe und bauen ſich von da lang—
jam in die Höhe. Und wenn fie dabei in hypo-
thetifhe Regionen geraten, fo werden Diele
wenigjtens auh ausdrüdlich als hypothetiſch be-
Leibnizens Gegenwartsbebeutung.
zeichnet.
Schon im II. Abfchnitt find wir wiederholt
von der Phyfit aus zur Metaphyfit emporge:
ftiegen. Die Dynamit bahnte uns den Weg zur
Lehre von der Kraftjubjtanz oder genauer von
der (geiftigen) Energie als Ding an fih; und
die biologische Entwidlungslehre dehnte fih aus
zu einer großartigseinheitlicdden Teleologie der
„Welt”gefchichte (im umfafjenden Sinne diefes
Wortes). Jetzt möchte ich noh in ähnlicher,
eratt fundamentierter Weife zum eigentlichen
Sentralgedanten der Leibnizſchen Metaphyfit
hinaufführen, zur Lebre von der Univerfal-
barmonie der individuellen Mo:
naden, und finde den Schlüffel zu diefer fo
oft mißverftandenen Lehre in Leibnigens Eyn:
thefe der formalen und anfchauliden Mathe:
matik durch die „characteristica universalis“.
Das Wefentliche der Monadenlehre ift nämlid)
niht etwa ihr einfeitiger Spiritualismus. „Ich
würde nicht fagen, wie man mir unterjdjiebt,
daß alle Dinge nur eine einzige Subftanz haben,
und dah diefe Subftanz der G e ift fei. Es gibt
ebenſo viele verfchiedene Subftanzgen wie Mo-
naden und nicht alle Monaden find Geifter.”
Co hat Leibniz noth in einer jener legten philo-
fophifchen Aeußerungen, einem Briefe an Maf-
fon, geic;rieben. Und auch wenn er in demjelben
Briefe alle Monaden wenigitens für „le >»
bende Weſen“ ertlärt und ihnen mindeltens
unterbewußte Empfindungen und Strebungen
zufchreibt, fo iſt dieſe Hypotheſe (die er aller-
dings für äußerſt wahrfcheinlich hält, weil das
Geſetz der Kontinuität die Fortſetzung der Reihe:
vernünftiger Geijt, tierifche Seele, pflanzliche
Reattionsfähigteit auch in das Reih der ans
organischen Kräfte oder Energien verlangt) dod)
nicht unaufhebbar mit dem eigentlichen Sinne
der Monadenlehre verfnüpft.e Deren innerfter
Kernpunft ift vielmehr die Synthefe des
Montsmus mit dem Pluralismus
oder genauer des mathbematild: natur:
geſetzlichen Univerfalismus mit dem
geiftesgefhidhtlihden Individua-
!ismus und religiöfen Berfonalis-
mus durd die Einficht, daß jedes Weltelement
ihon ein fleines Univerfum ift und in
feiner individuell befonderen Weife den ganzen
Mafrofosmos „widerfpiegelt*“ oder „reprä-
fentiert”. Db aber diefes „Repräfentieren“
des Univerfums ein fubjeftio » pfychologifches
„Borftellen” ift wie im Geifte eines denfenden
Menfchen oder nur ein objeftio-mathematifches
„Darjtellen“, wie es ſelbſt völlig leblofen Teil-
hen der Natur wegen der allgemeinen urſäch—
lichen Verkettung des Weltganzen zugeichrieben
werden muß, das ift für Leibniz erft eine fetun-
däre Frage.
Schon Kepler hat den Verſuch gemadıt,
in der Lehre won der „harmonia mundi“
feine mpjtifch-religiöfe Weltanfchauung in erafte
sorm zu bringen und mit der mathematifchen
Naturwiſſenſchaft fynthetifch zu vereinigen. Den
von Kepler eingefchlagenen Weg hat Leibniz
(mit bemußter Anfüpfung an ſeinen Vorgänger,
vgl. 3} B. Ars combinatoria I§ 33f.) mit nod
arößerem Erfolge fortgefegt, indem er ſowohl
das perjonaliftifch - religiöfe wie das univerfa:
liftifchenaturwiffenfchaftlide Moment noh tiefer,
jedes in feiner bejonderen Eigenart, zur Geltung
gebracht und dabei dodh die Synthefe der fchein-
bar unverträglihen @egenjäße noch inniger
durchgeführt hat. Jn Leibnizens Lehre von der
„Harmonie der Monaden“ find nämlich zahl:
reihe Quellflüffe von beiden Geiten her (id)
nenne als die wichtigjten nur die Lehren der
chriftliden Myftit vom Menfchen als „Bilde
Gottes” und von der „Selbftgenügfamteit“ der
Seele mit ihrem Gotte fowie die erafte Erkennt:
nis des funktionellen Zufammenhanges aller
Weltelemente und den- mathematifchen Darftel-
iungsbegriff) zu einem völlig einheitlichen Strom
zufammengefloffen, in dem alle Gegenfäbe har:
monifch verſchmolzen find.
Leibniz definiert „Harmonie“ als die Verbin»
dung größtmöglicher Einheit und Ordnung mit
größtmöglicher Vielheit und Mannigfaltigkeit.
Wenn er alfo der Welt härmoniſchen Charakter
zufchreibt, jo bedeutet das, daß in ihr eine un-
endlie Menge freihandelnder Einzelmejen zu
einer einzigen u n i -verfalen (d. h. auf ein Ziel
gerichteten) Weltgeſetzlichkeit zuſammengeſchloſ—⸗
jen ift. Wie eine Eynthefe dieſer Widerſprüche
möglich fein foll, das ſcheint zunächſt unerfind-
lich. Leibniz aber ſchafft ſich doch einen Weg
zur Löſung dieſes äußerſt ſchwierigen Problems,
indem er die neuen mathematiſchen Einſichten,
die wir im III. Abſchnitte kennen gelernt haben,
auf die Metaphyſik überträgt.
Univerfalmathematit leiſtet nämlich eine ganz
ähnliche Synthefe, indem fie zahlreiche anſchau—
lih verjchiedene Gebiete einer und derſelben
logifchen Form unterorönet und infofern ein ein-
heitliches Uni -verjum aus ihnen madt. Darin
beiteht ja gerade der praftilche (außer dem oben
befprochenen theoretifchen) Wert der Formaliſa—
tion in der Mathematik, dap zahlreiche, finnlich
ganz unähnliche Gebiete, indem man fie als
„formal äquivalent“ oder „logiſch ifomorph“ er-
tennt, auf ein einziges begriffliches Gerippe gzu-
Leibnigens Gegenwartsbebdeutung.
.gung, Die
Die formale
173
rüd'geführt werden, daß man alfo jekt nur dies
eine Begriffsigftem mathematifch auszuarbeiten
braucht und dann alle übrigen aus ihm durch
bloße Uebertragung, nämlich durch Einjeßen der
entjprechenden Tpeziellen Wusdrüde, gewinnen
tann. So find, um nur eins der unzähligen Bei-
fpiele zu nennen, mit der analytiichen Theorie
der GSinusfunftion zugleich die geometrifche
Theorie der MWellenlinie, die mechanifche Der
Pendelbemegung, die atuftilche der Schallbewe-
optiſche der eleftromagnetilchen
Schwingung ufw, erledigt. Aber diefe überall
gleiche univerfale Formgeſetzlichkeit ſchließt offen:
bar die mannigfaltigjte individuelle Befonder-
heit der Gebiete keineswegs aus, ſondern beläßt
jedem durchaus feine einzigartige Eigentümlidy:
teit. Die Fülle der verfchiedenen Veranfchau: -
lihungsmöglichkeiten desfelben formal - mathe:
matifchen Syitems wächſt noh, wenn wir nidht
nur an die ihm „untergeordneten” Gebiete der
anfhaulidhen Mathematik und Phyfit den-
fen, fondern auch an feine vielfältigen finnlichen
Darftellungen in der ſymboliſchen Mathe-
matit. Diefelben Begriffe laffen ſich durch hör-
bare oder fichtbare oder tajtbare Zeichen, durch
Worte oder Schriften für Sehende oder für
Blinde darftellen. Und auch innerhalb des glei-
chen Sinnesfeldes — wie unzählige Ausdruds:
möglichkeiten beftehen da noch in den Spradyen
der verfchiedenen Völker, den Dialeften der
Stämme, ja noh im Tonfall und der Laut-
färbung der Individuen! Hier haben wir alfo
größte Einheitlichkeit mit größter Mannigfaltig:
teit, allgemeine Gefeglichkeit der Form und freie
Willtür der anfchaulichen Einkleidung oder kurz:
Univerfalität und Individualität in Harmonifcher
Synthefe verbunden. |
Und ebenfo dentt fih nun Leibniz im Kosmos
überhaupt Einheit und Bielheit, Notwendigteit
und Freiheit fonthetifch vereinigt. Zwei Prin-
zipien ftehen, wie er der Königin Sophie Char-
lotte von Preußen einmal fchrieb, in der Welt
gleichberechtigt nebeneinander, die unifor-
mité und die variété, die fih fcheinbar
widerjprechen, die man aber doh verfühnen tann
und muß, indem man die erftere auf das Wefen
der Dinge, die legtere auf die Erfheinungs-
weifen bezieht. Das eine objektive Univerfum
verhält ſich zu feinen zahllofen [ubjektiv-indivi-
duellen Elementen wie ein formal-mathemati-
ſches Syſtem zu den ihm untergeordneten formal:
äquivalenten, aber anfchaulich-differenzierten Ge-
bieten der intuitiven und ſymboliſchen Mathe:
matit. Alle Mikrokosmen find „lebendige Spie-
gel” oder perſpektiviſche Abbildungen des gleichen
174
Leibnizens Gegenwartsbedeutung.
Matrotosmos, nur von verfehiedenen Projet-
tionsgentren aus, oder erafter ausgedrüdt, alle
Monaden find Darftellungen derjelben objektiven
Gejeßesordnung, nur in verfchiedenen Anſchau⸗
ungsformen und Sinnesqualitäten. Alle Cingel-
weien haben fozufagen das gleiche formal-be-
griffliche Knochengerüft, umkleiden es aber je
nad) ihrer Individualität mit ganz verjchiedenem
Fleiſch und Blut finnlicher Erlebniffe. Demiel:
ben fosmifchen Univerfalgejeß ordnen fih alle
individuellen Lebensgeſetze unter und variieren
es nur in verfchiedenen Tonarten. Die einzelnen
Monaden find frei in dem, was man ihre indi-
viduelle Eigenart oder perjönliche Note nennt,
dennoch harmonieren fie alle notwendig in der
univerfellen Objeltivität, die in den vielfältigen
. Erlebniffen der individuellen Subjette zwar in
immer neuer Erfcheinung, aber doc) in völliger
Weſensgleichheit zum Ausdrud kommt.
Die hiermit ganz kurz ſtizzierte Leibniziche
Synthefe des Univerfalismus mit dem (nicht nur
quantitativ-mathematifchen, jondern auch quali-
tativ-perfönlichen) Individualismus fcheint mir
nun von höchſter aktueller Bedeutung zu fein für
die Heberwindung des fundamentalften Welt-
anfchauungsgegenfaßes unferer Tage, der gwi-
ſchen dem biologifchen Pofitivismus etwa Niep-
ides und dem logiſchen Idealismus der Mar-
burger Neußantianer, zwiſchen dem hiftorifchen
NRelativismus Diltheys, Simmels u. Troeltjchs
und dem meathematifchen Wbjolutismus, fei
es der exakten Naturwiffenichaften, fei es der
reinen Logit Hufferls, ferner zwiſchen einer
äfthetifch, religiös, vielleicht fogar myſtiſch
verinnerlichthen Weltanfhauung und einer
ftreng eraften Welterfenntnis oder allgemeiner
zwiſchen einer intuitiv = irrationalen Philo-
ſophie des individuellen Lebens und ſubjektiven
Erlebens und einer rein rationalen Philo-
fophie des univerfellen und objektiven Gel—
tens aufgellafft ift. Denn Leibnigens harmo-
nifhe Metaphyſik zielt auf die gleiche Ueber-
brüdung diefer Gegenfäße, der auch das tiefſte
Sehnen unferer Zeit zuftrebt, wie fih fchon
äußerlich daran zeigt, dah viele der tiefften Den-
fer beider Richtungen fid) bei dem Verfuche, über
deren Einfeitigkeit hinaus zu einer allfeitigen
Philofophie zu gelangen, mit vollem Bemwußtfein
auf Leibnizens Monadologie berufen; ich nenne
3. B. von der einen Seite Dilthey und Troeltfch,
von der andern Natorp und Hufferl in den
lebten Entwidlungsitufen ihrer „allgemeinen
Logik” und „Phänomenologie“.
In der Tat, bei Leibniz ift das Recht der
individuell beichreibenden Geifteswiflenfchaften
Geltens.
ebenfo gut gewahrt wie das der univerfalgefeh-
(ih erflärenden Naturmilfenfchaften und das
Recht des mpyftifchen und religiöfen Grlebens
ebenfo gut wie das des logifchen und ethiſchen
Die große Bedeutung der logiſch⸗
mathematifh fundamentierten Geſetzeswiſſen⸗
Ichaften befteht nadh Leibniz darin, daß fie ſozu⸗
fagen das fefte Etelett des Gejchehens aus dem
Schwanten der Erfcheinungen herauslöfen und
das dauerhafte Berüft bauen, an dem fih das
wechfelnde Erleben in die Höhe ranten kann.
Aber diefer Vorzug ift doch zugleich ein Mangel
oder bedarf winigftens der Ergänzung: alle
mathematifch-naturmiffenfchaftlichen Definitionen
und Grölärungen beziehen fih immer nur auf ein
abftraftes Gerippe von erfchöpfend definierbaren
„unpollftändigen Begriffen”, wie Leibniz
jagt, während die konkrete Wirklichkeit erft durch
„vollftändige Begriffe“ von unwiederhol⸗
baren, innerlich unendlichen Individuen beidrie
ben werden fann. Und hier eben ift der Bereid
der Geiſtes- und Individualitätswiſſenſchaften,
die ſich das immer gleichbleibende Formgenifl
des äußerlich fitbaren Naturgefhehens
mit der immer neuen individuellen Lebensjülle
der nur innerlich) nacherlebbaren „Geſchichte“
umkleiden fehen.
Doch I:Kten Endes ift überhaupt jede Willen:
Ichaft eine bloße Schematifierung der unerjhöpi:
lichen Wirklichkeit, nötig und wertvoll als ihr
ſicheres Fundament, aber eben doch noh nid!
der Bau felbft, fondern fein bloßer Grundriß.
Um die volle Harmonie des Kosmos erflingen
zu hören, bedarf es — darüber ift Leibniz fid
immer flar geblieben — niht nur des Er
fennens, fondern auth des Lebens, nicht nur der
reinen Theorie, jondern auch der praktiſchen Be
tätigung, nicht nur der milfenfchaftlichen Ber
nunft, fondern auch des fünftlerifchen und reli
giöfen Gemüts. Erft im einheitlichen Zuſammen⸗
wirten aller vielfältigen Geiftesträfte erwächſt
die unendliche Polyphonie des Dafeins, in der
eine unerfchöpfliche Mannigfaltigteit des Ein
zelnen einer vollkommnen göttlichen Zieleinkeil
tes Gangen dienftbar gemacht ift. Ich tann diefe
legte und höchſte Zufamenfhau von Lebens
fülle und Mefensbeftändigkeit, die den tiefften
Grund des Leibnigfchen Selbft: und Weltgefühls
bildet, nicht ſchöner wiedergeben als mit einem
Spruche Goethes aus den „Bahmen Xenien”:
. ` u
„Wenn im Unendlichen dasfelbe
Sich wiederholend ewig fließt,
Das taufendfältige Gewölbe
Sich kräftig ineinander fchließt,
Strömt Lebensluft aus allen Dingen,
Dem Sleinft.n, wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen,
Sit ew'ge Ruh’ in Gott dem Herrn.”
1) Im eriten Aufſatze bitte ich folgende Drudfehler
zu berichtigen: ©. 129a, 3. 11 v. u.: kritiſche (itatt
Kampf und gegenfeitige Hilfe in der Natur.
Kampf und gegenfeitige Hilfe in der Natur.
175
neutrale); ©. 129b, 3. 6 v. o.: durch P Nitter; S. 130a,
3. 4: Barods; ©. 130b, 3. 11: hehre (ftatt Lehre der);
©. 132a, 3 10: Wundts mit Leibniz und dem; ©. 133a,
3. 16: Acta eruditorum; ©. 184a, 3. 7: Und darum;
3. 25 v. u.: allbekannt; ©. 134b, 3. 1: Lyellfchen;
3. 7: madte; ©. 137b, 3. 4 v. u.: mendlich; 3. 13
v. u.: iit es, wie; ©. 138b, 3. 16 u. 317 v. u.: irre-
verfibein .. . veverfibein; ©. 139a, 3. 5: kontinuier⸗
lichen.
Von Profeſſor O. Prätorius.
„Kampf ums Daſein'“ ift ein allbekanntes
Schlagwort, ſeit Darwin 1859 fein berühmtes Wert
über die Entitehung der Arten veröffentlichte. Vorher
atie vielfach feit Roufjeau die Anficht geberrfdt:
„Die Welt ift volltommen überall, wo der Menſch nicht
bintommt mit feiner Qual.“ Aber gerade die ein-
gehendere Beichäftigung mit der Natur mußte dem un-
poreingenommenen Beobachtr bald zeigen, daß es aud
dort nicht immer friedlich zuging, und Darwin zeigte,
daß Kampf und Untergang für zahllofe Geſchöpfe un-
rermeidlich fein muß; diefem Rampf wies er eine über:
ragende "Bedeutung für die Entftehung neuer, immer
rolltommenerer Arten zu. Denn, fo folgerte er, unter
den Nachkommen jedes Geſchöpfes find ftets einige, die
variieren, d. h. in einzelnen Eigenfchaften von den
Citem abweichen; folde mit ſchädlichen Ab-
weichungen gehen im Kampf ums Dafein zugrunde,
während die mit vorteilhaften Abweichungen die meifte
Ausfiht Haben, zu überleben. Durch Häufung folder
verteilhaft wirkenden Abänderungen follen dann im
Laufe vieler Geſchlechterfolgen neue, beffer angcpaßte,
alfo volltommener orgenilierte Arten entitehen, ähnlich
wie Züchter von Haustieren und Kulturpflanzen neue
Raffen, 3. B. ſchnellere Rennpferde, milchreichere Kühe,
jaftigere Birnen, ſchönere Rofen, ertragreichere Getreide:
forten gewinnen, indem fie unter den tatjädhlid auf:
ttetenden Bariationen die ihren. Zweden am meiften
entjprecdenden auswählen. Diefe Auslefe oder „Zucht⸗
wahl“, die der Züdter bewußt im Hinblid auf be-
ftimmte Zmwede vornimmt, follte aljo in der Natur
der Kampf ums Dafein bewirken. Freilich war Darwin
jo vorfidtig, auszufpreden, „ab die natürlide
Zuchtwahl zwar das hauptfädlidfte,
aber nidht das einzige Mittel zur Ab:
änderung der Organismen gemwefen ift
und fein wird.” Darwins Nadjfolger aber, die
feine Zuchtwahllehre als willtommene Stüße für eine
rein medanifde Betradhtungsweife der Lebens-, ja
ſelbſt der geiftigen Vorgänge begierig aufgriffen und
ausbeuteten, vergaßen diefe Einſchränkung und priejen
die „Allmadt der Naturzühtung“ und den
Rampf ums Dafein als alleinige Grundlage des Fort-
ſchritts. Bon der Pflanzen- und Tierwelt ward diefer
Gebantengang bald übertragen auf menſchlich-geſchicht⸗
lie Berhältniffe; auh hier follte der Rampf um die
Dofeinsmittel bei jedem Menſchen gegen feine Mit:
menden ein Naturgefeb und die Bedingung jedes Fort-
Ichrittes fein, was naturgemäß zu einer Rechtfertigung,
ja Berberrlihung der roheſten Selbſtſucht führte.
War ſchon gegen Darwins Lehre und ihre Ueber-
treibungen auf ihrem eigentlihen Gebiete, der Natur:
wiſſenſchaft, alsbald wohlbegründeter Widerfprud er-
hoben worden, bejonders von den Botanikern Wigand
und Nägeli jowie dem Philoſophen v. Hartmann, fo
erforderte erft redt ihre Uebertragung auf die menſch—
lie Geſellſchaft eine Richtigſtellung. Hier war es ein
rufifher Gelehrter, Fürſt Peter Kropotfin (aud
als revolutionärer Polititer befannt), der es unter:
nahm, angeregt durd einen 1880 gehaltenen Vortrag
des Petersburger Zoologen Kepler und geftüßt auf
ein reiches Beobachtungsmaterial, nachzuweiſen, daß
„neben dem Geſetz des gegenfeitigen
Kampfes in der Natur das Gefeh der
jeitigen Hilfe walte, und daß diefes
legte für den Erfolg des Kampfes ums
Reben und bejonders für die fortfdrei-
tende Entwidlung der Arten bei weitem
wichtiger fei als das Geſetz des gegen:
jeitigen Streites”, daß aber erft redht für die
Entwidlung der menſchlichen Geſellſchaft, Kultur und
Cthit „der gegenfeitige Beiftand, nidt
gegenfeitiger Kampf den Hauptanteil
gehabt Hat.“ Ohne nun auf Krotpotfins Aus:
führungen über gegenfeitige Hilfe bei den Wilden, in
den ältejten Dorfgemeinden, in den Städten des Mittel:
alters und unter Menſchen unferer Beit einzugehen,
foll hier berichtet werder, was er als „gegenfeitige Hilfe
bei den Tieren“ dem Darwinfden „Kampf ums Da:
iein in der Natu” gegenüberzuftelfen weiß.
Zunädjft ift zu bemerfen, daß Darwin nicht in erfter
Kinie an die Tiere dentt, die Fleiſchfreſſern zum Opfer
fallen, obwohl dies zweifellos auh von Wichtigkeit ift;
wir brauchen ndt nur an die eigentliden Raubtiere zu
denfen jondern auch an Vögel und Raubinjeften als
Kleintierfreffer, an die tierifden Schmaroger, wie
Schlupfweſpen, deren Tätigteit bei Maflenvermehrung
Ihädliher Raupen uns fehr bald wieder von folder
Plage befreit, und pflanzlidger Schmaroter, bejonders
Batterien, die als Krankheitserreger Menſchen und
Tieren gefährlid werden fünnen. — Nur vereinzelt
[pielt auch eigentliher Kampf zwiſchen Nebenbuhlern
gleiher Art eine Rolle (Hähne, Hirſche) Darwin aber
gebraucht, wie er ausdrüdlidh fagt, den Ausdruck
Kampf ums Dafein „immweiten und meta:
176
phoriſchen Sinn“ für die Tatſache, daß von den
vielen, oft zahllofen Eiern eines Tieres oder Samen
einer Pflanze nur ſehr wenige zu erwachſenen Tieren
oder Pflanzen werden und wieder Nachkommen hervor:
bringen fönnen, da fonjt bald Platz, Luft, Licht und
Nahrung nit ausreihen würden; er denkt alfo an
einen Konkurrenzkampf gleihartiger Geichöpfe um diefe
nur in beſchränkter Menge vorhandenen Lebensnot-
wendigfeiten aus edm nur die Geeigneteren als über-
lebende hervorgehen follen.
Hühnerhof, wie die GStärferen und Gewandteren den
anderen die beiten Biffen abjagen, zeigt jedes Saatbeet
und jeder dichte MWaldbeitand, wie die fräftigiten Pflänz:
hen oder Bäume die anderen überwucern und damit
die einmal
fchließlih zum Cingehen bringen.
Daß aber diefer Kampf in der Natur fo allgemein
und für die Weiterentwidlung fo wichtig oder gar allein
ausfchlaggebend fei, wie Darwin und feine Nachfolger
wollten, wurde von Kekler und Kropotfin
wenigitens für das Tierreich beftritten; fie wiejen
darauf hin, daß Darwin gerade diefen Kampf
zwifhen Tieren gleicher Art nicht wie ſonſt alle
jeine Behauptungen durch ®Beilpiele belegt, daß aber
tatfächlich in weiten Gebieten wie Rußland und Wien
Maffenvernidtung von Geſchöpfen vorwiegend wahl:
105 dur Naturvorgänge, wie Schneeftürme, Blatteis,
Fröfte im Mai und Auguft, Regengüffe und Ueber-
ſchwemmungen erfolgt, und daß viele Tiere, weit ent-
fernt, einander zu befämpfen, ſich vielmehr aus Zu:
fammengehörigfeitsgefühl fammeln, einander helfen und,
wenn wirtli Webervölferung und Nahrungsmangel
droht, durch gemeinfame Wanderzüge diefem zu ent:
gehen ſuchen (Renntiere, Büffel, Lemminge, auh Heu:
fie fi) fo völlig vereinigen, daß das Ganze als eine
ſchrecken und andere Infelten), daß aber gerade „Die:
jenigen Tiere, die Bewohnheiten gegen:
feitiger Hilfe annehmen, zweifellos die
paffendften jind. Es beftehen für fie die
meiften Möglidhfeiten, zu überleben,
und fie erlangen in den betreffenden
Klaffen die höchſte Entwidlung der In-
telligen3 und körperlichen Organiſa—
tion“.
Die zahlreihen Beifpiele, die Kropotkin ausführt
(wobei er Fälle bloßer Brutpflege abfihtlih aus:
ichließt), beziehen fi) meift auf Säugetiere und Bögel.
Wölfe und andere Raubtiere bilden Rudel, um fid
beim Bemwältigen aud größerer wehrhafter Beutetiere
zu unterftüßen; Pflanzenfreffer, 3. B. Bebras, Anti:
lopen, weiden herdenmweife, fo daß die Aufmerkjamfeit
weniger Wadhtpoften die anderen vor Meberfällen
ſchützt; auch Murmeltiere und ihre Verwandten warnen
einander bei Gefahr. Die Biber bauen gemeinjame
Damme um den Wafferftand der von ihnen bewohnten
Bäche zu regeln. Viele Vögel, 3} B. Reiher, Saat:
krähen, niſten gejfellig, die afritanifhen Siedelweber
einem gemeinfam erbauten Schutzdach; die Yugvögel
fliegen zufammen oft in geregelter Ordnung, jo dab
der Vorderſte nad) Ermüdung abgelöft wird; die
Schwärme von Tauben, Staren u. a. verftehen im Flug
militärij er Genauigkeit zu ſchwenken und zu landen.
Tatſächlich zeigt jeder
Zurüdgebliebenen zum Kümmern und-
Kampf und pf und gegenfeitige Hilfe in der Natur.
Aber aud in anderen Tierfreifen lät ſich gegenfeitige
Hilfe beobachten, beſonders bei Inſekten; hier find
Bienen und Welpen, Ameifen und Termiten betanntliġ
3u einer Arbeitsteilung und einer förmlidyen Staaten:
bildung gefommen; aber aud die Totengräbertäfer
iharren ihren Fund gemeinfam ein, die Pillendreber
helfen einander die Dungpillen fortrollen und vergraben,
und fogar die niedrig organifierten Moluftentrebie jab
Kropottin felbit im Aquarium ftundenlang abmühen,
einem auf den Rüden gefallenen Artgenofien wieder auf
die Beine zu helfen! Kropotkins Beiſpiele laffen fih
aus der niederen Tierwelt, die ihm wohl weniger be-
fannt war, noh vermehren: er erwähnt nicht die ge-
meinfamen Gefpinfte vieler Raupen, die gejelligen Sied-
lungen der Auftern, Miesmufdeln und der „See:
poden“ genannten feitfihenden Krebstiere die Korallen-
ftöde, deren zahlloſe Einzelwefen gemeinfame Ralf-
ablagerungen und damit ganze Inſeln aufbauen, aber
auch dur Verbindung ihrer verdauenden Körperhöhlen
alle Nahrung gemeinfam verwerten, die ähnlich einge-
richteten Polypenftöde und Moostierchentolonien, fowie
die Staatsquallen, in denen viele Einzelweſen durd
Arbeitsteilung verfchiedenartig ausgebildet und von ein-
ander fo abhängig geworden find, daß das Ganze ein
Individuum höherer Ordnung darftellt. Aud unter den
einyelligen Algen- und Urtieren bilden mandhe Arien
Kolonien, wie das Zackenrädchen (Pediastrum) die
„Walzkugel“ (Volvox), die durch geregelte Schwing:
bewegung der Wimpern aller Einzelzeller m Um:
wälzung gerät: auch hier tann man die Gejamtheit als
Individuum höherer Ordnung anfehen. Umgekehrt fann
man fo 3u der Auffaffung tommen, daß die mehrzelligen
Geſchoͤpfe, Pflanzen und Tiere, bis herauf zum Men-
ſchen als Kolonien vieler Einzelzellen betrachtet werden
können! Aber felbft ohne diefe Betradhtungsweife läßt
ſich „gegenfeitige Hilfe“ auh im Pflanzenreich (das fonft
Kropotfin dem Kampf ums Dafein preisgibt) nad)-
weiſen. Was ift es anders, wenn die Gewalt des
Sturmes, der den einzelftehenden Baum fnidt, ſich bricht
am gefchloffenen Wald, am Wehrenfeld oder Schilf,
wenn der Bannwald die Lawine aufzuhalten vermag,
wenn Moosftengel und Wipenpflanzen im Polſterwuchs
Schub gegen Wind und Wafferfluten finden? Und die
Bäume des Waldes, die einander ja im Lichtgenuß
beeinträchtigen, fo daß die unteren Weite abfterben und
nicht wie bei der freiftehenden Buche oder Fichte eine
bis unten reichende Krone bilden, ſchützen einander da-
für au) vor der verderblihen Wirkung der Sonne, wie
fi; zeigt, wenn am Rande einer fünftliden Lichtung
diefer Schuß fehlt: wenn im Winter Sonnenbeftrahlung
und Nachtfroſt wechſeln, tritt „Sonnenbrand“ auf, der
durch künſtliche Beſchattung vermieden werden tann.
GBegenfeitige Hilfe läßt fi außer bei gleichartigen
Geſchöpfen aber aud unter verfchiedenen Arten nad-
weilen. Jeder Jäger hapt den Häher, weil fein Ruf
die anderen Waldbemohner warnt. Belannt ift, wie
Infelten aus Blüten Honignahrung gewinnen und da-
für Beſtäubung vollziehen. Oft führt folh gegenfeitiger
Vorteil zu einem Berhältnis dauernder Gemeinſchaft
(„Symbioſe“): Einfiedlerfrebs mit Seeroſe, Wollfrabbe
mit Schwamm; Ameiſen halten Blattläufe wie Haus:
Die Kohlenlager der Erbe. .
tiere, füttern Käfer und andere „Ameifengäfte”, die
ihnen offenbar angenehme Duftitoffe liefern.
Andere Ameifenarten im Urwald Südamerifas, auf
deffen Boden es zu feudht und fdhattig ift, legen fid
Gärten hoch) oben in den Baumfronen an indem fie
Erdflümpden binauftragen und Samentörner darin
wachſen laffen, denen fie jo günltige Lebensbedingungen
bereiten, zugleich aud für fih felbft. Bäume gibt es
dort, die ihrerfeits Ameiſen in hohlen Stadyeln oder
Stengelgliedern Unserfdlupf und zugleich in befonderen
nahrhaften Auswüchſen Nahrung gewähren; dafür
werden fie von ihren Mietern gegen andere ſchädliche
Arten verteidigt.
Eine befonders innige Genoſſenſchaft zu gegenfeitiger
Hilfe (Symbiofe) bilden Algen mit Pilzen, mit denen
einheitlihe Pflanze erjceint, die unter dem Namen
Flechten allgemein betannt find. Bekannte Pflanzen:
ſymbioſen find auch die „Pilzwurzeln“ der Waldbäume
jowie die ftidftoffjammelnden Batterien in Wurzel:
knöllchen der Schmetterimgsblütler und Erlen.
Selbft in tieriihen Gejchöpfen leben Algen zu gegen-
feitigem Nuken; ihnen verdanft der grüne Süßwaffer:
polyp feine Farbe und zugleih einen Teil feiner
Nahrung.
Die Kohlenlager der Erde.
Die Frage, wann die Kohlenlager der einzelnen Län:
der und der ganzen Erde bei dem ftändig zunehmenden
gewaltigen Berbraud erfchöpft jein werden, hat {hon
viele nachdenkliche Menſchen beſchäftigt und ift zuletzt
ausführlich erörtert worden auf der Weltkraft—
tonferenz zu London-Wembley. Diefe fand tm
Juli vorigen Jahres ftatt und hatte zur Aufgabe, alle
die Fragen zu behandeln, welde mit der Entwidlung,
Verwendung und Erhaltung der Kraftquellen in den
verfchiedenen Ländern in Zujammenhang ftehen. Auf
ihr waren 35 Länder offiziell vertreten. Etwa 2000
Mitglieder nahmen daran teil und 420 Vorträge waren
darin eingereiht.
Auf diefer Konferenz berichtete Sir R. Redmayne')
(England) über die Kohlenlager der Erde. Nadh dem
Bericht des 12. internationalen Geologentongreffes zu
Toronto 1913 find die gefamten Kohlenporräte, be-
ftehend aus Anthrazit, Steintohle und Braunkohle, auf
rund 7,4 Billionen Tonnen gefhägt worden und wür:
den danad für etwa 6000 Jahre reihen. Dabei ift
abbaufähige Kohle bis 1800 Meter Tiefe angenommen.
Nah NRedmayne reihen die Vorräte bei dem heutigen
Verbrauh jedoh nur für 1500 bis 2000 Jahre, da in
dem obigen Bericht niht abbaufähige Kohle mitgerech—
net worden ift. An Diefen Sohlenvorräten find be-
teiligt:?)
1) Zeitfehrift für angewandte Chemie 1924/624.
2) Zeitfchrift für angewandte Chemie 1924/609.
on Dr. W. Lohmann.
177
Neuere Forſchungen laffen als gefichert erfcheinen,
daß viele Inſekten Batterien in fih beherbergen, die
für das Leben unentbehrlich find und oft abfonderlicye
Nährftoffe 3. B. Holz für die Bortentäfer, Horn, für
Bederlinge erft verdaulich maden.
Kropottin hat alfo Redt, noh mehr als er glaubte:
Gegenfeitige Hilfe ift in der Natur weit verbreitet und
ipielt nit nur in der Terwelt und nicht nur zwiſchen
Geſchöpfen gleicher Art eine große Rolle So falſch es
indeffen zweifellos ift, den Rampf ums Dafein als all:
beherrihenden Grundjag im Leben und in der Ent:
widlung zu feiern, fo falf wäre es aud, ihn zu über: -
fechen oder ihn für bedeutungslos zu Halten; ja gerade
für diefen Kampf gewinnt jene gegenfeitige Hilfe viel-
fah erft ihre Bedeutung. — Das gilt aber aud für
menſchliche Berhältniffe: Kampf in jeder Form, als
Krieg wie als Konkurrenzkampf ift da und wird fein:
var nicht auszurotten fein, folange Menſchen und Natur:
wefen find; aber wertvoller ijt die gegenfeitige Hilfe,
die Menſchen einander leiſten nit aus Berechnung,
jonòrn aus dem Gefühl der Zufammengehörigteit —
in feiner edelften Form: aus driftlider Nächſtenliebe.
*
Deutſchland (1914) mit 5,7 %
Großbritannien „ 26 %
Deiterreich 08%
Frankreich „02%
Belgien „ 02 %
Rußland „ 08%
China „ 13,5 %
Kanada „ 16,4 %
Nordamerika „ 51,8 %
Die übrige Welt „ 80%
Die Berechnungen über die Lebensdauer der Kohlen:
porräte führen zu dem Ergebnis, daß bei dem heutigen
Abbau die einzelnen Länder etwa in folgenden Zeit:
räumen erjchöpft fein werden:
England in etwa 50 Jahren
Frankreich (1914) „n » 150 „
Belgien si „» W ,
Saar mit Ruhrbeden „nn. WW u
Bereinigte Staaten „ „ 1500 ,
Den gewaltigen Borräten und der Höhe der ted:
niſchen Entwidlung entfpredyend produzieren die Ber-
einigten Staaten heute bei weitem die größten Mengen
an Kohle. So war vor dem Kriege an der Weltpro-
Juftion beteiligt: ganz Europa mit etwa 50%, die Ber-
einigten Staaten mit etwa 40%. Troßdem man ge:
lernt hat, die Kohlen beffer auszunußen, und trog der
fteigenden Verwendung von Erdölen und Wafferfräften
zeigt der Kohlenverbrauch auf den Kopf der Beovölfe:
rung bis zum Kriege eine ftetige Zunahme. So betrug
3. B. diefer in den Bereinigten Staaten: 1870 etwa
1 Tonne, 1911 etwa 4,5 Tonnen und 1913 etwa 5 Ton-
nen. — Im Bergleid zu den Kohlen fpielen die anderen
178 Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe | Umſchau.
Brennftoffe nur eine untergeordnete Rolle. Die Tarf-
vorräte Europas find von Profeffor Gibjon auf etwa
gleichwertig mit 100 000 Millionen Tonnen Kohle ge
Ihäßt worden. Prof. Lupton hat die Weltvorräte an
Torf auf etwa 4 % der Kohlenvorräte geſchätzt. Als
Brennftoffe tommen dann neben Holy und Schiefer—⸗
ölen, die nur eine untergeordnete Rolle fpielen, nod
in Frage die Mineralöle. Aud hier jteht Amerifa an
erfter Stelle. Es Liefert über 60 Prozent der Erdöl-
produktion. Hier ift man der Erſchöpfung wefentlid
näher als bei den Kohlen. Nad Schägungen amerita-
nif der Sadperftändiger dürften die Petroleumvorräte
in etwa 90 Jahren erfhöpft fein. Die von Ban Hije
vorgenommene Schätzung jagt ihre Erſchöpfung ſchon
bis längftens 1953 voraus. Die Vorräte im Kaukaſus
laffen jhon heute die nahende Erjhöpfung erfennen.
Es gewinnen daher mit der Zeit immer mehr die Ber-
fude an Bedeutung, aus Kohlen, Braunfohlen, Oel-
ſchiefer flüffige, für den Betrieb von Motoren geeignete
Brennjtoffe zu gewinnen.’)
Bon ünterefle ift es, zu überlegen, ob auf der Erde
mehr Kohlenſtoff verbrannt wird, als die Pflanzen
durh Affimilation in brennbare "Stoffe verwandeln.
Prof. ShroedersKiel kommt zu dem Ergebnis,
daß jährlich etwa 22mal foviel Energie von den Pflan-
zen afktumuliert wird, als in der gleichen Zeit Kohle
verbraudt wird.
Menden wir uns jekt zu der Energiequelle, welde
porausfichtiih mit der Zeit niemals fih verringern
wird, und welde heute in gewaltig fteigendem Maße
ausgenugt wird, der Waflerkraft, um zu prüfen, ob
diefe imſtande ift, die aus der Kohle gewonnene Energie
in Zutunft zu erfegen. Wohl ift die „weiße Kohle”
bereits für die ſchwarze Kohle eme Konkurrenz geworden.
So ftammen 3. B nad) dem Bericht von Direktor Han-
len‘) im Jahre 1923 von den m ſchwediſchen Kraftzentra-
len erzeugten 1 950 000 HP niht weniger als 1 400 000
HP, das find 75%, aus Waflerturbinen. Troßdem
ftept im Vergleich zu der aus Kohlen gewonnenen
Energie die aus Waſſer erzeugte noh ſehr im Hinter-
grund. Es ift überhaupt niht möglich, die gejamte
beute erzeugte Energiemenge aus Wafferfräften zu ge-
3) Wie weit Ausfiht dazu vorhanden ift, foll ein
Ipäterer Auffaß zeigen.
1) Zeitſchrift für angewandte Chemie 648.
— — — — —
Neturwiſenſchaſtiche und naturphilofophif
a) Anorganiihe Nalurwiſſenſchaften.
(Einen bedeutfamen neuen Beitrag zur Disfufjion über
die Relafivitätstheorie hat wiederum der befannte ame:
ritanifche Phyſiker Mihelfon (mit einem Mitarbei:
ter Gale) geliefert, deffen in allen populären Darftel:
lungen der Relativitätstheorie angeführter Interferenz:
verſuch durd) fein negatives Ergebnis einen der Haupt-
anftöhe zur Aufftellung der Relativitätstheorie gebildet
hat. Bei diefem bereits „laffifch“ gewordenen Verſuch
handelt es fi bekanntlich darum, daß ein Lichtitrahl in
zwei Teile zerjpalten wird, weide nad Durdjlaufen
Wafferträfte aus.
winnen. Gelbit durch Ausnutzung aller Waſſerkröfte
tonnen nur etwa 60% der durch die jetzige Kohlen:
produktion gewonnenen Energie erhalten werden. Rad
Arrhenius ftünden an ausnußbaren Waſſerkräften zur
Berfügung:
in Afien 236 Mill. HP oder 0,27 HP pro Kopf
„ Afrika 160 „p nn m Innang,
n Nordamerika 160 ” n ” 1,17 e⸗ " n
„ Südamerita M „n n D pn,»
„ Europa Ô n n nn 0 nn
„ Auftralien 30 nn ID nun
Es werden jedodh in temem Lande auch nur an
nähernd die ausnußbaren Wafferfräfte wirtlih aus
genußt. So könnten nad Gipſon in England 20%
der erzeugten Gejamtenergie, melde im Jahre elma
33 000 Millionen Pferdetraftitunden beträgt, durd
MWaffertraft erzeugt werden. Zurzeit beträgt dieje
Menge jedoch nur 2%, d. h. 109 der ausnußbaren
Waſſerkraft. Norwegen, das befammtlich ſehr reih an
Waſſerkräften ift, nut nad den Ausführungen von
S. Klomann nur 12% aus. Die Schweiz jteht hierin
wohl an eriter Stelle; fie mußt bereits 60% ihre
Die auf den Kopf der Bevölferung
im Jahre fallende Elektrizitätsmenge beträgt dort 750
Kilowattftunden, während fie in den Bereinigfen
Staaten 3. B. nur 450 Kilowattftunden ımd in Grof:
britannien nur 145 KRilomattftunden beträgt. Melden
Einfluß die zunehmende Verwendung von Waſſerkräften
3 B. in der Schweiz auf den Kohlenverbrauh)
gehabt hat, erfennt man am beiten an der Tatſache.
daß die eingeführte Kohlenmenge, welde im Jahre 1913
34 Millionen Tonnen betragen hatte, im Jahre 192
auf 2,2 Millionen Tonnen zurüdgegangen ift. Es gib!
jedod nur wenige Länder, welde bezüglich der aus
nußbaren Waflerfräfte jo günftig geftellt find wie de
Schweiz. Obwohl es der Technik gelungen ift, den
Strom mit wenig ®erluften verhältnismäßig wette
Streden fortzuleiten, können uns große verfügbare
Waſſerkräfte vorläufig doch nod feinen Nupen dringen,
weil fie weit abfeits von menſchlichen Kulturzentren
liegen. Wir bleiben alfo bis auf weiteres auf die Kohle
angemwiejen und müffen uns mit der Hoffnung begnügen,
daß in zufünftigen Zeiten, wenn die Kohlenlager er
ſchöpft jem werden. der Menſch gelernt hat, andere
Naturträfte auszunußen, daß er Kohle nicht mehr
nötig hat.
e Umſchau.
zweier zu einander ſenkrechter gleicher Streden und
Neflerion über diefelben Streden am Ausgangsort zu
Interferenz gebracht werden. Stellt man den Apparat ſo
auf, daß die eine der beiden Ridytungen mit der momen:
tanen Richtung der Erdbewegung um die Sonne zuſam
menfällt, fo follte eine Berfchiebung des Jnterfereni:
bildes eintreten, menn der ganze Apparat um 90 Gra
gedieht wird. Der negative Ausfall diefes Verſuchs be
mics, daß die ältere Abſoluttheorie oder Aethertheort
nicht haltbar fei, und gab den Anlaß zuerft zur Auf
ftellung der Lorentzſchen Kontraktionshypotheſe und der
Naturwiffenfchaftlihe und naturphiloſophiſche Amſchau.
Ritzſchen Emiſſionshypotheſe, ſodann zur Einſteinſchen
Relativitätstheorie und — zu deren Vermeidung — zu
den Wethermitführungstheorien von Lenard, Fride u. a.
Der neue Michelſonverſuch unterjcheidet fih von dem
alten nun weſentlich dadurch, daß die beiden Teile des
Lichtitrahls nit in zwei zu einander ſenkrechten
Richtungen hin ımd her, fondern in zwei einander ent-
gegengeſetzten Umlaufsridtungen um eine Fläche von
beiläufig etwa 24 ha Größe herumgeführt und dann
zur Interferenz gebracht werden. Bom Standpuntte der
Relativitätstheorie aus ergibt fi) dann ohne weiteres,
dap hierbei ein Gangunterfchied der beiden Strahlen auf-
treten muß, weil der eine in jeinem Umlaufsfinn mit
dem Drehungsiinn der Erde um ihre eigene Adje über-
einftimmt, der andere. demfelben entgegengeht. Man
muh auf dieje Weife m. a. W. die Erdrotation
ganz ebenfo auf optifhem Wege feft-
ttellen fönnen, wie man fie durd den
Voucaultfden PBendelverfuh oder die
anderen befannten Berfuhe auf mechaniſchem
Wege feititellt. Für die Nelativitätstheorie macht
es von vornherein feinen Unterfchied, ob es fih dabei
um medanifche oder optiſche Mittel handelt, jedoch ift
bisher niemals ein derartiger Verſuch mit rein optifchen
Mitteln angeftellt worden. Sehr viel ſchwieriger ift vom
entirelativiftifchen Standpunkte aus zu fagen, was em:
treten muß. Die Gegner Einſteins erflären den negati-
ven Ausfall des erften Michelſowerſuchs bekanntlich
durch die Annahme, daß der Aether in der unmittelbaren
Umgebung der Erde in Bezug auf diefe fih in Ruhe be:
finde, weil er ähnlich wie das Waffer in der unmittel-
baren Nachbarſchaft einer m ihm bewegten Kugel von
der Erde mitgeführt werde. Den Einwand, dab der
Fizeauſche Strömungsverfud gegen eine folde Mit:
führung dur) die Qufthülle fpreche, ſchneiden fie durd
den Hinweis darauf ab, daß die Erde vermöge ihrer
außerordentlich viel größeren Maffe ganz anders auf den
Aether wirfe, als das geringe Luft: oder Waſſervolumen
bei Fizeaus Verſuch. Wenn man fi) nun auf den Boden
diefer Hypotheſe ftellt, fo follte der neue Verſuch eigent-
lid) ebenſo wie der alte ein negatives Ergebnis zeigen.
Er gab aber das von der Relativitäts-
theorie vorausgefagte Ergebnis, der
Gangunterfhied ift tätfählih genau fo
groß, wie er fih aus der VBorftellung
eines „optifden Foucaultpendels“ be-
rechnet. Diefes Refultat zwingt die Anhänger der
Aethertheorie, dem Lichtftrahl Trägheit in dem Betrage
zuaujchreiben, den er auh nad) der Relativitätstheorie
hat. Da aber nah der Uethertheorie der Lichtſtrahl ja
weiter nichts als ein Zuftand im Aether ift, fo tann eine
ſolche Forderung natürlid nur den Sinn haben, daß der
letere felber Trägheit befigen muß. Man darf darauf
geſpannt fein, wie fih die Anhänger der Uethertheorie
3u dieſen Ergebniffen ftellen werden. Daß diefelbe damit
ganz widerlegt fei, wie Runge in feinem Referat in
den Naturmwiflenihaften Nr. 20 anzunehmen fdeint,
möchte ich nicht behaupten. Aber natürlich vergrößert der
neue Berfuh die Beweistraft der Relativitätstheorie,
weil diefe ohne jede bejondere Hypotheſe das Ergebnis
liefert, während die Aethertheorie erft wieder befondere
Erflärungen benötigt.
179
In Nr. 21 der Naturwiffenicaften finden wir einen
Auffaß von Thirring, der eine Reihe weitverbreite-
ter mißverftändlider Einwände gegen
die Relativitätstheorie in fehr Mlarer Weile
zurechtſtellt. Es handelt fi befonders um die immer
wieder zu findende Behauptung, die Aberration beweiſe
trog allem, was Einſtein fagen möge, die abfolute Be-
wegung der Erbe um die Sonne, niht der Sonne um
die Erde, was doch nad der Relativitätstheorie damit
gleichwertig fein müſſe. Thirring zeigt, daß der Fehi-
ſchluß in der Nichtberückſichtigung des Koordinaten-
inftems der Firfterne liegt, welches praftiich als Inertial-
ſyſtem zu gelten hat.
Einen febr tief ſchürfenden Aufſatz bietet der deutjche
Phyſiker Mie in der neuen internationalen Zeitichrift
„Scientia”. Er behandelt „das Problem der Materie
und die Relativitätstheorie”. Der Grundgedante ift der,
daß das neue phyſikaliſche Weltbild, das die gefamte
Welt zu einer untrennbaren Einheit zuſammenſchweiße,
in einem gewilfen inneren Gegenjat gegen das ftreng
atomiſtiſche und rein rationalitifhe der Newton:
Laplaceſchen Zeit ſtehe. Diefer Umſchwung in der Phyſik
gehe parallel einem allgemeinen Umſchwung im geilti:
gen Leben. „Die Menichheit hat die Gedanten des
Nationalismus fertig durchgedacht, und jebt beginnen
auf einmal Probleme, welche ihm fremd find, und welde
die vergangene Epoche der Geiſtesgeſchichte garnicht be-
merft hatte, vor unferen Augen aufzutauden ... Schon
zeigt fih ein neues Gedantenbild, das Bild einer großen
Einheit von wunderbarer Harmonie, zugleich fähig eines
ungeheuren Reihtums in ihren Erfdeinungsformen.“
Solde Worte eines der führenden Phyfiter unferer Zeit
verdienen es wohl, allgemein beadytet zu werden, zumal
wenn fie als Zeichen deutſchen Beiltes in einer inter:
nationalen Zeitfchrift ftehen. Man hüte fi nur vor dem
Mipveritändnis, als ob die neuen Probleme, von denen
Mie fpridt, und die jenfeits des Nationalismus nad
feiner (und aud) meiner) Meinung liegen, mit Erfolg
und mit gutem Redt beadert werden könnten von
folden, weldye die „Gedanken des Rationalismus” nod
teineswegs „fertig durchgedacht“ Haben, fih aber die
Mühe diefes Durchdenkens fparen zu können glauben,
weil der Nationalismus jene Probleme ja doch nicht
löfen könne. So meint es Mie gewiß nidt.
Rutherford hatte vor einigen Jahren bei feinen
Atomzertrümmerungsverjuhen Strahlen beobadhtet, aus
deren Reichweite er jchloß, daß fie aus einer Modifita-
tion des Heliums mit dem Atomgewicht 3 beitänden.
Er Hatte diefe Teilchen Xs genannt. Zwei andere eng:
liide Phyſiker Bates und Rogers Hatten dann bei
ühnlihen Verſuchen Teildyen noch größerer Reidyweite
gefunden. Rutherford hat diefe Verſuche fortgefebt und
ijt nunmehr zu dem Ergebnis gefommen, daß die frag:
lichen Teilen mit den Reichweiten 9,3 und 11,2 cm
a:Teildyen von der Maffe 4 d. h. aljo Heliumkerne) find,
die vermutlich bei einem nod nicht näher unterfuchten
Zerfall des Ra C entitehen. (Phil. Mag. 48, 509;
Phyſ. Ber. 10, 703).
Die hier in Rede ſtehenden Atomjtoßverfuhe find aud
von anderen Forſchern nad) anderen Geſichtspunkten hin
näher durchgeführt worden. Bon den auf eine Metall-
folie (Al oder Mg) auftreffenden a-Teilden wird ein
180
Teil nad) den Seiten „geltreut”. Die relative Anzahl
der in verfchiedenen Winkelbereichen abgelentten Strah-
len läßt fi) berechnen, wenn man annimmt, daß die
fliegenden a⸗Teilchen dur; den pofitiven Atomtern ab-
gelenft werden, und für diefe Beredmung dabei zunächſt
das gemwöhnlide Coulombſche Abſtoßungsgeſetz 3u-
grundelegt. Die jo berechneten Brud'eile für die ein-
zelnen Winkelräume ftimmen aber, wie Erperimente von
Bieler (Proc. Roy. Soe. 105, 434; Phyſ. Ber. 9,
620) ergeben haben, nit mit der Erfahrung überein,
und B. hat deshalb, wie auh andere Autoren, die
Hnpothefe gemadt, daß bei großer Annäberung an den
Atomkern das Coulombſche Geſetz (umgefehrte Propor-
tionalität der Kraft mit dem Quadrat der Entfernung)
nicht mehr ftimme, vielmehr bei fehr kleiner Entfernung
eine Anziehungstraft bemerkbar werde, die etwa mit
1/r* proportional fei. "Bei diefer Annahme würden fi
Abftoßung und Anziehung in einer beftimmten Ent:
fernung vom Kern gerade aufheben. Diele Erklärung
wird jedoch neuerdings von H. Betterfon - Wien
beitritten, der durch VBerfuche ermittelt zu haben glaubt.
daß die a-Teildhen tetlweife in den getroffenen Atomen
ſtecken bleiben (Sitgsber. der Wiener Atad. 4. 12. 1924;
Nw. 19, 420).
‘Die außerordentlich) bemerfenswerte neue Theorie von
Bohr, Aramers und Slater (diefe Umſchau Nr 10,
1924), wonach fogar der Energiefa nur. noh die Be-
deutung eines ſtatiſtiſchen Durchſchnittsgeſetzes haben
jolle, ift von Bothe und Geiger in einer gründ-
lien erperimentellen Unterfuhung des „Gompton-
ejlefts“, der den Anlaß zu der neuen Theorie gegeben
hat, nadygeprüft worden. Der Comptoneffekt beiteht in
folgendem: Trifft ein Bündel Röntgenftrahlen auf
materielle Atome, etwa Wafferftoff, jo wird ein Teil
derjelben unter Abänderung der Wellenlänge „zerftreut”,
der Borgang ift der gewöhnlichen Fluoreszenz ganz
analog, es wird Strahlung höherer Schwingungszahl in
jolde niederer umgewandelt. Hierbei wurde nun aber
von C. gleichzeitig das Auftreten von frei gewordenen
Eleftronen beobadtet und feine Meflungen ergaben,
daß die Energie diefer fog. „Rüdftoßeleftronen” genau
glei der Differenz h . m — h nz ift, unter ni und nz
die Schwingungszahlen der auftreffenden und der ge-
ftreuten Wellen verſtanden; h ift das Planckſche Quan:
tum. Das bedeutet aber, daß die Energie des ausgelöften
Elektrons gerade gleich dem in Energiequanten ge:
meſſenen Energieverluft der PBrimärjtrahlung ift, woraus
Œ. und Debye folgerten, daß die Strahlungsenergie
geradezu wie die Energie fliegender Korpusteln den Ge-
jegen des elaſtiſchen Stopes unterliege. Dieje auber-
ordentlidy zugunften einer ftreng quantenmäßigen Phyſik
ſprechenden Folgerungen vermeidet nun die neue Bohr-
Kramers-Slaterſche Theorie, allerdings um den Preis
des nid minder revolutionären Aufgebens der eraften
Giltigteit des Energiefaßes Hiernach wird man er:
mefjen, welde grundfäßliche Bedeutung allen erperi-
mentellen Entſcheidungen zwiſchen diefen Theorien zu:
fommt. Die alte (Compton-Debyeſche) und die neue
Theorie unterfcheiden fi nun in einer ziemlich leicht
erperimentell nadzuprüfenden Folgerung. Nach E.-D.
muß bei jedem derart erfolgenden „Stok“ zugleid
ein Wellenftrahl der verringerten Schwingungszahl
Naturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifche Amſchau
ſchon länger weiß, m einer
— —
u n d ein Rückſtoßelektron auftreten, nach Bohr-Kramers⸗
Slater dagegen muß nur im Durchſchnitt auf längere
Zeit berechnet die Anzahl beider die gleiche fein. Darauf-
hin prüften nun Bothe und Geiger mit Hilfe einer
finnreid) erdachten Vorrichtung, wie oft dieje Koinzidenz
tatjächlich eintritt. Ohme auf die Einzelheiten einzugehen,
jei nur das Ergebnis angegeben: das Zufammentreffen
war — tei Berüdijichtigung der unvermeidlichen Fehler-
auellen — jo häufig zu beobachlen, daß die Entſcheidung
3uguniten der Compton-Debreihen Auffafiung und
gegen die neue Theorie ausfällt. (Näheres in den vor-
läufigen Bericht der beiden Forjcher. Nalurw. 20, 441
und der dort in Ausſicht geftellten Arbeit in der
Phyſ. Zeitſchrift.)
Nach dem vom periodiſchen ESyſtem geforderten
Element Nr. 43, einem höheren Gegenſtück des
Mangans, Haben Bofanguet und Keely (Phil
Mag. 48, 145; Phyſ. Ber. 9, 606) vergeblich 17 Man-
ganerze und »Präparate mit Hilfe der Röntgenfpeftro:
ſtopie durchſucht, die im Falle des Hafniums zu einem
fo raſchen Erfolge geführt hat.
Das Weſen der Blaufäurevergiftung beiteht, wie man
„negativ katalytiihen“
Wirkung, d. h. die Blaufäure bringt gewifle dyemifche
Reaktionen zum Stillftand, die zur Erijtenz des Organis-
mus unbedingt notwendig find, in erfter Linie die
Atmung. Nach Unterfuhungen von Warburg und
Toda (Naturw. 20, 442) im Kaifer Wilhelm Institut
für Biologie fcheint es nunmehr erwiefen zu fein, Daß
in allen bisher unterfudhten Fällen das Eifen als
Katalyfator für diz betr. Reaktionen dient (bei der
Atmung das Eifen des roten Blutfarbitoffs). Diejes
Eiſen, das nur in winzigen Mengen anweſend zu fein
Fraudt, um die Rerttion zu ermöglichen, wird durch
die Blaufäure in eine unlöslihe Verbindung (Berliner:
blau) verwandelt.
Das Grundproblem der Lufteleffrifität behandelt
Benndorf in einem Aufſatz in der Phyſ. Zeitſchrift
26, 81 (Phyſ. Ber. 9, 616). Es befteht in der Frage,
woher der dauernde negative Leitungs-
Strom inder Atmoſphäre von der Erde hinweg
zur fog. Stratojphä 2 fommt. Benndorf findet, daß von
allen bisher diskutier.en Möglichkeiten nur die Annahme
einer Ladungszufuhr durch kosmiſche negative (Katho-
den) Strahlung in Betradht fommt. Er nimmt an, daß
es fih um Strahlen fehr großer Geſchwindigkeit und
demzufolge auh Durddringungsfähigfeit handele, Die
vielleicht von primär auf die oberen Teile der Atmo-
Iphäre auftreffender y-Strahlung (Röntgenjtrahlung febr
furzer Wellenlänge) erzeugt würde.
Auf der anderen Seite haben neue Meſſungen von
Wigand erwieien, daß der in der Atmoiphäre vor:
handene Radiumemanationgehalt niht aus dem Welt-
raum, jondern von der Erde her ſtammt, da verfelbe
rad) unten hin in dem hiernach zu erwartenden Maße
zunimmt. (Phyſ. ZS. 25, 684; Phyſ. Ber. 10, 702).
Im Jahrbuch für drahtloſe Telegraphie 25, 56 distu-
tiert F. Aigner die Frage der Möglichkeil eines elet-
triihen Fernfehers. Er fommt zu dem Ergebnis, daß
mwerigitens auf dem bisher allein als möglich erſcheinen⸗
den Wege einer Zerlegung des Gefehenen im einzelne
>
181
fleinere Bildpunkte das Problem nicht
lösbar ift.
b) Organiſche Naturwiſſenſchaften.
Unter der Bezeichnung „Allelogeneſis“ ſtellt X.
Labbe im Maiheft der „Scientia“ eine neue Baria-
tionstheorie auf. Diefelbe gründet fih auf Verſuche
mit den Eiern von Ruderfüßlern, aus welchen durd) ge:
ifeigerten Salzgehalt des Waflers neue Arten hervor:
gerufen werden fonnten. So will Labbé aus den Eiern
des Ruderfüßlers Canthocamptus minutus vier neue
Arten erziett haben, deren Eigenschaften ſich nicht auf
die der Stammesart zurüdführen ließen und an die
Nachkommen vererbt wurden. Als Urſache diefer Ba-
riationen betradtet Q. den followalen Vorgang des
Ausgleidyes zwiſchen der Konzentration von Wafferftoff:
ionen innerhalb und außerhalb des Organismus. Da:
mit erhalten beide, Lebeweien und Umwelt, entidei:
denden Anteil an der Schaffimg neuer Arten. Die
Aenderung der Umgebung erzeugt die „Möglichkeit der
Variation“, der Organismus aber behält das Vorrecht,
dic Art und Weile derfelben, ſowohl nad) Quantität
wie Qualität, zu beftimmen. Der Beitimmungsfaftor
in ihm darf dann aber auh nicht als irgend ein ge:
beimnispoller Erbfompier gelten, jondern die „totale
Potentialität”, von welder jene Beltimmung ausgeht,
befriedigend
‘ift wieder nichts anderes als eine beitimmte Konzentra:
tion von Wafleritoffionen mnerhalb des Organismus,
welde m Uebereinftimmung mit der Durdjläffigkeit feiner
Zellen Steht. Daß diefe, allzu fehr auf die Verſuchs—
ergebniffe zugefchnittene Theorie in diefer Form nur
einen febr beſchränkten Anwendungsbereich bejitt, liegt
auf der Hand.
In dem folgenden Heft der gleichen internationalen
Zeitſchrift trit W. Bechterem für eine „pathologiſche
Reflexologie“ anitelle der jetzigen „Pſychiatrie“ oder
„Pſychopathologie“ ein. Diefe Aenderung des Namens
foll auf eine reftlofe Hinmwendung der betreffenden Willen:
fchaft zu einer rein objeffiven Unterſuchungsmethode
unter Ausſchluß jeglider Selbſtbeobachtung Hinweijen.
Es foll dann in ihr aud) niht mehr von „Geiftestrant-
heiten“ geſprochen werden, fondern nur nod von „Krant:
beiten der Perjönlichteit”, weldye fidh in ihren anormalen
Beziehungen zur Umgebung üußeın. Damit tommen
zugleich alle Begriffe wie „Störungen der Empfin:
Dungs- oder Vorftellungstätigfeit, des Willens oder Ge-
Dächtrriffes, der Wöeenverbindung oder der moraliſchen
Gefühle” in Wegfall. Unterfucht werden ausſchließlich
die objettiv ſich darftellenden Beziehungen der Perfön:
Lichheit zu ihrer Umgebung, welde fih ausdrüden in
Sprade, Mimik, bewußten und unbewußten Bewegun:
gen bis hin zu den einfaden Refleren. Zu den Grund-
lagen diefer Erfcheinungen follen dann biochemiſche
Unterfuchungen vordringen, da nah Bechterews Anſicht
die Urſache der „Perſönlichkeitskrankheiten“ hauptfäd:
fich im Störungen der SHormonentätigfeit innerhalb des
Organismus (des „Hormonismus“) liegt. Auf diefem
Wege glaubt B. alles „Metaphyſiſche“ aus feiner Wiffen-
ſchaft herauslöfen zu fünnen. Jedenfalls muß feine Ub-
grenzung zur reinliden Scheidung der Geſichtspunkte
auch dem wertvoll fein, der die Ueberzeugung heat, daß
man auf dieſem Wege objektiver Unterſuchung doch nicht
alurwiſſenſchaftliche und _naturphilofophifhe Umfhau.
in die lebten Rätfel der gefunden oder franten Perfön-
liykeit eindringt.
Wie könnte man ohne Selbitbeobadhtung 3. B. Thon
in das Problem des Traumes eindringen, deffen Frucht⸗
barteit heute Doch bereits erwieſen ift? Zu dieſem
Problem bringt in derfelben Nummer der „Scientia”
ein Referat Ch. Baudouins über dıs Buch des cng-
liſchen Pſychologen H. R. Rivers „Konflitt und
Traum” neue Geſichtspunkte. R. bekämpft nämlidy die
Freudſche Traumtheorie der Wunfcerfüllung und pe-
zweifelt, daß überall, wo „jeruelle Symbole” auftreten,
aud ein erotiſcher Wunſchtomplex vorhanden ift. Nadh
jeiner Ueberzeugung ift der Traum viel mehr die Cr-
iheinung und — in gewiller Weile — Löfung emes
feeliihen Konfliktes als die Erfüllung foldyer geheimiten
Wünfde. Zu diefer Leiftung ift der Traum befonders
durd) jeine Affekttofigteit gegenüber gewillen Situationen
befähigt wie durch fein Hervorholen unbewußten Wij-
jens, das dabei jehr oft fi m kindlicher Form darftellt
und dadurd) dem Trauminhalt das bekannte infantile
Ausjehen verleiht. l
3u dem damit berührten Problem des Unbemußten
und feines Wiffensbefiges bieten neue Verſuche über
das Gedädtnis im wachen und fuggeitiven Zuftand,
über welde C. Qent! im Aprilheft der „Umſchau“ be:
vidiet, neues wichtiges Material. Diefe Verjuche zeigen
nämlich bei etwa gleichwertiger Aufnahmefähigleit des
Gedädhtnilfes in beiden Zuſtänden ein weit befleres
Haften des im Suggeltionszuftand eingeprägten Stoffes.
Die unter Suggeltion erlernten Silben, Worte und
Berje wurden viel leichter reproduziert als die im Wad:
zujtand erlernten. Cine völlig befriedigende Erklärung
d'eſer Erſcheinung ift wohl noch nicht zu geben, da der
gerade hier fo ſtark hervortretende Unterſchied zwiſchen
der Fähigkeit des Cinprügens und Behaltens die übliche
Zurüdführung übernormaler Leiſtungen im Suggeftions-
zuſtand auf eine verftärfte Konzentration an dieſer
Stelle jedenfalls als ungenügend erſcheinen läßt. Jwet:
fellos aber fpredyen derartige Werjuchsergebniffe ftart
gegen die materialiltiiche Deutung des Erinerungsver:
mögens für das Vorhandenfein überindividueller Kräfte
als der Träger des gedädjtnismäßig Aufbewahrten.
c) Naturphilofophie und MWeltanfhauung.
Im Maigeft der Moniftiihden Monatshefte findet fid
cre Auseinanderjegung zwiſchen Drews und dem be:
fannten Haedelihüler Prof. H. Schmidt -Iena, die
jo charakteriſtiſch iſt und fo viel unendlidy wertvolles
Material für den Weltanſchauungskampf bietet, daß ic)
alle Lefer bitte, wenn fie irgend fünnen, fih diefe Num:
mer zu verichaffen, und für Diejenigen, die dazu nicht in
der Lage find, hier wenigftens einige der widtigiten
Aeußerungen von Drews zum Abdrud bringe. Die Bor-
geſchichte dieſer Debatte ift die, daß Schmidt auf Ein:
ladung der Hamburger Ortsgruppe des D.M.B. einen
Vortrag über den „werdenden Gott” gehalten hatte,
worin er entwidelte, daß diefer werdende Gott die ee
der fih zu immer größerer Bolltommenbeit entwidelnden
Welt fei. Einen Gott als Grund der Welt anzunehmen,
jei deshalb widerfinnig, weil diefe Welt offenbar unvoll—
kommen fei, es widerfpredje aber dem Begriffe Gottes,
daß er unvolllommen fei. Drews zeigt nun zuerft, daß
bier ein Fehlſchluß vorliegt, daß man die Prädifate
182
„Vollkommenheit“ oder „Unvollkommenheit“ nur von
endlihen Teilen der Welt ausfagen können. Gott fei
nicht der „Inbegriff aller Vollkommenheiten“, fondern
der fie fegende und: beitimmende Grund, welcher madıt,
daß es (im Endliden) Vollkommenes gibt oder dod,
daß alles Endliche der Bervolltommnung zuftrebt. „Ein
polltommener Gott, dem nichts mangelte, der mithin
aud ein volles zuftändlides Genüge hätte, würde als
folder gar teine Veranlaffung haben, die Welt ins Da-
fein zu rufen“ „Die Unvollkommenheit der Welt,
weit entfernt, gegen das Dafein Gottes zu zeugen, bildet
vielmehr gerade die Beranlaflung zur Annahme eines
Gottes, nämlid um die Mglichkeit einer Bervoll:
fommnung der Welt zu begründen“ Drews zeigt dann
weiter, wie der übliche entwidlungsfelige Optimismus
des darwiniſtiſchen Monismus fih felber widerfpricht,
menn er m einem Atem von Entwidlung ſpricht, aber
den Zwed aus der Betradhtung der Natur ausschließt.“
„Ein zwedlofes Geſchehen ift ja gar fein Prozeß, fon:
dern ein finnlofes Screiten in der Treimühle, bei
melhem jeder Schritt glei” wertlos und bedeutungslos
ft.” ... „Es ift unveritändlid, wie der Zweckge—
dante bei einem bejtimmten höheren Zuftande der Natur
jollte entjtehen können, wenn er nicht {hon in der Natur
als folher irgendwie enthalten wäre.” Wer wie Schmidt
den ganzen Naturprozeß als einen Entwidlungsprozeh
enjieht, der bejchreibt ihn damit als Ywedvorgang und
jegt eo ipso den Geilt als beherrſchendes Prinzip des
Naturgejchehens, die Materie als bloßes Mittel dazu.
Wenn er dann aber fih zu materialiftiichen Sägen be:
tenmt, jo ift das ein Selbſtwiderſpruch, oder man verlegt
eben einfach in die Materie, aus der fih der Geiſt ent-
wideln fol, hinein, was nachher heraustommen foll.
„Wir (Drews meint die idealiftifhen Moriften) wollen
(dagegen) wilfen, wie die Materie, das bloße Spiel
phyſikochemiſcher Vorgänge, fi) zum Geiſt entmwideln
und den Begriff des Zwecks aus fih hervortreiben tann,
der ihrem ganzen fonjtigen Wefen und Verhalten ent-
gegengejegt ift. Wir vermögen uns nicht vorzuftellen,
mie der Mechanismus des natürlichen Geſchehens ...
fih als Leben äußern, Bewußtſein erzeugen, und im
Menſchen den Zwedgedanten faffen und in den Dienft
der MWeltvervolltommnung ftellen fann, wenn diefe
nicht .. . im Wefen des materiellen Dafeins felber
angelegt find: das ift aber nur in idealer Weile möglid,
namlid fo, daß die Materie nur ein vom unbewußten
Geift (bier ift Drews Hartmannianer) gefegtes Mittel
ijt, um den bewußten Geift bervorzubringen.“ .....
„Der Atheiſt widerjpricht fih jelbit, wenn er in feinen
weltanſchaulichen Vorausſetzungen die Bedingungen
Icugnet, ohne welde von Entwidlung und Vervoll:
fommnung überhaupt feine Rede fein tann “
„Alle Atheilten ſtimmen darin überein, für ihre Leug-
nung eines Gottes einen Erfaß in dem Glauben en die
Entwidlung . . . 3u ſuchen. Diejer Glaube aber jdywebt
völlig in der Luft ohne die Borausjekung eines Zwede
ſetzenden, alfo geijtigen und jene Zwecke mit Hilfe der
Individuen verwirklichenden abfoluten Wefens, d. D.
Gottes. Der folgeridytig durchdachte Atheismus müßte
polltommener Miferabilismus, die gänzliche Ber-
3weiflung am Sinn und Wert des Dafeins fein.” ...
„Haedels Kunftformen der Natur find die Ihlagenöfte
ſätzlicher Stellimgnahme verwecdfeln!) . .
_Raturwiffenfehaftliche nud_naturphitofophifche Umſchau—
Widerlegung feines Atheismus” „Ertenntnis der
Wirklichleit ift (wie überhaupt das Ideal des Wahren,
@uten und Schönen) nur unter der Vorausſetzung ihrer
vernünftigen Beitimmtheit möglich. Der Glaube an die
Vernunft der Wirklichkeit, das ift aber der Gottes-
glaube” .. . . „Der Unglaube des Atheilten bezieht fidh
hiernach gar nicht ſowohl auf Gott überhaupt, als viel-
mehr nur auf eine einjeitige und unzulänglidde Gottes-
auffaffung wie etwa diejenige des Theismus“ (hier wird
Drews für unfere Auffaffung ungeredht, denn der
Theismus des Chriftentums ift gar niht das Zerrbild,
als das er ihm erfcheint. Was er jelber von Schmidt Hier
. verlangt, follte er auch dem Chriſtentum zubilligen: nicht
unzulänglide empiriſche Erjcdyeinungsform mit grund-
„Ale Leug⸗
nung Gottes richtet ſich doch eben ſchließlich nur gegen
eine als unhaltbar empfundene Auffaffung des leg-
teren. Die Annahme eines Gottes als des abjoluten
Grundes und geiltigen Weſens der Welt jedod, des
Allgeijtes, zu dem fih die Welt... . als der Gottheit
lebendiges Kleid verhält, widerſpricht der Wiflenichaft
und Wirklichkeit nicht nur nidyt, fonden madt die
erjtere vielmehr erft methodiſch möglich und verleiht
der le&teren eine Bedeutung, die ebenfo den Berftand
wie das Gemüt befriedigt, die Teilnahme des Men-
[den an der Welt erhöht, fein Berantwortlichleitsge- -
fühl ſchärft und ihm den einzig zwingenden Beweg-
grund liefert, um fih freudig und opferwillig der Mit-
arbeit am Weltprozeſſe zu widmen“. Im folgenden
jegt fih Dr. noh mit dem Einwand auseinander, Kant
habe alle Gottesbeweile unwiderruflich zunichte ge-
madt, und zeigt zum Schluß, daß der Schmidtſche
„werdende Gott” eine bloße Redensart fei, mit der
weder philoſophiſch nod religiös etwas anzufangen fei.
Auf Schmidts ausführlihe Erwiderung einzugehen ift
nit der Mühe wert. Der Grundgedante ift der üb-
lie: alles Heil fommt von der wiſſenſchaftlichen Ber-
volltlommnung, fiehe 3. B. Peitferum, Blibableiter,
Steinachs Verjüngung uſw. Hiermit glaubt Schm.
Drews Theſe entkräften zu können, dab die Welt nie-
mals volllommen fein werde, jener „werdende Gott“
aljo eine bloße Utopie fei. Es liegt fpeziell mir, wie
die Lefer meines Auffaes über das Weltübel gemerkt
haben werden, nichts ferner als die Verachtung jener
von Schmidt gepriefenen Aulturfortigritte. Ich ftimme
ihm darin durdaus bei, daß das landläufige Chriften-
tum dazu ein ganz faljches Verhältnis hat. Aber fein
an der Oberfläche haftender Blid fieht eben die meta-
phyſiſchen Tiefen gar nidt, die hinter der Tatſache als
folder fteden, Daß es einerfeits foldes Uebel in ber
Welt, andererfeits aber daneben das Streben und den
Wunſch es zu beieitigen, überhaupt gibt. Er Hält ſolche
Probleme einfach für „blauen Dunst“, jede dahin zie-
lende Betradtung für „metaphyfitverfeuht” und „des⸗
infeftionsbedürftig” und ergeht ſich in den heftigiten
und gehäffigiten Ausfällen gegen Drews, der, mag
man 3u feinen einzelnen Ergebniflen ftehen wie man
will, immerhin ein fehr tiefer Denter und zur Zeit die
einzige im Moniltenbunde noh vorhandene, wirkliche
geiftige Größe ift (nachdem au Verweyen, wie
es ſcheint, nunmehr hinausgeefelt worden ift). Im
einem Punkte Hat Schmidt darum freilid m. €. Redt:
Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umſchau
Ein jolder Mann wie Drews gehört nicht in den
Deutiden Moniftendbund. Was er jagt, könnte gut
in „Unfere Welt“ ftehen (von einigen Punkten abge:
gejehen), paßt aber in den heutigen Tenor der Mo-
niftiiden Monatshefte wie — — ja, wie fagi man’s
Farlamentarifdy?
Welder eift dort heute berricht, Davon mal wieder
eine fleine Stichprobe: In einem Auffa „Kreuz und
quer durch den Kulturfampf”, der fich mit den neuer:
dings von katholiſcher Seite in Bayern, Oeſterreich und
anderswo erhobenen jdyweren "Bedenken : gegen die
Yuswüdje moderner Körperkultur befaßt und der in
zyniſcher Meile alle dieje Beitrebungen ledigli ins
Lächerliche zieht, findet ji in den einleitenden Ab-
icynitten folgender Paſſus:
„Bott denkt und der Menſch lenkt. Dem Menſchen
ijt es heute mehr denn je um die Erhaltung feines
jündhaften Lebens zu tun und nicht um die Befolgung
des göttliden Gebots der Keujchheit, und insbejondere
die rau, dieſes Gefäß der Sünde, juht mit allen
Sineften der Mode den Mann vom Pfade der Tugend
abzulenten ... Es ift wirklid jchwer für den lieben
Gott, die Befolgung feiner Gebote durchzuſetzen; feine
Allmacht jcheitert an dem neumodifchen Klimbim. Kino,
Bar und Radio treiben erfolgreihe Schmutzkonkurrenz,
gegen welche die Baldadjinherrlichleiten der Kirche
verblaflen, das Kokain hat die Nachfrage nah Weih-
raud) erheblich vermindert, und die modernen Deteftiv-
und Abenteurergeſchichten haben die gejammelten
Werte von Jehovah vom Büchermarkte nahezu ver-
drängt.” In diefem Stil geht es weiter. Ih mill
mid damit Beineswegs zum Anwalt aller der ange:
griffenen Kundgebungen gegen die Auswüchſe der
Körpertultur maden, glaube vielmehr, daß in der
Reattion gegen die zu weit getriebene Prüderie früherer
Zeiten ein jehr guter Kern Itedt, und daB abusus non
tollit usum, aber wer in diefer Weife über Die
ihlimmiten Schäden der Gegenwart witeln tann, wem
jelbft die Kokainfeudhe und die Schundliteratur redt
ijt, wenn fie nur dem verhaßten Glauben Abbruch tun,
der foll uns nicht mehr mit verlogenen Tiraden auf:
Ipielen, wenn er, wie im {alle der Altoholfrage, zu-
fällig an dieſer Stelle dem ebenjo gehaßten Kapitalis-
mus eins auswilchen tann. In den Moniſtiſchen Mo-
natsheften findet fi faft in jeder Nummer etwas
Dabinzielendes. und es ift ja an fih febr erfreulich,
daß ganz allgemein in der „proletarifchen” Bewegung
eıne fo Starte antialtoholifde Strömung anzutreffen
ift. Wenn aber die Scdriftleitung der Moniftifchen
Monatshefte neben folgen begrüßungswerten Zielen
derartige Unflätigleiten wie die zitierte aufnimmt, fo
legt fie fih dem Vorwurf aus, daß ihr auch die höch—
ften fittliden Güter anfcheinend nur Mittel zum Zwet
der politifhen und antireligiöfen Verhetzung find, daß
ïe mit der fittlien Forderung geht, wenn das in
ihren Kram paßt (weil leider, wie männiglid) befannt,
die Altoho.fiut aus kapitaliſtiſchen Quelen ftammt),
dah fie aber ebenfo leicht fih über alle fittlidyen Forde-
rungen hohnlächelnd hinwegfegen tann, wenn das ge:
rade befjer austommt. Noch einmal fei es gejagt: ich will
hiermit nicht ohne weiteres für alles von dem Verfaſſer
jenes Schmutzartikels Ungegriffene eingetreten fein. Die
orage einer neuen Einftellung der Religion
u
oder wenn man lieber will: der religiö—
fen Gemeinſchaften zu den beredtigten
dorderungen aud des Körpers bedarf viel-
mehr febr ernitlidder Erörterung. Ich habe in Italien am
eigenen Leibe erfahren, wohin die von der Kirde viel-
fach gezücdhtete zu weit gehende Prüderie führt. Meine
fonit jo guten und lieben Pflegerinnen dort hielten
iih für verpflichtet, fiġd abzuwenden, wenn id) eine
Sprige in den Arm, geichweige denn ins Bein friegte
Der Würter mußte heran, damit das ſittliche Gefühl
nicht verlegt würde. Jn Deutichland ift fo etwas wohl
auch in katholiſchen Krantenhäufern unmöglid), aber
es ift doh wohl niht abzuftreiten, daß niht die Bolts:
art allein, fondern auh die kirchliche Erziehung ſchuld
an folden Auswüchſen ift. Alfo reformbedürftig ift
ba [don etwas. Aber das einfehen und mit Ernſt und
Tatt erörtern, ift etwas anderes als den Libertinismus
durch literariſche Sudeleien verherrlichen.
d) Berichiedenes.
Klimatologiide Tagung in Davos.
In der Zeit vom 17. bis 22. Auguft veranitaltet das
smftitut für Hochgebirgsphyfiologie und Tuberktulofe:
forſchung in Davos eine mit etwa 50 Vorträgen aus:
geitattete Tagung über den Einfluß des Höhenklimas
auf die Lebensfunktionen. Führende Gelehrte aus
allen umliegenden Ländern werden über die in diefer
Trageftellung enthaltenen Cinzelprobleme ſprechen,
über welde de nadjitehende Einteilung wenigitens
einen furzen Meberblid gewährt. Die Vorträge um:
fallen folgende Abteilungen:
1) Allgemeines;
2) Phyfitalifch-meteorologifhe Abteilung;
3) Biologiſche Abteilung:
a) Phyſiologie, b) Botanit;
4) Kliniſche Abteilung.
Teilnehmerfarte: rs. 20.—, mbegriffen die Kon-
greßverhandlungen. De Kongreßteilnehmer
genießen eine Reihe von Bergünftigungen (Er:
aß der Bijumfpeien, erheblide Ermäßigung der Fahr:
taren, — auf den Bünönerbahnen halbe Preiſe —).
Günftige Untertunftsverhältnifle (drei Kategorien: Frs.
10.—, 12.— und 15.— bei voller Penfion). nmel:
dungen an das Inſtitut für Hochgebirgs-Phyſiologie
und Tuberkulofeforfhung in Davos.
Wir empfehlen unferen Leſern dringlich dieſe
Tagung von fo weitreichender willenjdhaftlider und
praftiicher Bedeutung.
- Einladung zur 4. Apologetiſchen Fachtonferenz vom
14.—17. September 1925 in Blantenburg in Thüringen.
Vorausſichtliche Tagesordnung: „Der heutige Stand
der Naturwillenihaft und feine Bedeutung für das
Berhältnis von Naturwiſſenſchaft und Religion“
(Bıof. Hzering d. I. — Tübingen) „Die Verſenkungs—
itufen in Religion und Myſtik“ (Lie. Gruehn-Dorpat).
gerner: Die Bibelfrage, Die völkiſche Frage, Evan-
geliſche und katholiſche Apologetit, „Wie tommen wir
an den Wrbeiter beran?”
Anſchließend bis zum 20. September eine Konferenz
für Evangeliften. Beginn der Upologetentonferenz; am
14. September, abends 8 Uhr.
Anmeldungen erbeten an die Apologetiſche Zenirile,
Berlin Dahlem, Alteniteinitraße 51.
Der Werdegang der Entdedungen und Erfindungen.
Unter bejonderer Berüdfihtigung der Sammlungen des
Deutſchen Mufeums und ähnlicher wiſſenſchaftlich-tech—
niicher Anitalten, herausgegeben von Friedr. Dan ne-
mann. (Berlag R. Oldenbourg, Münden - Berlin.
1922.) Bon der Sammlung „Der Werdegang der Ent- -
dedungen und Erfindungen“, die der bekannte Hijtorifer
der Naturwiſſenſchaften Dr. Fr. Dannemann herousgibt,
liegen nunmehr vier Hefte vor. Jn dem eriten vom
Herausgeber jelbjt bearbeiteten Heft „Die Anfänge
dererperimentellen Forſchung und ihre
Ausbreitung“ führt uns Dannemann in wllge:
mein verftändlicher Darjtellung in die Gedanfenweit und
in das Schaffen der Väter der Erperimentalphyjit ein:
Galileis und feiner Schüler, William Gilberts und Dtto
ton Querides. Mit Recht betont der Verfaffer — und
das gilt für die ganze Sammlung —, daß das Studium
des Werdeganges der Wiſſenſchaften, das Eindringen in
die Arbeitöweife der großen Pfadfinder, denen wir die
Erkenntnis der Naturgejeße verdanten, uns vor der
Ueberſchätzung unjeres heutigen Willens bewahren wird.
— Jn Heft 5 gibt Dr. A. Bart einen klaren gedrängten
Veberblid über „Die Entwidlung der hemi-
ſchen Großindufjftrie (fünftlide Farbitoffe, Heil:
mittel, Sprengjtoffe ujw.). Das chemiſche Großgewerbe
ijt ein Kind des 19. Jahrhunderts; feine Wiege jtand
in Frankreich. Aber bei Gelegenheit der Weltausitel:
fung in Chicago im Jahre 1893 mußte der franzöftiche
Ausjtellungsleiter befennen, daß die deutſche chemiſche
Industrie im Begriffe fei, auf allen Gebieten dyemijcher
Erzeugung die erjte Stelle zu erobern. Den Gang der
Entwidlung der verjchiedenen Induftriezweige hat Dr.
Bart in großen Linien fejjelnd dargeitellt. — Bon der
„Entwidlung der Chemie zur Wiſſen—
ſchaft“ handelt Dr. W. Roth in Heft 9. Erit im
17. Jahrhundert fann man von einer felbjtändigen che-
miſchen Forſchung, die von wiſſenſchaftlichem Geiſte ge-
tragen iſt, ſprechen. Der Verfaſſer entrollt uns ein
farbenreihes Bild vom Fortſchreiten der Erkenntnis auf
dem Gebiete der Chemie. Wir erfahren, wie Qavoifier
die Bedeutung des Sauerjtoffes für den Verbrennungs=
prozeß erkannte, wie die auf Dalton zurüdgehende mo-
derne Atomtheorie fih entwidelte und erleben die An:
Fänge der Elektrochemie, jowie die von Liebig herbeige-
führte enge Verbindung zwifhen Wiſſenſchaft und
Praris. — Im 3. Heft der Sammlung hat Dr. Franz
Fuchs „Die eleftrifhden Strahlen und ihre
Anwendung (Röntgentehnit)“ behandelt und mit
großem Geſchick diefes niht ganz leichte Thema dem
Verftändnis des Laien nahegebradt. — Allen Heften
find Iehrreihe Abbildungen beigegeben, die zum Teil
Gegenjtände aus den reihen Beltänden des Deutſchen
Mufeums darjtellen. Die Sammlung eignet fih ganz
bejonders zu Boltsbildungszweden: die Hefte werden
jedem, der auf den Gebieten der Tednif, der Natur:
wiſſenſchaften und ihrer zahlreichen Anwendungen tätig
ifi oder fih auch nur dafür intereffiert, durch ihren gleidh-
zeitig feſſelnden und gediegenen Inhalt Anregung und
Belehrung bieten; ganz bejonders gilt das von dem Stu:
dDierenden, den reiferen Schülern jowie ftrebjamen Ar:
beitern. Ein ſolches Unternehmen fann aber nur durd
großzügige Unterftügung feitens der Behörden, der
Schulen und der Induftrie einen gedeihlihen Fortgang
nehmen. Bei Maffenbezug gewährt der erlag die
günftigiten Bezugsbedingungen.
Georg Simmel, „Fragmente und Aufſähe
Drei Masten -Berlag, Münden. 1923. (304 ©.)
Wenn aud die in diefem Buche enthaltenen Schriften
des Straßburger Philofophen bereits in Zeifſchriften
erihienen find (Logos Bd. 71—10, Deiterreichiiche Rund-
ſchau, Jahrgang 19, jo ift die Zujammenftellung diele:
Tagebuchblätter, Fragmente und Aufſätze („Weber die
Liebe“, „Der platonifcye und der moderne Eros“, „Die
hiſtoriſche Formung“, „Gefegmäßigfeit im KRunftwert“,
„Bur Philoſophie des Schauſpielers“, „Zum Problem
des Naturalismus“) überaus dankenswert; denn jie find
wertvolle Baufteine zu der Philojophie des Lebens, die
S. vorſchwebte. Mit der ihm eigenen eleganten Dar:
jtellungstunft, freifinnig und beredt, führt uns S. hier
an die höchiten Probleme heran. Eine leichte Lektüre
ijt das Budh gewiß nicht; e8 will erarbeitet fein. Kritiſch
zu Simmels Philofophie Stellung zu nehmen, müffen
wir uns im Rahmen einer Beſprechung natürlich Wr:
jagen; wir begnügen uns in diefem Zufammenhang
damit, — gleichzeitig als Koſtprobe —, eins der nad)
gelaffenen Tagebuchblätter ſelbſt zu bringen: „Id halle
es für durchaus bedauerlich, daß der moderne Menſch
feiner Lektüre gegenüber (man fönnte vielleicht jagen:
allen Runftwerten gegenüber) den kritiſchen Stand:
punft als den jelbjtverftändlich erjten und oft einzigen
einnimmt. Man jollte von einem Bud dankbar auf;
nehmen, was uns fördert, und an dem andern einfa
vorübergehen. Auf den Stuhl des Rihters jollte man
fih nur feßen, wenn e3 aus Gründen, die außerhalb
des unmittelbaren Verhältniffes von Bud und Leſet
liegen, nötig ift. Warum muß man durchaus immer e
„Urteil“ haben? — was, da urteilen feine leichte Sade
ift, vor allen Dingen zu abfpredenden, negierenden
Urteilen führt, die jedenfalls die leichteren find. M
übrigen hängt unfer ganzer Zug zum Xritifieren m!
der der Gegenwart gewohnten mechaniſchen Anſchau—
ungsweife zufammen, für die ein Ganzes nur eine Zu—
ſammenſetzung aus einzelnen Teilen iſt. Denn er pfleg
ſich auf Einzelheiten zu richten, die Einwände
gegen diefe werden zum Urteil über das Ganze; de
Vorausſetzung der gewöhnlichen Kritik iſt die allem
künſtleriſchen Weſen durchaus entgegengejeßte: daß de⸗
Ganze aus für fih beurteilbaren Teilen zuſammen—
gejeßt ift.” N.
*
9 e a ØO Internationale Zeitschrift für Wissenschaftliche Synthese
— Scienlia Erscheint alle Monate (jedes Heft 100 bis 120 Seiten)
| že Schriftleiter: Eugenio Rignano
ist die einzige Zeitschrift mit einer wahrhaft internationalen Mitarbeit.
| istf die einzige ZeifscHrifi die in der ganzen Welt verbreitet ist.
| ist die einzige Zeitschrift der Synthese und der Einigung der Kenntnisse, die von den Hauptfragen
i sämtlicher Wissenschaften: der Geschichte der Wissenschaften, Mathematik, Astronomie, Geologie, Physik, Chemie,
! Biologie, P-ychologie und Soziologie spricht.
ist die einzige Zeitschrift die mittelst Nachfragen unter den berühmtesten Gelehrten und Schriftstellern
sämtlicher Länder (Ueber die philosophischen Grundsäte der verschiedenen Wissenschaften; Ueber die grund-
legendsten astronomischen und physikalischen Fragen und besonders über die Relativitätstheorie; Ueber den Beitrag
den die verschiedenen Länder der Entwicklung der verschiedenen Hauptteile der Wissenschaft gegeben haben;
Ueber die bedeutendsten biologischen Fragen und besonders über die vitalistische Lehre; Ueber die soziale Frage:
Ueber die großen internationalen Fragen, die der Weltkrieg hervorgerufen hat) alle großen Probleme, die das lehr-
begierig: und geistige Milieu der ganzen Welt aufwühlt, studiert, und die zur selben Zeit den ersten Versuch der
internationalen Organisation der philosophischen und wissenschaftlichen Bewegung macht.
Ist die einzige Zeitschriff die sich rühmen kann unter ihren Mitarbeitern die berühmtesten Gelehrten
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Die Artikel werden in der Sprache ihrer Verfasser veröffentlicht und in jedem Heft befindet sich ein Supplement, das die
französische Uebersegung von allen nichtfranzösischen Artikeln enthält. Die Zeitschrift ist also auch denjenigen, die
nur die französische Sprache kennen, vollständig zugänglich. (Verlangen Sie vom Generalsekretär der „Scientia”
in Mailand ein Probeheft unentgeltlich, indem Sie nur um die Post und Speditionsspesen zu bezahlen 1 G.Mk. in
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ABONNEMENT: Deutschland G. Mk. 20.00 Die Bureaux der ..Scientia : Via A. Bertani, 14 - Mailand (26)
Generalsekretär der Bureaux der Redaktion: Dokt. Paolo Bonetti
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Herausgegeben vom Naturmifjenfchaftliden Verlag des Keplerbundes e. B. Detmold.
Boftichedtonto Nr. 45744, Hannover.
Scriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Aufiähe itehen die Derfaffer; ibre Aufnahme macht fie nicht zur Weuberung des Bundes.
XVI. Jahrgang
Auguft 1923
Heit 8
Vom Relativen zum Abfoluten. Von B. Bavink. (Søns) A
Doch wir müffen nun dies Gebiet der Aefthetit,
jo verlodend es ift, verlaflen und uns endlid dem
noch viel wichtigeren fittlichereligiöfen Gebiet zu-
wenden. Daß es hier leicht möglich ift, aus dem
Sachverhalt bezügl. der Wiſſenſchaft gewiſſe Ana-
fegıen herauszuholen, haben wir oben ſchon ge
feyen. Jn der Tat gilt, wenn irgendwo, dann
insbefondere für das Sittlihe, der Sag von ber
Mebereinanderordnung der Werte. Doh davon
wear ſchon vben die Rede. Nunmehr müffen wir
jedoch eine ganz neue, mit allem bisherigen nicht
vergleichbare Gedankenreihe ins Auge faflen.
Diefe ergibt fih aus dem Weſen des Neligiöfen
telber. — Man fann Religion befanntlidy geradezu
tefinieren als das Streben nah einem DBerbält-
nig zum. Abfoluten. Diefe Definition ift zwar
in wenig abftraft und blutleer, daß fie aber zum
mindeſten einen zutreffenden Kern enthält, wird
niemand beftreiten.. Wenn dies nun aber richtig
ift, dann liegt die Sache im Gebiete der Religion
von vornherein wefentlih anders — wenigſtens
ericheint es fo — wie in den anderen Gebieten.
Iſt Religion in irgend einem Sinne ein Haben
oter dodh Habenwollen des Abfoluten, fo erfcheint
folgende Alternative unentrinnbar: Entweder
dieſer Aniprub beftehbt zu Redt,
dann ift jeder Relativismus bier
tem Wefen der Sache nah unmög-
lid. Oder aber er beftept
su Redt, dann bat die Religion
überhaupt feine Eriftenzberedti-
gung. Jn beiden Fällen habendie-
jenigen Redt, die fagen: rela-
tive Wahrheit, Schönheit, ſelbſt
Sittlichkeit läßt fih ertragen,
relative Religion it ein Wider-
fprudb in fid. Die Religion fünnte es dann
nicht nur ertragen, daß dies andere alles dem
nicht;
Relativismus ausgeliefert würde, fie hätte
vielleihbt fogar ein Üntereffe
caran, dag zu tun, weil fie felber dadurch um fo
deutliher als der einzige wirflih zum Abfoluten
führende Weg anerfannt und Far herausgeftellt
roürde.
Daß beide Anſichten mit Eifer verfochten werden,
bedarf feines Beweiſes. Der moderne Monis-
mug” bekämpft die Religion grundſätzlich gerade.
deshalb, weil ſie jenen Anſpruch auf Abſolutheit
erhebt. Es iſt ſehr charakteriſtiſch, daß heute im
„Deutſchen Moniſtenbunde“ die poſitiviſtiſche Er-
kenntnistheorie durchaus die Führung hat. An-
dererſeits ſympatiſiert man in kirchlich religiöſen
Kreiſen ganz offen mit dem gleichen Poſitivismus
und Kritizismus, weil man hofft, dadurch die „nur
relative” übrige Kultur gebührend in die Schranken
zurückzuweiſen. Um nun bierin zur Klarheit zu
fommen, ift eg durdaus notwendig zuerft zu er-
lüutern, in wiefern jedenfalle auch auf dem Gebiete
ter Religion ein gewiffes Redt zu relativiftifcher
Betrachtungsweiſe befteht. Wir werden dann nad-
ber darzulegen haben, in wiefern weiterhin dabei
dodh der Charakter des religisfen Lebeng als eines
Habens des Abfoluten beftehen bleiben Fann.
Auch wenn die Religion tatfählih ein Haben
des Abfoluten fein folte, fo ift doh nicht zu ver-
fennen, daß fie uns durch Menſchen ver-
mittelt und in menſchlichen Şor-
men entgegengebradht wird. Man
fommt zur Religion niemals an-
ders als durch einen gefihidt-
lihen Zufammenbang, mag diefer fein
von welcher Art er immer wolle. Aud die großen
Propheten und Schriftfteller der Religion waren
Menſchen, und wenn der gläubige Chrift diefes
Prädikat felbft von. dem Stifter feiner Religion
nicht obne näheren Zuſatz ausfagen will, oder wenn
der Mohammedaner dem Propheten Mohammer,
der Buddhiſt dem Gautama Buddha ein Michtge-
hundenfein an die Schranken der Menfchlichkeit
zuſchreiben, fo fteht dod) das feft, daß die Urkunden,
die von diefen Stiftern handeln, die Gemein-
fdyaften, die das Zeugnis von ihnen weiter
tragen ufw., in vielfaher “Beziehung irren Fönnen
und geirrt haben. An diefer Stelle liegt nun eines
der fchwerften religisfen Probleme der Gegenwart.
Wie in fahliher Hinfiht das Problem des Uebels,
fo bildet in formaler Hinfiht das Problem
ber religiöfen Autorität den eigent-
lichen Kern unferer fo überaus verworrenen reli-
giofen Lage. ‘Beide greifen vielfady ineinander,
und wir konnten deshalb in unferem vorigen Auf-
ink aud die formale Frage der religiöfen Autorität
ſchon nicht ganz umgeben. Wenn wir nun auf fie
bier ausführlider eingeben, fo fann es nicht die
Aufgabe diefer Zeilen fein, die Gründe ausführ-
lich zu entwideln, die zur Auflöfung oder
dod Einfhränfung der bisher geltenden Autori-
täten, es fei nun die Kirde oder die Heilige
Schrift oder die Belenntniffe oder was fonft immer,
aeführt haben. jeder der ein wenig in die reli-
giofen Kämpfe der Gegenwart hineingefehen bat,
fennt einige der hauptfädhlichiten diefer Gründe.
Die wichtigften und ausfchlaggebenden liegen aber
niht, wie man oft meint, auf dem Örenzgebiete der
Meligion und der modernen DMaturerfenntnisg,
fondern auf dem der geſchichtlichen Forſchung.
Wenn au die erften ſchweren Erſchütterungen der
reltgiöfen Autoritäten von dortber gefommen find,
und wenn aud, wie wir früher gefeben haben, die
dort liegenden Probleme noch längſt nicht endgiltig
geliit find, fo bat fih dodh die Kirche beider Kon.
feffionen mit ihnen im allgemeinen abgefunden,
und ein zur Virtuoſität durdpgebildetes Syſtem
der „Apologetik“ forgt dafür, daß man auf di:
meiften Zweifelsfragen diefer Art eine Antwort
bereit hat. Anders liegt jedoh die Sache in Hin-
fidt auf die Geſchichte. Die nüchtern fachliche
Durdforfhung der geihichtlihen Quelen unferee
relintöfen Lebens hat mit völlig unausweidlicher
»Deutlichfeit ergeben, daß in ihnen Menſchliches⸗
Allzumenſchliches überall vorhanden ift. Wer das
nicht hören und feben will, dem ift freilich nicht
au belfen. Als Galilei die Jupitermonde entdedt
hatte, erflärten ihm feine Gegner, die Dominikaner
aud, die Fö nne es niht geben und daher braud-
ten fie gar nicht erft ins Fernrohr zu fehen. Es
gibt aub auf unferem Gebiete heute noh immer
Nachfolger diefer Dominikaner genug. Wer jedod
nicht zu ihnen gebören will, der tann mit einer
1eden Zweifel ausfhließenden
Sicherheit fih davon überzeugen, daß dir
dachten Menfchlichkeiten überall anzutreffen
Wom Relativen zum Abfoluten.
find, in der Heiligen Schrift ebenfo gut wie in
den „Bekenntniſſen“ oder Konfilbefchlüffen ufw.
Wir haben im vorigen Auffag ein foldes Bei-
fpiel, die Lehre des Apoftels Paulus über den Tod,
ausführlicher erörtert; es gibt noch eine ganze Meibe
folder. So ift es 3. B. außer jedem Zweifel, daf
die erfte Chriftenheit das Weltende in febr naper
Zufunft erwartet bat, und daß von diefer Auf-
faffung zahlreiche einzelne Stellen des N. T. dharat-
teriſtiſch beeinflußt find; fo ift, wie fchon im vorigen
Auffag erwähnt, die Quelle der das fpätere
Chriftentum ſtark beherrfhenden Teufelslehre in
der perfifhen Religion nachweisbar, fo ift an vielen
Stellen des Alten Teftaments die Gottesauffaf-
fung durchaus unferem heutigen religiöfen Empfin-
den widerftreitend ufw. Kurz: wer fih wirklich die
Mühe gibt, einmal alle diefe Dinge mit aufric-
tigem Streben nah Wahrheit und Klarheit nad-
zubenfen, der muß, — er bat dabei ebenfowenig
etwas zu wollen, wie beim Studium der Na-
turwiffenfchaften oder der Profangeſchichte, — ein-
feben, Dafi die äußeren Quellen aug
unferer Religiondurh menfhlide
Unvollfommenbeiten getrübt find.
Die Frage ift für einen folhen dann niht mehr,
ob fih durch irgend welde dialeftifhen Kunftftüce
die Unfeblbarfeit derfelben doh nob in irgent
einem Sinne retten läßt, fondern umgelehrt: wie
trok diefer außer jedem Zweifet
vorhandenen Fehlbarkeit doh in
ibnendielebenbringendereligiöfe
Heilswahrbeitfteden fann. Zur Be
antwortung diefer Frage muß man fih nun ftete
gegenwärtig halten, daß die feftgeftellte Relativität
fih ja nur auf die Quellen der Religion, fo:
fern fie äußerlich geſchichtliche Tatſachen find, be-
zieht. Diefe gefhichtliben Quellen nennt der
Glaube ‚„Dffenbarungen‘‘, er findet in ihnen bie
Sprache Gottes. Die Frage ift alfo, ob fih der
notwendige Abfolutbeitsharachter göttliher Offen-
barung mit der Erkenntnis verträgt, daß die Mittel
und Perſonen, deren fih diefe Offenbarung De-
dient, menſchlicher Unvollkommenheit ausgefekt find.
Wenn diefe Traae zu verneinen wäre, dann hätten
wir in der Tat nur die Wahl zwifhen dem Un-
glauben einerfeits (fofern wir ung von der nun
einmal beitehenden Relativität jener Größen über-
zeugt balten) oder dem blindeften Autoritätsglauben
andererjeits. In Wirklichkeit liegt die Sade aber
ganz anders. Der Abfolutheitsan-
ſpruch der Religion fann fih der
Natur der Sade nad etg nur auf
Das bezieben, was wirklich un.
mittelbar yon Gott fommte Wo Gott
redet, da haben Menſchen zu fhweigen, das ift Far.
Aber darauf bezieht fih ja aud die Kritif gar
nicht, fondern darauf, daß von Menfchen behauptet
wird, an diefer oder der Stelle habe Gott geredet
und daß unbefehens die von Gott ale Mittel feiner
Offenbarung gewählten geihichtlihen Größen mit
ihm felber identifiziert werden. Diefe Kritik ift
doch mindeftens ſachlicher Prüfung wert und fühig.
Sie fließt ja auf der anderen Seite durdaus
niht aus, daß Gott tatſächlich innerhalb diefer
Mittel fi) geoffenbart habe. Abfolut ift dann
eben dag daran, was wirflih gettlih ift, relativ
das andere, dag rein Menfchlihe. Nun verlangt
der modern fritifche Geit, daß man nicht obne
Prüfung das Gefäß mit dem Inhalt verwecdhſle.
Es it nun, wie fhon erwähnt, durchaus nicht
meine Abſicht, foldbe Lefer, die fidh zu diefer Tren-
nung nicht verftehen wollen und Fönnen, von ihrer
Motmwendigkeit zu überzeugen. Diefe Zeilen find
für ſolche beftimmt, die unmwiderruflid eingefeben
haben, daß man unmöglidy den in Rede ftehenden
aefhichtlihen Größen von vornherein und in Baufch
und Bogen dag Prädikat „göttliche Offenbarung”
obne jede Einfhränfung zuerfennen Fann, rnd zwar
deshalb, weil ihre menſchliche Bedingtheit gefchicht-
lih erwiefen it. Wer das einmal eingefehen bat,
der fann zu jener alten Orthodorie keinenfalls zu-
rüf. Sein Gewiffen verbietet ihm, weiterhin fehl:
bare menfhlide Schriften, Einrichtimaen, Be-
Eenntnifle und dergleihen an die Stelle der abfo-
luten Autorität, die Gott allein zufommt, zu feßen.
Aber wie entgeht dann ein folder dem reinen Sub-
jeftiviemus und Melativismus? Bleibt eg dann
nicht vollig dem einzelnen Geſchmack und Ermeflen
überlaflen, was er nod alauben wil? Und Bar
nicht in diefem Sinne die Orthodoxie der evangeli-
fhen Kirche doch vielleicht gegenüber dem Liberalis—
mus und die Fatkolifhe Kirche gegenüber der pro-
teftantifhen „Freiheit Redt, wenn fie mit einem
gewiſſen Hohnläheln auf die tatſächliche unglaub—
liche Zerfplitterung der Meinungen innerhalb die:
fes Liberalismus hinweiſt? DBeweift nicht diefe
Erſcheinung, die doh eine offenbare Degeneration
des religiöfen Lebens darftellt, daß die grofe Alter:
native doch zu Redt befteht: entweder alles glauben
oder nihts? Entweder blinde Unterwerfung oder
völlige Loslöfung? Weir die Welt von folden
Stimmen heute voll ift, weil infolge der Einſicht
in diefe Sachlage Unzählige heute fib geraden nac
diefem Autoritätsglauben zurücfehnen, zu dem fic
deh aus Gewiſſensbedenken zumeift nicht zurück
Fönnen, darum ift es unbedingt notwendig, reft-
lofe Klarheit zu fchaffen. Und dazu fann nun
meines Erachtens fehr wefentlih mithelfen der
Vergleich unferer reliniöfen Lage mit der allge-
meinen philofophifchen, den wir ſchon mehrfad an-
= Bom Relativen zum Abfoluten.
Bet
gedeutet haben und nun etwas genauer ing Auge
foffen wollen.
Die Gefhichte der Philoſophie und insbefondere
der Erfenntnistheorie zeigt, wie wir oben fon
andeuteten, drei große Perioden, die in gewiſſem
Umfange fih dem Hegelſchen Schema der Thefis,
Antithefis und Syntheſis einordnen laffen. In
der erften gilt der fogenannte naive Realismus,
d. h. man nimmt obne nähere fritifhe Prüfuna
die Dinge fo alg wirflih, wie fie ung erſcheinen.
Das empfindende und erfennende Subjekt gilt in
der Hauptfadhe nur als „Spiegel oder als Auf-
nahmeapparat, der rein pafliv die von der Welt
der Dinge ausgehenden Eindride regiftriert und
ordnet. In der zweiten Periode, der Fritifch-fub-
jeftiviftifchen, beginnt das Subjekt fih felber bei
diefer feiner Tätigkeit genauer ins Auge zu faflen.
Es findet, daß es felber an der Geftaltung diefer
„Welt“ ſehr aktiv beteiligt it und kommt ſchließ—
lich (bei Kant) zu dem Ergebnis, daß im Grunde
genommen alles, was wirklich auf „Geltung“ An-
ſpruch maden fann, aus eben dem Subjeft ftamme,
das durch feine Anfchauungsformen und Kategorien
„Erfahrung allererfi möglih made”. In der
lebten Periode endlih, der gegenwärtigen, fieht
man ein, daß man mit dieſem „erfenntnistheore-
tiſchen Idealismus“ unweigerlih in die Sadgaffe
des Illuſionismus und Solipſismus gerät, dafi
demnad in dem ganıen Anfas ein urfprünglicher
Sehler ftefen muß. Worin diefer befteht, das hat
die neuere „kritiſch realiſtiſche“ Erkenntnistheorie
mit aller wünſchenswerten Deutlichkeit klargelegt.
Der Haupteinwand läft fih in die Form bringen,
daß jene idealiſtiſche Erkenntnistheorie ſich minde—
ſtens inſofern widerſpricht, als fie das fragliche
Subjekt (einerlei, ob ſie das empiriſche Subjekt
oder das allgemeine Subjekt Kants meint) zunächſt
doch einmal als „eriſtierend“ im Sinne eines
Realismus vorausſetzen muß. (Bei Kant ſetzt ſie
dazu auch noch das „Ding an ſich“ als eriſtierend
— aber unerkennbar — voraus). Für dieſen
kritiſchen Realismus nun, der, mit Eduard von
Hartmann, ſeinem Begründer, zu reden, „in die
ganze Tiefe idealiſtiſcher Spekulation nur deshalb
hinabgetaucht iſt, um keinen kritiſchen Angriff mehr
fürchten zu müſſen“, bildet den Ausgangspunkt
aller Erörterung die an fid beſtehende Doppel-
feitigfeit des Verhältniſſes von Subjekt und Ob-
jeft. Er verfucht von vornherein weder dag erfterc
auf dag Tektere, nod umgefehrt zurüdzuführen,
weil er einfiebt, daß dag nicht nur undurdführbar,
fondern ein notwendiger Selbſtwiderſpruch ift, in-
jofern jede derartige Erörterung felber obne diefe
vorausgefeßte Doppelfeitigfeit gar feinen Sinn
bat. Sein Beſtreben ift vielmehr nur darauf
gerichtet, dies a priori alg gegeben hinzunehmende
188
Merhältnis in feiner näheren Befchaffenbeit richtig
zu beſtimmen, d. h. alfo zu zeigen, inwiefern
an der Erkenntnis dag Subjeft, inwiefern
das Objekt beteiligt it. Die nähere Ausführung
fünnen wir ung erfparen.
Diefe Entwidlung bietet nun m. E. eine offen-
fihtlihe Parallele zu der unferes religiöfen Lebens,
wie unferes ganzen Fulturellen Lebens überhaupt,
wie wir fchon oben mehrfach angedeutet haben. Aud
im religiöfen Leben mußte die Menfchheit vom
naiven (dogmatifhen) Realismus ausgeben, fo-
dann den Weg des Fritifhen Subjektivismus bis
ans bittere Ende verfolgen, um endlih zu der
Syntheſe eines ‚‚Eritifh geläuterten Realismus”
zurüczufehren. Die erfte Stufe wird innerhalb
der Chriftenheit offenbar durd die mittelalterliche
Kirche, die zweite durch den modernen Proteftan-
tismus gebildet. Die dritte foll noh erft kommen.
Die evangelifhe fogenannte „poſitive“ Nichtung
nimmt eine eigenartige Zwifchenftelung ein. Sie
ſchwankt zwifchen dem Nüdfall in den alten naiven
Mealismus und dem Vorwärtsſtreben zu einem
aeläuterten Realismus (und zwar fchon bei Luther).
Das ift Fein Wunder, denn eg liegt im Wefen einer
jeden ſolchen neuen Syntheſe, daß fie nur allzu
leicht in eine der beiden Einfeitigfeiten, die fie aus-
gleihen will, zurüdfällt, oder daß fie in einem un-
verbundenen Nebeneinander, d. h. einem fhmwäd-
lihen Kompromiß anftelle einer wirflichen inneren
Einheit, ftefen bleibt. Und. dennoh führt nur
diefer eine Weg aus umnferer gegenwärtigen rer-
fahrenen Lage heraus. Wer das eingefehen hat,
muß deshalb vor allem unfere heutige Theologie
mahnen, endlich dag Bauen auf die Kantſche Philo-
ſophie aufzugeben. Man bat Kant den Philo-
fepben des Proteſtantismus genannt — zweifellos
mit Redt. Aber man follte dann auch dabei fagen,
dag es durchaus in der Konfequenz feines Syſtems
lag, wenn bei ihm Gott, Ewigkeit und fittlihe Frei-
heit zuleßt dob nur ale „Poſtulate der praftifchen
Vernunft” erfheinen. Da Haben wir eben dic
notwendige Folge der fubjeftiviftifhen Grundlage
des Ganzen. Werauf das Subjeftfät,
der wirdvom Subjektnichts anderes
ale „Ideen“ ernten. Damit aber ift der
Religion die objeftive Grundlage entzogen. Jeder
wahrhaft religiöfe Menih (zweifellos aud Kant
fefber) fühlt, daß eg eine contradictio in adjecto
ift, wenn Gott ale bloße dee oder Poftulat des
Subjekts erfheint. Umgekehrt: in dem Augen:
biit, wo das Subjekt „Gott“ jagt, muß es, ftreng
genommen, vor fidh felber völlig verſchwinden, muf
es felber nidhts mehr und Gott alles fein, font
ware diefer Gott nicht der Mühe wert, eine einzige
Sekunde über ibn nadzudenfen. Der Grund-
fehler des Murfubjektiviemus zeigt fid aber aud
= one Reli an. UNO.
ferner darin, daß auf diefem Boden tatlählih die
Freiheit zur Willkür wird, fo daß jede Gemein-
ſchaft des Glaubens ſchließlich zur Illuſion wird.
Und das ift es, worauf die Orthodorie beider Kon-
fellionen mit Redt hinmweift.
Es bedeutet jedodh meines Erachtens nur eine
völlige Verfennung der Entwidlung, die die Dinge
einmal genommen haben, wenn man daraufhin
nun einfach die „Rückkehr zur Autorität” predigt.
Denn das heißt, den naiven Realismus er-
neuern wollen, der bereits unwiderruflich erledigt
ift und die Berechtigung der Kritif dodh nicht wieder
aus der Welt fhafft. Der Weg fann vielmehr
nur der fein, den ung die Analogie mit der philo-
fophifhen Entwicklung deutlih genug vorzeichnet:
Wir müffen zuerft ‚fo tief in die Kritif hinab-
iauchen, daß wir feinen Angriff von daher mehr zu
fürchten baben”, dann aber zu der Erkenntnis bin-
durchdringen, daß beidem allen die Rolle
des Objefts felbernob gar nicht be-
rüdfidġdtigt it. Kant felber war ein viel an
nüchterner Kopf, um die Unfinnigfeit eines „abſo
luten Idealismus“ nicht einzufehen (er bat feiner
Widerlegung befanntlih in der zweiten Auflage
der Kritif eine befonderes neues Kapitel gewidmet,
das aber eben deshalb fhon feine Zeitgenoffen ale
nfonfequenz empfunden haben). Sein Spftem
entbält ja tatſächlich aud die Anſatzpunkte für
einen Realismus, wie oft genug bemerft worden
ift. Er hätte feinem Sage „der empirifhe Inhalt
der Anfhauung wird uns gegeben” nur ein
Stück weiter nadzugeben oder fib die Frage
vorzulegen brauden, ob er denn nicht felber den
von ibm verpänten „transcendentalen Gebraud‘‘
der Kaufalitätsfategorie made, wenn er davon
redet, daß das „Ding an fih” unfere Sinnlichkeit
„affiziere”, um fo mit Motwendigfeit auf realifti-
fher Babn weiter getrieben zu werden. Diefen
Weg hat eben die moderne Erfenntnistheorie fort:
gefent. (Mergleihe den Auffan von Wein-
mann in Heft 4 diefes Jahrganges.) Kehren
wir mit diefer Einſicht zu dem religiöjen
‘Problem zurüc, fo ift es Mar, wie wir aud bier
dem Nichtsalsſubjektivismus entgehen können unt
müſſen. Wir müffen ung aud bier auf den Boden
des „kritiſchen Realismus’ ftellen, der lehrt, daR
unfer Erfennen eben deshalb zu einem wirklichen
pofitiven Ziele führt, weil unfere apriorifchen An.
Ihauungsformen ufw. felber erft in der MWechfel-
wirfung zwiſchen Dbjeft und Subjekt entftanden
find. Sp wäre auh Religion nie entftanden,
wenn nicht ihr Objekt, das Göttliche, die fubjektiven
Fähigkeiten dafür felber bätte entfteben laffen. Die
früber erörterten menſchlich gefchichtlichen Gebilde
ind als folde menfchlich relativ, gewiß. Aber
Die MenfhbeitwärenieaufdenGe-
danken gefommen, in ihnen abfo-
lIute Offenbarungzubefigen,wenn
olhe nıht wenigftens in einem
Zeile diefer Gebilde tatfählid
enthalten wäre. Und unfere Aufgabe bleibt
es, diefen Offenbarungsgehalt jelber erft näber zu
beftimmen. Das gefchieht aber niemals durd eine
außere Seftfesung über den Umfang deffen, was
als Duelle folder Offenbarung zu gelten bat.
Sagt jemand: das neue Teftament, fo fagt die
Kritif: ja, aber da und dort fteben Widerſprüche
und Menfchlichfeiten anderer Art darin. Sagt
jemand Paulus, oder die Synoptiker oder wag es
fonft fei, fo ift es immer dasfelbe. Ja felbft, wenn
jemand, was febr oft der Fall ift, um nun doch nod
eine folde gegebene” begrenzte Autorität zu haben,
Dem entgegenbielte: Gut, aber Chriftus felber iſt
doch Autorität ſchlechthin — fo wäre folder Wer-
fuh abermals vergeblih. ‘Denn wir wiffen ja
eben wieder Feineswegs fiher, was Chriftus denn
nun wirklich gedacht, gefagt und getan hat. In
fo und fo vielen Punften ſchwankt unfer gefhicht-
liches Bild von ihm, es ift 3. B. febr {hwer zu
fagen, wie er zu der das Urdhriftentum ftarf be-
herrſchenden Enderwartung (Eschatologie) felber
Seftanden hat, was er felber unter feiner Selbtt:
bezeichnung „der Mienfchenfohn” verftanden wiffen
wollte u. a. m. Kurz, wir mögen uns wenden
wie wir wollen, der Rückweg zur äußerlich abgren:-
baren Autorität bleibt ung verbaut, und das ift gun
fo. Denn nun werden wir gezwungen, endlich
wieber an die Aufgabe zu gehen, die die Chriften-
beit feit ungefähr dreihundert Jahren faft ganz bat
liegen laffen, nämlich das Syſtem unferes Glan-
beng aus inneren Gründen fortzuentwideln, oder
fagen wir lieber: ganz neu aufzubauen. Denn es
i mittlerweile fo viel Neues in den Gefichtsfreis
gerüdt, daß wirklih fat ganz von vorn ange-
fangen werden muß. Diefe Aufgabe felbft bier in
Angriff zu nehmen, ift natürlih nicht meine Ab-
fiht. Mur über den Weg zu ihr wollte ich etwas
fagen. Diefer gebt keinesfalls mehr von einer
‚gegebenen‘ hiftorifhen Grundlage in dem Sinne
aug, daß wir nur aus der Bibel oder fonftwoher
dur „Auslegen“ fozufagen allerlei herauszudeftil:
lieren hätten, was drin ſteht und was nidt drin
fteht. Denn es ift ja nunmehr nicht ein einziger
Sag nur deshalb gültig, weil er da oder dort fteht.
Der Weg gebt aber auh niht aus dem rein fub-
jektiven „Erlebnis“ heraus, wie man beute fo oft
fordert. Denn damit fommen wir nie über uno
felbft hinaus. Wir müflen vielmehr rein aus in
der Sade felber liegenden Gründen jest
an die Fragen berangeben. Wenn Paulus oder
der vierte Evangelift etwas gejagt haben, was uns
wertvollfte religiöfe Wahrheit zu fein dünft, fo
WVonm Relativen zum Abfoluten.
ne nn re a — — — 5
muß fih das aud innerhalb eines Geſamtſyſtems
hriftlihen Glaubens als notwendig und heilfam
rechtfertigen laffen. Jene haben Redt, weil dag,
was fie fagen, zutrifft, nicht umgefehrt. Kritifcher
Realiſt fein, heißt, einen Sag nur aus in feiner
eigenen Sphäre liegenden Gründen als gültig an-
nehmen. Weder wir madhen die Wahrheit (mie
der Apriorismus meint), noh wird fie uns fertig
in einem wohlverpadten Paket überreicht, fondern
wir müſſen fie fin den und wir werden fie finden,
wenn wir fie „von ganzem Herzen ſuchen“. Wir
erinnern noch einmal an das im vorigen Auffas
berichtete Beiſpiel, die Lehren des Apoſtels
Paulus und der chriftlihen Kirchen über den
lod. An diefen Beifpiel ift es mit Händen zu
greifen, daß uns die äußere Grundlage allein gar
nichts nügt, daß eg aber auch mit der Einſicht in
ihre menſchliche Melativität nicht getan ift.
Denn dann fommt erft die große
Srage, welden Sinn wir denn nun im Zu-
ſammenhange unferes ganzen die Welt umipan-
nenden religiöfen Fühlens und Glaubens dem
Tode (wie dem Uebel überhaupt) beizulegen haben.
Mur in diefem Zufammenbang des Ganzen bat
dag Problem überhaupt einen Sinn. Das ver-
fennt die alte Orthodoxie, wenn fie fi) damit be-
gnügt, daß es ja da oder dort „ſo gefchrieben ſteht“,
und der bloße NHiftorismus andererfeits ficht das
Problem überhaupt nicht mehr, weil er nur
immer die menfhliden Meinungen darüber als
folde zum Gegenſtande feiner Forfhung madıt.
Wer aber diefem Problem felber auf den Grund
gebt, der findet dort auf dem Grunde das Abfolute,
in das alles Relative diefer Zeit eingeordnet und
von dem es im Grunde beftimmt ift.
Man wird demgegenüber vielleiht das Bedenken
erheben, daß ein folhes Verfahren den biftorifd)
bedingten Charakter wenigftens unferer Religion
verfenne und zu einem ziigellofen Draufloskonftru-
ieren führen würde. Es ift zuzugeben, daß diefe
Gefahr beftebt, aber ein möglicher Mißbrauch fann
niemals den ridhtigen Gebrauh aufheben. Wer
auf dem Boden des hier gemeinten Realismus”
fteht, der ift ja gerade davon überzeugt, daß in der
Geſchichte wirflih Gott fih geoffenbart bat, er
wird alfo gar niht daran denken, fi über die
„Klaſſiker“ der Religion, wenn diefer Ausdruck
erlaubt ift, aus eigener Machtvollkommenheit vollia
hinwegzuſetzen. Wo anders follte denn aud) ein
Anhalt für dag, was wahre Religion ift, zu finden
fein, wenn nicht bei denen, die notorifch die Führer
der Menſchheit auf dieſem Gebiete gewefen find?
Don einem fo unhiftorifhen Nationalismus, wir
er zu Kants Zeiten Mode war, kann demnach gar
eine Nede fein, wir werden im Gegenteil alle
ins verfügbaren geſchichtlichen und eithnologiſchen
Quellen fpringen laffen, um eine möglichft breite
Grundlage zu baben und aud die Unterfuhungen
der neueren Religionsſpychologie nicht beifeite ſchie—
ben. Aber das alles bleiben doh immer nur Wor-
arbeiten, und niemals fann aus einer gefchichtlichen,
vergleihend - ethnologiſchen oder pſfypchologiſchen
Unterfuhung dag Redt diejes oder jenes religiöfen
Urteils zureichend begründet werden. Hierüber ent-
jcheidet vielmehr allein ein innerer Wertmaßitab,
den wir auh niht etwa fir und fertig bei une
ragen, fondern den wir uns felber aus all dem
vorliegenden religiöfen Leben erft herausarbeiten
müflen. Wer fürdtet, daß das nicht genügen
werde, dem ift niht zu helfen; er muß zu einer
der überwundenen Autoritäten zurüdfehren, oder
die Religion ganz an den Nagel hängen. Wer
aber eingefehen bat, daß wir in der gleichen Lage
überall find, den ſchreckt diefe Motwendigkeit durd)-
aus niht, es gehört vielmehr für einen foldhen zur
Religion felber dag Vertrauen darauf, daß Gott
feine Sahe aud ohne die äußere Autorität durd-
fegen wird. Man verftebt diefe an fid reichlidy
abftraften Säge vielleiht beffer an einem be-
ftimmten Beifpiel: Worauf beruhte eg, dag das
Chriſtentum dag Judentum und den gleichzeitigen
Hellenismus überwand? Auf der Autorität
der neuen Apoftel und Propheten dod ganz gewiß
nicht, denn diefe mußte fih dodh erft infolge des
Sieges der neuen Religion bilden, fie war ja zu
Anfang nod) gar niht da. Auf äußeren Verbält-
niffen ganz gewiß auh nicht. Dieſe, insbefondere
die ftarfe foziale Einftellung des Urdriftentums,
mögen mitgewirkt haben zu feinem Siege, aber er-
Flären, fo wie der Marrismus dag meint, Fünnen
diefe fozialen Faftoren allein den Sieg des Chri-
ftentums auh nicht. Die einzige zureichende Ant-
wort, die man auf die geftellte Frage geben fann,
ift vielmehr offenbar diefe: dag Ehriftentum ſiegte,
weil eg eben tatfächlic eine neue, höhere, reinere,
vollftändigere Religion war, alg diejenigen, die ee
in der Welt bereits vorfand. Wir fühlen das alle
angeſichts einzelner ganz beftimmter, für diefe neue
Religion befonders charakteriſtiſcher Säge. Es
bat 3. B. feine Religion vorber dag Wort zu
prägen gewagt, daf Gott Licbe fei. Wer es aber
einmal gebört bat, dem fagt eine innere Stimme:
Ja, fo muß es fen und fo ft es. Dure
feinen Öebaltanfoldben Wahrhei-
ten allein bat das Chriftentum gee
tegt und auf ibm beruht erft bie
Autorität, die feine Propheten
nadbbererlangtbaben. Wenn nun aber
jene Zeiten ſchöpferiſch neue religiöfe Ideen unè
Kräfte in die Welt bringen konnten, wenn in den
erſten drei Jahrhunderten der Kirde das Chriften-
tum keineswegs bloß immer die gleihe Tradition
Wom Relativen zum Abfoluten.
— — — — — —
von einem Geſchlecht zum anderen vererbte, ſondern
fortwährend neue Linien zog, neue Aufgaben ſich
ſtellte und neue Formen bildete, wenn zur Refor-
mationszeit abermals in zahlreichen neuen kirch—
lichen Bildungen lebendiges religiöſes Leben neue
Blüten hervortrieb, warum ſollten nicht auch wir
nach einer neuen Zeitenwende imſtande ſein, über
allen bloßen Hiſtorismus hinaus in der Sache
der Religion ſelber einige neue Schritte zu tun?
Freilich wird man ſagen: das läßt ſich nicht machen,
ſondern das kann nur ein von Gott ſelbſt erweckter
Prophet, ein neuer Heiliger bringen. Vielleicht
iſt es ſo, vielleicht hat Gott es aber auch anders
vor, er bindet ſich an kein geſchichtliches Schema.
Wir haben jedenfalls nicht das Recht, bis dahin
die Hände in den Schoß zu legen und zu warten,
ſondern mindeſtens dem, was kommen ſoll und
kommen muß, den Weg zu bereiten. Das tun wir
aber nur dadurch, daß wir zuerſt einmal klarzu—
ſtellen verſuchen, wo eigentlich unſere Not liegt,
und das läßt ſich ganz klar und unmißverſtändlich
jagen: wir brauchen eine neue Form
Des Chriftentums, die die volle
Breite moderner Welterfenntnis
und moderner Weltbeberrfhung
vereinigt mitder ganzen Tiefedes
alten Ölaubens, Die erfte Forderung wird
zum notwendigen Grab jeder äußerlihen Autorität,
die zweite aber zeigt ung die ganze Leere und Kälte
des Michtsalsliberalismus, der bisher niemals im-
ftande war, eine wirkliche religiöfe Glut zu ent-
iaden. Alle bloße „Aufklärung“ hat fih ale
durchaus minderwertig gegenüber felbft den thev-
retifh primitioften Formen echter Frömmigkeit er-
wiefen; aud diefe gefhichtlihe Tatſache fteht feft
und muß bei jedem DVerfud eines Meubaues be-
rüdfihtigt werden. Was bleibt alfo anderes übrig
als der Verſuch, den Bau der Religion ganz von
vorn an nur aus in ihr felbft liegenden Gründen
aufzurichten? Die Furdt, dabei werde etwas ande-
res als echtes Ehriftentum herausfommen, ift grund-
los für den, der als Chrift dodh davon überzeugt
fein follte, daß fein Chriftentum die Wahrbeit ift.
Wenn es das ift, fo wird auch bei dem Ber-
fahren, dag wir einfhlagen wollen, fiherlih alles
Wefentliche berausfommen.') Das ift ja das Be-
rubigende an dem Standpunkte des kritiſchen
Realismus, da er im Vertrauen auf die maf-
gebende Rolle des Objekts felber es gar nit
nötig bat, ängſtlich danach zu fragen, ob dag er-
Fennende (bier: das religiös empfindende) Subjekt
auch die richtigen Vorbedingungen erfüllt. Es
it weiter feine VDorbedingung nö-
) Es ift für den realiftiihen Charakter des Katbolizie-
mus überaus bezeihnend, daß diefer Satz von ibm freis
teftgebalten if.
ne nn ——
tig als die, daß das Subjeft fid
nıdhts anderes vornimmt, als dem
Dbjefte zu feinem Rehte zu ver»
belfen.
Unfere Frage, wie bei der nun einmal nicht
mehr zu ändernden Einfiht in die Melativität
unferer Religionsquellen dodh der der Religion
eigentümliche Abfolutheitsaniprud) gewahrt wer-
den könne, beantwortet fih fomit dahin: die ſer
Anfpruh ruht auf feinen Fall in
formalen Bedingungen über die
Quellen, fondern lediglid in dem
materialen Gehalt der Religion
felber.. Der Unterfhied der Religion von der
MWiflenihaft, der Kunft, der natürliden Moral
befteht nit darin, daß diefe legteren nur auf rela»
tive Gewißheit, jene aber auf abfolute Gewißheit
von vornherein durd; die betreffenden Quellen an»
gewiefen wären, es alfo für jene nur relative, für
diefe aber ein abfolutes Sormalfriterium
der Gültigkeit gäbe. Es ift vielmehr allen dieſen
Gebieten gemeinfam, daß fie das Abfolute
im Relstiven haben. Kunft, Wiſſenſchaft
und Moral find keineswegs ‚nur relativ”, wie
‚wir fahen, und umgefehrt ift in der Religion als
geihichtlih ⸗pſychologiſcher Tatſache keineswegs
alles abſolut. Der Unterſchied liegt vielmehr in
der Art des Objekts ſelber, und in der Art, wie
dieſes vom Subjekt ergriffen wird. Jn der Re-
ligion -zielt alles von vornherein unmittelbar
auf das Abfolute ab, für fie ift notwendig und
ſelbſtverſtändlich ales Wergänglide nur ein
Gleichnis“, fie telt den Menſchen dirett vor
das Abfolute und zwar den ganzen Menfchen, fo-
wohl den benfenden wie den fühlenden wie den
wollenden. Sie Frönt fozufagen jene drei natür-
lihen Arten des Werteftrebens erft, indem fie den
Zielpunkt alles folhen Strebens aufzeigt, aber fie
þat zu diefem Ziel — Gott — dabei dodh ein eigen»
artiges Verhältnis, das nicht etwa eine bloße Ab-
firaftion aus jenen drei anderen ift, fondern eine
neue Art geiftiger Einftellung, wie fie in fo un-
übertrefflih Farer Weife Otto in feinem Flaf-
ſiſchen Buche über das ‚Heilige‘ aufgezeigt hat.
Diefe unmittelbare Einftelung auf das Abfolute,
die fih in intelleftueller Hinfiht als metaphnfifcher
Abſchluß, in äſthetiſcher als Myſtik und Kultus,
in moralifdher als Gefühl der unbedingten Wer-
antwortung vor Gott uff. äußert, macht das eigen-
artige Wefen der Religion aus. Daraus läßt fih
aber offenbar nicht die Solgerung ableiten, daf
man zu ihr auh in formaler Hinfiht nur auf eine
ganz andere Weile gelangen Fünne als zu ben
natürlihen Werten, anders gefagt, daß ber Ab-
folutheitsanfprudh von Gott ohne weiteres auf die
Mittel zu übertragen wäre, deren er fih bedient in
Wom Relativen zum Abfoluten. _
EA i:
der Geſchichte des Einzelnen und der Menfchheit.
Dies wäre nur dann richtig, wenn es feftftände,
daß in den normalen gefhichtlihen Erfcheinungen
Feinerlet Abfolutes fih offenbaren Fünne. Dann
freilich bedürfte es, um das Abfolute in diefe Se-
Ihichte hineinzubringen, einer neuen befonderen
Kategorie auh von Mitteln der Offenbarung.
Aber davon fann Feine Rede fein. Denn weder
fteht es a priori feft, daß mit den gewöhnlichen
geihichtlihen Mitteln Gott fih nicht offenbaren
könne, noh hat fih ein einziges derartiges Mittel,
von dem behauptet worden ift, dap es aus dem Ge-
Ihichtsverlauf herausgenommen werden müffe, als
frei von gefchichtlicher Bedingtheit erwiefen. Wir
femmen alfo zu dem Ergebnis, dap es Gott einmal
gefallen bat, es den Menfchen nicht fo bequem zu
machen, wie fie fih wohl mandmal gewünſcht
haben. Kurz und mit einem einzigen Wort ge-
fagt: Abſolut it niht der Vorgang
der Offenbarung, fondern nur ein
Inhalt, ein Dffenbartes Für die
Grage aber, welches denn nun folde Inhalte find,
gibt es Fein anderes Kriterium als dies: diejenigen,
die durch ihre eigene innere Wucht überzeugen. Es
gibt wohl eine indirekte nachherige Beſtätigung, die
greifbarer Natur ift, das find die praftifchen Kräfte,
die davon ausgehen und auf die Jefus in den all.
befannten Worten verweift (Matth. 7, 16 ff.:
Joh. 7, 17). Aber diefe verhalten fih zur Re-
ligion felber wie etwa die indireften Beſtätigungen
einer naturwiflenfchaftlihen Hypotheſe, 3. B. der
Atomtheorie, zu diefer Hypotheſe ſelbſt. Sie fön-
nen fo ftarf fein, daß fie jeden Menfchen über-
zeugen, troßdem erfeßen fie nicht die direkte Be-
gründung. Diefe liegt bei der Hypotheſe nur
dann vor, wenn fie ihrem eigentlichften Inhalte
jelber nad fih als zutreffend erweift, wenn man
alfo direkt einfehen fann, daB es Atome gibt ufw.
Daß folhe Hypotheſe dann auch außerordentlich
„fruchtbar“ ift, verſteht fih von ſelbſt. So aub
in der Religion. ‘Der rechte Glaube” (id meine
dies nicht im Sinne intelleftueller Nedtgläubig-
feit) ift „der Sieg, der die Welt überwindet”,
aber das ift nicht etwa der Beweisgrund,
auf den er fih erft zu flügen hätte. Das Chriften-
tum ift nad einem befannten Worte von S o h m
fehr vielfah auh nicht durch die Chriften, fon-
dern trog der Chriften vorgedrungen. Denn das
ift das Große, Erhabene an aller Wahrheit, daf
fie unvertilgbar ift, daß fie, auch wo fie um dreißig
Silberlinge verſchachtert wird an „praftifche Jne.
tereffen‘‘, doh auch in der ärgſten Erniedrigung
noh ftärfer ift als die fcheinbar triumphierende
Lüge. (Darauf dürfen auh wir Deutſche in dem
Wuſt von Lügen, den man in ber Welt über uns
verbreitet bat, hoffen.) -
192
Sch Fönnte bier fließen, wenn nicht ein Ein-
wand vielen aufrihtig fromm gefinnten Leſern
längft auf der Seele brennte. Site werden fagen:
dag, wovon du geredet haft, mag zum großen Teil
wahr fein, das betrifft aber gar nicht die Religion,
fondern nur die Dogmatik oder die Theologie. Diele
mag immerhin in der Weife, wie es entwidelt
wurde und ähnlich wie die übrigen Kulturwerte
an die menfchliche Melativität gebunden fein. Aber
Religion ift mehr als Dogmatik, fie ift innerfte
Herzensfahe und als foldhe fann fie nur entweder
auf einem felfenfeften Bewußtſein des Abfoluten
ruben, oder fie ift überhaupt nidhts wert.
diefem Einwande ift richtig erftens, dag Dogmatik
nod lange Feine Religion ift, und zweitens, daß
in der Zat eine Religion, die nicht von der Ab-
folutheit ihres Gegenftandes völlig überzeugt ift,
feinen Wert bat. Aber erftens ift der erfte Sag
nit umfehrbar, im Gegenteil: eg gibt gar Feine
Religion ohne Dogmatif und zweitens bedarf es
nun doh febr entfchieden einer näheren Beftim-
mung deffen, was denn nun an der Religion in
diefem Sinne abfolut fein muß. Hierauf Eann
ein wahrhaft fromm empfindender Menſch nur die
Antwort geben: Abfolut ift für mid die Gewiß-
beit der wirklichen religiöfen „Heilsgüter”,
wie 3. DB. das Bewußtſein des Geborgenfeing in
Gottes Liebe trog aller Uebel der Welt oder feiner
Sünde vergebenden Gnade und dergleihen. Wenn
man von dem Sage ausgehen will, daß edhte Re-
ligion (die mehr ift als Dogmatik) feinen Relati-
vismus vertrage, fo Fann ſich diefer Sag
der Natur der Sahe nah zunädhft
nur auf diefen innerften Kern der
Religion bezieben. Wenn dann weiter
das religiöfe Bewußtſein die Garantie eines diefer
Heilsgüter in befonderer Weife in irgend einer
gefhichtlihen Größe findet, fo fann es daraufhin
natürlich für fidh felber auh weiter fchließen, daß
in diefer Erfcheinung Gott fih zu dem betreffenden
Heilszwede geoffenbart habe und für dieſes reli-
giöfe Bewußtſein fann dann geradezu diefe ge-
fhichtlihe Größe zum tragenden Edpfeiler der
religiöfen Gewißheit werden, aber das hebt nicht
auf, daß, logiſch und dogmatifh angefehen, dod
diefe Gewißheit immer erft eine Gewißheit aus
zweiter Hand ift, für die die Forderung der not-
wendigen Abfolutheit niht in demfelben Sinne
mehr gilt, wie für die „Heilsgewißheit“ im erften
Sinne. Um bei dem angeführten wichtigften Bei-
fpiel zu bleiben: man tann der Weberzeugung fein,
daß Gottes fündenvergebende Gnade auf feinem
anderen Wege als durd Chriftus tatſächlich zu fin-
den fei und deshalb dem Sake: „es ift in feinem
anderen Heil uſw.“ ebenfalls abfolute Geltung zu-
zuſchreiben geneigt fein. . Aber man muß fih durd-
Dom Relativen zum Abfoluten. _
An
aus flar madhen, daf mit einem Auf-
geben diefes Sages noh nidht der
abfolute Charakter deg unbedingt
Notwendigen alg foldhen hinfiele.
Denn auh wenn man, wie z. B. fromme Juden,
überzeugt ift, daß jener Sag nicht gelte, fo bleibt
doh auch für folde immer noch die Forderung zu
Redt beftehen, daß man ber Sünbenvergebung -
als foldher nur entweder abfolut oder gar nicht ge-
wif fein fann. Weil an diefer Stelle fo unge-
heuer viel mit vorfchnellen Schlüffen gearbeitet
wird, ift es unbedingt erforderlich, fih diefe Ber-
bältniffe klarzumachen. Denn hieraus folgt, dag
man aus jener als richtig anerfannten Forderung
der Abfolutheit an fih niemals etwas anderes
folgern fann, als daß die „Heilsgüter“ als foldye
abfolut gewiß fein müffen. Jeder Schluß auf die
Mittel, die zu diefen Heilsgütern führen, ift dem-
gegenüber fchon ein indirefter, und man darf nicht
mehr behaupten, daß der Charakter der Religion
verloren ginge, wenn man diefe Mittel in irgend
einem Sinne relativiert. Praktiſch fällt das in
der Tat auch feinem Orthodoreften ein, denn er
wird, mag er für feine Perſon aud nod fo felfen-
feft von dem Sag: Extra ecclesiam nulla salus,
überzeugt fein, doh niemals wagen, den anderen,
die anders darüber denfen, die Religion als folde
überhaupt abzufpredhen; aud bemweift ja die ganze
Gefhichte, dag es Religion mit ganz verfchiedenen
dogmatifhen Inhalten gibt. Ich denfe, mwohlge-
merft, nicht daran, daraus in der Art des Vulgär⸗
liberalismus zu folgern, daß es demnad überhaupt
feinen Sinn habe, nadh einer allgemein gültigen
Wahrheit in der Dogmatik zu fuhen; ich behaupte
uur, daß man aus dem Abfolutheitscharafter der
Religion felber (d. i. der Motwendigfeit, des Heils
abfolut gewiß zu fein) niemals die Abfolutheit für
eine beftimmte Dogmatif ohne weiteres mitfolgern
fann, daß hier vielmehr jener andere Weg „Dom
Melativen zum Abfoluten‘ der einzig mögliche ift.
Und darum muß entfchieden immer wieder dagegen
Proteft erhoben werden, wenn man im Namen
der „abſoluten Heilsgewißheit“ fordert, dap audy
die Anerkennung gewiffer Säge über die Kirche
oder die Perſon Chrifti oder die ‘Bibel ufw. an
diefer Abfolutheit teilhaben müßte, wenn über-
haupt wahre Religion zuftande kommen fole. Man
fann fih febr ernftlid darüber unterhalten, wie
viel aus diefen Süßen tatſächlich gefolgert werden
fann und muß, aber eine unmittelbare
Heilsgewißheit von ihnen gibt eg niemals, die gibt
ce nur von dem erlebten Heil felber. Ganz zu
ſchweigen von den nicht feltenen Verſuchen, auch
beute noh eine unmittelbare Heilsgewißheit für
Lehren wie die von der Berbalinfpiration oder der-
- Dom Relativen zum Abfoluten.
Pre ep ee me ur res RE Een E nern Zar ES Taten Summe esse seen Teer au TEE AEAN Ba mer Sen Zar ae EDER a nr armen Staat mus DOSE Be LESS ESSERES —
gleihen zu behaupten (mir find tatfählih auch
folge Fälle ſchon vorgefommen).
Es ift alfo fhon richtig, daß echte Religion, die
mehr ift als bloße Dogmatik, fiherlid nur auf dem
feen Untergrunde eines Abfolutheitsbewußtfeins
ruhen fann, aber gerade daraus folgt, wie vor-
fihtig man fein muß, um niht unverfeheng diefen
Anſpruch nun doch von diefem innerften Kernftüd
der Religion auf die Schale, d. i. die Dogmatik,
zu übertragen. Das mag vielen heute noh un-
erträglich fcheinen, man muß aber dabei bedenfen,
daß die Dinge jest auf dem Boden unferes friti-
fhen Realismus ja nıht mehr fo ſtehen,
taf Aufgeben des direften An.
ſpruchs auf Abſolutheit fhon
gleihbedeutend mit Aufgeben der
betreffenden dogmatifhen Lehren
überbauptmwäre Wir wiffen ja nun, daß
wir das Abfolute auh im Melativen haben können,
und daf die naive Alternative des alten Realismus
und des fubjeltiviftifhen Idealismus falſch ift,
man habe entweder abfolute Gewißheit oder gar
feine. Wer alfo 3. B. der Meberzeugung lebt,
dag nur innerhalb feiner Kirche das Heil wirklich
zu finden fei, dem bleibt es auf unferem Stand-
punfte unverwehrt, diefe Behauptung aus dem
ganzen Syſtem der Religion als abfolute Wahr-
heit zu begründen, und er fann und darf hoffen,
daß fidh diefe dann ale Wahrheit mit innerer Not-
wendigfeit durdfeßen werde. Aber er muß aler-
dings davon abfehen, für die Anerfennung diefes
Sages die gleiche unmittelbare Abfolutheit in An-
ſpruch zu nehmen, wie für das von ihm in diefer
Kirche erlebte Heil ſelbſt. Denn nur dies" Heil
ſelbſt iſt die wirkliche unmittelbare Verbindung
mit Gott; die Kirche ift und bleibt das Mittel,
nicht die Sahe felber und dasſelbe gilt mutatis
mutandis von anderen entfprechenden Sägen.
Won bier aus ergibt fih nod ein bemerfens-
werter Ausblid. Man fann in Debatten über
religiöfe Dinge ebenfo oft auf der einen Seite
hören, die Kirche fei Fein ‘Debattierflub, wie man
auf der anderen die Forderung nad) vollftändiger
fubjeftiver Freiheit erhebt, zu glauben, was man
wil. Don unferem Standpunfte aus müflen wir
ben erſteren Stimmen rebt geben. In der Tat
wäre eine religiöfe Gemeinſchaft, die Feine Bin-
dung an objektiv Gegebenes mehr anerfennte, fon-
dern nur „jeden nad feiner Saflon felig werden”
Infien wollte, eine innere Unmöglichkeit. Und es
ift deshalb ganz verfehlt, wenn diejenigen, die auf
Grund der Einfiht in die oben erörterten Relativi-
täten der früher geltenden Autoritäten Reformen
fordern, dies immer nur im Namen der „Ge
wiffensfreiheit” oder dergleihen tun. Die Ge-
wiflfensfreiheit befteht als Forderung der Religion
— —ñ ⸗
an die äußere ſtaatliche und bürgerliche Ordnung.
Eine religiöſe Gemeinſchaft aber muß der Natur
der Sache nad eine Glaubensgemeinfhaft fein, fie
fann ein gewifles Map von Subjeftivität ertragen
und muß es auh, um nicht zu einfeitig zu werden,
aber es muß im ganzen in ihr doh gelten: in
neccessariis unitas und nur in dubiis libertas,
Dagegen ift gar nichts einzuwenden, folange nur
aus diefer Forderung Feine bürgerliche Intoleranz
irgend welcher Art gefolgert wird. Dap die freier”
Gerichteten dies nicht einfehen wollen, ift ein großer
Sehler und bringt die von ihnen vertretene Sade
immer wieder in Mißkredit. Dabei können fie
nämlich febr wohl in diefer Sache felber Redt
haben und haben es tarfächlich, fofern fie "jenen
älteren Autoritäten die abfolute Geltung abftreiten.
Denn damit vertreten fie in Wirklichkeit die ob-
jektive Wahrheit und darauf, nicht aber auf bie
fubjeftive Meinungsfreiheit follten und Fünnten fie
fih berufen. Die Wahrheit hat es nicht nötig, um
Duldung zu bitten, fie fann und muß Anerfennung
fordern. Dafür wird gerade die fogenannte Ortho-
doxie am eheften Verftändnis haben, denn fie ift es
ja, die entgegen uferlofem Subjeftivismus an ber
objektiven Grundlage fefthalten will. Wenn ich die
flaren Gründe dafür eingefehen habe, wie eg, um
bei diefem Beifpiel zu bleiben, mit der kirchlichen
Lehre vom Tode fteht, fo fann ich für diefe Einficht,
die jedem ebenfo wie die wiflenfchaftliche Wahrheit
auf anderen Gebieten zugänglich ift, nicht nur Dul-
dung, als einer möglichen „Anſicht“, fondern An-
erfennung im Namen einer Religion felber ver-
langen, deren Gott ein Gott der Wahrheit ift, und
eg ift ganz verfehlt, ja es muß die Sachlage von
Grund auf verderben, wenn man aud folde Fra-
gen wie diefe nur auf dag Geleife der ‚‚Gewiflens-
freiheit” fchieben will. Das wäre eine ſchöne Ge-
wiflensfreiheit, die mir erlaubte, dies oder dag
beffer willen zu wollen als Gott felber, in feinen
Schöpfungsplan fozufagen hinterher hereinzuforri-
gieren, nur weil mir die Sade fo, wie er fie ein
mal eingerichtet hat, in meine Dogmatik nicht paßt!
Die Gewiſſensfreiheit Eann fih nadh Tage der Dinge
innerhalb einer religiöfen Gemeinfhaft nur auf
diejenigen Tragen beziehen, welche fidh weder durch
eine auf wiflenfhaftlihe Tatſachenerkenntnis ger
ftügte Einfiht mit einiger Wahrfcheinlichfeit ent-
fheiden laffen, noh in unmittelbarem Zufammen-
bange mit der religiöfen „Heilsgewißheit“ ftehen
und aus diefem Grunde, obwohl wiſſenſchaftlich
unentfcheidbar, doh im Intereſſe der Glaubens-
gemeinfhaft feftgehalten werden müffen. Die
Grenze zwiſchen diefen letzteren und den freizu-
gebenden ift natürlih ſchwer zu beftimmen, aber
das darf nicht hindern, das Prinzip ale richtig an-
zwuerfennen. Man fann, um ein Beifpiel zu nennen,
194___
nicht gut verlangen, dag Chriften und Mohamme-
daner oder Juden zufammen in einer religiöfen
Gemeinſchaft fih vertragen follten, denn hier liegen
allzu tiefgreifende Unterfchiede vor niht nur in
der Bewertung der einzelnen „Heilsgüter“ felber,
fondern auh in der der von Gott dazu gefeuten
Mittel, 3. B. der Perfon Chrifti. Man fann aber
febr wohl innerhalb etwa der dhriftlihen Gemein-
fhaft Freiheit laffen über ſolche Fragen, wie z. B.
die Wunderfrage, die auf alle Fälle, man mag fie
entfcheiden wie man wolle, weder auf rein wiflen-
Ihaftlihem Wege eindeutig zu löfen, noh aus dem
Geſamtſyſtem der- hriftlihen rlöfungsreligion
heraus unbedingt fo oder fo zu entfcheiden it. Ich
leugne alfo niht etwa, daß eg überhaupt folde
„dubia“ gibt, hinfichtlich deren die Forderung der
libertas gilt. Ich wollte nur darauf hinmeifen,
dag der Kampf um die Geftaltung unferes reli-
giöfen Lebens von vornherein ganz verfehlte Bah-
nen einſchlägt, wenn man fo tut, als ob es fih nur
um ben Gegenfas zwifchen fubjektiviftiiher Freiheit
und ftarrer objeftiver Bindung an äußerlich ge-
gebene Autoritäten handelte. Jn Wirklichkeit hat
die fogenannte freiere Nichtung viel mehr objef-
Der Himmel auf Erden. Son Kurd Kißhauer.
Gebraucht das groß” und Feine Himmelslicht,
Die Sterne dürfet ibr verfhwenden, . . .
So fhreitet in dem engen Haus
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus!
Anfang Mai diefes Jahres wurde in Münden
das Deutfhe Mufeum feierlich eingeweiht, jener
Prachtbau, der die Meifterwerfe deutiher Wiſſen⸗
fhaft und Technik in feinen Mauern birgt. Seine
drei Kuppeln find der Aftronomie gewidmet, und
mit ihren Miefenfernrohren fann der Beſucher die
Wunder des geftirnten Himmels direft auf fih
wirken laffen. Wiele aber, die fih in die eigent-
lihen Geheimniffe der Weltenförper vertiefen
wollen, hatten bisher doh faum die Möglichkeit,
tiefer einzubringen, wenn fie nicht die Zeit auf-
bringen fonnten, eines der vielen ſchönen Werke,
die eg darüber gibt, eingehend zu fludieren. Was
den Laien dabei am meiften abichredt, ift die fo
genannte mathematifche Geographie, die ung bie
Bewegungen der Geftirne, vor allem der Planeten,
lehrt. Um dem abzubelfen und aud weiteren
Kreifen auf Teihte Weife eine Einführung in die
fhönfte aller Wiſſenſchaften angedeihen zu laffen,
hatte der Erbauer des Deutfhen Mufeums, Reihs-
rat Dr. Oskar v. Miller, ein Planetarium
geplant.
Es bat aud früher fhon Verſuche gegeben, den
geitirnten Himmel anſchaulich darzuftellen. Das be-
Der Himmel auf Erden.
—_
tive als fubjeftive Intereſſen und ihre Durd-
ſchlagskraft beruht fogar ganz auf diefen. Mur ber
allgemeinen relativiftifhen und fubjektiviftifchen
Zeitftrömung ift es zuzuſchreiben, dab man das
auf beiden Seiten faft ganz vergeflen fonnte. Jetzt
ift es aber an der Zeit, endlich einzufehen, daß es
fi gar niht um die Emanzipation des Subjekts
von unerträglihen Bindungen in erfter Linie, fon-
dern um die Befreiung der objektiven Wahrheit
aus niht länger tragbaren Feffeln früherer Sub-
jeftivitäten handelt.
Wir find am Schluffe unferer Ausführungen.
Es ift nur ein winzig Heiner Bruchteil deffen, was
eigentlih alles gejagt werden müßte, den wir bier
geben Fonnten. Ich bin zufrieden, wenn meine
Lefer diefen Aufſatz mit dem Cindrud aus der
Hand legen, dag wir tatfählih am Anfange einer
neuen objektiven Einftellung zu allen hier ange
deuten Fragen ftehen, daß es fih lohnt, darüber
nachzudenken, wie auf allen verſchiedenen Gebieten
unferes geiftigen Lebens fi der Umſchwung vom
Nichtsalsrelativismug zu einem Eritifh nicht mehr
anfehtbaren Realismus vollziehen wird und muß.
— — — — — — — FREE —
C
Fanntefte diefer Kunſtwerke ift wohl der Gottorp-
ſche Globus, in defen Innerem man den Anblid
des geſamten Firfternhimmels genießen fonnte. Es
war nämlih die Kupferhaut des Globus in ge-
nauer Nachbildung der Sternbilder mit entfpre-
hend großen Löchern verfehen, durd die das Tages-
liht fiel. Ganz ähnlich angelegt, jedoch bedeutend
größer als der nur 3,50 Meter im Durchmeſſer
haltende Gottorpfhe Globus, war das Georama
von Wyld, das im Jahre 1851 in London der
Deffentlichfeit vorgeführt wurde.
Keiner von diefen Fünftlihen Sternhimmeln be-
rüdfichtigte jedoch die Planeten, da deren Anbrin
gung und Weiterbewegung unter den Firfternen
die ganze Anlage zu fehr kompliziert hätte. Mur
ein einziges Modell ift befannt geworden, das ben
vollftändigen Anbli des geftirnten Himmels ein-
fhlieglih der Planeten zur Darftellung bragte.
Es ftammt von einem Mann, der auh fonft er-
findunggreih war, und deffen Haus als eines der
fieben Wunder Jenas galt: Ehrbars Weigel.
Diefes Planetarium war auf dem Dade des alten
Schloſſes, an deffen Stelle heute der Univerfitäts-
neubau fi erhebt, aufgeftellt und wird bei dem
Fürſten und feinen Beſuchern genügend Bewunde-
rung erregt haben. [Leider ift diefes intereflante
Stüd nit erhalten geblieben, und wir wiſſen heute
nur noh, dag Weigel die Planeten auf dem Tier-
freisftreifen verſchiebbar angeordnet hatte.
Ohne dag Herrn Dr. v. Miller diefe Einzel.
beiten befannt waren, dachte er fi fein Plane-
tarium in Form einer drehbaren Kuppel, die dem
innenftebenden Beſchauer die Bewegung der Ge-
tirne durh ihren Umſchwung verfinnbildlichte.
Wegen der äußeren Aehnlichfeit mit einer Stern-
wartefuppel wandte fih von Miller an die Firma
Zeiß in Jena mit der Bitte, einmal ein vollftän-
diges Planetarium durchzufonftruieren. Der Tange
vor dem Krieg begonnene Entwurf blieb immer
wieder bei der Darftellungsmöglichfeit der Pla-
neten ftehen. Wenn man die Wandelfterne ent-
iprehend der Anordnung der Modelle, wie wir fie
in unferen Schulen benugen, an langen Stangen
um den Mittelpunft herumführen wollte, fo hätten
die dazu nötigen fünf bis adt oder noh mehr Meter
langen Hebel doh nicht die gewünfchte Genauigkeit
erreihen laffen. Außerdem mußten fih diefe
fieben langen Arme reibungslos über- und unter-
einander fortbewegen können.
Da machte in einer der erften Beſprechungen
Ende des jahres 1918 Dr. Walther Bauersfeld
von der Gefhäftsleitung der Zeiß-Werkſtätten den
Vorſchlag, die Planeten mittels Lichrbildapparaten
von der Kuppelmitte her wiederzugeben. Einmal
auf diefem neuen Wege, machte man ganze Arbeit
und befchloß, die Firfterne auf die gleihe Art dar»
zuftellen, alfo ebenfalls anzuprojizieren. — Sidt-
bildapparate gibt es feit einigen Jahrhunderten,
bier aber fam es darauf an, eine ganze Gruppe da-
von mittels Präzifionsmehanif fo zu führen, daß
eine möglihft getreue Nachbildung des geftirnten
Himmels zuftande fam. — Don der erften bee
bis zur endgültigen Löfung diefer ganz neuartigen
Aufgabe war ein langer und befchwerliher Weg.
Mur der unermüdlihen und tatfräftigen Förderung
Dr. DBauersfelds, der die Leitung des Projektes
dauernd in Händen behielt, ift es zuzu-
fchreiben, daß ſchließlich alle die großen und
Fleinen Schwierigkeiten reftlos überwunden
wurden und das Planetarium das „achte
Wunder Jenas“ und den Hauptanziehungs-
punft im Münchener Deutfhen Mufeum
bildet.
Mit dem Uebergange zur Projektion
fonnten einmal die langarmigen Geftänge
fortfallen und wurde andererfeits die Be-
wegung der Kuppel unnötig. Auch bier
ſchuf Dr. Bauersfeld etwas Neues und
erfann eine eigene Stabfonftruftion für
die Kuppel. Der Aufbau ift dadurch
außerordentliht vereinfacht; das Kuppel-
gerippe wird, wie unfer Bild zeigt,
Der Himmel auf Erden.
außen und innen mit Sprißbeton überzogen. In
diefer Art wurde die Verfuhsanlage auf dem Dad
der Zeißwerfe errichtet und wird auh das neue,
noh im Bau ftehbende Planetarium im Prinzeflin-
nengarten hergeſtellt. Wenn die Innenſeite ber
Kuppel den örtlihen Himmel über dem vertrauten
Horizont zeigen follte, durfte der Gefichtsfreis des
Stadtbildes nicht fehlen, und fo läuft die Silhouette
der Stadt rund um die untere Kuppelwand. Auf
dem Innenbild der Kuppel erfennen wir die Um-
riffe der Türme und Kuppeln Münchens, für das
das erfte Planetarium beftimmt war. Die dahinter
auffteigende Kuppelwölbung ift weiß gehalten, um
das Abbild des Sternendomes aufzunehmen. Merf-
würdig ift es, dag man ſchon bei einfadher Be-
leudhtung den Eindrud hat, unter einer im Scheitel-
punft etwas abgeflahten Halbfugel zu ftellen, alfo
genau wie in der Natur jelbft.
Und nun zur Vorführung! Gedämpftes Liht
berrfht in der hoben Kuppel, denn unfere Augen
jolen fih an ſchwache Lichteindrüde gewöhnen, um
ipäter auh die Eleinen Sterndhen und die zarten
Umriffe der Milchſtraße in fih aufzunehmen. Bu-
erft erfheinen Sonne, Mond und Planeten allein,
ohne den Himmelshintergrund, damit wir mit ihrer
Geftalt und ihren Eigenheiten vertraut werden, fo
dag wir fie fpäter in der verwirrenden Fülle der
Geftirne ohne Mühe wiedererfennen. Unfer Tages-
geftirn ift an feiner hellen großen Scheibe und
einem Strahlenfranz leicht kenntlich, ebenſo ber
Mond an feinen wechſelnden Geftalten. Um bie
einzelnen Planeten leicht voneinander unterfcheiden
zu Eönnen, find fie nicht als die hellen Sterne
wiedergegeben, als welche fie dem bloßen Auge in
der Natur erfcheinen, fondern in mehrfaher Wer-
größerung und teils auh noch mit befonderen Merk.
malen ausgeftattet. Merkur ift als der Fleinfte
Planet niht zu verfehlen; das große rein weiße
Scheiben ftellt die Benus vor. Mars, et-
was Fleiner, ift an feiner rötlihen Farbe fennt-
Planetarium in Jena im Bau,
196____
ne ae anap Te na I m
lich; Jupiter ift durd feine, fonft nur im
Fernrohr fihtbaren, Wolkenftreifen und Saturn
durch feinen Ning gefennzeichnet.
Bei den verfhiedenen Tagesumläufen bemerfen
wir, daf Merkur und Benus fih ftändig in der
Mähe der Sonne halten, während die drei übrigen
Planeten aud die Oppofitionsftellung einnehmen
und am mitternädhtigen Himmel erfcheinen können.
Uebrigens find die beiden äußerften ‘Planeten,
Uranus und Neptun, nicht mitaufgenommen, da
fie am wirflihen Himmel für das bloße Auge un-
fihtbar find.
Die Sonne fehen wir zuerft an einem Sommer-
tage in weitem und hohem Tagesbogen am Himmel
entlangzieben. Die lange Tagesdauer und ihre
faft ſenkrecht einfallenden Strahlen erzeugen im
der Natur die fommerlihe Hike. Laffen wir bie
Apparatur ein halbes Jahr überfpringen, fo be
fohreibt die Sonne einen kurzen Bogen, der ihre
Strahlen fhräg einfallen läßt und der Erde nur
wenig Wärme zuführt.
Ein Viertelftündden ift inzwifhen vergangen,
unfere Augen haben fih eingewöhnt, und nahdem
die Sonne unterm Horizont verſchwunden ift,
leuchten plöglih die Sterne auf! Ein unbefchreib-
lich ſhöner Eindrud! Niemand ann einen Aus-
ruf des Entzückens unterdrücken. So oft aud ber
Verfaſſer diefer Zeilen das Planetarium vorführte,
immer gleich überwältigend wirfte das Aufflammen
des Sternendomes in der Kuppel. Schneller zwar
als in Wirklichkeit, aber dodh majeſtätiſch, ein-
bringlih in feiner ehernen Geſetzmäßigkeit, fteigt
der ftumme Reigen der Sterne im Often empor,
um in fanften Bogen im Welten zum Horizont
binabzugleiten.. Da kommt aud der Mond her-
aufgezogen, feine faft zum Vollmond gerunbete
Scheibe fhwimmt ruhig mit mildem Leuchten im
Gewimmel der Sterne. Nun erfennen wir auh
einzelne Planeten. Eben neigt fih der rötliche
Mars zum Untergang, während der ringgefhmücdte
Saturn im Often fhon auf halber Höhe fteht, und
gerade ſchickt fih aud Jupiter an, über dem Hori-
zont zu erfheinen. Regungslos gebannt folgen
unfere Blide dem erhabenen Scaufpiel, find der
Alltäglichkeit entrücdt und ganz dem reinen Ein-
drud der vollfommenften Illuſion hingegeben. Die
Kuppelwölbung ift verſchwunden, wir ſchauen in
den unermeßlich tiefen Himmelsraum, aus dem die
unendlich weiten Sterne zu ung bernieder fchim-
mern. — Schon erfennen wir einzelne Stern-
gruppen. Ein Kontaftdrud — leuchtende Tettern
erfheinen, und wir lefen die wohlbefannten Namen
der Mythologie, deren Geftalten eine finnige Volks⸗
poefie am Himmel verewigte. Deutlih hebt fid
ber Tierfreis heraus, in dem Sonne, Mond und
Planeten dahinwandeln, zwölf Sternbilder, deren
Der Himmel auf Erben.
Bezeichnungen vorzugsweife der Tierwelt entnom-
men find. Hoc darüber unterfcheiden wir das be-
fanntefte Sternbild, den Großen Bären, deffen
Hinterräder auf den Polarftern meifen, den ruhen-
den Pol in der Erſcheinungen Flucht! Laffen wir
einen Tag in einer Minute fih abipielen, fo wird
uns befonders deutlich, daß Caſſiopeja und Fuhr-
mann, [Leier und Schwan und alle übrigen um
diefen Polftern fih drehen.
Schon in der beſchleunigten Tagesbewegung
wurde ung mandes Mätfel gelöft, das wir am
natürlihen Himmel nur dur langes Beobachten
und Meflen hätten ergründen künnen. Wenn wir
jest aber die Tagesbewegung bes Firfternhimmels
ausfhalten und an dem ruhenden Sternenhinter-
arunde die Planeten ihre ahresbewegung in Mi-
nuten vollführen laffen, fo erfennen wir mit Cr-
ftaunen die verfehlungenen Pfade, die fie wandeln.
Merkur bewegt fih fo ſchnell, dag wir feine ge-
ſchloſſene Bahn um die Sonne bireft ablefen Fön-
nen. Bei Benus, die etwa dreimal fo langſam
freift, genügen zwei Erfcheinungen, um aud bier
die geſchloſſene Kurve erfihtlih zu madhen. Nur
bei diefen beiden Planeten, deren Bahn innerhalb
unferer Erdbahn liegt, Eönnen wir die Geſchloſſen⸗
heit des Umlaufes verfolgen. Die fogenannten
„äußeren“ Planeten, von denen hier Mars, Jue
piter und Saturn gezeigt werden, verhalten ſich
Hanz anders. Ihr Lauf ftelle für den Augenſchein
nicht eine ftändig fih wiederholende, ftets in gleichem
Sinne geridhtete Kreisbahn dar, fondern ift durch
Hin- und MWiedergänge und Schleifen ausgezeich-
net. Diele eigentümlihen Schleifenbahnen, bie
immer zu den Zeiten der Oppofition (Reihenfolge:
Sonne — Erde — Planet) auftreten, find eine
Folge des Umftandes, Laß wir von der beweg -
ten Erde aus beobachten, die fih innerhalb ber
Bahnen der Außenplaneten bewegt.
Wie der Iagesgang, fo beſitzt auch der Jahres-
gang drei verfchiedene Geſchwindigkeiten, deren
fhnellfte hier ein Jahr in fieben Sekunden abrollen
läßt. Diefer Gang wird nur benußt, um größere
Zeitabfchnitte fone zu überwinden. Einesteils
muß man ja die während der Vorführungen abge-
laufene Zeitfpanne wieder zurüdftellen, anderer-
feits bat man damit die Möglichkeit, etwa zu ge-
ſchichtlichen Zweden den Himmel Homers oder bie
Sterne zur Zeit der Geburt Chrifti aufzuzeigen.
Ein Zählapparat geftattet die Ablefung des je-
weiligen Zeitpunftes etwa auf ein Drittel- Tag ge
nau. Bei dem Bor- oder Zurüdfchreiten über
arößere Zeiträume wird aud) die Wanderung des
Himmelspols unter den Firfternen auffällig. Zu-
folge einer kreiſelförmigen Pendelung der Erd-
adje um ihren Mittelpunkt befehreibt nämlich ber
Himmelspol in 26 000 Jahren einen vollen Kreis.
In der kurzen, nur etwa eine Stunde währen»
den DBorführung fann man bloß die allerwicdhtig-
ften Himmelsvorgänge eben fennen lernen. Zu
einem tiefergehenden fhftematifhen Studium, wie
man es etwa mit Mn oberen Klaſſen unſerer
höheren Schulen
betreiben würde,
gehört eine be-
fondere Vortrags⸗
reihe. Immerhin
haben wir nun
foviel des Shi-
nen und Wiffens-
werten in ung
aufnehmen dür-
fen, daß wir mit
Recht Verlangen
fragen, die wun⸗
derbare Appara-
tur, die fo Cr-
ftaunliches leiſtet,
etwas näher zu
betrachten. |
Sn der Kup-
pelmitte erhebt
fih auf fchräg-
ftebender Säule
die Projeftions-
apparatur von bi-
jarrer, faft grio-
tesfer Geſtalt.
Wenn ‚„Konftru-
ieren Dichten
heißt”, wie die
Ingenieure Hein-
rih Seidel und Mar Epth uns lehren, fo ſtehen
wir bier vor der eigenartigften und vielleiht wun-
derfamften Dichtung der Technik! In gedrängtefter
Fülle — auf knappſtem NRaume niht weniger
als 81 Projeftionsapparate — birgt diefe geniale
Schöpfung alle Wunder des Firmamentes. Big zu
2,5 Metern ragt der Aufbau empor, fo daß die
2 Meter bobe Horizontallinie den Mittelpunft der
im oberen Zeil fihtbaren Firfternfugel mit den
fegelförmigen Anfägen durchſchneidet.
Ihrer Aufgabe angepaßt, gliedert fih die Appa-
ratur in zwei Hauptteile, die fchon erwähnte Fir-
fternfugel und den Planetenzylinder, denn es
müffen, wie eingangs erwähnt, dem natürlichen
Vorgang entiprechend, die Planeten auf dem Fir-
fiernbimmel als ihrem Hintergrund ihre eigenen,
unabhängigen Bahnen ziehen. Par
Aus unferen Kindertagen wiflen wir von der
Laterna magica, daß fie ebene Glasbilder befist,
die wieder auf einer ebenen Fläche abgebildet wer-
Der r Himmel auf Er Erden.
Planetarium mit dem Planetenapparat.
1907
den müſſen. t Gii io vëni es r * bei jebi
der bier verwendeten Projektionsapparate. Deg-
halb mußte die Himmelsfugel in fo Eleine Flächen-
flüfe unterteilt werden, daß jedes davon praftifch
als Ebene angefehen werden fonnte. Stellt man
fih einen Ster-
nenglobus vor, fo
wäre diefer in 32
gleidh große Him-
melsſtücke einzu-
teilen. Jeder die-
fer 32 Zeile ift
auf einer photo-
graphifchen Platte
(Diapofitiv) auf-
genommen und
fibt als ſolche in
einem der Fegel-
fürmig zugefpiß-
ten Projeftiong-
apparate. Aus
praftifchen Grün-
den hat man frei-
ih den Südpol
des Himmels nicht
mit abbilden ab-
bilden können,
denn - an dieſer
Stelle mußte die
Achſe durchgeführt
werden, um bie
ſich der Himmel
iheinbar dreht;
wir haben alſo in
Wirklichkeit nur
31 Lichtbildapparate zur Darftellung der Firfterne.
Außer den Firfternen fehen wir am Himmel
aber noh das zarte Band der Milchſtraße. Es
hätte nahe gelegen, den Milchſtraßenzug auf den
entiprehenden Firfternplatten mit aufzunehmen,
in der Praris erwies fih das jedoch als undurd-
führbar, da fih die verfhwommenen Umriffe der
Milchſtraße nicht gleichzeitig mit den fcharfen
Sternpünfthen abbilden liepen. Man mwar ge-
zwungen, 11 weitere Projeftionsapparate eigens
hierfür anzubringen; am Iinfen Rand der Fir-
fternfugel find auf dem Bilde einige diefer mehr
zulindrifchen und etwas kleineren Projeftionsanfäße
zu erfennen.
Die Fülle der dargeftellten Sterne — eg find
etwa 4500 von der erften bis zur fechften Größe
— wird es dem Laien ebenfowenig wie in der Natur
erlauben, fih ſchnell darunter zurechtzufinden; des-
halb mußte noh für die Wiedergabe einer Anzahl
Sternbildnamen geforgt werden. Die widhtigften
198
ö— —
find die fogenannten zwölf Tierkreisbilder, in denen
Sonne, Mond und Planeten fcheinbar entlang
wandern. Die bilden einen Gürtel, die Effiptif,
und find hier durch weiße Namen ausgezeichnet.
Außerdem find noh 18 andere Bilder und zwar
in roter Schrift gefennzeichnet, wie der Große und
der Kleine Bär, Caſſiopeja, Fuhrmann, Leyer,
Schwan ufm. Der
Stern, in deffen un-
mittelbarer Nähe fidh
der Himmelsnordpol
befindet, der Tete
Schwanzſtern des
Kleinen Bär, ift
durh einen roten
Kreis beſonders ber-
vorgehoben. Dieſe
insgeſamt 30 Fleinen
Projeftions- Apparate
find nur etwa finger-
lang und auf dem \
mittleren Zeil der
Sirfternfugel recht Ekliptikachse Jo Polachse
gut zu erfennen.
Die gefamte Grup- ⸗
pe dieſer 72 Lidt-
bildapparate wird
von einer einzigen —
Lichtquelle, einer 200
Watt⸗Glühlampe, ge⸗
ſpeiſt, die etwa 400
Kerzen erzeugt. Ein
dunkler Vorhang
ſorgt dafür, daß die
„untergegangenen“ Geſtirne rechtzeitig abgeblendet
werden.
Der Aufbau und die Bewegung der Firftern-
apparatur hat im Verhältnis noh am wenigften
Mühe gemadt, ganz im Gegenfas zur Planeten-
apparatur, die fih in dem großen Glaszylinder be»
findet. Während der Firfternförper nur um bie
eine, der Himmelsachſe parallele, fchrägftehende
Achſe gedreht zu werden braudt, hat jedes von den
ficken dargeftellten Wandelgeftirnen feinen eigenen
Rhythmus. An der Skizze des Aufbaues find diefe
Verhältniſſe befonders deutlich zu erfennen. Um
die Polachſe dreht fidh der Firfternförper, um die
Ekliptikachſe jeder Planetenapparat für fih, den-
noh aber mitgenommen von der allgemeinen fäg-
lihen Bewegung der Polachſe; die Planeten neh-
men ja am täglihen Umſchwung des Himmels-
gewölbes teil.
Zu den Wandelgeftirnen gehören bier nicht nur
die fünf großen Planeten Merkur, Venus, Mars,
Jupiter und Saturn, fondern auh Sonne und
Mond, da fie ebenfo unabhängig unter den Fir-
Der Himmel auf Erden.
fternen fih bewegen. Zwar Freifen in Wirklichfeit
Pixsternkörper
—
die Planten um die Sonne und der Mond um die
Erde, dem Augenſcheine nah aber ftellt es fi
anders dar, und genau nad dem augenfcheinlichen
Bilde fol ja die Wiedergabe erfolgen.
Da man die Planetenapparate aus mehanifchen
Gründen niht alle in einer Ebene anbringen fonnte,
find fie, wie das "Bild
zeigt, ſtufenförmig
untereinander ange”
ordnet. Zu oberft
befindet ſich die
Sonne, dann der
Mond, und die Pla-
neten in der Reihen-
folge ihres Sonnen-
abftandes. Für
Sonne und Mond
war bie Darftellung
- wiederum noh ver-
hältnismäßig einfady,
dba fie ſich — jene
ſcheinbar, diefer wirt-
ih — um die Erbe,
unfern Beobadhtunge-
j ſtandpunkt, drehen.
/ Es genügte alfo eine
einfahe Mitteladhfe.
/ Der Sonne find nod
zur Erzeugung der
Dämmerungserfchei-
IT — —
T OOS⏑⏑⏑—— nungen zwei beſon⸗
Pa od h a anga à í
Aufbau des ProjeltionssPlanetariums.
dere Drojeftionsappa-
rate beigegeben, bie
fie mit einem Strahlenfranz umgeben. Der Mond
hingegen mußte eine Blendenvorrichtung befommen,
die die Mondgeftalten, vom Neumond bis zum
Vollmond, und wieder abnehmend, erzeugt.
Dem Augenfhein nah fteht die Erde im Be-
mwegungszentrum und wird von den Planeten um-
Freift. Bei näherer Beobachtung aber erfcheinen
die Bewegungsvorgänge der Planeten, wie wir
wiflen, außerordentlih vermwidelt, da fie fih bald
vorwärts, bald zurüd bewegen, zeitweilig ftille
fteben und fogar Schleifen bilden. Um diefe vere
fhlungenen Planetenbahnen wiederzugeben, hatten
die Alten ein fehr verzwidtes Syſtem erfonnen, bei
dem fih der Planet niht direft um die Erde als
Mittelpunkt drehte, fondern auf einem Meinen
Kreife faf, deffen Zentrum feinerfeits erft auf dem
arogen Bahnkreis herummanderte. Die Genauig-
feit, mit der man bei diefer Darftellungsart ber
Natur nabe fommen fann, ift aber nicht übermäßig
groß; deshalb wurde fie hier nicht verwendet. Das
zunächſt Ueberrafchende ift, daß die größte Genauig-
Der Himmel auf Erden.
feit bei ftrenger Wiederholung des copernicanifchen
Manetenfuftems erzielt wird. Ganz objektiv be-
trachtet ift eg ja auh nicht anders möglich.
Die fünf Planetenapparate find grundfäglich
vollfommen gleich gebaut und zwar, wie fhon an-
gedeutet, nadh dem copernicanifhen Spftem. Die
Sonne ift jedesmal in der Mitte zu denfen; fie ift
199
— — —— — —— — —
Die ſieben Wandelgeſtirne kreiſen verſchieden
ſchnell; trotzdem war es möglich, fie durch eine ges
meinfame Welle anzutreiben, indem man verjdie-
den große Zahnradüberfegungen anwandte. Wäh-
rend die Gefamtapparatur von einem Motor mitt-
lerer Größe (auf unferem Bilde unſichtbar) in
Umdrehung verfegt wird, genügte für die Sonder-
— —
Das Planetarium in Jena.
nicht einmal durch einen Zapfen oder dergleichen
vertreten, denn das Drehzentrum mußte — ein er—
ſtaunlich geſchickt durchgeführter Kunſtgriff! — nach
außen verlegt werden. Das deutlich ſichtbare Ge—
Hänge mit den Querverſtrebungen ſtellt ihn dar.
Natürlich mußten alle diefe Streben möglichft dünn
gehalten werden, um die Lichtftrahlen nur verfchwin-
wnd wenig abzublenden. Trotzdem hat die Wer-
rebung nicht weniger als 1% Bentner zu tragen!
Erheben wir von der Erde unferen Blid zum
Simmel, fo fehen wir die Planeten auf dem Hine
melshintergrunde fid abbilden. Es geht aljo eine
gerade Linie von unferem Auge über den Planeten
nad) dem Himmelsgewölbe. Genau fo find die
Planetenapparate angeordnet. Cin Zapfen, ber
die Erde darftellt, und ein Fleiner Projektionsappa—
at, der das PM lanetenbild enthält, find fo mitein-
ander verbunden, daß fie zwangsläufig in gerader
Linie bleiben. So freifen fie gemeinfam um bie
Onne als ihren Drebungsmittelpunft. Je nad-
dem nun, ob Erde und Planet fih auf derfelben
oder verfchiedenen Seiten der Sonne befinden
(Konjunftion oder Oppofition), haben fie verſchieden
großen Abftand. Diefer wird auf einfahe Weife
durd eine fogenannte Nürnberger Schere, einen
ieredigen Rahmen mit Scharnieren an jeder Ede,
eingehalten.
(Kuppeldurdmefler 25 m.) `
bewegung der Planetenapparate der Fleine Motor,
der zwiſchen dem Planetenzylinder und deffen aus
Einzelplatten zufammengefegtem Gegengewicht fidt-
bar ift. Die Efliptif, in der fih die Planeten be-
wegen, ift hier in unferer Mechanik zu einem breiten
Reifen mit Zahnfranz geworden, der mitten zwi-
ihen dem Firfternförper und dem Planetenzylinder
fikt; an diefem Reifen gleitet der Planetenzylinder
als Ganzes entlang, während die Planeten jeder
für fih ihre Stellung innerhalb des Zylinders ein-
nehmen.
Am Fuß der Säule befindet fih die Schalttafel,
mit deren Hilfe die einzelnen Apparateteile in Be-
wegung gefeßt und die Sternbildnamen ein- oder
ausgeichaltet werden Fünnen.
Die Genauigkeit der Geftirnftellungen hat fih
als ganz erftaunlic erwiefen. Nah Ablauf von
einigen taufend Jahren ift der Fehler niht größer
als zwei oder drei DBollmondbreiten. Da hätte
denn füglih Copernicus und felbft Tycho Brabe
getroft an diefem Fünftlihen Himmel beobachten
und meffen können; folange man nur das bloße
Auge dazu benust, ift die Präzifion der Mechanik
vollauf hinreichend.
Die Verſuchskuppel in Jena hat einen Durd-
meffer von 16 Metern, während die Münche—
ner Kuppel nur einen folben von 10 Metern
200
aufweift. Der Neubau im Prinzeflinnengarten zu
Siena wird fogar 25 Meter Kuppeldurchmeſſer be-
fiken. Schon im Rohbau läft fih die gute ardi-
teftonifhe Wirkung des Aeußeren diefer neueften
Anlage erfennen, was die hier beigefügte Skizze
beftätigt.
Das Projeftionsplanetarium bat fih als ein fo
vorzügliches Lehr- und Bildungsmittel erwiefen,
daß eine ganze Reihe von Städten fih zur Er-
richtung eines eigenen Planetariums entichloffen
hat. So wird es in etwa ahresfrift möglich fein,
von faft allen Punkten Deutfchlande aus eine folde
Zwanzig Jahre Höhbenflimaforichung.
____ Zwanzig Jahre Höhenklimaforihung.
— —— N ——
Stadt leicht zu erreichen. Aber auch das Ausland
hat den hohen Wert dieſer deutſchen Errungen⸗
ſchaft, dem auf der ganzen Erde nichts Gleich⸗
artiges an die Seite geſtellt werden kann, erkannt,
und für einige Städte ſind bereits Planetarien
projektiert.
Möchte der Stolz auf dieſes Wunderwerk deut-
ſcher Ingenieurkunſt, der die Teilnehmer der Cin-
weihungsfeier des Deutfhen Mufeums in Münden
erfüllte, in das Bewußtſein des ganzen Volkes
übergehen! |
Bon Prof. Dr. Dorno, Leiter des phofifalifch-meteorologiihen Dbfervatoriums in Davos.
Die Klimatologifhe Tagung, vom 17. bis 22. Auguft
diefes Jahres in Davos, an welder Autoritäten zahi-
reiher europäifher Länder, Mediziner, Meteorologen,
Phyſiker, Botaniker, Zoologen, die Bedeutung des Klimas
nad der phyſikaliſchen, phyſiologiſchen und therapeutifchen
Seite behandeln werden, lenft die Augen auch unferer
Sefer auf den den meiften nur als Lungenfurplas befannten
Ort und feine nftitute hin, deren Ruf die berühmten Ge-
lehrten folgen. Auch diejenigen, denen in Erinnerung ge-
blieben ift, daß Davos niht nur Lungenkranke aus allen
europäifhen und nidhteuropäifhen Landen verfammelt, fon-
dern aud die Wiege und bis zur Gegenwart einer der
Hauptrepräfentanten der Winterfportpläge ift, ahnen nicht,
welh ein geiftiges Zentrum diefe tief in bdie Bündner
Alpen gebettete, in 1600 Meter Höhe gelegene Stadt
bildet, die „weiße Stadt”, wie fie oft genannt wird, ba
fünf Monate hindurch der zartefte weiße Schnee ihren
Boden dedt. Schaut man auf die Karte der Alpenländer,
fo findet man leicht eine Erklärung für diefe eigenartige
Höpenniederlaflung: Nur im rhätifhen Hochlande finden
ih ausgedehnte Täler mit breiten flachen Talfohlen in einer
dem Gipfel der Scneeloppe und des Migi ähnlichen
Höhenlage, und nur eines berfelben zeichnet ſich durch
großen Windfhus aus, welcher auch in den flurmburd-
brauften Uebergangsiahreszeiten Kranten und Mefonvales-
jenten einen geeigneten Aufenthalt bietet — das Davofer.
Der in Tallängsrihtung meilenweit freie Ausblid läft das
Gefühl der Enge niht aufflommen, und ihm ift es zu
danken, dafi viele Familien aus dem Flachlande übergefiedelt
find in die ferne Höhe, meift aus Nüdfihten auf die Ge-
fundheit eines Familienmitgliedes. Künftler und Gelehrte
aller Länder reihen fih da die Hand und ziehen aus ben
(meift lange anweſenden) Kurgäften und aud aus ihren
Heimatländern Geiftesverwandte heran zu oft frudtbarer
Zufammenarbeit, und eine intelligente, aufftrebende bei-
miſche Bevölkerung unterftüßt diefe.
Als im Jahre 1904 den Gründer und Leiter des Phy-
flalifh-Meteorologifhen Obfervatoriums die Sorge um
feines einzigen Kindes Gefundheit in die Schweiger Berge
und bald nad Davos führte, hatte man gerade die grund-
legenden Strablungsgefeße gefunden und Meßmethoden
sum Gebrauch im Yaboratorium ausszuarbeiten begonnen.
Die von ber Ebene augenfheinlid gany abweichenden
Strahlungsverbältniffe des Hodgebirges reisten ihn, diefe
Methodik in den Dienft der Meteorologie und Klimatologie
zu flellen, und die Frage nah der Qualität der ultra-
violetten Strahlung war bie erfte, weihe er in Angriff
nahm, eben bie, welde heute die Phnficlogie der Pflan-
zen und Tiere fo lebhaft beihäftigt, wobei fie nicht felten bie
damals gewonnenen Zahlen zur Grundlage nimmt. We-
nige Xabre zuvor waren die erften Arbeiten Rutherford's
und Soddy's über die Radioaktivität erfhienen, und Elſter
und Geitel legten die Grundlagen zur Erforfhung ber ger
famten anorganifhen Natur auf ihre radioaktiven Figen-
fhaften. Diele Forfhungen befruhteten aufs Neue bie
ein wenig ins Etoden geratenen, von Wien ausgegangenen
Unterfuhungen über die Lufteleftrizität und bedten ben
engen Zufammenbang beider Saftoren auf. Angefihts alles
diefes ergab fih für den erften Arbeitsplan des Obfer-
vatoriums kurz gefaßt „die Unterfuhung des Strahlungs-
Elimas des Standortes” (Davos), — Strahlung im weiteften
Sinne, umfaffend ale Aetherſtrahlungen von ben Fur.
mwelligen röntgenartigen über die ultravioletten, fihtbaren,
ultraroten hinweg zu den ganz langwelligen eleftriihen
und umfaflend auch bie korpuskulare radioaktive Straß-
lung der Luft, des Erdbobeng, der Quellen. Die Refultate
biefes erſten Arbeitsabfchnittes find niedergelegt in ber
„Studie über Licht und Luft des Hochgebirges”, (Vieweg
1911). Aus ihnen ift ausgefondert, was fpeziel den Arzt
intereffiert, und niederlegt in Band 1, Heft 7, ber Ber-
öffentlihungen der Zentralftelle für Balneologie“ unter
dem Titel „Vorſchläge zum fuftematifhen Studium bes
Si Luftflimas der den deutſchen Arzt intereffierenden
rte”.
Diefe „Vorſchläge“ paben mannigfahe Nachachtung ge-
funden: Jn Deutihland, der Schweiz, den Vereinigten
Staaten von Mordamerila bat man nah gleihem oder
ähnlihem Programme das Lichtklima recht verſchieden ge-
legener Orte unterſucht, Niederländiſch Indien, Braſilien,
Argentinien ſchenkten ihm viel Beachtung. Die Aus-
flattung des Obfervatoriums am Schluſſe biefer erften Ar-
beitsperiode ift befanntgegeben in einer bei Wieweg 1912
erſchienenen bilderreihen Beſchreibung.
Aus der rein descriptiv eingeſtellten klimatologiſchen
Frage: „Was kommt von den, letzten Endes von der Sonne
ausgehenden, mannigfachen Strahlenarten am Berb-
achtungsorte an?’ entwidelte ſich automatiſch die Frage:
„Die erflären fib die Variationen, die im Tages
und Tabreslaufe und im Laufe der Jahre beobachtet wer-
den?“, und diefe Frage rollte die geophnfilalifhe Seite
dee Problems auf, die Frage nah der Durdläffigleit der
Erdatmofphäre, ihren Variationen und der Urfade der
Variationen, und mit ibr bie aftrophufilalifhe Frage nad
der Größe und Variation der ertraterreftriihen Sonnen-
ftrahlung beim Eintritt aus dem Kosmos in die oberften
Grenzen unferer irdifhen Atmoſphäre. Die atmofphärifde
Polariſation, entdeckt ſchon 120 Jahre zuvor, ſyſtematiſch
ſtudiert aber erſt in den letzten Jahrzehnten, bot hierbei
das kräftigſte Hilfsmittel, und ohne Zögern wurde es unter
dem klaren Hochgebirgshimmel in reichem Maße heran⸗
gezogen und verbunden mit Unterſuchungen der Helligkeits⸗
verteilung über den Himmel. Die Kombination ber
Beſtimmung von Polarifation und Helligkeit, ausgedehnt
über den ganzen weiten Himmelsdom, bei jebem Sonnen-
frande und jeder Jahreszeit (ermögliht allein durd bas
Dauerfundament eines richtig eingerichteten Obfervatoriums)
ermöglichte die Feſtſtellung und Begründung des innigen
Zufammenhanges beider Faktoren und ihrer Abbängigfeit
nicht nur von den meteorologiihen Faktoren, fondern aud
von der Sonnen- und Vulkantätigkeit. Zu Hilfe fam ber
waltige Ausbruh des Katmai-Vulkans auf Alaska im
pre 1912, welcher ausnahmsweife nit in eine Zeit ver-
mehrter Sonnentätigfeit fiel, fodaß der tellurifhe Einfluß
Mar geſchieden werden konnte von dem Tosmildh-folaren.
lesteren vermochte man dann in den Jahren 1915/17 bei
erneut einjegender Sonnentätigleit zu fludieren. Die
Effekte ergaben fih leicht aus der Differenz, da ja bdie
Mormalwerte ungeftörter Zeiten aus den “Jahren 1907 —
1911 fchon vorlagen. Auf Grund diefer und den dauernd
parallel gehenden Beobachtungen der Dämmerungserſchei⸗
nungen wurde im jahre 1917 die Theſe aufgeftellt, daß
jede Einzelevolution der Sonne dur eine Veränderung
der Durdläffigkeit der Erdatmofphäre, wenn auh an jedem
Orte verfhieden, beantwortet würde. Die Driginalien
diefer Unterfuhungen finden fih in den „Abb. d. Preuß.
Met. Inf. Band V und VI“.
Won der Durdläffigkeit der Erdatmofphäre hängt die Er-
tinftions(— Auslöfhungs-)größe ab, eine der wichtigften für
den Aftronomen, denn ihr unterliegt jedes Sternenliht. An
empirifch feftgelegte Durchſchnittswerte hält fih der Aftro-
nom, er weiß aber recht wohl, daß die wahren Werte häufig
Rart abweihen und ſchnellen Schwanfungen während ber
Dauer der Beobahtung unterworfen find. ‚Eine auf den
momentanen Zuflend der Erdatmoiphäre nbftellende
Methode zur Beſtimmung der Ertinftionsgröße” wurde ab-
geleitet aus den in verfhiedenen Spektralteilen durchge⸗
führten Meflungen des Helligfeitsabfalles von der Sonne
(Aftronomifhe Nachrichten 1919, Nr. 4999).
Die Sonnenftrahlungsmeflungen hatten inzwiſchen foweit
Verbreitung gefunden, daß die Gelegenheit der Sonnen-
finfternis des 8. April 1921 ergriffen wurde, um eine grö-
fiere Zahl von Dbfervatorien ber Schweiz, Defterreichs,
Deutihlande, Hollands, Polens, Schwedens zu gemein-
famer Beobachtung zu fammeln. [Leider war nur Davos
vom Wetter begünftigt. Das Mefultat gipfelte darin,
daf das um den Mondichatten fih legende Beugungslicht
einen unerwartet großen Betrag liefert und der Theori:
entſprechend im Rot einen größeren als im Ultraviolett —
ein DMefutat- welches nad brieflihen Nachrichten durch
amerifanifhe Beobahtungen während der Sonnenfinfternis
dee 24. Januar d. J. beftätigt fein fol. Die auf diefe
Weile zu Stande gefommene Organifation unterzog fid
dann der Dauerarbeit ber Tageslihtmeflungen mittels bes
zu dieſem Zwecke vom Davoſer Dbfervatorium ein wenig
vervollftändigten Eder'ſchen Graukeilphotometers. Durg
genaue Abſtimmungen und Kontrollen gelingt es, auch mit
diefem einfahen Snftrumente einigermaßen fihere Ber-
gleihswerte diefer nit nur für Medizin und Hygiene und
Naturwiſſenſchaften, fondern aud für das ganze praftifche
Leben fo äußerft widtigen Größe zu erhalten. England
ſchloß fih mit 6, Italien mit 3, DBrafilien mit einer
Station an; aug auf dem atlantifhen Ozean find Parallel-
meflungen durdgeführt, Lappland und Finnland beteiligen
fid in biefem Sommer. Jn der Meteorologifhen Beit-
ſchrift 1925 it vom Davofer Obfervatorium hierüber be-
richtet.
Zwanzig Jahre Höhenklimaforſchung. 201
Die rärfelhafte, aus dem Kosmos kommende, härter als
die bärtefte radivaftive Etrahlung befundene fogenannte
„durchdringende Strahlung” bildete gleihfalls jahrelang,
zeitweife im Berein mit ſchweizeriſchen, öfterreihifchen,
deutfhen und bolländifhen Obfervatorien den Gegenftand
der Beobahtung. Die Sonnenftrahlung wurde im Berein
mit dem Meu-Babelsberger Aſtrophyſikaliſchen Obferva-
torium auf Furzperiodifhe, den Helligkeitsihwanfungen des
Ô Cephei- Typus verwandte ntenfitätsihwanfungen unter-
fuht. Nach Durchbildung der photoelektrifhen Bellen-
methode von Eifter und Geitel wurde fie, wie in Neu⸗Ba⸗
belgberg zuerft in den aftronomifchen, fo in Davos zuerft
in den meteorologifhen Dienft geftellt, und die Anpaflung
der Methode an die Werbältniffe in der freien Natur
bradte mande nicht ganz leicht zu löſende Aufgaben metho-
dologifher Art. Dies reiste zu ihrem meiteren, erfolgreich
durchgeführten Ausbau im Megiftrierdienft, welcher faft
reftlos gelang. Die Ponfifalifde und Meteorolegifche
Zeitfhrift enthalten die meiften der diesbezüglihen Publi-
fationen. Vieweg's Sammlung „Die Wiflenihaft” Band
63 führt den Lefer mühelos ein in dag ganze weite Gebiet
der „Phyſik der Sonnen- und Himmelsftrablung”. Diefes,
weitgehenden Bedürfniſſen Rechnung tragende Bändchen
hat dem Obfervatoriumsleiter vielen Dant eingebradt.
Trog des geophufifalifch-meteorologifhen Hauptcharakters
des Obfervatoriums fehlte es nie an Beziehungen zwifchen
ibm und ber mebdizinifhen Wiffenfhaft, insbefondere ber
Phyfiologie. Die Bedeutung der ultravioletten Strahlung,
voran die ophtalmologiſche, gab Anlaß zu zeitweife lebhaften
Kontroverfen in mannigfahen medizinifhen Fachſchriften.
„Klimatologie im Dienfte der Medizin”, in Viewegs „Ta⸗
gesfragen”, Band 50, erfhienen, enthält die in einem
Tortbildungsfurfus für Aerzte an der Univerfität Züri
gehaltenen Vorträge; beachtet wurden in ibm befonbers
die Abſchnitte, welde die Luftfeuchtigkeit und die Strah-
Tung bebandeln ſowie mande ganz neu aufgeworfenen tli-
matologifhen Fragen. Einen gewiffen erten Abſchluß
diefer Studien über „Spezifiſch-⸗mediziniſche Klimatologie‘
bildet die in der „Zeitſchrift für phyſikaliſche und diäteti-
ſche Therapie” 1922 erfchienene Arbeit „Weber geeignete
Klimadarftellungen” und die Konftruftion des die funda-
mentale „Abkühlungsgröße” regiftrierenden „Davoſer
Srigorimeters” (Meteorologifhe Zeitfhrift 1925).
Im Sabre 1922 fam dann, von der Davofer Aerzte-
ſchaft ausgehend, der Gedanke auf, an der Seite des Ob-
fervatoriums ein „Inſtitut für Hochgebirgs-Phpfiologie und
Tuberkulofeforihung” zu gründen, und er wurde in Kürze
zur Tat auf breitefter Bafis. Tief veranfert im ganzen
Schweizerlande ift der ftattlihe Bau, die führenden wiffen-
ihaftlihen Vereinigungen der Schweiz, das Note Kreuz,
die Gemeinde- und Kantonsregierung befinden fih neben
großen Aerztelorporationen unter den Gründern, bedeutende
fhweizerifhe Univerfitätsprofefloren fungieren als wiffen-
fhaftliher Beirat. Des Bundes Hilfe it in naher Aus-
fidt; dann erft fol die Abteilung für Tuberkuloſe aus-
gebaut werden, zur Zeit ift nur die phufiologifhe im Be-
triebe. In den faum 214 Jahren ihres Beftebens hat ihr
leiter, Prof. A. Loewy, es verftanden, unter reger Mit-
arbeit von Forſchern zahlreiher europäifher Länder febr
wichtige und vielgeftaltige Ihemata erfolgreih zu beban-
deln und dadurdh die Augen der ganzen Fachwelt auf dag
junge Inſtitut zu lenken. Ernft und fleißig wird ſchon feit
Jahrzehnten an der Erforfhung der phnfiologiihen Wir-
tungen des Höhenklimas auf den gefunden und kranken
Menihen gearbeitet, aber meift nur vorübergehend, oft
nur als Ferienarbeit, obne einheitlihen Plan, ohne dau-
ernden fiheren Stützpunkt, den die Arbeitenden umfo nő-
tiger haben, je fubtiler die angewandten Arbeitsmethoden
werden. Häufig wurden die Unterfuhungen auch am
eigenen Leibe nah außergemöhnliden Strapazen, alfo
2 EIER ER ORHEIEEEEN
— — — — — =- — — ——
unter ganz ungewöhnlichen Bedingungen, ausgeführt. So
konnte es nicht ausbleiben, daß die Reſultate häufig wider⸗
ſprechend ausfielen und die Ueberſicht immer mehr litt. Dem .
allen ift nun abgeholfen durh das 20 Arbeitsräume und
viele Tierftälle bergende, in Davos in 1600 Meter Höhe
liegende nftitut und feine mühelos mit der Bahn zu er-
reichende, in 2500 Meter Höhe im Engadin auf Muottas-
Muraigl gelegene Zweigftation.
Die bisher angeftellten Unterfuhungen beziehen fid
bauptfählih auf den Stoffwedfel, den Blutdrud und bie
Veränderung des Blutbildes bei kurzem und langem Auf-
enthalt in der Höhe, und die modernften chemiſchen und
phufitaliihen Methoden find in den Dienft diefer Forſchun⸗
gen geftele. Alle beobadteten Erfcheinungen find unter
dem Geſichtspunkt betrachtet, daß fie zweckmäßige Regulice-
rungsvorgänge barftellen, welde geeignet find, den in ber
Höhe drohenden Sauerftoffmangel binausjurüden. Bahn-
btechend ift zweifellos der hierfür von Profeflor Loewy in-
direkt erbrachte Beweis: Alle bisher fo häufig beobachteten
und unter mannigfaltigen Derhältniffen genau in der Ruhe
wie bei exakt beflimmter Arbeitsleiftung gemeflenen Wir-
tungen ber Höhe, insbefondere Aenderungen des Stoff-
wechſels und des DBlutdrudes, geben unmittelbar zurüd
bei Fünftliher Sauerftoffatmung. Der intuitiv von den
erften fib mit pbufiologiihen Wirkungen des Höhenflimas
befhäftigenden Forfchern als verbunden mit der Luftver-
dünnung vorausgefeste „Sauerſtoffhunger“ wird wieder
sum Hauptfaktor, dem alle oder wenigftens der Hauptteil
ber beobachteten Einzelerfheinungen als Folgeerfcheinungen
unterzuordnen find, und es kommt Syſtem hinein in das
große, in den legten Jahrzehnten zufammengetragene wert-
volle, aber bisher unüberfihrlih gebliebene Material —
wahrlid ein gewaltiger Erfolg des jungen Inſtitutes, ber
allein fchon bie Berechtigung feiner Exiſtenz beweift.
Unterfuhungen find zahlreih angeftellt, bie auf die Zef-
ftellung abzielen, welde Flimatifhen Einzelfaktoren haupt-
ſächlich phyſiologiſch wirkſam find, ob Temperatur, Luft-
trodenheit, Tuftbewegung oder Strahlung, und falls leg-
tere, ob fie direkt phyfifalifh oder, wie Profeſſor Keftner
aus Taboratoriumsunterfuhungen gefchloffen, chemiſch wirt-
Ausſprache.
Zum Thema: Entwicklungslehre und Religion.
In der Aprilnummer von „Unſere Welt“ behandelt Herr
Adolf Mayer die Frage, wie ſich die Unſterblichkeit ber
Menihenfeele mit der Abflammung des Menfhen vom
Tiere vereinigen laffe, da man dod diefem eine unfterb-
lihe Seele unmöglih zugefteben Fönne. Diefe Anregung
it höchſt anerfennenswert, aber der Ausweg aus dem
Dilemma, meines Eradtens, febr unglüdlih. Oder glaubt
Herr A. M. wirflih, die Angriffe der Materialien und
Nihiliſten durch Betrachtungen über die Melativität des
Zeitbegriffs und der Unendlichkeit abfhlagen zu können?
Wie etwa, wenn man durch folhe Betrachtungen die Un-
serftörbarfeit der Maffe antaften wollte? Frog aller
geiftreihen Unterfuhungen über die etwaigen Beziehungen
zwifhen Maffe und Energie bleibt dodh die Tatfahe un-
erihüttert, baf Maſſe weder entſteht nog ver
geht. Tauſende von hemifhen Analyfen werden täglich
gemacht und niemand denkt daran, falls einmal das Schluß—
gewicht niht mit dem Anfangsgewicht flimmen will, es fei
Maffe entftanden oder vergangen. Jeder weiß vielmehr
in ſolchem Falle, daß er irgendwo einen Fehler gemacht
bat! Herr A. M. fagt: „Unſer Faflungsvermögen ift be-
Fanntlih begrenzt durch unſere Erfahrung, und erfahren
baben wir nur, daß alle Dinge ein Ende haben. Der
Ausſprache.
— — — —— — — — —— —— — —
= ee
fam ift. Die Tiefenwirfung der Sonnenftrablung auf ben
Menfhen und ihre Variationen fowie Abhängigkeit von
meteorologifhen Faktoren wurde vom Inſtituts⸗ und Ob-
fervatoriumsleiter gemeinfam in umfangreiher Arbeit ftu-
biert als Grundlage für Sonnenkuren, für welde das
Hochgebirgsklima erfahrungsgemäß ideale WWerhältnifle
Bietet.
An tuberkulöfen Kranken angeftellte Unterfuhungen
baben widtige Beziehungen zwijgen dem Umfange des
Stoffwechſels und manden Funktionen des Blutes umd
der Schwere und dem Verlauf der Krankheit im Hog-
gebirge aufgedbedt. Außer Medizinern arbeiten Zoologen,
Phyſiker, Chemiker am Inſtitut; auf Muottas-Muraigl
werden eingehende pflanzenphufiologiihe Studien betrieben.
8 Publikationen zeitigte das erfte, 22 das zweite Arbeits-
jahr; fie find in den verichtiedenften medizinifhen und bio-
logiſchen Zeitfhriften Deutihlande und der Schweiz er-
fhienen. Der im Selbftverlage des Inſtituts in deutfder,
englifher und franzöfiiber Sprache herausgegebene Band I
des Forfhungsinftituts, enthaltend die Abſchnitte: 1. An-
gemeines aus Meteorologie und Klimatologie;, 2. Strap-
lung; 3. Spezififh-medizinifhe Klimatologie und Höhen-
tlima, bat in ärztlihen Kreifen viel Beachtung gefunden.
Ueberbliden wir den Arbeitskreis der beiden Davofer
Inftitute, fo ift es wohl keine Webertreibung zu fagen, daß
e$ faum einen Zweig der Medizin und der eraften Matur-
wiffenihaften gibt, zu dem fie niht Beziehung haben, und
das Fundament derfelben bildet die Frage nah der Ba-
riation der Erfheinungen mit dem Aufftieg in die Höhe
unter der Wirfung der veränderten Flimatifhen Faktoren.
Nahe lag es daher, Vertreter der Flimatologifhen Wiſſen⸗
ſchaft zufammenzubitten mit Vertretern der Taleidoffopartig
mannigfahen biologifhen und medizinifhen Wiffenfhaften
aus den verfchiedenften nördlichen und füdlihen, Eontinen-
talen und Titoralen, Flag- und Hodländern zu gemein-
famem Gedanfenaustaufhe vor der Deffentlihkeit. Die
von hervorragenden Vertretern aller diefer Wiſſenſchafts⸗
jiweige zu erwartenden etwa SO Worträge und die anfchlie-
fenden Diskuſſionen verfpreden eine WBereiherung ber
Wiſſenſchaft.
erſte Satz iſt gewiß falſch, denn ſonſt könnte ein Kind,
das ohne alle Erfahrung iſt, nie etwas „Faf-
fen”! Aug könnte nie ein neuer Gedanke auftauchen,
nie eine neue Erfindung gemacht werden! Der zweite
Sag ift ebenfo falſch, denn wie ih foeben erwähnt habe,
wird durch millionenfahe Erfahrung beftätigt, daß bie
Mafie „fein Ende” bat! Und da faft alle Dinge aus
Mafie beſtehen, fo baben auh faft alle Dinge in biefem
Sinne lein Ende — wenn fie aug fonft Jorm und Be-
fhaffenheit ändern. Der Zerfall der Atome ift aub nur
eine Veränderung; das Gewicht bleibt dasfelbe. Wir
lernen daraus nur, daß die chemiſchen Elemente nog weiter
zerlegt werten können, eine Tatſache, die eigentlid jeder
Chemiker erwartet bat, obwohl alle früheren Erfahrungen
witerfpraden!
SR es nun nicht merkwürdig, daß wir totem Stoff
unbedentlihb „Unfterblihkeit", d. 5. ewige Dauer,
zugeftehen, die Tierfeele aber diefer „Ehre für un-
bedingt unmwürdig balten und bei der Menfhenfeele
aus dem Zweifel nicht beraustommen? So febr fiehen
wir alle im Banne eines unbewuften Materiolismus! Wir
follten dod wiflen, dag nur weil wir die Seele find, weil
wir denken und ſchauen Fönnen, Erfahrung” und
das von ibr Mermittelte eriftieren! Unfere eigene feelifche
— — — — —
Exiſtenz iſt alſo das Fundament des ganzen Gebäudes und
es iſt ein Widerſpruch, ein oberes Stockwerk für un-
erfhütterlih md dabei das Fundament als unfider an.
zuſehen!
Wie ſchwer iſt es doch für das naive Gemüt, zu er-
fennen, daß unfer Körper, von deffen Eriften; wir doch
felfenfeft überzeugt find, nur eine Erfahrung bdesfelben
Seeliſchen ift, deffen Dauer, ja deffen Wirklichkeit wir
bezweifeln!
maden, daß er das Eeelifhe bloß für eine Funktion bes
Körpers bielte, weil er nämlih die Frage nah der Seele
mit der Abflammungsfrage verquidt. [Laffen wir einmal
die Abſtammung vom Tiere ganz aus dem Spiel und be-
fhränten uns auf ein Kind menihlider Eltern. Hat
das denn feine Seele aud von diefen mitbekommen, als
die Zellen, aus denen der Keim erwuchs, fih aus jenen
Körpern Ioslöften? Ja, wenn die Menfchenfeele fo aus
den Körpern ftammte, dann wäre fie aud Stoff wie fie!
Wenn aber die Seele eine eigenwirklihe Wefenheit bat,
fo fann fie doh nicht abhängig fein, weder im Entſtehen,
nod im Vergehen, noh im Zufammen,,‚leben‘ mit biefem
Korper, außer durh die Wechſelwirkung zwifhen ihm und
ip. Seelen werden alfo nit gezeugt und die Frage
nach dem erfien Menſchen in der auffteigenden Meihe der
menſchenähnlichen Tiere beantwortet ſich höchſt einfah: Als
— — — —
ne ⸗
Naturwiſſ maate | und aturpbilof ophiſche Ui
a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften.
Das Ereignis des Tages iſt die Entdeckung der beiden
höheren Homologen bes Elements Mangan durch die beiden
deutfhen Forfher Noddad und Frl. Tade in Berlin-
Dahlem. Man wird beim Lefen des Berichts, den die-
felben in den „Naturwiſſenſchaften“ Mr. 26 geben, un-
willfürlih an Oftwalds befanntes Wort erinnert, daß man
Heutzutage eine wiflenihaftlihe Entdedung ähnlich wie ein
Paar Stiefel auf Beftellung geben könne. In der Um-
hau der legten Nummer berichteten wir von dem ver-
geblihen Verſuch der Engländer DBoufanquet und Keely,
die beiden Elemente Mr. 43 und 75 in Manganerzen auf-
gafinden. Dap Modbad und Fri. Tade glücklicher waren,
beruht in erfter Tinie darauf, daß fie das Problem zuerft
nod gründliher nah allen Seiten theoretiſch durchdachten,
ebe fie an die praftifhe Ausführung gingen. Auch bie
beiden Engländer haben fih ganz richtig gefagt, daf bie
geſuchten beiden Elemente als höhere Gegenftüde des Man-
gans vermutlih in Gefellihaft mit diefem vorkommen wer-
den (ähnlich wie das vor kurzem entdedte Hafnium mit
feinem niederen Homologen, dem Zirkfonium, jufammen vor-
kommt). Aber ber daraufhin angeftellte Verſuch, in aller-
lei Manganerzen die Gefuhten aufzufinden, mißlang. N.
und T. geben nun von folgender, dem periodifhen Syſtem
entnommener Tabelle aus:
8c TIV fer Mn Fe lo Ni eng Zn Gage As.. .. .. ....
Y Zr Kb Mo — J RuRh Pd Ag f Cd In Sn 80 .. . . . . .. .....
La H Ta W — f Os ir Pt Au gH TI Ph Bi..
wo 0
welde bie Elemente vom Scandium bis zum Uran unter
Weglaffung der für das vorliegende Problem nicht in Be-
tragt Fommenden enthält. Diefe Tabelle zeigt zunächſt,
dap die beiden gefuchten Elemente, welhe an die Stellen
der beiden Striche gehören, vermutlih äbnlih wie die
benahbarten Elemente Y-La, Zr-Hi, Nb-Ta,
Naturwiſſenſchaftliche und naturpbilofopbifhe Umſchan.
Selbſt Herr A. M. könnte einen glauben
203
zum erften Male eine Menſchenſeele in dem Tier»
Förper wohnte, da war der Menfh geihaffen!
Heißt es nicht im zweiten Kapitel der Genefis: „Und Gott
der Herr mahte den Menſchen aus einem Erdenkloß, und
er blies ihm ein den lebendigen Odem in feine Nafe. Und
alfo ward der Menih eine lebendige Seele. Cs bleibt
bierbei unbeftimmt, in melher Weile Gott den Erbenfloß
bearbeitete. Darüber find wir jeßt einigermaßen im Klaren:
Wir willen jest, dap der Aufbau entwidelnd vor
fi) ging, von ber Zelle bis zum höher und höher ent-
widelten, vollendeteren Organismus. Was war jener Erden-
kloß im Augenblid vor der Befeelung? Er muß doh ein
durch und durch vollendeter Bau, das anatomifhe Wunder-
wert des Körpers in betriebsfähiger Form geweſen fein!
Wird das nun baburd herabgewürbdigt, daß wir es nicht
mehr „Erdenkloß“ nennen, fondern als Probuft tierifdher
Eltern erkennen? Der göttlihe Odem ift es doh, ber
entiheidet. Und mwer þat fih je eingebildet, daß aug
diefer vom Tier „abftamme‘’?
Im übrigen meine ih, daß es den modernen Chriften
nichts ſchaden Fönne, fih des alten geheimnisvollen Wortes
von der „Miterlöfung aller Kreatur” durch Chriftus zu
erinnern. Vielleicht gibt es Tierfeelen, die der Menſchen⸗
feele nicht ferne ſtehen? Große und weile Völker Haben
dies geglaubt und glauben es nob. Prof. Dr. Dörr.
— — -a
—
Mo-W, Ru-Os uſw. zuſammen vergeſellſchaftet vor-
kommen werden, ſo daß es von vornherein zu erwarten iſt,
daß man fie entweder beide zugleich oder keines von beiden.
auffinden wird. Weiter erfheint es nicht wahrſcheinlich,
daß beide befondere neue Mineralien bilden werden, fie
werben vielmehr wahrfheinlih in bereits befannten Mine-
ralien enthalten fein, jedoh in febr geringen Mengen. Nun
léft fih für das vergefellfhaftere Vorkommen der hier an-
gefhriebenen Elemente die Regel angeben, daß diefelben
hbauptfählid in zwei großen Mineralgruppen vorkommen.
Einerfeits bilden die in der Tabelle eingerabmten Cile-
mente bie fogenannten Platinerze, andererfeits bilden die
beiden außenftehenden Gruppen zufammen bie fog. Co-
Iumbite, die jedoh auh noch die Elemente Cr, Mn und
Fe enthalten, fo daß diefe drei den beiden Vorkommens⸗
freifen gemeinfam find. Won den beiden in Frage ftehen-
den Elementen läßt fih wegen ihrer Stellung gerade auf
der Grenze zwifhen diefen beiden Gruppen vorausfehen,
daß fie ebenfalls ſowohl in den Platinerzgen wie in den
Eolumbiten vorlommen könnten. rftere find gediegen,
lestere orpdifher Natur. Auf Grund der Megel nun, daf
Elemente mit ungerader Ordnungszahl im allgemeinen
auf der Erdoberflähe etwa zebn- bis zwanzigmal feltener
vorfommen, als die auf fie folgenden mit gerader Ord-
nungszahl, läft fih vorausfehen, daß die Häufigkeit der
fraglihen Elemente etwa ein Billionftel bis ein Zehn-
billtonftel fein wird. Da das Platin etwa eine Häufig-
feit von ein Milliardftel befist, fo läft fi hieraus vor-
ausfehen, daß die Konzentration der Elemente 43 und 75
im Platinerz ungefähr ein Taufendftel bis ein Zehntau-
fendftel betragen wird. Cine äbnlihe Abfhäsung bei den
Eolumbiten führt zu einem vermutlihen Gehalt von etwa
ein SHunderttaufendftel bis ein Millionſtel. N. und T.
überlegten nun weiter in derſelben Weife, wie es fdyon
Mendelsjew beim Scandium, Galium und Germanium
getan hatte, die vorausfihtlihen phyſikaliſchen und hemi-
fhen Eigenfhaften beider Elemente und ihrer wichtigſten
Verbindungen (Farben, Dichten, Schmelz- und Giede-
punkte, Kriftallformen ufw.) und gingen dann daran, auf
204
Grund diefer vorauszufehenden Eigenſchaften durch geeig-
nete chemiſche Trennungsverfahren aus ben Löſungen von
Platinerzen bezw. Columbiten die beiden Elemente folange
anzureihern, big bdiefelben mittels der Möntgenipektroflopie
nahweisbar würden. Das Neue und Eigenartige an bdie-
fem Verſuch war, daß im Anfange diefer Trennungen jede
Kontrolle fehlte, weil die Konzentration der gefuchten Ele-
mente, wie voraugzufehen, fo klein war, dap fie ſich einft-
weilen der Feſtſtellung auh auf dem röntgenologifchen
Wege entzogen. Erft nachdem die beiden Forſcher fozu-
fagen im ‘Blinden eine ganze Reihe von analytifhen Ope
rationen gemaht hatten — diejenigen nämlich, die man
madhen mußte, wenn bie beiden Elemente die vorausge-
fagten Eigenfhaften wirflid hatten — war die Komen-
tration fo weit geftiegen, daß fie röntgenſpektroſkopiſch fap-
bar wurden. Der höchſte erreichte Gehalt an Mr. 43 be-
trug 0,5 Prozent, an Mr. 75 etwa 5 Prozent. Bei bie-
fem Gehalte wurde nun in ber Tat eindeutig und ein-
wandfrei das Worhandenfein der beiden Elemente mit
Hilfe der carakteriftifhen Linien des Röntgenſpektrums
(Mofelens Gefeg, fiche den Auffag von Möller in „Unfere
Welt” Nr. 2 und 3, 1921) feſtgeſtellt. Die genauere
Unterfuhung ber Eigenſchaften der Elemente ftebt noch
aus, bis größere Mengen davon rein hergeftellt find. Bor
5O Jahren wäre eine folde Leiftung als ein märdenhaftes
Wunder beftaunt worden. Heute find wir ſchon fo daran
gewöhnt, dag unfere phufifaliihen und chemiſchen Theorien
in allen wefentlihen Punkten zutreffen, daß man aufer-
halb der Fachkreiſe fhon faum mehr Notiz davon nimmt.
Von einer Tatiahe aber verdient die weitefte Deffent-
lichkeit Kenntnis zu nehmen. Am Schluß der Mitteilung
der beiden Forſcher ſtehen folgende Säge:
„Wir flagen für die neuentdbedten Ele
mente folgende Namen vor: Für das Ele
ment 43 nah unferer Otmar? den Nomen
Mafurium (Ma) und für das Element 75
nah dem deutſchen Rhein den Namen Rhe—
nium (Re).” l
. Das beißt deutfh geiprohen und gehandelt! Damit
vergleihe man bdie läderliche franzöfiihe Eitelkeit, die es
den franzöſiſchen Forſchern bisher nicht erlaubt, für das
vor kurzem auf Grund der Bohrſchen Theorie entbedte
Hafnium (Mr. 73) diefen von allen Kulturvölfern ange.
nommenen Namen zu gebrauhen. Sie bleiben vielmehr
bei dem Namen „Celtium“, weil angeblih zwei Sranzofen
(Urbain und Dauvillier) dieſes Element entdedt hätten,
die aber in Wahrheit, wie ihnen Hanfen und Werner nad.
gewiefen haben, das bereits anderweitig bekannte Lutetium
(Mr. 71) noh einmal „entdedt" haben. (Vgl. unfere
Umfhau in Mr. 11, 1923.) |
In den Tageszeitungen findet fih ein Artikel von 9.
H. Krisinger über „eine unerwartete Wendung ber
Einſteinſchen Theorie”, wonach einem Berliner Ober-
ingenieur und Aftronomen namens Gramatzki es ge
glückt wäre, mittels einer ganz neuartigen Mathematik
die von ber Melativitätstheorie vorausgelagten aftronomi-
ſchen Effekte (Ablenkung des Sirfternlihtes uſw.) vol-
fommen abzuleiten, obne die Einfteinihen Vorausſetzungen
binfihtlih des Zeitbegriffis. Diefe neue Mathematik
fbeint allerdings nod) viel radifalere Zumutungen an unfer
Abftraftionsvermögen ftellen zu wollen als die Relativitäts-
theorie mit ihrer neuen Definition der Gleichzeitigkeit. Sie
will nämlid das fonenannte Archimediſche Ariom auf-
geben, wonadh jede Größe fo oft vervielfältigt gedacht
werden Kann, daß fie jede andere ihr gleihartige Größe
übertrifft. Indem Gr. diefes Ariom nit mehr wie alle
bisherige Mathematik als Vorausſetzung unbewielen gelten
lagt, fondern Abweihung davon zuläßt, Fommt er zu einer
Maͤthematik, in der es den üblihen Begriff des Unend-
lihen (und dementfprebend offenbar auh der unendlichen
Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umſchau.
Teilbarkeit) nicht mehr gibt, vielmehr eine abſolut größte
und kleinſte Größe von vornherein feſtſteht. Offenbar iſt
eine ſolche Mathematik von Natur mit der heutigen
quantentheoretiſch beſtimmten Phyſik verwandter als bie
alte Kontinuitäts- und Unendlichkeits(Differential)mathe⸗
matik, welche ihrerſeits völlig ber klaſſiſchen phyſſikaliſchen
Auffaſſung bei Newton, Leibniz und Kant entſpricht. Leider
war es mir bisher nicht möglich, mich näher über dieſe
ſicherlich äußerſt intereſſante Frage zu unterrichten, ich
hoffe aber, demnächſt Ausführlicheres darüber bringen
zu können. Es ergeben ſich hier vielleicht noch
viel weitertragende philoſophiſche Konſequenzen als
bei der Relativitätstheorie. Gr. nennt ſeine neue
Theorie „Limitentheorie“, er ſoll ſich nach Kr. mit Ein⸗
ftein ausführlich ausgeſprochen und dieſer fein beſonderes
Intereſſe dafür gezeigt haben, was durchaus zu begreifen
wäre, denn, wenn an der Sache wirklich etwas daran iſt,
ſo liegt hier in der Tat eine ganz hervorragend wichtige
mathematiſche Erfindung vor, die binnen kurzem ſich pu
einem noch viel flaunenswerteren Gebäude auswachſen
fünnte wie die Einſteinſche Theorie.
Zu ber bereits mehrfah erwähnten Frage der „Sub
eleltronen“ (vgl. die Aprilnummer) liegen wieder mehrere
Beiträge vor, die zugunften der Konſtanz bes elektriſchen
Elementarquantums und gegen Ehrenhbafts An-
zweiflung berfelben ſprechen. Mattauch (Phyſikaliſche
Zeitſchrift 25, 620; Phyſikaliſche Berigte 11, 769) be⸗
ſtimmte nah einer neuen Methode das Widerftandsgefeg
für fallende Eleine Kugeln in Gaſen, welches eine weient-
lihe Grundlage der Berehnung der Ladungen der Mili-
kanſchen Tröpfhen bildet. Bär (C. R. suisses de phys.;
Phyſikaliſche Berigte 11, 769) beftätigte von. neuem, daß
die im eleftrifhen Funken zerftäubten feinen Metallteilden
eine völlig abweihende Dichte gegenüber dem kompakren
Metall befiken, z. B. Platin 0,8 bis 0,15, anftatt 21,4
Durch diefe Dichteänderungen erklären ſich großenteils die
iheinbaren Abweihungen vom Clementarquantum. Zwei
beutfhe Forſcher, Ulrih und v. Gerbardt, haben
ganz neueftens gezeigt, daB bie raſch befannt gewordene
Mihelfonfhe Methode der Beftimmung von Firfterndurd-
meflern ſich auh auf die bier in Rede ftehenden winzig
Ficınen Teilhen anwenden läßt, und daf man fo eine vom
Etofesihen, ſowie jedem anderen Fallgefeg unabhängige
Größenbeftimmung für die Teilden befommt. Es fteht
zu boffen, daß fo die Frage ihrer endgültigen Löſung näher⸗
geführt wird. (Maturwiflenihaften 24.)
Ueber den für die Quantenlehre außerorbentlih wid-
tigen Comptoneffekt (vgl. Mr. 6, 1925) unterrichtet fepe
flar und leicht verftändlih ein Auffeg in Mr. 23 ber
Maturwiffenfhaften, auf den wir alle für Phyſik inter-
eflierten [Lefer dringend hinweifen.
Vor einiger Zeit berichteten wir im Anſchluß an eine
Kosmosnotiz über Verſuche einiger amerifanifher Forſcher.
Wolframdräbte durh plöglide fehr ſtarke elel-
trifhe Entladungen, bei denen Temperaturen von etwa
15 000 Grad erreiht fein follten, zur Erplofion zu
bringen. Die Forfher wollten dabei das Auftreten
von Helium nachgewieſen baben und glaubten fo eine epe
perimentelle Atomzertrümmerung gefunden zu haben. Jest
find die Verſuche von einer Meihe von Engländern nag-
gerrüft worden, es ergab fih aber dabei feine Spur von
Helium. (Phrfikaliihe Berichte 11, 791; Journ. chem.
soc. 127, 240.)
Eeit langem befannt find die — Erſcheinun⸗
gen der Piezo⸗ und Pyroelektrizität an Kriſtallen (Ent-
ſtehung eiektroſtatiſcher Ladungen an den Enden folder
Kriſtalle durch Druck bezw. Erwärmung). Jüngſt bat
Vrain (Proc. phys. soc. 36, 81; Phyſ. Berichte
12, 839) nachgewieſen, daß ſich piezoelektriſche Wirkungen
aud bei gewöhnlichen Iſolatoren (Hartgummi, Glas,
Siegellack u. a.) erzeugen laffen. Br. fließt daraus,
dağ diefen Stoffen eine ähnliche Bitterfiruftur wie ben
Kriftallen zulommt, was fih durch röntgenographifhe Auf-
nahmen beftätigte — Die Pproeleftrizität wurde bisher
fat ausihliegid am Turmalin fludiert und gezeigt.
£ucas (Journ. de phys. 4, 491; Pbyſikaliſche Berichte
11, 780) zeigte, daß kräftige pyroelektriſche Wirkungen
auch an den Fünftlih erzeugten Kriftallen des pP-Dime-
tbylaminobenzylidentamphers zu erhalten find.
Ein anderer, noh widhtigerer Erfolg in diefer Richtung
des Erſatzes natürlider Kriſtalle durch Laboratoriums:
produkte wedos Erzeugung gewifler, den Kriftallen eigen-
tümliher Wirkungen ift anfheinend F. Stöber ger
lungen. Seit Tabrzebnten leidet die Phyſikerwelt unter
dem empfindlihen Mangel an binreihend großen, tlar
burhfihtigen Kalkſpatſtücken. Die einzige Zundftelle der
Welt, welche folde in dem erwünſchten Ausmaße liefert,
land, it nahezu erſchöpft. Man gebrauht diefe Stüde
dringend zur Anfertigung der (optiihen) Polarifationg-
apparate, insbelondere der fog NRikolſchen Pris-
men. (Ein befonders großes Kalkipatftüd, das einiger-
maßen fehlerfrei ift, wird heute fat mit Gold aufge-
wegen. Stöber gelang nun anfcheinend der ſchon oftmals,
aber immer nur mit zweifelhaftem Erfolge unternommene
Verſuch, einen künſtlichen, doppeltbrechenden Kriftall in
größeren Eremplaren waflerflar berzuftellen. Er erzeugte
Natriumnitratfriftalle, indem er die FEriftallifierende STüf-
figleit von oben heizte und von unten abfühlte, um teine
Konzentrationsftrömungen auflommen zu laffen. Aus
einem ſolchen Kriftall von 4 Kilogramm Gewicht (!) ſchliff
er dann eine geeignete Platte, die zwifhen zwei Glas-
prismen eingelittet wurde. (Zeitihrift für Kriftalle 61,
315; Pyfilaliihe Berigte 12, 860.) Diele Werfuhe
verdienen, in großem Maßſtabe fortgefeßt zu werden; fie
fonnen für die Phyſik von großer praftiiher Bedeutung
werden.
Eine vortreffliihd Elare und leicht verftändlihe Dar-
elung der wefentlihen Grundlagen der berühmten Shap-
leyſchen Entfernumgsbeflimmungen der Firſterne gibt
Kienle in Nr. 26 der NMaturwiffenihaften unter dem
Titel „„Aftronomie als angewandte Phyſik“. Durg ge-
ſchickte Vergleiche gelingt es ihm, die ſchwierige Materie
auch dem Laien reftlos verftändlih zu maden.
In Mr. 25 derfelben Zeitihrift gibt Begard eine
ausführlide Darftellung feiner Unterfuhungen über bie
grüne Nordlichtlinie.
b) Organiſche Naturwifienfchaften.
Unter dem Titel „Das große Erperiment über Er-
Faltung” berihtet K. Chodounsfy im Juliheft ber
Sranffurter „Umſchau“ über die merkwürdige Tatſache,
daß die Zahl der fogenannten Erkältungskrankheiten (Lun-
genentzündung, Mandelentzündung und Gelentrbeumatis-
mus) während des Krieges bei den Truppen des Feld-
beeres 3. T. weit unter dem Durchſchnitt diefer Eckran-
fungen bei Beſatzungsheer, Zivilbevöllferung und Friedens-
peer geblieben ift, obgleih jene doch weit ftärfer den Fat-
teren ausgefest waren, welde nad gewohnter Anfiht die
Erkältung berbeiführen. Auch hat die Häufung und Per-
manenz diefer Faktoren auf den lange beobachteten jahres-
zeitlihen Rhythmus jener Erkrankungen feinen Einfluß
ausüben können. Diefe Ergebniffe der Statiftif zwingen
zweifellos zum Aufgeben vieler volkstümlicher Anſchau⸗
ungen über das Krankwerden durh Erkältung.
Ehriftianfen-Weniger erörtert in Heft 20
der Naturmiffenfhaften das Werhältnis der Biologie zur
Matbematil. Seine Gedanken laffen ſich kurz folgender.
mafen wiemmenfaflen: Wie in jeter Naturwiſſenſchaft
muß auch in der Biologie das Endziel der Forſchung die
mathematifhe Erfaflung der Maturgefeße fein. Die bis-
berigen Verſuche in diefer Richtung haben aber nur zu
Maturwiſſenſchaftliche und _naturpbiloforbifhe Umſchau.
205
matbematiihen Regeln der Maturerfheinungen geführt,
nit zu Naturgeſetzen; höchſtens die Mendelſchen Spal-
tungsregeln könnten als mathematifhes Naturgeſetz ange-
fproden werden. Weberhaupt wird nah Anfiht des Ber-
faflers das geftedte Ziel fters ein deal bleiben müſſen, da
die Zahl der bei Lebensvorgängen wirkſamen Faktoren für
eine mathematiihe Darftellung (oder, was dasfelbe ift, für
eine vollftändige Erklärung) des Vorgangs zu groß ift.
Daran ändert aud nichts, daB Kant das Gleiche von ber
Chemie angenommen batte. Dagegen ift jederzeit die An-
wendung der Mathematik als Hilfswiffenfhaft zur Ord⸗
nung der DBeobahtungsergebniffe möglich.
Jn einem Aufſatz in Heft 24 der Naturwiſſenſchaften
ınterfuht R. Fid die Grundlagen der modernen Ber-
erbungslehren. Er fuhrt nachzuweiſen, dap alle Lehren, die
die Ehromofomen in Zufammenhang mit ber Vererbung
bringen, höchſt anfehtbare „Dogmen find. Als folge
bigeihnet er die Theorie der Ehromofomenindividualität,
das Getrenntbleiben der väterlihen und mütterlihen Chro-
moſomen während ber Zellteilungen nah der Befruchtung,
die als Synapſis bezeichnete Aneinanderlagerung der väter-
lihen und mütterlihen Chromoſomen bei den Neifeteilun-
gen und den gefchlehtsbeftimmenden Einflug der Ge
ſchlechtschromoſomen. Daß Fid die Morganfhen Chromo-
irmenfarten verwirft, it danach felbftverftändiihd. Wenn
Fid nur den hypothetiſchen Charakter dieſer Lehren per-
verheben wollte, wäre faum etwas dagegen einzuwenden.
Er flellt fie aber als durdaus unzuläflig bin, da er ber
Auſicht it, daß die Chromoſomen überhaupt nichts mit der
Dererbung zu tun paben. Ein näheres Eingehen auf die
vom Verfaſſer hierfür angeführten Gründe it bier natür-
ih unmöglid; es fei nur darauf bingewielen, dap eine
frühere, in den gleihen Bahnen fih bewegende Meröffent-
lichung Fids von Bilar (Maturwiffenihaften 6, 25)
ſcharf zurüdgewiefen worden ift. Die damals von bdiefem
gemachten Einwände werden auh durd den neuen Auffas
nicht entfräftet.
Den heutigen Stand der nzuchtfrage behandelt eine
. Ärbeit von Kronaher (Zeitfhrift für Tiersühtung
und Zühtungsbiologie 2, 24; Naturmwiffenihaften 20, 25).
Die in vielen Fällen günftigen Wirkungen der Inzucht be-
werfen, daB Inzuchtſchäden feine Folge ber Inzucht als
folher find, fondern daß die Inzucht nur bereits vor-
bandene ſchädliche Eigenſchaften oder folde, die fig bei
jeder Zucht einftellen, ſchneller ans Licht bringt. Hand in
Hand mit der Inzucht muß alfo die Ausfheidung ber
minderwertigen Invividuen geben, damit die Inzucht den
gewünfhten Erfolg hat. Dagegen bedürfen die Tinzudt-
tiere Feiner befleren Pflege wie andere. Für die Tier-
zucht ift die Inzuchtfrage von der größten Bedeutung, da
die Inzucht der ſchnellſte Weg ift, um reinraffige Bugten
zu erhalten.
W. Goetſch, über defen Verſuche zum Unfterblid-
leitsproblem der Vielzeller bier jhon mehrfach berichtet
wurde, ift neuerdings der Nachweis gelungen, daß bei
Süßwaſſerpolypen der befannten Gattung Hydra jede
Vermehrung, aug die durch Knoſpung, durd geſchickte
Regelung der Nahrungszufuhr künſtlich unterbrüdt wer-
den fann ohne. Schaden für das Tier. Alle Meubildungen
bleiben dann alfo dem Einzelwefen erhalten, und da bie
Hydroidpolypen faft ganz aus dauernd teilungsfähig blei-
benden Zellen beiteben, die nah den Berfuchsergebniffen
Erdmanns potentiell unfterblih find, ſchließt Goetſch
mit Redt, müßten fih folde Individuen ewig” am
Leben balten laffen.
Immer mebr Unterfuhungen ber feelifhen Fähigkeiten
der niederen Tiere zeigen, wie falfh die auf Descartes
zurüdgebende Auffaffung ift, die in den niederen Tieren
nur Maſchinen (Meflerautomaten) feben will. Immer
mehr ſchon für Meflere gehaltene Reaktionen ftellen fig
206
als echte Inſtinkthandlungen heraus. Für den Bauinſtinkt
der Köcherfliegenlarve, die ſich zum Schutz ihres weichen
Hinterleibes aus Steinchen, Schneckenſchalen und Holy
fplittern ein Gehäuſe baut, weiſt das Bierens de
Haan (Biidragen tot de Dierkunde, Afl. 22; Matur-
wiffenfhaften 17, 25) nah. Bei feinen Beobachtungen
jeigte es fi, daß die Larve die Baumaterialien verfchieden
wertet: ein und dasfelbe Material, dag, allein geboten, als
Baufloff angenommen wurde, wurde, wenn gleichzeitig
anderes zur Verfügung ftand, verfhmäht. Handelte es fid
um einen bloßen Mefler, fo müßte das Material flets die
gleihe Wirkung auf das Tier ausüben.
Ueber den Tertiärmenih in England fhreibt Freu-
denberg in Heft 21 der Naturwiſſenſchaften. Cr ver-
tritt die Anficht, daß wir die beiden Piltdowner Funde ale
Stelettrefte bes Menfhen der Tertiärzeit (Pliozän) angu.
feben baben, des Derfertigers der zahlreihen Eolithe Süd-
oft-Englands.
Entgegen der bisher allgemein als ridhtig angenommenen
Anfiht, daß den Gefäßen in der Pflanze nur die Waffer-
leitung von unten nad oben, den Eiebröhren dagegen bie
Leitung der in den Blättern bergeftellten Nahrunasftoffe
in den Stamm ufällt, vertritt Diro.ı in einer Edrift
über den Tranfpirationsftrom die Anfidit, daß die Gefäße
auch die Leitung ber organifhen Beſtandteile nah allen
Richtungen zu beforgen baben.
Jn Heft 15 der „Natur 1925 berihtet W. Goetſch
von nod nicht veröffentlihten Werfuhen von A. Schal⸗
ler über das Geruhsvermögen der Wafjerinfelten, deren
Ergebnis die Erkenntnis ift, daß Waſſerinſekten nicht nur
Seihmads-, fondern auch Geruchsſinn befisen, und daf
beide Sinne in verfhiedenen Organen ihren Sig haben,
ein neuer Beweis gegen die Nagelſche Anfiht, nah der
MWaffertiere nur Gefhmadsfinn paben.
Die überrafhende Entdedung, dab Megenwürmer zu
Lautäußerungen fähig find, glaubt Mangold gemadt
zu haben, wie wir einer, „der .fingende‘ Regenwurm“
überfhriebenen Notiz der Natur (14, 25) entnehmen. Es
fol fib um flötende und ſchnalzende Laute ſowie fonar-
rende Geräufhe Handeln, die auf vier Meter Entfernung
noch hörbar find. Ob fih die Entdeckung beftätigt, wird
abzuwarten fein. Wie auh die Schriftleitung der Natur
hervorhebt, könnte es fih auch um Kratzgeräuſche der Bor-
ften handeln. Falls die Entdedung ſich beftätigen folte,
fo wäre das wieder ein Beweis, wieviel gerade bei den
alltäglihften Tieren noh zu entdeden ift.
Nach Anfihs vieler Geologen war die Themfe in ber
Eiszeit ein Mebenflug des Rheins. Einen tiergengraphi-
fhen Beweis für ben früheren Zuſammenhang von Rhein
und Themfe führt v Benthem Juttiny in „Die
Erde‘ 1, 1925, an. Don den 50 MWeihtierarten, die im
Laufe des Rheins vorfommen, finden fih alle bis auf 4
oder 8 Prozent auh in der Ihemfe vor, während in den
feftländifhen Flüffen 17 oder 34 Prozent fehlen. Die
Arten, die in der Themfe vorfommen, trifft man alle aud
im Rhein an.
c) Naturphiloſophie und Weltanfhauung.
An Nürnberg þat vor einiger Zeit eine „Mudermann-
woche” flattgefunden, während der der bekannte Sefuit
und Raſſenhpgieniker eine Reihe von Worträgen über bie
biologiihen Grundlagen der Volksgeſundheit hielt. Won
Intereſſe war mir der Bericht, den Dr. E. Zeltner in
der von Pfarrer Merkel in Mürnberg heraus-
gegebenen (übrigens febr gediegenen) Zeitſchrift Chriften-
tum und Wirklichkeit‘ darüber erftattet. Er greift darin
befonders den zweiten Vortrag M.s über „Vererbung und
Menſchenlos“ an. Darin feien zwar die WMWererbungs-
geſetze meifterhaft und eindrudsvoll entwidelt worden, aber
es babe fidh dabei doh „die ganze Armfeligleit der natur-
miffenihaftlihen Betrachtung gegenüber den tieferen Fragen
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
— — —— —
des Lebens gezeigt. Z. entwickelt nun in eindringlichen,
von ſehr warmem Gefühl diktierten Worten die vielen
Gründe, die vom Standpunkt einer auf das Individuum
eingeſtellten Ethik gegen eine naturwiſſenſchaftliche Sche⸗
matiſierung ber höchſten menſchlichen Beziehungen, insbe-
ſondere der Ehe, ſprechen. Man muß ihm in vielem
Recht geben, und doch hatte ich den Eindruck, als ob er
an Muckermann vorbeiredet, und darum erwähne ich den
Vorfall bier, weil er mir tyypiſch erſchien für die Art,
wie noh immer die Dertreter der Religion und die ber
Wiſſenſchaft (M. it in diefem Fale einer ber lesteren)
an einander vorbeireden. Wielleiht liegt es an M.s
Ihemafaffung, vielleiht hat er felber auch zu ftark in feinem
Vortrag das individuelle Megifter gezogen, alfo feine Rede
auf den Ton eingneftimmt, daß „ein junges Ehepaar”, um
glüdlih zu werden, die und die biologiihen Einfichten be-
rückſichtigen müfle. Aber jedenfalls bat 3. vergefien, daf
dies offenbar im lebten Grunde nidht der Kernpunft von
M.s Gedanken ift, fondern vielmehr der Geſichtspunkt der
Volksgeſundheit, auch wenn er diefen nicht febr ſtark be-
tont baben folte. Aub 3. kommt mit all feinen Aus-
führungen nicht weiter als bis zu dem Gage: belfen könne
uns Deutihen einzig und allein die ewige Wahrheit: einer
trage des andern Taf. (Es fiebt alfo gar nicht, daß diefer
gewiß für das Verhältnis von Menih zu Menih fundea-
mental richtige und wichtige Sag gar nicht zur Debatte
fiebt, wenn es fih um das Problem handelt, wie ber
rafliihen Degeneration abzubelfen ift, die uns bedroht und
vor der uns feine noh fo tief dringende
Chriftianifierung unferes individuellen
lebens allein rettet. Aug 3. glaubt in ber
felben naiven Weife, wie die große Mehrzabl unferer
freibenterifhen und fozialiftiihen MWolfeneglüder, an bie
allmählihe Heraufzüchtung bezw. Herabjühtung des
Volksdurchſchnitts dury pofitive oder negative ſittlich⸗
ſoziale Milieubedingungen, alfo gerade an die unfelige
Lehre von ber MWererbung erworbener Eigenſchaften, die
M. mit Redt bekämpft hat, wie aus 3.8 Referat ber-
vorgeht. Er fieht immer noh nicht, daß man auf diefe
Weile zwar wohl dem Invidiuum fein Dafein erleichtert,
daß aber damit für die Gefamtheit niht nur nichts Be-
wonnen wird, vielmehr gerade umgelehrt bie andauernde
Gefahr der negativen Ausleſe befteht.
Der Vorfall ift, wie geſagt, typiſch, denn es zeigt fió
bier an einem Schulbeiſpiel, wie verberblih es werden
fann, wenn das Chriftentum fo völlig indivibualiftiih ge-
foßt wird, wie es zumeift geſchieht. Der Sag des Chri-
ftentums „Was hülfe es dem Menfchen uſw.“ wird im
Chriſtentum zumeift dahin umgebogen: „Was liegt an ber
Welt, au der Volksgeſamtheit, wenn nur die einzelnen
Seelen gerettet werden.” (Vgl. meinen Auffas über das
„Problem des Uebels“.) Beftenfalls verfuht man, wie
3. «8 auch tut, mit der Frage, was aus ber Geſamtheit
werben fol, ſich dadurch abzufinden, daß man einfah er-
HMärt: wenn nur die einzelnen Seelen nad
Möglichkeit gefördert und gebeffert wer
den, dann wird das Ganze von felber den
Nutzen davon haben. Man fragt fih aber
nıht, ob niht eben die zur Förderung des
Einzelfeelenbeils ergriffenen Maßnah—
men naturnotwendig die Befamtheit fo
ſchädigen müffen, daß jene indbirefte gute
Wirkung dadurch auf die Dauer dog illn-
forifh gemacht wird Jo will ein beftimmtes
Beifpiel feren, um es ganz beutlih zu fagen. Angenom⸗
men, aus 100 erblid minderwertigen Familien ſtammen
300 erblih belaftete Kinder. Das übliche Chriftentum
firdert nun weiter nights, als daß man von biefen 300
Kindern möglihft viele noh rette”, d. b. zu Teiblih mit
den ſozialen Forderungen fih noch vertragenden Menſchen
—
— — 70 — — —
erziebe. Nebmen wir im günftigen Falle an, daß dies
bei 10 Prozent derfelben, alfo 30, gelinge (die Zahl wird
nicht zu niedrig gegriffen fein, es kommt aber auf ibre
Größe nicht an). Die andern 270 mißraten aber und
— ſoweit nicht zum Glüd die mit ftärfer werdender De-
aeneration zumeist gefteigerte Unfruchtbarkeit das abänder:
— erzeugen fie, fagen wir rund: wieder mindeftens 300
erblih belaftete Kinder. Aber aud die „Geretteten“, fo-
fern fie nicht mit Höberwertigen die Ehe eingeben, er-
seugen feine erblich beffer veranlagten Kinder, fondern von
ihren Kindern gerät aud nur ein Fleiner Bruchteil im
Verhältnis zu dem in einer normalen Ebe. Daran fann
ale nod) fo gut gemeinte Erziehung gar nichts ändern,
denn die Gefege der Vererbung find nun einmal da und
laffen fih weder durch mjeren guten, nod durch unfrren
bojen Willen abändern. Demgegenüber fordert nun Die
moderne Raſſenhygiene — ih weißt allerdings nihi, wie
weit Mudermann felber bier miigebt —, daß man vom
Standpunkte der Volksgeſundheit wenigftens ernftlih er-
wägen jolle, wie den üblen Folgen folder Erbaltungs-
velitit vorzubeugen fei. Denn es ift dodh Far, daß die
jorgfältige Pflege, die vom driftlih - individualiftiihen
Standpunkte aus den Minderwertigen zuteil wird, wenig-
tens einem erheblich größeren Bruchteil derfelben das Fort-
leben und damit auh die Fortpflanzung ermöglidt, als
fenfit dazu fommen würde, daß alfo bier negative Aus-
teje“ tarfahlih getrieben wird. Mit diefer Forderung
foenn man nun nicht einfach fertig werden durch den er-
ncuten Hinweis auf die vom Chriftentum geforderten indi-
eiduellen Werte. Denn das kommt ſchließlich darauf bin-
aus, dag man, um dem Gott des zweiten Artifels zu ge-
nügen, dem des eriten jeine Schöpfung vor die Füße wirft.
Hier liegtm. È. eines der Örundprobleme
Neue Literatur. l | 207
des heutigen Ehriftentums. Dürfen wir das
lettere fo individualiftifh überhaupt faflen, wie es zumeift,
und zwar im Proteftantismus noh mehr als im Katholi-
zismus gefaßt wird? Liegt Gott das Wohlergehen ganzer
DVölfer weniger am Herzen als das des einzelnen Men-
ſchen? Geſchieht fein Wille wie im Himmel alfo aud
auf Erden‘, wenn zugunften der legteren die erfteren aufs
Spiel gefest werden? Solche Fragen unjeren driftlid
gefinnten Zeitgenoffen, Theologen wie Laien, ins Gewiſſen
zu fchieben, dazu find alle riftlih gefinnten Naturwiflen-
ihaftler im befonderen Sinne berufen, und fo meint es
vermutlihb auch im legten Grunde Mudermann, wenn er
eg als firenggläubiger Katholik vielleiht audi nicht fagen
will, da die katholiſche Kirche in mandem Betracht nod)
weltabgewandter ift als die evangelifhe. Es ift aber im
böhften Maße cdarakteriftiih für das gegenwärtige Ber-
bältnis der beiden Kirchen zur Kultur, daß aud auf die-
jem Gebiete ein Wertreter der katholiſchen Kirde eine
führende Molle fpielt, während es zwar viele evangelijche
Forſcher, aber meines Wiffens feinen einzigen offiziellen
Vertreter der Kirche gibt, der mit folhen Fragen an die
Deffentlihleit träte. Die evangelifhe Kirche, die weder
durh eine (an fih völlig unnatürliche) politiihe Ehe mit
der freidenferifhen Demofratie gebunden, noh durd eine
ſtark asketiſch beeinflußte Tradition belaftet ift, die viei-
mehr von Anfang an ein viel pofitiveres Werbältnis zu
den natürlihen Aufgaben diefer Welt gehabt bat (Luther,
Calvin) hätte alle Urſache, fih aud einmal auf dieje Seite
ibrer Aufgabe zu befinnen. Statt deffen vergräbt fie fib
beute immer tiefer in Gubjeftivismus und Myſtizismus
und läßt die Führung der Kultur in erfhredendem Mafe
aus den Händen gleiten.
A. Müller, Einleitung in die Philofopbie. F. Dümm—
lers Verlag, Bonn. 171 ©. 1. Band: „Leitfaden der
Pbiloſophie“, herausgegeben von Dozenten der Univerfitäten
Bonn und Köln. Ein ausgezeihnetes Werfen, einmal
etwas ganz anderes als die übliben Einleitungen, die fid
auf die Darlegung der verfchiedenen Standpunkte be-
ihränfen. Müller, von dem wir jhon früber mehrfad
Schriften bier angezeigt baben, ift einer der bisher nod
wenigen aber tüchtigen Vertreter der Meinong-Hufferlichen
Ari des Pbhilofopbierens. Er gebt auh in dieſer „Ein-
leitung“ von der Gegenftandstbeorie aus. Was
er [ier auf nur vier Seiten in zufammengedrängtefter
Sorm bietet, ift geradezu erftaunlid. Man fühle fih mit
einem Schlage in eine ganz andere Art des Philoſophie—
rens verfeßt, als die ift, bei der wir unfere philoſophiſche
Ausbildung erbielten. Hier „gibt es” einfah die vier
Klaffen der finnlihen, der überfinnliben, der idealen
Gegenftände und der Werte und bei den leßteren, von
denen eg wiederum vier Arten gibt (Logifche, ethiſche, äftbe-
tiſche und religiöfe), hält ſich M. auh nicht lange mit der
Unierfubung darüber auf, ob man fie überhaupt zu Medi
aufftellt, fondern er fagt einfah: „Werte laffen fib niht
nachweiſen. Sie bedürfen aber auh eines Nachweiſes fo
wenig wie die Eriftenz des Kölner Domes oder der Sonne.
Sie lafen fib nur aufzeigen, aufweifen. Man fann, wie
ih es mit dem Leſer noh tun werde, die Menfhen nur
binfübren und fagen: Bitte, febt! Wer fie nicht fiebt, ift
eben blind dafür.” Auf diefer Grundlage baut nun M.
feine weitere Einteilung auf. Die beiden erften Kapitel
behandeln die Struktur des logiſchen Wertes, d. i. die
Logik, und die Leiſtung desfelben, d. i. die Erkenntnis—
theorie. Es folgen die Problemfreife des ethiſchen, äfthe-
tiihen und religiöfen Wertes, fodann nah einem das Ver-
baltnis von Religion und Recht behandelnden Zwifden-
tüd die Metaphyſik als Problemfreis der überfinnlihen
Gegenftände (wobei man aber niht etwa an Gefpenfter
und dergleihen, fondern an ©egenftände wie etwa Kau-
ſalität und Subſtanz und dergleihen zu denken bat, ferner
beipriht M. in diefem Kapitel die befannten Fragen Me-
hanismus — Vitalismus, Körper — Seele ufw. Nach
einem weiteren Abſchnitt, der den Problemen der Welt-
anſchauung gewidmet ift, folgt am Schluß erft die Be-
antwortung der Frage, was eigentlih Pbilofopbie fei. M.
findet, daß fie in zwei wefentlih verihiedene Gebiete, die
Lehre von den geltenden Werten und die von den über-
feienden (metaphyſiſchen) Gegenftänden zerfällt, die beide
niht gut in einer einzigen Wiſſenſchaft zufammengefaßt
werden könnten. Er läßt eg aber dabingeftellt, welchem
der beiden Teile fchließlih der Anfprub auf den Namen
Philoſophie zufallen folle. — Es ift leider unmöglid,
auf dem FEurzen, bier zur Werfügung ftebenden Maume
einen Eindrud von der Fülle neuartiger Geſichtspunkte zu
geben, die das Fleine Bändchen bietet. Es ift ein Genufi
für jeden bereits der Philoſophie kundigen Lefer, die Sahe
einmal von diefem, befonderg proteftantifhen Kreifen völlig
ungewebnien Standpunkte aus dargeftellt zu finden. Ob
freilich der Anfänger trog der zahlreihen Verweiſungen
auf weitere Literatur die außerordentlih Enapp zufammen-
aedrängten Süße des Werfaflers fo leicht verſtehen wird,
mode ih nicht unbedingt glauben, empfehle das Büchlein
aber dringend der Beachtung aller, die fon ein wenig
Ahnung von philofopbifhdem Denten baben. t.
Hans Dried, „Metaphyſik“ (Verlag von Gerd
Hirt in Breslau, 1924. 100 Seiten, Preis 3 M.) In
der „Jedermanns Bücherei“ gibt Driefh eine Einführung
in jein metaphyſiſches Syſtem. Der Weg, weldhen er da-
bei gebt, ift wiederum derjenige von der „Ordnungslehre“
zur „Wirklichkeitslehre“. Die erfte zeigt die Ordnung
unter unferen Erkenntnisobjekten und wirft damit die
Grage nadh dem Grund berfelben auf, weldhe dann von ber
weiten beantwortet werden fol. Zur Verfügung fteben
diefer dazu gewifle Methoden des Aufftiegs von der empiri-
iden zur metaphyſiſchen Wirklichkeit, deren wichtigſte dic
Induktion ift, fowie einige Säge und Poftulate. Die
Anwendbarkeit derfelben fuht Driefh dann an einigen meta:
phyſiſchen Sonderproblemen darzulegen, wie dem Problem
des Raumes oder dem Freiheitsproblem, obne fie damit
jedoch als beſonders frudhtbar erweifen zu Fönnen. Denn
die Methode, eindrucksvolle Tarbeftände der Erſcheinungs
welt auch als metaphyſiſch eriftierend anzuerkennen, — vgl.
den neuen Gefihrspunft zum Freiheitsproblem „Ein fehr
tart und deutlich ausgeprägter Weſenszug der empirifhen
Wirklichkeit darf nicht metaphyſiſch als überflüffig ange-
jeben werden — erbebt dodh aud die ihnen entgegengefeß-
tea Erfheinungen zu derfelben lebten Wirklichkeit und ver-
obfolutieri damit nur den egenfag der beiden, ftatt
thn aufzuloien. Allerdings möchte Driefh über diefen
Gegenfäßen die fie überfpannenden Ganzheitsfaftoren er-
fennbar maden, um fdließlih zu der Gottheit als dem
Urgrund aller Ganzheit aufzufteigen. Allein eine folde
Darftellung, welde die das Problem erzeugenden Gegen-
iage immer nur als die Pole derfelben inneren Spannung
aſcheinen laffen, jedoh niemals zu iſolierten Tatbeſtänden zer-
trennen dürfte, it in wiſſenſchaftlicher Sprade febr fchwer
zu geben und in derjenigen Drieſch's vielleicht noch ganz
befondere. tt.
3. Neef, Der Geit der Wiſſenſchaft. Sammlung
„Wiſſen und Wirken”, Verlag Braun, Karlsrube. 1925.
2.— M. Eine von feinem Verſtändnis für die verſchie
denften Zweige der Wiffenfchaft und forgfältiger Vertiefung
in die große auf das Problem der Wiflenfhaftsabgren:
zung bezüglihe Literatur zeugende Arbeit, die befonders
wertvoll ift durd die vielen fhönen Zitate aus den Werten
EHaffiiher und moderner Autoren. Nad einem erften
Hauptteil, der in geſchichtlicher Darftellung die Entwidlung
der modernen Wiffenihaft von der griehifhen Zeit an
widnet, befpriht der Derfafler im zweiten „die Struftur
der Wiſſenſchaften“. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die
Vaturwiflenibaft Erkenntnis von Geſetzen, geleitet von
dem Sireben nag Identität, die Geſchichtswiſſenſchaft Er-
tenntnis des individuellen als intenfiv wirkenden Madıt-
vellen und die Biologie, Soziologie und Kulturgefhichte
Erkenntnis von Ganzheiten, geleitet vom Gefihtsrunft der
teleologiihen Werbundenbeit, fei. Jm großen und ganzen
find das befannte Formulierungen, auch it der Verſuch
won oft gemacht, den Gegenfaß zwiſchen der Naturwiſſen⸗
ſchaft und den beiden anderen Gebieten dadurd zu mildern,
daß man, fo wie eg der Verfaſſer im dritten Kapitel tut,
aud das Muterielle nur als fozufagen erftarrtes Pſychiſches
auffaßt, ribtiger: als ein Produkt des erfennenden Geiftes,
der nad Rube im Fluß der Erfheinungen fuht und diefe
in dem bleibenden Geſetz, der bleibenden Maßbeziehung ulm.
findet. Ich muß freilih betonen, daf ih gegen diefe
(idealiſtiſche) Umbiegung einer beftimmten Seinsart in eine
Neue Literatur.
. Begabung.
— no — — —
bloße beſondere Erkenntnisweiſe erhebliche Bedenken habe,
empfeble aber das Büchlein trotzdem gern wegen ſeiner
vielen feinen und treffenden Beleuchtungen ſowohl des
naturwiſſenſchaftlichen wie des geſchichtlichen und biologiſchen
Gebietes.
D. Deſſauer, Leben, Natur, Religion. (Verlag
Cohen, Bonn. 140 S.) Ein ganz ausgezeichnetes Buch,
zu dem Beſten gehörend, was mir in der letzten Zeit vor
Augen gekommen iſt. Der Verfaſſer iſt Profeſſor an der
Univerſität Frankfurt, Leiter des dortigen Inſtituts für
phyſikaliſche Grundlagen der Medizin, zugleich ſtark philo⸗
ſophiſch intereſſiert, außerdem aber Zentrumsabgeordneter
im Reichstag. Man erſieht ſchon daraus feine vielſeitige
Und dies Urteil beſtätigt ſich, wenn man dies
wundervoll klare, von echteſter Wiſſenſchaftlichkeit ebenſo
wie von warmem religiöſem Gefühl getragene Büchlein lieſt,
das ich wie nur ganz wenige in unſerer Zeit geeignet halie,
Suchenden und Fragenden aus dem Lager der Naturwiſſen
ſchaften und vor allem der Technik den Weg zur Religion
wieder zu bahnen. Es iſt faſt unmöglich, von dem reichen
Inhalte desſelben eine ausreichende Vorſtellung zu geben,
chne das halbe Bud abzuſchreiben. Beſonders glücklich er-
ſchien mir das erſte Kapitel, wo der Derfaffer die Role
der Religion im zeitgenöflifhen Leben caralterifiert. Den
Grundgedanken bringt das zweite und dritte Kapitel. D.
will bier, ähnlich wie Dennert mit feinem „Spiel-
doſengleichnis“, zeigen, daß und warum die mehanifhe (tan
fale) Geſetzmäßigkeit die Leitung” durch höhere Ziele nidi
ausfchließt. Sehr anregend ift dabei feine Fiktion eines
total unmuſikaliſchen Phyſikers, der, vielleiht von einem
anderen Planeten fommend, bier bei uns ein Muſikſtück
mit phyſikaliſchen Mitteln unterfuhen würde. Er würde
niht nur (nah D.) die faufalen Faktoren der Tonerzeugung
ufm. ergründen, fondern aud gewifle eigentümliche Regel-
mäßigleiten der Tonfolge bemerken (das, was wir die
„Melodie“ nennen), die er fih auf feine andere Weife zu
erflären vermödte, als durch die Hypotheſe, daf nod) irgend
ein ibm unbekannt gebliebenes böheres Geſetz diefe Ton-
folge regele, falls er es nicht vorzöge, als „Agnoſtiker“ auf
jede folhe Hypotheſe von vornherein zu versihten. (Ich
babe zwar nit unerbeblide Bedenken gegen diefen Schluß,
aber er it immerbin febr nachdenkenswert.) Weiterhin
fiel mir ganz befonders die erihütiernde Darftellung des
Iheodizeeproblems im legten Kapitel auf, we ſich D.s Ee
danfengänge teilweife fat wörtlid berühren mit vielem,
was ih in „Anfere Welt‘, insbefondere in den Nummern
1 bis 3 diefes Jahres, dazu geäußert babe. Fünf mert
ville Anhänge bebandeln im erften die Frage der eraften
oder ſtatiſtiſchen Maturgefeslihkeit, im weiten ben ver-
breiteten Denffehler des „Nur-Schluſſes“ (aus dem Easg:
dies ift richtig, mat man den Sag: nur dies ift rihrig),
im dritten die Melativitärsibeorie und den Laplaceſchen
Weltgeift, in den beiden legten das Weſen der TIchnit.
Tiefe Testen beiden find befonders wertvoll. D. definiert
die Technik als „Fortſetzung der Schörfung‘ duro den be-
wußten DVerftand des Menſchen, er zeigt deutlich, wie völlig
unbaltbar die weit verbreitete Meinung ift, die Technik fei
nichte als „angewandte Maturwiflenihaft” und fei ihrer
Matur nah reiner Urilitarismus. Gerade, dağ er bier
ein fo feines Verſtändnis für die böberen Gefihis;untte
aller tehnifhen Arbeit zeigt, wird ibm hoffentlich audy in
den Kreijen der Technik ſolche Lefer erweden, die aud feinen
anderen Ausführungen millig zubören. Mur durd ſolches
Verftindnis, nicht durd Schimpfen und Verächtlichmachen
der niinderwertigen „bloßen Zivilifation‘ werden wir dazu
kommen, Die tiefe Kluft zu überbrüden, die zu unferen:
Verderben beute die Manner der erakten Wiffenihaft und
ter fchaffenden Arbeit von den Wertretungen der höheren
idealen Kulturmwerte, insbefondere der Religion, trennt.
Ganz befonders in diefem Betracht it Deſſauers Bug eine
— — Sue — —
vorbildliche Leiſtung. Ich empfehle es befonders deshalb
ule Geſchenkwert für folche im techniſchen ober wirtſchaft ·
liben Leben ſtehende Männer. (Es atmet überall männliche
Kraft und ſtrenge Sahlichkeit, von konfeſſioneller Enge ift
nicht die leiſeſte Spur darin. Ich hoffe demnächſt ein
größeres Stück davon in einem beſonderen Aufſatz abdrucken
zu können.
Auf ganz anderem Boden ſteht €. 3Zſchimmer, Philo:
iopbie der Technik. (Jenaer Volksbuchhandlung, Jena,
1919. Preis 1 A.) Dieſes Buch batte ih auf Grund
einer arten Empfeblung von kompetenter Seite zur Be-
ſprechung angefordert. Der Derfafler, früher Angeftellter
der Zeißwerke in Jena, it gegenwärtig Profeflor in Karls-
rube. einer politifhen Einftelung nit nur, fondern
auch feiner weltanfhaulih religiöfen nah fcheint er ziem-
lich weit links au fteben, und ich Fönnte mir denten, daß
‚ein Wert in den Kreijen des Deutfhen Moniftenbundee
febr günftig beurteilt würde. Wenn ih es trotzdem aud
hier zur Lektüre empfehle, fo geſchieht es deshalb, weil e>
oentih wie das Deffauerfhe Bud vorzüglich geeignet ift,
ſchiefe und falfhe Lirteile über das Wefen und die Be-
deutung tehnifher Kultur zu zerftören. Der DBerfafler
befampft in ibm aufs fhärfite das, was er den „Unſinn
uber die Technik“ nennt (die Auffaffung, daß Technik weiter
nichts als zu allerlei nützlichen Zweden angewandte Natur-
wiffenihaft fei.) Das it fein gutes Redt, und um diefes
Rechtes willen möge man fein Buch mit Aufmerkfamfeit
liefen. Ueber das Ziel hinaus dagegen fchießt er, wenn er
nun feinerfeits den Herren, die den deutſchen Idealismus
gerachtet zu baben glauben“ und die von „der Wiſſenſchaft
um der Wiffenfhaft willen‘ reden, die Theſe entgegenftellt,
vle Wiffenihaft fei lediglih als Dienerin praktiſcher Ziele
eriftenzberedhtigt, denn der Menih fei zum Wirken, nicht
zum Mefleftieren auf der Welt. Tiefer unverblümte Prag.
matismus wird dem Geifte der Wiſſenſchaft ebenfomenig
gerecht wie bie von Zſch. bekämpften Aeußerungen feiner
Gegner dem der Technik. ch laffe es an diefen Andeutun-
gen bier genügen und boffe, aud über diefe Frage demnädjft
einen ausführlichen Aufjaß bringen zu Eönnen.
E. v. After, Raum und Zeit in der Eeſchichte der
Philoſoehie. Möst u. Co., Münden. 150 ©. Kine
bubſche gefdidilihe Unterfuhung, die mit dem „Apeiron“
d. i dem leeren Raume) der älteften griehifhen Philo-
icobie beginnt und bei der Melativitätstheorie endet, und
aug der man recht deutlich erkennt, welde wichtige Rolle
dem MRaum-Zeit-Problem in der Gefchichte des geſamten
Dentens zufommt. Ganz befonders gut gelungen fchien
mir die DVDarftellung der Haflifhen Periode von Korernikus
tis Descarses, Newton, Teibniz ufw.
M. Wentſcher, Fechner und Loge. Geſchichte der
Philofopbie in Einzeldarftellungen, herausgegeben von ©.
Raffa, Verlag E. Reinbardt, Münden. (4 M.) Eine
trefflihe Darftellung des Lebenswerfes von zweien unferer
Beften, die leider infolge der allgemeinen antimetaphyſiſchen
Zeitſtrömung Jahrzehnte lang faſt vergeflen geweſen find.
Sür den wertvolleren halt W. mit Redt Lotze, deffen über-
oug Mare, weit ausgreifende, ver feinem Problem zurüd-
werhende Art aud unierer Zeit noh viel zu fagen bat.
Tefonders intereflant war mir, wie am Schluß der Ber-
tafler die religionsphilofopbifhen Ideen Loges Fritifiert und
dabei zeigt, Daß mande darin entbaltenen Schwächen fid
bi weiterer Entwidlung in der von L. felbft angegebenen
Richtung wohl noch hätten befeitigen laffen, fo 3. B. bin-
ihlih des Problems des freien Willens oder des der
Theodizee. Das Büchlein fei warm empfohlen. Br.
R. v Engelhardt, Organiſche Kultur, deutiche
Vchbensfragen im Lichte der Biologie. Ver
izg Lehmann, Münden, 1925. 3,20 .M, geb. 4,50 .M.
Ser Yebmannfhe Verlag bat uns in den legten Jahren
iden ſo viel Treffliches befchert, daB ich ſchon mit einem
Neue Literatur.
pi 209
günftigen Vorurteil an prieg Bud heranging. Aber was
ib les, übers.af weit mei: Erwartungen. Diefes Buch
har ein Weifer geihrieben, einer von den ganz wenigen,
die „zum Geben geboren, zum Schauen beftellt” find.
Mahnde bat in feinem vorzügliben Auffas über Leib-
nizens Gegenwartsbedeutung dargelegt, wie alle Probleme
unſerer Zeit in der Frage gipfeln: Wie kommen wir zu
einer Syntheſe der rationalen Erkenntnis mit dem über—
rationalen Erlebnis? Von dieſer Grundfrage iſt auch dies
Buch beherrſcht. Wenn fein Verfaſſer dabei den Bor
rang der ſchöpferiſchen Intuition vor dem nüchtern redhnen-
den Verſtand nach meiner Auffaſſung auch etwas zu ſtark
beront, — bier kommt ein bisher anſcheinend nicht zu über-
brückender Gegenſatz zwiſchen naturwiſſenſchaftlich und ge—
ſchichtlich geſchulten Denken zutage —, fo ſtehe ih dod
nicht an, zu erklären, daß er in dem, was er über die Nor-
wendigteit einer Wertftufenfolge fagt, durchaus Recht bat,
und daß die intelleftualifierung unferer geſamten Kultur
unter Verluſt alles organiihen Eicdeinfüblens in die eigene
Lebensgeſetzlichkeit — wie fie in Reinkultur heute der deut-
Ihe Moniftenbund predigt — unfer Verderben wird, wenn
wir uns nicht noh im legten Augenblid auf die echten,
wurzelbaften Trieblräfte unferes eigenen deutſchen Weſens
befinnen. In einer überaus padenden, an manden Stellen
geradezu dichteriſch ſchönen Sprade führt der Verfaſſer
diefen feinen Orundgedanten durch. Er gebt von der
Wendung der neueren Biologie zum Vitalismus aus, um
ih dann dem „Menſchheitsrätſel“, der intellektuellen Krifie
der Gegenwart und. der Forderung einer organifhen Kul--
tur zuzumenden. Seine Auseinanderfegungen mit Berg
fon, deffen Ideen er größtenteils verwertet, mit Troeltſch,
Spengler, Keyſerlingh u. a. find hoch intereflant. ein
Kuliurideal findet er in Goethe, das Gegenteil, den abfo-
luten Sieg des rechnenden ntellefts und des blinden WiL
lens zur Macht in der rufliiben Revolution. Kultur ift
ibm „Wille zum Wert, Ihöpferiihe Tat, Geftaltung des
Ungeftalteten . . . zu einem Werivollen, Einnvollen, zur
Struftur.” Es find die wertvolliten Krafte und Gedanken
des deutfhen Idealismus, die bier lebendig werden, und
eigentlich follte jeder gebildete Deutſche ein ſolches Buch
gelefen baben. Wenn ih troßdem zwei weientlihe Ein-
wände dagegen zu erbeben babe, fo follen diefe nicht fo auf:
gefaßt werden, daß fie das, was der Verfaſſer faqt, auf
heben follten. Sie folen nur auf Punkte binweifen, wo
meines Erachtens der Derfafler feine Gedanten hätte nod
weiter ausbauen müflen. Zum eriten kommt offenſichtlich
die von der Mathematik aeleiteie Naturwiſſenſchaft und
Technik bier zu fchleht weg. Man merkt aus alien Wor
ten des DVerfaffers jene gelinde Animofität gegen den „red:
nenden! Verſtand beraus, die aud einen Goethe befeelt
hat, trog feiner Worte über die Verachtung von „Vere
nunft und Wiſſenſchaft“ (nah E. batte alierdings bei Goethe
das Wort Vernunft einen anderen böberen Sinn als bei
Kant). Als Vertreter diefer Seite der menſchlichen Geiſtes—
tätigfeie muß ich fagen, dag der Verfaſſer die Mentalität
eines modernen Maturforihers und Ingenieurs nicht ver-
ftebt, und daß es mit feiner Abwerrung des bloßen Ver
tandes niht getan ift. Eine wab hatte nene Kulturion-
theſe, darin bat Mahnde viel tiefer weichen, fann midt
darin befteben, dap Goetbe dem Nationalismus entgegen
gefeßt wird, jondern darin, dap beide, mie eg bei Leibniz
angenähert wenigſtens der Fall geweſen it und ubriaens
and bei Goethe felbit von der anderen Seite ber ange
näbert der Fall war, zu einer böberen Einheit verſchmol
yen werden, bei der die in der rationalen Geſetzeserkennt
nig vorliegenden hödften Wahrheitswerte ebenfo zu ihrem
Rechte kommen, wie die im individuellen, mit Begriffen
nie ausihörfbaren Leben wurzelnten Perſönlichkeitswerte,
te die Beichichte bilden. Der Umstand, dan E. bei alter
Klarbeit fur die letzteren daber den Anſchluß an die erfteren
210
verpaßt, wird notwendig zur Folge haben, daß er zwar ben
Maihematifern und Phyſikern ufw., die ja aud Men.:
ſchen find, jene andere (individuelle) Seite febr lebhaft
zum DBewußtiein bringen Tann, fie werden aber dann erft
recht innerlich zerriffen werden in der NHinfiht, daß ibre
eigene Arbeit an diefe höchſten Werte dabei keinen An-
ſchluß gefunden bat. Daß dies aber fo gekommen ift,
liegt meines Erachtens an dem zweiten und SHauptfehler
diefes fonft fo hervorragenden Buches: es läßt, wie das
bei Goethe chen aud) vielfah der Fall ift, dod in religiöfer
Hinfiht vieles zu wünfhen übrig. Die Anſätze dazu find
überall vorhanden. Aber E. ſieht ebenfo wenig wie es
Goethe felber Mar geſehen bat, daB die gefuchte Einheit
von Matur und Kultur niht im Geifte des Menſchen ge-
funden werden tann, der zwar Bürger zweier Welten, der
naturhaft gebundenen und der der fittlihen Freiheit, ift,
aber niht die Kraft bat, dieſen Gegenſatz auszugleichen,
fondern daß diefe Einheit tatfählih nur geſucht werden
fonn in einem Gott, der fowohl „Natur in fib, fih in
Natur hegt“, wie oberfter Wertmaßftab und Richter ift,
wie denn Leefe in feinem bier beiprohenen Schriftchen
yur Kulturkrifis es ganz richtig formuliert hat, daß die
Löſung, nahdem einmal der Zwiefpalt zwifhen naturhafter
Gebundenheit und autonomer Freiheit eingetreten ift, nur
in einer „Theonomie“ zu finden fei, die natürlich nicht
Wiedereinfegung längft überlebter Dogmen, fondern neue
lebendige und Leben ſchaffende Grundlage fein muß.
Ich will mit diefer Kritik, wie gefagt, nit den Wert des
hervorragenden Buches herabfegen. In allem weſentlichen
ift bier das Beſte des deutfhen Geiftes in muftergültiger
Klarheit und lebendiger Anſchaulichkeit herausgearbeitet
negenüber allen Irrlichtern „weſteuropäiſcher“ fog. Kultur,
die nichts als plattefter Utilitarismus it. Mit Redt ver-
weit der Verfaſſer 3. B. auf den vollftändigen Bankerott
der ganzen angeblihen „Wiederaufbaupolitik“ der Sieger-
finaten, wohingegen in talien unter Muflolinis Regiment
tatfählid eine neue organifhe Kultur zu erftehen beginnt.
(Wenn man dahin kommt, it man tatſächlich erftaunt, wie
beute in Italien, das bei uns noh immer als Fulturell
ganz rüdftändig angefehen wurde, gearbeitet wird.) Für
die endgültige Löfung des Kulturproblems aber kann id
aus den dargelegten Gründen auch diefes tiefgründige Wert
nicht halten. Denn fhon die naturmwiflenihaftliden Grund-
tagen find in bohem Mape anfehtbar, der biologifhe Bita-
lismus ift in der vom Verfaſſer bargeftellten Form feines-
wegs endgültig erwiefen, trog Driefh und v. Hartmann.
Das Kunſtſtück ift, den Eigenwert und die Eigengeſetzlich⸗
feit des Lebeng aud obne diefen zu begründen. Denn fonft
weht der alte Streit cinfad weiter. Die Naturwiſſenſchaft
errrägt keinenfalls eine Kulturſyntheſe, die ibr die Marſch—
route vorſchreibt.
Vier oklkultiſtiſche Schriften aus dem Verlag von
W. Altmann, Leipzig, liegen zur Beſprechung vor, auf bie
ib bier nur fur} eingeben tann. Zunädft eine von Dr.
Bierens de Haan, aus dem Holländifhen überfegt:
Die Bedeutung der Suggeftion und Hypnoſe für die Er-
jiehung. Cie ift niht im engeren Sinne okkultiſtiſch, fon-
dern gebt nur auf die beiden im Titel genannten Gebiete
ein und behandelt in febr verftändiger Weife allerlei hier-
ber gehörige Erziehungsfragen, insbefondere aud die der
Erziebung geiftig anormaler Kinder. Der Yebrer und Er-
sicher wird viele gute Anregungen aus dieſer Schrift
ſchopfen.
Recht brauchbar iſt trotz ihres dem Okkultismus ausge-
wroden freundlichen Standpunktes auch die Schrift von
X. Sigerus über „Die Telepathie“ (2. und 3. Auf-
lage, 175 eiten), eine „gemeinverftändlihde Studie über
Geſchichte, Weſen, Auftreten, Erklärung und Wichtigkeit
der televathiſchen Vorgänge, fowie über erperimentelle Tele-
pathie“. Diefer Titel Elingt ein bischen anſpruchsvoll, der
Menue Literatur.
Verfaffer hält aber im weſentlichen, was er verfpridt und
befleißigt fih dabei einer wohltuend wirkenden Saglig.
keit, fo daß man febr viel lernen fann, wenn man aud
weder alle behandelten Tatfahen obne weiteres anertennen,
nod fih des Verfaſſers phyſikaliſche Erklärungshyrotheſe
(die befannte Schwingungstheorie ber telepathifhen Er-
fheinungen) zu eigen maden will.
Weniger erfreulih wirkte auf mich die Kleine, 40 Seiten
tarte Shrift von ©. Zeller: „Okkultismus und dent-
ſche Wiſſenſchaft feit Kant und Goethe”, in der der Wer-
fuffer einen kurzen geſchichtlichen Weberblid über das Ber-
bältnis der deutfhen Wiffenihaft zum Okkultismus gibt,
der nicht gerade von ſympathiſchen Gefüblen für die erftere
diftiert ift. Es werden befproden: Kant, Goethe, Schopen⸗
bauer, Zöllner, Drieſch und Defterreihd. Den Abihluß
macht ein Karitel „„Ausblide”, worin der Verfaſſer das
Herannaben einer neuen Religion ankündigt, die fih auf
offultiftifhder Grundlage aufbauen fol, und deren Weſen
das „Einswerden des Jh mit dem Selbft, dem Gort in
uns, den alle Myſtiker erleben”, fein fol. „Ein Mirt-
leres zmifchen dem Kultus des Jh bei Nietzſche und ber
Gottesverehrung der Kirche”, „eine Verbindung von Myftif
und modernem Erkennen, weld legteres mit Schiller,
Goethe und Kant das Göttlihe nur in feinen Wirkungen,
nie in feinem Weſen zu erkennen glaubt”. Wohl be-
fomm’s!
Die vierte Schrift endlih ikt von Dr. Fr. Giefe,
Privatdozent an der Techniſchen Hochſchule Stuttgart, und
heißt „Die Lehre von den Gedankenwellen, eine parapſycho⸗
logiſche Erörterung. (8O eiten.) Cie gibt fih in
ihrer ganjen Art als wiflenihaftlih orientiert und geih-
net fib in der Tat durd eine bei okkultiſtiſchen Schriften
zumeift ungewohnte wiflenfhaftlihe Höhenlage aus. Giefe
erörtert in febr objeftiver, die negativen Inſtanzen ebenfo
wie die pofitiven würdigender Weiſe die wichtigſten bisher
vorliegenden parapſychologiſchen Erfheinungen, einſchließlich
der fogenannten parapbufifafifhen, wie 4. B. der Verſuche
Schrend-Mosings mit Willi Echneider, und verfuht zum
Schluß eine Theorie der Erfheinungen, die in der Haupt-
fahe auf die Annahme einer befonderen Energieform bin-
ausfommt, in welde fih die phyſikaliſche Energie im
Nervenſyſtem, und zwar im Epmpathilus, umfesen foll.
Leider wird die Durchführung diefer an fih nicht üblen
Hypotheſe nun höchſt ungenießbar durd die unglüdlihe Cin-
fübrung des Begriffs Potential”, der „eine Art Ladung
des Trägers mit diefer Energie‘ bezeichnen fol. So tom-
men dann Säge zuftande wie der: „Wo fhwingt das Pe-
tential des anderen beim Empfänger (teleyathiiher Wahr-
nebmungen) oder an welcher Stelle beunrubige ih die
Potentialität, den hypothetiſch momentan ftationären La—
dungszuſtand?“ Als ih diefen Eag zuerft durch Zufofl
lag, war ich geneigt, das ganze Schriftchen obne weiteres
in den Papierkorb zu fteden. Denn er Elinge verzweifelt
ähnlich jenen hochtrabenden Deduktionen Halbgebildeter, die
alle Fremdwörter, von denen fie mal gebört haben, balb-
menlihft in einer im Selbftverlag des Verfaſſers erichei⸗
nenden Schrift anbringen müflen. Die Lektüre der Schritt
belehrt uns zwar darüber, daß Gieſe durchaus ernft zu
nehmen it. Gerade darum follte er aber folge reihlich
vagen Erörterungen vermeiden. Was ©. will, läft fip
auh obne felge Webertragung von Wörtern, die in ber
Pbyſik fhon einen ganz anderen und febr prägifen Sinn
baben, ausdrüden. Im übrigen aber fei die Schrift als
gute Darftellung des modernen wiffenihaftliden Offultis-
mus emrſohlen.
In das Gebiet des Okkultismus reiht binein auh cine
antere Chrift aus dem Altmannfhen Verlag: E. Paul,
Licht und Zarben im Dienfte des Volkswohls. Thera-
veutifh-bugienifhe Studien unter Mitwirfung berufener
Aerzte und Fachleute. Der Verfaſſer bezeihnet fih als
Neue Literatur. 11
„Leiter der Münchener Geſellſchaft zur Lichtforſchung“. Er
will zeigen, welche ungeheuren, noch ungenutzten Werte zur
Heilung der kranken Menſchheit in der Verwendung aller
möglichen Belichtungstherapien liegen ſollen. Wenn man
jedoch lieſt, wie „heftige Blutungen aus der Lunge“, Ge-
birnentzündung („Cerebro⸗-Spinalmeningitis“) uſw. durd
bloße Beſtrahlungen mit blauem Licht geheilt worden ſind,
ſo erhebt ſich doch ein gewaltiges „Schütteln des Kopfes“.
Das Buch gehört leider zu der weit verbreiteten krypto⸗
mediziniſchen Literatur, die von dem Glauben des großen
Publikums an alles Mögliche lebt, was nur nicht „offizielle
medisinifhe Wiſſenſchaft“ ift, fondern einen leicht myſtiſchen
Anſtrich bat. Daß es daneben allerlei ſchätzenswerte An-
regungen befonders binfihtlih der feeliihen Wirkungen far-
biger Umgebung und dergleichen enthält, fei nicht beftritten,
als Ganzes aber muß es meines Erachtens abgelehnt wer-
den, weil die Gefahren derartiger Kryptomedizin befannter-
mapen allzu groß find.
A. S. Gräter, Das Welt: und Gottesrätfel, oder
das Problem von Stoff und Kraft, Materie und Geift,
Raum und Zeit, Leib und Seele, Leben und Bewußtſein,
Tiesfeits und enfeits, Gefhöpf und Gott. (Im Selbft-
verlag, Stuttgart, 1925. 6O Seiten, Preis 2 M.) „Es
gibt dide Bücher und dünne Bücher“, fagt der an anderer
Stelle erwähnte Zfhimmer, die einen find dide Wäl-
jer, arm an Ideen, die anderen enthalten been, aber obne
das nötige DBeweismaterial. Mach diefer Definition gehört
die vorliegende Schrift zu den legteren,; die ganze Auf-
machung ift fo, daß ich zuerft verfuht war, fie wie Dugende
anderer Art ungelefen aus der Hand zu legen und die Be-
iprehung abzulehnen. Wenn idy es troßdem nicht tue, fo
deshalb nicht, weil fie in lobenswertem Unterſchied von fo
mınden abnlihen Erzeugniflen, wenigftens eine durchaus
tiare Problemftellung und eine im allgemeinen zutreffende
ſachliche Kenntnis deffen verrät, was die Wilfenihaft von
beute zu jagen bat. Außerdem enthält fie eine originelle
Idee. Der Verfafler will das Körper-Seele-Problem durd
die Hypotheſe löfen, daß die materielle Energie (die Materie
it ja nad moderner phyſikaliſcher Auffaffung mit Energie
identiſch) fih in Seelenfubftanz umwandeln, die er fih in
„Pindonen‘ gegliedert denkt, wie jene in Elektronen oder
Protonen. Diefe pſychiſche Subſtanz fol nun das feeliiche
„Feld“ bilden, in dag jene materiellen Energiefnoten nur
eingebetter find. Für fie folen die Säge der Pſychologie
gelten, wie für jene die der Phyfit. Der Verfaſſer ver-
mwerret weiterhin den modernen Dffultismus und entwidelt
eine theologifhe Auffaffung, die unter ‘Beibehaltung der
wichtigſten Grundlehren des Chriftentums doh mit manden
Beſtandteilen der berfümmlihen Kirchenlehre, vor allem
der Stellung zum Alten Teftament, fharf aufräumt. Wiel
Erfolg wird der Verfaſſer mit diefer feiner Arbeit nicht
baben. eine Seelentbeorie it allzu materialiftifh und
erklärt im Grunde gar nichts, am wenigften den Unter-
idhied des Körperlichen vom Seeliſchen. Doh enthalt fie
mınden anregenden Gedanfen.
J. Rüther, Auf Gottes Spuren. Joſefsdruckerei,
Bigge-Ruhr, 3 M. Eine aus zwölf einzelnen Aufſätzen
biftebende furze apologetifche. Arbeit. Der Verfaſſer fhil-
dert im Anſchluß an Wanderungen in der Matur eine
Meibe der dabei in ihm auftaudhenden Tragen, wie 3. B.
die Frage der allgemeinen Maturgefeglihkeit, die der Un-
zweckmäßigkeiten in der Welt (Theodizeeproblem) ufw. und
ſetzt fih mir diefen vom Standpunkt einer warm empfun-
denen Släubigfeit auseinander, der ein Fonfeflionell katho-
liſcher Zug niht anbaftet, fondern die ebenfo gut fib bei
einem Evangeliſchen finden fann, und tatlählih aud in
terfelben Form bei vielen Evangelifhen fih findet. Vieles
davon wird man von Herzen unterfhreiben. Und für cin-
ſache Menſchen aus dem Volf wird eine ſolche Arcologesik,
tic in wohltuend einfaher Sprache geichrieben ift, gan:
fhliht die berfümmlihen Gedanken entwidelt, immer wirt-
fam bleiben. Für den, der die Probleme tiefer fiebt, ift fie
allerdings zu — einfah. Dem wirflid an die Wurzel
aehenden Zweifel kommt man auf diefe Weife, wie bie
Erfahrung Tängft gezeigt bat, nicht bei. `
J. Kühnel, Ziele und Wege Verlag H. Raud,
Diesbaden. 173 ©. Ebenfalls eine aus katholiſcher
Jeder flammende und ebenfalls nicht Eonfeffionelle, fondern
rein religiöfe Sammlung von einzelnen Auffäsen. Der
unferen Leſern bereits befannte Verfaſſer ſpricht aug bier
mit der gewohnten Wärme von einer großen Reihe ein-
zelner religiös-ethifher Fragen, wie z. DB. WWertrauen,
Dankbarkeit, Liebe und Freundfhaft, Takt, Treue, Maht
der Perſönlichkeit u. a., die er fämtlih in das Licht einer
tief empfundenen Religion des Herzens ftelt. Als Ce-
legenheitsgeſchenk ifi das Bändchen redt geeignet. BE.
Siegfried Behn: „Die Wahrheit im Wandel
der Weltanfhauung”. Eine kritifhe Geſchichte der meta-
vhyſiſchen Philoſophie. (Verlag von Ferd. Dümmler,
Berlin und Bonn 1924, 322 Seiten, Preis geb. 9.50 M.)
Das Unternehmen diefes Budes ift fo groß, daf man
ihwere Bedenken gegen feine Ausführbarkeit begen
könnte. Denn es will die zahlreihen Weltanfhauungen,
welche in unferer Geiftesgefhichte aufgetreten find, nicht in
ihrer wecfelnden Eigenart darftellen, fondern verfuht von
ihnen all das abzuftreihen, was ihnen nur. als vorüber.
gebender, zeitgeihichtlih bedingter Wert anhbaftet, um fo
die bleibende Wahrheit rein heraussulöfen. Da fann man
denn wohl fragen, ob eine folde Beurteilung überhaupt
möglih it, nahdem doh jeder DBeurteiler in feiner Zeit
ftehbt und in feinem Denken von deren DBorausfeßungen
abhängig ift. Wie beredhtigt jedoh im allgemeinen aud
derartige Einwände fein mögen, bier hat jene Einftellung
ein Wert geſchaffen, defen überragender Wert unabhängig
von ber Webereinftinmung mit der Gefamtbeit feiner Er-
gebniffe anerkannt werden muß. Denn bier bat fie dazu
geführt, daß die philofophifhen Syſteme aus dem fdhör-
ferifhen Erlebnis ihrer Urheber heraus nadgeftaltet und
nicht nah ihrer logiihen Wereinbarfeit untereinander be-
urteilt wurden. Dabei erfheint als die Urzelle des
Mahstums fruchtbarer philoſophiſcher Gedanken immer
wieder die Sehnſucht des Menihen nah einer Vollendung
feiner Perfönlichleit in Gottes unendlihem Weſen, nad
einer Krönung feines Willens um die Dinge der Welt
duro die Erfahrung der ewigen Wirklichkeit. Daß bei
diefer Darftellung des Verfaſſers die ſcholaſtiſche Philo-
fophie, welde vielen von uns dodh ferner ftebt, ganz De-
fonders zu neuem Leben gelangt, werden aud diejenigen
ihm danken, die doh nicht wie er alles Heil für die Zu-
funft von ibr erhoffen können. —tt.
V. Ruſſell, ABC der Atome, überjegt von W.
Hlod. Frantihe Verlagsbuhbandlung Stuttgart. Geb.
2.60 Mart. Es könnte zweifelbaft erfheinen, vb in
Teutibland, wo zablreihe gute volfstümlihe Darftellungen
der modernen Atomtheorie bereits vorliegen, ein aus-
landifhes Buh noh eingeführt werden mußte, dodh wider:
legt die Teftüre des Schriftchens diefe Bedenken. Dis
Bub des engliſchen Eelehrien zeichnet fih in der Tat dur
eine qang beionders große Anſchaulichkeit und Lebendigkeit
einerfeits, fowie andererfeits dadurch aus, daß es den Laien
art lürzeſtem Wege mitten aud in die allerneuften Probleme
nid Eihmwierigfeiten der Atomtheorie bineinfübrt. Die
nenefien Ergebniſſe Bohrs fo gut wie die bisher ungelöften
Probleme der Quanientbeorie werden darin vortrefilih Plar
entwidelt. Daß freilih alles „aud dem Anfänger in der
Phyſik verftandlih fei, wie der „Waſchzettel“ behauptet,
fdeint mir zweifelhaft. Wer nie etwas von der Wellen:
ıbeorie des Lichts, von nterferenzen, Spektra!inien, Sim
Newtonſchen und Coulombſchen Geſetz uſw. börte, wird
ſchwerlich afler Darlegungen felgen können. Aber danit
212
will ih den Wert des fonft trefflihen Büchleins nicht ber-
abſetzen. Ich Halte es nur niht für richtig, wenn die Re-
tlame Hoffnungen bei wißbegierigen, aber unvorgebildeten
Tefern erwedt, die ſich dodh nicht fo ganz erfüllen dürften.
Es fei indeffen gern hervorgehoben, daß die Ruſſellſche Dar-
ftellung eine gang befonders populäre ift. Bk.
Emil Mattieſen: „Der jenſeitige Menſch“. Eine
Einführung in die Metapſychologie der myſtiſchen Er-
fohrung. (Verlag von W. de Gruyter u. Co., Berlin
und leipzig, 1925, 825 Seiten). |
In den legten Jahren ift es aud bei uns üblicher ge-
worden, zur Klärung des Wahrheitsgehaltes religiöfer Er-
frhrung nicht nur metaphufiihe und erfenntnistheoretifche
Ceſichtspunkte heranzuziehen, fondern aud anormale Seelen-
vergänge mannigfaltiger Art zu berüdfihtigen (vergl. 3. B.
MBobbermins Ausgabe von William James’ Die religiöfe
Erfahrung in ihrer Mannigfaltigfeit"‘.) Allein mit einer fo
umfoflenden Kenntnis des einfhlägigen Materials, mit fol-
her Strenge und Vorſicht des Beweisganges ift dies bis-
þer doh nod nirgends geicheben wie in diefem Buh von
Mattiefen. Schritt für Schritt rüdt die Darftellung des-
jelben von der Analyfe der religiöfen Erlebniffe mit ihrem
Bewußtfein einer Ergriffenheit des Menſchen von jen»
feitigen Mächten, einer Verlorenheit der Seele an die un- '
endliche Gottheit hinein in immer befremdendere Aeußerungs-
weifen der religiöfen Erfahrung (Automatismen, Zwangs-
handlungen, religiöfer Wahnfinn), durch welde diefelbe we-
nigftens dem äußeren Anichein nad) in unmittelbare Nähe
der Eranfhaften Seelenzuftände gerüdt wird. Die bier ent-
ftesende Frage, wie weit man darnach beredtigt ift, bas
religiöfe Leben diefen pathologifhen Zuftänden beisurehnen,
wizd zu endgültiger Beantwortung hinausgeſchoben, bis die
Frage beantwortet ift, ob nicht gerade anormale Seelen-
vergänge eine befondere Eignung befisen, ung Erkenntniſſe
zu verfchaffen, welde bas Diesfeits unferer Sinnes-
wahrnebmungen überfteigen. Diefe Beantwortung erfolgt
in eingehendfter, vorfidtigfter Prüfung der Berigte und
Theorien über die Telepathie, das Hellfehen, die Pſycho⸗
metrie, das NHinnusverfegen des Bewußtſeins, die Ma-
terialifation und den Mediumismus. Was der Derfaffer
bier an Sammlung und Sichtung des Materials glaub»
wirdiger und unglaubwürdiger Berichte, an Gegenüber-
telung und Auswertung der möglichen Gefihtspunfte und
Einwendungen geleiftet bat, madt fein Wert allein ſchon
zu einem Hantbuh der Terfhung auf diefem Gebiet. Unt
das Ergebnis diefer Forfhungsarbeit? Es liegt in einer
Beſtätigung des Urbewußtfeins aller myſtiſchen Erfahrung,
daß das Einzelfubjekt eingebettet ift in eine Geiftigfeit über-
perfönlicher Art, die fo über dem Raum und der Zeit ftebt,
daß fie auch das Kinftige und Bergangene in fih ein-
ſchließt. Veſonders wohltuend wirkt es, daß der Verfaſſer
son feiner Örundeinfiht aus immer wieder an der Ueber-
windung des Spiritismus mit feiner Verzerrung aller Jen-
jeitsprobleme arbeiten tann. Das Bub wird jedem unvor-
eingenommenen Wahrheitsfuher eine große Hilfe fein.
8. v. Friſch, Einnesphufiologie und „Sprade” der
Bienen. (J. Springer, Berlin, 1924. 27 Seiten, Preis
1.20 Mart).
In diefer kleinen Schrift faßt der befannte Erforſcher
des Farben, und Geruhsfinnes der Bienen die Ergebniffe
feiner langjährigen Unterfuhungen zufammen. Nach den-
jelben befigen die Bienen ein ausgeprägtes Unterfcheidungg-
vermögen für Farben, wenn dasſelbe auh niht für alle
Farbtöne aleih gut ift; fo fcheint ihr Auge auf der einen
Seite für das in unferer Flora fo feltene Scharlachrot un-
Neue Literatur.
empfindlid zu fein, während feine Empfindlichkeit fib anf
der anderen Seite bis weit in das Ultraviolett hinein er-
ftredt. Der Verfaſſer deutet diefes Fehlen der Empfindlich
feit für Scharlachrot als eine Anpaffung der Blumenfarben
an die Blütengäſte, welche Deutung allerdings ert dann
einleucdhtet, wenn man erwägt, daß umgelehrt in den Tre-
pen, wo bie für Mot befonders empfänglihen Honigvögel
die Beſtäubung ausführen, aud die ſcharlachroten Blüten
febr häufig find. Jedenfalls ift diefe Beobachtung ein
wertvoller Beitrag zur Frage nah den übergreifenden
Zwedzufaımmenhängen in der Natur. Nah einer Dar-
legung über das Geruhsvermögen der Bienen, welches nad
des Verfaſſers Anfiht ungefähr. mit dem des Menſchen
übereinftimmen wird, folgen dann in der Schrift nod man-
herlei tierpſychologiſch bedeutſame Beobachtungen über die
Art der gegenfeitigen Werftändigung der Bienen, die
„Sprade”, mit welder fie fih die Entdedung einer er-
tragsreihen Yutterftelle mitteilen. Jedenfalls bietet bie
Heine Schrift dem für die biologifhen Probleme "inter-
eflierten viel Wertvolles. tt.
Heußner, Kleines Kant Wörterbuh. Mandenboed
und Rupreht, Göttingen. 1925. 380 M. Der Ber-
fofler, der ſich durh eine Reihe treffliher Schriften um
die Popularifierung der Philofophie febr verdient gemacht
bat, will mit diefem 150 Seiten ftarfen Schriften den
Schwierigkeiten, die bei der erften Lektüre Kants erfab-
rungsgemäß entftehben, ein wenig abhelfen. Wie weit das
mit Hilfe eines folhen Wörterbuch gelingen wird, Fann
nur bie Erfahrung zeigen. Alle Schwierigkeiten wer-
den damit fiherlih nicht behoben, es ift keineswegs nur
bie eigenartige Terminologie, die Kant fo ſchwer genieß⸗
bar madt. Aber immerhin wird der Anfänger aus diefem
Büchlein mange Anregung gewinnen und an feiner Hand
leihter fib in Kant bineinarbeiten können.
Ad Damaſchke, Volkstümliche Redekunſt. Fiſcher,
Jena. 1924. 90 ©. Der bekannte Führer der Noben-
reform legt bier die Erfabrungen einer reihen Praris als
Mortragsredner dar und ermweift fih dabei als geborener
Pädagoge. Er zeigt dem Anfänger, wo die Klippen liegen,
an denen fo mandher Redner fcheitert, gibt ibm die Mittel
an, die zum Erfolge führen oder die über peinlihe Zwiſchen⸗
fälle binmweghelfen ufm. Natürlich kommt er auh bier auf
fein Spezialthema, die Bodenreform, oft genug zurüd. Bk.
Für die naturwiffenihaftlide Schülerbücherei bietet bie
foeben erſchienene Lifte „Gute Bücher für die Jugend”,
Auswahl der Deutfhen Zentralftele zur Förderung der
Bolts- und ugendlektüre, Berlin SW. 61, Johanniter-
ftraße 5, eine praftifhe Handbabe. Die Abteilung „Matur-
funde” umfaßt 110 Bücher, gegliedert nah a) Erzählungen,
b) Einführung, c) Selbftberätigung. Den einzelnen Büder-
titeln find furze Beſprechungen beigegeben, die auch auf die
Art der Darftellung, auf die geforderten Vorkenntniſſe bin-
weifen. Die Zufammenftellung ift geeignet, Naturerkenntnis
und Maturfreude zu fördern. Die Abteilung Matur-
funde” wird ergänzt durd die Abteilung „Deutſches Land
und Wolf”, die eine reihe Auswahl deutiher Wander-
bücher bringt, fowie durdi die Abteilung „Reifen und Aben-
teuer”. Auch piel, Sport und Gefundheitspflege it in
befonderer Gruppe vertreten. Die Auswahl ift auf Grund
der Gutachten eines Mitarbeiterkreifes erfolgt, der fid aus
Lehrer und Lehrerinnen verfchiedener Schularten zufammen-
fent. Bei dem Wiederaufbau der Schulbüdereien wird
diefe Bücherliſte wertvolle Dienfte Teiften. Ein Probeftüd
der Lifte wird für 25 3 verfandt, zweds Maflenverbreitung
find ermäßigte Partiepreife angeſetzt.
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Die für den Oktober in Halle a.S. angesagte
Hauptversammlung
muß leider wegen unvorhergesehener Schwierigkeiten einstweilen verschoben werden. Zur Erledigung des
DANAREN Teils (Entlastung usw.) findet zugleich mit der nächsten Kuratorenversammlung eine
Mitgliederversammlung
statt, deren Ort und Zeit noch bekannt gegeben wird.
Der Dorstand des Keplerbundes. |. A.: Bavink.
ru Sinnire
Mitglieder und Leser
das alkoholfreie Geträntf.
bitten wir höfl., rückständige Zahlungen einschl. des
dritten Vierteljahres (Mk. 2.—] unserm Postscheck-
Unübertroffen
im Umſatz und Qualität.
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konto Hannover 45 744 überweisen zu wollen. Wir
nehmen an, Zahlungen, die bis 20. Sept. nicht ein-
gegangen sind, zuzügl. der entstehenden Unkosten
durch Nachnahme erheben zu dürfen.
Naturwissenschaftlicher Verlag,
Abteil. des Keplerbundes.
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Unfere Welt
Auſtrierte 3eifieift für Aaturwiſenſchaft und Weltanihanung
Herausgegeben vom Naturwiſſenſchaftlichen Berlag des Keplerbundes e. V. Detmold.
Poſtſcheckkonto Nr. 45744, Hannover.
Scriftleitung: Prof. Dr. Bavint, Bielefeld.
Für den Inhalt der Auffäge ftehen die Verfaffer;ipre Aufnahme magt fie nicht zur Wenkeruug des Bundes.
XVIL. Jahrgang
September 1925
Heft 9
Denkformen der Naturvölker. Von Pro. Dr. R. Thurnwald.
Unter den Klemantan, einem Stamm von
Borneo (Sundainfel), ſucht ein Mann auf fol-
gende Weife feinem Feind beizufommen: Er begibt
fidh auf einen verborgenen Platz, auf eine Rodung
oder ein Feld im Urwald, von wo aus er einen
großen Ausfchnitt des Himmels überjehen Fann.
Bei feinem Unternehmen bleibt er gerne unbe-
achtet. Er geht daran, einige Bäumen zu fällen
und daraus ein Pfahlgerüft von etwas über zwei
Meter über den Boden zu errichten. Dann fchnist
er ein robes Figürdhen aus Holz und gibt dem
einige harafteriftifhe Züge feines Seindes. Dieſes
Figürchen ftellt er zwiſchen die Pfeiler des Pfahl-
gerüftes. Nun madt er ein Feuer an und gräbt
eine kleine Grube, die er mit Wafler und eifen-
haltiger Erde füllt, fo daß die Flüffigfeit in dem
Heinen Tümpel rot erfcheint. Das ift der Blut-
fee”. Nad diefen Vorbereitungen blidt der Mann
nad einem Habicht aus. Erſcheint der Bogel, fo
ruft er ihm zu: „Gib Fett in den Mund des
MM. (des Feindes). Dabei wirft er felber die
Puppe in das rote Wafler. Dann nimmt er fie
wieder heraus und durdhbohrt fie mit einem Fleinen
Speer. Er vergräbt fie hiernach und ruft wieder
den Habicht an. Nın will er fehen, welde Wir-
fung er mit feinem Borbildzauber erzielt.
Biegt der Habiht im Flug nadh rechts ab, fo hat
fein Beginnen keinen Erfolg, fliegt er dagegen nad)
linfs, fo darf er erwarten, daß feine Todeswünſche
gegen den Feind in Erfüllung gehen. j
Der Vorbildzauber, wie er in dem geſchilderten
Fal zum Ausdrud fam, gehört zu denjenigen Me-
thoden, gewünfchte Wirkungen zu erzielen, die im
primtiven Denken herrſchend find. Dadurd, daß
der Derfchwörer eine Reihe von Handlungen im
Eleinen mimiſch vormacht, glaubt er den Ablauf der
Wirklichkeit in Bann zu fchlagen, er glaubt, ihr
12)
etwas fuggerieren, fie zur Nahahmung anregen zu
fünnen. — In ähnlicher Weile wie mit Hand-
lungen, fuht man durch Worte zu wirken. Statı
die ganze Handlung, die man wünſcht, puppenhaft
und fchaufpielartig darzuftellen, meint man es {hon
dabei bewenden laffen zu fönnen, daß die betreffende
Handlung einfah in Worten geſchildert oder in ein
paar Worte andeutungsweife zufammengepreßt
wird. jemandem zu fagen: „Stirb! ift ſchon fo
viel, wie wenn man die Holzpuppe mit dem Speer
durhbohrt oder eine Kröte ins Feuer geworfen
hätte oder dergleichen.
Wenn die Kai-Leute im Hinterlande des Huon-
Golfes von Neu⸗Guinea an das Auspflanzen der
Shößlinge der für fie lebenswichtigen Knollen-
früchte, der Vams und Zaro, geben, fo ift allerlei
Vorſicht nötig. Aber es genügt niht, daß die
Pflänzlinge forgfältig behandelt werden, fondern
es müflen ihnen aud entſprechende Worte mit auf
den Weg gegeben werden. Bei einem foldhen
Zauberjprud daheim, bevor man ing Feld geht,
werden alle Yams - Sorten aufgezählt und dabei
immer gemurmelt: „Brih hervor, Schößling, brih
hervor!’ oder: „Werde lebendig!” ufm. Wor dem
Auspflanzgen draußen auf dem Felde werden die
Pflanzlinge abermals beiproden: „Rante empor!”
oder: „Bobre dich hinein in die Erde!” — Aber
man berührt die Pflänzlinge auh noh mit dem
Knochen eines in einer tiefen Höhle erlegten WiL
der. So- tief wie jenes Wild in die Erde ein-
drang, fol aud die Damsmwurzel hinunterwachſen.
Manche Kai - Leute gebraucen ftatt der Knochen
einen Splitter des Niefenpandanus (Palme). Auf
diefe Weife follen die Früchte, die der Baum ge-
wiſſermaßen „vorgemacht“ hat, dag Wachstum der
Damstnollen beeinfluffen.
214
Der Weg, auf dem eine Zauberwirfung erreicht
werden fol, ift vor allem die Berührung.
Wenn dabei von einem „Seelenſtoff“ gefprochen
wird, der etwa zur Uebertragung gelangt, fo ift das
ein Degriff, der nicht mehr finnlich genug gefaßt
jeın dürfte.
Kai-Papun in Berührung kommt, läßt gewifler-
mafien etwas von feinem — wie ich lieber fagen
möchte — „Ichſtoff“ zurüd. Er ſchwebt beftändig
in Gefahr, daß fo diefen Teilchen feines Jh ein
Leid zugefügt wird. Dadurch fann ihm felbft aber
Schaden entftehen. Bleibt ibm auf dem Weg
durh den Wald an einer dornigen Ranke ein
Büchel Haar hängen, oder eine Safer feines Gür-
telftoffes, fo gebt er nicht weiter, bevor er nicht
jede Spur davon befeitigt hat. Darum wirft er
auh nichts weg und hält den Dorfplag peinlich
fauber. ft er in einem befreundeten Dorfe zu
Saft, fo bebt er jede Betelnußſchale forgfältig m
feinem Netztäſchchen auf, dag er ftets mit fih her⸗
umträgt, oder er wirft die Weberrefte ins Feuer.
Denn mit folhen Abfällen Eönnte der gefürdhtete
Meftezauber angeftellt werden. — Auh an
dem Pas, an dem ein Menſch gefeflen bat, bleibt
etwas von feinem „Ichſtoff“ zurüd. Dieſer wird
dadurch befeitigt, daß man vor dem Weggang durd
Stampfen mit dem Fuß oder durh Stoßen mit
dem Stod die Wärme oder den Gerud, der von
der Perfon zurücfgeblieben ift, zerftört, — ähnlich
etwa wie ein Hund feharrt, wo er defäcierte. Aud
Waller benugt man gelegentlich zu diefem Zwet,
um den Platz zu befprengen, oder Blätter, um fie
auf den Platz zu legen, den fie „kühlen“ follen.
An diefem Verhalten jehen wir, in welcher Weife
phnfifalifche Vorgänge der animalifhen Wärme-
abgabe oder Erſcheinungen des phufiologifhen Ge-
ruhe gedeutet werden. Hier liegen eheimniffe
für den Maturmenfhen. Er fpinnt daran Hypo-
thbefen. Der „Ichſtoff“ fann nämlich aud, meint
er, übertragen werden, und damit gebf eine
Uebertragunmg, wie man weiter theoretifiert,
von Kräften und Eigenichaften vor fih. Was mit
einem Menfchen in Berührung fommt, erhält etwas
von feinem „Ichſtoff“ und umgekehrt. Eine Trag-
laft wird auh fchmwerer durd die Berührung mit
einem ſchweren Gegenitand. Die Fühigfeiten und
Eigenfhaften, aber auh der Wille einer Perfon
erfüllen feinen „Ichſtoff“. Diefer ift gut bei
einem guten Menſchen, böfe bei einem böfen Men-
ſchen; auch der in feinen Gliedern oder Augen
wohnende „Stoff it eg dementſprechend. Daran
knüpft fih vor allem der Glaube an den „böfen
Blid”, der in dem indiſchen und iſlamiſchen
Denn in allem, womit 5. B. der
Denfformen der Maturvölfer.
Kulturgebiet ganz befondere Ausbildung erfahren
þat.
Die Uebertragung folder Kräfte fann aud durd
Mittelglieder erfolgen, fo 3. B. dadurd,
dag ein Mann ein Steindhen vom Erdboden auf»
hebt und damit eine Frau wirft und fie trifft.
Durd das Steinen hat er etwas von feinem „Ich—
ftoff auf die Frau übertragen. Nady diefem She-
ma ftellt er die Theorie auf, daß eine Frau z. B.
deshalb einen Mann Tiebt, weil diefer die Frau
direft oder indireft berührt und dadurd „Ichſtoff“
auf fie übertragen bat. Diefe Deutung wird aber
wieder benugt, um gelegentlih ein anderes Ber-
fahren daran zu knüpfen. Merkt z. B. der Ehe-
mann an dem veränderten Verhalten der Frau,
dag fie ihm untreu ift und bringt den fchuldigen
Mann in Erfahrung, fo Fann er den Verführer
zur Zurüdnahme feines „Ichſtoffs“ veranlaflen.
Der Ehebreher muß mit einer Zigarette erft die
Grau berühren und dann fih felbft Beine, Arme
und Leib damit ftreihen. Hierauf fpudt er die
Zigarette an, zum Zeichen, daß er der Frau jest
abgeneigt fei. Die Frau muß darauf an der Zi-
garette rauhen. Dadurd zieht fie fih mit dem
Raud angeblich die Abneigung des Mannes in fih
ein, wodurch die bisherige Zuneigung abgetötet wird.
Zum Schluß muß der Mann nod über die am
Boden fisende Frau binmwegfchreiten. Dem Tiebes-
sauber wird bier eine Tiebesentzauberung auf
Grund desfelben Denkſyſtems entgegengefest.
Diefer „Ichſtoff“ wird wie ein unfichtbares
„Fluidum“ aufgefaßt und fann daber auh ein-
gefangen werden, wie 3. DB. in Weftafrifa da-
dur, daß man nad dem Schatten eines Worüber-
gehenden in die Hände Elatfcht, wie wenn man eine
liege fängt. Dies wird dann forgfältig nad
Haufe gebraht und zur weiteren Zauberbehand-
lung in einem Gefäß aufbewahrt. Andererfeits
gewährt diefe Auffaffung den Vorteil, daß man fid
aud) wieder ftofflih gegen gefährlide Einflüffe
fhüsen fann, fo 3. B. in Neu-Guinea durch Cin-
reiben mit dem Safte beftimmter Schlingpflanzen.
' Wie oben an dem Beispiel des geworfenen
Steinchens gezeigt, fann diefes zum Träger des
„Ichſtoffes“ werden. Damit hängt der Feti-
ſchis mus zufammen. Ich meine nicht letztlich
in den pſychiſchen Untergründen, ſondern in dem
rationaliſtiſchen Gedankenſyſtem, das wir bei ſehr
vielen Naturvölkern in der geſchilderten Art aus-
geprägt finden. Dem Fetiſch als folden wird Fein
Wert zugeihrieben. Er befommt ibn durd den
„Ichſtoff“ von einem Menfhen oder Geift oder
ſonſtigen Weſen. Solche Fetifhe können daper
alle möglichen Gegenſtände, Pflanzen oder Tiere
werden. Der Unterarmknochen eines Toten, der zu
Yebzeiten ein großer Jäger war, enthält von diefem
ber feinen bejonderen Anteil am „Ichſtoff“ der
Verftorbenen. Wer den Knochen nun auf der Jagd
benust, auf den überträgt fih die befondere Kraft
des Foten. Derartige Amulette ftellen ge
viſſermaßen mit „Ichſtoff“ geladene „Leidnerfla—
ſchen“ vor. Vermöge der angedeuteten Iſolie—
rungsmethode wickelt man ſolche Amulette z. B.
in Blätter ein, um ibre Kraft gut aufzubewahren.
Man nimmt nun on, daß die „Ichſtoffe“ be
indere Beziehungen untereinander unterhalten,
wenn fie einander ähnlich find. Worauf baut
man aber die Aebnlichkeit auf? Auf finnfälligen
Erideinungen. Ein weißer Blatt von der Größe
ind Form des Eis eines Großfußhuhns enthält,
wie man denkt, den gleihen „Stoff“ wie diefes
Ei ſelbſt. Eine ganz oberflählihbe äußerliche
Nchnlichkeit genügt, um darauf die Annahme einer
inneren, weientlihen Gleichheit aufzubauen, gerade
ie wie in dem Falle des eingangs angeführten
„Blutſees“ zwiſchen eifenbaltigem Wafer und
Blut. Gebt der Mann in den Walt, um Eier zu
ſuchen, ſo benust er das weiße Baumblatt, damit
es, wie eine Wünſchelrute, feine Schritte zu den
Ciern lenfe. Gleiher „Stoff ftrebt zueinander.
Wenn aub nicht immer der Glaube an der-
artige Hilfsmittel fo fet ftebt, daß eigenes Denten
und Zun überflüffig wird, fo glaubt man dod
andererfeits, ohne die Benutzung derartiger „Hil—
en” zu feinem Erfolge zu gelangen. So durd:
eben das ganze Leben der Maturvölfer Vorkeh—
rungen gegen verfciedene Gefahren der ll
oder des Außerlihen Schickſals.
Unter den Burpaten der Uriandai Nordoſt
Eibiriens nimmt man folgende Zeremonie vor, um
cin Kind am Leben zu erhalten, falls ein früber qe
berenes jung verftorben war: man nimmt das Kind,
vertedt es unter den Kochkeſſel und legt darüber
ein Ahnenbild aus Haſenfell. Dann formt mean
ous Teig von Gerſtenmehl eine Figur, welde das
Rind darftellen fol. Ein Schamane (Zauber:
priehter) beginnt nun feine Zeremonien über
ter Geſtalt aus Teig, wodurch angeblich diefe
Seben befommt. Ihr Unterleib wird aufge:
\hnitten; amgeblich foll das Blut aus der Teig
figur zu fließen beginnen und das Teigfind unter
den Schmerzen der Meſſerſchnitte fehreien. Der
Körper des Zeigfindes wird in drei Stücke zer:
idnitten und fern vom Haufe begraben.
Eine äbnlihe Zeremonie finder bei den benach—
tarten Diurbiut fatt. Dort wird das Kind
on einigen Verwandten geſtohlen und unter dem
Keſſel verftedt, während diefelben Verwandten
Denkformen der Naturvolker.
— E et E
mittlerweile eine Puppe anfertigen und dieſe in das
Zelt der Eltern werfen. Wenn die Eltern die
Puppe finden, fo maden fie fo, als würden fie ibr
leibhaftiges Kind tot fehen. Unter Aufwand von
areßem Getue beweinen und begraben fie die Puppe.
Damit fol nun der böfe Geit (Ehiftur) qe-
tàufd t werden, er fol glauben, das echte Kind
jci geftorben und begraben worden. Durch tiefe
Täuſchung fol erzielt werden, daß er dem Kind fein
weiteres Uebel zufüge. Dem erften Fall, der von
den Uriandai berichtet wurde, liegt ebenfalls
der Gedanke einer Täuſchung des böſen Beiftes zu-
arunde, weil dag Kind unter dem Kochkeſſel verſteckt
wird. Das Erſatzkind wird in dem Gedanken ge-
tötet”, daß der Schamane an Stelle des Geiſtes
das Kind felbft tötet. Diefe Gedanfengänge liegen
den zahlreichen Formen der Erſattzzopfer m
grunde.
Bei vielen Naturvölkern, wie 3. B. bei den
reiften papuaniſchen und melaneſiſchen Stämmen
der Südſee, wird faft jeder Todesfall, fo
weit er nicht einen gebrechlichen Greig trifft, als
ein Ereignis angefehen, bei dem es nicht mit rechten
Dingen zugegangen fein fann. Die Urfade für
tie meiften Todesfälle glaubt man in dem Uebel-
wollen irgend einer feindlihen Perfönlichkeit fuchen
za müffen. Einerſeits wird man vom Miktrauen
vegen die Nachbarn beberricht, andererfeits bat man
fid) ebenſowenig mit: der phyſiologiſchen Tatſache des
Todes, wie mit der Geburt abgefunden. Dazu
kommt, daß eine endlofe Zahl von Krankbeits- und
Todeszaubereien in Uebung ift. — Das Merkwürdige
daran ift indeflen, daß diefe Zaubereien, die uns in
ibrer ganzen Auffaſſung lächerlich und kindiſch er-
ſcheinen, doch keineswegs ihre Wirkung in der Weiſe
serfeblen, wie wir es annehmen würden. Zwar
gibt es eine ganze Zahl von Giftzaubern, bei denen
in unauffälliger Weiſe dem Opfer irgend welde,
manchmal nur langſam mirfende Schädlichkeiten,
wie z. B. mit Widerbafen verfebene winzige Bam-
bushärchen oder echte Gifte beigebradt werden.
Manchmal jedoch wirft ein an fih barmlofer Zan-
ber dadurch verbeerend, daß das Opfer in derartigen
Schrecken verfeßt wird, daß es fid unficher fühlt,
ſich entſetzt und ſorgt, ſchließlich Ungeſchicklichkeiten
begeht und wirklich ſtirbt. Der ganze Prozeß der
Zauberhandlungen erſtreckt ſich mitunter über
Moden und Monate und läuft vielfach darauf bin-
oug, daß man iracnd einen Teil des „Ichſtoffs“
eingefangen bat und auf diefe Weiſe vom Teil ber
(Gewalt über das Ganze gewonnen zu. baben meint.
Die befonders dauerhaften oder der Verweſung
nur wenig ausgefenten Teile des menſchlichen Kür-
pers, wie Haare, Zähne und Fingernägel find dazu
216 _
befonders geeignet. Außerdem aber verfchiedene
Ausfonderungen: Schweiß oder Auswurf, Körper:
ſchmutz der Haut ufw., ferner Speiferefte, Fußſpur
und dergleihen, an denen Wärme oder Gerud
haftet. Solde Teile oder Mefte behandelt man mit
allerlei umftändlihen Zeremonien und fucht fie da»
dur, daß man fie einwidelt, in ihrer Wirfungs-
fraft zu erhalten. Durch Worbildhandlungen oder
MWortbefehle wird ein foldes Päckchen verwertet,
um die Wirkung auf den Menſchen auszuüben, über
defen „Ichſtoff“ man Gewalt erlangt bat.
Während fo in der Tat allerlei böswilliger
Zauber geübt wird, trägt doch nicht an allen Tobes-
fallen derartiger Zauber Schuld. Die Meinung
jedoch, daß faft flets irgend ein Zauber einer
Kranfpeit, einem Unglüd oder einem Todesfall zu-
arımde liegen muß, führt teils zu einer Berängfti-
gung, teils zu Rachetaten.
Um ben vermeintlichen UWebeltäter ausfindig zu
machen, fchreitet man nicht etwa an eine unvorein-
genommene Unterfuhung des Falles, fondern man
gebt fofort, mit Argmohn gegen beftimmte Leut:
oder Dörfer, an das Stellen eines Orafels,
z. B. in der Weife, daß man verfchiedene Dörfer
und in diefen Dörfern die Namen einzelner Per-
fonen berfagt und dabei beobachtet, wie ein balan.
zierender Knochen oder ein Mufchelfcheibchen fid)
verbält. Fällt diefeg bei der Nennung eines Namens
um, oder fällt eg in einer beftimmten Richtung, fo
bat man damit den MWebeltäter feftgeftelt. Daß
dabei dem Vorurteil und der gehäffigen Einftellung
desjenigen, der das Orakel veranftaltet, breitefter
Spielraum gegeben wird, bedarf Feines Hinmeifes.
Mit dem Gedanfen, daß der „Ichſtoff“ in be-
ftimmten Organen des Menfhen manchmal in be-
fonderer Weife Eonzentriert ift, hängen verfdhie-
dene Formen dee Kannibalismus zufam-
men. Denn bei feßterem werden haufig gewiſſe
Teile bevorzugt. Bevor bei dem auftralifchen
Stamm der Dieri der Leichnam eines Ange-
borigen in das Grab gefenft wird, tritt der nächſte
enwefende Verwandte des Berftorbenen beran und
fchneidet alles Fett am Gefiht, an den Tenden, an
den Armen und am Magen weg, und reiht es den
Verwandten, die es verzehren. Und zwar gefchieht
dies nadh einer beftimmten Ordnung: die Mutter
sehrt von ihren Kindern, die Kinder von ihren
Eltern, ein Mann ift von dem Gatten feiner
Schweſter und von der Frau feines ‘Bruders ufw.
Man fagt, daß die Verwandten von dem Fett ge-
nicken, damit fie nicht mehr traurig feien. Ein
anderer Stamm, die Tangara, fchleppen dic
Ueberreſte ihrer DVerftorbenen mit fid und wenn
Denkformen der er Maturvöller.
ihrer ersehen: Angehörigen dir
Trauer padt, fo effen fie immer ein Stück
Fleiſch von ihnen, bis ſchließlich niht mehr
übrig bleibt alg die Knochen. Wieder ander:
Stämme, wie 3. B. die Kurnai Güde:
Auftraliens, verzehren nicht ihre eigenen Ange-
bärigen, fondern nur ihre Feinde, und nicht den
ganzen Körper, fondern nur die Arm» und Bein-
muskeln, die Haut der Lenden und der Körper-
feiten, in denen der Sit befonderer Kräfte ver-
mutet wird.
Bei den Kopfjägerſtämmen fnüpft das
Erbeuten der Schädel wohl an die grundfäklid
gieihen Gedankengänge an; fie fuben bier jedoch
ihre befonderen Wege und Fonzentrieren die Jb-
finffe im Schädel. — Es muf nabeliegend er
ſcheinen, daß bei Völkern, unter denen eine Íe-
siale Shidhtung Mas gegriffen hat, dir
Auffaffung verbreitet ift, daß die Fulturell über
legene Schicht, ganz befonders aber der ausgezeich—
nete Träger der oberften Macht, mit befonderen
„Ichkräften“ ausgeftattet fei. Die Madır diefer
Häuptlinge oder Fürften äußerte fid viel weniger
auf dem Gebiete der Regierung, als in der Aus
übung mopftifher Kräfte. Die großen Häuptling:
von Samoa galten früber (big zum Eindringen
europäifch-amerifanifcher Kultur als fo mit Heli
feit geladen, daß alles, was fie berührten, davon ct:
faßt wurde. Sie mußten daher in einem von den
übrigen ifolierten Haufe Ieben. Denn man hielt
ea für gefährlich, fih ihmen wegen des tötlihen
Einfluffes zu naben, der von ihrer Perfon aus
ftrahlte. Der Körper des verwegenen Eindring:
lings würde anfchwellen und Tod die Folge fein.
Diefe Fürften nahmen ihre Mahlzeiten getrennt
von den anderen, weil alles, mas fie herührten,
von ihrem potenzierten „Shftoff — Mana -
infiziert wurde. Niemand durfte vor allem N
Speifen, die fie zurüdaelaffen batten, ohne Gefahr
für fein Leben verzehren. Aber auh niemand
durfte unmittelbar neben ihnen fiken. Nur die
höchſten Adligen Eonnten ihnen naben. ie waren
mit den Attributen nicht eines Königs, fondem
eines „Gottes“ ausgeftattet. Diefe Herrlichkeit
hatte jedoch ihre Kehrfeite, die z. B. draſtiſch bei
dem zentralafrifanifhen Stamm der Bakitara
in Erſcheinung trat. Der mit myſtiſcher Madi
begabte Fürft durfte nur gefund und kräfti—
fein, nur fo ftellte er den befriedigenden Nepri
fentanten feiner Hirtenfafte dar. Mabte ibm
Krankheit oder Alter, fo erfehien der Oberzauberer
bei ibm mit einem in einer Eiſchale ftets bereit
gehaltenen Menge Gift. Der Fürft wußte dam
fie wegen
A,
Der Lauſitzer Kulturfreis.
was er zu tun hatte. Seine Stunde hatte geſchlagen.
Ein gleihes Schickſal traf auch die erfte Dame
des Landes, die „Königin - Mutter‘. Aud diefe
jollte ein ftetslebendes Idealbild ſein, das
nie erfranfte oder alterte. Auch fie mußte abtreten,
wenn die Menfchlichfeit den Tribut von ihr for-
derte. Cine andere nabe Verwandte des Königs
wurde dann ausgeſucht, die höchfte Ehre, Prunf und
Macht auf fie gehäuft, doh ſchwebe aud über ihr
das gleiche Verhängnis. — .c.c..
An einer Reihe von Beifpielen wurde verfucht,
einige Grundzüge des primitiven Denkens anzu-
deuten. Micht die Logit des Denkens ift an fid
eine andere, fondern nur die Denfeinbeiten,
mit denen die Logif operiert, find verfchieden. Dieſe
Einheiten find 1) Eomplere Gebilde, welde
die Möglichkeit vielfaher Verknüpfungen eröffnen.
2) Die Qualitäten, die von dieſen Einheiten þer-
ausgegriffen werden, betreffen Sinnfälliges,
wie das weiße Blatt in Farbe und Form dem Ei
ähnelt und daher mit ihm in Verbindung gebradjt
wird. Die Metaphern und Symbole
ftellen Beftandteile dar, die je nadh affektiven Be-
ziehungen aus dem finnlihen Bildfompler heraus-
gegriffen find. Irrig wäre, bei Maturvölfern das
‘Bedürfnis nah Aufftelung von Kaufalzu-
fammenhängen zu leugnen. Diefe werden
nur aus anderen Erfahrungseinheiten Fonftruiert.
Man darf niht vergeflen, daß fih die Kenntnis
von den Erfcheinungen und ihren Zufammenhängen
in allen primitiven Kulturen trog Nachahmungen
und Erwerbungen von Fremden aus einer verhält-
— — — — — — — —— — — —
Die bronzezeitliche Kultur des öſtlichen Deutfch-
lands und der Nachbargebiete, die uns in zahl-
reihen Funden aus Siedlungen, Gräbern und
Befeftigungsanlagen vorliegt, weift eine fo offen-
fundige innere Gefchloffenheit auf, dag wir fie
einem einheitlihen Wolke zufchreiben müflen. Sie
wurde der Forſchung zuerft aus den großen Gräber-
feldern der Laufig befannt und ift deshalb von dem
berühmten Rudolf Virchow nadh dem in der Bor-
gefhichte üblihen Braud, Kulturen nad dem Ort
der erften charafteriftifchen Funde zu benennen, als
„Lauſitzer Kultur‘ bezeichnet worden. ‘Die zahl-
reihen Grabungen der Folgezeit ergaben bald, das
diefe Laufiser Kultur Eeineswegs auf die Lauſitz
befhränft it. Ihre Weftgrenze beginnt nadh Kof-
finna (Die Herkunft der Germanen, Leipzig, 1920;
217
nismäßig winzigen Erfahrungswelt
ableitet. Das Weltbild iſt daher ganz aufer-
ordentlih ortgebunden. Wenn fon dadurd
eine Buntheit der Auffaflungen und der konkreten
Syſteme bedingt ift, fo dürfen wir des weiteren
auch nicht außer adıt laffen, daß ganz erhebliche
Unterfchiede der Primitivität beftehen. Die Ted-
nif der Hand und die Einfiht in die Zufammen-
hänge der Vorgänge ift febr verfchieden etwa bei
den Kubus im Innern von Sumatra einerfeits
und bei nordweftamerifanifchen Indianern anderer-
feits. Nichtsdeſtoweniger ergeben fih für die Per-
ipeftive, aus der wir in dag Geiftesleben diefer
Völker zu bliden verfuchen, gewifle Gemeinfam-
feiten. Seien wir dabei aber aud) eingedenf, dnp
das primitive Denfen in feiner Methode, die von
den Aeußerlichkeiten und den finnfälligen Erfcei-
nungen gefragen und von den Affeften des Wün-
ſchens und der Furcht ftarf beeinflußt wird, aufer-
ordentlid bequem ift und felbft in das Alltagsleben
von uns noh weit hineinragt.
Religion und Mythos wurden hier mit Abficht
übergangen, weil mir fcheint, daß das unerjhöpf-
lihe Bereich der „Zauberei“ tiefere Einblide in
die Gedankengänge der Maturvölfer geftattet.
Eine eingebendere Behandlung der in diefem Auf-
fag angefchnittenen Probleme finden fih in ver-
fhiedenen Artikeln des „Reallexikon für Vorge—
fhichte‘‘, herausgegeben von Mar Ebert, 1925;
namentlih unter den Stichworten: Eid, Fluch,
Häuptling, Jdol, Jünglingsweihe, primitives Den-
fen, Schwur, Talisman, Zauber.
P)
vgl. auh meine Germanifhe Vorzeit, Leipzig,
1923) bei Wolgaft und verläuft etwa über Fried-
land in Medlenburg, Prenzlau, Angermünde,
Eberswalde, Berlin, geht dann fpree- und dahme-
aufwärts ein Stüd nah Südoſten und fhwingt
nun in großem Bogen zur Einmündung der Saale
in die Elbe, wo fie bereits ein fremdes Kultur-
gebiet, nämlid das der Kelten, berührt. Weiter-
bin läßt fie fih längs der Saale und Weißen
Eifter aufwärts bis zum Fichtelgebirge verfolgen
und begleitet dann den Kamm des Böhmerwaldes.
Selbftverftändlih ift diefe Völkergrenze niht als
politifche Grenzlinie anzufeben, fie gilt überdies
nur für die zweite Periode der Bonzezeit, alfo
etwa für die Zeit von 1700 bis 1400 vor Chr.
‘ferner war nad den bisherigen Funden das Ge-
218 EEA
biet der Lauſitzer Kultur niht zufammenhängend
beſiedelt. Viekmehr treten die Weberrefte jener
Frühzeit bier und da in größeren Gruppen auf,
zwifchen denen weite Tandftreden öde lagen. So
ift der füdöftlid der genannten Grenze liegende
Teil des Kreifes Barnim, das engere Forfchungs-
und Grabungsgebiet des Verfaſſers, damals
berrenlofes Dedland gewefen. Das VBerbrei-
tungsgebiet des Laufiker Typus umfaßt alfo
die Oftteile von Pommern, Medlenburg, der Mart
Brandenburg, ferner Anhalt und Sadfen, Böh-
men, Schlefien und Pofen und erftredt fih über
Ungarn donauabwärts in die Balkanländer; ja
bis Troja laffen ſich Beziehungen feftftellen.
Das Bild, das uns die Rulturfunde der
Laufiker zu entwerfen geftatten, ift zwar feines-
wegs Tüdenlos, aber dank der großen Zahl und
der Meichhaltigfeit des Materials immerhin fo
vollftändig, daß es vor unfern Augen greifbar deut-
ih wird, ja daß eg uns fogar die geiftige und
firtlihe Anlage der Träger diefer Kultur enthüllt
und in Umriffen den Derlauf ihrer Gefhichte er-
fennen läßt. Trotzdem fehlt ein zufammenfaffen-
des Werf über die Laufiser Kultur nod) immer.
Der Grund dürfte darin liegen, daß einerfeite
die Funde der älteren Zeit erft teilweife veröffent-
licht find und zuverläflige Sundberichte darüber zu-
meift fehlen, andererfeits jedes Jabr zahllofe neue
Sunde bringt, die unfere Kenntnis und Erfenni-
nis vervollftändigen oder berichtigen, ja dag ein
Gebiet, nämlih die Siedlungsforfhung, nod) in
ihren Anfängen ftedt; endlih aber, daß das
Verbreitungsgebiet diefer Kultur fo umfang-
reih it, daß bei dem Mangel an gründlichen
Vorarbeiten für die einzelnen Landesteile diefe
Aufgabe die Arbeitskraft eines Forſchers bei wei-
tem überfchreiten würde. Trotz diefer Schwierig—
teiten ift eg für die Wiſſenſchaft wertvoll, wenn
fie von Zeit zu Zeit die Ergebniffe der Sonder-
forfhungen zufammenfaßt und einen Weberblicd
über den Stand des Erreichten gibt. Cine ſolche
Skizze will unfer Auffas fein.
Bis zur legten Jahrhundertwende befhränften
fid die Grabungen im Gebiete der Taufißifchen
Kultur ausfhließlih auf die Gräber, und nur auf
ihren Einfhlüffen baute fid das Kulturbild auf,
das wir von jener Frühzeit entwarfen. Wo man
Zote beftattet bat, müſſen aber aud) Lebende ge-
feien baben, und wichtiger als die Pleine Aus-
wahl von Tieblingggegenftänden, die man den Wer-
ftorbenen mit ins Grab gab, muğ das fein, was
ibm enf im Leben zu tüglibem Gebrauch gedient
bat. Erft die durd die Limesgrabungen (d. D.
tie Grabungen an dem römiſchen Grenzwall mut
_ Der Lauſitzer Kulturkreis.
` men.
feinen Kaftelen und Heerlagern) gefhulte Technik
bat es ermöglicht, daß die Siedlungen, die
längt vom Erdboden verfhmwunden find, wieder-
erftanden und das einfeitige Bild der Vorzeitkultur
vervollftändigten. As Mufterbeifpiel diefer Art
Sorfhung wurde. die Grabung Kiekebuſchs bei
Budh an der Nordbahn vorbildlih, über die wir
im Heft 7, 1924, berichteten.) Seitdem find
zahlreihe andere Wohnftätten der Laufiker aufge-
def worden, und immer neue werden folgen oder
fih dodh wenigftens feftftellen laffen. Bud lehrte
ung, was die ausgedehnten Friedhöfe der Taufiser
Kultur bereits vermuten ließen, daß ihre Träger
co liebten, in zufammenhängenden, wenn auch nidyt
geichloffen angelegten Dörfern zu fiedeln. Das
Haufendorf war alfo, wenigftens in den bis jekt
befannten Gebieten, eine der Hauptfiedlungsfor-
Eine folhe Anlage hat aud) vor den Toren
Strausbergs, des Wohnortes des Verfaſſers, be-
tanden, ift freilih im einzelnen nicht mehr zu er-
mitteln, da die neuzeitlihe Bautätigkeit und die
Garten- und Aderwirtfchaft die meiften Spuren
längft zerftört bat. Die Häufer diefer Dörfer
waren Pfoften- und Blockbauten, die mit einem
Strob- oder Schilfdach gededt und mit Lebm-
bewurf verpust waren. Zumeift beftanden fie nur
aus einem Raum, fo daß für jeden befonderen
Zweck aud ein befondereg Gebäude erforderlich
war. Dod finder fid manchmal aud eine Wor-
halle oder eine Kammer abgefhlagen, und ber
Raum unter den zum Shuke der Pfoften weit
berabhängenden Dächern wurde gelegentlih durd
eine leichte Vorwand abgefhloffen und vermutlich
als Holz- oder Vorratsfhuppen verwandt. Die
zufammengehörigen Gebäude bildeten ein Geböft,
dag mit einem Zaun umgeben war. Won allen
find natürlib nur die dunklen Pfoftenlöder, die
den Grundriß erfennen laffen, und Mefte des
Lehmbewurfs übrig geblieben, aus dem man oft
Schlüſſe auf die. Form und Stärfe der Balken,
die DBenusung von Flechtwerk ufw. zieben tann.
Die Einrihtung der Häufer ift teilweife nod
gut zu ermitteln. Der Boden war gewöhnlich
feftgeftampft, mandımal mit Felen belegt, fo in
einem Haufe der Alt-Strausberger Siedlung, das
der Verfaſſer ausgegraben bat. Längs der Wand
lief oftmals eine Bank, die, vermutlih ebenfalls
mit Fellen gepolftert, wohl zum Sißen wie zum
Schlafen gedient bat. Im Kiüchenhaufe finden
wir die mit Steinen ausgelegte NHerdgrube, da-
1) In jenem Nuffas it leider ein ftörendes Drudver-
jeben zu berichtigen. Abb. 1 (S. 175) ſteht auf dem Kopi
und it, wie der beigefügte Manttab erkennen läft, von der
Innenſeite den Heftes aus zu betrachten.
Der Laufiger Kulturkreis.
neben eine Afchengrube, bequem erreichbar die in
die Erde gegrabenen großen Worratsgefäße, ge-
wiflermaßen die Speifefammer der Bewohner.
Dod lagen die Herde keineswegs immer im Haug-
innern. Auch außerhalb habe ih folhe Anlagen
aufgededt (3. B. in Gielsdorf bei Strausberg).
Ob erftere zur Nahrungebereitung und leßtere nur
als Brennöfen für bie Iöpfereierzeugniffe oder
jene als Winter-, diefe als Sommerherde dienten,
habe ich nicht ermitteln Fönnen. Im Srauenhaufe
ebt über einer Grube der Webftuhl; bier
ſchnurrte aud die Spindel, vom Wirtel befhmwingt.
Zu dem erhaltenen Hausrat gehören ferner der
Mahltrog, auf dem in mühfeliger Arbeit das
Mehl bereitet wurde, vereinzelt auch einmal eine
fleinerne Herdbanf, wie fie ein Buder Haus auf-
wies. Was, wie wir fiher vorausfegen dürfen,
an hölzernem Mobiliar vorhanden war, ift natür-
lid) reſtlos vergangen.
Im Dordergrunde jeder Lebensgemeinſchaft fteht
die Frage nah der Nahrungsbeſchaffung; bie
Magenfrage ift geradezu die Vorausſetzung für
das gefamte Kulturleben. Wir dürfen alfo aud
in diefem Falle an der Trage nah der Wirt-
Ihaftsform der Laufiger nicht vorübergehen.
Daf ihre dörflihen Siedlungen ohne ausgiebigen
Aterbau garnicht denkbar find, ift von vornherein
Mar. Talſächlich ift ein folder auch indireft er-
weisbar. Fımde von teils fhuhleiftenförmigen,
teils ſchmalen beilblattertigen Geräten aus meift
fauber gefchliffenem Stein haben offenbar als
Pflugiharen gedient. Das hölzerne Pfluggeftell
it zwar nicht mehr erhalten, wird aber dem der
Germanen geglihen haben, das wir aus ben
Mooren von Döstrup bei Hobro und Dabergotz
bei Neuruppin oder von ſchwediſchen Zelfenbildern
lennen. Nachdem das Land mit diefen Geräten
aufgeriifen worden war, wurde ihm die Saat an-
vertraut. Funde zeigen wieder, daß u. a. beifpiels-
weile der Binkelweizen angebaut wurde. Ge-
legentlich haben fih angefohlte Körner händemweife
erhalten; zuweilen find aud einzelne zufällig zwi-
ſchen den Ton der Gefäße oder in den Wandbewurf
der Häufer (Gielsdorf) geraten und fo als heute
wertvolles Dokument auf uns gefommen. Die
reife Frucht wurde mit den zahlreich gefundenen
Bronzeſicheln geſchnitten, die in ebenfalls erhalte-
nen Steinformen als Maffenartifel gegoffen wur-
den. Die getrodneten und gereinigten Körner
jerrieb man nun mittels Mahlfugeln in flachen
Mahltrögen oder zwifchen zwei Mahlfteinen, von
denen das Strausberger Mufeum ein unvollftändi-
ges Eremplar befist. Der untere lag feft auf der
Erbe. Jn feiner zentralen Durchbohrung drehte
fih die Achſe der hölzernen Handhabe, die durd
einen zuunterft gelegten flachen Stein, eine Art
219
MWiderlager, am tieferen Durchrutſchen verhindert
wurde. Der obere, bewegliche Stein befist in der
Mitte eine rechtedige Deffnung, durd die die hier
mit quadratifhem Querſchnitt verfehene Achſe fo
bindurdplief, daß zu beiden Seiten ein ſchmaler
Raum zum Einfchütten ber Körner freiblieb. Diefe
fanfen während des Mahlens bis auf den unteren
Stein und famen an ber Seite als Mehl und
Kleie wieder zum Vorſchein.
Wenn aud die pflanzlihe Nahrung die Haupt-
rolle fpielte, fo fehlte doch die fleiſchliche Feines-
wegs. Sie wurde durch die Viehzucht gewonnen,
von der wir bisher noh wenig Einzelfenntniffe
aus diefer Kultur befigen. Daneben hat aud bie
Jagd. die Kühe mit Speifen verforgt. Von dem
Gräberfelde von Rüdersdorf bei Berlin, dag dem
berühmten Kalkfteinbrud feinen Namen geliehen
hat, befitt das Strausberger Mufeum mehrere
Heine Rnocdenpfeilfpigen, die wohl als Vogelpfeile
gedient haben. Ob die zahlreich auftretenden zier-
lihen Bronzepfeilfpigen ebenfalls zur Jagd be-
nugt wurden, läßt ſich nicht fiher beftimmen. Doch
eriheinen fie als Kriegswaffe zu harmlos.
Wo Aderbau und Viehzucht getrieben wirb,
da find Gefäße zur Aufbewahrung und Zuberei-
tung der Nahrung unentbehrlih. Gerade auf dem
Gebiete der Keramik, der Töpfereifunft, haben
die Laufiger Erſtaunliches geleifte.. An der Hand
der Feramifhen Stilarten ift es der Forfhung
möglih geworden, eine beftimmte Typologie md
deren relative Chronologie (zeitliche Aufeinander-
folge) aufzuftellen. Diefe Zeitbeftimmung geſchieht
hauptſächlich auf Grund der Metallbeigaben, deren
Solge bereits befannt ift. Beſonders wertvoll ift
eg, wenn fih die relative Zeit aus der Ueberein-
anderfolge von getrennten Fundſchichten ein-
fah ablefen läßt oder wenn, wie am Burgwal
von Oswitz in Sclefien, die einzelnen Fundplätze
wenigftens von einander gefondert find, ohne bag
fih ihre AZufammengehörigfeit verfennen Täßt.
Neuerdings ift es fogar gelungen, für die Laufiger
Keramik eine abfolute Chronologie, d. b. eine durch
Jahreszahlen beſtimmte Zeitangabe feftzulegen.
Das Kennzeichen der älteren Lauſitzer Periode,
das ihre Träger noh in beutliher Beziehung zu
den füdöftlihen Kulturen zeigt, find die nach der
Hauptzierart der Gefäße benannten Budelurnen,
nah der die ganze Kultur oft aud die Butel
urnenfultur heißt. Sie fällt in die dritte Bronze-
periode, alfo etwa in die Zeit von 1400 bis 1200
v. Chr. Geburt. Ein Teil der Gefäße diefes Ab-
Ihnitts, fauber aus freier Hand geformt und mit
Standfuß und Hals verfehen, trägt am Baud-
Enid, alfo dort, wo fie ihre größte Breite haben,
teils von innen berausgedrüdte, teils von außen
aufgefeste und daher mandmal leicht ablösbare
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ſyſtemen umrabmt werden.
ſchwankt zwifchen vier und fieben, gebt aber aud
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Budel, die gemöhnlih von Freis- oder halbkreis⸗
förmigen Furchen, Leiſten, Linien oder Linien—
Die Zahl der Buckel
gelegentlich weit darüber hinaus. So beſitzt das
vom Verfaſſer geleitete Heimatmuſeum in Straus-
berg ein Prachtſtück mit 14 Buckeln aus einem
Grabe bei Goſen, Kreis Beeskow. Von einem
zweiten iſt nur ein Buckelteil erhalten geblieben.
Die Form dieſer Urnen deutet unverkennbar auf
die Treibtechnik, die ſonſt an Bronzegefäßen geübt
wurde. In der Stilart miſchen ſich die verſchie—
denſten Einflüſſe. Die Beziehungen reichen über
Thrakien und Ungarn bis in das Troja VII, das
frühgriechiſche Iiien (etwa 1100 bis 700 v. Chr.),
wohin nordländiſche Eroberer die Buckelkultur
trugen, nachdem ſchon im Troja II (etwa 2500
bis 2000 v. Ehr.), dem Ilion des Priamos und
Hektor, deutlihe Anklänge erfennbar waren.
Andererfeits drängen fih voffenfihtlihe Einflüffe
eines jungfteinzeitlihen Stils auf, nämlich des
von Walternienburg bei Magdeburg mit feiner
ftraffen Gliederung und den Eleinen NHenfeln am
Bauchknick und am Halsanfas. Ungarn erjceint
als das Heimatgebiet diefer Kultur, die fih mit
ihren Trägern längs der ‘Donau, Elbe und Oder
nadh Nordweſten verbreitete und in allmählichem
Dordringen die oben angegebenen Gebiete erfüllte.
(Abb. 1.)
In der vierten ‘Bronzeperiode (1200 bis 1000
v. Cpr.) klingt die Budelzeit aus (Nachbuckelzeit).
Die rötlich-gelben oder oderfarbenen Gefähe wei-
jen in ihrem Schmud zwar noh gelegentlihe An-
- Hänge an die Dergangenbeit auf, ſuchen aber im
übrigen nah immer neuen Gejtaltungs- und Orna-
mentierungsformen. Kennzeichnend find von jeßt
ab die oft prächtigen Dedihüfeln, mit denen man
sie Graburnen bededt.
Der Laufiger Kulturkreis.
Die Töpfe befigen ge-
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wöhnlich eine ſehr breite Standfläche und ent
iprehende Mündung und find, wenn fie für den
täglihen Gebraud beftimmt waren, oftmals außen
Fünftlih geraubt. Auf diefe Weife folte die fie
haltende Hand fefter faflen können. Zumeilen
tragen fie ftatt der hochſitzenden Henkelchen am
Miündungsrande mehrere Erhöhungen, fogenannt:
Nuppen, die das Abgleiten eines Bandes verhin-
dern follten. Neben diefen Töpfen begegnen ung
zahlreiche Eleine Näpfe mit Henfeln oder ohne fol-
he, oft mit ſcharfem Bauchknick, und gefhmadvole
Taſſen. Unter den Heinen Schalen, von denen
mande vielleiht als Dellampen gedient haben, fal-
len uns die mit Fühn aufwärts gefchrungenem
Handhenkel auf. (Abb. 2.) Beſonders merfwür-
dig find die bislang nod nicht allzu häufigen, aber
über das ganze Gebiet gleichmäßig verteilten Fleinen
Pokale. Als typiſche Metallbeigabe diefer Zeit
erſcheinen in den Gräbern die fchon erwähnten zier
lihen Bronzepfeilfpigen.
Mit zunehmender Zeit werden die Gefäße im
mer zierliher, ihre Gliederung nimmt an Schärfe
zu, die Gefamtform wird im ganzen gefälliger.
Standflähe und Mündung werden enger, ber
Schmud wird reiher. Reben den bräunlicen
oder rötlihen Gefäßen erfcheinen jeßt auh ſchwarje,
deren Ornamente vielleicht ehemals weiß ausgelegt
waren. Kennzeichnend ift der gedrehte Rand, ber
offenbar die gedrilften Bronzehalsbänder (Tor
ques) als Vorbild benußt. Die Verwendung des
Henkels gebt zurüd.
In der jüngften Periode (6. nordifche Bronze
periode — ältere Eifenzeit, etwa 800 bie 500 v.
Chr.) offenbart fih in der Laufiger Keramik deut-
lid der Derfall. Auf der einen Seite herrſchen
einfache, dickwandige, plumpe
Gefäße mit geringer Verzie
tung und ungefchidten Her
feln vor, wenn folde über
baupt vorhanden find. Der
Oberteil wird gegliedert, die
Mündung ladet zuweilen aus.
Oft läuft in einigem Abftand
unterhalb der Deffnung ein
Kranz von Muppen um das
Gefäß. Andererfeits ift dieſe
Zeit gefennzeichnet durch jier”
lichſte fpielerifhe Formen,
wie fie zahlreih z. B. aus
dem großen Gräberfelde von
Billendorf in der Laufig zum
Vorſchein famen. Eine
zahl Fleiner und kleinſtet
Schälden, Kännchen und Fläſchchen, Tonbörner
doppelte und dreifache, aufeinandergefehfe Etagen
aefähe (Abbildung 7). Räuchertöpfchen
X
Der Lauſitzer Kulturkreis. 221
durchbrochener Wandung, Tiergeſtalten, die aber
auch ſchon in älterer Zeit auftreten, Klappern und
anderes mehr begegnen uns. Die geſamte Keramik
verrät eine meiſterhafte Beherrſchung des Ma—
terials, aber zugleich ein Tändeln mit der Form und
ar Eee —
en a
Smmerhin muß das Metall mindeftens in den
nördlichen Taufisifhen Gebieten knapp gewefen
und daher der Erhaltung für die Lebenden be-
fonders wert erfhienen fein. Denn merfwürdiger-
weife begegnen uns in den Siedlungen, feltener
Tongefässe der 4.Bronzeperiode von Hüdersdorf.
Abb. 2.
ein Zurüdtreten des Weſenhaften und Zmedent-
fprehenden. Zeitlih wird diefer Abſchnitt durch
die Beigabe von Eifengeräten beftimmt.
Hinter der erdrüdenden Fülle von Tonerzeugniffen
treten die Metallge-
räte auffallend zurüd.
Das Kulturbild, das ung
die Funde diefer Art ge-
währen, ift geradezu dürf-
tig zu nennen. Ein ganzes
Gräberfeld wie das an
Gefäßen fo reihe von’
Rüdersdorf hat noh fei-
nen Schaufaften voll
Bronzebeigaben geliefert.
Zumeift handelt es fih
um dünne Arm- und Fingerfpiralen, Fingerringe
und Nadeln mit Knopf, Schwanenhalsende oder
Spiralkopf. Seltener find Zierfnöpfe, Raſier—
mefler und andere Mefler, häufiger die Eleinen
Pfeilfpisen, die bereits erwähnt wurden. Auh
aus den Siedlungen ift nicht viel mehr zum Bor-
fhein gefommen. Das große Taufisifhe Dorf
Bud bei Berlin hat nur 25 Stüde gebracht, dar-
unter einige Nollennadeln und Knopfftiheln. Ein
Hohlmeißel fand fih in der Strausberger Sied-
lung. Ebenſo fehlt das Eifen faft ganz an den
Sundplägen der Spätzeit. Die Urſache diefer
Dürftigkeit ift wohl weniger im Mangel an Me-
tall als vielmehr in dem herrfchenden Braud der
Zotenbeigaben, fo weit es die Gräber, und der frei-
willigen Aufgabe der alten Siedlungspläge, fo
weit es die MWohnftätten anbetrifft, zu fuchen.
in Gräbern, Feuerfteingeräte, die offenbar vielfach
als Erfag benugt worden find. Won der Hod-
entwidelten Technik der Steinzeit laffen fie nichts
mehr erkennen. Sie find Dergröberungen einer
Abb. 3.
längft überholten Kunft, die man zwar zum alltäg-
lihen Gebrauch noh nußbar madt, auf die man
aber feine Sorgfalt mehr verwendet.
Wir Angehörigen des Zeitalters der Kosmetit
(Schönheitspflege) find leicht geneigt, die Kör-
perpflege der DBorzeit zu gering einzufchägen.
Daß diefe im Gebiet der Germanen hoh entwidelt
war, lehren die entiprehenden Funde. Aud bei
den Lauſitzern begegnen fie ung, wenn auch nicht
fo zahlreih und vielſeitig. Wir erwähnten bereits
die Mafiermeffer, die darauf fchließen laffen, daß
die Männer das Kinn rafierten. Daneben tau-
hen jene dharafteriftiihen Mippzangen auf, die bei
den Germanen ftets zum Toilettenbeftef gehörten
und offenbar zur Entfernung läftiger Haare dien-
ten. Das Müpdersdorfer Gräberfeld hat zwei fol-
222
der zierlihen Zangen geliefert. Bon der Kleidung
bat fi) bisher nichts entdeden laffen. Dod be-
weifen die Funde von tönernen Spinnwirteln und
MWebftuhlgewichten, daß Spinnerei und Weberei
ausgiebig betrieben wurde, und wir werden faum
fehlgehen, die Tracht der Taufiger, von örtlichen
Abweichungen abgefehen, ung der der Germanen
ähnlich zu denken, von der wir ftattliche Ueberrefte
befigen. Zur Kleidung trat der Schmud, der teils
aus Bronzeringen, teils aus Ton- oder Glas-
perlen, teils wohl auh aus Bein beftand.
Merkwürdig ift, daß bislang Waffen fo gut wie
gänzlich fehlen. Selbftverftändlicd haben die Lau-
figer folde befeflen; aber nicht einmal den reidh
auggeftatteten Herrengräbern — den Inhalt eines
ſolchen, im Volksmunde Königsgrab genannten,
befist das Strausberger Mufeum — find diefe
Abzeichen männliher Würde und edler Wehr-
baftigfeit beigegeben worden. So weit wir bie
jeßt urteilen Fönnen, find die Taufiger fein Triege-
rifches, fondern ein- friedlih Aderbau- und Vieh—⸗
zucht treibendes Volk gewefen. Darauf deutet
auh die Anlageibrer Siedlungen. Der
Mas dafür wird ftets fo gewählt, daß er von
Natur hinreihend gefihert it und durd die ört-
lihen Verhältniſſe fih felbft verteidigt. Mit Wor-
liebe fchmiegt man fi) hinter Sumpfgürtel oder
Waſſerläufe, fegt fih auf Halbinfeln, möglihft auf
erhöhte Plätze. Wer die Meptifhblätter zu Tefen
und in die früheren Zuftände zurüchzuverfeßen ver-
ftebt, der Fann ohne Mifbe die ehemaligen Sied-
Iungsftellen herausfinden. Wo in dem gefenn-
zeichneten Gebiet einerfeits Shug und andererfeite
die notwendigen Lebensbedingungen — braud-
bares Aderland und trinfbares Wafler — vor-
handen waren, da darf man getroft eine einftige
Dorf- oder Gehöftanlage der Taufißer annehmen.
Bei der verhältnismäßig ftarfen Bevölkerungs⸗
dichte wird man felten fehlichließen.
Nod ein anderer Umftand beftätigt unfere An-
nahme, daß die Lauſitzer Fein Eriegerifhes Volk
waren. Wo die natürlihe DVerteidigungsfähigfeit
des Landes nidyt ausreichte, da wurde fie von ihnen
fünftlih gefhaffen. So treffen wir überall in
ihrem Lande auf die Burgmwälle, die zum
großen Teil bereits der Taufisifchen Zeit ihren Ur-
iprung verbanfen, zumeift fpäter von den Wenden
wieder benußt worden find.) Teils handelt es fih
um einfahe Schanzen, die gewöhnlid auf der Höhe
einen Herrenfig trugen, — fo der fürzlid vom Ber-
faffer unterfuhte Burgwal bei der Spismühle
bei Strausberg —, teils ftellten fie gefchloffene
Ummallungen dar, die entweder in Sichelform an-
2) Ueber die wendiihen Burgmalle fell ein fräterer Auf-
fag beridten.
Der Laufiger Kulturkreis.
Beherrſchte und Herrſchende.
gelegt waren und ſich dann mit der offenen Seite
an eine Hügelkette oder einen Sumpf oder Sve
onlehnten oder gänzlih vom Erdwall umhegt wur-
den. Das berühmtefte ‘Beifpiel der lebten Art ift
die fogenannte Römerſchanze bei Potsdam. Durch⸗
weg finden wir diefe Burgmwälle dort, wo die natür-
lihen Schusgürtel — Fluß- und Sceengrenzen —
leichte Mebergangsmöglichkeiten boten. Daher fügen
fih diefe Wallanlagen oft zu einem förmlichen Ber-
teidigungsfpftem zufammen, ohne daf man bes-
wegen eine Planmäßigkeit von höherer Stelle an-
nehmen muß.
Trogdem wäre es falſch, wenn wir ung bie
Lauſitzer als eine politifh und fozial ungegliederte,
nur durch gleiche Abſtammung und Kultur zu»
fammenhängende Volksmaſſe vorftellten. Leider
wiffen wir über diefe Derhältniffe naturgemäß nur
wenig, da derartige Erkenntnis größtenteils ſchrift⸗
liche Weberlieferung vorausfest und folde aus der
Vorzeit fehlt. Immerhin geben uns die Funde bier
und da einige Fingerzeige über die foziale
Gliederung. Wie fih in der Einfriedung der
einzelnen Gehöfte das Vorhandenſein des Eigen-
tumsbegriffs offenbart, fo zeigt fih in ber Anord-
nung der Häufer und Gräber deutlich der Unter-
fchied zwifhen Herren und Knechten. Während
in Budh die meiften Häufer wie in den deutſchen
Haufendörfern regellos angelegt waren, fanden fih
einmal adt eng nebeneinanderliegende kleinere Hüt-
ten, die zu einer größeren Halle gehörten. Offen-
fihtlih hat hier ein Mächtiger feinen Untergebenen
feinen Willen aufgezwungen. In dem erwähnten
Königsgrabe bei Gielsdorf, Kreis Oberbarnim,
deffen enge Grabfammer zwei Brandurnen, wahr-
fbeinlih die des Mannes und der Ehefrau, auf-
wiefen, jede von einer ftattlihen Anzahl Funftvoller
Beigefäße umftellt, wurden in den oberen Stein-
lagen fchlichte Mebenbeifegungen ganz rober Art
beobachtet, zweifellos die der Knechte des Beftatte-
ten. Aud die umliegenden Gräber diefes Fried-
hofes, die zum Teil vom Verfaſſer aufgebedt wor-
den find, wichen in Anlage und Ausftattung auf-
fallend von jenem Hauptgrabe ab. Der Bolte-
mund, ber bis zur Gegenwart die Bezeichnung
„Königegräber” bewahrt hat, ohne daß Außerlid
Unterfchiede erfennbar waren, dürfte alfo Redt
haben. Schon damals fpaltete fi die Bevölke⸗
rung in Arme und Neide, Knete und Herren,
Wie weit deren
Machtbereich aing, ob fie untereinander Verbindung
hatten, ob eine Obergemwalt beftand ufw., entzieht
fi natürlich unferer Kenntnis. Vermutlich ift der
völfifhe Zufammenhang ebenſo wie bei den jünge⸗
ren Germanen nur lofe gewefen, wurde aber dod
Der Laufiger Kulturkreis.
wohl durd die Eultifch-religiöfe Einbeit in gewiſſem
Grade gewährleiftet. Wir merden nidt fehi
ihließen, wenn wir wenigftens größere Kultver-
bände annehmen. Der Mittelpunft eines folchen
dürfte, nadh den Funden zu fchließen, bei Burg im
Spreewald gelegen haben.
Die geiftige Kultur der Laufiser fann
nur durch weitgehendfte Heranziehung von ver-
wandtem Vergleichsmaterial erfchloffen werden.
Auf eigenartige religiöfe Anfhauungen
deuten die oben beiprohenen Buckelurnen der
dritten DBronzeftufe bin. Schon früh hat die
Forſchung in ihrem plaftifhen Ornament eine
Nahahmung der weiblihen Bruft zu erfennen ge-
glaubt. Ein Forfher (Bebla) hat damit die Ber-
mutung verfnüpft, die Buckelgefäße hätten als
Brandurnen für Frauen und Mädchen gedient.
Diefe Meinung ift fiherlih ein Jrrtum. Soweit
die Budeluenen überhaupt zur Aufnahme der
Brandrefte der Toten beftimmt waren, hat man
ſie unterfhiedslos für Männer- und Frauenbeitat-
tungen verwendet. Zumeift erfcheinen fie über-
baupt nur als Beigabengefäße. Dagegen ift die
Deutung der Buder als Nachbildung der Bruft
zweifellos richtig. Sie führt ung näher in den
Gedanfenfreis der religiös - fittlihen Anſchau—⸗
ungswelt der Laufiker hinein und eröffnet ung zu-
leih eine weitreihende Ausfiht auf die Wer-
bindung ihrer Kultur mit der der fübdöftlichen
Nahbarvölfer und ihrer Abhängigkeit von diefen.
Im ſpätmykeniſchen Troja finden fih, wie be-
reits erwähnt wurde, ähnliche Buckelgefäße. Sie
gehören der hiefigen fpäten Bronzezeit an, find
alfo etwas jünger als die laufisiihen. Aber be-
reits im fpätfteinzeitlichen bezw. frühbronzezeitlichen
roja II treffen wir Gefäße an, die nit nur
mt einem Buckelpaar, fondern häufig auch nod
duch ein eulenähnliches, gewöhnlich mundloſes Ge-
idt gefhmüct find. In den Henfeln find zumeift
die Arme angedeutet. Mit naiver Deutlichkeit
wird auch fonft das weibliche Geſchlecht kenntlich
gemacht. Es fann garnicht zweifelhaft fein, dağ
in diefen Gefihtsurnen, die übrigens merfwürdige
Parallelen im nördlichen Europa der jüngeren
Steinzeit befigen, das nadte Weib wiedergegeben
werden fol. Neben diefen unbeholfenen Geſichts—
Hfäßen fennen wir aus Troja-Hiffarlif auh vol-
kommnere „Frauenvaſen“. Intereſſant ift ein
etwa 20 Zentimeter hohes Eremplar, das auf dem
Kopfe eine Schale, in den vorgebeugten Armen
cne zweite mit zwei Henfeln trägt. Auch bier
iſt das Gefiht wieder mundlos. Um den Hals
6miegen fih mehrere Ringe. Eine ganz ähnliche
rauenvaſe liegt uns aus dem engeren Yaufißer
Kulturkreife vor, nämlih in der fogenannten
Kultfigur von Decfel, Kreis Landsberg a. W.
223
Hier zeigt der Fleine Kopf fogar einen Mund.
Der lange, fih nad unten verbreiternde Hals ift
ftarf beringt. In den gebogenen Armen bält die
Geftalt ebenfalls ein Gefäß, das mit dem Innern
der Figur in Verbindung ftebt. (Abb. 4.)
Don dem voll-
ftändigen Frauen-
bilde bis zur An-
deutung durd auf-
geſetzte Buckelchen
ſind im altägä—
iſchen Kulturkreiſe
fat alle Entwid-
lungs- und Ueber-
gangsſtufen ver-
treten. Ergänzend
treten daneben
weiblibe Idole
aus Stein, Ton
oder Blei, oft roh
in der Ausfüb-
rung, aber ftets
in ihrer Abficht
unverfennbar. In
Verbindung mit
diefen Darftellun-
gen tritt häufig
das Hakenkreuz
auf, daß fih in Troja II auh oft an einem aus-
fchließlich weiblihen Gerät, dem Spinnwirtel, fin-
Net. Daß diefes Hakenkreuz ein uraltes Götter-
inmbol ift, beweiſen jüngere Funde einwandfrei.
Mährend es fih in fpäteren Zeiten auf den Son-
nengott bezieht, gehörte es früher, wie Georg Wilke
neuerdings dargetan hat, dem Mondgotte oder bef-
fer der Mondgöttin an. Aber auh diefe Pe-
ziehbung ift feine urfprünglihe. Auf einer nod
älteren Stufe geotropiftifcher Weltanfhauung war
das Hakenkreuz das Abzeichen einer mütterlichen
Erdgottheit, die als Gebärerin der Naturgaben die
weiblihen Geſchlechtsmerkmale, als Spenderin des
Sruchtbarfeitsjegens die Schale trägt. Mod eine
andere Erſcheinung weift auf diefelbe Deutung hin.
Das ift das im kretiſch-minoiſchen Kulturfreife
häufig auftretende Doppelbeil, das auf einem fre-
tischen Tonfiegel zu vieren in Form eines Hafen-
freuges angeordnet erfheint. Dieſe Doppelart,
jpäter ein Mondiumbol, war ehedem vor der Er-
findung des Pfluges ein Adergerät zur Auflode-
rung des Erdbodens und als foldes ebenfalls
Symbol der mweiblihen Gottheit als der Ent
deferin und Schügerin des Hadbaues. Damit er-
ihliept fih uns die Deutung der Budelornamente
der engeren Yaufiger Kultur. Aud bier haben wir
es augenfheinlih mit einer Symbolik der mütter—
Kulkfigur von Dechsel.
Abb. 4.
224
lihen Gottheit zu tun. Dann ift der Pudel-
ſchmuck der Urnen als eine ornamentale Erftarrung
eines Symbols aufzufaflen, das, nahdem die Dar-
ftelung der weiblichen Geftalt auf diefe eine An-
deutung zufammengefhrumpft war, nun unter dem
Fünftlerifchen Zwange der Symmetrie rings
um die Gefäße geſetzt wurde. In den
Doppelgefäßen der Spätzeit darf man
dann vielleicht die legte rein formale Ent-
widlungsftufe der gefäßtragenden Frauen-
figuren erbliden, aus denen alg weitere
Spielarten die Drillinge- und Etagenge-
fäße hervorgingen.
Der Kult der Laufiser galt alfo einer
Fruchtbarkeitsgöttin, zweifellos mindeftens
urfprünglih der mütterlihen Erde. Als
Schützerin des Aderbaues war ihr das Beil
heilig, befonders das Doppelbeil. CErinne-
rungen an feine fruchtbarfeitfpendende
Kraft haben fih bis in die Gegenwart
im Volksbrauch erhalten. So ift es in
verfchiedenen Gegenden des altlaufigifchen
Kulturgebiets noh Fürzlih Sitte gewefen,
der Braut einen Hammer, möglihft fogar einen
vorgefhidhtlihen aus Stein, in den Schoß zu
legen.) Ein fo verwandtes Steinbeil bewahrt
dag Strausberger Mufeum auf. Oder man legte
ihn der Braut beim Betreten ihres neuen Heims
auf die Schwelle.
Mit der Verehrung der Aderbau- und Frudt-
barfeitsgottheit darf man vielleiht aud die in der
jüngeren Lauſitzer Kultur febr beliebten Zier-
figuren in Verbindung fegen. Gewöhnlich zeigen
fie Bogelgeftalt und find entweder als Lampen her-
gerichtet oder dienen als Klappern oder erfcheinen
gar als bloßer Zierat auf Iongefäßen und Bronze-
geräten, befonders im NHallftattfreife. Auch da,
wo der Bogel zum heiligen Tiere der Mondgott-
heit geworden ift, faßt man ihn doh gewöhnlich
als den Megenbringer und fomit als Nahrungs—
fpender auf, als der er fogar in die chriſtliche Kunft
übergegangen ift (die Taube als Hoftienbringer im
Parzival, vielfah auh als Hoftienbehälter). Ein
Fleiner Bronzefultwagen mit derartigen Vögeln
fiammt aus dem Spreewalde. Solche Kultwagen,
die uns aud aus der griechifchen Welt bildlih und
Ihriftlih bezeugt find, bat man offenbar zu ful-
tiſchen Umzügen benust. Das beweift ein Bericht
über den in SKranon in Theffalien befindlichen
ehernen Wagen, der, mit Vögeln und einer Am-
phora ausgeftattet, bei Dürre über die Felder be-
mwegt wurde. Dffenfichtlich handelt es fih um einen
Megenzauber. Wie das Waller im Gefäße über
) Aehnliche Bräuche Fannten aud die nordifhen Ger-
manen, wie das Thrymslied in der Edda lehrt.
Der Laufiger Kulturkreis.
die ausgedörrten Aecker geführt wird, fo fol auh
das Waſſer des Himmels auf fie herabfommen,
herbeigerufen von den Vögeln. Endlih dürften
die in der Laufiger Kultur häufigen Klappern, die
ebenfalls oftmals Wogelgeftalt haben, mit dem Kult
Tonrasseln von Rüdersdorf (rechts geöffnet.)
Abb. 5.
in Derbindung ftehben. (Abb. 5.)
Die Sorgfalt der Beftattungsformen
der Lauſitzer läßt auf einen ausgeprägten Ahnen-
und Totenkult fchließen. Die Leihen wurden ftets
verbrannt, die Knochenrefte aus der Afche gelefen,
gefäubert und zerfleinert und dann in einer Urne
beigeſetzt. Diefe ftellte man in eine Grabfifte, die
feltener durch Steinplatten, meiftens wohl durd
Planken gebildet wurde, von denen fih natürlich
nichts erhalten hat. Darüber fhichtete man einen
größeren oder Fleineren, flachen oder hoben Stein-
hügel, ein Brauch, dem wohl die Furdt vor dem
„Umgehn“ der Toten zugrunde liegt. Um das Grab
wurde ein Steinfranz gezogen, der den heiligen
Bezirk einhegte (tabu). Gewöhnlich find die Grab-
anlagen nad der Windrofe orientiert, mandhmal,
wie der Derfafler bei eigenen Grabungen beob-
achtete, fo, daß ziemlich genau am Mordrande des
Grabes ein die andern Kranzfteine überragender
Felsblock aufgerichtet worden war. Dachte man
fih, wie andere Völker und Zeiten im Werften, dem
Lande der fterbenden Sonne, fo bier nah Mitter-
nacht bin das Feuerreih? Stets ift die Urne von
mehr oder minder zahlreihen DBeigefäßen umftellt,
die wohl als Behälter der Totennahrung gedacht
waren, aber Feineswegs, wie die häufige Schräg-
ftellung ergibt, folde immer enthalten haben können.
An weiterer Austattung treffen wir dürftigen
Bronzefhmud, Spinnwirteln, Pfeilfpigen, Klap-
pern aus Ion ufw. an. Seit der 4. Bronzeperiode
treten die oft ſchönen Dedihüffeln auf, mit denen
die Urnen bededt worden find. ine Sonderftel-
lung nimmt das oben erwähnte Herrengrab von
Der Laufiser Kulturkreis.
Gielsdorf ein, in dem fih zwei Brandurnen in der-
felben Grabfifte fanden und bei dem der äußere
Steinhügel Mebenbeftattungen barg. Beſtand bei
den Taufisern der aus Indien befannte Braud der
MWitwenverbrennung und gab man dem Herrn audy
feine Knechte mit ing Grab, diefe wie jene ja nad)
antifer Auffaflung nichts als Kaufgut, alfo Teil
feiner Tieblingsgabe?
Das erſchloſſene Bild des religiöfen Lebens der
Taufiger geftattet uns noch einen Ausblid auf ihre
Wefensart Jn allen Punkten fcheidet diefe
fie deutlich von der der nördlihen Germanen. Deren
Lebensideal war der Krieg. Zwar trifft die Be-
merkung bes Tazitus in der Germania (cap. 14),
„Faulheit, ja Feigheit heiße es bei ihnen, mit
Schweiß zu verdienen, was man mit Blut gewin-
nen könne“, zweifellos nur auf den Kriegsadel zu
und darf uns nicht darüber täufchen, daß auch die
Germanen Bauern waren. Tatfählih aber be-
weifen alle älteren gegenftändlihen und jüngeren
fchriftlihen Quelen, daß für fie der Kampf das
Lebengelement im Diesfeits und Jenſeits war.
Kampf zwifhen Liht- und Dunfelgewalten durd-
bebt ihren Götterhimmel, Kampf gilt ihnen ale
höchſte Wonne, die fie fi in Walhall denken Fön-
nen, Kampf Klingt durd ihre Namen, felbft die
der Mädchen, Kampf it der Stoff ihrer Did-
tungen von Göttern und Menfhen. Daher die
enge Beziehung des Germanen zu feiner Waffe,
bie er im öffentlichen Leben niemals aus der Hand
läßt und die ihn ſchließlich ins Grab begleitet,
ja die er fogar wie feine Kinder benennt. Dem
Germanen hieß leben” kämpfen, ringen. Cine
ganz andere Weltanfhauung zeigt der Träger der
Laufiger Kultur. Ihm war offenfihtlic das Leben
nicht ein „Kriegen“, d. b. im Kriege gewinnen,
fondern ein im Frieden empfangen, und zwar
empfangen um des bebaglihen Genuſſes willen.
Sein Götterhimmel war nicht von fiegfroben We-
fen bevölkert, die nur dem Shug und Hilfe ge
währen, „ber das Fürdten nicht fennt”, und die
den unter ſich nicht aufnehmen, der den Stroh-
tod geftorben. Seine Gottheiten find vielmehr
gütig fpendende Mächte, fruchtverleihende Natur-
gewalten, deren Gunft finnlihen Genuß gewährt.
ft der Aderbau dem Germanen mehr ein Mittel
ju einem notwendigen Zwed, fo tritt er bier als
Selbftzwed in den Mittelpunkt deg Tebensintereffes
und macht fih die ganze Religion und ihren Kult
dienftbar. Erlangung größtmöglidhfter Fruchtbar-
feit und damit reichften Aderfegens zur DBereiche-
rung der äußeren Lebensgeftaltung heißt bei dem
Laufiger das Ziel. Das find Anfchauungen, wie
fie ftets unter der füdlihen Sonne entftanden find,
BE
eine Ethik, deren Grundpfeiler „Nutzen und Ge-
fallen‘ (prodesse et delectare) heißen, die
zwar leicht zu fozialen, demofratifchen Tugenden er»
zieht, aber wenig zur Erſchaffung der Perfönlich-
feit geeignet it. In der gefchlofienen Siedlungs-
form gegenüber der germanifhen Gehöftfiedlung,
der Abgrenzung des Privateigentums gegenüber
der Amende, in Kunft und Kult zeigt fih die ver-
fhiedenartige Prägung zweier Wölfer, die, wenn
auh raflenverwandt, notwendig ftammfremd ge-
weſen fein müflen.
Die Beobachtung führt ung zu der Frage, wer
die Träger der Lauſitzer Kultur ge
wefen feien. Es gibt zwar noh immer Gelehrte,
die fie für Germanen halten. Wer aber ernfihaft
ihre Kultur mit der der nördlihen Völker, die
einwandfrei Germanen waren, vergleicht, wer vor-
urteilslog die Unterfchiede zwifchen den bronze- und
waffenreihen, aber an Keramik dürftigen Ger-
manengräbern und den bronzearmen, aber Fera»
mifch reihen Laufiger Grabftätten prüft, der fann
fi) der Schlußfolgerung gar nicht entziehen, daß
die Laufiger Feine Germanen waren. Dafür fpre-
hen aud die Kulturzufammenhänge mit dem Süd-
often. ine weitere ethnologifhe Beſtimmung ift
freilich bisher noh nicht gelungen. Prof. Koffinna
bat fie nah mehrfahem Schwanken für Nord-
illyrier erflärt und damit die Verknüpfung ihrer
Kultur mit dem des bonauländifh - myfenifchen
wie auh des Hallftattkreifes begründet. Wenn
auch in diefer Frage das legte Wort vielleicht nod
nicht geiproden ift, fo wirft diefe Annahme dodh
bereits ein Licht auf die Geſchichte der Law
figer, die dur die Fundergebniffe durchaus be-
ftätigt wird. Wir erkennen, daß die nah Süden
und Südoſten drängenden Abmwanderungen aus
dem fpätfteinzeitlihen und frühbronzezeitlichen
nördlihen Europa eine nah Norden gerichtete
Gegenbewegung hervorriefen, die allmählich bis an
die Oftfeefüfte die entleerten Gebiete erfüllte. Lang-
fam ſchoben fih die illyriſchen Vorhuten nah Nor-
den und Welten vor, bis der Strom an der Grenze
der Germanen und Kelten zum Stehen lam.
Lange Zeit ift diefe Grenze gehalten worden, bis
in der Hallftattzeit die Germanen fie auf der ganzen
Linie durchbrachen und die Illyrier zur Aufgabe
ihrer nördlihen Sige gezwungen wurden. Auf
dem klaſſiſchen Gebiete von Hallftatt felbft, wo die
Salzlager im Mittelpunft des Intereſſes ftanden,
fheint eine DBerfhmelzung oder vielmehr Durch—
dringung mit den Kelten ftattgefunden zu haben,
die damals ihre welterfchütternden Wanderzüge
(man denfe an die Gallier in Rom und in Delphi,
die Gallater in Kleinafien und den Gallierfämpfe
226 Dom Duftorgan der Honigbiene.
nad bildenden Gigantenfries des berühmten Per-
gamonalters in Berlin) antraten. Go leitet die
Vorgeſchichte zur bekannten Geſchichte hinüber,
zwar noh niht in allen Punkten flar erkennbar,
aber doch fchon greifbar deutlih und ber weiteren
Erbellung wert, die vor allem durd neue Funde
des Sübdoftens und durch die Raſſenforſchung ge-
bracht werden muß.
Dom Duftorgan der Honigbiene. Von Dr. Werner Jacobs. &
Jn Heft 12 vom 15. Jahrgang (1923) diefer
Zeitfchrift war unter dem Titel: „Bom Mittei-
Iungsvermögen der Bienen” ein Furzes Meferat
über die legte Arbeit von Profeſſor v. Friſch er-
fhienen. Es ift darin erwähnt, daß unter be-
ftimmten Umftänden die Bienen fih zur gegen-
feitigen Orientierung eines Duftorgans bedienen.
Ueber dies Organ und feine Anwendungsweife
mag Einiges mitgeteilt fein.
Es war den Imkern ſchon lange befannt, daf
die Bienen — es handelt fi) nur um Arbeiterin-
nen — befonders im Frühling oft in einer eigen-
artigen Haltung vor dem Flugloh des Stodes
ftehen. Hierbei ift der NHinterleib, ftets vom Flug-
lodh abgewandt, hoch emporgehoben, auf dem Rüden
erfcheint zwifchen dem legten und vorlegten Hinter-
leibering ein fchmaler, weißer Streifen, defen
Oberflähe feucht ſchimmert; zugleih werden die
Flügel leicht bewegt, fo dag ein einförmiger, ganz
eigenartiger Ton erzeugt wird. Diefe ganze Cr-
fheinung wird „Sterzeln” oder „Steißeln“ ge
nannt. Um die bisherige Kenntnis hierüber abzu-
fließen, unterfuchte ih auf Anregung von Prof.
v. Friſch das an der betreffenden Stelle des Hinter-
leibes Tiegende Duftorgan genauer und fammelte
die bisherigen Erfahrungen über die Anwendungs-
weife diefes Organs.
Auf dem anderen Ende des Nüdenteils des
legten Hinterleibsringes münden mehrere Hunderte
einzelliger Drüfen; fie fondern den Duftftoff ab.
Ihre Mündungen auf die Körperoberflähe find
gewöhnlih von dem hinteren Teil des vorlesten
Rückenſchildes bededt und werden nur beim Ster-
zeln freigelegt. Durch befondere Vorrichtungen ift
dafür Sorge getragen, daß einerfeits in der Ruhe
der Duftftoff in einem befonderen Raum aufge.
fpeichert werden, andererfeits beim Ausftülpen des
Organs, alfo beim Sterzeln, der Duftftoff leidt
verdunften fann. Das Verdunſten wird befonders
durch das Flügelichlagen gefördert; der durch den
Flügelſchlag erzeugte Luftftrom gleitet über das
ausgeftülpte Organ hin, die Luft wird hier mit dem
fruchtätherähnlichen, ganz charakteriſtiſchen Duft
geſchwängert. Die Biene wirft fo eine ganze Duft-
wolfe hinter fih; der Duft ift auch für unfere Ge-
vuchsnerven noch in einer Entfernung von etwa 20
SXentimetern gut wahrnehmbar.
Man meinte bisher, daß das Welentlihe beim
Sterzeln der durch den Flügelichlag erzeugte Ton
wäre, und daß das Sterzeln in erfter Linie eine
Affeftäußerung wäre. Durch bie Unterfuhungen
von Prof. v. Frifh wiſſen wir aber, baf das We-
fentlihe die Verbreitung des Duftes ift, und dağ
diefer Duft zur Orientierung der Bienen dient.
Es war Thon erwähnt, daß auf dem Flugbrett
eines Stodes befonders häufig im Frühling, aber
auh während des ganzen Sommers fterzelnde
Bienen zu finden find. Sie find ale Wegweifer
für die heimfehrenden Sammelbienen aufzufaffen.
Diefer Fall dürfte der urfprünglichfte in der Reihe
der vielen Fälle fein, in denen fih die Biene des
Duftorgans als Drientierungsmittel bedient. Sonft
fterzeln die Bienen no z. B. unter folgenden Uns
ftänden: Beim Schwärmen fammeln fi die Bienen
fterzelnd zu ber Schwarmtraube; ift etwa burd
Verluſt der Königin der Schwarm gezwungen,
zum Mutterftod zurüdzufehren, fo ziehen die Bie-
nen fterzelnd wieder ein; flaudht man in einem
Korb die Bienen auf das Bodenbrett, fo laufen fie
Rerzelnd an den Wänden hoch; fängt man einen
Schwarm ein, fo zieht der aufgefcheuchte Reſt, wo-
fern nur die Königin mit eingefangen ift, fterzelnd
in die neue Beute ein; nimmt man einem Boll
die Königin und feßte fie nad) einiger Zeit in einem
Käfig wieder zu, fo belagern ihn die Bienen fter
selnd. Es ließen fih noch mehr Beifpiele anführen.
Mit Ausnahme des legten erfcheint die Bedeutung
des Sterzelng für die gegenfeitige Orientierung der
Bienen ganz Mar. Der legte und nod einige nicht
erwähnte Fälle zeigen andererfeits, daß unter Um-
ftänden nod eine andere Bedeutung zugrunde liegt,
die wir noh nicht erfennen Eönnen; wir fünnen
aber wohl mit Sicherheit annehmen, daß die Er-
zeugung des Duftes immer das AusichInggebende
ift, daß das Sterzeln aber nicht lediglich ein Affekt
ift. Wenn Iesteres der Fall wäre, könnten wir
das Sterzeln mit einer Gefte. vergleichen, die dann
aber für die Biene eine gewaltige Kraft- und
Stoffverfhwentung bedeuten würde.
DBemerfenswert ift das Sterzeln nun noh in
folgenden Fällen: Füttert man die Bienen im
Stod mit Zuderwafler, fo fterzelt die Biene, die
das Futter zuerft finder, bei ihrer Rückkehr zu dem-
felben; die fih bald einfindenden Bienen maden
Etwas über Sterne und etwas mehr über einen Sternenfeber.
es ebenfo; nad einiger Zeit it von der Bienen-
traube bis zum Futternapf eine ganze Duftftrafe
gebildet, längs der die Bienen bald bier, bald da
fterzelnd ftehben. Verlegt man die Futterquelle
nadh außerhalb, fo baben wir den Fall vor uns,
bei dem Profeffor v. Friſch auf das Sterzeln auf-
merffom wurde; die Sammlerinnen fterzeln an
dem vollen Futterſchälchen und teilen fo den durd
den „Zan; zum Ausfliegen veranlaßten Sud-
bienen mit, wo das Futter zu holen ift. Da das
Zuderwaffer geruchlos ift, find die Suder lediglich
auf den Duft des Duftorgans als Orientierungs-
mittel angewiefen. Geeignete Werfuche haben be-
wiefen, daß dies Mittel ein ausgezeichnetes ift:
denn die Geruchsorgane der Bienen find auf den
von dem Duftorgan ausgehenden Duft gewiffer-
maßen geeicht,; fie nehmen ihn noh in viel ge-
ringeren Zufommenfegungen wahr als Blumen-
düfte, für die ibr MWahrnehmungsvermögen nur
wenig das des Menſchen übertrifft. Das erinnert
an die bei Schmertterlingen fon lange befannte
Tatſache, daß die Männchen aus Filometerweiten
Entfernimgen von dem Duft der Weibchen ange-
Todt werben.
Diefe legten beiden Fälle des Sterzelns find
aus mehreren Gründen befonders bemerfenswert.
Erftens erfennen wir, daß der Inſtinkt des Ster-
zelns plaftifch genug war, daß er fih an urfprüng-
lih der Biologie der Honigbiene ganz fremde Be-
dingungen anpaflen fonnte. “Denn das Füttern
eines Volkes wurde erft mit der rationellen Bienen-
zucht notwendig, um den geraubten Honig zu er-
fegen. Zweitens fehen wir, daß der von Prof.
v. Friſch mitgeteilte Befund fih in einen ganzen
Kompler von Erfcheinungen zwanglos eingliedert,
hier fogar nur eine untergeordnete Rolle einnimmt.
Denn in der Tat bat noh niemand unter natür-
lihen Bedingungen eine Sammelbiene außerhalb
des Stodes etwa an einer Blume fterzeln fehen.
In der Natur ift niemals eine fo reiche Sutter-
quelle verwirklicht wie in den Verſuchsbedingungen
mit dem vollen Futterſchälchen.
Alle mitgeteilten Beobachtungen gelten nur für
die Arbeiterin. Die Königin und die Drobne
haben Fein Duftorgan. Diefer Befund ift von
großer “Bedeutung für die Vorftellungen, die man
fih von der ftammesgefchichtlihen Entftehung des
Duftorgans gemacht hat. Zwei Wege find mög-
Ih. Wir willen, dag das Duftorgan ganz im
Etwas tiber Sterne und etwas
mehr über einen Sternenfeber.
227
Dienfte des fozialen Lebens ſteht. Die ganzen
fozialen nftinkte, die die Erhaltung des Bienen-
ftantes gemwährleiften, liegen in der Arbeiterin. Wir
haben ferner Grund anzunehmen, daß der Bienen-
taat aus Anfängen, in denen es nur Männchen
und Weibchen gab, durch allmählihe Herausbil-
dung von Arbeiterinnen entftanden ift. Denkbar
ift es daher, daß fih das Duftorgan gerade bei
den Arbeiterinnen als Anpaflung an die foziale
Lebensweife herausgebildet hat.
Beachten wir aber, daß die Arbeiterin nichts
anderes ift als eine rudimentäre Königin; daß zu
Beginn des fozialen Lebens der ganze Feine Staat
aus Männchen und mehreren Weibchen, einer
Stammutter und mehreren Hilfsweibchen, beftan-
den haben wird, die alle gleiche Inſtinkte Hatten,
alle Eier ablegten; dap alfo die Stammutter der
Kolonie, wie beute bei einem Hummelvolf, neben
dem Eierlegeinſtinkt auh ale Neftbau- und Brut-
pflegeinftinfte hatte; daß ferner faft überall, wo
bei Inſekten Duftorgane vorhanden find, diefe fid
nur bei einem Geſchlecht finden, und meiftens das
Sihfinden zur DBegattung erleichtern folen: fo ift
auch folgender Entwidlungsgang möglich. Mod
vor der Bildung des Stantenlebens war das Duft-
organ, vielleicht nicht fo gut ausgebildet wie jeßt,
bei dem Weibchen vorhanden und diente der An-
lofung des Männchens. Mit dem Beginn des
Staatenlebens war es alfo auh bei den Hülfs-
weibchen vorhanden und fonnte nun im Sinne des
fozialen Lebens gebraudht werden. Das würde
allerdings eine große Weränderlichfeit des Jn-
ftinftes vorausfegen. Im weiteren Derlauf geben
die fozialen Inſtinkte der Königin mehr und mehr
verloren, häufen fi dagegen bei dem NHilfsweib-
hen; diefe ihrerfeits verlieren den Sortpflanzungs-
inftinkt, ihre Geſchlechtsorgane verfümmern fogar
mehr und mehr. Angenommen, der Inſtinkt, das
Duftorgan im fozialen Sinne zu verwenden, über-
träfe den urfprünglichen, dann könnte das Duft-
organ der lediglich zur Eierlegemaſchine gefunfenen
Königin verloren gegangen fein, hätte fih dagegen
bei den nunmehr zu richtigen Arbeiterinnen ge-
wordenen Hilfsweibchen erhalten, oder gar vervoll-
fommnet. Eine Entſcheidung in diefer reizvollen
Trage fann vielleiht dadurch gefällt werden, daß
man die Königinnen der ausländifchen, wildleben-
den nächften Verwandten unferer Honigbiene unter-
ſucht.
Von C€. R. Vietor.
Schon als Kind forgte ib mich, was wohl ein-
treten würde, wenn einmal ein Komet mit unferer
Erdfugel zufammenftoßen würde. Es wäre nit
fo ſchlimm, wenn er, fozufagen, von binten Fame,
d. b. in derfelben Richtung wie die Erde durd den
MWeltenraum eilte und nur durd feine größere Ge-
228
ſchwindigkeit fie einholte und auf fie ftürzte. Das
würde den Stoß ftarf vermindern, wie man leicht
an fidh felbft ausprobieren fann, indem man einmal
hinter der Elektrifchen herläuft, um in fie hineinzu-
fpringen und einmal zu demfelben Zwecke ihr ent-
gegenläuft. Und wenn es nun ein Komet mit der
Erde fo machte, wie in lesterem Falle! Meine
Sorge fteigerte fi, feit ich wußte, daß Laplace
in feiner Darftellung des Weltfuftems, Bd. II,
©. 64, „dieſen Fall’ fo fchilderte: „Es ift leicht,
die Wirkungen eines folden Stopes auf die Erde
fih vorzuftellen. Veränderung der Achſe und Um-
drehungsbewegung der Erde, Austreten der Meere
aus ihren vorigen Betten, um fih gegen den neuen
Aequator hinzuftürzen, Erfäufung eines großen
Zeil der Menfchen und Tiere in diefer allgemeinen
Ueberſchwemmung oder Zerftörung derfelben durd
die der Erde beigebradte, gewaltfame Erfchütte-
rung, Vernichtung ganzer Gattungen, Zertrümme-
rung aller Denfmäler des menfhlihen Kunftflei-
Bes. Dies ift die Reihe der Unglüdsfälle, die der
Stoß eines Kometen verurfadhen müßte!”
Fat meine ganze Jugendzeit fland unter dem
Drude der Angft, daß ih einmal mitſamt allen
meinen Lieben einen ſolchen höchſt ungemütlichen
Zufammenftoß erleben fünne! Wie danfbar war
ih, als ein anderer Sternenfundiger mir diefe
Angft nahm oder fie wenigftens auf ein Minimum
zurüdführte durch folgende Feftftelungen, an deren
Wiſſenſchaftlichkeit Fein vernünftiger Menih zwer-
feln fann. Schon daß Uranus, Saturn, befonders
Jupiter, ſich in einer viel größeren Gefahr eines
ſolchen Zufammenftoßes als unfere Erde befinden,
war mir tröftlih; es miſchte fidh fogar leider etwas
Schadenfreude in diefen Troft hinein, die aber zu
entſchuldigen ift, da diefe Planeten unferes Wiſſens
fo unbewohnt wie der Mond find.
Erheblich tröftliher war, daß nad) einer genauen
MWahrfcheinlichfeitsberehnung des vorftehend er-
wähnten Gelehrten ein folder Zufammenftoß nur
alle 219 631 150 Jahre flattfinden Eönne, und
dag nun meine — wenn's hoch Fommt, achtzig
Lebensjahre, — nicht gerade in dag 219 631 150.
Fahr des Unglüds fallen, ift wohl nit leidt-
finnig, anzunehmen. Etwas häufiger ift allerdings,
daß die Erde, wenn nicht mit einem Kometen fekbft,
aber wohl mit der ihn umgebenden Atmofphäre zu-
fammen trifft; das fann alle 8 oder 9 Millionen
Fahre geſchehen. Das ift ja aud felten, — aber
wenn der Menſch Unglüd haben fol! Gewig
fommt es auh nur alle paar Millionen Jahre ein-
mal vor, daß ein Adler eine Scildfröte raubt,
mit ihr in die Luft fteigt, fie dann, weil fie ihm
zu fchwer wird, fallen läßt und gerade auf den
Kopf eines Mannes, der dadurd auf der Stelle
ftarb. Und doh fam der größte Tragifer Aeſchy⸗
Etwas über Sterne und etwas mehr über einen Sternenfeher.
los — feinem tragifhen Berufe entfprehend --
auf fo tragifhe Weife um das Leben. Sollten
meine hiftorifhen Kenntniffe mich trügen, fo war
es ein anderer Grieche. immerhin ift die Tatſache
felbft beglaubigte. Aber trogdem wollen wir die
Furcht vor dem Zufammenftoße mit der Kometen-
Atmofphäre vor näher liegenden Gefahren vor-
läufig in den Hintergrund treten laffen.
Und wenn es gefhähe, würde es für Tagegeld-
Bezieher fogar angenehm, für Monatsgehalts-
empfänger dagegen übel fein. Denn wenn ein
Komet, falls er fo groß wie unfere Erde wäre, fi)
auf 13 000 franzöfifde Meilen der Erdbahn
nähern würde, dann würde leßtere gegen die bis-
þerige unter einem Winkel von 2° 4° 10” geneigt,
alfo die mittlere Diftanz um **/10000 vermehrt wer-
den. Wie mein Fluger Lefer leicht fih felbft fagen
fann, würde dadurd das Jabr auf 367 Tage,
16 Stunden und 4,48 Minuten verlängert wer-
den. Diefe Folge wird alfo in Nüdfiht auf Ge-
haltsempfänger teils erfreulich, teils das Gegenteil
fein. Aber das Allertröftlichfte ift, daß die Ko-
meten überhaupt gar Feinen oder nur einen winzig
Heinen Kern befigen; meiftens befteben fie nur
aus einer Dunſtmaſſe. Dap diefe giftige Stoffe
enthalten folle, ift nad meinem Gewährsmann ein
unbegründeter Verdacht gegen diefe ſchöne Natur-
erſcheinung.
So hat unſer Gelehrter zugleich mir, wie der
ganzen Menſchheit, wenigſtens ſo weit ſie dieſes
weiß, einen ſchweren Stein vom Herzen genommen
und wir alle ſchulden ihm viel Dank dafür.
Und noch zwei andere große Dienſte hat der Be⸗
treffende, der zugleich Arzt und Sternenſeher war,
der Menſchheit geleiſtet, allerdings Dienſte, von
denen bis zum heutigen Tage nicht einmal alle Ge⸗
bildeten Gebrauch machten. Er ſprach nämlich auf
Grund vieler Unterſuchungen dem Mond reſp. ſei⸗
nem Scheine, jeden Einfluß auf ſogenannte Mond⸗
ſüchtige und Nervenkranke ab. Wenn ſich aller⸗
dings ein nervöſes Mädchen z. B. feſt einbildet,
daß ein Herr ſie liebt, ſo kann dieſe Einbildung
natürlich ihr Nervenſyſtem und ihre Stimmungen
ſtark beeinfluſſen, aber das iſt nicht Schuld des
Herrn. Ebenſo unſchuldig iſt der Mond an der
Einbildung, die, zumal nervenkranke Leute, ſich
über ſeinen Schein machen. Nachtwandler laufen
auch bei Neumond und in mondſcheinloſen Nacht⸗
ftunden umber.
Zum anderen wies er nad, daß der Mond fo
gut wie überhaupt gar feinen Einfluß auf das
Wetter hat. Bei Voll-, wie bei Neumond ift es
warm oder Falt, trübe oder heiter, beftändig oder
unbeftändig, oder das Wetter ſchlägt unerwartet
um. Darauf hat der Mond ebenfowenig Einfluß
wie mandher Meichstaggabgeordneter auf die Poli-
»
a
ph
{i
j
Ag
P
PE
Jya
i
D
i
a
..
li
' '
PR
; I
No
Etwas über Sterne und etwas mehr über einen Sternenfeher. 229
tif. Aber auh damit find die Derdienfte unferes
Tröfters noch nicht erſchöpft. Wielmehr hat er noch
drei neue Planeten entdedt und dadurch unfer
Leben. unendlich bereihert. Man fage nicht, daß,
wenn er fie nicht entdeckt hätte, es wahrſcheinlich
ein Anderer getan hätte. Zwar ift die Doppelheit
der Fälle in der Wiflenihaft häufig, aber trotzdem
bleibt der Grundfag beftehen: „Wer zuerft fommt,
mahlt zuerſt.“
indem ich hoffe, durch das Geſagte das Jnter-
efe des geehrten Leſers fo weit wacgerufen zu
baben, daß er diefen verdienftvollen Mann näher
tennen zu lernen wünſcht, erlaube ich mir, ihn vor-
zuftellen ale Dr. Heinrih Wilhelm Matthias
Olbers. Wie fo viele tühtige Männer, ging
auh Olbers aus einem evangelifhen Pfarrhaufe
und zwar am 11. Dftober 1758, hervor, in Ar-
bergen, etwa drei Stunden von Bremen entfernt.
Sein Bater unterrichtete ihn in Griechiſch, He-
bräiſch und Latein. Mathematik mußte ber fireb-
fame Knabe fih felbft beibringen. Er war das
ahte Kind, dem aber nod adıt andere nadjfolgten.
Merkwürdig ift, daß Obers von feinem zehnten
Lebensjahre an bis in fein achtzigftes hinein immer
diefelbe zierliche und orbdentlihe Handſchrift hatte,
welches Mätfel die Handfchriftendeuter unferer
Tage Töfen mögen.
Der junge Olbers, der in Bremen die Hohe
Schule befuchte, hatte auf mander nächtlichen, ein-
famen Wanderung zu feinem Heimatdorf Gelegen-
beit genug, die Geftirne zu beobachten. Zuerft fiel
ihm dag Siebengeftirn auf. Er verfchaffte fidh
aftronomifche Bücher und Himmelsfarten und gab
fi) bald einem begeifterten Studium der Sternen-
welt hin. Auch vertiefte er fi immer mehr in die
Mathematik, ohne deren Hilfe fih leider niemand
am Himmel zurechtfinden Fann. Schon mit fed-
sehn Jahren Eonnte er den Lauf der Planeten ver-
folgen, was ihm vor wie nachher nod niemand in
dem Alter nad- oder vorgemadt hat. Der höchſt
vernünftige Bater freute fi der Fortſchritte feines
Sohnes in der Himmels-Kunde, mahnte ihn aber,
der Erd-Kunde darüber nicht zu vergeflen. Und
da man nun einmal auf diefer Erde fein täglich
Brot haben muß, fo veranlaßte er feinen Wilhelm,
als Lebensberuf den ärztlichen zu erwählen. Mit
ganzer Liebe widmete der Sohn fih ihm fein Leben
lang und im Laufe der Jahrzehnte gewann er fih
in Bremen ungezählte Herzen. Ein Biograph, der
Olbers als Arzt redt Toben wollte, berichtet, daf
Olbers nur bei Nacht“ fih der Sternenfunde ge-
widmet habe. Gern bereit, alle Verdienſte Ol⸗
berg’ anzuerkennen, fann ich die ſes dodh nicht
größer finden, als wenn z. B. ein Sonnenforfcher
immer nur am Tage” die Sonne beobadıtet. Zu
anderen Zeiten fol er es wohl bleiben laffen.
Olbers war von großer, ſchlanker Figur. Aus
feinem bildfhönen, ebenmäßigen Geſicht Teuchteten
große, gütige, blaue Augen. Es war, als ob fie
etwas von dem ftillen Glanze der Sterne abbe-
fommien hätten, nad denen fie fo oft geſchaut. Audy
bei fteigendem Ruhme blieb er der befcheidene, Tie»
benswürdige, gütige Mann. Wohl nie fam ein
unfreundliches Wort über feine Lippen. Als ihm
einmal ein reicher Bremer Kaufmann eine halbe
Stunde lang feine eingebildeten Leiden vorgeflagt
hatte, fagte Olberg kurz: „Ach was, Sie find wohl
nicht flug! Ihnen fehlt gar nichts!” Dieſe har-
ten’! Worte aus Dr. Olbers? Munde!!! fuhren dem
Patienten derartig in die Glieder, daß er von
Stund an genefen war. Es dauerte niht lange,
fo befam Olbers allerlei Rufe nadh auswärts.
Aber was, wie er felbft fchreibt, ihn an die afte
Hanfeftadt feflelte, war die Liebe und der Gehor-
fam der fonft ale falt und eigenfinnig verfchrieenen
Bremer zu und gegen ihren Hausarzt. Wenn da-
mals ein Arzt, fo babe ih mir erzählen laffen, einer
80 Jahre alten, vornehmen Dame jeden Tag eine
Stunde lang Seildenfpringen verordnete oder
einem Leberfranfen täglich 8 Liter Kochbrunnen in
Karlsbad verfehrieb, fo tat der Patient das trog
aller Folgen unbedingt.
Schon mit dreiundzwanzig Jahren nahm Dr.
Dfbers feine ärztlihe Praris in Bremen auf und
war bei Arm und Reih gleich zuverläflig in der
Praris und infolgedeflen überall gleich beliebt. Am
beliebteften war er allerdings bei Fräulein Dor.
Elif. Köhne, die er in fein Haus an der Sand-
firaße, diht am Dome in Bremen, zu kurzem Glüd
einführte. Sie ftarb ſchon nad einem Jahre bei
der Geburt einer Tochter. Nadh vier Jahren fand
er ein neues, ehelihes Glück an ber Seite von
Anna Lürffen, die eimmbbdreigig Jahre mit ihm
durch das Leben wanderte. Die wahfenden Mittel
erlaubten Olbers im jahre 1800, fein bisheriges
Haus zu vergrößern. Als er fein Obfervatorium
baute, verzichtete er auf einen hohen Turm, wie er
fonft fi bei Sternwarten befinde. Wahrſchein⸗
lih, weil er dachte, daß die paar Meter, die er
dadurch den Sternen näher wäre, aud nicht viel
ausmadıten. Oder follten die Sternwarten etwa
fo hoc) liegen, damit fie dem ‘Dunftfreis der Städte
entnommen feien? Aber damals raudhten in der
Handelsftadt Bremen nur überhaupt fehr wenige
Sabrifihornfteine und in der Nähe des Olberg-
fhen Haufes nun mal überhaupt gar Feine.
Sein Obfervatorium beftand aus drei Stuben
und einer Plattform, die fo gelegen waren, dag
Olbers ungehindert nah allen Seiten hin das Heer
der Sterne an feinem Auge vorüber ziehen laffen
fonnte. Daneben lag ein Kabinett, in dem der un-
ermüdlihe Mann Nachts ruhte, um immer gleich de
230
zu fein, wenn am Himmel etwas paflieren folte
Es ift ebenfo befhämend wie bemundernswert,. was
diefer Mann in feinem Leben Teiftete: jahrzehnte-
lang fchlief er nicht mehr als vier Stunden die
Naht. Den ganzen Tag übte er feine Praris aus,
auh fofort nah Tiſch. Seine Beliebtheit als
Arzt war fo groß, daf fih die Kranken in Pyrmont,
wo er gern feine üblichen drei Wochen Ferien ver-
brachte, aud dort an ihn wandten. Da gebrauchte
er ein Mittel, um unbeläftigt zu bleiben, dag deut-
lid zeigt, mit wie großem Recht Schiller die da-
malige Menfchheit am Ende des 18. Jahrhunderts
mit den Worten begrüßte: „Wie ſchön, o Menſch,
mit deinem Palmenzweige ftehft du an des Jabr-
bunderts Neige.” Denn Dr. Olbers machte
öffentlih befannt, daß er in feinen Ferien von
feinem Kranfen irgend ein Honorar annehmen
würde. Das wirkte unter den damals fo „ſchönen“
Menſchen wie eine Bombe! Fortan fonnte Dr.
Olbergs fih ungeftört erholen. Wie dies Wer-
fahren wohl heute wirfen würde?
Abends nahm er gern an fröhlichen Gefellfichaften
teil, in denen er viel erzählte, nod lieber ftunden-
lang Whift fpielte, — da er nah mathematifchen
Grundfägen das Vergnügen betrieb, gewann er
meiftens. Wenn Andere dann müde in das Bett
fanfen, ftand er noh ftundenlang an feinem Fern-
robr oder regulierte feine berühmte Pendel-Uhr.
In der von ihm fo fehr geliebten Geſellſchaft
„Mufeum” hat er zweiundadhzig Vorträge gehalten,
die wegen ihrer Klarheit, ihrer Wiflenfchaftlichkeit,
ihrer ſchönen Form von Herren und Damen gern
gehört wurden.
Bei alle dem hatte Dr. Olbers eine wahrhaft
fromme Gefinnung; alles Gemeine lag ihm febr fern,
er war ein edler Mann.
Der Anfang des 19. Jahrhunderts war trübe.
Feinde berrfchten im Lande. Olbers wurde, nad-
dem Bremen franzöfiih geworden, von Napoleon
in den gefeßgebenden Körper nah ‘Paris berufen,
wohin er fehr gegen feinen Willen mehr als einmal
reifen mußte. Im übrigen fah er dem Treiben mit
viel Gemütsruhe zu. Es war, als ob er, der den
Lauf der Sterne fo gut wie Fein Zweiter Fannte,
deutlich voraus fah, daß Napoleons Stern bald
wieder untergehen werde. Als es geihab, Außerte
er gelaffen: „Das fab ih längft voraus!”
Sein Ruhm als Sternenfeber mehrte fih, als
er den fhon von Plazzi einmal entdedten, dann aber
in Sonnenftrahlen verloren gegangenen Planeten
Ceres wieder entdedte. Wenn man auf die Ent-
defung der anderen beiden, der Pallas (28. März
1802) und Delta (29. Mär 1807) zu fpreden
fam, betonte der fonft fo befheidene Gelehrte gern,
deß er fie nicht „zufällig entdeckt“ babe, fondern daf
Etwas über Sterne und etwas mehr über einen Sternenfeher.
ihre Auffindung „feinem tätigen Geifte und feiner
Ausdauer” zu verdanfen fei.
Dem liebevollen Water ging feine verhei-
ratete Tochter im Dftober 1818, dem rüdfihte-
vollen, forgfamen Gatten die FrauJanuar 1820 im
Tode voraus. Seitdem ging fein Lebensftern lang.
fam unter, obwohl er feine Einſamkeit in frommer
Art, die ihm immer eigen war, trug. Je mehr er
fih in der Sterne Lauf verfenfte, um fo mehr
empfand er die Größe des göttlichen Geiftes, der
in thm waltete.
Zuerft gab er feire ärztliche Praris in der ent-
fernter liegenden Meuftadt Bremens, dann in der
Altftadt auf. Der allem Idealen und Schön
geiftigen zugewandte Geift Olbers’ wohnte mert.
würdigermweife in einer von Jabr zu Jabr ftärfer
werdenden Leibes⸗Hülle. Dadurch wurde er eng
brüftig und litt an Aſthma.
Dann gab er aud feine Beihäftigung mit den
Sternen auf. Er fürchtete, daß fein, wie er glaubte,
abnehmender Geift Unrichtigkeiten auf wiflenfhaft-
lihem Gebiete begeben könne. Auf feine alten
Tage wollte er fih nicht noch vor der Welt blamieren.
So war eg ganz gegen den Sinn dieſes demütigen
Gelehrten, daß ibm am 28. Dezember 1830 zur
Feier feines fünfzigjährigen Dr.-Jubiläums große
Ehrungen dargebracht wurden, entipredhend der oft
vergeflenen Wahrheit: Wer die Ehre fucht, den
flieht fie, wer fie flieht, den fucht fie.” Nach alter
Sitte überreichte ihm der Senat nicht nur eine
Ehrengabe, beftehend in fünfzig Flafchen eines über
zweihundert Jahre alten Mheinmweines aus dem
Matskeller, fondern ließ aud eine marmorne Büſte
von Dr. Olbers für die Stadtbibliothef anfertigen.
Außerdem ftellte der Senat, was er nod nie getan
für diefen großen, wenn nicht größten Bürger Bre
mens, einen Platz in den Wall-Anlagen zur freien
Verfügung für feine Marmorftatue. Der König
von Dänemarff fandte ihm den Danebrog-, der
König von England, refp. Hannover, den Welfen-
Orden. Den roten Adlerorden 3. Klaffe fügte der
überaus trefflihe, aber immer etwas langſame
Friedrich Wilhelm III. acht Jahre ſpäter binzu,
wahrſcheinlich, damit es nicht auf einmal zu viel
würde. Die Univerfitäten Kopenhagen, Vom,
Berlin, Göttingen machten ihn zum Ehrendoftor,
die Bremer Aerzte überreichten ihm einen filbernen
Ehrenbecher, die Gefellihaft ,Mufeum” Tieg fem
Bild auf eine Bronce-Münze prägen, ufm. ulm.
Das ganze ſchloß mit einem großen Feſtmahle m
der Börſe. „Es war eine unverdiente Auszeich
nung ganz über Gebühr‘ fagte der Gefeierte hinter
ber. Merfwürdigerweife glaubte Olbers 1832,
fur; nah Goethes Tod, mit voller Beftimmthert
an feinen eigenen Heimgang. Einſam faf er m
feinem Zimmer. Nicht einmal mochte er noh Kar
ten fpielen, aus Angr, er möchte -dabei Fehler
machen. Und „Nur im Alter Feine Fehler maden!”
war gar gerade fein Hauptgrundſatz. Aber nod
acht Jahre lebte er in feiner immer ftiller werdenden
laufe. Diele Gelehrte befuchten ihn, aber fie
konnten hinterher nur fih rühmen, „den alten OL
bers auh nod gefehen zu haben.’ Er war ein
liebenswürdiger aber ftiller Greis geworden. „Ich
habe fo viel Gutes auf Erden genoffen, daß ich nur
danfbar entfagen kann,“ fagte er in jener legten Zeit
einmal. Sein Sohn, fpäter Senator, und deffen
Samilie, waren faft fein einziger Umgang geworden,
als er am 2. März 1839 fanft entichlief, „des Le-
bens fatt, aber nicht überdrüſſig.“
Die Spezialität des Dr. Olbers waren die Ko-
meten, Dann die Meteore und Sternfhnuppen. Ein
Romet, der alle vierundfiebzig Jahr von der Erde
aus fihtbar wird, heißt nadh ihm der Dlbers-Komet.
1961 wird er wieder erfcheinen.
Merkwürdigerweife wollte Olbers von Philo-
ſophie nichts wiſſen, „deren Spradhe man erft ftu-
dieren muß, um wiflen zu können, was fie fagen
wil. Welcher Nichtphiloſoph denft da niht an
das Wort: „Gefhäftiger Geift, wie nah’ fühl’ ich
mih dir!” Troßdem war Olbers Mitglied von
genau fünfundzwanzig wiflenfchaftlihen Vereini—
gungen in ganz Europa, fogar eing der auswärtigen
Mitglieder der Akademie der Wiffenfchaften in
Paris, was damals eine, von feinem Beigeſchmack
oder Mebengeräufch getrübte Ehrung war.
Sm Jahre 1844 wurde der Grundftein zu dem
Aus der deutfhen Kalffandfteininduftrie. 231
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Marmordenkmal gelegt, das Steinhäuſer und
Rauch verfertigten. Es ſtellt den großen Forſcher
mit dem Fernrohre in der Hand dar. Das Relief-
bild des Sodels zeigt ihn als Arzt am Kranfen-
bette. Im Kreife der Aerzte und Naturforſcher,
die damals gerade in Bremen tagten, hielt Prof.
Hofrat von Mädler eine poetifhe Anſprache, die
in den Ders ausmündete:
„Drum fol bier fein Denfftein glänzen,
Dod ein Denkftein Eünd’ es laut,
Daf in unferer Bremer Grenzen
Solh ein Mann das Liht geſchaut!“
An diefem feftlihen Tage feierten auf der Tagung
zwei alte Herren, Dr. Chaufegie aus Hamburg und
Geh. Hofrat Dr. Harnier aus Kaflel ihr SOjähr.
ärztliches Dr.Jubiläum. Nachts um die zwölfte
Stunde wurden nadh einem fröhlichen Seftmahle die
beiden Herren noh einmal von einer großen Zahl
Feiernder an den Denkſtein geleitet und zum ftrab-
lenden Nachthimmel ftieg das: Gaudeamus igitur”
aus vielen Kehlen empor. So außergewöhnlich
ift eg, an einer ſolchen Stelle und Gelegenheit diefes
Lied zu fingen: es paßte zu einem folhen Manne wie
Olbers doh nicht ſchlecht. Wir aber können von
ihm lernen, unfere Augen aus den Miederungen des
Lebeng immer wieder hinaufzurichten zu den ewigen
Sternen, die mit ihrem ftillen Glanze und uner-
reichter Pracht dem fuchenden Menfchenherzen immer
ein Abbild einer höheren, unfihtbaren Welt fein
werden.
Aus der deutfchen Kalkfandfteininduftrie. ar Aare Dertien
Unter den jüngeren Induftriezweigen nimmt bie
Ralkfandfteininduftrie wirtfchaftlih eine bedeut-
isme Stellung ein. Im Jahre 1854 erfand Dr.
Bernhardi die erfte Kalkfandfteinpreffe. Da-
mit war der Grundſtock zu einer neuen nduftrie
gelegt, die dann nadh der Erfindung der Dampf-
bärtung durch den Chemiker Dr. Mihaelis
in furzer Zeit fo ungeahnte Erfolge aufzumeijen
bat. Die Urfache hierfür liegt darin, daß viele
Gegenden Mangel an gutem Ton und Lehm haben,
während Sand reichlich zur Verfügung ftand. Nad
dem Kalkfandfteinverfahren, das im Laufe der Zeit
durch ftändiges Prüfen und durch Erfahrungen be-
deutende Verbeſſerungen erfahren hat, fann man
aus dem Sand mit etwa 5 v. H. Zufas von Kalf
vollwertige Mauerfteine herftellen.
Gerade in diefer Zeit hat diefer erfiflaflige Bau-
Hoff befondere Bedeutung. Ueberall da, wo Sand
zur Verfügung fteht, fann diefer im Zeitraum von
24 Stunden nad feiner Gewinnung an Ort und
Stelle bereits als vollwertiger Mauerftein ver-
wertet werden. Die SHerftellung geichieht meift
automatifch, fo daß nur wenige Arbeitsfräfte ge-
braucht werden.
Alfo lediglih Sand und Kalk ohne fonftiges
Bindemittel werden im Verhältnis von etwa 19 : 1
gemifht. Eine neuere Abart find die aus guter
Steinfohlen- oder Hochofenſchlacke unter Zufaß
von Kalf in gleiher Weife gehärteten Schladen-
fteine, von denen das Gleiche gilt, was von den
Kalkfandfteinen gefagt worden ift. Hierdurd Fön-
nen viele Abfallprodufte zu vollwertigem Maue-
rungsmaterial werden. Die Aufbereitung diefer
Dichftoffe verlangt eine gründlichfte Durdlöfchung
des Kalkes und innigfte Vermiſchung desfelben mit
dem Sand. Dies gefchieht entweder bei Fleinen
Anlagen einfah durch Löſchung von Kalkfteinen
und Dermifhung des gewonnenen Kalfhnödrates
mit dem Sande. Worteilbafter find die Bern-
bardifhen Siloverfahren. Der fein gemablene
Kalt wird vorfehriftsmäßig mit dem Sande ver-
mifcht, angefeuchtet und in einen Silo oder Lager-
232
behälter geleitet, wo das Kalfpulver inmitten des
Sandes unter Wärmeentwidlung gelöfht wird,
wobei er dem Sande die Feuchtigkeit entzieht. In
wenigen Stunden hat man fo einen fertigen Mör-
tel,der infolge der Einwirkung der Wärme eine
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Aus der deutfhen Kalffandfteininduftrie.
derart, daß der Verſchleiß äußerft gering, die Be-
triebsficherheit aber vollfommen: ift.
Es fann im Rahmen diefer Ausführung auf
Einzelheiten der Bauart niht eingegangen wer-
den. Neben normalen Baufteinen können natür-
Bernhardiſche Dreiprefien-Anlage.
hohe Prepfähigkeit erworben hat. Diefes Ber-
fohren fann je nah den DBerhältniffen ganz oder
teilweife felbfttätig ausgeftaltet werden. Bei felbft-
tätigen Heiß-Silo-DVerfahren gefhieht die Aufbe-
reitung noch gründlicher; es erfordert indes be-
fondere Kraft und Dampf.
Iſt das vorbereitete Material troden, fe kommt
es unter die Preſſe. Wir zeigen in unferm
Bild einige Kalffandftein - Prefanlagen von Dr.
Bernhardi Sohn in Eilenburg, wie folhe im
eigenen Lande und in allen Weltteilen im Gebraud
find. Dieſe felbfttätig arbeitenden Anlagen wer-
den für ftündliche Leitungen von 500 bis herauf
zu 2800 Kalffandfteinen gebaut und ftellen wohl
das Vollkommenſte dar, was es auf diefem Ge-
biete gibt. Die Widerftandsfähigfeit ift durch tan-
gentiale Tiſchdrehung mit Zentralführung, fenf-
rechten Ausftoß ohne feitlihe Drudwirfung und
bewegliche Laufbahn mit Hocdhaltung der Pref-
ftempel und der bereits ausgeftoßenen Formlinge
lih aud andere Formate, wie die großen auslän-
difhen in Abmeſſungen von 29X14X65 Zenti-
meter, Radialfteine für Schornftein- und Brunnen-
bauten ufw. aus entfprehenden Formen bergeftellt
werden. Hinweifen möchten wir auf die Kanten-
verftärfung bei den Bernhardi - Preffen. Das
Preßgut fällt zumeift vorwiegend in die Mitte der
Formen und verdichtet fih dort, während es an
den Eden und Kanten nur loje angehäuft wird.
Mit einem zweiteiligen Preßftempel werden die
Kanten derart verftärft, daß fie ein feſtes ficheres
Gefüge bilden. Auh Hohlfteine Yaffen fih durd
beſondere Vorrichtungen berftellen.
Die geformten Steine gelangen dann zum Zweck
der Erhärtung in den Keſſel, wo ſie der Einwirkung
hochgeſpannten Waſſerdampfes ausgeſetzt werden.
Diefe Spannung beträgt in der Regel aht Atmo-
iphären, die etwa adt big zehn Stunden auf die
Formlinge einwirfen. Der heiße Dampf fchliept
bis zu einem Grade die Kiefelfäure des im Preg-
Die Evolutionstheorie vor Gericht.
ling enthaltenen Sandes auf und es entfteht mit
der Verbindung der Kiefelfäure mit dem Kalt-
hydrat ein Kalciumhydroſilikat, eine aus der ganzen
Stoffmenge gebildete verfteinerte Maffe, die fo-
dann alg dampfgehärteter Kalkfandftein fofort dem
Verbraud zugeführt werden fann. Die chemiſche
Verbindung nimmt eine Eriftallinifhe Form an. Wir
paben alfo feinen einfachen, in der Natur erhärte-
ten Kalkfandfteinmörtel, fondern eben eine fefte
chemiſche Verbindung von außerordentliher Drud-
fähigkeit, erhöhter Feuers, Froſt- und Wetterbe-
ſtändigkeit. Deshalb wird der Kalffandftein auh
viel zu Sabriffhornfteinen, Ningöfen zum Brennen
von Ziegeln und Kalf, Keffeleinmauerungen, ja
ls Erfag von Thamottefteinen verwendet. Da
diefer Stein unter dem Einfluß der Witterung
immer mehr erhärtet, alfo nicht vermwittert, ge-
braucht man ihn vielfach mit dem beften Erfolg für
Tiefbauten, Fundamenten, Waflerbauten, Berg-
233
werfsbauten uſw. Sein hauptfählichfies Wer-
wendungsgebiet ift natürlihd der Hochbau, wobei
ein Mörtelpug nicht erforderlih ift. Der Katt-
fondftein ift als Derblendftein hervorragend geeig-
net; man fann ibn auh durch Zuſatz kalkechter
Sorbftoffe färben, fo daB man recht angenehme
Wirkungen mit ihm hervorbringen fann. Natür-
lih ift die Haltfeftigkeit des Mörtels an Kalkſand⸗
feinen größer als an Tonziegeln, da der Mörtel
einen gleichartigen Stoff darftellt.
Heute ift der Kalffandftein infolge der Einfach⸗
heit des Materials, der fchnellen, billigen Herftel-
lung und DBielfeitigkeit der Anwendung in feinem
Urfprungslande wie in allen Erdteilen weit ver-
breitet. In Deutfchland ift ein hervorragender
Induſtriezweig entftanden, der fih in verhältnis.
mäßig furzer Zeit den Weltmarkt erobert hat und
daher ein bedeutender Wirtfchaftsfaftor geworden
ift.
Die Evolutionstheorie vor Gericht. Von Dir. Dr. Müler-Lage. R
Der „Affenprozeß“ im nordamerifanifhen Staate Ten-
neflee lenft wieder einmal die Aufmerkſamkeit auf ben
: Kampf für und wider die Entwidlungslehre, der in den
Vereinigten Staaten mit unverminderter Heftigkeit tobt.
Shen im Jahre 1923 hatte ih bei meinem Aufenthalt
in den Vereinigten Staaten — einer Werbereife für den
Keplerbund — Gelegenheit, perſönlich Einblid in diefe
Kämpfe zu nehmen, die befonders in den einzelnen Fird-
ligen Denominationen zu fchwereen Gegenſätzen zwiſchen
linken” und „rechtem“ Flügel führten, alfo zwiſchen den
nbängern der Entwidlungslehre, den „Evolutioniſten“,
und den ftreng Bibelgläubigen, den „Fundamentaliſten“.
Führer der letzteren war fhon damals W. J. Bryan,
ehemaliger Sekretär Wilfons, der presbyterianifchen Kirde
angehörig. Sein Ziel ging vor allem dahin, die Entwid.
lungslehre in den Schulen zu verbieten. Seine bedeutende
Nedegabe verfehaffte ihm eine gewaltige Anhängerſchaft, be-
fenders unter den einfadhen Leuten.
Kurz, ehe ich Amerika verließ, — Mai 1923 —, erſchien
ein Aufruf von 40 prominenten Amerifanern, die klarlegen
wellten, dag Wiſſenſchaft und Religion durhaus pu
fommengehen, alfo keine Gegenſätze feien, daB man alfo an
Gott und an die Entwidlungslehre glauben könne. Ent-
worfen war der Aufruf von dem Phyſikprofeſſor Millikan,
der Turg darauf den Mobelpreis erhielt. Unter den übrigen
Unterzeihneen war u. a. der Biſchof Manning von ber
Episcopalen Kirde; die Präfidenten der Univerfitäten Vale
und Chicago; ber Admiral Sims; der Präfident der Na-
tional Academy of Sciences; Prof. Osborn, der Leiter des
Naturgeihihtliken Mufeums u. a.
Hier eine Stelle des Aufrufs:
„Zwed diefes Aufrufs ift, irrige Auffaflungen richtig zu
ellen, die in gewiffen Kreifen zu herrſchen feinen; näm-
lich einmal die Auffaffung, daß Religion gleichbedeutend
iR mit mittelalterliher Theologie; ſodann jene, daf bie
iſſenſhaft materialiftiih und irreligiös fei.
iir Unterzeihneten bedauern febr, daf man in den
fürzlihen Kontroverfen Wilfenfhaft und Religion bat als
Gegenſãtze unverſöhnlicher Art hinſtellen wollen; beide
tragen beſtimmten geiſtigen Bedürfniſſen des Menſchen
Rechnung; fie ergänzen ſich, anſtatt ſich zu befehden.
Zweck der Wiſſenſchaft iſt es, vorurteilsfrei und unvor⸗
eingenommen die Tatſachen, Geſetze und Vorgänge der
Natur zu ergründen. Anderſeits iſt es die noch wichtigere
Aufgabe der Religion, dem Gewiſſen, den Idealen und den
höheren Gedanken des Menſchen Rechnung zu tragen.
Beide bedeuten eine lebenswichtige Betätigung des menſch⸗
lichen Geiſtes, beide ſind notwendig für das Leben, den
Fortſchritt und das Glück des Menſchengeſchlechts. Die
Wiſſenſchaft gibt uns eine erhabene Auffaſſung von Gott,
eine Auffaſſung, die im Einklang ſteht mit dem höchſten
Ideal der Religion, wenn ſie Gott darſtellt als ſich offen⸗
barend durch unzählige Menſchenalter in der Entwicklung
der Erde als Wohnſitz des Menſchen und in ber geſchlechter⸗
langen Cinflößung des Lebeng in die Materie, mit dem
Höhepunft der Entwidlung im Menfhen mit feinem Geift
und feiner gottähnlihen Magt.”
fagt dazu nun W. J. Bryan? Hören wir ihn
elbit.
„Dies Schriftſtück ift gany bejeihnend für die foge-
nannten Tiberalen.
Gewiß fann Feine Wahrheit der Bibel fhaden, —
feine Wahrheit fann das Chriftentum ſchädigen. Wir
verwahren uns nur gegen baltlofe Vermutungen, die von
MWiffenfhaftlern im Namen der MWiffenfhaft verbreitet
werden.
DBefonders verwahren wir uns gegen die Vermutung,
daß der Menſch von den Tieren abftammen fol. Wir
wenden uns beshalb dagegen, weil fie unbewiefen it und
von demoralifierender Wirkung. Sie führe den Menſchen
babin, dag er ſtatt nadh oben nad unten fchaut, um den
Schlüſſel für fein Weſen zu finden. Der Aufruf verdunfelt
das, worum es fih dreht. Wenn der Derfafler erklärt
bätte, daB die angeblih „mittelalterlihe” Theologie ehrt,
daf die Bibel wahr ift, daß Chriſtus Sohn einer Jung-
frau war, für die Sünden der Menfchen litt und von den
Toten wiederauferftand, dann bätten vielleiht einige ber
Unterzeichner ihren Namen nicht hergegeben.
Hätte er im legten Sah nit gefagt: „Gott offenbart
fih in der gefhlehterlangen Einflößung des Lebens in bie
Materie mit dem Höbepunft der Entwidlung im Men-
(hen mit feinem Geit und feiner gottäbnlihen Magt”,
234
fondern hätte er einfach gefchrieben: „wir glauben, daß ber
Menja nad feiner Abflammung ein DBlutsverwandter des
Affen oder einer anderen niederen Form des Lebens ift”,
dann Fönnten das die Leute verftehen.
Wenn die Bierzig meinen, daB der Menih dem Tier-
reih entitammt, warum laffen fie ihre hochtrabenden
Worte nicht beifeite und brauden die Sprache des Alltags,
die das Woll verfteht? Zeigen fie doch die Teile der Bibel
auf, die fie verwerfen, und.das Wolf fann verftehen, worum
der Streit geht! Die presbyterianifhe Generalverfammlung
fprah für neun Zehntel der Chriften, als fie fih erneut für
die Unfehlbarfeit der heiligen Schrift feftlegte, die jung-
fraulihe Geburt Chrifti, fein Sühnopfer und feine leibliche
Auferfiebung. Die Entwidlungslehre ift verderblih, weil
fie das Ehriftentum untergraäbt. Warum eine unbewieiene
Hypotheſe anftelle von Gottes Wort fegen?”
Auf die inneren Spaltungen — befonders in den Reihen
der presbyterianifhen und baptiftifhen ‘Denominationen —
kann bier nit eingegangen werden, wenngleih fie in dem
kirchlich überaus intereffierten Amerika großes Aufſehen
erregten, zumal einige liberale Kanzelredner von der funda-
mentaliftifhen Mehrheit gemaßregelt wurden und ibres
Amtes verluftig gingen. Als Kuriofum fei erwähnt, daß
liberale Kirchen die Entwidlungsichre im Film vor-
führten, — in ber Kirde, — mit einer höflihen Einladung
auh an W. J. Bryan.
Am ſtärkſten ift der Einfluß der Fundamentaliſten im
Süden. In Oklahoma ift es in den Etaatsihulen ver-
boten, die Entwidlungslehre im Unterriht zu bringen.
Dasfelbe gilt vom Staate Tenneflee. Jeder Lehrer in einer
flaatlihen oder vom Staate unterftüsten Schule, fo befagt
das Geſetz — der eine Theorie lehrt, „die die Geſchichte
der göttlihen Schöpfung des Menſchen leugnet, wie fie die
Bibel lehrt, und ftatt deffen den Menfhen von niederen
Lebeweſen berleitet, wird mit 100 Dollar Strafe belegt.”
Ein Zufagantrag, wonach auch die Kugelgeftalt der Erbe
zu lehren verboten fei, fand keinen Anklang in der gefeg-
gebenden Körperihaft. — In Florida empfiehlt die gefeg-
gebende Körperfhaft den Kuratoren und Ausſchüſſen ber
Säulen, teine Lehrer anzuftellen, die den Darmwinismus
lehren; ein Antrag wurde eingebradht, nah dem folde
Lehre einen Verſtoß gegen das Beleg bildet. — In Kentudy
und Teras fdeiterte das Evolutionsverbot,. das das Unter-
baus beidloffen Hatte, am Widerſtand bes Oberhaufes,
wobei in Kentucky freilih nur eine einzige Stimme ben
Ausihlag gab. In Kentudn geben die Baptiſten einer
Schule, in der die Evolutionslehre vorgetragen wird, Feinen
Zuſchuß. — In Miffiffippi, Georgia, Weftvirginien, Ar-
kanfas, Illinois, Jowa, Norddakota, Minneſota, Arizona,
Oregon, — in allen diefen Staaten find evolutionsfeindliche
Gefepesanträge eingebraht worden oder follen in kurzem
eingebradyt werden.
In Georgia wurde der Biologieprofefior der Staats-
univerfität feines Amtes enthoben, weil er fi zu der Evo-
Iutionstbeorie bekannte.
In Kanfas bat eine wütende Volksmenge vor kurzem
ein Eremplar des „Boot of Knowledge” — einer Art
„Kleiner Brockhaus“ — öffentlih verbrannt, das für bie
Bücherei der dortigen Schule angefhafft worden war und
das die Evolutionslehre erwähnte.
Die Gegner der Sundanıentaliften find in zwei Körper-
fhaften vereinigt. Dieſe Proteftorganifationen, bie alfo
in lester Linie für Freiheit der Wiffenfhaft und ibrer
Lehre kämpfen, find die American Association for the
Advancement of Science und bie Science League of
America, legtere Auguft 1924 von Maynard Ehipley ge-
gründet.
Die Evolutionstheorie vor Gericht.
Bei dem jüngſten „Affenprozeß“ nun handelt es ſich
weniger um den Tehrer Jobn Scopes aus Dayton, Ten-
neflee, der im naturgeihichtlihen Unterricht die Entwid-
Iungslehre erwähnte, als vielmehr darum, feftzuftellen, ob
das Geſetz, das foldes verbietet, überhaupt verfaffungs-
mäßig zuläffig ift. Die Eleine Stadt Dayton ift über
Nacht berühmt geworden und hat auch ſchleunigſt daraus
Kapital geihlagen; ein Leben und Treiben entwidelte fi
dort, als gäbe es Luther auf dem Meihstage in Worms
su fehen. Eine eigens angebradte Radioſtation ermög-
lihte eg dem ganzen Lande, den Prozeß mit anzuhören.
Den herzlich unbedeutenden Herrn Scopes verteidigten
Ameritas berühmtefte Rechtsanwälte, — er fol ſich fogar
an den englifhen Schriftſteller H. G. Wells mit der Bitte
um Verteidigung gewandt haben; während W. J. Bryan
die Behörden von Tenneflee auf der Gegenfeite unterftügte.
Als Sachverftändiger, der den Geſchworenen die Eyo-
Iutionstheorie erflären follte, fungierte Prof. Metcalfe, Bio-
loge an ber Johns⸗Hopkins⸗Univerſität, Baltimore.
©. ift ſchließlich doch zu 100 Dollars Geldfirafe ver-
urteilt worden; man hat freilih ſchon 10000 Dollars für
ihn gefammelt! Die Verteidigung bat zudem Mevifion ein-
gelegt, ber aber wahrſcheinlich nicht ftattgegeben wird. Der
Kampf geht trogdem weiter. Bryan allerdings wird nicht
mehr dabei fein, denn er ift plötzlich verftorben.
Nachwort: Die vorfiehenden Ausführungen unferes
verehrten Bundesfreundes und geihäftsführenden Direftors
Dr. Müller -Lage find leider durh ein Verſehen nur
in die Auguftnummer des „Naturfreund“ gelommen; fie
folten auh in „Unfere Welt” erfheinen. ch darf aber
wohl annehmen, daß fie auh in ber vorliegenden Sep-
tembernummer nod intereflieren. Wie ih zu der Sahe
felber ftebe, bedarf für die Lefer von „LUniere Welt” wohl
feiner Darlegung mehr. Von Intereſſe für uns Deutide
ift ganz befonders die Frage, ob aud bei uns in ber
deutfhen Demokratie Ausfihten für eine folge Rückkehr
zu mittelalterlihden Methoden beftebt. Es gilt dem deut-
foen Spießbürger ebenfowohl wie dem fozialiftiihen Ar-
beiter befanntlih als Glaubensſatz, dag monardifhes Re-
Himent und. kulturelle Reaktion einerfeits,.. demokratiſche
Verfaſſung und Geiftesfreiheit andererfeits fozufagen not-
wendig zufammengebörige Dinge feien. Seit den Zeiten
der fogenannten Meftauration in der erften Hälfte des ver-
gangenen Jahrhunderts ift diefer Glaubensfag faft un-
unerfhüttert geweien. Das Beifpiel Amerikas zeigt, wie
es damit tatfählih ſteht. Ih Hoffe, demnähft Zeit und
Gelegenheit zu einer ausführlideren Unterfuhung der eben
aufgeworfenen Frage zu finden. Worläufig nur dies: Die
Ausfiht, daß über fur} oder lang aud bei ung einmal eine
äbnlihe Knebelung der Tehrfreibeit fih durch Volksabſtim⸗
mung durdfesen Fönnte, it m. E. nicht fo gering, wie man
zumeift glaubt. Wenn es, worauf mange Zeichen bin-
deuten, in Bälde dazu kommen follte, daß unfere Arbeiter-
ſchaft in größerer Zahl fih wieder der Religion, und zwar
dann nicht der bisherigen Kirche, fondern Selten mit anti-
kapitaliſtiſchem Einſchlag zuwenden follte (wie denn z. B. in
Rußland bereits eine derartige neue „lebendige Kirche” mit
Unterftüsung der Sowjets gedeiht), fo wird auch in Deutid-
land, und zwar gerade wegen bes bemofratifhen Megimes
vieles möglid fein, was man jeßt noh weit von ber Hand
weit. — Soviel it fider: Der Glaube, daß allein bie
Demofratie den Kulturfortihritt garantiere, hat einen argen
Stoß erlitten. Bavink.
Kleine ‘Beiträge.
Archive der Pflanzengeichichte
tann man die Moore nennen. Wie eine alie Stadt in
ihren Arhiv die Dokumente ibrer Geſchichte aufbewahrt,
io birqat ein Moor die Zeugnifte für die Pflanzengeſchichte
einer Gegend. Diele Dokumente find die abgeitorbenen
Baume und Pflanzen, die im Moor, vom Kauerftoff der
Cuit abgeihnitten, die Jahrtauſende uberdauern, und der
Blütenſtaub der Bäume, die einft die Gegend befiedelten.
Dem jogar der Blütenftaub bleibt erbalten. Der
Regen von Blütenſtaub, der allfenımerlih auf den Wald-
boden niederriefelte, wird vom Moor in treue Obhut ge
nemmen und barrt in feinen verihiedenen Schichten des
Forſchers. Der Forſcher entnimmt dem Moore Boden-
zroben aus verfchiedenen Tiefen und unterjucht fie mikro—
ſtoriſch. Und da der Dlütenftaub eines reden Baumes
icine eigene, nur dieſer Baumart zufommende orm bai,
tann er aus der prozentualen Haufigkeit einer beitinnmten
Blütenſtaubart in einer Moorihiht auf die Haufigkrit
des Vorkommens diefes Baumes jhliehen und aus Dem
Webjet der Arten in den veridiedenen übereinanderlirgen-
den Schichten auf die wechſelnde Waldzuſammenſetzung in
den aufeinanderfolgenden Zeiten. Dieſe Arbeitsweiie, die
man Pollenanalpfe Unterfuhung des Blüten-
ttaubes nennt, it als zuverläſſig erprobt worden. Sie bat
bereits zablreihe bemerkenswerte Ergebniffe gezeitigt. So
hat Starf feltgeftellt, daß dert, wo beute im Echmwary-
wald Die boben Fichten ihre dufteren Schatten werfen, in
einem auf die Eiszeit folgenden Zeitabihnitt nur Kiefern,
Werde und Hafelfträuder vorfamen. Darauf muß wieder
eins warmere Zeit gefolgt iein — wieder, denn der Cis-
seit geht eine Heißgeit voraus —, in der an Etelle der
bentigen Fichten Linden und Eichen den Wald des
„Schwarz“waldes qufammenfesten. And für die Dftalyen
ergaben Moorforihungen das zeitweilige Vorkommen von
Buchen in der Höhe von 1990 Metern, einer Höbe, in
ser man beute keine Buchen mehr finder. Alles das Fann
der Forſcher aus den im Archiv des Moores aufbewahrten
Dokumenten leſen. L. Linden.
Vom Grauwerden des Holzes.
Aeltere Pfähle, Planken, Schindeln, Scheunen und
Hütten aus Holz nehmen manchmal nah längerer Zeit eine
ihöne filbergraue Kurbung an, beionders wenn ce fid um
Kichten- oder Kiefernholz bandelt. So eryablt aud Doflem
in jeiner OÖftafienfahrt, tak die Holzbauten der Japaner
Naturwiſſ enſchaftliche und
a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaſten.
Dice zuerſt mit großem Aufſehen aufgenommene, dann
ra angegriffene und vielfach verſſorieie Madridi von der
Verwondlung dcs Queckſilbers in Cold durch die Ein
wirkung elektriſcher Entladungen ſcheint ſich nun doch zu
beſtärigen. Die beiten Forſher Wireibe und Stammi—
reich in Berlin, Die aut der Zunsbrucker Naturforſcher
verſammlung ziemlich ſchlecht abgeſchnilten batien, vers
cifentlichen jest (Natfurwiſſenſchaften Mr. 20) neue aus
ſuhrlichere DBeobadtungen vber de Bedingungen, mier
denen Die Umwandlung cinten. Miere macht qam pra
yic Angaben darüber, jo dak Me game Zade durchaus
den Eindruck made als ob nad den angegebenen Vor-
I@.inen jeder mit den geeigneten Appaäraten unter gleichen
Dedingungen die gleichen Reſultate erbalten wird. Außer
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
einen wunderbar feinen ſilbergrauen Ton in die Landſchaft
bringen. Es erſcheint nicht ausgeſchloſſen, da hier im
beiden Fallen dieſelbe Urſache zugrunde liegt. M. Mö-
bius (Beridt der Deutſchen Botaniſchen Geſellſchaft,
Bd. 42, H. 2) unterfuhte beimifhes Holz und fand auf
mikroſkopiſchen Schnitten, daß das Holz außen zunächſt
aus etwa fünf Lagen von Holzzellen (Traheiden) mit gan;
farblofen Wänden beftand. m dem Jnnern der Zellen
aber befanden fidh regelmäßig Zellgruppen eines rußtau—
artigen Pilzes. Die nun folgende etwa doprelt fo ſtarlke
Schicht feste fid zufammen aus Tracheiden mit braungelb
gefärbten Wänden. Hier fanden fih niemals Pilze. Der
beobachtete Pily beitebt aus einem fadenfürmigen Lager
0,003 — 0,004 Millimeter dider Zellen. Die Fäden liegen
oft ineinandergefrümmt als Ballen in den langgeitredten
Holziellen.. Die Membranen der Pilzzellen find umbra-
braun gefärbt. Wie kommt aber nun die filbergraue Far—
bung auftande? Unterſuchungen an der grauen Rinde der
Motbube und des DBergaborns, an der glänzend grauen
Sumenoberflide von Caesalpina Bonduc, an der Jar-
benerfheinung beim Tintenpilz (Coprinus) haben gezeigt,
daß die graue Farbe im Pflanzenreih vielfah dadurd er-
zeugt wird, daß eine farblofe durchſcheinende (nit durd
fihtige) Schicht auf einem dunklen Hintergrund (fog. Tape
tum) liegt. So beftebt die Rinde der Rotbuche aufen
aus abaeftorbenen, leeren Korkzellen mit farblofen. Wän-
den und Lufträumen dazwiſchen, die alfo die durchſcheinende
Schicht bilden. Dahinter liegen Korkzellen mit rotgelbem
Inhalt und die grünen Mindenzellen, die als dunkles Tace
tum wirfen. Auch der Rand des Hutes vom Tinten, ih
erbält fein filbergraues Ausfeben, weil die dunkelbraunen
Sporen durd die dünne, mit Lufträume durchſetzte Hut
ſchicht hindurchſcheinen. Aehnlich verhält es fid nun mit
der grauen Farbe des Holzes. Obwohl der Pilz von umbra.
brauner Farbe ift, wirken die Kolonien als dunkler Hinter-
grund und die farbloſen Holzzellen als durchſcheinende
Schicht, fo daß nidts mebr von dem Braun zu erfennen
ift, fondern ein grauer Ton zuftande kommt. Man tann
künſtlich ahnlice WBerbältniffe idaffen, wenn man z3. 2.
die dunklen Sporen des Tintenyilzes auf qummiertes, an:
gefeuchtetes Papier fein verftreut aufträgt. Beim Trodnen
it das Papier dann nit brann, fondern grau gefärbt.
Albert Pietie.
®
dem gibt aber Profeflor Magaoka in Tokio, der be-
deutendſte javaniſche Phyſiker, in Mr. 31 der leihen Zeit
ſchrift ebenfalls febr genaue Mitteilungen über das gleiche
Ergebnis. Er bat das Gold dadurch nachgewieſen, dak
er eg ın Me Glaswand des Gefaſßes einſchmolz. Ks ent:
ſteht dann eine darafteriftiibe roie Farbung, Die von Pob
loidalem Gold berrübrt und dieſes laki nb unter Dem
Mitreitep in eingelnen Eleinen Teilchen nachweiſen. Mad
dieſen Mitteilungen darf man wohl faum mebr aweifeln,
Bay: der alte Alchymiſtentraum tatlachlih durd die moderne
Phpſik und Chemie verwirklicht iſt. Miethe wirft idon
die weiterſuhrende Frage anf, welches Iſotop des Queck—
ſeibers die Umwandlung in Hold erleidet. Einſtweilen iſt
dieſe Frage nod nicht ſpruchreif.
Eine vortreffliche klare Darſtellung der Gründe für das
236
periodifche Syſtem, die fi aus ber modernen Atomtheorie
ergeben, gibt Landé in Mr. 27 der Naturwiſſenſchaften.
Warum bat das pyeriodifhe Syftem die
Deriodenlängen 2, 8, 8, 18, 18, 32?) Jn ber
Sauptfahe find es die Bohrſchen Ideen über die Haupt-
und Mebenquantenzahlen, auf die er fih ftüßt, doh gelingt
es ihm in febr einfaher Weile, das Wefentlihe daran von
allem unnötigen Beiwerk befreit berauszuftellen, jo daß
aud der weniger Eingeweibte fih ein gutes Bild maden
fann. í
Zur Melativitätstheorie liegen einige intereflante neue
Beiträge vor. Tomaſchek (Annalen der Phyſik 74,
136; Phyſikaliſche Berichte 14, 944) bat eine ausführ-
lihe Unterfuhung über die Bedeutung der Aberration für
die Melativitätstheorie angeftellt, die zu dem Ergebnis
fommt, daß diefelbe fid dodh im ganzen nur ſchwer mit
der Melativitätstheorie in Einflang bringen läßt. An—
dererfeits bat Raluza (Phnfilaliihe Zeitfhrift 25, 604;
Pyſikaliſche Berichte 14, 947) gegenüber einem febr oft
gegen die Melativitätstbeorie ing Feld geführten Einwand
gezeigt, daB man die Definition der Gleichzeitigkeit aud
ohne die Bevorzugung eines fpeziellen phyſikaliſchen Bor-
ganges, nämlih der Tichtausbreitung, geben Fönne, wenn
man niht zwei, fondern drei gegeneinander bewegte Syſteme
der Betrachtung zugrunde legt. Zum Schluß muß dann
freilich zur Entfheidung zwiſchen zwei möglichen Källen
doch wieder das Lidt herangezogen werden, was ja aud
jelbftverftändlih ift, da in den Formeln der Melativitäts:
theorie eben die Lich t gefhwindigfeit eine fundamentale
Rolle fpielt. Ueber die geunbfäglihen ragen der Zeit-
mefjung hat Vogtherr eine Unterfuhung in der Phy-
ſikaliſchen Zeitihrift 25, 609 (Phyſikaliſche Berichte 14,
947) angeftellt. Er kommt zum Ergebnis, daß eine ab-
folute Meffung der Gleichzeitigkeit auf Grund des fog.
Artioms der identifhben Veränderungen
möglih fei, und daß alle fheinbar nötige Willtür in der
Beftimmung der Gleichzeitigkeit entfernter Ereigniffe auf
falfhen Borftellungen von dem Zufammenbange der Er-
eigniffe oder auf der Unvolltommenbeit unferer praktiſchen
Hilfsmittel, nicht jedoh auf grundfäßlihen Unvolltommen-
heiten des Verſtandes und der benusten Zeitariome be-
rube. Diefen der Melativitätstbeorie entgegengefeßten
Standpunft babe ich früher auh eingenommen; es ift mir
aber zweifelhaft, ob er ſich angefihts der neueren Unter-
fuhungen beionders Reichenbachs aufreht erhalten
läßt.
Sehr intereffant ift eine Arbeit von Maneff über
„Die Gravitation und das Prinzip der Wirkung und
Gegenwirkung“ (Zeitihrift für Phyſik 31, 786; Phnfita-
liſche Berichte 14, 950). M. entwidelt auf Grund einer
Nethberabfoluttrbeorie unter Hinzuziehung des
Prinzips von der Trägheit der Energie und
tes Einfteinfben Aequivalenz - Prinzips
(träge — ſchwere Mafie) eine Theorie der Fortpflanzung
von Oravitationsfeldftörungen. eine Formeln ergeben
dann, in Reiben entwidelt, als zweite Näherung die der
ſpeziellen Relativitätstheorie. Sowohl die Lichtablenkung
wie die Peribeldrehung erſcheinen in dieſer Theorie mit
dem richtinen Betrage; fhließlih Führt fie zu merkwürdi—
aen Eosmologiihen Solgerungen: die Yichtgeichwindigfeit
wählt vom Miiielpunts der Welt — die Welt bat bei WM.
einen „naturlichen Mittelvunkt“ — nah außen bin ing
Unendlibe. An der Grenzfläche, die im Endliben liegen
fann, wird jede Bewegung abgebremit, fo daß der Welt
feine Maffe verloren geben tann.
Eine Beziehung zwiſchen den univerjellen Konftanten
der Phpſik, dem Planckſchen Quantum, der Lichtgeſchwin-
digkeit, der Gravitationskonſtante, der Klektronenladung
Naturwiffenihaftlihe und _naturphilofopbifhe Umſchau
und fo weiter verfuht Rice (Phil. Mag. 49, 457;
Phyſikaliſche Berichte 14, 945) zu finden. Er gelangt
ihließlih zu der Gleichung Re — a
gae?” in welder
R den Krümmungsradius ber Einfteinihen Welt, r den
elektrifhen, o den Gravitationsradius bes Elektrons, h, c
und e die befannten Bedeutungen haben. Hieraus be:
rechnet er R zu etwa einer Billion Parfet. (1 Parfef. if
die Entfernung eines Sternes, deffen Parallare gleih einer
Minfelfelunde fein würde, d. b. von dem aus gefehen die
Erdbahn unter einem Winkel von einer Sekunde erfheinen
würde. Diefe Entfernung beträgt ungefähr 30,7 Bil-
lionen Kilometer oder etwas mehr als drei Lichtjahre. Der
von R. berehnete Weltradius betrüge demnach einige
Duadrillionen Kilometer).
Brufh glaubt (Proc. Amer. Phil. Soc. 63, 57; Phbyj.
Berihte 13, 887) eine Veränderlichkeit des Verhältniſſes
von träger zu ſchwerer Mafe durch Fallverſuche nad.
gewiefen zu baben. Die Stoffe mit größtem Atomgewidt
und größter Dichtigkeit follten rafher fallen (natürlih im
leeren Raum!) als die leichteren. Die Ergebniffe feinen
nah dem Berichte noh febr mit Vorfiht aufzunehmen zu
fein.
Eguchi bat die zuerft von Heaviſide mitgeteilten
merfwürdigen Eigenſchaften total durdeleltrifierter Iſola⸗
toren näher unterfuht (Phil. Mag. 49, 178, Phyſ. Ber.
14, 969). Man erhält folde, im ganzen Wolumen, niht
nur auf der Oberflähe eleftrifierte Maflen, wenn man
raffende Mifhungen, 3. B. von Wachs und Harz, während
des Erftarrens der Einwirkung eines Fräftigen äußeren
eleftrifhen Feldes ausfegt. Die fo erhaltenen Ladungen find
ungefähr fo ftart wie die durh Reibung zu erbaltenvden,
fönnen aber durdh Feines der gebräudlihen Mittel, wie
4. B. Flammengafe, zum dauernden Verſchwinden gebracht
werden, fondern ftellen fi immer wieder ber. Die vom
Verfaſſer unterfuhten Präparate paben ibre Ladungen
ihen mehr ale drei Jahre unverändert behalten. Diefe
DVerfuhe verdienen in weiteren SKreifen nachgemacht zu
werden. Es laffen fih vielleiht mit folgen dauernd
„volumelektrifierten” Körpern viele wertvolle Verſuchs
onordnungen ausführen.
Ein anderer Engländer, Wall, pat (Nature 114,
898; Phyſ. Ber. 13, 914) Magnetfelder von bisher un:
befannter Intenſität, allerdings nur für febr furze Zeit,
erzeugt, indem er bie Entladung eines großen Kondenfators
über eine kurze Spule geben ließ. Er maß die erzeugten
Selder auf über eine Million Gaup und beifı,
bei weiterer Dervollfommnung der Methode auf zebn
Millionen Gauß zu fommen. Es gelang ibm fon, eine
wichtige. Feſtſtellung über die Wirkung folber boben Felder
zu machen: Eifen, das in ein foldes Feld gebraht worden
it, muß nah gewiſſen Theorien feine magnetiihen Eigen:
haften ändern. Das ift tatfählih der Fall.
b) Biologie.
Roggen oder Weizen? Grob- oder Feinbrot? So fragt
der befannte Ernährungsphyfiologe Mar Rubner in einem
Aufſatz in Heft 30 der „Naturwiſſenſchaften“, der trog der
Autorität des Verfaſſers in einzelnen Teilen wob! bie und
da auf Widerſpruch ſtoßen wird. Weizen, antwortet er auf
die erite Frage, wo immer es Hoden und Klima geftatten,
it Weizen angubauen, denn die gleihe Bodenfläche liefert,
mit Weizen bebaut, bedeutend mebr verbaulihe Stoffe, vor
altem Eiweiß, als mit Roggen bebaut. Die zweite Trage
angebend, ergaben neuere Alnterfuhungen, zum Zeil in Be-
ſtatigung fruberer, daß Brot um ſo ſchwerer verdaulich ift,
je mebr Kleie eg entbielt, d. b. nit nur, daß bei Grobbrot
verbaltnismaßig weniger Stoffe verdaut werden, fondern
auch, daß der Korper durd flürfere Veanſpruchung von
Verdauungsfäften mehr belaftet wird. Grobbrot fann da-
ber nur als DBallaft für den Darm zur Förderung des
Stublganges von Nusen fein; dasjelbe aber leiſtet aud
Obft und Gemüfe. (?) Wor allem redet Rubner einer fad-
gemäßen Schälung das Wort, da der Fleine dabei ent-
ftiebende Verluſt an Mahrungsbeftandteilen aufgehoben
werde durd die fo erzielte größere Verdaulichkeit. Auh
der größere Aichengehalt gibt dem Kleienbrot Feinen Bor-
jug vor anderm. Der Unterfhied im Salzgewinn bei Ge-
nuß von Kleiebrot und anderm Brot ift nur gering, wie
aud überhaupt die Bedeutung des Brotes für uniere Her-
forgung mit Saken überfhäßt wird. Vitamine liefert
Brot unferm Körper überhaupt niht, mag es num Kleie
enthalten oder nicht. Auf Mubners Anregung find endlich
Verſuche angeftellt worden zum Wergleih der bei völliger
Ausmablung des Korns einerfeits und bei geringerer Aus
mablung und Derfütterung der Kleie andererfeits gewonne:
nen Geſamtnährwerte. Sie ergaben: zwar geben, je mwe-
niger das Brot -ausgemahlen wird, defto mehr Nahrungs—
ftoffe für die Verdauung verloren, defto mehr aber werden
in Geftalt von Fleiſch und Fett in der Tierzucht durch Maſt
mit Kleie gewonnen. Don diefem Standpunkte aus alfo
wäre eg gleich, wie man die Kleie verwertet. Berückſichtigt
man aber die größere Verdaulichfeit des Feinbrotes und den
der notwendigen Abwechſlung in der Koft zu gute fom-
menden : Sleifhgewinn, fo it die ſchwächere Ausmahlung
vorzuziehen.
Gibt es eine Ameiſenmimikry? — Mein, fagt Fran;
Heikertinger, befannt durd die „Abſchlachtung“ fo
manches vermeintliben Mimikryfalles, denn gerade Ameiſen
bilden die Hauptnahrung der Inſektenfreſſer, wie follte es
alfo eine gegen Inſektenfreſſer ſchützende Ameiſenähnlichkeit
geben? Und nur bei Nachäffung von Warntrachten Fann
— barin folge Heifertinger der Begriffsbeftimmung
von Wallace — von Mimikry die Rede fein. Das
aber beftreitet der Jeſuitenpater Erid Wasmann,
der der Verfaſſer zablreiher Arbeiten über die als Ameifen-
aäfte befannten Käfer. Weshalb follte man niht aud die
Mahäffung der Ameifen durd ibre Gäfte, die dadurd vor
dem Gefreffenwerden durch die Ameifen felbft geſchützt wer-
den, Mimikry nennen? Wozu dafür einen anderen Aus-
drud (Mimefe) gebrauben, wie Heifertinger es tut!
Aber nah Heifertinger muß man unterfheiden zwifhen dem
Zweck der Mahäffung; „will der Nachahmer auffallen,
jo liegt Mimikry, will er unter andern Tieren verfhwinden,
* Neue Literatur.
237
io liegt Mimefe vor wie im Falle der Ameifengäfte (Biol.
Gentralblatt 25, 5). Wasmann erbalt einen DBundes-
genoffen in Neihensperger, der in dem genannten
Heft ebenfalls den Wasmannihen Standpunkt vertritt. —
Ein Streit um Worte? — Vielleicht. Immerhin, wenn
aug Mimefe ein ähnliches Problem it wie die Mimikry
im ftrengen Sinne Heifertingers; gerade beim
Mimifrnproblem fann es nur nügen, wenn man den Be-
griff möglihft eng faßt und lieber noh einen zweiten ein-
führt, um dann beide gefondert zu unterſuchen.
Die Bergmannſche Regel bebandelt Ridhard Heſſe
in Heft 31 der „Naturwiſſenſchaften“. Mach diefer Regel
nimmt die Körpergröße eigenwarmer Tiere derjelben Art
yu, wenn man von wärmeren zu Fälteren Gebieten übergeht.
Heije belegt die Regel mit zablreihen DBeifpielen. Die
Bedeutung der merfwürdigen Erſcheinung für die Tiere be-
ruht darauf, daß die Körperoberfläbe im Verhältnis zur
Körvermaffe um fo Fleiner ift, je größer das Tier ift. Defto
Feiner ift alfo die Wärmenbgabe an die Umgebung. Zu
erflären ift diefe Anpaſſung wabhrſcheinlich durd) unter dem
Einfluß der Kälte erfolgende Verſpätung der Geſchlechts—
reife und damit des Alterns, alfo infoweit eine durd die
Umwelt verurfahte Anpaffung, deren Mugen nur ein zu-
falliger Begleitumſtand ift.
Albert Naef äußert fid in Heft 33 der Matur:
wiſſenſchaften“ 1925 zum Menſchenaffen von Taungs. Er
zählt die Merfmale auf, die den Australopithecus afri-
canus bedeutend menihenäbnliher eriheinen laffen wie die
heutigen Menfbenaffen. Demgegenüber ftebt freilich, dafi
der Gorilla in der Mafenbildung den Australopithecus
an Menihenähnlichkeit übertrifft. Wäre daher der Men-
ihenaffe von Taungs ein ſtammesgeſchichtliches Zwiſchen—
glied zwiihen Menfhenaffen und Menih, fo müßte er für
einftweilen die menſchenähnliche Maienbildung des Gorilla,
die fiber uriprünglic ift, aufgegeben haben, was niht wahr-
iheinlih ift bei einem Vorfahren des Menfhen, um fo
weniger, als alles dafür fpricht, daß die Menihenaffen
rüber menihenäbnliher waren wie heute. Daber vertritt
Naef die Anfiht, daß es fih bei dem Fund von Taungs
um einen Menfhenaffen handelt, der dem gemeinfamen
Vorfahr von Menihen und heutigen Menihenaffen ähn—
liher geblieben ift als diefe, vor allen Dingen in der
Bildung des Gehirns und der aufrehten Gangart.
Dr. Wilbelm Müller, Gottentfaltung, die wer-
dende Weltanjbauung und Religion. Verlag ob. Ewid,
Duisburg, 1925. Aufgeregte Zeiten wie die beufigen find
allen fpefulativen Deutungen und Umbdeutungen religiöfer
Probleme befonders geneigt. Es ift eine pſychologiſch febr
intereflante Tatſache, daß die Blütezeit der fog. „occulten“
Wiffenihaften faft immer mit großen geiftigen Krifen zu-
lammenfällt. Der innerlich baltlos gewordene Menih ſucht
auf allen nur möglihen Wegen eine Antwort auf die ihn
—— — =] i
— I
Ph —— x >, DE nn — m
— ——— ——æ
Sa — u
= Ki
— — —
— ——
quälenden Fragen; das war gegen Ende der alten Welt
genau ſo wie in unſeren Tagen. Genau wie damals teilt
ſich die Strömung in eine rein materialiſtiſche Richtung,
die mit den gröbſten und äußerlichſten Mitteln arbeitet,
und eine, ich möchte ſagen, religiöſe Richtung, welche eine
„Erneuerung“ der alten religiöſen Vorſtellungen erſtrebt
— natürlich mit entſprechenden Umdeutungen. Zur leg-
teren Richtung gehört auh das oben angezeigte Buch.
Sympathiſch berührt die ehrliche Begeiſterung und der Hobe
238
firtlihe Standpunkt, den der Werfafler einnimmt; man
ſpurt dem Buche die Zuverſichtlichkeit und ben reinen
Wilen zum Beſſermachen an, die immer für fib ein
nehmen. Aber all das darf uns dod nicht hindern, das
Gedantengefüge des Buches einmal Pritifh zu unterſuchen.
Ta zeigt fib dann freilih, dag alle nod fo ehrlide Be
geifterung und reiner Wille nod) Feine Grundlage für eine
neuc” Religion abgeben Eönnen. Wenn der DBerfaifer
(©. 53) betont, daß feine Gottentialtungslehre jedes rein
irefulative Pbilofopbieren ablehnt, dann befindet er fid
in einer großen Celbfttäufhung. Seine ganze Lebre ift
ein feltfames Gemiſch von Elementen der Gnofis (S. 57ff.),
des Ehriftentums, der modernen” Entwidlungslehre, die
er zu einer neuen (der Gnoſis freilid auch ſchon bekannten)
Lehre aufammenballt, die an fpefulativer Pbantaftit (Lebre
von der Weltfhwangerfhaft uiw. S. 57) ziemlich alles
hinter fib läßt, was der Verfaſſer ale „ſpekulative Philo-
ſophie“ abtut. Die Lebre von ber ftetinen Emvorentiwid-
lung der Menfhbeit it fo oft fhon verkündet und cbenio
oft ſchon widerlegt, daß es fid nicht lohnt, auf fie einzu:
geben. Bei dem Verfaſſer leidet fie zudem daran, daf
er Kultur und Zivilifation einfadh durcheinander wirft und
alle Fortichritte der Technik als Fortihritte der Menid-
beit angeſehen wiffen will (S. 28). Geradezu verblüfft
bat mid aber, ih muß es ehrlich augeftcben, die Lebre von
der „Sottentfaltung‘. Das von Haedel aufgeftellte bio
gnetifhe Grundgeſetz (dem Verfaſſer fcheinen die Schriften
von Oscar Hertwig und anderen unbekannt au fein), ein
rein naturwiflenihaftlihes Geſetz aljo! (über defen Allge—
meingültigkeit dod) zum mindeften leife
find) dient dazu, um die kühnſten metapbnfiiben Kolgerun-
gen daraus abzuleiten und einen Neuplatonismus (S. 37)
zu fonftruieren, der die dee des Meſſias unterbauen foll.
Was der Verfaffer fih unter dem Cbriftentum vorfiellt,
it eine völlige Verzerrung (S. 55:59) defen, was Chriften:
tum eigentlih ift; dann ift der Kampf natürlih leidt —
nur überzeugt er eben nicht. Was der Verfafler dann zum
Schluß (mit glübender und bildreiher Beredſamkeit) über
das neue Gottesideal zu fagen weiß, dag klingt zwar alles
febr ſchön, — aber: was denn nun die neuen Prrpbeten
fagen follen, wie denn der neue Schulunterricht fein foll,
tag wird verihwiegen. Manchmal bat man den Eindruck,
als müßten feine Sendboten erf febr genau die modernen
Naturwiſſenſchaften ftudiert baben, verlangt er doch von
den Pfarrern feiner neuen Lehre die Kenntnis — und war
eine recht genaue — der Aftronomie, Chemie, Phyſik,
Zoologie, Botanik, Biologie, Anthropologie, Raſſenhpgiene
uſw. ufm., nur die Kenntnis der religiofen und Welt:
anfhauungsfragen wird bezeichnenderweiſe nid t verlangt!
Gerade die legten Ausführungen des Verfaſſers legen dem
unbefangenen Lefer die Vermutung nabe, ale ob er, der
Haeckel febr bod ſchatzt, um des Kontrates willen das
Chriſtentum in möglichſt dunklen Karben malt (er ver
wedielt, um ned dies eben zu fagen, eigentlich dauernd die
hiſtoriſche Eribeinungsterm des Chriſtentums, genannt
„Kirche“, und die Lehren der Evangelien, mit denen freilich
die hiſtoriſche Kirde oft nur wenig zu tun bat). Go
fonnen wir das Buch wohl als Zeitdokument und ale
Zeiden cines ebrliden Ringens un neue Guter werten,
— aber eine umſtürzende und weltungertaltende Jat ver:
megen wir wabrbarftig mit in ibm au erbliden. Dazu iſt
das Ganze gu unklar, viel au febr vor naturwiſſenſchaft.
lichen Tagesſtromungen abhangig — im beten Falle eine
Geheimlehre für wiſſenſchaftlich Gebildete.
Bru, Verkappte Religionen. Perthes, Gotha, 1024.
(SO S., SOLR) Eſperanto, Uebermenſchen, Pſychvang—
lvſe, Weltfriedensbewegung, Shakeſpeare iſt ‘Bacon, Er:
preſſioniesmus, — überhaupt alle agmen, und als Das große
Neue Literatur.
Zweifel erlaubt
MWarenbaus aller möglihen Bewegungen: die Anthropo-
ſophie, das find fo einige der Etrömungen, mit denen der
Verfaffer als verfappten Religionen abrehnet. Religion
iagt nah ibm: Der legte Sinn des Dajeins liegt jenjeits
deines Lebeng, liegt über deinem Leben. Verkappte Me-
ligion ſucht hinter dem gemwöhnliden Leben etwas Ber-
borgenes, dem zum iege in der gewöhnliden Welt zu
verhelfen ibr Ziel it. Die verfappten Religionen find alle
von diefer Welt, fint praftifh, wollen mit dem von ihnen
angepriefenen Alheilmittel einen neuen Sinn der ganzen
Welt erihließen. Es handelt fih nicht um Schwindel, —
dann wären es verhältnismäßig harmlofe Dinge, — fon-
dern die monomanifhe Weberzeugung von der welterlöfen-
den Kraft it das Schlimme; alles fiebt der Betreffende
nur nob im Lichte feiner Monomanie. Elephantiasis
religiosa oder philosophica nennt B. diefe Sucht, die
gerade in unferer Zeit fo graffiert, in der aud der be-
fheidenfte Gedanke prompt zur Weltanfhauung verwäſſert
wird. Mit Eöftliher, berzerfriifhender Ironie gebt der
Verfaſſer all folden verkappten Religionen zu Leibe. Eeine
Sammlung ließe fih übrigens nob um mandes Eremplar
vermebren. Ich nenne nur eines: die Welteislehre.
W. Hohgreve, Familie Borfig. Ein Tier- und
Jagdbuch. E. Haberland, Leipzig. (205 ©., in Ganslein-
band, 6,50 H.) Der Derfafler ift der deutſchen Lejer-
welt fein Anbefannter mehr. Man bat den — freili
ihon reihlih banalen — Vergleich mit Löns gezogen. Ein
Meifter jagdlicher Schilderungskunſt, vereint er in dem
neuen Buch 35 prächtige Natur- und agdbilder, von denen
eine — „Schneehals“ — puert in den Spalten diefer Zeit-
ſchrift erſchienen ift („Maturfreund‘ 1925, Mr. 1). Ein
Haud der Matur durchweht fie ale. Wir empfehlen das
Bud allen Maturfreunden und Jagdliebhabern.
Earl Erörmer, Aus den Tiefen des Weltenraunes
his ins innere der Atome (Leipzig, ‘Brodbaus, 1925, 195
S., 65 Abbildungen, geb. 6 .H). Dies Werken, — die
Bearbeitung eines norwegiihen Budes für die deutſche
Veferwelt durd den Leipziger Aftronomen Dr. Weber —
füllt eine wirflide Lüde aus. Denn es feblte bisher cin
ſolches Buch, durd weldes der Laie fid in die Geheimniſſe
des unendlih Grofen wie des unendlib Kleinen — bie
Munderwelt der Sterne und die der Atome — fo mübe-
los einführen laffen Fonnte. Es it von Anfang bie Enbe
feſſelnd geſchrieben und ift um fo anichender, als die Aue.
ſtattung fo it, wie man eg von einem Werte des Brod-
haueſchen Verlags nun einmal gewohnt ift. Gerade unfere
Leſer dürften Freude an dem Bändchen baben. Fragen,
die auch wir bebandelten, wie die nah dem Weſen des
Nordlichts (die Vegardſchen Verſuche!), nah dem Alter
der Erde, den Nerberfhwingungen, dem nnern der Atome,
— Keribungen über die Miefenfterne und die Möntgen-
ſtrahlen, — alles it bier dem nenen Stande ber Fer-
idung entſprechend gemeinverſtändlich behandelt. —tt.
H. Andre, Der Weſensunterſchied von Pflanze, Tier
und Mensch, sine moderne Darftellung der Lebensitufen im
Geiſte Thomas von Aquins. H. Kranihfeld, Das
teleologiiche Prinzip in der biologischen Forſchung. Br. 1
und Bd, 3 der von André berausgegebenen „Bücher der
penen Biolegie und Anthropologie”. (Verlag Franke,
Habelſchwert. 1,80 IM bew. 1,95 4.) Dieſe beiden
Buder muen fammen beſprochen werden, da fie midi
nur, vom naturphiloſophiſchen Geſichtsvunkte aus geſehen,
ziemlich in die gleiche Richtung werten, jondern aud tbr
gleichzeitiges Erſcheinen in derſelben Sammlung eines der
am meten fur unſere Zeit charakteriſtiſchen Syomptome
darſtelli, das noch aufſallend wird, wenn man die beiden
Einleitungen lieſt, welde André und der befannie
ö— — — — — — —— u — —
Ameijenforfher- und Jeſuitenpate Wasmann dem
Kranihfeldiben Buche voranididen.. Kranichfeld,
der evangeliiher Konfiitorialprafident im Königreih Sah.
fen war und zugleih als Biologe und Naturphiloſoph
einen nicht unbedeutenden Ruf genoß — er war lange
Sabre naturpbiloiopbiiher Mitarbeiter der „Datur-
wifienfhaftliben Wohenihrift (vgl. unſere Umſchau in
Mr. 11, 1922) — ift vor ungefähr zwei Jahren geftorben.
Wasmann rübmt ibm in feinem Vorwort nadh, daß
er ibn nidt nur als einen vorurteilsfreien Bewunderer
ter katholiſchen Kirche und fogar des Jeſuitenordens, fon-
dern auch — und das fei feine (Wasmanns) größte Freude
gemeien — als einen echten Chriften babe kennen lernen,
deffen ganzes Wirken und Leben getragen und durchdrungen
war vom Glauben und der Liebe zu Chriftus”. Dieſes
Vorwort i datiert „am Felt des beil. gnatius von
Lovala“ am 31. Juli 1924. Andererfeits ift das Andrefde
Bud, wie fein Untertitel fagt, ein Verſuch, aus den Ergeb-
niffen moderner und moderniter Biologie eine Uebereinftim-
mung mit den Grundlehren des Führers der Scholaſtik, d. i.
ter von der fatboliihen Kirde offiziell anerfannten Philo-
fopbie Thomas von Aquins, zu folgern. (Eben dahin zielen
aud allerlei Anmerkungen, die Wasmann dem ranih-
feldſchen Werkchen binzugefügt bat, io 3. B. wenn er
(©. 22) ſagt, Kant babe feine Theologie „größtenteils
unbewußt aus dieſer Quelle (den Heil. Thomas) über-
nommen.” Es it nit meine Aufgabe, die allgemeine
tulturbifteriihde Bedeutung folder literariiher Eerſchei—
nungen bier zu würdigen, die flar zeigen, wie der beutige
Katholizismus auch auf diejem Gebiete der Wiſſenſchaft
die Sübrerfhaft zu beanipruden beginnt und wie ibm die
philoſophiſche Zeitlage dabei entihieden entgegentommt
(Vergl. meinen Aufſatz über das Thema „Bom NRelativen
zum Abfoluten, der in Mr. 7/ 81925 erfheint). Ich
habe es bier vielmehr nur mit dem rein naturwiflenidaft-
lichen und naturpbilofopbifhen Inhalt der beiden Schriften
zu tun, der wie erwähnt, ebenfalls durchaus in die gleiche
Richtung weit. Beide Bücher follen im Sinne des
Herausgebers Wegweiſer, einer „neuen Biologie‘ fein,
deren Charakteriſtikum nah Andre der Begriff der „Ganz-
heitsforſchung“ ift und die er im einen ausegiprodenen Ge-
genjag zu der nah feiner Meinung völlig überwundenen
Darwinſchen rein analvtifhen Biologie bringt, welde das
biologiihe Geſchehen in eine Eumme phyſikaliſch chemiſcher
Prozeſſe aufzulöien unternahm. Der Begründung dieſes
vitaliftifch-teleofogiihen Standpunktes follen beide Büber
dienen. Das Kranidhfeldfhe, indem es mehr in allgemeiner
Form die durchgehends das organische Geſchehen beberr-
ſchende Zweckmäßigkeit darlegt, welche fid nah Kr. (vgl.
das oben angeführte Referat) zu einer „gemeinihaftsdien-
ligen Zwedmähigfeit fleigert, die nah ibm fogar eine
ausreihende Handbabe zur Weberwindung der Schwierig-
keiten des Theodizeeproblems, zum wenigften auf dem bio-
logiſchen Gebiete, darbietet. Das André ſche Buh dagegen
will zeigen, daf ſich im Weſen von Pflanze, Tier und
Meniben drei barafteriftiih ven einander verictedene
Schöpfungsſtufen daritellen, welde er mit Ibomas als
„Emanationen“ bezeihnet. Die erite bildet „die nod
leiblofe Affimilationsform der Pflanze‘, die zweite „Die
verleiblidhte, aber nod leibeigene des Tieres‘ und die dritte
die des wirflihfeitsoffenen und wirklichkeitsbeherrſchenden
aktiven Menihen. Jh babe nun an verihiedenen Stellen
wohl gezeigt, dağ ich selber durdaus davon durchdrungen
bin, daß die rein analyſiſch ſummierend vorbergebende
Betrachtung der üblichen medaniftiihen Biologie der
Darmwin-Haedelzeit niht imitande ift, das biologiihe Ge-
fheben in feiner ganzen Kigenart zu erfallen, vielmebr
der Ergänzung durd eine zuſammenſchauend ſonthetiſche
_ Neue Literatur.
239
— — m — —
Forſchungsrichtung unbedingt bedarf, wie denn ja auch
tatſächlich teine Biologie obne ſolche ſynthetiſchen oder
wenn wenn man lieber will: teleologiſchen Begriffe wie
„Individuum“, Organismus”, “Pflanzenverein,“ „Sym⸗
bioſe“ uſw. uſw. auskommt. Alſo ich glaube, Verſtändnis
dafür zu beſitzen, was Kranichfeld und André wollen. Aber
gerade im jnterefle folder vernünftigen Teleologie muß
ih nun entichieden erklären, daß ich es für verfehlt balte,
diefelbe auf dem Wege zur Geltung bringen zu wollen,
der bier und zwar ganz befonders von André eingeichlagen
wird. Bei ibm erfcheint nämlich, obwohl er das offenbar
nicht will, dod) diefe Teleologie als ein firenger Gegenſatz,
nit als eine Ergänzung zur kauſal⸗analytiſchen Forſchung,
und zwar deshalb, weil Andre, darin ein echter Jünger
der Scholaſtik, aus den begrifflih vollkommen zu Redt
ftebenden fpnthetiihen Kategorien (wie 3. B. Pflanze und
Tier) ſcharfe Gegenſatzpaare macht, welche reale Ueber-
gänge ausſchließen. Sobald man dies tut, wird man ge-
zwungen, um den tatiahlidh vorfommenden Uebergang von
einem aum andern „Typus“ zu begreifen, einen jeweils
beionderen neuen teleologiihen Faktor an die Stelle fau-
faler Erklärung einzuführen und pas führt notwendig zu
der „faulen Teleologie” im Sinne Kants. Zugleich aber
wird die Wirklichkeit vergewaltigt, welche jene ſcharfe
Trennungen der Arten, Ordnungen, Klaffen, Reihe ufw.,
welde die „Syntheſe“ maden muß, Teineswegs zeigt, viel-
mebr überall Uebergänge aufweift. Mur einige Beifpiele,
um das zu belegen. Auf S. 27 ff entwidelt A. den Gegen-
fag der Pflanze als eines vegetativ lebenden Weiens
gegenüber dem aktiven Tier. Hier heißt es denn nad einer
rein mechaniſtiſchen Erklärung, u. a. des Heliotropismus:
„Nichts veranlagt uns, anzunehmen, daß das Wachstum der
Pflanze durch irgendwelde Empfindungen oder Gefühle
reguliert werde‘, ebenfo „ein Dreſerapflänzchen, das eine
Fliege fängt, tut dag im gewiffen Sinne automatifh”.
Weiter nadh einer Darftellung der (früher in diefen Blättern
von A. felber befhriebenen) willfürlihen Entwidlungsände-
rungen bei Pflanzen, wie fie Klebs u. a. erzielten. Aehn⸗
lihe Entwidlungsänderungen find bei Tieren unmöglich‘.
Ebenfo ausführend weiter unten: „Die Blütenfunktion bei
der Befruchtung verläuft rein automatiih. Die männ-
lihen Geſchlechtszellen treten bei niederorganifierten Pflanzen
in Jorm beweglider Spernatozeiden auf, die durch hemo-
taftiihe Anlodung zu den Nieren gelangen . . . Daß
folbe chemotaktiſche Bewegungen niht eigentlih impulfiv
von einem bewußten Innnenleben beberrihte Vorgänge
find, können wir duro Analogie feftftellen. Im felben
Sinne meint André, daß die finematographiihen Aufnahmen
des Wachstums höherer Pflanzen, welche dasfelbe in febr
verfürztem Zeitmaßftab zeigen, die dabei fihtbaren Bewe.
gungen doch nicht als wahrhaft impulfive wie die tierifche
Handlung erfheinen ließen. Ich habe gegen alle diefe Sätze
ſchwere Bedenken. Was zunähft den lesteren anlangt, fo
muß id geftehen, daß mir gerade der Anblid derartiger
Filme es fat gewiß gemaht hat, daß in den Pflanzen
irgend ein, wenn aub uns mit unferem anderen Zeit-
maßſtab ganz unbegreifliches, feeliihes Erleben eigen ift.
Weite vrermag ih beim beiten Willen nicht zu erkennen,
was für ein prinzipieller Unterſchied zwiſchen den bemo-
taftiihen Bewegungen von pflanzliben und tieriihen Sper-
maozeiden (oder will André bier einen folden aufitellen?)
und etwa den Mahrungsbewegungen einer Amobe fein foll.
Sind diefe nibt aud „bemotaktiih”? Aud der Droiera-
fall unteriheidet fid von dem Freſſen einer Alge durd
eine Amöbe lediglih in Hinfiht auf das Tempo (und natür-
lib die Einzelligkeit der Amöbe gegenüber der Nielzellig-
teit der Sonnentaupflanze. Ebenſo it es durchaus nicht
einguieben, warum die von Rour, Braus, Spemann
240
u. a. an Tieren hervorgebrachten willfürlihen Entwidlungs-
änderungen prinzipiell verichieden von dem entipredhendem
Mefultate bei Pflanzen fein follten. Mit einem Worte:
André fegt hier überall abfolute Gegenfäge, wo eine unbe-
fangene Betrachtung m. E. lauter faft Fontinnierliche
Uebergänge zeigt. Er wird gezwungen, nächſte und offen-
fihtlih höhft verwandte Fälle, nur um feine abfoluten
Kategorien aufreht erhalten zu können, auseinanderzu-
reißen, es ift ja befannnt, daß man 3. B. bei vileen nieder-en
Einzelligen überhaupt fchlehterdings nicht fagen Tann, ob
fie eigentlih Pflanzen oder Tiere find, bier werden eben
die Grenzen flüffig. Aber gerade das verwehrt die fhola-
ftifhe Methode, weil fie rein begriffliher Natur ift, und
Begriffe der Natur der Sade nad immer diiskontinierlich
find. Bon diefem Standpunkte aus muß ih alfo Andre
an faft allen Punkten feiner ‘Darlegungen halb widerfprechen,
obwohl id ihm andererfeits halb. Redt gebe. Ganz
widerſprechen aber muß id ihm, wenn er nun meint, feine
modernen biologifhen Ideenentwicklungen bei Thomas fon
angedeutet zn finden. Hier hat er m. E. in den Aquinaten
feine eigenen Gedanken hineingelefen, welde eben die eines
mit allen Methoden moderner Biologie geihulten Forſchers
find. Was an dem von A. aus Th. zitierten Stellen wirt-
li des legteren Meinung ift, it himmelmweit von moderner
Biologie entfernt, und was André von folder herauslieft,
it nicht Thomas’ geiftiges Eigentum, fondern Andrés.
Aber um das zu begründen, müßte ich diefe Beſprechung
nod einmal fo lang werden laffen, als fie fo fhon geworben
ift, und dazu reiht der Raum leider nicht aus. Cin dem
heiligen Thomas neutraler gegenüberftehender Proteftant
wird, wenn er Andres Ausführungen lieft, davon bin ic
überzeugt, vielfah den Kopf ſchütteln.
Ziealer und Oppenheim, MReltentfichung in
Cage und Wiſſenſchaft. (Aus Natur und Geifteswelt,
Teubner 1925. 1,80 ME.) Ihren in Nr. beiprodhenen
Bändchen über den „Weltuntergang in Sage und Wiffen-
ſchaft“ haben die beiden Verfaſſer jest ein Gegenftüd über
die MWeltentftehbung folgen laffen. Auch dieſes Bändchen
fann durdhaus empfohlen werden. Daß die Eagen ber
Genefis darin rüdbaltslos als folde bezeichnet find, it umfo
weniger zu beanftanden, als andererfeits der hohe, alle gleidh
zeitigen Weltſchöpfungsſagen weit überragende religisie und
feger „wiſſenſchaftliche“ Wert des bibliihen Schöpfungs-
berihts ebenfo Plar anerkannt ift. Ich böre im allgemeinen
das legtere Wort ungern, weil bie, die eg gebrauchen, damit
zumeift doch eine Art von „Kuhhandelsapologetik“ beabfidy-
tigen. Aber über diefen Verdacht find die beiden Verfaſſer
diefes Schriftchens natürlid weit erbaben. Um fo wert-
voller it ein folhes Wort aus ihrem Munde. Es beweift,
daf man aud bei Uarfter wiflenfbaftlihre Erkenntnis der
zeitgefhichtlihen Bedingtheiten der biblifhen Bücher ſehr
wohl fih ein Gefühl für die tatlählihen darin ftedenden
religiösen Werte bewahrt haben tann, und foldes DBeifpiel
der Gelehrten brauchen wir heute nötiger denn je. Der
wiſſenſchaftliche Teil zeichnet fih durch große Beſonnenheit
und vorſichtiges Abwägen der vielerlei verſchiedenen Hypo-
theſen vorteilhafter aus.
Tr. Lenz, Weber die biologiſchen Grundlagen der Er:
ziehung. (Derlag Lehmann, Münden, 1925. 1,50 A.)
Diefe kleine Schrift it aws einem Vortrage entflanden, den
der Merfafler in Dresden auf einer pädagogiſchen Jort-
bildungswoche gehalten hat, welde vom fähflihen Kultus-
minifterium veranftaltet wurde. Sie verdient die
allerweitefte Verbreitung, jeder Lehrer
towohl der böberen Schulen wie erf redt
Neue Literatur.
der Volksſchulen follte fie gelefen baben.
Der bekannte Raſſenhpygieniker der Münchener Univerfität
legt bier in leiht verftändlicher, abfolut Elarer, aber ſchla⸗
gender Weife die unerbittlihen Tatfahen der Dererbungs-
und Maflenforihung dar, aus denen hervorgeht, weld ein
verhängnisvoller Irrtum dem Glauben zrugrunde liegt, man
fönne durch eine immer weiter getriebene „Volkserziehung“
fhlieglih jedes beliebige Menihenmaterial zu immer höherer
Gefittung und Kultur beranzühten. Beſonders wertvoll
find die febr zahlreihen tatfählihen, auch ftatiftiihen An-
gaben. Man merkt, Hab der Verfaſſer überall aus dem
Wollen ſchöpft. Seine Grundabfiht ift, zu zeigen, daß die
entiheidende Trage nach der Zukunft unferes Dolfes und
feiner Kultur niht die der Erziehung, fondern die der
richtig geleiteten fozialen Ausleie ift. Denn Erziehung tann
nur vorhandene Anlagen entwideln, aber keine neuen ſchaf⸗
fen. Andererſeits begünftigen die heutigen fozialen Ber-
bältniffe aber niht die Auslefe der Beftveranlagten, fondern
umgefehrt die ber ſchlechter Veranlagten. Bleiben fie be-
ftehen, fo find wir rettungslos dem Niedergange verfallen,
und alle noh fo gute Erziehung fann daran nichts ändern.
Das Scriftchen ift das befte denkbare Kampfmittel gegen
jene unvernünftige, noh immer nicht ausgeftorbene Ideologie,
die auf dem irrigen Grundſatz von der Gleichheit aller
Menihen und Bevölferungsflaflen aufbauend, und die von
der Wiſſenſchaft längſt wiberlegten Ideen Tamards über
die erblide SFirierung erworbener Eigenſchaften unbebenf-
lich benußend, das Volkswohl ruiniert, indem fie es fördern
will.
K. Leefe, Die Kulturkrifis der Gegenwart und der
Kirche. (Furche⸗Verlag, Berlin. 30 ©., 1 A.) Ein
ganz vortrefflihes Echrifthen, das beffer und richtiger als
mandhe didleibige Bücher das Werhältnis von Meligion und
Kultur beſtimmt. Um den reihen Inhalt auh nur anzu-
deuten, mußte ih es abſchreiben. Ein paar Sätze nur, um
dem Lefer Luft zu ermeden, es felbft zu leien: „Das Wefen
aller Kultur ift Religion nur dann, wenn an Stelle der
einfahen WDBereinerleiung von Religion und Kultur die
Kultur felbft in die dialektiſche Selbſtbewegung der Re-
ligion eintritt.” „Die Religion ift Eulturdinleftiih”, d. h.
fie ift fowohl Fulturbejabende wie kulturverneinende Magt.
„Solange die Autonomie fid in Kampfftellung um Zrei-
beit und Wabhrheit, um Innerlichkeit, Wahrhaftigkeit und
Ueberzeugungstreue, um intelleftuelle Reinlichkeit und Red-
lichkeit befindet, ift fie Gottesdienft. Aber wenn darüber bin-
aus die Autonomie fih abfdpeidet von der Theonomie, wenn
fie über dem bedingten Eigenmwert der Formen den unbeding-
ten und alles bedingenden Wert des Gehalts verliert, wenn
fie gottlos wird, dann tritt die Kataftropbe der Zerfegung und
Auflöfung ein, die wir im eigentlihften Sinne als Kultur-
frifis der Gegenwart empfinden. „Der Untergang ber
abendländiſchen Kultur ift befiegelt, wenn nicht ein neuer
Durchbruch zur theonomen Geifteslage erfolgt.” Ih kann
den Sägen des DVerfaflers nur von Herzen zuſtimmen und
wünſchen, daß fie baldigft Gemeingut der deutfhen Theo-
logie werden möchten.
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Prof. Dr. Bavink:
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punkt der Wissenschaft u. Relision
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Unfere Lejer werden hiermit ſchon jegt auf diefe Schrift unferes wiſſenſchaft
lihen Bundesleiters aufmerffam gemacht, welche die weltanihauliben Grund-
probleme an ibrer Wurzel anpadt.
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Naturwissenschaftlicher Verlag, Detmold
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WISSENSCHAFT UND WELTANSCHAUUNG
XVII. Jahrg. Detmold, Oktober 1925 Heft 10
ACT 29 1925
Herausgegeben Schriftleitung:
vom Professor
Keplerbund Dr. Bavink
Detmold Bielefeld
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Herausgegeben vom Naturmwifjenichaftlidden Verlag des Keplerbundes e. V. Detmold.
Voftichedtonto Nr. 45744, Hannover.
Scriftleitung: Prof. Dr. Bavink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Auffäge fiehen die Derfaffer;ihee Anfnahme magt fe niht zur Nenberung des Bundes.
XVII. Zabraang
Dfttober 1925
Heft 10
Die Klimatologifche Tagung in Davos vom 17.—22. Aug.
Beriht von Dr. Hans Schimantf.
Jn der Zeit vom 17. bis 22- Auguft fand in
Davos (Schweiz) eine Elimatologifhe Tagung ftatt,
die fih dadurch auszeichnete, Daß in den über fünfzig
Vorträgen nahezu alle Themen behandelt wurden,
die mit der Klimatologie in Beziehung ftehen, und
daß es Gelehrte faft aller Kulturftaaten waren, die
fid) hier zu friedliher Arbeit zufammenfanden. Es
ift zu boffen, daß diefes Zufammentreffen auf dem
neutralen Boden der Wiſſenſchaft nicht nur eine
Serderung der Wiſſenſchaft felbft zur Folge hat,
fondern daß fie an ihrem Teile auh dazu beiträgt,
die friedlihe Zufammenarbeit aller Völker wieder
herbeizuführen. Jn Verbindung mit diefer Tagung
fond aud eine Ausftellung eleftromedizinifcher und
meteorologifcher Geräte ftatt, über die vielleicht ge-
fondert berichtet werden fann. Bei der großen
Fülle der Vorträge ift es naturgemäß nur möglich,
eine Ueberſicht in gedrängtefter Form zu geben. Es
ſellen darum alle Borträge unberüdfihtigt bleiben,
die im weſentlichen medizinisches Intereſſe befigen.
Aber aud bei dem dann verbleibenden Neft wird eg
notwendig fein, vieles nur eben zu erwähnen, damit
einiges, was von befonderem Intereſſe ift, etwas
ausführlicher beiprodhen werden Fann.
Die Vorträge, die in deutſcher, englifcher, fran-
söfifcher und italienischer Sprache gehalten wurden,
behandelten Themen der Sozialhygiene, der Phyſik,
Meteorologie, Phufiologie, Klimatologie im engeren
Sinne und die mannigfaltigften Sondergebiete der
Medizin, foweit fie zur Klimatologie in Beziehung
ſtehen. Für weitere Kreife beftimmt waren zwei
große Worträge von Staatspräfident Profeflor
KHellpad -Karlsruhe über „Die Menſchenſeele
in der Alpennatur” und von Profeflor Abder-
hal den Halle, der „Rück⸗- und Ausblide in der
phyſiologiſchen Höhenklimaforſchung“ gab. ‘Der
Vortrag Hellpachs foll befonders behandelt werden,
wenn fih die Gelegenheit dazu bietet.
Nach einem einleitenden Vortrag von Dr.
W ebrii- Zürih über die Gefhichte der Klimato-
therapie ſprach zunächſt Profefior Hill -London
über den Einfluß des Sonnenlichtes und der freien
Luft auf den Gefundheitszuftend. Er wies unter
anderem darauf hin, daß durch den Aufenthalt in
ſchlecht gelüfteten Räumen die Schleimhäute gegen
Infektionen empfindlicher werden, und daß dies
zum Teil daran liegt, daß weniger tief eingeatmet
wird als beim Aufenthalt in frifcher Fühler Luft-
Se Fühler die Luft ift, um fo günftiger ift die Wir-
fung auf die Körperfräfte und den Appetit. Wer
zu fißender Lebensweiſe gezwungen ift, folte zu-
mindeft durd tägliche Körperübungen und Schlaf
bei offenem Fenſter Erfag für die mangelnde Be-
wegung ſchaffen. Die fo außerordentlid wirkſamen
ultravioletten Strahlen, die bei der Verhütung und
Heilung der Naditis fo gute Erfolge zeitigen, ge-
langen in den Großftädten zumeift nicht zur Wir-
fung, weil fie durch den die Luft verunreinigenden
Staub, durch Glasfenfter und durd die Kleidung
verfchlucdt werden. Bei der Sonnenbeftrahlung
fiebernder Kranfer fowie der QTuberfulofefranfen
it große Vorſicht geboten. Sie follten nicht der
vollen Sonnenhite ausgelegt werden, fondern beffer
nur in den fühlen Morgenftunden in die Sonne
kommen. Es wäre wünfchenswert, wenn den Grof-
ftadt- und Fabrikftadtkindern als Anregungsmittel
und zur Verhütung von Krankheiten etwa zweimal
wöchentlich ein Lichtbad verabreicht würde. Ebenſo
folte eine ultraviolette Beftrahlung zur Erhöhung
der Widerftandsfähigfeit des Patienten vor einer
Operation ftattfinden.
In ähnliher Richtung und in manchen Punften
die Ausführungen von Profefior Hil ergänzend be-
242 Di: Klimatologiſche Tagung in Davos vom 17.—22- Auguft.
wegte fih der Vortrag von Dr. King Brown
London, der die Nachteile zu dichter Befiedlung,
wie die Ar beiterviertel der Gropftädte fie aufweifen,
für die Dolfsgefundheit erörterte- Das Klima
des Landes tritt in diefem Falle zurücd gegenüber
dem durd die Bauart der Stadt bedingten Tofal-
Elima. In gewiffem Sinne muß man fogar von
einem Klima des Haufes fpredhen, unter deffen un-
günftigem Einfluß befonders die Geſundheit der
Kinder leidet. Entſcheidende Abhilfe im großen
tut not, dod liepe fih aub durd die möglichft all-
gemeine Anwendung von Gas und Elektrizität an
Stelle der Kohle für den Hausbrand mandes bef-
fern.
Profeſſor Lev i-Rom, der in feinem Vortrag
gleihfalls die Probleme der Sozialhygiene und
deren internationale Entwidlung behandelte, for-
derte die Aerzte aller Länder zu internationaler Zu-
fommenarbeit auf, um der Ausbreitung der Wolfs-
Franfheiten — einer Folgeerfcheinung des Krieges
— wirkungsvoll entgegen zu treten. Dieſer
Kampf darf aber niht nadh der alten Methode
tbeoretifh - wiflenichaftliher und philantropifcher
Erörterung geführt werden, fondern gemäß den
Prinzipien moderner Großorganifation.
Den Reigen der phyfilaliih - meteorologifchen
Vorträge hatte bereits vor den beiden leßtgenann-
ten Rednern Geheimrat Hellmann -Berlin er-
öffnet. Don befränztem Vortragspult herab ſprach
er, der am gleichen Tage fein goldenes Doftorjubi-
läum feierte, über Ertreme der Klimawerte auf der
Erde. Er wies darauf hin, daß es Feinen Ort gibt,
an welchem fämtlidhe für das Klima harafterifti-
fhen Größen ertreme Werte befigen, daß es immer
nur eine oder einige von ihnen fein werden, für
welche dies der Fall ift. Unter diefer einfchränfen-
den Bedingung ift Maſſaua im Roten Meer mit
einer mittleren ahrestemperatur von 30,2 Grad
Celſius der heißefte, Framheim, die Bafisftation
der Amundfen-Erpedition mit — 26 Grad Eelfius
der Fältefte Ort der Erde. Das bärtefte Winter-
klima herrſcht am Rande der Eisbarriere der Süd-
halbfugel, weil zu der herrfchenden Kälte der Cin-
Fluß ftändiger ftarfer Winde hinzufommt. Zugleich
ftellt Framheim die windigfte Gegend der Erde
dar- Die abfolut tieffte Temperatur ift mit — 68
Grad bei Werchnojarsk, dem fibirifhen Kältepol,
gemeflen worden. Die größten DMiederfchlage-
mengen treten in den Gebieten am Abhang des
Himalaja auf, die geringften in Affuan, wo im Lauf
eines Jahrzehnts 22 Tage mit Megentropfen be-
obachtet wurden. Abeſſinien ift als das gemitter-
reichfte Land zu betradten.
Profeffor Beffon-Paris, der über die Be-
deutung der Windrichtungen für die Klimatologie
ſprach und dabei im wefentlihen die für das Mont-
fouris-Obfervatorium gültigen Windverhältniffe er-
örterte, gab ein Verfahren an, das es ermöglicht,
in einfacher und überfihtliher Weife Art und Häu-
figfeit der verfchiedenen Windftrömungen tabella-
rifh zu verzeichnen und im Anſchluß daran gra-
phiſch darzuftellen.
Ein Vortrag des folgenden Tages von Profeflor
K a f ner- Berlin über die Feuchtigkeitswindrofe
auf Helgoland bildete in gewiller Weife eine Er-
gänzung zu dem DVortrage von Beſſon, infofern an
dem ungemein intereflanten Beifpiel des Berbal-
tens der jeweils feuchteften und trodenften Winde
auf Helgoland gezeigt werden Fonnte, wie eine ge-
eignete graphiſche Darftellung diefer Windverhält-
niffe aufs anſchaulichſte die hervorragende Gleich—
mäßigfeit des Klimas der Inſel zu erflären ver-
mag.
Eine ungemein intereffante Gruppe von Wor-
trägen beſchäftigte fih mit der Phyſik der Atmo-
ſphäre. Als erfter behandelte Profefor Dorno-
Davos die Klimatologie des Hocgebirges. Er be-
gann mit einer Abgrenzung der Klimatologie als
der Wiffenfhaft von der Erforfhung der gefamten
atmofphärifhen Bedingungen, die einen Ort der
Erdoberflähe mehr oder weniger für Menfcen,
Tiere und Pflanzen bewohnbar madhen, im Gegen-
fag zur Meteorologie, welche die einzelnen Flimati-
ſchen Faktoren, in ihrer zeitlihen Veränderlichkeit,
ihrer gegenfeitigen Abhängigkeit und ihrer Ab-
hängigfeit vom Ausgangszuftand zu erfaflen ver-
ſucht, um richtige Diagnofen und Prognofen ftellen
zu können. Unter dem Hochgebirgsklima ift das
Klima von Höhenlagen zwifhen 1000 bis 2509
Metern Meereshöhe zu verftehen. Als deffen trob
zahlreicher örtliher Variationen einheitlihe Mert-
male find folgende zu betrachten: die Verminderung
des Luftdruds, die nadh den Forfhungen von Pro-
feffor Loewy infolge des damit verbundenen Sauer-
ftoffmangels der Einatmungsluft einen der Haupt.
faftoren der Klimamirfung im Hochgebirge dar-
telt. Als weitere fpezififhe und wichtige Eigen-
ſchaft gefellt fih dazu die Trockenheit der Luft, da
infolge der niedrigen Temperatur der abfolute
Seuchtigfeitsgehalt der Luft febr gering ift- Teil-
weife hierdurch fowie durch den geringeren Staub-
gehalt wird es bedingt, daß die Luft im Hochgebirge
eine erheblich höhere Leitfähigkeit befist als die der
Ziefebene. Einen Faktor von überragender Be-
deutung ftellt dann wiederum die Strahlung dar,
die im Hochgebirge nicht nur höhere Intenſität auf-
weift, fondern infolge ihres Neihtums an wirt-
jamen Eurzwelligen (ultravioletten) Strahlen aud
eine qualitative Verbeſſerung gegenüber der Strah-
lung im Flachlande zeigt. Die befonders günftige
Seftaltung der Elimatifhen Werhältniffe von
Davos und Arofa, denen Amerifa trog feines Ge-
——-
birggreichtums feinen gleichwertigen Ort an die
Seite ftellen fann, erflärt fih außer der befonderen
Lage diefer Ortfchaften in windgefhüsten Tälern
eines Hochplateaus von Fontinentalem Klima-
charakter vor allem aud daraus, daß die Alpen im
Gegenfag zu den amerifanifchen Gebirgszügen von
Weft nah Oft ftreihen und fih dadurd quer zur
Richtung der großen vom Aequator zum Pol und
zurüd verlaufenden Zirkulation ftellen.
Einige Punkte, die in den Ausführungen von
Profeffor Dorno nur geftreift werden Fonnten, fan-
den ausführlichere Behandlung in den Vorträgen
von Maurer und Lütſchy über Werdunftungs-
meffungen an freien Wafferoberflähen im Hoh-
gebirge, von Profeffor Palazzo- Rom über
Iufteleftrifhe Unterfuhungen im Bergobſerva⸗
terium in Seftolo und von Profeſſor Wigand-
Halle über die Lufteleftrizität der freien Atmo-
ſphäre. Aus dem Bortrage des Tektgenannten
Forſchers fei hervorgehoben, daß Unterfuhungen
der Wolkenelektrizität, an denen die Luftfahrt ftar?
interefliert ift, nach indireften Verfahren mit þin-
reichender Genauigkeit angeftellt werben Tönnen.
Noch in zwei Kilometer Entfernung von Blitzen
find Spannungsunterfchiede von 100 000 Bolt je
Meter nahmeisbar, fo daß man am Orte bes
Blitzes felbft noch 20- bis 40fach höhere Werte des
Spannungsgefälles wird annehmen dürfen. Eine
überzeugende und wiberfprucdhsfreie phyſikaliſche Er-
Märung der Entftehung ber Gewittereleftrizität
fann nach dem heutigen Stande unferer Kenntniffe
nod nicht gegeben werden. Bezüglich des elektrifchen
Klimas des Hochgebirges ift hervorzuheben, daß eg
ſich durch Fleineres Spannungsgefälle, größeren
Jonengehalt, höhere Leitfähigfeit und ftärfere Joni-
fierung vom Klima der Ebene unterfheidet. Sür
bie SSonifierung ſelbſt fpielt im Hochgebirge die fo-
genannte durchdringende Höhenftrahlung eine we
fentlihere Rolle als die durch radioaktive Stoffe
des Bodens bedinate Emanationsftrahlung.
Drofeffor Linte-Sranffurt a. M. Tonnte in
feinem Vortrage nachweiſen, daß es weniger ber
MWaflerdampfaehalt der Luft als ihr Gehalt an
Staubtelhen ift, der den Intenſitätsverluſt ber
Sonnenftrahlung und befonders den DBerluft des
ultravioletten Anteils bewirft. Als ein geeignetes
Maß zur Kennzeichnung des fntenfitätsverluftes
fowie auch der Veränderung der Zufammenfekung
der Strahlung Tann der Trübungsfaftor dienen,
der angibt, wie viele ideale, d. b. waflerdampf- und
ftaubfreie Atmofphären die gleihe Schwächung der
Strahlung herbeiführen würden wie die wirflide.
Die Meflung des Trübungsfaftorg des kurzwelligen
Lichtes ift ein unmittelbares Map für den Staub-
gehalt der Luft.
Die Klimatologiihe Tagung in Davos vom 17.—22. Auguft. u
243
Vermag man fo die phufifalifhen Urſachen für
die Ofntenfitätsänderung und die veränderte Zufam-
menfegung der Strahlung anzugeben, fo wird bda-
dur noh nicht erPlärt, weshalb auch in großen
Höhen das Sonnenfpeftrum nahezu an berfelben
Stelle abbriht wie im Tiefland. Hierfür ift viel-
mehr, wie Profeffor Edgar Meyer -Zürih in
feinem Vortrage nadmies, der Ozongehalt der
Atmofphäre verantwortlich zu machen. Auf Grund
diefer Annahme laffen fib aud qualitativ die
Grenzkurven für das ultraviolette Ende des Son-
nenfpeftrums deuten, die Dorno aufgenommen bat.
Könnte der gefamte Ozongehalt der Atmofphäre
vereinigt werben, fo würde er bei O Grad Eelfius
und einer Atmofphäre Drud nur einen die Erde
umhüllenden Schugmantel von etwa ſechs Zehntel
Millimetern Dide bilden.
Profeffor Sophus Bang -Kopenhagen dis-
futierte in feinam Wortrage Die Verwendung
einer biologifhen Reaktion zur Wertung der Ti-
matifchen Lichfintenfität” die verſchiedenen Verfah⸗
ren, die für Strahlungsmeflungen in Trage fom-
men. Er vertrat der Anfiht, daß zur Beftimung der
phnfiologifh wirkſamen Tichtintenfität phyſikaliſche
Methoden oder anorganifh-hemifche Reaktionen be-
züglih der Sicherheit des Ergebniffes hinter einer
geeigneten biologifhen Reaktion zurückſtehen müffen.
As eine Reaktion, die für derartige Meffungen
geeignet ift, fann man nad feinen Unterfuchungen
im $infen-nftitut in Kopenhagen die bafterien-
tötende Wirkung des ultravioletten Lichtes benußen.
Die Kurven, die man für die Wirkſamkeit der
ultravioletten Strahlen nadh diefem DBerfahren er-
hält, flimmen mit den Ergebniſſen überein, bie
Haufler und Wahle für die ernthembildende und
pigmentierende Wirkung eben diefer Strahlen er-
halten haben.
In der anfchließenden Disfuffion wies Profeflor
Dorno-Davos darauf bin, daß die Tichteleftrifche
Cadmiumjzelle von Eifter und Geitel ein Hilfsmittel
darftellt, das auf rein phufifalifher Grundlage er-
mögliht dieſelben Vergleichsmeſſungen durchzu⸗
führen, für die Bang ſeine biologiſche Reaktion in
Vorſchlag bringt. Die geringe Verſchiedenheit,
die zwiſchen der Empfindlichkeitskurve der Cad-
miumzelle und der Vahle⸗Hauſſerſchen Kurve be-
fteht, liepe fih dur Vorſchalten eines geeigneten
Uviolglasfilters vor die Tichteleftrifche Zelle aus-
fhalten. Profeſſor Bang vertrat demgegenüber
den Standpunft, daß der Vergleich zwiſchen
der bakteriziden Wirkung der ultravioletten Strah-
len und ihrer Einwirkung auf die Cadmiumzelle
ert noh vorgenommen werden müfle, ehe man
daran gehe, eine rein phufifalifhe Erſcheinung als
Map für eine phufiologifhe Wirkung zu benugen.
Da der wefentlihe inhalt der Unterfuchungs-
ergebniffe von Profeſſor Lo e wy ⸗Davos bereits
in dem Aufſatze von Profeſſor Dorno „Zwanzig
Jahre Höhenklimaforſchung“ beſprochen iſt, der im
Auguſtheft dieſer Zeitſchrift zum Abdruck gelangte,
kann darauf verzichtet werden, den Vortrag dieſes
Gelehrten über das Zuſtandekommen der phyfiolo-
giſchen Höhenklimawirkungen des Näheren zu be-
ſprechen.
Don den im weſentlichen klimatologiſchen Wor-
trägen ſind die Ausführungen zu erwähnen, die
Profeſſor di Veſtea Piſa über einige Eigen-
tümlichkeiten des Klimas von Hochebenen und über
die biologiſchen Einflüſſe der Sonnenſtrahlung
machte, ſowie diejenigen von Dr. da Cuomo-
Capri über den Golf von Neapel, deffen Umgebung
und deffen therapeutifhe Bedeutung. Profeflor
Mol Holland fprah über das hofländifhe See-
Elima und wies dabei auf den Unterſchied hin, der
zwifchen dem wefentlih wirkffameren Strandflima
und dem eigentlihen Seeflima der mehr als 300
Meter vom eigentlihen Strande abgelegenen Land-
ſchaft zu maden ift, für die bereits der Schuß der
Dünenreihe und der Einfluß von Bepflanzung und
Bebauung fih geltend macht. Dur Unterfuhun-
gen, die noh im Gange find, hofft man in ähnlicher
Weiſe eine Analyfe der für die Wirkung des See-
klimas maßgebenden Faktoren durdführen zu Fön-
nen, wie fie Dorno bezüglich des Hochgebirgeflimas
jo erfolgreidy vorgenommen hat-
Ueber Klimatologie und Klimatophnfiologie des
Mittelgebirges handelte der Vortrag von Dr. van
Dordt-Bühlerhöhe- Er führte aus, dag es
außerordentlich fchwer ift, den Begriff überhaupt
abzugrenen, und daß im Gegenfak zum Hodge-
birgsklima fih für die große Mannigfaltigfeit der
klimatiſchen Verhältniſſe im Mittelgebirge feine
gemeinfamen Züge von gleiher Bedeutung auf-
zeigen laffen, wie Drudverminderung und Zu-
nahme der Strahlungsintenfität fie für das Hod-
gebirgsflima darftellen. Beide erfahren zwar aud
im Mittelgebirge entiprechende Aenderungen, etwa
gleich weſentlich ift aber für das Mittelgebirge der
Einfluß der Degetationsdede.
Mit aufßerordentlih intereffanten Tatſachen
machte Profeffor Ha ecker Jena die Zubörer in
feinem Vortrage über Klima und tierifhe Pig-
mentierung befannt. Bezüglih des Zufammen-
banges zwifhen Klima und tierifher Pigmentie-
rung ift es als einem der erften Weismann ge-
lungen, durd entfpredhende Aenderung der Tem-
peraturbedingungen bei Schmetterlingen die Um-
wandlung der Sommer- in die Winterform be-
jiehungsweife der nördlihen in die füdlihe Form
und umgefehrt herbeizuführen. Gleichſam ale Èr-
gebnis eines ungewollten Verſuches von größtem
Die Klimatologifhe Tagung in Davos vom 17.— 22. Auguft.
Maßſtabe hat man neuerdings das Auftreten
ſchwarzer (melaniftifher) Abarten von Scmetter-
Iingsarten in der Nähe von Grof- und nduftrie-
ftädten feitftellen Fönnen. Tiergeographiſche Unter-
fuhungen haben ergeben, daß bei Vögeln arktifchee
Klima bauptfählih rötliche Färbung, trodenes
MWüften- und Steppenflima ſchwarzblaue Färbung
hervorruft. Zum Teil find Flimabedingte Mig-
mentierungsänderungen febr dauerhafter Natur,
fo daß fie auh nah dem Auswandern befteben
bleiben. Eine febr wichtige Frage ift die, inwie-
weit Pigmentierung der Ausdrud einer beftimmten
Konftitution ift und ob eine Pigmentierungsände-
rung als Folge einer Pigmentänderung nur deshalb
auftritt, weil infolge der Klimaänderung die ge-
ſamte Konftitution abgeändert wird. Mande Cr-
Iheinungen, wie beifpielsmweife die Rothaarigkeit
beim Menſchen oder die Fuchsfarbigkeit bei Pfer-
den feinen darauf hinzudeuten. Auh Verſuche, die
der Bortragende im Davofer Forfchungsinftitut
mit Hochgebirgs- und Ebenenvögeln anftellte, fhei-
nen Hinweiſe in diefer Richtung zu geben-
Die Vorträge von Profeflor Stomps-
Amfterdam, der die für Zentral-Ceylon charakteri—
ftifhen Wechſel favannenähnlicher Gebiete mit
Waldbeftänden als eine abnorm niedrig gelegene
Baumgrenze zu deuten vermodte, von Dr. Mor-
ton -SHallftadt über das Klima der alpinen Höb-
len und deren Pflanzenwelt fowie von Dr. S d i b-
ler-Davos, der die Flora des Davofer Land-
waffertales in febr intereffanter Weife als den
Ausdruf der von Ort zu Ort wecfelnden Tem-
peratur-, Wind- und Strablungsverhältniffe zu
deuten wußte, fann nur fur; gedacht werden.
Den Einfluß, den Licht und Temperatur in den
Alpen auf Anatomie und Phyſiologie der Pflanzen
ausüben, fchilderte der Vortrag von Profefler
Senn -Bafel. Die Alpenpflanz: befist gegen-
über der Ebenenpflanze gleicher Art eine weit bef-
fere Anpaflung an die Bedingungen des Hodge-
birgsflimas. ‘Bei den Alpenpflanzen fteigt die
Koblenfäureaflimilation ftändig mit der Steigerung
der Lichtintenfität an, mährend bei Cbenenpflan-
zen bald ein Maximum erreicht wird, nad deffen
Ueberſchreitung die Affimilation rapide ſinkt. Bei
niedrigen Temperaturen fpeidhert die Pflanze ibre
Kohlenftoffvorräte aber nicht mehr in Form von
Stärke, fondern in Form von Zuder auf. Diefer
Zuckergehalt ift es, der die Farbenpracht der blüben-
den Alpenpflanzen verurfacht, er ift es auch, der die
Pflanzen vor dem Erfrieren fhüst. Ganz enorm
it der Waſſerkonſum der Alpenpflanzen, die in
diefer Hinfiht die Schattenpflanzen feuchter Mäl-
der bei weitem übertreffen. Da die von der
Pflanze unter der Einwirkung der intenfiven
Strahlung aufgefpeihersen Dar ife für den
= Erfhütterungsmeßapparate.
Flächenwuchs nicht verwendet werden Eönnen, wer-
den fie für den Dickenwuchs ausgenußt. Ausfeben
und Aufbau der Alpenpflanzen find nicht als ein
Ausdrud der Anpaffung im Kampfe ums Dafein
anzufehen, wie Darwin meint, fondern als Aus-
wirfung der phyſikaliſch⸗chemiſchen Aenderungen,
die durd die veränderten Elimatifhen Bedingungen
im Organismus der Pflanze bervorgerufen werden.
Gleihfam das Ergebnis der ganzen Tagung gab
der großangelegte Vortrag von Profeflor A bd er-
balden-SHalle, der in feinem. Nüdblide und
Ausblide auf die phyſiologiſche Höhenflimaforfhung
245
nod einmal ordnend und fichtend zufammenfaßte,
was der wefentlihe Inhalt der Einzelvorträge ge-
weſen war- Er ſchloß mit Worten hoher Anerfen-
nung für die Pionierarbeit, die auf dem Gebiete
der Hochgebirgsflimatologie und Hochgebirgsphnfio-
logie die Davofer Forſchungsinſtitute geleiftet haben.
Jn der Hauptſache war die Davofer Elimatolo-
giſche Tagung in der Tat das, als was einer der
Bortragenden fie bezeichnete: ein Kongrep ad
maiorem solis gloriam, eine Tagung zu Ruhm
und Preis des Sonnenlidhtes.
Er utterungsmeßapparate. Non Dberftudiendireftor Prof. Dr. Gelfert.
Das Studium der Erſchütterungsmeßapparate
gewährt einen befonderen Reiz: gewaltige Maffen
von vielen Zentnern Gewicht find zu ihrem Bau er-
forderlich — und troßdem vermögen fie Schwan-
kungen von faum wahrnehmbarer Größe forgfältig
aufzuzeichnen. Wir finden alfo wudtige große
Maflen vereinigt mit einer feinen Präzifionsme-
hanit, ſodaß wir der geleifteten Geiftesarbeit ebr-
furhtsvol unfere Bewunderung zollen müflen.
Wir können die Erjhütterungsmeßapparate in
mer große Gruppen einteilen:
1. Erdbebenmefler in ihren verfchiedenen Aus-
führungen, die alfo befonders zum Zwede der
Regiftrierung und Meflung feismifher Wor-
Hänge dienen;
2. Erſchütterungsmeſſer zur Beobachtung von
Schütterwirfungen, welde in induftriellen
Anlagen durh Mafhinen, Bau- und Ber-
Fehrsbetrieb, Sprengungen oder ſchwingende
Bewegungen an Hochbauten (z. B. Shorn-
fteinen, Türmen uſw. durd Windftöpe) ber-
vorgerufen werden.
Die Herftellung von Erdbebenmeflern ift nod
nicht febr alt. Als die ältefte Vorrichtung diefer
Art wird ein einfach aufgebängtes Gewicht ang.
ſprochen, deffen man fih 1841 in Comrie in Shor-
land zur Beobachtung von Erdbeben bediente. Es ift
niht unintereflant, daß der ere wiſſenſchaftlich be-
achtliche Verſuch ſeismiſcher Aufzeihnungen fih auf
denselben Gedanken gründet, den 1901 der Göt-
tinger Seismologe Wiechert in die klaſſiſche Form
prägte, dag fih jeder beliebig gebaute Seismo—
graph S durch ein einfaches Pendel P in feiner
Wirkung erfegen läft.”
Ein im Jahre 1832 von dem württembergiſchen
Studenten Hengler in München konftruiertes Jn-
Nrument, das in den 60er Jahren von Perrot
(186%) und Zoellner (1869) neu angegeben
wurde, fann nod) nicht als Erdbebenmefler ange-
— — — — —
ſprochen werden, da es urſprünglich als „aſtrono⸗
miſche Pendelwage“ gedacht war und erſt Zoellner
auf feine Brauchbarkeit als Seismometer hinwies.
Wohl aber ſetzen nach der Mitte des vorigen
Jahrhunderts eine große Reihe von Arbeiten nam-
bafter Forſcher in allen Ländern ein, die in wert:
vollen Ergänzungen und Verbeſſerungen eine ftatı-
libe Zahl von Seismographen, SGeismometern,
Klinographen uſw. fhufen, und von denen nur fol-
gende Namen hervorgehoben feien: der Amerikaner
Mood, der 1875 auf die Anwendung von Däm-
pfungen hinwies, Gray in Tokio, deffen „koniſches
Pendel” befonders von Omori in Tokio verbeffert
wurde und nod) heute in Japan verwendet wird,
Ewing in Tofio, Agamennone in talien, Marvin
in Mafhington, Grablowis und Wiechert in
Deutfchland, fowie der in den legten Dezennien be-
ſonders durd) feine zahlreihen Verbeſſerungen und
Neufonftruftionen befannt gewordene Profeſſor
Mainfa in Göttingen, der früher die leider einge-
angene Hauptftation für Erdbebenforfhung in
Straßburg im Elfaß leitete, jeget aber der „Erbe,
Inftitut für angewandte Geophyſik“ in Göttingen
vorfteht, und deffen liebenswürdiger Unterftügung
die in unferm Artikel gebrachten Photographien, fo-
wie mancherlei Anregungen zu verdanfen find.
Dabei fann natürlich ein Aniprud auf Volftändig-
teit der aufgeführten Namen nicht erhoben werden.
1. Erdbebenmeffer.
Während die allererften Beobachtungen von Erd-
beben nur floßartige oder hin- und hergehende Be-
wegungen unterfchieden, erfannte man feit etwa
1850, daß longitudinale und transverfale Bewe-
gungen getrennt auftreten, d. h. daß die Erdteilchen
entweder in der Fortpflanzungseinrichtung der Ye-
wegung oder quer zu diefer Schwingungen aus-
führen. Sehr raid) folgte die weitere Feftftellung,
daß die Wellen” Iongitudinaler Art den transver-
ialen voraneilen. Hierauf ergab fidh febr bald die
246
Konftruftion von Horizontal- und von Bertikalfeis-
mographen, je nachdem es fih um die Beobachtung
von horizontalen oder vertifalen Bodenbewegungen
handelte Später wurden noh Neigungen beob-
achtet und hierzu Klinographen Fonftruiert, ſodaß
man gegenwärtig diefe drei Gruppen von Erdbeben:
meflern zu unterfcheiden hat. Won ihnen beruhen
die Seismographen beider Art auf dem Pendel-
prinzip, während Klinographen entiprehend dem
Vorgang von Schlüter in Göttingen (Ende der
neunziger jahre) entweder nah dem Wagebalfen-
prinzip oder nah dem Vorſchlag von Wieder
(1903) als Horizontalpendel gebaut werden..
Eine fhematifhe Skizze eines Horizontalfeismo-
graphen zeigt Abbildung 1. Das fefte Geftell G
trägt an einem Doppelſtahldraht Ë ein Pendel-
Abt, 1.
gewicht P, das fih mittels eines Armes a mit
Iharfer Stahlfpige S gegen ein feftes Lager 1 lehnt.
Bei b befindet fih in einem Galgen zwiſchen Stahl-
pfannen gelagert ein beiderfeits zugeipister kurzer
Stahlftift, der die gelenfige Verbindung mit einem
Schreibhebel herftelt. Die Schreibregiftrierung
geihieht entweder auf mehanifhem Wege, indem
der Schreibftift auf einer berußten Papiertrommel
läuft, oder mit Hilfe einer direkt photographifchen
Methode, indem ein in der Drehachſe befindlicher
Spiegel den Tichtftrahl einer geeigneten Lichtquelle
auf lichtempfindlihes Papier wirft und dort ſcharfe
Lichtpunkte erzeugt, die in Abftänden von je einer
Zeitminute verdedt werden. Das lestere Wer-
fahren ift auh mit einem Spiegelgalvanometa
fombiniert worden. Im allgemeinen pflegt man
der Nußregiftrierung den Vorzug zu geben, nicht
nur weil fie einfacher und billiger ift, fondern auh
weil die Kurvenzüge feiner herausfommen als bei
der photographifhen Schreibart.
Der nah Omori in Abbildung 1 fkiszierte Seis-
mozıaph kommt noh heute in japan zur Anwen-
dung, obwohl neuere Apparate ganz wejentlihe Ber-
beflerungen ihm gegenüber aufmeifen fünnen. An-
Erjhütterungsmeßapparate.
tele der Drabtaufhängungen ift man zu federnden
Stahllamellen, anftelle der Stahlipige S zu Blatt-
federn (Ewing, Zoellner, Mainfa) übergegangen.
Aud die Aufhängungsart wurde verſchieden geband-
habt: man wählte den Drebpunft oberhalb des
Schwingungsmittelpunftes oder unterhalb desfelben
‘in beiden Fällen bei horizontaler Drebadfe), oder
endlih in feitliher Anordnung bei fehräger Dreh-
achſe. Im zweiten Falle wird das Gewicht durch
Scderfraft vor dem Umfallen geihüst. Abbildung
2 zeigt einen mittelgroßen Horizontalfeismographen
Abb. 2.
Mittelgroßer Horyontalieismograf nah Mainta. Gewicht des Pendeltörpers
— Pa
— kg bergeftellt. Erda A.G. Göttingen.
neuerer Konftruftion nah Mainfa, hergeftellt in
der Erda %.-G.-Göttingen mit einem Pendel-
gewichte von 725 Kg. Der Apparat hat den Wor-
zug, die beiden horizontalen Komponenten, die meift
jenfrecht zueinander ftehen, ganz getrennt und unab-
bängig voneinander aufzuzeichnen. Die Erdbeben-
welen verlaufen nämlich felten fo, daß die Aus-
ihlagsampituden marimale werden, weswegen man
die Wellen in zwei Komponenten zerlegt und diefe
regiftriert, um daraus rüdwärts den Schluß auf
die Bewegungsrihtung zu ziehen. Praftifh wird
man dabei den Apparat fo aufitellen, daß die beiden
horizontalen Komponenten in Richtung des Orts-
meridians und des erften Vertikals fallen, d. H. day
man eine N-S- und eine W-O-Komponente erhält.
Die Aufftellung zweier nftrumente ift immer
nötig, wenn deren Drebadfe ſchräg liegt.
Horizontalfeismometern, deren Drebpunft und
Gewichtsſchwerpunkt vertifal übereinander lie-
gen, genügt die Aufftellung eines Apparats mit
zweifahem Screibhebelfuftem in zu einander
ſenkrechten Richtungen (Vicentini und Grablo-
wiß).
Der in Abbildung 2 mwiedergegebene Apparat
befist einen Penvdelförper, der aus gufeifernen
Platten von 44 cm Durchmeſſer beftebt. Das
Schreibhebelſyſtem regiftriert in der Minute auf
15 mm des Regiftrierbogens, die auh auf 10
mm herabgejegt werden können, und hat eine
Laufzeit von 25 Stunden. Das nftrument
zeichnet alle Beben auf, von lokalen Herden bis
zu weit entfernten Schüttergebieten (Epizentren)
von mehreren 1000 Kilometern Entfernung.
Das Prinzip eines Wertifalfeismographen
wird durh Skizze 3 erläutert. Das Gewicht P
ift zumächft an einem Arme a befeftigt, der bei A
gelenkig mit dem Geftell G und dadurd mit dem
Erdboden verbunden ift. Bei B greift eine Spi-
ralfeder an, deren Dide, Windungszahl und
Durchmeſſer die Eigenperiode der Schwingungen
bedingt. Man verfteht unter der Periode T —
ganz wie beim Pendel — die Zeit, welche zwi-
ihen einem Durchgang des Maſſenmittelpunkts
durh die Mittellage und dem übernädhften
Durdgang verftreiht. Die in der Skizze vor-
bandene Aufhängung nah Ewing läßt die Spi-
ralfeder (auf Zug beanfprudt) bei B unterhalb
a angreifen, wodurd die Eigenperiode ganz
wefentlih erhöht wird. Die Anordnung des
Schreibhebels entſpricht der des Horizontalſeis—
mometers, nur iſt zu beachten, daß beim letzteren
horizontale, beim Vertikalſeismographen dagegen
Abb. 3.
vertikale Ausſchläge des Pendelgewichts zu regi—
ſtrieren ſind.
Mainka hat als erſter 1907 darauf hingewieſen,
daß anſtelle der auf Zug beanſpruchten Spiral-
Erſchütterungsmeßapparate.
federn auch ſolche mit Druckbeanſpruchung ange—
bracht werden können. Abbildung 4 zeigt einen
Ber derartigen Apparat mit einem Gewicht des Pendel-
i e
t? an a
\ a der
Abb. 4.
Vertifalfeismograpb nad Mainta. Gewicht des Pendellörpers über 300 kg.
Hergeitellt in der Werltätte der Erda A.G. Göttingen.
förpers von über 300 Kg. Die Eigenperiode Täkı
fi) von 5 bis 15 Gefunden variieren, insbefon-
dere ift es möglich, das Inſtrument auf diefelbe Ei-
genperiode wie die des Horizontalfeismographen ein-
zuftellen, was bisher bei Nußfchreibapparaten noh
niht der Fall war.
Während man mit dem Horizontalfeismographen
nur den MNichtungsverlauf von Erdbeben in þori-
zontaier Ebene feftftellen fann, läßt fid durch Zu-
fammenjeßen der horizontalen und vertifalen Kom-
ponente auh der Winfel ermitteln, unter welchem
die Wellen gegen die Erdoberflähe geneigt an-
fommen (Emergenzwinfel).
Endlih fol noh auf die Dämpfungseinrichtun-
gen bei beiden Seismographen hingemwiefen werden.
Diefe find erforderlich und werden feit etwa 20 Jah-
ren eingebaut, weil fih aus theoretifchen wie praf-
tiihen Gründen ergibt, daß die Eigenperiode des
Pendels die Erdbebenwellen verfchleiern Fann. Man
ſucht daher die KEigenfhwingungen des Pendels
möglichft zu erhöhen und bedient fih verfchiedener
2
Dämpfungsmöglichkeiten: dur Luft, durch Flüſſig⸗
fcit oder durh Kleftromagnete. In Abb. 2 ift
linfs, in Abb. 4 rechts ein würfelfürmiges Gefär
zu erkennen, in welchem die Flüſſigkeitsdämpfung
untergebradht ift. Störende Drud- oder Saug-
wirfungen find befeitigt. In allerjüngſter Zeit
haben Verſuche mit elektromagnetiſcher Dämpfung
unter Benugung der Tichtleitung zu guten Erfolgen
geführt (Mainta).
Die Neigungsmeffer (Klinographen)
erlangen größere Bedeutung nur in der unmittel-
baren Nähe eines fehr tätigen Erpbebengebiets.
Für die normale Regiftrierung mehr oder weniger
weit entfernter Beben ergeben fih fo feine Nei-
gungen, daß fie praftiih vernadhläfligt werden
fönnen. Zudem können Horizontalfeismograpben
mit großer Periode (25 — 30 sec.) einen Meigungs-
mefler erfeßen, da fie febr empfindlich gegen Nei-
gungen find. Das Prinzip wird aus Stize 5 er-
fihtlih. Zwei Gewichte P: und P: find durd
Abb. 5.
einen Arm a verbunden und möglihft im Schwer-
punft aufgehängt. Der Mebenarm b mit dem
Laufgewicht Ps dient zur Einftellung beliebig Hober
Eigenperioden. Ihre Bedeutung als nftrumente
zur feismifhen Forſchung ift zurüdgetreten, fert
man erfannte, daß in einiger Entfernung vom Epi-
zentrum Feine merflichen Neigungen, fondern nur
Verfhiebungen des Bodens auftreten und die
- Apparate beeinfluffen.
2. Erſchütterungsmeſſer.
Das reichhaltige und außerordentlich vielfeitige
Anwendungsgebiet der Erfhütterungsmefler für
alle Arten der praftiihen Technik bradte es mit
fih, daß feine ausgeſprochene Typenbildung diefer
Anftrumente vorhanden ift, fondern daß fie je nad
der Eigenart der geftellten Aufgabe für den jemwei-
ligen befonderen Zwet konſtruiert wurden.
Dmoriin Japan ſchuf eine Reihe von Apparaten
zur Unterfuhung von Brückenſchwingungen,
Schwanfungen von hoben Schornfteinen und
Eifenbabnwagen bereits in den 80er Jahren;
Grunmach in Berlin wurde nah jahrzehnte-
Ecſchütterun gsmeßapparate
langen Experimentalunterſuchungen im Jahre 1906
von der Provinzialverwaltung Schlefiens mit der
Aufgabe betraut, die Felsſchwankungen zu meflen,
welche durch den Abfturz größerer Waflermaflen an
der QDueistalfperre bei Markliſſa entftehen, und er
löfte fie mittels eines Apparates, mit dem er einen
ganz neuen Weg beihritt (f. unten); D. Shlid
erbaute einen „Pallographen” zum Studi-
um der horizontalen und vertifalen Vibrations⸗
erſcheinungen von Seeſchiffen; franzöfifche Arbeiten
galten der Erforfhung von Schiffsbewegungen,
die von Meereswellen verurfadht werden; Wiechert
in Göttingen ließ 1906 ein transportables Mep-
gerät mit befonders ftarfer Vergrößerung anfer-
tigen; nah ihm fonftruierte Mintrop im
Göttingen einen Reifeapparat, mit dem er Boden-
erfhütterungen meflen fonnte, die von einer 89
Rentner ſchweren Stahlfugel noh in 2% km Ent-
fernung beim Fall hervorgerufen wurden, und mit
dem die Schütterwirkungen einer Großgasmaſchine
in der gleihen Entfernung nachgewieſen werden
fonnte; Mainta unterfuhte 1909 das vogt-
ländifhe Erdbebengebiet mittels eines „Accelero⸗
graphen” (Beſchleunigungsmeſſers); endlih fei
nod ein Gerät von Jahnke und Kleinath
aus dem Jahre 1918 erwähnt, das zur Meflung
der Beſchleunigungen von Förderförben bei Berg-
werfsanlagen dient. Jeder Apparat bat hierbei
ſeine Eigentümlichkeiten, die naturgemäß im Rab-
men dieſes Auffakes niht eingehend erörtert
werden Eönnen.
Im allgemeinen find diefe Erfchütterungsmefler
nag dem Prinzip von Seismographen gebaut; nur
it der grundſätzliche Unterſchied beider beider
Arten von Erfhütterungen zu beachten, der darin
. liegt, daf die Perioden der Fünftlihen Erſchütte⸗
rungen viel Fleiner find als die der Seismogramme,
ſodaß ein mit feismifchen Arbeiter vertrauter Be-
obachter beide Aufzeihnungen ſchon nadh dem äuße⸗
ren Ausſehen unterfoheiden fann. Bis auf den
Abb. 6.
Apparat von Grunmach beruhen alle anderen auf
dem Pendelprinzip. In Abb. 6 und 7 it Schema
und Anfiht des von Mainka erbauten Apparates
wiedergegeben. G: und G2 find Pendelgewichte,
die einerfeits durh Stahlbänder Li und Le, an-
dererfeits durh auf Drud beanſpruchte Spiral-
federn gehalten werden. Man erfennt, daß ein
Horizontal- und ein Vertikalapparat zufammen-
ER Erjhütterungsmehapparate. 249
Regiftrierwerfs und dient zur Meflung ftärferer
Erſchütterungen.
Weſentlich verſchieden iſt die Grunmachſche
Apparatur. Ein Gewicht G (Abb. 8) liegt mit
einer Auflagefugel K einerfeits auf dem Amboß B
auf, andererfeits wird es von einer mittels Mifro-
Abb. 7.
Apparat zur Mefjung künſtlicher Erjhütterungen nad Mainta.
gleihartig (Spiralfeder auf Drud beanjprudt) angeordnet auf Reſtpapier jchreibend.
Für frärfere in der Praris vorlommende Erihütterungen.
bagd).
gelegt find, wobei im Gegenſatz zu anderen Inſtru—
menten eine Gleihartigfeit in der Anordnung beider
Komponenten vorhanden ift. In dem durch Striche
umrahmten Teile find die beiden Schreibhebel für
Rußregiſtrierung untergebrabt. Zur Dämpfung
werden je zweimal drei Aluminiumblätter von etwa
6X6 em Grife und 5 mm gegenfeitigem Ab-
ftand verwendet, die in ein mit Del gefülltes drei-
teiliges Gefäß tauchen. Hierbei reibt die von den
Blättern mitgeführte Flüffigkeitshbaut gegen die
Flüffigkeit im Gefäße. Die Apparatur ift von der
Firma J. und A. Bofh-Hedingen (damals Straf-
burg) bergeftellt unter befonderer Ausführung des
Horizontale und vertifale Komponente find
g = Gelentadje ſStahl—
meterſchraube und Sfala (Mi und SK) verftell-
baren Feder F fo gebalten, daß zwiſchen K und B
nur eben Kontakt beſteht, um einen elefftfrifchen
Strom durch A, a, K, B, Widerftand W: von und
nah der Stromquelle EI zu fließen. Iſt nun
die anfommende Stoßfraft größer als die Aufliege-
fraft des Hammers, fo löſt fih der Hammerfopf
vom Amboß, es wird der Strom unterbrorden und
über W2 ein Galvanometer betätigt. Aus der
Federeinftellung F, die durch einen Beobachter er-
folgen muß, läßt fih die DBefchleunigung der
Schütterkraft ermitteln. Mainfa Fonftruierte nad
diefem Gedanken feinen Accelerograpben, indem er
250
Gabeln an den (verfchieden einftellbaren) Ge-
wichten anbradıte, die ihrerfeits wieder einen elef.
tromagnetifhen Schreibhebel betätigen. Da
fidh jeder Apparat nur auf eine gewiſſe Be-
fhleunigung einftellen läßt, find zur felbft-
tätigen Megiftrierung mehrere Syfteme er-
forderlih. Auch Galitzin erfeßte in feinem
Beſchleunigungsmeſſer 1915 die Spiralfeder-
wirfung durch Aenderung des Winkels, unter
dem die Hebelarme (der SHorizontalinftru-
mente) gegen die Zenitlinie geneigt find.
Verſuche, insbefondere vergleichender Art mit
Eeismographen, find hierüber noh niht ab-
geichloflen- |
Die Konftruftion aller folder Apparate
ftellt naturgemäß an die Präzifionsmedhanif
ſehr Hobe Anforderungen. Es ift erfreulich
zu ſehen, wie gut diefe Aufgaben aud
in Deutſchland erfüllt werden, . obgleich
EIN.
Eine neuere Behandlung der bösartigen Geſchwülſte durch Bakzine⸗Injektion.
noh mande von ihnen beflere Löſungen wünfchen
läßt.
W2
a
— 6 =
e a
W:
Abb. 8.
— — — — — — —
Eine neuere Behandlung der bösartigen Geſchwülſte durch Vakzine—
Injektion. Bon Generaloberveterinär a. D. Dr. Koßmag.
Die Behandlung der bösartigen Geſchwülſte,
insbeſondere des Carcinoms (Krebs) und des
in ſeiner Auswirkung ähnlichen Sarkoms, war
von jeher infolge der Bildung von Rezidiven
und Metaftafen eine undantbare Aufgabe der
Chirurgen. Vielfach find diefe Gefhwulft-
bildungen überhbaut niht operabel und die
operativ . entfernten kehren, wie gejagt, meift nad
mehr oder weniger Furzer Zeit wieder, oft genug
dann unter Meubildung gleichartiger Gefchmwülfte
an von der Dperationsftelle entfernt gelegenen
Orten des Körpers. Da die Krebsfrankheit eben-
fo wie die Tuberfulofe eine Volkskrankheit ift, der
jährli) etwa 50 000 Menihen in Deutidhland
zum Opfer fallen, fo fann es nicht genug begrüßt
werden, wenn die neuere medizinifhe Forſchung
uns Mittel und Wege weift, ſcheinbar mit Erfolg
gegen diefen Würgengel vorgeben zu können. Pro-
feffor Dr. Fr. Keyffer, Berlin - Lichterfelde,
Vinzenzkrankenhaus, gibt in einer Abhandlung:
„Die WBakzinebehandlung der bösartigen Ge-
ſchwülſte“, Verlag ©. Hirzel, Leipzig, hierüber
intereflante Auskunft.
Leider ift das Wefen der bösartigen Tumoren
trog aller Theorien noh nicht endgültig geflärt.
Es ift daher aud eine einwandfreie, nicht anfecht-
bare Erklärung für die Wirkung der Vakzine⸗
behandlung ebenfalls zurzeit noh nicht möglich.
Auf jeden Fall ift erwiefen, dag die Verwendung
der Geſchwulſt⸗Emulſion⸗Vakzine „im Anſchluß an
möglihft radifale Operationen, auch bei Fällen
H
mit ungünftiger Vorausſage, bei 5- bis Yjähriger
Beobachtungsdauer das Auftreten von Rezidiven
verhütet.” Zur Behandlung wird einmal ein Er-
traft aus Teilen des Geſchwulſtgewebes benust,
das andere Mal eine Auffhwenmung von Ge-
fhwulftzellen, die Kenfler als Tumoremulſion be-
zeichnet. Die Herftellung diefer Art Impfſtoffe ift
verhältnismäßig einfach, erfordert aber große
Sorgfalt ſowohl im Hinblid auf die Gleihmäßig-
feit wie auch auf die Keimfreibeit.
Das Ertraft, ein Kochſalz⸗Chloroformauszug,
ift nur furze Zeit halbar und ruft flets mehr oder
weniger ſchwere, ja felbft unter Umftänden den Tod
zur Folge babende Mebenerfheinungen hervor.
leerer Ausgang ift bei gleichzeitigem Beſtehen von
Herzerfranfungen und Gefäßveränderungen oder
bei hochgradig heruntergelommenen Patienten zu
erwarten und daher hier die Ertraftbehandlung ver-
boten. Dur die Einverleibung des Mittels in
die Blutbahn der Kranfen findet neben Aenderung
des Gefamtbefindens eine Iofale ‘Beeinfluffung der
Geſchwulſt ftatt, doch folgt in der Regel der anfäng-
liben Allgemeinbefferung bald ein erhöhtes Auf-
fladern des Leidens. Hiebei ift es gleichgültig, ob
dag Ertraft aus Förpereigenen oder Fürperfrembden
Geſchwülſten gewonnen wird. Günftiger fcheinen
fi) „unſpezifiſche Ertrafte”, aus embryonalem Ge-
webe bergeftellt, bei Sarfomen bewährt zu Haben.
Da bis auf vereinzelte Ausnahmen niemals
völlige Heilung erzielt, die Behandlung niht unge-
fährlih ift und die inoperablen Geſchwülſte durd
Heilung und feelifhe Erziehung durh bewußte Autofuggeftion nah Coué.
die Möntgentiefentherapie wefentlih erfolgreicher
angegriffen werden, fo wird fih diefer Behand-
Iungsart gegenüber der Arzt noh abmwartend ver-
halten.
Wefentlih anders und ohne jeglihe Mebener-
fheinungen, daher ambulant vom Hausarzt aus-
führbar, wirft die Verwendung der Emulfion.
Hergeftellt wird diefe Geſchwulſtvakzine entweder
aus Förpereigenen oder aus körperfremden Ge-
ſchwulſtzellen gleichen hiſtologiſchen Baues oder aus
auch zugleih artfremden, nämlich tierifhen Ge-
fhwülften. Werben mehrere Geſchwülſte gleicher
Art benust, fo ſpricht man von Mifchvalzine.
Senfibilierte Vakzine ftellt eine Miſchung dar von
Geſchwulſtemulſion mit Blutferum, das von ge-
Ihwulftfranfen Menfhen oder Tieren, die mit
diefen Geſchwulſtzellen immunifiert wurden, þer-
rührt.‘ Bei Derimpfung von Förpereigenen und
lebenden Geſchwulſtzellen hat fih öfter an den
Injektionsſtellen Gefhwulftbildung gezeigt. Dies
wird vermieden, wenn man abgetötete Vakzinen
von Förperfremden Geſchwulſtgeweben benust.
Die Wakzine wird in langfam fleigenden Dofen
unter die Bauchhaut, nie in die Blutbahn, gefprigt
und verurfacht nicht die geringfte Arbeitsbehinderung
des Patienten. Diefe Behandlungsart it mit recht
guten Rejultaten bei operablen Gefhwülften nad
teren Entfernug zur Vermeidung von Mezidiven
angewandt worden, zumal die bi“ e benußte MRönt-
gennahbehandlung verfagte. Wie weit die Emul-
fioninjeftion in WBerbindung mit der Möntgen-
tiefbeftrahlung diefe in ihrer Wirkung auf inope-
251
rable Gefhwülfte unterftügt und ev. ein Wieder-
auftresen derielben verhindert, bedarf noh weiterer
Verſuche.
Ein anderes, beſonders für die Behandlung
inoperabler Geſchwulſtkranken geeignetes Verfah—⸗
ren iſt die Einverleibung keimfrei gemachten Erfu-
dates, das mittels Punktion (Einſtichs) aus der
Bruft- oder Bauchhöhle von Perſonen gewonnen
wird, bei denen es infolge der Geihmulftbildung
zur Anhäufung von Flüffigfeit in den genannten
Höhlen gekommen ift. Ueber die DBorgänge, die
fidh bei diefen Behandlungsarten abfpielen, ift man
naturgemäß noh im Unklaren. Die Bezeichnung
Vakzine für den Impfſtoff weit aber darauf hin,
daß man an eine aftive Immuniſierung des Körpers
gedacht hat, ähnlich unferer Podenimpfung. Durch
die Einfprisung bilden ſich wahrfcheinlih Anti-
Eörper, die gegen die bisher unbefannten, aber anzu-
nehmenden Erebserzeugenden Körper gerichtet find.
Andererfeits ift feftgeftellt, daß in den Geſchwülſten
jelbft Fermente enthalten find, die unter gewiflen
Bedingungen eine Auflöfung, eine Art Selbft-
verdauung des Tumors hervorrufen. Man Tann
daher auch annehmen, daß mit der Emulfion eben-
falls diefe Fermente in den Körper und durd die
Blutbahn zum Sige der Geſchwülſte gelangen und
bier ihre Wirkung entfalten werden. Sei dem,
wie ihm wolle, es fcheint jedenfalls die MöglichFeit
zu beftehen, durch die angegebene Behandlungsart
gefhmulftfranfen Menfhen und Tieren Heilung
zu bringen bezw. mindeftens um fahre ihr Leben
zu verlängern und zu verbeflern.
Heilung und feelifche Erziehung durch bewußte Autofuggeftion =
Coué. Don Franz Klodenbring, Apothefer.
Vor nahezu einem halben Jahrhundert begrün-
bete Liébault, ein einfacher, aber genialer franzö-
ſiſcher Landarzt, mit Bernheim, feinem wiſſenſchaft⸗
lihen ‘Berater, die alte „Schule von Nancy”, wo
man zum erften Male den Sinn der Hypyoſe er-
kannte, die grundlegenden Erfahrungen fammelte
und ihre praftifche Anwendung in ter Medizin
lehrte⸗
Emil Coué, dem in feiner Jugend die Mittel
fehlten, um entfprechend feinem Streben und feinen
Sähigfeiten die erfehnte geiftige Ausbildung zu er-
werben, um fo, wie er glaubte, ein würdiger ‘Diener
der Menſchheit werden zu Fünnen, wurde nur”
Apotheker. Jn feinen jungen Jahren machte er die
Bekanntſchaft Tiebaults, mit dem er geiftig ver-
wandt zu fein feheint. Dieſes Begebnis ward be
fimmend für fein ganzes Leben, er widmete fid)
ganz der Pſychologie, fammelte in mehr als 20
Jahren, während welder er im Dienfte der Mebi-
sin die Hypnoſe anwandte, ein bedeutendes Er-
fahrungsmaterial über die menſchliche Pſyche, aus
dem fid ſchließlich feine heute bereits über die ganze
Welt verbreitete Autofuggeftionsmethode — oder
wie man in England fur; fagt: „Der Couéismus“,
entwicfelte. Damit ward Coué der Begründer „ber
neuen Schule von Nancy”, deren tiefen Erfennt-
niffen und wunderbaren Erfolgen auf pſychiſchem
Gebiete fih auch Fein Laie mehr verfchließen follte.
Täglich ziehen aus allen Teilen der Welt Kranke
und moralifch oder feelifch Leidende gen Nancy,
und Taufend und aber Taufend find gefund oder
gebeflert und faft immer froh und glücklich heim-
gekehrt. Aus dem Jahre 1922 berichtet uns der
englifhe Arzt Dr. M. S. Monier-Willioms aus
London, daß Coué jährlih etwa 15000 Kranke
behandelte, und zweifellos fteigt die Zahl feither be-
252
ſtändig. Bedenkt man nun dazu noh, daß nidi
das geringfte Entgelt verlangt wird, weder von
Reihen noh von Armen, fo begreift man vielleicht,
welch uneigennügiger edler MWohltäter der Menid-
heit wieder einmal zur rechten Zeit erftand.
Und meldes ift dag wunderbare Mittel, dag fo
fegenbringend wirft? Es ift fo genial wie einfad:
fo gewaltig, wie unfcheinbar! Herr Coué vermag
mit einer nie erlahmenten Hingabe, mit einem
grenzenlofen, Findlihen Glauben und feiner großen
Liebe in feinen Patienten das Vertrauen und den
unverrüdbaren Glauben an fih felbft und an eine
unauebleiblihe DBeflerung zu weden. Es würde
mir ſchwer fallen, das nunmehr auffeimende Miß⸗
trauen des Tefers zu zerftreuen, könnte ich nicht auf
die Unmenge Geneſener verweifen, und auf die
große Anzahl von Aerzten und Gelehrten — an
ihrer Spige Prof. Dr. Baudouin aus Genf, Dr.
Monier-Williams, der in London eine Klinik ein-
gerichtet hat, wo nad Coué’ s Methode mit wunder-
baren Erfolgen gearbeitet wird.
Mit gleihem Erfolge wirkt in Berlin in einer
der Univerfitätsflinifen Dr. med. Brauchle. Aud
in Wien, in der Schweiz, ganz befonders in
Amerika — auch in Holland und Italien — bat
Coués Lehre längft feften Fuß gefaßt.
Dem engen Raum entiprehend will ih fo ge-
drängt wie möglich verfudhen, die Richtlinien, die
zum Goueismus führten und die Anwendung der
Methode felbft zu zeigen. Jedoch möchte ih nicht
unterlaflen, auf die beiden Büchlein Coué's zu ver-
weifen, die bei Benno Schwabe in Bafel erfchienen
find: „Was id tat”, befonders aber: „Die Selbft-
bemeifterung dur bewußte Autofuggeftion.”'
Es muß zunädhft jeder willen, der fi mit Hyp-
nofe, Suggeftion oder Autofuggeftion befaßt, daß in
jedem Menſchen gewiflermaßen zwei Individuen ver-
förpert find. Dag eine nennt man fein Bemwußtfein;
man könnte eg vielleicht die „gegenwärtige, momen-
tane Perſönlichkeit“ heißen, während dag zweite
unfer Unterbewußtfein darftellt, das ich entiprecdhend
„die in ihrer Geſamtheit nicht ftets gegenwärtige
Derfönlichkeit unferer ganzen Dergangenheit und
Gegenwart” nennen möchte. Der eminente Wert
des Unterbewußtfeins wird nur von wenigen flar
erfannt und dodh bewahrt es gerade als Träger
unferes Gedächtniſſes die Reſultate unferer Er
ziehung und unferer gefamten Erfahrungen und hält
fie dem Bewußtſein bereit, um mit diefem Meferve-
material denten und handeln zu Eönnen. - Ferner
ift es das Unterbewußtfein, das unferen ganzen
vegetativen Funktionen vorfteht, ih nenne nur die
Herztärigkeit, (Blutkreislauf), Atmung, Werdau-
ung, Seftionstätigfeit der Drüſen — alles Funt-
tionen, die wie noh viele andere, völlig unbemwußt,
ebne unferen Willen vor fih geben. Es mag
Heilung und fcelifhe Erziehung durch bewußte Autoſuggeſtion nah Coué.
parador erfcheinen, daß das Unterbewußtlein dem
Bewußtſein weit überlegen fein fol, ja faft unfere
ganze Perſönlichkeit ausmacht; dodh dafür bringen
den Beweis Prof. Freud und alle Pſychologen.
Wem der Sinn und der Wert des Unterbewußt-
feing aufgeangen ift, dem ift auh Coués Lehre
tlar.
Die Funktion des Bewußtſeins it ver Wille,
die Funktion des Unterbewußtfeins der Glaube,
die Einbildung; aud das lehrt ung die Pip-
chologie!
Und wie ein Echo dazu antwortet die Philoſophie:
„Es gibt keine abſoluten, ſondern nur relative
Wahrheiten.“ — Da, wo der Wille dem Glauben
entſpricht, wo Beide gleichgerichtet ſind, treffen wir
den idealen Tatmenſchen. Wo hingegen der Wille
mit dem Glauben in Konflikt gerät, iſt es ſtets der
Wille, der unterliegt, und der Glaube, der den Sieg
davon trägt. Der Schlafloſe „will“ ſchlafen, aber
ſein Unterbewußtſein ſagt ihm immerzu: „ich kann
nicht”. Erft wenn fein Unterbewußtſein überzeugt
ift, daß er fann, fchläft er ein. — Jedermann geht
mit Leichtigkeit auf einem auf dem Boden liegenden
‘Brett, während es faum einer unternimmt, über
das gleiche Brett zu gehen, wenn es fo angebracht
ift, daß es 3. B. die Spigen einer doppeltürmigen
Kirche verbindet. Warum niht? Man glaubt nicht,
daf man’s fann, und deswegen hat man Angft. Der
Dachdecker hat feine Angft, denn er glaubt, daf er
auf dem Dad hantieren fann. — Der Mor-
phinift, dem man inggeheim das Morphium” ab-
gewöhnt, glaubt, daß er das Morphium, das viel-
leicht nur nod in ganz geringer Dofis oder fogar
gar nicht mehr in feiner injizierten Töfung vorhanden
ift, — ibn ſchlafen maht. Sein Glaube ift ftärfer
oder doch ebenfo ftarf, wie dag ftarkwirfende Gift.
— Derartige Beifpiele fann man bis ing Unend-
liche weitermodellieren, man findet deren unzählige
für Gefunde und Krante.
Mit diefen Betrahtungen haben wir den erften
Hauptſatz der Couéſchen Methode gefunden; er
lautet:
1. Der Glaube ift unfere bedeutendfte inner:
Kraft, kommt er mit dem Willen in Konflikt, fo
muß unmweigerlih der Wille jedesmal unterliegen.
Der zweite lautet:
2. Jeder Gedanke in uns ift beftrebt, Wirklich
feit zu werden, bedeutet für dag denfende Jndivi-
dium fchon eine Wirklichkeit. (Bernheim.)
Aus diefen beiden Sägen ergibt fih dann die not-
wendige Folgerung:
3. Wir müflen lernen, unfere Einbildungstraft,
die uns in allem führt, in dem Sinn zu beein-
fluffen, daß fie unfere Ziele und Wünſche gedanklich
jo lange fefthält, bis diefe zur Wirflichfeit gewor-
den find.
[nm Um mn m a
Diefe drei Säge bilden den ganzen Kern, um den
berum fi Coué's Heil- und feelifhe Selbiterzie-
hbungsmethode gruppiert.
Es entftebt nur nod die Frage: „Wie lenken wir
unfere „Einibldungskraft? Und da antwortet uns
Coué: „durd eine gewollte und bew u f te Auto-
fuggeftion.” Durch Autofuggeftion lenken wir alle ja
ſchon immer unfer Tebensichifflein, nur ift fie eben
bei febr wenigen Menſchen bewußt; daher bei
den meiften der fteuerlofe Kurs. Dazu nun gab
uns der alte Meifter von Nancy eine Methode von
geradezu Eindliher Einfachheit, die man dumm”
nennen mödte, würde man nicht feine ganze Geni-
alität in ihr finden: Jeden Morgen und jeden
Abend, am beften zu Bett, wenn der Körper fih
in abfoluter Ruhe befindet, flüftere obne die ge-
ringfte Anftrengung, ohne die Aufmerffamteit
krampfhaft auf irgendetwas zu lenfen in monotoner
Meife die Worte vor dih hin: „Es geht mir von
Tag zu Tag in jeder Beziehung beffer und beffer.”
(Tous les jours à tous points dé vue je vais
dé mieux en mieux) — und dag 20 Mal pinter-
einander, womöglih, um nicht mit Aufmerffamfeit
zählen zu müſſen, indem man dabei einen Bind-
faden mit 20 Knoten wie einen Roſenkranz durd
die Finger gleiten läßt. Kleinerer Uebel, die fiw
plöglic über Tag einftellen, Fann man leicht Herr
werden: Man zieht fih ein wenig zurüd und ftreicht
mit der Hand über die fhmerzende Stelle, wenn es
ſich um ein phyſiſches Uebel handelt, — über die
Stirn bei folgen moralifher Art und ſpricht daber
fo ſchnell wie möglih, daß gar fein anderer Ge-
danke fih einzufchleichen vermag, die Worte vor fih
þin: „Es ſchwindet, es ſchwindet“ ... . ufmw.
(das franzöfiihe ga passe, ga passe .. . ufw.
ift für ein fchnelles Ausſprechen zweifellos ge-
fhmeidiger.) Mit ein wenig Uebung bringt man
es bald dahin, dag man derartige Schmerzen und
Uebel in 20-25 Sekunden vertreibt. —
Auf diefe Weife ‚‚tropft” man gewiflermaßen in
fein Unterbewußtfein den Glauben und die fefte
Ueberzeugung hinein: „Ich fann” oder es gebt” —
und der Erfolg ift geradezu unausbleiblid — felbft-
verftändlich darf es fih nur um Dinge handeln ‚die
im Bereich der Möglichkeit liegen, da ift aber der
Erfolg ganz unbedingt fiher, wenn man nur richtig
glauben fann und dabei Feine Anftrengungen madır,
d. h., den Willen ganz ausſchaltet. Nur in völliger
Förperliher Entipannung fann man fo zu feinem
Unterbewußtfein fprehen. Aus feinem alltäglichen
Worterſchatz empfiehlt Coué dringend die Worte zu
Die Duantentheorie. Son B. Bavint.
Don mehreren Seiten bin ih gebeten worden,
eine „volkstümliche, Teichtverftändlihe Darſtellung“
Die Quantentheorie.
253
ſtreichen: „ich kann das nicht“, oder „das ift ſchwie—
rig“ und ähnliche, die nur unfer Unvermögen aug-
drüden, um fie fed und vertrauensvoll durd ent-
gegengeſetzte zu verdrängen.
Schließlich dürfte noh die Frage intereflieren.
Was wird mit diefer Methode erreiht? Ich fann
fie nur febr unvollfommen beantworten. denn, —
um die „Wunder von Nancy“ zu faflen, bedarf es
zweifellos einiger Bände. Es werden alle Kate»
gorien nervös und organiſch erfranfter Patienten
— meift mit Erfolg — behandelt. Unantaftbare,
völlige Heilerfolge liegen vor von Kranfen, die
drei, fünf und zehn Jahre und noh länger ihr Bern
niht verlaffen baben, ferner unzählige Zeugnifle
über SHeilungen von: „Meurafthenifern”, Melan-
Eolifern, Schwerbörigen, Augenfranfen, Stotte-
rern, Halbfeitiggelähmten, Haut, Magen, Darm-
und Lungenfranfen. Dazu kommt die große Anzahl
moralifh Geheilter: Kleptomanen, Jaähzorniger,
Zrunfenbolde uſw. ufmw.
Bei alledem greift Coué weder eine medizinifche
(er rät ernftlih zur Behandlung dur den Arzt)
noh weniger eine religiöfe Auffaffung an.
Eine ganz pradtvolle Erziehungsmethode gibt
dann Coué noh den Müttern und Vätern. Einer
von beiden fol des Nachts geräufhlos in etwa
1 Meter Entfernung dem fchlafenden Kinde etwa
20 Mal halblaut vorflüftern, was man von ihm
erreichen will (gefundheitlih oder erzieherifh) und
dann ebenfo geräuſchlos wieder verſchwinden. Aut
diefe Weife erreichte ich nach zwei Abenden, daß mein
4jähriger Junge feine Finger nicht mehr Tutfchte.
In der angegebenen Weife habe ich ihm vorgefagt:
„Hanſel Tutfcht jest nie wieder an feinen Fingern.‘
Der Erfolg war verblüffend, vorber half Fein
Drohen, fein Strafen, fein Bitten und fein Be-
lohnen. — Ebenfo gibt es fein wirffameres Mittel
gegen das Mägelfauen, Bettnäflen und noh mandes
andere.
Dem [Lefer bleibt es nunmehr überlaflen, ent-
weder Eopffchüttelnd ungläubig diefe Mitteilungen
hbinzunehmen, oder durd ein genaueres Studium
und eigenen Verſuch zu erproben, feine eigene bisher
unerfannte Kraft aufzurufen, um fo manden ftillen
Wunſch zu erlangen, fo manhe Sehnſucht zu be-
friedigen und fih von feinen Teiden phyſiſcher
und moralifher Art zu befreien, um die Welt in
einem freundlihen Glanz erftrahlen zu feben, oder
zum mindeften ein trauriges Schidfal erträglich zu
geftalten.
&
Ge;
des Inhalts der Duantenlehre zu bringen, von der
man beute fo oft höre. Die Herren Einfender
254 Die Quantentheorie.
fcheinen fih eine ſolche Aufgabe leichter vorzuftellen
als fie ift. Don allen Naturwiflenfchaften ift die
Phyſik gewiß an fih die fchwierigfte und von allen
Zweigen der Phyſik die theoretifhe Phyſik wieder
der fchwierigite für den Laien. Trotzdem hat der
letere ein gewifles Recht darauf, daß der Fad-
mann immer wieder mwenigftens den Verſuch macht,
ihm die grundſätzlich wichtigen Ergebniffe der For-
{hung in einer folden Form vorzutragen, daß er
bei einigem fcharfem Mitdenfen begreifen Fann,
worum es fih handelt und wenigftens eine unge-
fähre Ahnung befommt, weshalb die Fachwelt von
diefen in Nede ftehenden Dingen fo viel Aufſehens
maht. In diefem Sinne will ih auh hier ver-
fuchen, zu fagen, was fih vor Laien über die geniale
Idee Plands und ihre Auswirkungen im phy-
fifalifchen Lehrgebäude fagen läßt. Wer es nicht
verftehen fann, ſchimpfe nicht, fondern bedenke, daf
unter unferen Leſern mande andere fein mögen, die
etwas davon haben. |
Am beiten kommt man auh beute noh der
Quantenlebre auf dem Wege nahe, auf dem fie
geihichtlih in die Phyſik hineingefommen ift, von
dem Gefeg der Strahlung aus. Befanntlid wird
Abb. 1. Spektrum, dur Prisma erzeugt.
die von einem glühbenden Körper ausgejendete
Strahlung durdi ein Prisma oder andere Zer-
legungsapparate in ein „Spektrum“ auseinander-
gezogen (Abb. 1), deffen einzelne Farben fih phyfi-
Falifh durch die Wellenlänge bezw. Schwingungs-
zahl unterfhheiden. (Die Wellen des roten Endes des
fihtbaren Spektrums haben eine Wellenlänge von
rund 760 Milliontel Millimetern, eine Schwin-
gungszahl von rund 400 Billionen in der Se-
Funde. Die des violeften Endes eine rund halb
fo große Wellenlänge und doppelt fo große Schwin-
gungszahl, liegen aljo akuſtiſch geiproden gerade
eine Oktave höher.) Nun geht aber das Spet-
trum beiderfeits, wenn auch dem Auge unfidhtbar,
weiter ing „Ultrarot“ und „Ultraviolett. Man
hat eg erperimentell nah der erfteren Seite nod
um faft 9 Oktaven, nadh der anderen um faft 4
Dftaven erfolgt. (©. die Wellenlängenffala”
Abbildung 2). As Aufnahmeapparat dienen
teils die photographifhe Platte (im Ultraviolert
und dem Anfang des Ultrarot), teils höchſt empfind-
lihe XIihermometeranordnungen, von deren faft
fabelhafter Leiftungsfähigfeit man fih einen Be-
griff macht, wenn man hört, daß fie noh die Strah-
lung einer gewöhnlichen Kerze in 100 Meter Ent-
nung anzeigen, und daß man mit ihnen fogar die
vom Sirius oder der Wega und ähnlichen ftarf
leuchtenden Firfternen zu uns gelangende Strah-
lung meflen fann. Diefe lesteren Apparate Fann
man prinzipiell im ganzen Speftrum verwenden;
fie werden allerdings für die an Intenſität raſch
abnehmenden ultravioletten Strahlen bald zu un-
empfindlich. Was fie regiftrieren, it nämlih nur
die in den Strahlen des betreffenden Speftralaus-
ſchnitts enthaltene Energie, die in dem Apparat in
Wärme verwandelt und als foldhe gemeflen wird.
Der Lefer denfe fih nun mit einem folden
Apparat das gefamte Spektrum, das unfihtbare
wie das fihtbare, ausgemeflen, indem man
überall einen möglichft fchmalen Streifen da-
von herausfchneidet und die in diefem enthal-
tene Strahlenenergie mißt. Dann möge in
einer Figur auf einer wagerechten Geraden
(Abſziſſenachſe) die mittlere Wellenlänge jedes
diefer fchmalen Ausschnitte vermerft und ale
; Ordinate ſenkrecht dazu die gemeflene Energie
aufgetragen fein. Man erhält fo eine Kurve
der in beftehender Figur 3 angedeuteten
| Form, aus der man mit einem Blid die
| Energieverteilung im Spektrum erfennt. Man
fiebt, daß in dem vorliegenden Falle der un-
teren Kurve (bei etwa 1000 Grad Tem-
peratur des ftrahlenden Körpers) die größte
Energie noh im ultraroten Gebiet liegt,
daf fie von hier durd das fihtbare Gebiet hin-
durch raſch abnimmt und ſchon im Anfang des
Ultraviolett unmerflih wird, während fie nadh der
anderen Seite ing Ultrarot, d. h. nad) den längeren
Wellen hin langjamer abfällt. Diefen Verlauf
zeigt die Kurve im allgemeinen ftets, nur ändert
fidh die Lage des Energiemarimums mit der Tem-
peratur und zwar fo, daß es mit fteigender Tempe-
ratur immer weiter nach den Fürzeren Wellen (d. h.
von rot nad violett hin) hinrückt (wobei aber gleidh-
zeitig die ganze Kurve fih hebt, fo daß nie eine
böbere die niedere überſchneidet). Nahdem eine
Reihe erfter Erperimentalpbyfifer diefe Meflungen
mit größter Präzifion ausgeführt hatten, entftand
die weitere Frage, welches Gefeg denn nun eigent-
ih diefe Energieverteilung beftimmt und warum
Die Quantenthbeorie.
— — — — — — — — — — ——— ——— — ——— ———— nn — —— —
es gerade dieſes und Fein aideres Geſetz it. Die
erſte Frage iſt zunächſt nur eine Sache des mathe⸗
matiſchen Geſchicks. Es gilt eine mathematiſche
Formel zu fin-
——f ......... Ja 5 den, ‚bie die
|g = -/2 a Energie in ihrer
S| °%8 Fe Abhängigkeit
S| E IE 22 von der Wellen-
|” 4f B° länge einerfeits
* $5- &e länge eine i
a A der Temperatur
$- 55 andererſeits ſo
23 N 5 darftellt, wie es
x: Ya eg Diele Kurven
= * g 22tatſächlich zei-
E 25 gen. Aber eine
J S s® folde Formel
£z- ER. F war in biefem
32 > 52 Falle niht ein-
| s>. fadh zu finden,
$ sg ba das Geſetz
fx ~ Eg offenbar ein
5 Ss =5 ziemlich ver-
f; 3» wickeltes ift. Es
Fi q $° iſt häufige,
F- ĀU DEn dag diefe Auf-
S _ N“ aez gabe nur zufam-
= SSF men mit der
= 9%
85° zweiten, der Er-
È sg* Märung bes
S > 272 fraglihen Sach⸗
z 85” verhalts ausal-
v az gemeineren
E E 35 theoretiſchen
== Vorſtellungen,
z| K z! gelöft werben
HA fanm, und fo
— E SS ging es aud
_2|_.N...4” 92 bier. Vorläufig
S se fand man nur
E a . 32 einige Sonder-
S| 58 18 89. geleße, die aus
5| 28 8o dem noh unbe
zn. se Fannten alge-
c S S Je S5 meinen Geſetz
£ $ Eee In offenbar folg-
3 57 ge ten. Das wid-
E| SE tigfte ift das fo-
f Ya. s 33 genannte Wien-
| % S ~S ſche Verſchie⸗
sE bungsgeſetz wel-
j 52 des angibt, wie
fih die Lage des
Energiemaximums mit der fteigenden Temperatur
ändert: die Wellenlänge des Marimums ift der ab-
foluten Temperatur des Strahlers umgekehrt pro-
portional. Hiernach läßt fih auf Grund der
Meflung der Wellenlänge des Energiemarimums
— — — — — — — nn —— —— — —
die Temperatur des Strahlers berechnen, was
praktiſch von großer Wichtigkeit vor allem für die
Aſtrophyſik it (Sonnentemperatur uſw.!)
An jenen beiden Aufgaben verſuchte ſich nun um
die Wende des Jahrhunderts auch Planck, der
ſchon früher auf dem Gebiete der Wärmetheorie
mit Erfolg gearbeitet hatte. Nach den allgemein
angenommenen Vorſtellungen der letzteren iſt
Wärme nichts anderes als die (ungeordnete) Be-
wegung der Moleküle. Die Strahlung dagegen
iſt, wie wir ſeit Maxwell wiſſen, elektromagnetiſcher
Natur; fie beſteht in elektriſchen Wellen von der-
felben Art, wie wir fie in der Sunfentelegraphie
gebrauchen. Wie Fommt das fih bewegende Mole-
fül dazu, Wellen diefer Art auszufenden? Um
das zu erklären, mußte man notwendig annehmen,
dag in den Molefülen bezw. deren Beſtandteilen,
den Atomen der Elemente, irgend welche eleftrifche
Mechanismen figen, die periodifher Zuftandsände-
rungen fähig find, und dadurd) das umgebende „Feld“
in eben folde periodifche Zuftandsänderungen, d. h.
eben in eleftromagnetifhe Wellen verfegen. Aud
140
130
120
—— Energie
— Wellenlänge
Abb. 3. Energieverteilung im Speltrum eines glühenden
feften ((dwarzen) Körpers.
aus anderen Gründen war man in den legten Jahr-
sehnten des vergangenen Jahrhunderts zu der Wor-
ftellung gelangt, daß die Atome ein Bauwerk aus
256
eleftriihen Ladungen darftellen, worin befonders
negativ eleftrifhe Teilen verfchwindend Kleiner
Mape, die fogenannten Elektronen, Leicht beweglich
find. Diefe Vorftellung, fombiniert mit jener Tat-
fahe der Strahlung ergibt ohne weiteres die Hypo-
thefe, daß es Schwingungen oder periodifhe Um-
läufe jener Elektronen in den Atomen fein werden,
die die Ausfendung von Wellen in das Feld ver-
urſachen. So weit war die theoretifhe Vorftellung
um 1900 allgemein entwidelt. Sie hatte zudem
befonders in der Aufflärung des fogenannten Zee-
mannphänomens (vgl. „Unſere Welt”, 1913,
Sp. 577) ſchon große Erfolge gezeitigt. Nunmehr
handelte es fih alfo darum, auf Grund diefer Bor-
ftellung auh das quantitative Energieverteilungg-
gefeg im Spektrum abzuleiten. Da aber verfagte
die Theorie, wie es ſchien, vollftändig. Das Problem
ftellt fih folgendermaßen: Gegeben ift ein abge-
fhloflener Raum mit darin befindlichen beliebig
vielen „Reſonatoren“, d. i. fhmwingungsfähigen Ge-
bilden (gedacht ift an die Elektronen) aller mög-
lihen Schwingungszahlen. Wie wird fih die Ener-
gie zwifchen diefen und dem umgebenden Felde ver-
teilen müflen, damit Strahlungs - Gleichgewicht
berrfcht, d. h. damit im Endzuftand jede Art von
Mefonatoren gerade fo viel Energie in jedem Beit-
teil aus dem Felde aufnimmt, wie fie an dasjelbe
abgibt? Rechnet man nun biefes nicht übermäßig
fhwierige Problem durch, fo erhält man ein Èr-
gebnis, das mit der Erfahrung durdaus nicht
ftimmt. Es ergibt fi nämlih, daß die Energie
flets am größten fein müßte für die Schwingungen
der größten Schwingungszahl und Feinten Wellen-
länge. Don einem Marimum der Energie bei einer
beftimmten Wellenlänge ift gar Feine Rede, die
Kurve müßte vielmehr von den langen zu den kurzen
Wellenlängen dauernd anfteigen. Dies Refultat,
das fogenannte Rayleighſche Strahlungsgefes,
das offenbar der Erfahrung widerftreitet, ergibt fid
fo zwangsmäßig aus den allgemeinften Grundlagen
der bisherigen Theorien, daß man vor einem un-
erflärlihen Rätſel ftand, bis Pland, wie er
felber fagt, ‚nad einigen Wochen der angefpannte-
ften Arbeit feines Lebens” den Schlüffel diefes Rät⸗
fels fand. Er liegt in der Richtigſtellung einer
bis dahin ftillfehweigend und felbftverftändlich ge-
machten, aber nunmehr von Pl. als unzuläflig er-
Fannten Dorausfeßung über die Art, wie die Ener-
gie von den „Reſonatoren“ an das Feld bezw. um-
gekehrt übergeht. Man hatte nämlich bisher fih
diefen Vorgang ftets fo gedacht, daß er ein vollig
fontinuierlider und gleihmäßiger fei, bei dem in
jedem Augenblid gerade fo viel Energie in der einen
oder anderen Richtung ausgetauſcht wird, wie dem
momentanen Zuftandsunterfchied zwifchen den Dei-
den taufhenden Syſtemen (Feld und Elektron) ent-
Die Quantentheorie.
ſpricht. Die Energi®® fonnte, anders gefagt, im
jeder beliebigen Menge übertragen werden. Was
Planck mit genialem Blid erkannte, it nun, daß
diefe Vorſtellung die Urſache des Miberfolges der
Theorie ift, dap man aber fofort das richtige Re-
fultat erhält, wenn man fie durch die andere erfegt:
die Energie Fann ni d t in jeder beliebigen Menge,
fondern nur in vielfadhen ganz beftimmter Fleinfter
Duanten übertragen werden, und zwar für jede
Wellenlänge eines anderen Quantums, dag um fo
größer ift, je Fleiner die Wellenlänge oder je größer
die Schwingunggzahl ift. Mit diefer Annahme er-
gibt fih für das „Strahlungsgeſetz“ eine Formel,
die mit geradezu idealer Genauigkeit den wirklichen
Verlauf der Kurve wiedergibt. (Bol. Fig. 3, in
der die Kreme die gemeffenen Werte die
Kurven aber das Plankſche Gefen wiedergeben.
Um fih den Grundgedanken in einem Bilde zu ver-
anfhaulichen, denfe man daran, daß 3. B. Geld-
fummen ja aud nicht in jedem beliebigen Quantum,
fondern nur in Vielfachen eines beftimmten flein-
ften Quantums, 3. DB. des Pfennigs, übertragen
werden fünnen. So fteht es alfo aub mit der
Energieübertragung zwifhen Atomen und Feld. Die
Trage taucht dann allerdings fofort auf, warum
das denn fo ift.
Um hierin Flarer zu ſehen, muß man zunächſt be-
achten, daß, wie fhon erwähnt, ber Betrag des
Eleinften übertragbaren Quantums Energie für jede
Wellenlänge einen anderen Wert bat. Er ift mit
der Schwingungszahl direft proportional, alfo 3. B.
für das rote Ende des fihtbaren Spektrums nur
etwa halb fo groß wie für das violette Ende. Dies
läßt fit) mathematiſch fo ausdrüden, daB der in
Rede ftehende Energiebetrag E glei dem Produft
aus der Schwingungszahl n und einer feftftebenden
(Eonftanten) Zahl h ift. Man fchreibt dement-
iprebend E = n.h., Wie groß diefer Tonftante
Saftor h ift, ergibt fid durch Ausmeffung der
Strahlungsfurve; er beträgt nad den beften neue-
ften Verſuchen 6,53 . 10-7, wenn man die Energie
in abfoluten Einheiten [Erg')] und die Zeit in
Sekunden mißt (N alfo die Schwingungszahl in der
Sekunde bedeutet). Diefer Faktor h hat num
offenbar eine ganz eigenartige Bedeutung. Er ift
eine fogenannte univerfelle Konftante, d. H. er bat
nichts mit irgend welcher befonderen Beichaffenheit
der betreffenden ftrahlenden Materie zu tun, mit
ihrer hemifchen Natur oder dergleihen. Er regelt
nur ganz allgemein den Uebergang von Energie aus
der Materie an das eleftromagnetifhe Feld und
umgefehrt. Er bedeutet aber felber Feine Energie,
Anm. 1. Erg ift die Arbeit, die man leiftet, wenn
man den Widerftand der Kräfteeinbeit 1 Dyn. längs I cm
Meg überwindet Cie beträgt den 9,81 . 1O- ten Teil
eines Meterkilogramms.
—
fondern eine Größe anderer Art. Was für eine?
Wir können die Schwingungszahl n Teiht durd
eine andere Größe erfegen. Macht ein fhwingen-
des Syftem n Schwingungen in der Sefunde, fo
dauert die einzelne Schwingung den Nten Teil einer
Sekunde. Bezeichnen wir diefe „Schwingungs-
dauer” alfo mit t, fo it t = "In. Demnad ift,
wenn wir die obige Gleihung E = h . n beider-
feits durch N dividieren und dabei links für E/n
jest E . t fegen, diefes Produft E . t = h. Das
ergibt dann für dieſen univerfellen Faktor h den
Sinn, dag er das Produkt vorſtellt aus der
bei einer Shwingung übertragenen
Energie in die Zeitdauer dieſes
Shwingungsvorganges Ein foldes
Produkt aus Energie und Zeit ihrer Uebertragung
heißt nun in der Mechanik feit Euler und
Gauß „Wirkung. Das Plandfhe Er-
gebnis befagt alfo dann eigentlich diegs, da ß diefe
„Wirkung im Gebiete der Atom-
phyfifeine feſtſtehende Naturfon-
tante it. Man beadte wohl: die Wir-
tung, nicht die Energie.
Ehe wir die weitere grundfäglihe Bedeutung
diefes Ergebnifles erörtern, ift es nötig, darzulegen,
wie fi) die Entdedung Plands in der übrigen
Phyſik ausgewirft hat.
Wenn es eins der Kennzeihen für die Braud-
barkeit, — ich meinesteils würde lieber fagen für
den Wahrheitsgehalt —, einer phnfifalifchen Hypo-
thefe ift, daß fie mehr erflärt, ale dag, wozu fie
eigentlich aufgeftellt war, fo darf man der Plan d-
{hen Hypotheſe mehr wie jeder anderen neueren
Hypotheſe diefes Lob ausiprehen. Es ift geradezu
erftaunlich, was alles in fürzefter Zeit die Forſchung
aus diefem neuen Gedanken herausgeholt hat. Nur
weniges davon fann bier furz erörtert werden, da
es zumeift nicht ohne Mathematif abgehen würde,
wollte ih auh nur etwas tiefer auf die Materie
eingehen. Ganz fur; muß ib aus diefem Grunde
hinweggehen über den erften durdichlagenden Er-
folg der neuen Theorie, den fie neben ihrer ur-
fprünglichen Leitung, der Aufhellung des Strab-
Iungsgefeges, zu verzeichnen hatte. Er liegt eben-
falls noh auf dem Gebiete der Wärmelehre und
zwar in der fogenannten Theorie der feften Körper.
Die Wärmelehre betrachtet, wie fhon oben erwähnt,
die Wärme als ungeordnete Bewegung der Mole-
füle und Atome. Seit Clauſius diefer Theorie
1856 wieder Eingang in die Phyſik verfchaffte, ift
fie befonders für die gasfürmigen Körper, daneben
auh in beichränfterem Umfange für Flüffigfeiten
durdhgearbeitet worden. Hingegen machten die feften
Körper ihr große Schwierigkeiten, weil wir eg bei
ihnen mit den febr ftarfen, aber faft ganz unbefann-
ten Kräften zu tun baben, die die Moleküle in ihrer
Die Quantentheorie.
EINER ll
— — —— — — — h —
relativen Lage gegeneinander feſthalten und ihnen
nur Pendelſchwingungen um diefe Lage herum ge-
ftatten. In diefe bis dahin der mathematiſchen
Theorie faft unzugänglich gebliebenen Fragen bradıte
nun die Quantenhypotheſe, und zwar befonders in
der Hand von Einftein, Klarheit. ‘Das näher
auseinanderzufegen, würde ein fo weites Ausholen
in die Theorie der fogenannten fpezififhen Wärme
erfordern, daß ih bier darauf lieber verzichten
mödhte.
Leichter wird der nicht phyſikaliſch geichulte Lefer
eine weitere bedeutfame Leiftung der Duantenlehre
verftehen, die wir ebenfalls Einftein verdanken, und
die vor anderen Dingen deffen Namen allen Phy-
fifern längft wohlbefannt gemacht hatte, ehe er durd
die Relativitätstheorie zum weltbefannten Manne
wurde. (Mebrigens hat er für diefe hier in Rede
ftebenden Leiſtungen auch den Nobelpreis erhalten,
nicht für die Melativitätstheorie, offenbar weil die
Kommiffion fih fcheute, in den noh ſchwebenden
Streit über diefe einzugreifen. Verdient hat er
ihn auch durch jene reichlih.) Um das zu verftehen,
muß der Lefer fih zunächft erinnern an dag, was er
einmal von Kathodenftrahlen gehört und gelefen
hat. (Bol. „Unſere Wert” 1922, Sp. 122.) Das
find befanntlih Strahlen ganz anderer Natur als
die oben erörterten Liht- und Wärmeftrahlen des
fihtbaren und unfihtbaren Spektrums. Sie be-
ftehben nicht wie diefe aus Wellen, fondern aus von
der Kathode, dem negativen Pol einer Geißler-
fhen Möhre, ausgefchleuderten Fleinen Teilchen,
eben den oben fhon erwähnten Elektronen, die wir
als Unterbeftandteile aller Atome annehmen müffen.
Bei der gewöhnlichen Erzeugungsart diefer Kor-
pusfularftrahlung” in Iuftleeren Nöhren werden
diefe Teilchen aus der Kathode dur die dort Herr-
ſchende ftarfe eleftrifche Spannung herausgetrieben.
Man fann fie aber auh auf andere Weife aus
blanfen Metalloberflähen heraustreten laffen, näm-
lih einerfeits, wenn man diefe Metalle ftarf erhitzt
(Eleftronenröhre), andererfeits wenn man fie
belid tet. Von diefer legteren Art, den Photo-
kathodenſtrahlen“, ift hier zu reden. Die erfte Be-
obachtung diefer Art machte ſchon im jahre 1888
Hallwachs. Er zeigte, daß ein mit einer blanf
gefcheuerten Zinfplatte verbundenes Elektroſkop
eine negative Ladung, nicht aber eine pofitive, raih
verliert, wenn (möglichft intenfives) Licht darauf
fällt, und zwar wirfte das Lidt um fo ftärfer, je
reicher es an Furzwelligen Strahlen, alfo blau und
violett, war. Daß es fih hierbei um die Erzeugung
von SKathodenftrahlen handelt, ift allerdings erft
viel fpäter nachgewieſen. (Der Hallwachs-Effekt
ifi Teicht mit den einfachften Mitteln zu zeigen. Man
muß nur die Zinkplatte vor dem Verſuch forgfältig
mit Schmirgel blank pugen.) Die Unterfuhungen
diefes heute meift fogenannten Tihteleftri-
hen Effektes ergaben nun ein merfwürdiges
Mefultat. Es gibt eine fehr genaue Methode zur
Seftftellung der Geſchwindigkeit folder den Raum
durchfliegenden eleftrifch geladenen Teilchen, näm-
lich die Meflung ihrer Ablenfung dur ein elef-
trifhes und durch ein magnetifches Feld. (Wal.
„Unſere Welt” 1921, Spy. 124.) Bei diefen
Verſuchen ergibt fih zweitens der Wert des Wer-
bältniffes von Ladung zu Mafie diefer Teilchen,
und da man die Ladung derfelben, das fogenannte
elektriſche Elementarquantum, genau beftimmen
fann, fo hat man auf diefe Weile auh die Maffe
der Teilchen, welche fih etwa 1800 mal Fleiner
als die eines Waflerftoffatoms ergibt. Nun ift
das halbe Produkt aus Mafie und Gefchwindig-
Feitsquadrat die Bewegungsenergie eines
bewegten Körpers.
geben alfo aud diefe und zwar mit fehr großer
Genauigkeit. Das it nun weiter nihts Wunder-
bares, das Wunderbare kommt erft jest. Die
Energie diefer Teilchen erwies fid
nämlihalsunabhbängigvonder Jm
tenfitätdeg fie auslöfenden Lichts.
Das war gegen alle Erwartung, man hätte dod
denken folen, daß je intenfiver das Licht, deſto
größer auh der Energiebetrag fein würde, den bie
Elektronen auf ihre Bahn mitbefümen. Diefe
Erwartung erwies fih alfo als fatih. Eine Er-
höhung der Tichtinsenfität hatte vielmehr lediglich
eine Dermehrung der Anzahl der fliegenden
Teilchen, nicht aber eine Erhöhung ihrer Ge-
fhwindigfeit, alfo ihrer DBemwegungsenergie, zur
Folge. Wollte man diefe erhöhen, fo mußte man
nicht die Intenſität, ſondern — und das ift eben
das Merkwürdigfte — die Wellenlänge des
auslöfenden Lichtes ändern. Je fürgernäm-
lich diefe ift, deto größer wurde
jene Energie. Führen wir flatt der Wellen-
länge die Schwingungszahl ein, fo gilt umgekehrt:
je größer die Shwingungszahl,um
fo größer aud die Energie der da-
durch ausgelöften Photofathoden-
firablen. ber noh nicht genug: Maht man
den Verſuch für mehrere verſchiedene Metalle, fo
ergibt fih quantitativ für alle die gleiche Wer-
größerung der Bewegungsenergie bei gleicher Er-
höhung der Schwingungszahl. Bei jedem Metall
wird die in Rede ftehende Energie dargeftellt durd
die Formel E = h.n — Eo, oder E + Eo =
h.n. Hierin bedeutet Eo eine für jedes Metall
verfchiedene Größe, die man Ablöfungs-
energie nennt. Ihr Sinn ift der, daß eg
offenbar zunächſt eine gewifle Arbeit Foftet, die das
Licht leiten muß, um das Eleftron aus dem Wer-
bande des Metalle abzulöfen. Diefe Arbeit ver-
mehrt um die Bewegungsenergie, die das Elektron
Die Quantentheorie.
Die genannten Verſuche er-
mitbefommt, ift dann die gefamte Arbeit, die das
Liht abgegeben bat. Diele Gefamtenergie aber
ift, wie die zweite Formel ausweift, dann mit der
Schwingungszahl n proportional, der Faktor aber,
der für alle Metalle der gleiche ift, ift Eein anderer
als — Plands Konftante. (!) Hier haben wir
alfo einen zweiten und nunmehr einen viel über-
fihtliheren Fall dafür, daB die Energie, die vom
Feld an die Materie übergeht (vom Licht ang Clet-
tron) = h . n ift. Mande neuere Darftellungen
der Quantentheorie gehen deshalb mit einem ge-
wiſſen Recht von diefer Erfcheinung überhaupt
aus.
Iſt Thon diefe Beftätigung der Plan d fchen
Grundbeziehung, und zwar mit febr großer quan-
titativer Genauigfeit — man fann heute die Kon-
ftante h faft fo genau auf diefem Wege wie auf
dem des Strahlungsgefeges finden — bemerfens-
wert genug, fo wird bdiefer ſchöne Erfolg ber
Theorie doh weit in den Schatten geftellt durd
das, was nun folgte. Die Duantentheorie erwies
ſich nämlih als niht mehr und nit weniger als
der lange gefuhte Schlüffel zum Eindringen in den
inneren Bau der Atome felber. Dap ein Atom
ein febr vermwideltes Bauwerk fein müffe, „kompli⸗
jierter als ein Klavier” nah Rowlands be-
fanntem Wort, wußte man fhon lange. Wir
müſſen das fchließen, wenn wir daran denken, wie
verfchieden die chemiſchen Eigenfchaften der ver-
fhiebenen Atome find und vor allem, wie ver-
widelt die Tichtwellen find, die von den verſchiede⸗
nen Atomen ausgehen, falls diefe in den Gafen
frei beweglich find. Ein glühendes Gas fendet im
Unterſchiede von dem oben allein ins Auge gefaß-
ten glübenden feften oder flüffigen Stoff befannt-
lich nicht Licht aller möglichen Wellenlängen (ein
fogenanntes Fontinuierlihes Spektrum), fondern
nur Licht ganz beftimmter einzelner ſcharf begrenz-
ter Farben, ein fogenanntes Tinienfpeftrum
aus. Hierauf beruht, wie heute wohl allgemein
in jeder Schule gelehrt wird, die fogenannte Spet-
tralanalyfe. Man erfennt 5. B. das Natrium
daran, daß ein Körnchen der zu prüfenden Sub-
ftanz, in eine farblofe Bunfenflamme gebradt,
diefe gelb Teuchten maht. Zerlegt man das Licht
mit dem Prisma, fo erhält man in einem ganz
ſchwach Teuchtenden Grundfpeftrum eine febr helle
gelbe Linie der Wellenlänge 0,000 589 mm, bie
fih übrigens bei ftarfer Vergrößerung als eine
Doppellinie ausweift, daneben eine Anzahl nur bei
Dergrößerung fihtbar werdender ſchwächerer Linien
anderer Farben. An diefer Tinienverteilung ift
dag betreffende Element, bier alfo das Natrium,
mit abfoluter Sicherheit zu erkennen. Es gibt
nun aber Elemente, wie 3. B. das Eifen, die eine
ganz unheimlihe Menge folder Linien in ihrem
Speftrum aufmweiien (viele Taufende, wenn man
LI Ton I
genau unterfuht). Eine Summe fo Tomplizierter
Schwingungen fann offenbar nur ausgefandt wer-
den, wenn der erzeugende Mechanismus felber
einen recht verwidelten Bau befist. Hinter diefen
zu fommen, das war nun das ftille Ziel aller der
umfangreihen Speftralunterfuhungen, die die
Jhr feit Entdedung der Speftralanalyfe durd
ichhoff und Bunfen (1860) ausfüllen.
Zunächſt galt es, aud bier erft einmal Ordnung
in dag fheinbar hoffnungslos unüberfehbare Chaos
diefer Liniengewirre zu bringen. Den entfdeiden-
ten Schritt hierzu verdankt die Wiffenfhaft einem
halben Dilettanten, dem Schweizer Schullehrer
Palmer Er erkannte 1885 in dem einfad-
ften aller Speftren, dem des Waflerftoffs, das der
linienanordnung zugrunde liegende Gefeg. In ber
beute gebräudlichften Saffung lautet dasfelbe fol
gendermaßen: Waflerftoff gibt ein Speltrum, das
mit einer roten Linie beginnt. Dann folgt eine
blaugrüne, darauf eine dunfelblaue, eine violette
und darauf mit raſch abnehmender Intenſität eine
immer dichter werdende Reihe von Linien, die fid
ſchließlich einer ſchon im Ultraviolett gelegene, Grenz-
linie” nähern. (Abb. 4). Die Schwingungszahlen
diefer Serie von Linien laffen ſich durd die Formel
. (M — me) darftellen, worin R einen be»
vol grün blau violett
GFENZINTIE
Wasserstoftspekirum
Abb. 4.
fimmten Zahlenbetrag, nämlich 3291 Billionen
und n eine „Laufzahl“, beginnend mit 3, 4, 5
ufw. darftellt, alfo 3291 . (la — a), 3291 .
ko Ya), 3291 . (la — +i) Billionen ufw-
uſw. Die Grenzlinie ergibt fi, wenn n = un-
endlih gefeßt wird, zu 3291 . ' Billionen.
Diefe Formel gilt mit einer gam wunderbaren
Genauigkeit; die nah ihr berechneten Sowin-
gungszahlen flimmen mit den wirflid be-
obadhteten faft alle bis auf die fehlte gültige
Ziffer überein. Weitere Unterfuhungen, bei denen
fih beſonders der Schwedische Phyſiker Rydberg
hervortat, zeigten dann, daß ähnliche Serien aud
in den Spektren anderer Elemente auftreten, und
daß aud dabei diefelbe Konftante R, die Rydberg
zu Ehren heute allgemein die Nydbergfon-
tante heißt, auftritt. Das war alfo der Tat
beftand, der mit unendlihem Aufwand von Sharf-
fan und Mühe glücklich herausgebracht war. Aber
woher nun diefes merkwürdige Gefen? In der
Akuſtik it die Sache viel einfacher. Da gibt ein
(Balmerjerie,
Die Quantentheorie.
259
fhwingender Körper, wie 5. B. eine Violinſaite,
neben dem Grundton aud befanntlih eine Reihe
fogenannter Obertöne. Aber deren Schwingungs-
zahlen und die des Grundtons bilden eine Reihe,
die fi) einfach wie 1:2:3:4 ufw. verhält. Wa-
rum nun in der Optif ein fo viel verwidelteres
Geſetz? Alle Serien diefer Art laffen fih auf die
Formel N. (Im? — 'In?) bringen, wobei N eine
irgendwie mit R zufammenhängende Konftante,
m die feft bleibende Serienzahl und n die
Laufzahl if. Beim Wafferftoff fand man,
hierauf einmal aufmerkſam geworden, bald z. B.
die Anfangsglieder der Serien mit m — 3, ber
iog. Paſchenſerie, alfo 3291 . (lo — *he);
3291 . ("e — 2) Bil. ufw.; ferner die fogen.
Lymanſerie R.Ch — "u, R.(h — No)
uſw., die ganz im Ultravioletten liegt. Wie Fom-
men diefe reziprofen Quadrate der ganzen Zahlen
in die Formel hinein und wie fommt die eine Ryd-
bergfonftante in fämtlihe Elementarfpeftren hin-
ein? Wo blieb der Newton der Speftroffopie”'?
So fragte die Phyfif, bis — diefer Newton kam.
Er heißt Niels Bohr und ift gegenwärtig
Profeffor der Phyſik in Kopenhagen. Damals,
als er feine in Fürzefter Friſt weltberühmt gewor-
dene Theorie zuerft in den Grundzügen entwidelte,
war er foeben aus der Schule Rutherfords,
des großen englifhen Radiumforſchers, hervorge-
gangen (1913). Bohrs unfterblihe Genietat ift,
daß er in zwei fhon damals vorliegenden Gebdan-
ten die bereit liegenden Baufteine für eine Theorie
über das Innere der Atome erfannte. Den einen
verdanfte er Rutherford, den anderen
Pland. Aber das hebt fein Verdienſt niht auf,
denn das eben ift das Zeichen des Genies, daß es
das getrennt daliegende Material in der richtigen
Weiſe zu verbinden weiß. Es ift „Ichöpferifche
Syntheſe“ in bödhfter Potenz, die wir an Bohrs
Leiftung bewundern müflen. Rutherford verdan-
fen wir die flare Entwidlung der DVorftellungen
über dag Wefen des radioaftiven Zerfalls. Er
und fein Landsmann © o d dy erfannten als erfte,
daß es fih dabei um eine Umwandlung im Atom-
inneren handelt, einen ‚‚Atomzerfoll”, bei dem aus
den alten Atom 3. B. des Radiums durch Ab-
iraltung von DBrudftüden, nämlich Elektronen
und fogenannten “Teilen (Heliumfernen f. „Un⸗
jere Welt 1921, Sp. 124), ein neues Atom wird.
Danah müßte nun notwendig das Atom als eine
Arı von Planetenfuftem mit einem pofitiven Kern
und einem Kranz von Elektronen drum herum
aufgefaßt werden. Nun Tag es febr nahe, zu dens
fen, daß das Kreifen diefer Elektronen um den
Kern eben die Urſache für die Ausfendung der bes
ftimmten Speftrallinien fei. So war eg in ber
damals geltenden Theorie des Zeemannphänomens
(f. 0.) von H. A. Loreng, dem eigentlichen Be.
260
gründer der Eleftronentheorie, auch gedacht. Aber
alle Verſuche, auf diefem Wege zur Erklärung der
Linienfpeftren zu kommen, fchlugen fehl. Bohrs
genialer Gedanke befteht nun darin, daß er auf
diefes bereits vorliegende Rutherfordſche Atom-
medel die Grundgedanken der Quantenlehre anzu-
wenden ee Er fagte fih: Wenn der Ueber-
gang der Energie vom Feld an die Materie und
umgefehrt fih nah der Plandihen Duantenregel
vollzieht, fo wird vermutlich das Innere der Atome
felber irgendwie fo beichaffen fein, daf ſchon darin
jene Größe h eine ausfchlaggebende Rolle fpielt.
Nehmen wir zunächſt den einfadhften Fall an, den
des Waſſerſtoffatoms. Wir haben bier nad
Rutherford einen Kern mit der poflitiven
Ladung 1 (ein Elementarquantum) und ein ein-
ziges diefen umfreifendes Elektron. Der Einfady-
beit halber wollen wir zunächſt eine Ereisförmige
Bahn wie Kopernifus für die Planeten annehmen.
Die Schärfe der Speftrallinien beweift nun jeden-
falls foviel, daß dies Umfreifen niht auf allen
möglihen Bahnen ftattfinden fann und dabei nicht
Liht aller möglihen Schwingungszahlen ausge-
fendet werden fann. So fommen wir auf die
dee, daß das Elektron vielleiht nur in ganz be-
ftimmten Bahnen läuft. Aber in weldhen? Hier
muß ung nun Plan d das erfte Mal helfen. Das
umlaufende Elektron befigt einen gewiflen Vorrat
von Energie. Diefer fegt fih aus zwei Anteilen
zufammen, erftens feiner Bewegungsenergie und
zweitens feiner Zuftandsenergie, die in feiner Ent-
fernung vom Kern liegt. (Denn zwei getrennte
entgegengefeßt elekrifhe Ladungen ftellen immer
einen Ünergievorrat dar.) Multiplizieren wir
nun diefe Energie des Elektrons mit der Zeit
feines Umlaufs, fo haben wir die oben als „Wir⸗
fung” bezeichnete Größe. Und nun maht Bohr
die erfte Annahme: das Eleftron Fann
nur auf folden Bahnen umlaufen,
Abb. 5. Bohrs Atommodell. Die a der Quantenbahnen
verhalten ih wie 1:4:9..
für die diefe „Wirkung ein ganzes
NMielfabhes des Planckſchen Quan-
tums ift. („Einquantige“, „zweiquantige” - . .
Babn. Fig. 5.) — Der uneingeweihte Lefer denkt
nun, es gehe jekt fo weiter, daß die hiernach be-
rechneten Umlaufszahlen identifch mit den Schwin-
Die Quantentheorie.
ſtimmt niht.
nenaufeineandere übergeht.
gungszahlen der Balmerferie feien. Aber das
Die fo berechneten Umlaufszahlen
fommen unter den Schwingungszahlen des leug-
tenden Waflerftoffs überhaupt niht vor- So ein-
fadh ift die Sache alfo nit. Jetzt maht vielmehr
unfer Newton einen kühnen Gedankenſprung, ein
wahrhaftes phnfifalifhes Saltomortale. Er er-
klärt nämlid, unbekümmert um alle bisherigen
Grundvorftellungen der von Marmwell fo fider
begründeten Elektrodynamik: das fo umlaufende
Elektron ſtrahlt überhaupt nicht, d. h. von diefer
periodifhen Aenderung im Atominneren gehen
überhaupt Feine Wellen in den Raum hinaus. Das
bätte Bohr natürlich niemand geglaubt, wenn ber
Erfolg ihm nit das Recht zu foldhen unerhörten
Gedankenfprüngen gegeben hätte. Er fagt näm-
li jest weiter: Strahlung entſteht nur
dadurch,daß das Eleftronvoneiner
der eben berechneten Quantenbah⸗—
Dabei
wird es, wenn eg nach innen „ſtürzt“, an Energie
ärmer und diefe frei gewordene Energie ift es, bie
nun als Strahlungsenergie fih wiederfindet. Aber
was für Strahlen! Hier ſchießt Bohr zum zweiten
Male eine Quantenbedingung aus der Piftole (wie
man mit Redt gefagt hat). Er erflärt einfach:
Nun diefe Strahlung befolgt eben wieder das Ge-
ig E = h. n, das heißt, die Schwingungszahl
des ausgeſendeten Lichts ift fo groß, dag fie, mit h
multipliziert, denjenigen Energiebetrag ergibt, den
das Elektron hergegeben hat. Wie das Feld oder
der Aether, oder wer oder was da draußen nun
immer fchwingt, es anfängt, fih gerade diefe
Schwingungszahl auszufuchen, dag Fümmert unfe-
ren Newton einftweilen nicht. Er rednet auf
Grund diefer Annahmen einfah diefe Schwin⸗
gungszahlen aus und fiehe da: eg ergeben fih ge
nau die oben angeführten Serien. Genauer: Gebt
dag Elektron von der N-quantigen auf die M-quan-
tige Bahn, fo ift die Schwingungszahl der ausge
fendeten Speftrallinie = R . (im? — 'in?). Die
gewöhnliche Waflerftoffferie entfteht alfo durch den
Sturz des Eleftrons von der 3., 4., 5. ufw. Bahn
auf die zweite, die Pafchenferie, von der 4., 5., 6.
ufw. auf die dritte, die Inmanferie von der 2., 3.,
4. ufw. auf die erfte ufw. (Fig. 6.) Das Aller-
wunderbarfte dabei ift, daß nicht nur die Form
des Seriengefeßes herausfommt, — das haben
aud andere Theorien von Bobr geleiftet —, fon-
dern aud der Zahlwert der Rydbergkonſtanten.
e m
Sie iſt nach Bohr — a ' worin e. bie
Eleftronenladung, m die Eleftronenmafle und *
die befannte Kreiszahl bedeuten. Sekt man in
diefen Ausdruck die dur anderweitige Ergebniffe
fihergeftellten Zahlwerte ein, fo kommt 3290 Bill.
heraus. Die Fleine Differenz erflärt fi, wie bie
Die zehn Gebote in der Tierwelt. — 261
weitere Ausbildung der Theorie durch Sommer-
feld gezeigt bat, aud) noch in befriedigender Weife.
Es ftimmte nämlich bei der eben in ihren Grund-
zügen angedeuteten Theorie zunächſt nicht, daß man
ulnaris
Serie ( Lrmaa)
Abb. 6. Model der Lichtenijfion nah Bohr. Die Radionen find
nit im richtigen Maßſtab gezeichnet.
die Eleftronenbahnen als Kreife anfiebt. Sie
müffen als Ellipſen nad Art der Planetenbahnen
(Kepler ftatt Kopernifus) betradtet werden. Fer-
ner muß berüdfihtigt werden, daß der Kern zwar
erbeblid größere Maffe als das Elektron, aber
Die zehn Gebote in der Tierwelt. Bon Dir. Dr. Mütter.
Leben aud die Tiere nadh den zehn Geboten? —
Der amerifanifhe Schriftfteler E. ©. Thomp-
fon bat fih diefe Frage geftellt und foeben ein
Büchlein veröffentliht: ‚Die zehn Gebote in der
Tierwelt”, in dem er nachweiſen will, daß tatſäch⸗
lich die zehn Gebote nicht nur für das fittliche
Handeln des Ehriftenmenfhen gelten, fondern fo
etwas wie das ungefchriebene Grundgefes aller höhe-
ren Lebeweſen darftellen, für den Sehenden alfo
oud in der Tierwelt erfennbar find.
Die Frage, ob die Tiere Verſtand befisen, ift
alt. Bedeutet Verftand die Fähigkeit des Wahr-
nehmens, DBorftellens, Fühlens und Woens, fo
wird man jene Frage ohne weiteres bejahen. Des-
cartes’ Standpunkt, nah dem die Tiere bloße Ma-
f&inen find, dürfte faum noh Verteidiger finden.
Aber wenn man vom Verſtande oder von der Seele
tes Tieres fpricht, fo denft man ja eigentlih an
das, wag man wohl auh mit dem Worte Ber-
nunft“ treffen will.
Da wird die Sade ſchon verwickelter. Wird
man aud grundfäglid an dem Unterfchied zwifchen
Menſch und Tier in diefem Punkte fefthalten, die
Derfuhe der neueren Tierpſychologie, insbefondere
Köhlers Verſuche mit Menfchenaffen auf Teneriffa,
zeigen dod, daß hier noh mandes zu erforfchen ift.
Bei allen derartigen Verſuchen dreht es fih aber
immer nur um zwedmäßiges Handeln der Tiere,
um die mehr oder minder gefchidte Verwirklichung
alfo von irgendwelhem Gemwollten, — je nad ber
„Intelligenz“ des betreffenden Tieres.
doch Feine fo übermäßig große hat, daB man ihn
als vollſtändig ruhend anfehen könnte. Endlich
drittens muß die aus der Relativitätstheorie fih er-
gebende Mechanik anftelle der Galilei⸗Newtonſchen
gelegt werden, da es fihb um febr große Ge-
ſchwindigkeiten handelt, die gegenüber der Licht.
geſchwindigkeit nicht vernachläfligt werden Fönnen.
Berüdfihtigt man alle diefe DVerbeflerungen, fo
fommt tatſächlich aud zahlenmäßig das Wafler-
fiofffpeftrum mit einer geradezu fabelhaften Ge-
nauigfeit heraus. Es zeigt fih, daß die Linien
desfelben bei febr genauer Beobachtung mit ftarker
Vergrößerung in Wirklihlet mehrfache
Linien find. Aud diefe fogenannte Feinftruf-
‚turder Speftren fonte Sommerfeld
bis in die HMeinften Einzelheiten quantitativ richtig
ableiten. Alles in allem ift die ‘Beftätigung der
Theorie eine derart überwältigende, daß an dem
einen abfolut fein Zweifel fein fann: Ein Anfang
des richtigen Weges zur Erklärung der Linienfpel-
tren liegt hier ganz fiber vor.
—— — —— —
C
Bon fittlihem Handeln ift dabei feine Rede.
Laffen ſich nun in der Tierwelt wenigſtens die
Anfänge folhen fittlihen Handelns erkennen, wenn
aud die leitenden Grundſätze jelbft nicht als folde
bewußt werden? Thompfon bejaht diefe Frage.
Er will zeigen, daß die Grundfäge des fittlichen
Lebens — und das find für ihn eben die zehn Ge-
bote — aud für die Tierwelt naturgewiefen find:
ihre Uebertretung bewirft Schaden für das ein-
zelne Tier oder den ganzen Stamm.
Man teilt die zehn Gebote wohl in foldbe ein,
die von den Pflichten gegen Gott, und in folde,
dic von den Pflichten gegen den Nächſten handeln.
Beginnen wir mit den lesteren zuerft; denn
bier ift die Beweisführung einfacher.
Da ift zunächſt dag vierte Gebot, Gehorfam von
den Eltern fordernd. Wenn diefes Gefes aud für
die Tierwelt naturgewiefen fein fol, fo muß fih
zeigen, daß es fih rächt, wenn die jungen Tiere
den Eltern oder überhaupt den älteren Tieren nicht
blindlings gehorchen, fo die Erfahrung der voran»
gegangenen Geſchlechter nußend. Das ift der Fall.
Die mannigfahften Warnungsfignale, wie fie die
einzelnen Tierarten herausgebildet haben, werden
von den jungen inftinftiv befolgt, wie es deren
eigene Sicherheit und das Fortleben der Raſſe
verlangt. Gehorcht ein Küfen niht der Mutter,
beachtet es alfo ihr warnendes Gludfen nicht, fo
Icidet es die Strafe: der Habicht trägt es fort.
Das fünfte Gebot. Nah Thompſon ſchrecken
die Tiere inftinftiv davor zurüd, Stammesgenoſſen
262
— — — — — ——— — — — — — — —
zu töten. Neugeborene Klapperſchlangen gehen
ſofort auf fremde Tiere los, aber nie auf ihres-
gleihen. Zweifämpfe von Tieren — beſonders
um dag Weibhen — find häufig; aber der Kampf
ift gewöhnli mit des einen Kämpfers Unter-
werfung oder Flucht zu Ende. Eine Hundebeißerei
hört .meift in dem Augenbli auf, wo der eine fih
in der befannten Haltung zu ‘Boden dudt und
gleihfam zu fagen ſcheint: Ich bin befiegt und er-
gebe mid. So wird auh die unterlegene Kage
nicht von der Siegerin weiter verfolgt. Ein frem-
des Tier dagegen würde von Hund wie von Kage
verfolgt und getötet werden. Ausnahmen find —
wenigftens bei höheren Tieren — felten. Einige
erflären fih als Entartungserfheinungen in ber
Gefangenfhaft oder Zähmung, andere find durd
allzu quälenden Hunger veranlaßt worden. Das
war 3. B. bei Nanſens Hunden der Fall, die nur
fo dazu famen, das Fleifh ihrer Kameraden zu
frefien, — das fie vorher auh dann vermweigerten,
wenn eg ihnen in anderer Form gereicht wurde.
Keine Gattung fann eben befteben, die Kanniba-
lismus zuläßt. Daher tun fih die Artgenoffen zu-
fommen, um ben aus ihrer Mitte zu retten, der
von einem bösartigen Andern bedroht wird.
Ausnahme beftätigt die Megel,
Menſchen.
Bei der Betrachtung des ſechſten Gebots erblickt
Thompſon im Tierreich ein Aufſteigen von völliger
geſchlechtlicher Vermiſchung zur Polygamie (und Po-
Iyandrie) und weiter herauf zur Einehe als der voll-
fommenften Form; vollfommen deshalb, weil die Ge-
fahr der Seuchenverfchleppung und fodann die Jn-
zucht im felben Mage abnimmt, wie die perfönliche
Berührung. Auch innerhalb der Einehe gibt es
nun wieder eine Stufenleiter von weniger zu mehr
vollfommener Form. Bei der erfteren lebt ein
Pärchen zufammen, folange es ihm gefällt; Bei-
fpiel: der Elch. Bei der nädfthöheren dauert die
Paarungszeit eine Brutperiode; das Männden
bleibt fo lange bei der Familie und forgt für die
Jungen, bis fie herangewadjfen find; Beiſpiel: der
Habicht. Bei der dritten Art bleiben die beiden
das ganze Leben zufammen, doc wird der Ueber-
lebende nadh dem Tode des andern frei; fo die
Wölfe. Bei der vierten Art endlich bleibt der
Ueberlebende „untröftlih” allein bis zum eigenen
Tode: die Wildgans.
ft fo die Einehe bei den Tieren die naturge-
wiefene Form, fo erflärt fih nad Thompſon das
Abweichen vieler urfprünglid monogamen Tiere
durch den verderblichen Einfluß des Menfchen, wie
etwa im Falle des Hundes. Dei anderen Tieren
gelingt es nur mit großer Mühe, im Zudtinter-
cfe die Tiere von ihrem monogamen Triebe abzu-
bringen, — beim Blaufuchs etwa. Ein Tier
— wie bei ben
Die |
Die zehn Gebote in der Tierwelt.
widerftrebt gänzlich: die Taube. Wird fie freilich
darum, wie ein überfchwenglicher Forſcher meint,
dag Erdreich befigen, wenn die anderen höheren
Tiere ausgeftorben find? |
Das 7. Gebot gibt T. Gelegenheit, auf die hohe
Entwidelung des Eigentumsbegriffes in der Tier-
welt hinzuweifen. Eigentum fann fein: Nahrung,
Meft, Jagd⸗ und Spielgebiet, endlih das Weib-
den. Das ungefchriebene Gefen der Tiere heißt
bier: Wer etwas erzeugt, dem gehört es. Gefun⸗
denes ift Eigentum deffen, der es gefunden und
davon Befig ergriffen hat. Bei der „Beſitzergrei⸗
fung” fpielen gewifle Eigentümerzeihen eine be-
fondere Rolle.
Da ift die Kennzeichnung eines Gegenſtandes
durch Geruch; mande Tiere — etwa MWiefel,
Wolf — befiprigen ihr Eigentum mit einer Flüſ⸗
figkeit aus einer Drüſe, ehe fie es verfcharren. Er-
innert das niht an das Gebaren des Seemannes,
ber den neuerworbenen Gegenftand zunächſt befpeit?
Der natürliche Grund aber für die Geltung des
fiebenten Gebotes in der Tierwelt wäre diefer: Ein
Eihhörnden 5. B., das für den Winter nichts ge-
femmelt bat, muß verhungern oder — ftehlen.
Wird es im legteren Falle nun niht von den epr-
lihen” Stammesgenofien zur Strafe umgebracht,
fo würde die Unfitte des Stehlens überband neh-
men; feiner würde mehr für den Winter hamftern,
niemand fpeicherte alfo mehr etwas auf; das Dbe-
deutete aber dag Ende der ganzen Gattung. Afo
auch Hier fubjeftive oder objektive Strafe. Aus
dem Inſtinkt der Wahrung von Nahrungseigen-
tum entwidelt fih dann der Inſtinkt des Beſitzes
beftimmter Gebiete, welche die Tiere als ihr eigen
anfehen und deren Betreten fie verwehren. Die
Artgenoflen achten den Beſitzanſpruch. Auch bier
gibt es Eigentumszeihen; die Tiere reiben etwa
den Körper gegen Bäume oder zerreißen die Rinde
mit den Zähnen, um das Gebiet andern Tieren
gegenüber als das ihre anzuzeigen. So halten es
etwa die Bären.
Beim 8. Gebot — du folft nicht falfches Beug-
nis ablegen — zieht T. den Fall der Meute auf
der Fuchsjagd heran. Jeder einzelne Hund firengt
fih an und ſucht als erfter den Fuchs zu melden.
Wenn nun noh unerfahrene Tiere in ihrem jugend-
lihen Ungeftüm die Fährte fälſchlich melden, wer-
den fie, beſonders wenn fie fih öfters irren, von
den anderen nicht mehr ernft genommen; wer ein»
mal lügt ... Die Tiere leitet bei folder Mif-
achtung ein gefunder Inſtinkt, denn dag Ueber-
handnehmen falfhen Zeugniffes machte jegliches
Zufammenarbeiten unmöglih und würde im Falle
wilder Tiere das gefamte Nudel u. ä. gefährden.
T. führt dabei noh ein — Gedicht an als Beweis
dafür, dag die Strafe auh anders fein fann als
Kleine Beiträge.
bloße Verachtung. Es ift eine Wolfsgefchichte
von Hidey: zwei Jäger fehen zu, wie ein Wolf
einen Hirſch tötet, fih aber erft wieder entfernt,
um die andern zu holen; die Jäger entfernen unter»
deffen den toten Hirfh und verfteden fi) wieder;
als der Wolf mit dem Nudel kommt und fih ver-
gebens nad feiner Beute umfieht, beobachten fie,
wie er von den andern zur Strafe für feine falide
Meldung zerriffen wird: er kannte fein Scid-
fal und nahm es auf fi”.
Das 10. Gebot geht mit dem 7. ziemlich zu-
fammen. T. führt aus feinem Sammelbud die
Beobachtung an, dag eine Klude in der Scheune -
cin Neſt machte und fih darauf fegte; eine andere
„begehrte ihren Platz; immer, wenn jene fih vor-
übergehend entfernte, feste fie fih darauf; fie legte
ihre eigenen Eier hinein und wollte ebenfalls brü-
ten; die Natur rächte fi, indem bei dem Kampfe
zwifchen beiden, der nicht ausblieb, die Eier zer-
drüdt wurden.
Schwalben handeln daher in rihtigem Inſtinkt,
wenn fie andere Vögel, die während ihrer Ab-
wefenheit ihr Neft in Befig genommen haben,
wieder entfernen wollen; oder, wenn fie es nicht
fertig bringen, dag Neft mit Lehm zumauern, fo
dag die Eindringlinge elendiglih umfommen. Der
Inſtinkt ift richtig, weil fonft die Gefahr befteht,
dag Schmaroger herangezüdhtet werden, deren Bu-
wachs eine unerträgliche DBelaftung des eigenen
Stammes darftellen würde.
Alle diefe Gebote nun, deren Uebertretung ge-
gebenenfallse das Leben verwirfen läßt, gelten nur
für Tiere derfelben Art: zwifhen Wolf und
Wolf, Maus und Maus; aber nit zwifchen
Wolf und Maus. Auch bei den Wilden gilt ja
das Deftehlen des eigenen Stammesbruders als
unerhörter revel, ja, kommt praktiſch überhaupt
nicht vor, während der Mord eines Feindes fogar
als Ehre angerechnet wird. Erſt Kulturvölfer
fennen die Empfindung des Mitleide mit den Mit-
263
Schmwieriger ift es nun, die drei erften Gebote
im Tierreich aufzufpüren; — jene Gebote alfo, die
sine Beziehung zum höchſten Wefen aufftellen; —
auch das 3. Gebot enthält ja eine folde, gebietet
nicht nur Rube nah der Arbeit an fih. Daß
auch diefe Gebote für die Tiere gelten, behauptet
Thompſon nicht. Nur eine leife Ahnung eines
böberen Wefens will er bei den Tieren feftftellen;
und zwar ift dies höhere Wefen für die Tiere eben
der Menih. Er führt Beobachtungen an, die dar-
tun, daß in der allerhöchften Gefahr die Tiere fidh
einfah in den rettenden Schoß des Menfchen
flüchten; fie liefern fi einer unbefannten, aber
jedenfalls überlegenen Macht auf Gnade und Un-
guade aus. Er erzählt z. B. das Erlebnis eines
Londbriefträgers, der unterwegs einer Elchkuh be-
gegnete. Sie war allein, fam aber mit gefträub-
ter Mähne auf ihn zu. Wollte fie ihn bedrohen?
Er flüchtete auf einen Baum, fie ganz dicht hinter
ihm ber, ohne ibn freilich zu berühren, was fie dod
hätte tun können; auh vom Baum hätte fie ihn
leicht herunterholen Fönnen, madte aber feinen
Verſuch; fie blickte ihn nur flarr an, die Mähne
gefträubt. Als nad drei Stunden auf des Brief-
trägers NHilferuf Leute herbeifamen, liep fie ſich
nicht vertreiben und mußte abgefhhoflen werben.
Man fand ihre linte Seite völlig zerfegt; ein Elh-
bulle hatte fie offenbar vor einem Tage angefallen
und fo übel zugerichtet. Sie mußte arge Schmer-
zen gelitten haben. Warum hatte fie den Brief-
träger verfolgt? Angreifen wollte fie ihn nicht,
denn fie tat es nicht, als fih die Gelegenheit bor.
Warum dann das wilde Sträuben der Mähne?
Es war vielleiht nicht Zorn, fondern ein anderes
— ſchwer in Worte zu faflendes — Gefühl, das
ihre innere WBerftörtheit zum Ausdrud bradıte,
irgendwie jedenfalls, meint Thompſon, in eine
Linie zu ftellen mit jenem Trieb, der die Tiere in
höchſter Not inftinktiv beim Menfchen als dem
überlegenen höheren Weſen Schuß ſuchen läßt.
menfhen oder gar allen Mitgeſchöpfen. —
Kleine ‘Beiträge.
Die Giftwirfung des Grünen Knol-
tenblätterpilzges (Amanita phalloides) bei
Tieren. Der grüne Knollenblätterpilz ift einer unferer
giftigften Pilze, indem er fat immer tödlih wirft. Seine
Gefährlichkeit liegt befonders darin, daß die Erkrankung
jiġ ert 10 bis 12 Stunden nah dem Genuß einftellt,
wenn das Gift fhon in das Blut übergegangen ift. Es
treten Erbreden, Durft, holeraartiger Durhfall und Ent-
fräftung auf. Nah 3 bis 7 Tagen ftellt fih gewöhnlich
der Tod ein. Wie verhalten fi die Tiere zu dem Gift?
Diefe Trage ift umſo beredhtigter, als mande Tierarten
gegen für den Menſchen giftige Pilze immun find. So
freffen 3. B. in hiefiger Gegend die Ziegen in großen
Mengen den Fliegenpig. Viktorio Pettinari
- waren Eidehfen, Molde und Fröſche.
®
(Cpt. rend. hebdom. des féances de 1’ acad. des feien-
ces Bd. 180, Mr. 2) unterſuchte die Wirkſamkeit des Ertrat-
tes aus frifhem und getrodnetem Knollenblätterpi. Für
die niederen Tiere, Anfuforien, Eruftareen und Inſekten⸗
larven, war der Pilz giftig. Bei den Fiſchen trat erft nad
12 bis 72 Stunden die Giftwirfung ein. Unempfindlich
Bei den Säuge—
tieren zeigen ſich Unterfhiede. Auch kommt es bier auf
die Art der Einverleibung des Giftes an, ob parenteral
oder dur den Magen. So reagieren Kaninchen, Meer-
ſchweinchen und von den Vögeln die Tauben bei Einfüh-
rung des wäflerigen Auszuges von getrodneten Pilzen duch
den Magen niht. Dagegen zeigen fie bei parenteraler
Zufuhr eine große Empfindlichkeit. Am heftigſten wirkt
264.
das Gift bei den Fleifchfreflern, den Hunden und Kahen.
Die Art der Zufuhr i bier ganz gleihgültig. Das Krant
heitsbild ähnelt dem des Menſchen. Erbrechen, blutige
Durchfälle und Harnmangel (Oligurie) treten auf.
Abert Pietſch.
Ergäanyungsftoffe bei Pflanzen Durd
die Unterfuhungen der legten Jahre ift dargetan, daß. die
Tiere zu ihrem Leben und Wachstum gemwiffer Stoffe be-
dürfen, die als Vitamine bezeichnet werden. Won veridic:
denen Seiten wurde die Frage aufgeworfen, ob aud für
die pflanzlihe Ernährung den Vitaminen in ihrer Wirkung
entfprehende Stoffe norwendig find. Solche Eubftanzen
follen vor allen Dingen in Torfertraften vorfommen und
wurden als Aurimone bezeihnet. Man nimmt an, daß die
Nucleinfäuren und ihre Abkömmlinge für die fpezifiiche
Wirkung in Frage Eommen. Florence Mote.
ridge (Ann. of botann Br. 38, Mr. 152) unterſuchte
nun nad diefer Richtung bin die N-jammelnden Bakterien
und prüfte fie auf folde das Pflanzenwahstum fürdernden
Ausſprache.
Ausſprache zum Aufſatz: Die Evolutionstheorie
vor Gericht.
Ich bin diesmal nicht ganz einig mit der Ein—
ſtellung des ſehr verehrten Schriftleiters von
„Unſere Welt“ zum Teneſſeeſchen Affenprozeß,
der uns von unſerem weitervorgeſchrittenem Stand-
punkte aus ja allerdings lächerlich genug anmutet-
Aber wenn die öffentlibe Meinung eines Staates
in der Welt noch fo rückſtändig it wie in den Weft-
taaten Mord-Amerikas, daß ihr die Bibel aud
ein Kanon ift für die wiflenfchaftlihe Wahrheit,
dann ift eine folhe Entſcheidung nicht blos felbft-
redend, ſondern aud die beflere; denn in einem
ſolchen Lande bietet die wiſſenſchaftliche Ent-
wicklung auch nod Feine genügende Korrektur gegen
die falſchen Folgerungen uns äußerlich begriffenen,
aber noch nicht völlig verdauten Sägen, aud fann
obne Zweifel dort die Affenfrase in der Ahnen-
galerie großen Schaden tun.
Mid dünkt, man muß, um in folden Dingen zu
entfcheiden, auch die Religion von ihrer praftifhen
Seite aus faſſen nud zu fhäsen wiflen, wasg fie
als Grundlage aller Moral wert it und darum
wert it, beilig gehalten zu werden auch in ihrer
dogmatiſchen Unzulänglichfeiten, jo lange nur diefe
feinen größeren Schaden tun als die nur halb
bigriffenen und unter dielen Umftänden falih ge-
werteten wiſſenſchaftlichen Neuerungen, die den
Menſchen in feinem gewöhnlichen Tun und Trei-
ben. nod garnichts angeben. Dieſe ihnen aufzu—
drängen, zeugt von Schulmeiſterlichkeit und nicht
jeiten fogar von Schadenfreude, die uns ferne
liegen ſollte; und, wie ih weiß, auch unferem
Schriftleiter ferne liegt.
Ich verteidige aud hierin das Melativitäte-
prinzip. Es gibt Wahrheiten, die nicht für Jedem
Ausſprache.
— — — — 0 mm — — —— —
Stoffe. Als Verſuchspflanze benutzte er die kleine Waſſer⸗
linie (Lemna minor), von den Stickſtoffbakterien wählte cr
den im Boden lebenden Mikroorganismus Aszetobacter
Chroococcum. Es wurden Meinkulturenbenust, die im
Autoflaven bei einer Hibe von 140 Grad ausgefegt wurden.
As Vergleichskulturen benuste man Pflänzden in reiner
Mährlöfung (nah Detmer) und folde, bie verſchiedene
Mengen rober Mucleinfäurederivate aus rohem Torf ent-
hielten. Während bei den Torfertraft-KRulturen fib eine
deutlihe Förderung des Wahstums der Wafferlinien ber-
ausftellte, indem die Vermehrung fi als proportional ber
Menge des zugefügten Ertraftes erwies, fonnte in den
Gläſern mit der Asctobacter-Auffhmemmung eine fo in die
Augen fpringende Beeinfluſſung niht feftgeftellt werden,
wenn aud -ein Wahstum der Pflänzhen ftattgefunden
patte. Zu äbnlihen Ergebniffen Fam man bei Verſuchen
mit autoflavierter Hefe.
Albert Pietſch.
=
taugen. Und der Geit der Angelfahien und
Amerifaner ift darin anders geartet als der der
Deutfhen und Schotten, die jeden Gedanken bis
su feinem logiſchen Ende bindurdzudenfen die
Gewohnheit baben. Wenn aber, wie der verehrte
Herr Schriftleiter zu fürdten fcheint, durch jene
demofratifchen Inſtitutionen der wiſſenſchaftliche
Geift fo weit geſchwächt werden follte, daß aud bei
uns „Affenprozeſſe“ vorfommen fünnten, fo würde
id) das nicht für eine Affenfchande halten, fondern
lediglich für eine zeitgemäße Erſcheinung, die
immerhin das Gute bätte, die große Maffe vor
Theorien zu bewahren, die für fie mehr Schaden
als Mutzen ftiften. Denn die Wahrheit einer
Sade ift eine lediglich wiflenfchaftliche Angelegen-
beit, die nur gerade die in der betreffenden Wiffen-
ſchaft Gebildeten angeht; die Heiligkeit einer Sade
aber eine allgemein menſchliche, deren Intereſſe
unter gewiflen Umftänden weit überwiegt.
Heidelberg. Adolf Maver.
Ich weiß, daß viele — und das find nicht immer
dte Schlechteften — ähnlich denfen, wie der verehrte
Herr Einfender und ich gebe zu, dag im Cinel-
falle, d. b. in einem Kreife von Unmündigen ın
dem bier gemeinten Sinne, es weifer und taft-
voller fein fann, zu ſchweigen als unverftandene
und dem betr. Kreife unverftändlide Wahrheiten
binaussupofaunen- „Web denen, die dem ewig
Blinden des Lichtes Himmelfadeln leih'n“ bleibt
ein wahres Wort. Aber ich gebe nicht zu, daß ee
ter normale Zuftand ift, wenn in unferem Falle
es zu dieſem Konflikte überhaupt kommen mußte
oder dag aus folder pädagogiſch taftvollen Erwä-
gung eg gerechtfertigt wäre, daß nun überhaupt
nichts mehr zur Verbreitung der Wahrheit ge-
idiebt. Der Umſtand, daß aud bei ung in Deutſch—
fand viele auf dem Standpunkte der amerikaniſchen
„Fundamentaliſten“ ftebengeblieben find, may
wohl, da er einmal befteht, das Vertuſchen im
Einzelfalle rechtfertigen. Er rechtfertigt fih damit
aber nicht felber, fondern es ift und bleibt die
die große Schuld der Kriftlihen Kirchen, die doc
berufene Hüterinnen wie aller Ideale, fo aud des
ver abfoluten Wahrhaftigkeit fein follten, daß fie
es zu einem folhen Zuftande überhaupt haben
temmen laffen. Und es folgt daraus m. È. nur
immer wieder dies, daB es jet ihre Pflicht wäre,
alles daran zu feßen, damit wenigftens in einer
bis zwei Generationen die große Kluft zwiſchen
Glauben und Willen gefchloffen wird. Und niemals
zuftimmen werde ih dem Sake, daf „die Wahr-
beit einer Sache lediglich eine wiſſenſchaftliche An-
gelegenbeit ift, die nur gerade die in der betr.
Wiſſenſchaft Gebildeten angeht”, während die Hei-
lihfeit alle anginge. Mit folhen Sägen ift das
allgemeine Miftrauen im Wolke groß gezogen
worden, daß es betrogen” werde und man ihm
die Wahrheit vorentbielte, um es beffer in feiner
untergeordneten Stellung feithalten zu Fönnen.
Eollten wir Gebildeten niht ebenfo wie wir
Chriften endlich lernen, daß fie ein glatter Wider-
ſpruch gegen alle Grundfäße des Evangeliums find?
Vie Wahrbeitift für jeden, derim-
Nandeift fie zu begreifen, wie er das
anfängt, ift feine Sade. Gott fei Dant, daß wir
Deutſche teine ſolchen „Pragmatiſten“ find wie die
Angelfahfen. Es hätte dann weder einen Luther
noh einen Kant noch einen Schiller, Fichte, Goethe
und wie fie alle heißen, gegeben. Im übrigen ver-
geſſen diejenigen, die fo denfen wie der Herr Ein-
inber, gewöhnlih auch noh dies, daß in einem
Volke wie dem deutfchen von heute es eine glatte
Unmöglichkeit ift, die in Rede ftehenden Wahr:
beiten auf den Kreis weniger Eſoteriker zu be
Ihranfen, denn eine Preſſe, die jeder, aber aud
der in die Hand befommt, forget dafür, daß fie
überall befannt werden. Der ganze Verſuch ift
aljo ein Verfuh mit untauglichen Mitteln. Selbft
wenn es ausgemacht wäre, daß die Menfchheit als
Ganzes fidh beffer bei folder Abiperrung fände —
ſic hefe fih einfah nicht durdhführen. Ohne dag
aber bat fie nicht nur feinen Zwed, fondern fie
muk dann, wie die tägliche Erfahrung und die Ge-
\bihte des verfloffenen Jahrhunderts zeigt, not-
wendig ing Gegenteil ausfchlagen, d. b. die gute
Sache diskrditieren, ftatt ihr zu nügen. Wir baben
nur die Wahl zwiſchen einem fonfequenten
mittelalterlihen DBevormundungsfnftem (ih meine
das ganz ehrlid als aus väterlihbem Wohlwollen
hervorgegangen), oder einer wirflih ganz offenen
cht evangelifhen Freiheit. Der gegenwärtige
Kompromiß zwifchen beiden it Schuld an allem
Unbeit, „Ihr aber, lieben Brüder, feid zur Frei
Ausiprade.
265
beit berufen. Laſſet euch nicht wieder in das Efla-
venjoch ſpannen.“
Bavink.
Die Bemerkung in dem Aufſatz „Vom Relativen yım
Abſoluten“ in Heft 7 von „Unſere Welt: dag die Welt
von einem abſolut guten Sort geihaffen fei, das fällt ſehr
fhwer, zu glauben”, wird nit nur in driftlihen Kreifen
Kopffhütteln und Verwunderung erregen, denn nah der
Auffaffung jedes ſittlich denkenden Menſchen it Gort ab-
folut gut, oder es gibt feinen verfönlihen Gott. Wiele
verzweifeln ja an der Gerechtigkeit Gottes, von dem wir
auf Grund der Bibel annehmen müffen, daß alles auf der
Erde mit feinem Willen geihiebt. Die nquifition, nod
mehr die entieslihen Herenprozeſſe, die mittelalterliden
Strafurteile, die Kriegsgreuel — fiche Rückzug der Gropen
Armee 1812 —, der Ausgang des Krieges 1918, die Herr-
Ihaft der Lüge in der Welt, diefe entießliben Ereigniſſe
mit der Güte und Geredtigkeit Gottes in Einklang m
bringen, ift ſchwer. Kine verfübnende Erklärung fand die
Fatholifhe Kirhe. Wie nah ihr alle Mürtyrer fofert ins
Paradies fommen, jo aud) die Menfchen, die ohne Schuld
bier unendlih Schweres leiden, wie die Ausfäsigen. Wir
müflen aber bedenfen, daf wir Gottes Wege nit be
greifen, weil unfer Derftand beſchränkt ift, wie ja zwei
Grundbegriffe, die wir fortwährend anwenden, für uns
unbegreiflih find, Zeit und Raum, werauf Kant idon
binmweift. Die Anfhauung, daß Gott nicht „abfolut gur”
ift, fteht mit der hriftlihen Lebre im Widerfprud. Chriftus
fagt, daß der Water im Himmel vollkommen fei, und daf
niemand gut fei, denn der einige Gott. (Matth. 19, 17.)
D. Weibe, Geheimer Juſtizrat.
Antwort: Der verehrte Here Einfender bat mir dir
Antwort auf feine Beanftantungen eigentlich ſchon felber
vorweggenommen, wenn er fagt: „Diele entſetzlichen Er
eigniffe (die nquifition ufw.) mit der Güte und Geredtiq
feit Gottes in Einklang zu bringen, it ſchwer.“ Etwas
anderes babe ib mit den beanftandeten Morten aud) nicht
fagen wollen und glaube aud) nicht, daß idb etwas anderen
geiagt babe. Ich wollte ja an jener Stelle aub gar nidi
etwa die Vollkommenheit Gottes in Zweifel zieben, viel
mehr nur die Schwierigkeit der Theodizee auf dem ethiſchen
Gebiete dem Umſtande gegenüberſtellen, dağ auf dem
üftbetiihen Gebiete diejelbe viel leichter erſcheint (im An-
ihluß an cine Aeußerung des Philoſophen Oeſterreich).
Natürlich it mir die chriſtliche Lehre, daß Sort vollkommen
jei, und ihre bibliihe Begründung febr wohl befannt. Aber
das Problem beſteht fa gerade darin, wie wir an Diefer
tebre feftbalten können, wenn ded die großke Tatſache des
Uebels in der Welt daftebt, und zwar — darauf fam es
mir in dem Aufſatz über das Uebel an — alg ein nice
durchgehend durch „Sünde“ veruriahtes Uebel. Solange
man im Ehriftentum dies mit dem Apostel Paulus an
nebmen fonnte, war die Sache neh verhaltnismaßig ein
fad. Mir fam e darauf an, der heutigen Cbritenbeit
zu Gemüte zu führen, daß fe, weil dieſer Ausweg nun
mebr endgültig abgeſchnitten ift, ſich auf eine andere Cin:
jtellung zum Uebel, vor allem yum pbufiiden Uebel, be
finnen muß, wenn fe nicht vollig fib aus dem Strom des
Denfens der Kulturmenſchheit ausschalten will. Dies
Problem iſt nicht im Handumdrehen zu lojen und ich bilde
mir nicht ein, es gelöft zu baben. Aber das ſcheint mir
Far, daß es erit redt nicht gelöft wird, wenn man einfach
üd wieder auf den alten Wen zurückzieht, der doch als
verbaut idon erfanne ift. Bavink.
A.
266
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften.
Die augenblicklich intereſſanteſte Nachricht ift ein aus-
führlicherer Bericht aus Amerika über die Hier ſchon mehr-
fadh erwähnte, jedod noch nicht genauer befannt gewordenen
Wiederholungen des berühmten Nichelſonverſuchs, der das
Tunbament der Melativitätstheorie bildet. Es bandelt fi,
wie vorab bemerkt fei, um ben Haffiihen erften Michelſon⸗
verſuch, der die Feftftellung einer etwaigen abfoluten Erd-
bewegung (gegen den Aether) zum Gegenftande hatte,
nit um den Fürslih (Me. 7, 1925) her erwähnten neueren
Verſuch Mihelfons, der als ein optifhes Gegenftüd bes
Roucaultfhen Pendelverfuhs bezeihnet wurde und die Erd-
rotation fefftellen folte. Bei jenem klaſſiſchen Mihel-
fonverfud, der zum erften Male im Jahre 1887 angeftellt
worden ift, wird befanntlih ein Lichtbündel in zwei Teile
gefpalten, die parallel und ſenkrecht zur augenblidlihen Erd-
bewegung im Raume laufen und dann zur Interferenz
fommen. Wird der Apparat um 90 Grad gedreht, fo folte
nad der Aether- bezw. Abfoluttheorie eine Verſchiebung der
Snterferenzftreifen eintreten. Der negative Ausfall dieſes
Verſuchs, der feitber oft wiederholt wurde, gab den Anlaß
zur Aufftelung zuerſt der Lorensfhen Kontraktionshypo⸗
thefe” und fodenn zur Einfteinfhen Theorie. Nah den
nunmehr in bie Tagespreſſe gelangten Nachrichten ift dieſer
Verſuch auf MWeranlaffung des Aftronomen Hale in ber
Weife wiederholt worden, daß man den Apparat, der zuerft
in einem Keller aufgeftellt war, und ben man dann auf
einem freien Plage in Cleveland bei Chicago aufgeftellt
hatte, auf den Mount Wilfon bragte in 1700 Meter Höhe.
Hier ergab der Verfuhnun merfwürbdiger-
weife ein pofitives Ergebnis, aber nur
etwa % des von der Aether theorie vor.
ausgefagten Man bradte den Apparat dann aber.
mals nad Cleveland zurüd und erhielt abermals ein faft
negatives Ergebnis. Wieder auf den Mount Wilfon ver-
fegt, zeigte der Apparat jedoch wieder den pofitiven Effekt.
Es fommt nun offenbar alles darauf an, ob erftens bie
Einflüffe der veränderten Umgebung nicht an dem ver-
ſchiedenen Ergebnis (huld fein können, und ob zweitens fih
bei einer ganzen Serie von Meflungen in verfchiedenen
Höhen ein regelmäßiges Anfteigen des für den „Aether-
wind” erredhneten Betrages ergibt. Sollte dies
legtere der Fall fein, fo dürfte die legte
Stunde der Relativitätstheorie gefhla-
gen Haben, denn dann ift ber Aether defini-
tiv als phyſikaliſche Wirklichkeit nadge:
wiefen. Man wird jeboh gut tun, vorläufig noch
weitere Mahprüfungen abzuwarten. Leider ermöglichen die
fümmerliden Mittel der deutfhen Phyſik es nicht, diefe
Nachprüfungen vorzunehmen. Im ganzen muß man bei
Meldungen über erperimentelle Ergebniffe aus Frankreich
oder Amerika immer um 50 Proz. vorfühtiger fein, als
wenn diefelben aus Deutihland oder England kommen.
Selbftverftändlih bat das Erpyeriment das legte
Wort. Die bewundernswerten Erfolge der Nelativitäte-
theorie bürfen natürlih niht dazu verführen, die Erfab-
rung zu vergewaltigen. Es würde fi jedoch, wenn die
Theorie felber aufgegeben werben müßte, die Frage um fo
dringender erheben, wie ihre merfwürdigen Ergebniffe dann
in das phyſikaliſche Weltbild einzuordnen fein werden. Daf
j. B. der Sag von ber Trägheit der Energie, den die Rela-
tivitätstheorie zuerft berausgeftellt bat, wieder aufgegeben
werden würde, ift febr unwahrſcheinlich. Ebenſo werden
natürlih die befannten Einftein-Effefte (Lichtablenkung,
Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophiihe Umfhau.
Motverfhiebung und Periheldrehung) in eine neue Medanif
und Optil übergeben. Ä
Was diefe letzteren anlangt, fo verfuhte kürzlich M o-
borovicie (Afgr. Nadr. 223, Phyf. Ber. 15, 1013) zu
zeigen, daß die Einftein’fhen Gleihungen an fi mehrere
Konftante unbeftimmt laffen und bag man deshalb nicht die
drei genannten Effekte einzeln, fondern nur alle drei zu-
jammen quantitativ aus der allgemeinen Melativitäts-
theorie herleiten Kann. Buch er er, ber darüber berichtet,
meint, man gewinne aus M.s Darlegungen ben Eindrud,
dag Einftein feine Konftantenwerte im allgemeinen ben
vorliegenden Beobachtungen entiprehend gewählt habe. Am
beftrittenften ift von den drei Effekten befanntlih die Rot⸗
verfhiebung. Hierzu liegt nun eine neue intereflante
Mitteilung vor. Jm Jahre 1922 hatte Weber diefelbe für
den Hauptftern des Sirius gemeflen und dabei einen mit ber
Theorie übereinftimmenden Wert gefunden. Eddington
bat darauf aufmerkfam gemaht, daß ber Begleiter bes
Sirius (©. ift Doppelftern) fi) nod viel beffer dafür eigne,
da er eine ganz ungeheure Dichte befigen muß und bem ent-
ſprechend aud ein ftarfes Bravitationsfeld. Für erftere
fand Eddington, den allerdings etwas fabelhaft Flingenden
Wert von 50 000 (Wafler — 1). Heraus würde fih eine
Rotverſchiebung berechnen, welde einem Dopplereffeft von
20 km/sec. glei käme. In ber Tat hat nun Adams
auf dem Mount Wilfon einen folgen hohen Betrag der
Rotverſchiebung gefunden (21 km/sec.). Man ift freilid
verfuht, aud hierüber zunähft einmal den Kopf zu
ihütteln. Der fraglihe Stern fol nah Eddington einen
Radius von etwa 19600 km befigen, d. h. er wäre nur
wenig größer als die Erde, dabei fol feine Maffe aber
gleih etwa 0,7 Sonnenmaffen fein. Eine folhe Konjen-
tration der Materie wibderfpriht allem, was wir fonft aus
der Phyſik wiffen. Man bedenke: eine Dichte, melde bie
tes Plating um etwa das 2500fache übertreffen ſoll!!
Die fo oft erörterte Frage, ob die Feinſtruktur ber
Waſſerſtofflinien eine Beftätigung oder eine Widerlegung
der fpeziellen Relativitätstherorie Tiefere, ift abermals nad-
geprüft worden von Janidi (Anm. d. Ph. 76, 561; Ph.
Ber. 16, 1119). Er Bat die von Gchrde und lau
einerfeits, von Shrum andererfeits gegebenen Photo-
gramme photometrifh nachgemeſſen und findet für die um-
ftrittene Konftante einen Wert, ber gerade in der Mitte
zwifhen dem von ber Melativitätstheorie geforderten und
dem (von Gehrde und Lau gefundenen) der Abfoluttkeorie
liegt. Nnu find wir alfo immer noh gerade fo Flug wie
zuvor.
Gegen die neue von Lecomte de Nouy gefundene
Methode zur Beſtimmung der Loſchmidtſchen Zahl (f. diefe
Unfhau Mr. 4, 1025) hat Alerander (Phil. Mag. 49,
663; Phyſ. Ber. 16, 1090) erheblihe Einwendungen er-
hoben, die die Nouy'ſchen Ergebnifle anſcheinend ziemlid
illuſoriſch machten.
Eine ganze Reihe von Beiträgen in Nr. 35 der Natur-
wiſſenenſchaften befhäftigt fidh wieder mit der Frage der
Verwandlung von Duedfilber in Gold nah Mierbe-
Stammreid. Rieſenfeld und Haffe teilen
mit, daß fie nah der Deftillation von goldhaltigem Quee-
filber im Deftillat deutlih Gold nachweiſen konnten und daß
nah ihren WBerfuhen SQuedfilber nur dure mehrfach
wiederholte langſame Wafuumbeftillation völlig golbfrei zu
erhalten ift. Dasſelbe Ergebnis fanden Tiede,
Schleede und Frl. Goldſchmidt, bie dann aug
mit fo erhaltenen wirklich goldfreiem Queckſilber ben
Miethe'ſchen Werfuh, jedoh obne Erfolg, wiederholten. Sie
ihließen, daß berfelbe „mindeſtens ſchwer reproduzierbar“
a EEE
ſei. Miethe ftüst fi feinerleits freilih auf den Umftand,
daß er das Ausgangsquedfilber genau den gleihen analy-
tiihen Operationen unterworfen babe, wie das zum Ber-
ſuch benuste, ſodaß, wenn das nadhgewielene Gold wirflid
in dem Quedfilber fhon enthalten geweien wäre, doh min-
deftens der Prozentgebalt dann aud vor und nah dem Ber-
ſuch derfelbe bätte fein müflen. Die Scriftleitung der
Naturw. bringt dazu noh einen Bericht über eine eben er-
fhienene Arbeit von Afton, dem es nunmehr endlid
gelungen ift, die Atomgewichte der QDuedfilberifotopen ge-
nauer zu ermitteln. Er fand 198,199, 200, 201, 202 und
204. Aud dies fpriht gegen Miethe, weil die Umwand⸗
lung von Quedfilber in Gold bei fo auffallend geringem
Energieverbraub nur fo zu erflären wäre, daß das Qued.
filberatom im Kern ein Elektron aufnimmt (alfo eine um-
gefehrte A-Ummandlung erfährt). Dann müßte aber das
Atomgewiht dem des Duedfilbers gleih bleiben, alfo min-
deftens 198 betragen, während Hönigſchmidt und
Zintl es gleih dem des gewöbhnlichen Goldes (197,2)
fanden. — Während fo die Kritik fharf mit Mietbe und
Stammreich ins Gericht gebt, veröffentlihten in Nr. 32
der Maturwiflenihaften zwei Holländer, Smits und
Karen in Amfterdam, daß es ihnen anfdeinend ge-
lungen fei, Blei auf einem dem Miethe'ſchen äbnlihem
Wege in Quedfilber und Thallium umzuwandeln. Sie
fonftruierten eine der Quarzquedfilberlampe äbnlihe Blei-
lampe und erbielten ein pofitives Ergebnis, wenn fie diefe
Lampe ſtark überlaftet etwa 6—10 Stunden brennen ließen.
Aub bier wird man gut tun, die weitere Nachprüfung ab-
jumwarten.
Die viel diskutierte Frage, ob das bei faft allen irdiſchen
Elementen bisher feftgeftellte konſtante Mengenverhältnis
der in ihnen enthaltenen fotopen auf eine zu Anfang ber
Erdgeihihte erfolgte Durchmiſchung oder auf ein inneres
Gleichgewicht, bedingt durd verfhiedene Stabilität (ähnlich
dem radioaktiven Gleihgewiht) zurüdzuführen fei, ver-
fuhten Jäger und Dykſtra (Zeitihrift f. anorg. Eh.
145, Naturw. Nr. 34) dadurch zu entiheiden, daß fie ein
iediihes mit einem kosmiſchen Vorkommen verglihen. Am
beften geeignet zu diefer Prüfung it das Silicium,
das nah Afton aus den beiden fotopen 28 und 29 beftebt.
Sie fanden feine Abweihung im Atomgewiht zwiſchen dem
aus irdifhen Mineralien flammenden und dem aus Meteo-
riten entnommenen Silicium. Zur Beſtimmung des Atom-
ewichtes diente die Dampfdihte des Tetraätbplfiliciums
i (C Hs).
Da die von Sajans, Ryihlewitfh u. a. vor
genommenen Beſtimmungen der Schmeljtemperatur des
Kohlenftoffs angezweifelt worden find, fo wurden die Ber-
fube von anderen Autoren neuerdings mit verbefferten
Hilfsmitteln wiederholt, führten aber zum gleihen Ergeb-
nis. Der Schmelzprozeß des Koblenftoffs (Graphits) liegt
. bei — 3760°, abfol., mit einem wahrſcheinlichen Fehler von
+ 65°,
In Nr. 32 magt Meiner ausführlidere Mittei-
lungen über DVerflüffigung größerer Mengen Helium in der
Phyſ. Techn. Reichsanſtalt. Man gewann das Helium aus
der Luft, das Problem befteht hauptſächlich in der
Trennung vom Meon. Erhalten wurden etwa 700 Liter.
In Me. 35 der Maturwiffenihaft magt nun Peters-
Berlin den Vorſchlag, ftatt diefer fhwierigen Trennung
lieber das Helium aus Monazitfand in größeren
Mengen berzuftellen, man könne aus diefem Mineral (das
das Mobproduft für die Fabrikation der Glühftrümpfe
bilder) leiht 250—500 cbm Helium jährlih gewinnen,
was zwar niht zum Füllen von Luftichiffen, wohl aber für
alle wiflenihaftlihen Zwecke ausreide.
In der engliihen Zeitihrift Nature” bat vor kurzem
Manley die aufiebenerregende Nachricht veröffentlicht,
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
e Umf a 267
daß es ibm gelungen fei, eine beſtändige Quedfilber:
Heliumverbindung (Queckſilberhelid) berzuftelen. In Nr.
32 der Maturwiffenihaften gibt nun Joos- Jena eine
vlaufible tbeoretiihe Erklärung für dieſes anfcheinend der
bisherigen Theorie widerfpredende Werbalten. Das
Heliumatom tann durch Elektronenſtoß aus dem Grundzu-
ftand in einen im DVergleih zu anderen Elementen verhält-
nismäßig lange Zeit ftabilen angeregten” Zuftand verfegt
werden, in welchem es einem Waflerftoff- oder Lithiumatom
ähnlicher ift, als einem Edelgas. Man bätte es hier alfo
mit einem ausgefprohenen Falle von „pathologiiher Che-
mie’ zu tun.
Nach Unterfuhungen von Hedges und Myers
(Journ. hem. foc. 127; Phyſ. Ber. 15, 1033) wird
Wafer lebhaft zerfegt, wenn man Magnefiumband
bineinbringt, das in Salsfäure gut gereinigt ift und mwenn
man dem Waſſer einerfeits 2 Proz. Salmiak, andererfeits
einige Tropfen einer Schwermetallſalzlöſung (Cu Cha, Ni
Wie Mund und Koh (Bull. So. Chim. Belg. 34;
Cl, Fe S O4 o. a.) zuſetzt.
Phyl. Ber. 16, 1109) fanden, werben eine Reihe gasför- `
miger Koblenwaflerftoffe, fo 5. B. Methan, Aethylen, und
Acetylen dur Einwirkung von Madiumemanation zu Kon
denfationsreaktionen (Bildung größerer Moleküle) veran-
lat, wenn zugleid die Temperatur erniedrigt wird. Biel-
leicht liegt bier eine Möglihleitgu freiwilliger
Syntheſe böhermolelularer organifdher
. Stoffe aud in der freien Natur vor.
Dagegen ſcheinen die f. 3t. vielbefprodhenen Verſuche von
Stoflafa u. a, wonach in wäſſerigen Löſungen von
C .O2 unter dem Einfluß ultravioletter Beleuchtung For:
maldehyd (als erfies Produkt der Affimilation) entftehen
folte, niht flihhaltig zu fein. Porter und Rams-
perger (Journ. Amer. Chin. Soc. 47, 79, Phyſ. Der.
16, 1128) erhielten noch nad 6O Stunden leine Spur von
Formaldehyd, wenn fie forgfältig gereinigtes und mit
Waſſerdampf gefättigtes Kohlenoxyd durch eine Quar-
röhre trieben, wo es mit einer Quarzlampfe beſtrahit
wurde. Das Ergebnis wurde jedoch pofitiv, wenn das Gas
sugleih mit organifhen Stoffen, wie 5. B. Kautſchuk,
Siegelmahs u. a. in Berührung tam. Es feint alfo, daf
daß diefe als Katalyfatoren wirken. l
In Mr. 35 der Maturwiffenihaft berihtigt Edm.
Hoppe einen weit verbreiteten Irrtum über Gauß. Cs
wird gewöhnlid angegeben, (id felber befenne mig aud
Ihuldig), daß Gauß das Dreied nfelberg-Broden-Hober
Hagen deshalb ausgemeflen habe, um daran eine ev. Ab-
weihung der Winkelfumme von 2 MR. feftzuftellen und fo
eine erperimentelle Nahprüfung der euflidifhen Geometrie
vorzunehmen. Nah Hoppes ausführliher geſchichtlicher Dar-
legung ift diefe Meinung dadurch entftanden, dab Gaup in
jener Zeit, wo er dieſes Dreied zu Zweden prat-
tifher Erdvermeffung aufnahm, zufällig aud ge-
rade mit einigen anderen Matbematilern in lebhaftem
Briefwechſel über die nicht euflidifhe Geometrie ftand. Nah
einer Mitteilung feines Affiftenten Lifting hat ©. nur ins
Auge gefaßt, dab man vielleiht einmal durch Ausmeſſung
eines größeren aftronomifhen Dreieds (an Firfternen) die
Trage prüfen Fönne.
Das Mätfel der grünen Nordlichtlinie läft die Forſcher
niht ruben. est veröffentliihden Mc Lennau und
Shrum in der Nature 115, 382 (Phyſ. Ber. 16, 1124)
eine Beobachtung, die fat wie ein Columbusei anmutet.
In einem Gemifh von Luft oder Sauerftoff mit Helium,
lesteres im Weberfhuß von beiden, trat die berühmte grüne
Linie auf, fie fehlte aber in den reinen Gafen, auch im
reinen Waflerftoff oder Stidftoff. Es wurden dabei febr
lange Entladungsröbren benußt, die mit flüffiger Luft ab-
gefüblt wurden. Was fagt nun Begard dam?
268 —
b) Biologie.
Syntheſe — Zufammenfaffung — der Wiffenihaften
lautet beute die Forderung. Ein Beiſpiel einer wirklich
ſynthetiſchen Wiffenihaft bringt ein ſchöner Aufſatz von
Auguft Thiensmann, in dem er bie Aufgaben
der modernen DBinnengewäflerfunde (Binnologie) beihreibt
(Maturmwiflenihaften H. 27.) Der Verfaſſer bebandelt
zunächſt den See als Lebenseinheit einer höheren Ordnung.
Den Einzelweien als Lebengeinheiten erfter Ordnung und
den Lebensgemeinichaften, den Lebenseinheiten zweiter Ord-
nung, ftebt der See mit feinen Lebensgemeinihaften als
eine Lebenseinheit dritter Ordnung gegenüber. Dement-
iprehend baut fih das Gebäude der Gewäſſerkunde in drei
Stufen auf. Auf der unterften ſteht die phyſikaliſche und
chemiſche Erforfhung der Eigenihaften des Waflers einer-
feits, andrerjeits die feines Einfluffes auf die Lebenseinheit
der erften Ordnung, die Art. Auf der zweiten behandelt
der anorganifhe Teil die befonderen Eigenſchaften der
Einzelgewäfler, der organifhe die Tebensgemeinihaften in
ihrer Bedingtheit durch diefe. Auf der dritten Stufe
vereinigen fid beide Teile zur Gewäflerfunde im eigent-
= Neue Literatur.
Rätſel, das zu löſen Prell für unmöglid hält.
lihen Sinn: zur Erforihung des Gewäſſers jelber als
der Lebenseinbeit, die das Gewäſſer im geograpbiihen Sinn
mit den beherbergten Lebensgemeinihaften bildet.
Zu den wunderbarften Leiftungen des tierifhen Inſtinkts
gehört der Blattrichter des Birkenblattrollers. Dieſer bei
uns häufige Käfer ſchneidet befanntlib den obern Teil
des Pirfenblattes jo ein, daß der untere Teil beim Ber-
trodnen jiġ zu einem die Larven ſchützenden und näbrenden
Tribter aufrollt. Erftaunlid genug, denn das ift nur
möglid, wenn der Einihnitt ein Kreis ift. Diefer Kreis
jol nun nah Wasmann und anderen gerade die Evo-
Iute des Dlattrandes bilden, ſodaß der Käfer das marbe-
matiſch garnicht jo einfahe Problem löft, zu einer gege-
benen Kurve (DBlattrand) die Evolute zu beftimmen. Daf
davon ebenjowenig die Rede fein fann wie von der mathe-
matiih eraften Konftruftion der DBienenzelle, weiſt neuer-
dings Prell nah in „Maturwiffenihaften‘ H. 30. Die
Leitung erjheint deshalb aber faum weniger bewunderns-
wert, und die Entftebung des komplizierten nftinfts, bei
der es ſich um eine biologijhe Mutation handelt, ift ein
Der Eleine Eerder. Nachſchlagebuch über alles für alle.
Mit vielen Bildern und Karten. 1. Halbband A bis K.
(Herder u. Co., Freiburg i. Br. 1925. 752 ©.) „Der
feine Herder” ift ein von katholiſcher Seite berausge-
gebenes „Konverfationslerikon”, das auf Feinftem Raum
außerordentlih viel bringt. Im Gegeniag zu feinen Neben-
bublern ift es viel bandlider und bietet dabei dodh alles
Mötige. Zahlreiche freilich Eleine, aber doh ſcharfe Bilder
aus allen Gebieten, auch einige bunte Tafeln dienen der
Veranſchaulichung des in dem febr Eondenfierten Tert Ge-
fagten. Die Landkarten find ſchwarz und auh im Fert.
Dap diefe, Drud und Bilder, gute Augen verlangen, muß
gefagt fein, ift aber bei dem kleinen handlihen Format
aud gar nicht zu vermeiden. Daß das Katholiken Jnter-
eflierende befonders hervorgehoben ift, fann man ja den
Herausgebern niht verdenfen, ift das Bub dod auch in
erfter Linie für Katbolifen berechnet. Es muß aber an-
erfannt werden, daß eine gerechte Beurteilung auh anderer
Anfihten erftrebt wird. Im ganzen ift aud überall das
Meuefte angegeben. Freilih ift da gerade unfer Keplerbund
ihleht weggefommen, denn er bat nah dem „Kleinen
Herder‘ noh in Godesberg feinen Sig und der Bericht—
erftatter it noh immer fein Direktor. Das wäre nah
fünf Jahren doh nit nötig. Dt.
Charles A. Ellmood, „Zur Erneuerung der
Religion”. Ueberſetzt von B. L. Frank-Wien. (Verlag
von W. Kohlbammer, Stuttgart. 330 ©, 7 M Der
Verfaſſer, Profeffor der Gefellihaftsfunde an der Uni
verfität Columbia und Präfident der Amerikanifhen So-
ziologifhen Geſellſchaft, bezeichnet es in diefem Bude
wieder wie ſchon in feinen früheren Werfen als „eine
der größten Motwendigkeiten unferer Zeit”, daß eine mit
der Wiſſenſchaft übereinftimmende Religion die Herrihaft
über das Leben der Völker gewinne Die dabei in Frage
ſtehende Wiſſenſchaft ift freilih eine andere als bdie, an
mwelhe wir zunächſt denfen, nämlich nicht nur die Natur-
wiſſenſchaft, jondern die Soziologie, die Geſellſchaftslehre.
Will diefelbe Richtlinien für den gefiherten Beſtand der
menihliben Gefellibaft geben, fo. muß fie Kräfte und
Neigungen der Einzelmenihen in Rechnung jegen, welche
nah des Derfaffers Ueberzeugung allein aus der Religion
hervorzugeben vermögen. Mur aus ibr Fönnen der Ge-
meinfinn, die Aufopferungsfäbigkeit, der Mut und der
Sebensoptimismus erwachſen, welde die Soziologie als die
unerläßliben Vorausſetzungen für das Gedeiben der menſch—
liben Gemeinihaft erfennt. Wenn V. fidh nun auh gegen
den bier fo nabe liegenden Einwand, er vertaufhe die
Frage nadh der Wahrheit der Religion mit der nah ihrer
Nützlichkeit, durh den Hinweis wehren fann, für fie gelte
dodh ganz befonders, daß man fie an ihren Früchten er-
fennen müſſe, fo bleibt in feiner Betrachtungsweiſe doc
ein Stück amerifaniihen Pragmatismus erhalten. Die
metapbufiihe Frageftellung der Meligion bleibt dement-
iprebend unberüdfihtigt. Won diefer Einftellung läft fid
der Derfafler jedoch Feineswegs zu dem Verſuch verleiten,
eine neue Meligion nad) foziologiiben Gefihtspunften zu
Fonftruieren. Dazu befißt er ein viel zu flarfes inneres
Verhältnis zum Ehriftentum, in deffen Geift er den Schlüſ—
fel zur Löſung aller Gefellihafts- und Gemeinihafts-
probleme erblidt. Allerdings müfle diefer Geift fib dazu
freier und reiner entfalten Fönnen als ibm dies in ber
bisherigen kirchlichen Praris möglih war. Das Buch, das
ſcharf auf das Kernproblem unferer heutigen Zeit bin-
weift, ift freilih mit einer gewiflen Cinfeitigfeit belaftet,
infofern eg eben die Religion ganz; von den unmetapbu-
ſiſchen Gefihtspunften der Soziologie aus betrachtet. Allein
gerade durch diefe Kinfeitigfeit befißt es andererfeits bie
Möglichkeit, mit beionderer Wucht auf die Kulturprobleme
der Religion binzumeifen, auf die Motwendigfeit der Ueber-
einftimmung von fihtbarer und unfihtbarer Kirde. A.S.
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vom | Professor
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Inhalt:
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Verlag, vierteljährl. 2.— Goldmark, ins Ausland der höheren Versandunkosten wegen 2,30 Goldmark. Der Brief-
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Apartado 549 Mexiko D. F.
Alle Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. Verlag od. Geschäftsst. des Keplerbundes, Detmold.
Inhaltsverzeichnis $ cn. Zr „Der Naturfreund‘“.
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Scyriftleitung: Prof. Dr. Bavink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Auffätze fiehen die Verfaſſer; ihre Aufnahme mapt Re nigi zur Aeußerung des Bundes.
XVIL Jabrgang
Rovember 1925
Heft 11
Spiritismus, Gedanfenlefen, Denfende Tiere und Zafchen-
ſpielerei. Von Dr. Rudolf Weinmann.
— — — — — — — — — — —— — — — — — — — ar
Es gibt keine Wunder außer dem einen großen
Geſamtwunder, genannt Natur, Univerſum, Wirk⸗
lichkeit. Es gibt keine Durchbrechungen dieſes
Allwunders, deffen W efen feine eherne Œ e f eb-
mäßigkeit ift. Unfer Erfennen der Welt —
ſich ausweiten, Fann bisher ungeahntes erſchließen, |
fann auf zeitlihe und ewige Grenzen ftoßen, dic
nur nod der metaphyſiſche Drang, die philofophifche
Weltinterpretation zu überfchreiten vermögen.
Doh nimmermehr wird innerhalb er-
fchloffener Erfcheinungsgebiete Raum fein für
Fleinlide, fpielerifhe Abweidhun-
gen von umfaflenden Motwendigkeiten. und Ge-
fegen des Denkens und Seins,
Solche aber behauptet der Spiritismus, be-
baupten die Gedankenleſer, behaupten die Apoftel
der benfenden Tiere.
Sie berufen ſich dabei auf Tatſachen und
fordern den Skeptiker auf, diefe Tatſachen ſelbſt
zu fehen, zu prüfen und zu widerlegen.
Letzteres wird nicht leicht, unter Umftänden gar
nicht gelingen.
ft der Skeptiker aber damit widerlegt?
Nigt im geringften-
Mit Zug und Recht darf er ee von vorn-
herein ablehnen, einen, wie in folhem Falle zu
erwarten, ganz fruchtloſen und irrelevanten Au-
genſchein vorzunehmen. Er hat befiere Gründe,
ftärfere Helfershelfer für feine Derneinung: Logit
und Dernunft.
Mit diefen fann er auf ein großes, fehr auf-
fhlußreiches, aber viel zu wenig beachtetes und ge-
würbdigtes Gebiet von „Tatſachen“ verweilen, die
— Feine find. Das it dag Gebiet der Ta-
fhenfpielerfunf.
Hier find — ſcheinbare — Wunder.
6:
Da vertaufchen Segenftände ohne mechaniſche
Hilfe ihren Pas, Stoffe wechfeln ihre Subftanz,
Dinge entftehen aus dem Nichts und verfhmwinden
in nichts, Größtes findet im Kleinften Raum, ja
die indifchen Fakiere laffen Bäume vor den Augen
ber Zufchauer in den Himmel wachſen.
Aber im Prinzip ift ſchon das einfachfte Karten-
Funftftü eines halbwegs geſchickten Amateurs ein
„Wunder“, niemals zu durchſchauen und fcheinbar
allen Gefegen Hohn fprechend . . .
Warum aber glaubt Hier niemand, dag unbe»
kannte oder offulte Kräfte im Spiele find?
Nicht, weil man diefe Dinge erflären ober
gar nachmachen fann, fondern weil man weiß,
dag eine Täufchung vorliegt; weil niemand den
Anſpruch erhebt, es handle ſich um Ab-
biegungen oder Durchbrechungen des allgemein be-
kannten Naturgefchehens, weil diefe Dinge umge»
ehrt den Ehrgeiz haben, als außergewöhnliche Ge-
ſchicklichkeit und amüfante Irreführung gewertet zu
werden.
Wir treten alfo dem Gebiete der Tafchenfpielerei
mit dem rihtigen BW or ur teit gegenüber. Fehlte
diefes — wir brauden nur einen völlig unbefan-
genen ‘Betrachter zu fingieren, der von der Eriftenz,
der Möglichkeit derartiger Eunftvoller Täuſchungen
noh nie etwas gehört —, fo müßten wir dem rät-
felhaften Scheine unbedingt unterliegen: wenn
wir ihm nämlid nur mit dem Rüſtzeug der Beob⸗
achtung, nicht mit dem der Dernunft, der Logit
begegneten!
Die Beobachtung würde uns völlig im Stiche
laffen. Das ift ja der Reiz, dag DBefondere, die
Kunft des Tafchenfpielers, den Punkt zu verhüllen,
der feine „übernatürlichen“ Teiftungen mit der Na-
tur verfnüpft, unfere Aufmerkſamkeit auf alles zu
270
lenten, nur nit auf den möglihen Schlüffel zu
feinem Geheimnis. —
Wenden wir die gleihe Logik und Vernunft,
mit der wir — weil a priori auf dem ridtigen
Standpunft! — den Phänomenen der Tafchen-
fpielerfunft gegenübertreten, auf die fpiritiftifchen
Phänomene an, fo Fönnen wir gar niht andere als
aud fie in das Gebiet der nicht durchſchaubaren,
funftvollen Täufhungen einreihen.
Freilich wird uns das nidhts weniger als leicht
gemacht.
An Stelle des richtigen Vorurteils, das
wir aller Taſchenſpielerei entgegenbringen, wird
uns hier mit viel Ueberredungskunſt und einem
Rieſenapparat ſcheinbarer Beweiſe ein falſches
zu imputieren verſucht. Jegliche geſunde Skepſis
wird auszuſchalten und Empfänglichkeit für das
Abſurdeſte zu erzeugen unternommen. Der un-
ausrottbare Hang vieler Menfhen zum Aber-
glauben dient ale willfommene und erfolgreiche
Stüße.
Der „große Gelehrte”, am Tiebften der berühmte
Phyſiker X, dient als Kronzeuge.
Es ift dann relativ begreiflih, daß der unfelb-
ftändig Denkende, der abergläubifh Weranlagte
und durch Autorität leicht Geblendete den Zat-
fahen” des Spiritismus unterliegt. Der ganze
Apparat einer fpiritiftifchen Veranſtaltung
auh nur zu geeignet, ſchwache, beeinflußbare Kipfe
zu verwirren. Dazu Fommt, dag in jedem Men-
chen, fei er auh der Nichtabergläubifchefte, Kalt-
blütigfte, die Stimmung des Unheimlihen — bis
zu einem gewiflen Grade wenigſtens — zu erweden
it. Und mit der arbeitet die fpiritiftifhe Sitzung
befanntlicd in hervorragendem Maße.
Naht — oder dodh wenigftens Halbdunfel —
muß es fein, wo ihre Sterne ftrahlen.
Suggeftion und Autofuggeftion tun dag Uebrige,
um das notwendige, gefunde DBorurteil niht auf-
fommen zu laffen, das uns im wohlerleuchteten
Saale des Tafıhenfpielers nicht verläßt.
Aber der ſchon erwähnte berühmte Profeſſor der
Phyſik? Hat er nicht ein dides Buch über feine
eigenen Erfahrungen und Beobachtungen auf die-
fem Gebiete veröffentliht? Hat er nicht felbft an
friritiftifhen Sikungen teilgenommen und das
Medium unter „exakte Bedingungen‘ geftellt?
Nun, der gelehrtefte Gelehrte ift da nicht compe-
tenter als der nädhltbeite Halbgebildete von ge-
fundem Menfchenverftand. Im Gegenteil! Die
Stammgäfte des Varieteés refrutieren fih nicht aus
Leuchten des Katheders und gerade fo einem
Stammgaft drängt fih leicht und ungezwungen die
Analogie der fpiritiftifhen Wunder mit verwandten
Triks der Spezialitätenbühne auf-
ift ja
Spiritismus, Gedanfenlefen, Dentende Tiere und Taſchenſpielerei.
Die Wunder zu durchſchauen freilich wird aud
diefem gewigten und Eundigen Mann aus dem
Publikum niht gelingen; ebenfowenig wie er die
Madinationen der „Zauberer“ aufdeden tann.
Aber ihon, daß er auf Grund feiner zahlreihen
Erfahrungen beide in Beziehung bringt und beiden
mit der richtigen Einftellung begegnet, gibt ihm
einen Borfprung vor dem Gelehrten, der nod
lange Fein Bücherwurm aus den „‚Sliegenden
Blättern” fein muß, um auf diefem Gebiet von
einem gewandten Reiſenden — der vielleicht felbft
Kartenkunftftüde macht — verdunfelt zu werden.
„Wiſſenſchaft“ „Phyſik“ „exakte Bedingungen‘,
„Beobachtung“: was in aller Welt ſoll mit dieſen
ſchönen Dingen gegen die ganz eigenartige Mechanik
und Struktur eines Taſchenſpielerkunſtſtückes aus-
gerichtet werden? Diefer Dinge zu fpotten, ift ja
die Seele, das Wefen eines guten Frits.
Und der Profeffor muß daher dem fimpelften
Kartenkunſtſtück genau fo ratlos gegenüberftehen
wie der unftudierte Kommis. Und beide wiederum
werden weder Tafchenfpieler- no ch Spiritiften-
Trid Burhfhauen Fünnen. Aber wen zur
täufhenden Botſchaft der Aberglaube fehlt, weis
wenigftens Beſcheid. Und da nun könnte oft der
Kommis den Profeflor lehren.
Der Verfechter des Spiritismus wird begreif-
licher Weife geneigt fein, die Analogie zwiſchen
ſpiritiſtiſchen Phänomen und Tafchenfpielerkunft-
tüd aufs entfchiedenfte zu beftreiten.
Obwohl da wie dort ein ganz betimmtes
Individuum am Wert fein muß, um das
„Wunder“ zu erzeugen, obwohl es fih da wie dort
um Eleine und kleinliche Abbiegungen der meda-
niſchen Urgejege handelt, obwohl fomit pie Ber-
wandtſchaft dem logifh vorurteilsios Den-
fenden fi) geradezu aufdrängt, können wir
dem Spiritiften noh ftrengeren Beweis entgegen-
fegen als Analogie.
Nämlich die Perfonal-
union der beiden Gebiete.
Und bier it die Stelle, wo auh die Ge-
tanlenübertragung und das denken de
Tier zur Betrachtung herangezogen werden muß.
Esbedarfnihteinmaleines Anao-
logiefhluffes, einer Einfihe in die Paral-
Iclität der fraglihen Erfcheinungen, wenn uns
Varieté und Cireusfelbft die Wunder
darbieten, denen zu [Liebe fonft weile Männer
Phyſik, Pinhologie und den gefunden Menfchen-
verftand umzufrempeln bereit find.
Und diefe Wunder heißen bier, mit etwas an-
derem Namen: „Antifpiritiftifhe‘ Er-
perimente- Oder, fogar mit dem gleihen Namen:
„Gedankenübertragung“, „Gedanken⸗
und Lokal⸗
lejen“; „Denkende”, „rechnen de Pfer—
de und Hunde.
Taſchenſpielerkunſt im weiteren Sinne iſt auch
tiefes, denn geſchickte — und offen zu—
gegebene — Täuf hung erzielt den verblüffen-
den Effekt. Und wiederum: jedermann wein
wohl, worauf, im allgemeinen, diefe Täuſchungen
beruhen, niemand aber vermag, trog fchärffter Be-
obachtung, die Manipulationen im einzelnen zu
verfolgen und zuerfennen.
Wir wiffen alfo, daß der ‚‚Antifpiritift” fid)
trog aller Gegenmaßregeln und peinlidhfter Kon-
trolle zu entfefleln vermag — wie er es aber an-
ftellt, bleibt uns verborgen. Deshalb und troßdem
wäre es Wahnfinn, noch zu zweifeln, ob das Auf-
tauchen aller möglichen Gegenftände, das Spielen
von nftrumenten ufw. nicht feiner Hände und —
Füße Werf fei; und etwa unbelannte, fpirituelle
oder magnetifche Kräfte zur Erklärung heranziehen
zu wollen.
Wem das niht genügt, der fehe fih einen
jogenannten Entfeffelungsfünftler an,
wenn er (ohne fpiritiftifhe oder antifpiritiftifche
Einfleidung) unter den unerhört ſchwerſten Be-
dingungen und in den fchwierigften Situationen fidh
feiner wieder und wieder durdfontrollierten Ketten
und Stride zu entledigen weiß.
Entipredhendes gilt von den „Gedankenüber—
tragungen”. Hier {heint (wie dort die Be-
wegungsfreiheit) Gefiht- und Gehörfinn der be-
treffenden Perſon ausgefchaltet und es wird die
Illuſion erwedt, als fpringe der Gedanke unmittel-
bar, ohne Beiden und Sprade, von Gehirn zu Ge-
hirn. In Wahrheit aber find Zeichen und Sprache
nur in eine ungewöhnlidhe Form gekleidet,
während im Grunde der Gedanfe den gewohnten,
üblihen Weg von Auge zu Auge, von Obr zu
Obr geht. Empfänger und Webertrager fprechen
lediglih eine andere, dem Michteingeweihten
unverftändlihe und unwahrnehmbare Sprade.
Aber eben dodh eine ganz und gar auf Äußerer
Sinnesvermittlung beruhende Sprade-
Tritt als Gedankenlefer eine einzelne Per-
fon in Aktion — der weitaus feltenere Fall —, fo
handelt es fih um unwillfürlihe Taſtzeichen,
die der Gedankenleſer von einer Perjon aus dem
Publikum empfängt. Der DVorgang fpielt fi ge-
wöhnlich fo ab, daß diefe letztere Perſon angehalten
wird, intenfiv an den zu erratenden Gegenſtand, an
die auszuführende Handlung zu denfen und dann
von dem Gedanfenlefer an der Hand ergriffen und
zu dem gedachten Ort geführt wird ufw. ufw.
Die Konzentration des Vorſtellens, der Phan-
tafie auf ganz beftimmte Orte, Bewegungsrich—
tungen, Handlungsmomente löft bier obne Zweifel
refleftorifh und unbewußt Muskelinnervationen,
o Spiritismus, Gedankenleſen, Dentende Tiere und Tafchenfpielerei.. 271
male — Bewegungen aus, die dem fih willenlos
tiefen Taſteindrücken überlaflenden Gedankenlefer
zur Führung dienen. ine befannte Parallel.
erfheinung läßt folden, zunächſt ungemein ver-
blüffenden, Vorgang plaufibler erfcheinen: die Cin-
wirfung des Reiters auf das Pferd. Charat
teriftiiher Weiſe fpriht man fogar davon, daß ber
gute Reiter nur zu wollen, zu „den Fen” braudt,
um das weiche, gut gerittene Pferd nah Belieben
zu Ienfen. Die dur das bloße Denken (‚nad
links’, ‚nad rechts’ ufw.) und mit dem bloßen
Denken einfegenden Hülfen find dann fo gering,
daß fie dem Reiter felbft nicht zum Bewußtſein
fommen, dem willenlog hingegebenen Tiere aber
coh genügende Zeichen find.
Damit find wir zugleich beim Thema der red-
nenden ufw. Tiere angelangt.
Selbft wenn eg — nämlid in Zirkus und Wa-
riete — nicht als Dreflur-Aft ausdrücklich ange-
Fündigt würde, könnte niemand zweifeln, daß es fid
nafürlih nur um einen folhen handeln Fann, wenn
Pferde und Hunde durch Stampfen oder fonftig:
Bewegungen oder aud durd das Berühren auf-
geftellter Zahlentafeln irgendwelche Rechenexempel
löfen- Selbfiverftändlih löt der Dreffeur
diefe Erempel und überträgt diefe gedachte Löſung
auf das Tier, indem er es dur unauffälligfte,
` feinfte Zeichen zum fo und fo oftmaligen Stampfen
auffordert, d. b. das Stampfen, wenn die ge-
wünſchte Summe erreicht ift, wieder zum Aufbören
bringt. —
Alfo alle diefe Wunder” gibt es. Im Varieté
fünnen wir fie jederzeit fehen. Niemand umgibt fie
bier mit dem Schleier des Geheimnisvollen, jeder
weiß, daß ungeheure Geſchicklichkeit, raffiniertefte
Täufhung, ftaunenswertefte Dreffur am Werke find,
daß fuggeftive Momente, ypfychologifhe Beein-
fluffungen dag Wert unterftügen und vervollftän-
digen- Und nun fol plöglid Animismus und Spi-
ritismug, fol Od, Materialifation und abfolute
Fernwirkung bewiefen fein, folen Pferde und Hunde
den Werftand eines Uebermathematikers haben,
wenn ganz die gleihen Wunderdinge ftatt im bel-
erleudhteten Raume der DBariete- und Circus-
Bühne im mehr oder minder verdunfelten Privat-
zimmer oder im Privatftalle eines fonft ehrenwerten
Mitbürgers ftattfinden! |
Es ift von einer gefunden Logik wahrhaftig zu
viel verlangt, wenn fie bei folder, nicht Analogie,
nein Identität der Erfcheinungen auh nur einen
Augenblit dem edanten verfallen foll: bier
Fonnten andere, noh unbefannte, neue Kräfte
phyſiſcher oder pſychiſcher Art im Spiele fein; wenn
fie fih, wo die prinzipielle Erklärung, d. h. die
Einreibung in ein befanntes, oft gefehenes und ofı
272
erlebtes Tatſachengebiet auf der Hand liegt, zur
Annahme von Dingen gezwungen fehen fol, die —
man wende und benenne die Sahe wie man will
— einen Nip bedeuten im Zufammenhang des Na-
turgefchehens, die etwas Unerhörtes, allen Erfah.
rungen des Lebens, allen Gefegen des phufifchen und
pſychiſchen Geſchehens Widerſprechendes darftellen.
Nicht nur die Identität der Erſcheinungen muß
uns von dieſem Aeußerſten abhalten — es wird
unſerer Vernunft noch leichter gemacht, ſich vor
Abſurditäten zu bewahren: das it im Falle des
Spiritismus die Identität fogar der Perſonen.
Alle berühmten Medien, denen die auffeben-
erregendften „Bekehrungen“ der größten Gelehrten
gelungen find, die in der fpiritiftifchen Literatur den
breiteften Raum einnehmen, find entlarvt worden.
Das ſchlagendſte Beifpiel ift die Gefchichte der
Eufapia Palladino, der ein Lombrofo, Lodge u. v. a.
das Wort geredet.
Die Entlarvung aber bedeutet nichts anderes,
als dag diefe Medien fih als äußerſt ge-
ſchichte Zafhenfpieler, als Entfejf-
felungsfünftlerundafrobatifdhge-
übte Artiftenentpuppten. Nur unter
anderem Namen alfo vollbradten fie be-
fannte Varietékunſtſtücke!
Ganz abgefehen nun vom Moralifhen — „wer
einmal lügt.. . .”" —, das die
würdigfeit diefer Medien auch rückwirkend, für die
Zeit vor der Entlarvung, zu nichte macht, bedenke
man doh folgendes: Tafhenfpieler wird
mannihtvonheuteaufmorgen! m
Gegenteil. Dazu gehört, wie zu jeder Ar-
tiftenleiftung, ein Riefentraining, womöglich
von frühefter Jugend an! Damit alfo, daß man
nah Spiritiftenlogif den Beginn der Täuſchung,
des Trids, des Schwindels mit dem Madjlaflen der
„medialen Kraft” einfegen läßt, mutet man jeder
halbwegs gefunden Logik eine neue Abfurbität zu.
Unſer logifches Denken Fann auf die Tatſache
ihon einer einzigen Entlarvung hin gar nichts
anders als den allein möglichen Schluß ziehen, daß
damit moralifh und tehnifh das Tun
der Medien als Taſchenſpielerei bewiefen if.
Die Perſönlichkeit eines Menſchen ift
überdies wahrhaftig nicht ganz außer Betracht zu
laffen, auf defen Gewicht hin Gefege der Phnfif
umgeftoßen oder doch umgebogen werden follen.
Wer find aber die Medien?! Gewöhnlich weib-
liche Perfonen aus niederen Volksſchichten, obne
jede geiftige oder ethifhe Baſis. Kategorie etwa die
der Kartenfchlägerinnen. Daher auh die unfäg-
lide Banalität der Erſcheinungen. Ebenfalls
ein Moment, dag den ganzen Spiritismus von vorn-
herein verdächtig macht und bloßitellt. Papier-
blumen werden geftreut, Spieldofen geben etwas
ee a
Spiritismus, Gedantenlefen, Denkende Tiere und Taſchenſpielerei.
— — - —
zum Beſten, Tiſche bewegen fih, Perfonen werden
berührt und gefißelt, Geiſterhände erfcheinen oder
die Seelen verftorbener Tanten fpenden froftlos
unintereflante und nichtsſagende Ausſprüche.
Der gemäßigte Spiritismus oder Animismus
verzichtet auf die Geiſterhypotheſe und führt alle
Thanomene auf eine geheimnisvolle, dem Medium
entftrahlende Kraft zurüd. Der eigentlihe Spiri-
tismus fieht Geifter als die unmittelbaren Urheber
diefer Vorgänge an.
Die Trivialität der Phänomene fält fomit bald
dem Medium, bald den citierten Geiftern zur Laft-
Ob fo oder fo — jedenfalls Hafft aud bier ein
ſchreien der Widerſpruch zwiſchen
dem Aufgebot an Gläubigkeit und
Theorie und dem innerlich armen und
dürftigen TIatfahenmaterial. Einem
Material, das fih wohl zwanglos dem Charafter
der Tafchenfpielerei fügt, nimmermehr aber dem
Schwergewicht der Geiftertheorie und damit dem
Gedanken einer individuellen Unfterblichfeit gewach⸗
- fen ift; das aber ebenfo wenig geeignet ift, die Auf-
Vertrauens _
ftellung neuer phyſikaliſcher Energien zu ſtützen. —
Es gehört ein tüchtiges Ausmaß von Gelehrten-
naivität dazu, all diefe fo naheliegenden Bedenken
und Schlüffe außer Acht zu laffen und dem plumpen
Augenfchein gegenüber alle Kritif zu verlieren.
Was fol man aber erft dazu fagen, wenn Spiri-
tiften in allem Ernft das vernichtende Gegenargu-
ment der notorifchen Entlarvungen dadurch
hinfällig zu madhen verfudhen, daß fie glattweg die
Entlarvung als folde leugnen und fie als einen
„Schabernack“ erklären, den die Geifter dem
Medium fpielen??! Die Geifter nämlich, deren
Eriftenz das gelungene fpiritiftifhe Erperiment
ert beweifen folte; deren Eriftenz fie alfo
ihon als abfolute Tatfählihfettvorausfenen!
Du Prel felbft, der philofophifhe Vertreter des
Spiritismus, möchte mit ſolchen Behauptungen die
unbequeme Tatſache der Entlarvungen aus der Welt
ſchaffen.
Ein Gegenſtück hierzu iſt, daß man die Beweis-
kraft der antifpiritiftifhen Experimente, die fidh,
wie erwähnt, offen als Entfeſſelungskunſtſtücke
geben, damit entkräften will, daß man ſie als —
ſpiritiſtiſche Phänome erklärt, denen der
„Mode“ zuliebe, um dem „aufgeklärt fein wollen-
den” Publikum zu fhmeicheln und fomit aus Ge-
ſchäftsrückſichten, das antifpiritiftifche
Mäntelchen umgehängt wird!
Gegenüber diefem Aufgebot an Unlogif, Kritik.
Iofigkeit und Aberglauben um jeden Preis wäre
idon der Verſuch einer Widerlegung eine Don-
Quichotte⸗Tat.
Aber noch find wir nicht an der Grenze des Ab-
furden. Diefe wird zweifellos in unüberbietbarer
= nr — —
P Fi _
——
— — —
m
Weife erreiht durch die Geſchichte der Wurzel
jiebenden Pferde, der Briefe Iefenden und fchrei-
benden Hunde.
Profeſſoren müßten, evtl. zwangsweiſe, in Cir-
euffe und Varietés geführt werden-
Wiederum foll eher Unglaubliches geglaubt, Un-
gereimteftes als neue Wahrheit hingenommen wer»
den, als dag man fih entichließt, gleiche oder yer-
wandte und höchſtens graduel verfhiedene ‘Dinge
auf denfelben Generalnenner zu bringen.
Wie unendlih einfach und durch die Defonomie
des Denfens unweigerlich gefordert ift die Annahme,
daß es fidh in Eiberfeld und Mannheim ganz ebenfo
wie auf irgend einer Spezialitätenbühne um feinfte,
höchſte Tierdreflur, verbunden mit einem Syſtem
unauffälligfter Zeihengebung im Sinne der Ge-
danfenübertrager, handelt.
Wie unerhört ift demgegenüber die Zumutung,
anzunehmen, daß Pferde und Hunde fih zu dem
unendlich Fomplizierten Begriffsinftem unferer Zah-
len und Sprache auffhwingen Fünnten! Wenn
fie e$ Fönnten, warum vegetieren fie dann unter
den primitioften Umftänden weiter, warum hätte
fih, ähnlih wie beim Menſchen, nicht eine Art
Kultur aud für fie herausgebildet?? . . .
Pferde folen mathematifche Leiftungen vollbrin-
gen, die felbft unter einer ganz Fleinen Minderzahl
unterrichtetfter, kenntnisreichſte Männer —
Srauen {heiden faft ganz aus! — wiederum nur
en minimaler Prozentfas, nämlich lediglich
die mathematiſch durchgebildetften, zu leiten ver-
mögen! Und Hunde follen über abftrafte Begriffe,
bildlihe Redensarten, geographiſche Vorftellungen,
ſcherzhafte Gefprähswendungen verfügen, die fi
der begabte Mitteleuropäer erft in vielen Jah.
ren dber Schule und deg Lebeng aneignet . . .
Aber beſagter Mitteleuropäer wird vom Hund
noh übertroffen: denn diefer, der Sprade
und Schrift (merkwürdiger Weife) nicht fähig, muğ
auh noh Buchftaben für Buchftaben in das ihm
allein geläufige (1!) Zahlen foftem übertragen
und liefert fo eine geiftige Teiftung, die ihm nur
geübte Mnemotechniker nachmachen dürften.
Bekanntlich „ſprechen“ ja die fraglichen Hunde,
indem fie z.B. für a = 1, b = 2,e = 3 ufw-
Er und entfpr. oft mit dem Kopfe niden und
ergl.
Man läft alfo das Tier die Wortſprache in eine
Zeihenfprache umfegen, während man es zugleich für
ausgefchloffen hält, daf der den Hund Borfüh-
rende imftande fei, feinerfeits durd eine ver-
hüllte Zeihenfpradhe, im Sinnejeder
Tier dreſſur, die verlangten Antworten dem
Tiere zu entloden! Man mutet alfo dem Tiere
eima doppelt und dreifach fo viel DVerftand und
Geſchicklichkeit zu wie dem Menſchen!
Spiritismus, Gedankenleſen, Denkende Tiere und Taſchenſpielerei.
273
Für den Maenſchen, der ſolche Theorie auf-
ſtellt, mag dies nun auch ſeine Richtigkeit haben.
Aber dann die Konſequenz gezogen: in Stall und
Hütte mit dem Menſchen und in den Salon und
auf den Katheder mit dem Tiere!
Nebenbei bemerkt, mache man ſich doch auch klar,
wieviel Willkür, Autoſuggeſtion und Zufall in der
Abgrenzung der Zahlen bezw. Buchſtaben ge-
geneinander notwendiger Weife fih geltend machen
muß. Das Pferd ftampft und ſtampft. Der Hund
nickt und nit — der Menſch aber nimmt die Œ ä-
furen vor, Tann fie vornehmen, und der Spiel-
raum für die Erzeugung der gewünſchten Bud-
ftaben wird unendlih . - .
Bleibt das moralifhe Moment. Im Gegenfas
zu den berufsmäßigen Medien handelt es fidh bei
den Beſitzern der Elberfelder uſw. Tiere, ebenfo
wie bei vielen Privatmedien, fiherlih um hochacht—⸗
bare Perfonen, denen ein ſchlechthiniger Be-
trug, noch dazu aus pefuniären Gründen, nicht zu-
zutrauen ift. Der grobe Begriff des Detrugs muß
da ausgefchaltet werden. Aber ein tieferes pfncho-
logiſches Verſtehen wird uns in den Bezirf der
taufendfältigen Selbfttäufhungen führen, die einen
zum Wberglauben, zum Offulten, überhaupt zum
Abfonderlihen neigenden Menfchen wohl fo ver-
wirren und derart von ihm DBefiß ergreifen Eönnen,
daß er fat wider Willen, in feine Theorie und in
feine eigene Teihtgläubigfeit verftridt, zum Täu—
{her feiner Umgebung wird. De
Wunſch fann fo zum Vater der Tat werden. Durch
Heine Nachhilfen, deren man fi, faft unter einem
Zwang ftebend, niht enthalten fann, entfteht
ſchließlich das heftig erfehnte Mefultat, die große
Täuſchung und S elb ft täufhung.
Halbwegs entgegen aber fommt dem Täufchenden
das gleich abgeftimmte, aufnahmebereite, von den
nämlihen DBorurteilen, Erwartungen, Spannun-
gen bewegte Publifum. Suggeftionen und Auto-
fuggeftionen, unter Umftänden fogar Illuſionen und
Halluzinationen vervollftändigen, wag am gewünfd-
ten Bilde noh fehlen mag. Täufchungen optifcher
und afuftifher Natur, von Taſchenſpielern ſyſte—
matiſch ausgenügt, von den „betrogenen Betrügern‘
der Privatkreife mehr unbewußt zur Unterftüßung
herangezogen, tun vollends dag ihre und geben der
Sade den Ret. Hierber gehören 3. B. die be-
fannten Zäufchungen über die Größe oder Entfer-
nung eines im Halbdunkel auftauchenden Gegen-
ftandes, über die Urfprungsrihtung eines Ge-
räufhes — lauter Dinge, die pſychologiſch⸗wiſſen⸗
ſchaftlich nachgewieſen find.
Jedenfalls iſt die Lage die: auf der einen Seite
ein ungereimter, abſurder, aller Wiſſenſchaft und
Vernunft Hohn ſprechender Sachverhalt — auf der
andern Seite wohlbekannte Tatſachenreihen, in die
214 —
ſich jener Sachverhalt unter Abſtreifung ſeines ab⸗
ſurden Charakters einfügen läßt.
Der Entſcheid kann bei gutem Willen, geſundem
Denken und ohne eigenſinniges Vorurteil nicht
zweifelhaft ſein.
Gemeinſam mit einem Sreunde* habe ih ein
Syſtem einer Pfeubo-Gedanfenübertragung aus-
gebildet. Wir bedienen uns dabei einer bier nicht
näher zu erörternden, für jeden noch fo fharfen Be
obachter unmerklichen Zeichenſprache.
Uebung, Kombinationsgabe, Wahrſcheinlichkeits⸗
momente wirken unterſtützend und ergänzend.
Nun iſt es noch niemandem auch nur annähernd
gelungen, den Schlüſſel des Geheimniſſes zu ent-
decken. Jede normale Art eines Gedanfenaus-
taufches, jede Verbindung erfheint nah allge-
meinem Urteil völlig ausgefchloflen.
Aber, fo erflären die mit Redt Skeptiſchen, mit
gefundem Vorurteil an die Sahel Herangebenten,
eine Vermittlung durch die Sinne m u troßdem
vorhanden fein, wenn fie auch unmöglich zu Eonfta-
tieren ift. Demgegenüber erliegen alle, die nicht
mit diefem Vorurteil ber Pemenang gewappnet
Der Der phyſikaliſche I Mediumismus. x Bon B. Yavint,
Die Debatte mit Dennert, die ich feinerzeit in
diefen_ Blättern geführt habe, wird einem Teil
unferer Lefer nod in der Erinnerung fein. (Mr. 9
und 11, 1923; Mr. 2, 6, 12, 1924.) Sie ift,
wie bisher noch alle Debatten über die Frage der
Echtheit okkultiſtiſcher Erfcheinungen ergebnislos
geblieben; es bat nod nie, foviel ich weiß, durd)
folhe Erörterungen einer den anderen überzeugt.
Nicht, um fie nun noch einmal wieder anzufangen,
fondernumdenteferaufeinenenue,
überaus [häßenswerte Materiale
fammlung binzumeifen, an ber er fid
jelber ein Urteil bilden fann, fehreibe ich nun diefe
Zeilen. Das in dem Briefe des Grafen Klinfomw-
ſtröm (‚‚Unfere Welt” 1924, S. 137) angefün-
digte neue Buch desfelben und feiner beiden Mit-
arbeiter Dr. Gulat-Wellenburg und Dr. Rofen-
buſch (alle drei in München) ift vor kurzem im Wer-
lage von Ullftein-Berlin erfchienen als zweiter
Band der Sammlung ‚Der Offultiemus in Ur-
funden“, herausgegeben von M. Deffoir (Titel:
„Der phnfifalifhe Mediumismus“, 500 ©. Viele
Abbildungen und 15 Iafeln. Preis 16 A, geb.
18 A). Diefes Bud) follte jeder fih zu verfchaffen
judhen, der von Berufs wegen aeswungen ift, fid
ernftbaft mit dem modernen „wiſſenſchaftlichen“
Okkultismus auseinanderzufeßen. (Es gibt eine ge»
naue, auf forgfältigftem Quellenftubium berubende
Der phyſikaliſche Mediumismus.
— eo
find, dem täufchenden Schein und find — an
wirkliche Gedanfenübertragung zu glauben.
Diefes conträre Werhalten ift ungemein Tepr-
reih und durdpleuchtet das Verhältnis der Menichen
zu allen verwandten Erfheinungen, vom Offultis-
mus bis zum denfenden Tier.
Der befannte Spiritift Du Prel wurde ohne
weiteres dag Opfer unferer Täuſchung; er ftellte
ung unter „exakte Bedingungen”, Fonftatierte auf
Grund defen abfolute, reine Gedanfenüber-
tragung, bei der jede normale Zeichengebung a us -
geſchloſſen fei, und war nur mit Mühe dazu
zu bewegen, — teine Abhandlung über biefen
ftriften Beweis wirfliher Gedankenübertragung zu
veröffentlihen! Seiner Art zu denken ſchien es
umgefehrt fogar wahrſcheinlich, daß wir uns
taufchten, wenn wir in normaler Gedankenverbin⸗
dung zu ftehen glaubten!!
Eine neue, ftarfe Stütze für die Thefe: in diefen
Dingen fann nit die — bier ftets trügerifhe —
Beobahtung, fondern nur die gefunde Vernunft den
rechten Weg weifen.
>
—
Darſtellung cat aller befannteren Fälle von *
paraphyſikaliſchen mediumiſtiſchen Er—
ſcheinungen, d. h. ſolcher, bei denen es ſich nicht
um Gedankenübertragungen, Hellſehen und der-
gleichen, fondern um (angebliche) phnfifalifhe Pha-
nomene, wie Materialifationen (Photographien und
Abgüffe von „Teleplasma“), Ielefinefe und der-
gleichen handelt. Diefe Arbeit ift deshalb eine fo
außerordentlid verdienftoolle, weil die betreffenden
Angaben in der gefamten Literatur überall verftreut
find und der nicht bereits tief in die Materie Ein-
gedrungene deshalb faft niemals in der Lage ift,
Vehauptungen ofkultiftifher Schriftfteller und Red-
ner nadzuprüfen. Zufammenfaffende Darftellun-
gen find bisher faft nur von offultiftifher Seite er-
Ichtenen und überſchwemmen den Büchermarkt. Da-
durh muß das große Publiftum notwendig irre-
geführt werden, weil ihm die Mittel zur Kritik
fehlen. Dem macht nun diefes Bud ein Ende; es
gibt nicht nur eine fehr ausführlide Darftellung
aller wichtigeren Einzelheiten, fondern auch überall
die genauen Quellenangaben, fo daß jeder in der
Lage ift, den Dingen weiter nachzugehen.
In zwei einleitenden Kapiteln behandeln Gulat-
Wellenburg und Klindowftröm die allgemeinen
Grundlagen des phnfifalifhen Mediumismug, feine
Methodik und die bisher vorliegenden erperimentel-
len Unterfuhungen über die dabei auftretenden Be-
obadhtungsfehler. Es wird die Denfmöglichfeit der
behaupteten Phänomene an fidh) zugegeben, aber um
fo ſchärfer die Forderung nad einer vollgiltigen er-
perimentellen Methodik erhoben, welche jeden Zwei-
fel ausſchließt. Mit Net betont Gulat-Wellen-
burg bier und weiterhin immer wieder, daß es viel
beffer wäre, wenn die Dfkultiften, flott immer aufs
neue die wiunderbarften Phänomene unter nicht oder
nicht ganz einwandfreien Bedingungen zu produ-
zieren, ein einziges Mal ein ganz einfaches Phä—
nomen, z. B. eine Levitation oder dergleichen unter
abfolut einwandfreien Bedingungen zu erzielen fid
bemühten. Solche liegen (auch nah meiner Ueber»
zeugung) nur dann vor, wenn, wie es Gulat-
Wellenburg in einem Schema unter IV aufführt,
„der Erperimentator erafte Kontrollmaßnahmen
trifft, die dem Medium unbefannt bleiben, weil die
Anordnung fo getroffen ift, daß fie unmerflich, aber
automatisch wirfen.” Ein ſolcher Verſuch ift bis»
ber nur einmal im Ernft angeftellt worden als die
amerikaniſche Zeitihrift „Scientific American” im
Jahre 1922 einen Preis von rund 2500 Dollar
für den einwandfreien Nachweis mediumiſtiſcher
Phänomene ausgefegt hatte. Das fih der Prüfung
zur Verfügung ftellende Medium wurde ohne fein
Wiſſen Eontrolliert dadurch, daß mit dem Geffel,
auf dem es faf, Glühlämpchen in einem Neben-
zimmer verbunden waren, welde aufleuchteten,
wenn das Medium den Seffel verließ. Dies Auf-
leuchten wurde dort regiftriert, gleichzeitig aber im
DVerfuhszimmer in ein fogenantes Diktaphon die
dort gemachten Beobachtungen hineingefprochen. Der
Mergleih der von beiden von einander unabhän-
gigen Regiftrierungen gemachten Aufzeichnungen er-
gab einwandfrei, daß jedesmal, wenn irgend ein
phyſikaliſches Phänomen fih gezeigt hatte, das Me-
dium den Seffel verlaffen hatte. Damit war die»
fes des Betruges überführt. Solder Kontrollmaf-
nahmen laſſen fih Teicht eine ganze Menge aus.
denken. Die Medien brauchten dadurd Feineswegs
in ihrer ‚Kraft‘ gehindert zu werden, da diefelben
ganz unmerfbar für fie fein könnten. Leider hat
fih bisher Feines der befannten gropen” Medien
für folhe Unternehmungen zur Verfügung geftellt.
Auch bei den fo viel befprochenen Unterfuhungen an
Wili Schneider (vgl. die oben angeführten Auf-
füge in „Unfere Welt’) ift der von Profeffor ©.
Beher (Bruder E. Beders) gemachte febr gute
Vorſchlag, die ganzen Vorgänge mit einem für das
Medium unwahrnehmbaren Liht zu beleuchten und
womöglid zu yphotograpbieren, niht ausgeführt
worden. Die bisher vorliegenden Unterfuhungen
haben fih vielmehr mit einer Feinerlei ernfthafter
Kriti ftandhaltenden Scheinfontrole begnügt oder
find im günftigften Fale (Gulat - Wellenburgs
Schema III) fo verlaufen, daß der Erperimentator
Der phyſikaliſche Mediumismus.
275
zwar die Bedingungen gefegt, das Medium aber
davon vorher oder während der Sitzung Kenntnis
gehabt hat.
= Gan; befonders lehrreich find nun vor allem die
von Klindowftröm dargeftellten tatſächlich vorlie-
genden Erfahrungen über gemadte Beobadıtungs-
fehler. Wir hören ausführlih von den berühmten
Erperimenten von Davey, Hodgſon und Davis, fo-
wie von den Enthüllungen des Mediums A. Şir-
man. Wenn man diefe Einzelheiten einmal genau
fennen lernt, fo fagt man fih, daß man
[hlehterdings feinen eigenen Au-
gen niht mehr trauen darf (f. aud
unten). Es find bei diefen Erperimenten von rou-
tinierten Taſchenſpielern „okkultiſtiſche“ Stüde vor-
gemacht worden, von denen aud die mit dabei figen-
den Iafchenfpielerfachverftändigen überzeugt waren,
fie Fönnten niht mit rechten Dingen zugegangen
fein. Und dodh beruhte alles auf geſchickter Täu⸗
fhung. Hier ift noh befonders intereflant Firmans
Aeußerung, daß er am meiften die Geiftlihen und
die ournaliften, am mwenigften die Gelehrten und
überhaupt wirkliche Gentlemen gefürchtet babe. Wer
denft dabei niht an die SO von Schrend-Mosing
ins Feld geführten Gelehrten, die den Erperimenten
an Willi Schneider beigewohnt haben?
Nach diefen beiden einleitenden Kapiteln beginnt
nun die hiftorifche Darftellung der wichtigften Fälle
von „phyſikaliſchem Mediumismus”, angefangen
mit den Unterfuhungen der „Dialektiſchen Gefell-
haft" in London vom Jahre 1867, ſodann ent-
haltend eine Darftellung der Erperimente von
Crookes mit den Medien Home und Florence Eoof,
derjenigen von Zöllner mit Slade und dann über
Eufapia, der nicht weniger als 80 Seiten gewidmet
find, Stanislama Tomezyf, Kathleen Goligher, der
Cordi und Gazerra, der ber-ühmten Eva ©.
(alias Marthe Béraud) übergehend zu den neueften
Medien Frand Klusfi, Willi Schneider, San Gu-
zit, Einer Mielfen, Laszlo und Maria Silbert.
Es ift natürlih ganz unmöglich, von der Fülle des
bier Gebotenen aud nur eine annähernde Vorſtel⸗
lung zu geben. Die Verfaſſer haben fih bemüht,
aud) alles, was fih über das Borleben jener be-
rühmten Medien, ihre Familien- und häuslichen
Verhältniffe aftenmäßig feftftellen läft, zu ermit-
teln. Das Gefamtbild, das fih dabei ergibt, ift
nicht erfreulihd. Am meiften intereflieren uns deut:
fhe Lefer natürlih die beiden in Deutſchland be-
Fannteften Fälle Eva C. (Schrenck⸗Notzings frühe-
res Medium) und Willi Schneider. Hinſichtlich
des Tegteren veröffentih nun alfo bier Graf
Klindowftröm den (a. a. ©.) angefündigten
Bericht über die Vorgefchichte diefes Mediums, das
Prof. Defterreich als den endgültigen Beweis
ber Realität der behaupteten Erfcheinungen an-
216
ſpricht. KI. gibt den ihm zur Verfügung geftellten
Bericht eines jungen Wiener Arztes, Theodor S e e-
ger, wieder, der nod vor der „Entdeckung“ Willis
für die große Welt in deffen SHeimatftädtchen
. Braunau in Defterreih eine Sitzung mitmadıte, bei
der ihm der einwandfreie Nachweis gelang, dafi
Willi zufammen mit feinem Bater die betreffenden
„Phänomene auf febr natürliche Weife produzierte.
Das angeblihe ‚‚Teleplasma”, das ein anderer
Sisungsteilnehmer überrafchend dem Medium von
der Ei hulter genommen hatte, war ein Stückchen
Chiffon. Willis Water zeigte fih über den Cin-
griff febr empört, nahm dag Stüdchen wieder an
fidh, tat es in ein Fläfhchen und behauptete am
anderen Tage, es habe fih wieder „dematerialiſiert“.
Leider hatte fih ein Stüdchen nicht mit demateriali-
fiert, dag Herr ©. vorher unbemerft von dem aud
ihm vorgezeigten „Teleplasma“ abgerifien hatte (7.
April 1920). Willi hat feither Fein „Teleplasma“
mehr produziert, fondern fih auf „telekinetiſche“
Phänomene befhränft.
Sm weiteren enthält der Bericht über Willi
Schneider noh allerlei bemerkenswerte Einzel»
heiten, von denen ih befonders den folgenden
Paſſus hervorheben möchte:
„Von geradezu einſchneidender Bedeutung für
die Bewertung der Phänomen Willis find nun Er-
fahrungen, welhe Dans Henning, Profeflor
der Pſychologie in Danzig, mit einem ruffifchen
Pfeudomedium hat maben Fönnen. (ZS. f.
Piyhol. Bd. 94, 1924, ©. 278) Henning fah
telefinetifhe Phänomene in feinem Arbeitszimmer
ohne jeden Vorhang im weißen Lichte dreier Halb-
wattlampen von je 6O Kerzen, wobei das Medium
in 1 Meter Abftand (oder weniger) rings von den
Beobachtern umgeben war. ‚Es wurden nit nur
verabredete Gegenftände auf ‘Diftanz in jeder vom
Verſuchsleiter befohlenen Richtung bewegt, fondern
die Gegenftände (ein dies Buch, ein Aſchenbecher,
ein Porzellanteller . . .) Eonnten aud) beliebig lange
in freier Luft ſchweben. Objekte, Verſuchsanord—
nung und nähere Umftände durften jeweils vom
Merfuchsleiter beftimmt werden, worauf das Me-
dium fie unmittelbar ausführt. Wir nabmen aud
anderweitige Erperimente vor. Das Medium follte
ein Zigarrenetui des Derfuchsleiters aus Diſtanz
öffnen, eine Zigarette follte fid aus dem Etui ber-
ausbewegen, dann in freier Luft fhweben, refpeftive
durch die Luft in den Mund des Mediums wan-
dern ... Alles gelang im direften Lichte des Kron»
leuchters. Aus einem Kartenfpiel zog ich (Henning)
eine Karte, zeigte fie allen Anweſenden, tat fie zu:
rück, mifchte die Karten wieder und legte fie auf
den Zijd, Die vorgezeigte Karte bewegte fid von
jelbit aus dem Haufen beraus. Wor dem Verſuche
wurde das Medium mit den gebraudlichen Me-
Der phyſikaliſche Mediumismus.
an ee e ——
thoden unterfudt, und zwar nicht nur im Anfang
der Sitzung, fondern aud vor ‘Beginn eines neuen
Erperiments, dodh wurde nie etwas gefunden.
Außerdem madte das Medium vor jedem Cinzel-
verſuch folde Kontrolbewegungen, daß alle Teil-
nehmer daraufhin das Vorhandenſein von Hilfs-
geräten für ausgefchloffen erklärten. Die Erfcei-
nungen gelangen genau fo gut, wenn man dem Me-
dium Hände und Füße fefthält, und diefe Kautelen
dienen ja bei Willi vielen nichtpſychologiſchen Ge-
lehrten ausreihend, um bei trogdem erfolgten fele-
finetifhen Erfcheinungen die Exiſtenz offulter
Kräfte alg erwiefen anzufehen.‘
Diefe verblüffenden Produktionen ftellen auf
jeden Fall die Willis ftarf in den Schatten. Wer
würde dafür eine natürlihe Erklärung finden?
Auch Henning ftand vor einem Rätſel, fam aber
durd einen richtig beobachteten Mebenumftand auf
die richtige Fährte und wurde dann von dem
ruffiihen Tafchenfpieler in die ganze Betrugstechnik
eingeweiht. Leider bat er diefe in feiner Ber-
öffentlihung noh niht enthüllt — aus beftimmten
Gründen. Andeutungsweife erfahren wir nur die
Grundprinzipien, nad denen der Muffe arbeitete,
beiläufig auh, daß er den Frid fennt, weldem
Crookes bei feinem berühmten Wageverfuh zum
Opfer fiel. Beſonders intereffant ift die von dem
Ruffen bewußt ausgenuste, dann aud von Henning
feftgeftellte yfphifhe Veränderung im
Bemwußtfein der Teilnehmer, die
bei beller Beleudtung Fernmir-
Tungen zu feben glaubten, wo tat-
ſächlich teine ſolchen ftattfanden.
Der Kompler der Beobadtung und der Aufmerf-
famfeit bietet bisher ungeflärte Probleme, auf die
Drofeflor Henning an der Hand feiner Erfahrungen
in Buchform eingehen wird.”
Someit der Beriht Kls Ich bilde mir nicht
ein, er werde die überzeugten Offultiften entwaff-
nen. Denn diefe fchließen nicht, wie das ein nüd-
terner Kritiker angefihts folder Feftftellungen tun
muß, daß bis zum Beweis des Gegenteils durch
automatische (nicht den pſychiſchen Beobachtungs⸗
täufhungen ausgefeßte) Apparate, welde echte Er-
fheinungen regiftrieren, anzunehmen fei, aud an-
dere Medien haben fih äbnliher Tricks bedient,
namentlih wenn fie, wie das bei Willi feftftebt,
fidon früber bei Betrugsmanövern ertappt worden
find, fondern fie verlangen umgekehrt, daß der Geg.
ner in jedem einzelnen Sal feinerfeits den Betrug
nachweiſen foll. Sie werden aud in diefem Falle,
wie bisber immer, fagen, dag die Möglichkeit ta-
ſchenſpieleriſcher Nachahmung keineswegs die Echt⸗
beit beſtimmter Phanomene ausſchließe und an diefe
glauben, auch wenn wieder und wieder ein Medium
als Betrüger entlarvt wird, und wenn wieder und
wieder durch Feftitellungen wie die Henningſchen
die Unzulänglichkeit aller bisherigen Kontrollmap-
nahmen erwiefen wird.
Mid perfönli hat das vorliegende Buch aufs
neue in der Weberzeugung beftärft, daß an den ge-
famten fogenannten phyſikaliſchen Phäno-
menen des Mediumismus nichts „echt“ ift, als die
raffinierte Kunft geſchickter Taſchenſpieler, die
Gläubigkeit gewifler Offultiften und die mangelnde
Selbſtkritik auh anerkannter Gelehrter in Lagen,
wo ihre auf dem eigenen Gebiete bewährte Beob-
achtungstehnif naturgemäß verfagt. Nadh den
Henningſchen Ergebniffen würde ih mich nunmehr
niht für überzeugt erflären, auh wenn mir ein
Medium am hellichten Tage derartige Dinge
vormachte, fondern würde einfad verlangen, day
meine eigenen der Täuſchung möglichermweife aus.
gefesten Augen, Obren, Hände ufw. durch niht zu
taufchende Apparate erfegt würden. Man fege das
Medium, mit Beleuchtung oder in unfidhtbarem
Lichte, in einen Raum, den es nicht vorher betreten
fonnte, made vor jedem Erperiment nicht nur eine
förperlihe Unterfuhung, fondern aud eine Mönt-
genaufnahme von feinem ganzen Körper, nehme den
ganzen Verlauf der Sigung kinematographifch oder
doch in Furzen Zeitintervallen photographiſch, aber
unbemerft auf, Fontrolliere alle ‚Phänomene‘
ebenfalls durch photographifhe Aufnahme, durd
mechanische Megiftrierung (bei ‚‚Sernbewegungen‘‘)
und dergleidhen, dann läßt fi, wenn dann wirklich
ncd was Echtes produziert werden wird, weiter über
die Sache reden.
Damit will ich, wie fhon in Nr. 11, 1923 be-
merft, keineswegs alle vom modernen Okkul⸗
tismus behaupteten Erfcheinungen für Schwindel
erklären. Im Gegenteil glaube ih, daß auf Grund
der vorliegenden Berichte ſchon jest eine über-
wiegende Wahrfcheinlichkeit zugunften der Echtheit
gewiffer „parap f y hif her” Erfcheinungen (Te-
lepathie und Hellfehen) ſpricht. Dies ift um fo eher
als im Bereih der Möglichkeit liegend anzu-
erfennen, als wir ja über die eigentliche nähere Be-
fhaffenheit des Zufammenbangs von Yeib und
Seele abfolut nichts wiffen. Da wir aber fiher
wiflen, daß in der phofifalifhen Welt alles mit
allem in einem gefchloflenen Kaufalzufammenhange
ftebt, fo liegt es nicht allzufern zu. vermuten, daß
diefer felbe oder ein entfpredhender Univerfal-
zuſammenhang auh auf dem feelifchen Gebiete be-
ftebt (Hartmanns „Telephonanfhlug ans Abſo—
lute). Dem näher nadzufpüren erfcheint als eine
durchaus wiſſenſchaftliche und Feineswegs ausſichts—
lofe Aufgabe. Dahingegen madhen die gefamten
Erfheinungen des „paraphyſikaliſchen“ Gebietes
den Eindruck lächerlicher und völlig wertlofer Zau-
berkunſtſtückchen und laffen außerdem jede Logik in
Der phyſikaliſche Mediumismus.
277
ſich ſelber vermiſſen. Mit Recht weiſt G. W. in
dem Bericht über Eva C. auf die unüberwindlichen
Widerſprüche hin, die hinſichtlich der Natur des fo-
genannten Teleplasmas in den Angaben der ver-
fhiedenen Berichte beftehen. inerfeits fol diefes
ſo unerbört Tichtempfindlih fein, daß die Verſuche
nur bei völliger oder fat völliger Dunkelheit ge-
lingen, dann wieder werden Blislichtaufnahmen des
fraglihen Teleplasmas vorgelegt, ja fogar Proben
davon vorgezeigt. Einerſeits foll es aus einer bieg-
famen, nur halb Eörperlihen Mape befehen, die fid
als „Emanation“ aus dem Körper des Mediums
bald hier bald dort zu zeigen beginnt. Andererfeits
aber fol diefes Teleplasma 3. B. bei Wili Schn.
wieder in ganz berfelben Weiſe wie ein natürlicher
Eifen- oder Meifingdraht, um an den Hebel einer
draußen ftehenden Spieldofe zu kommen, die Ma-
ſchen des hindernden Gazenetzes auseinanderzerren
müffen. (Die von Schr. Notzing in feinem Bude
wiedergegebene Photographie fieht tatfählih genau
fo aus, wie wenn Willi mit einem fteifen Drahte
die betreffende Erfcheinung bewerfftelligt hätte.)
Das die „materialifierten‘ Hände ufw. ausgerech—
net die tupifchen feinen Hautfältelungen befigen und
in Geftalt von Daumenabdrüden niederlegen fön-
nen, habe ih fchon früher als weitere folde Mert-
würdigfeit erwähnt. In dem vorliegenden Bude
werden zahlreihe Fälle aufgeführt, wo die angeb-
lihen Materialifationen ebenfo ausgefallene Aehn⸗
lichkeiten mit anderen menſchlichen Körperteilen,
z. B. Epithelfhuppen, Haaren, Nägeln, Hornge-
bilden der Fußhaut uſw. aufmweifen. Das alles ift
fo albern — ih fann es nicht anders nennen —
dag m. E. von einem ernften Gelehrten wirklich
nicht verlangt werden fann, er folle ſolchen Unfinn
glauben, ohne daß ihm einfach unausweichliche Be-
weife dafür vorgelegt werden. Gewig ift es
einem neuartigen Tatſachengebiet gegenüber
niht angebradt ift, mit vorgefaßten Meinungen,
wie eg nun damit fein müßte, heranzufreten, fon-
dern man muß zunädhft einmal verfuchen, in
foldem Falle die Tatfahen felber fpreden
zu laffen, um dann hinterher fie in logifhe Ru-
fammenhänge zu bringen. Aber, wenn aud bie
und da in der Gefchichte der Wiſſenſchaft zuerft
anfcheinend widerſpruchsvolle Ergebniffe bei ſolchem
induftiven Verfahren zutage Fommen, fo ift es dod
niemals dagemefen, daß fo Fraufes und in fidh felbfi
gänzlich unzufaommenhängendes und widerfprude-
volles Zeug dabei heraus fam, wie im vorliegenden
Salle bei dem fogenannten Teleplasma. Der mo-
derne Maturforfeber ift alles andere eber als ein
Dogmatifer, er ift es gewöhnt, daß in der Wiffen-
ſchaft vieles zuerft anfcheinend febr Rätſelhafte und
Unerflärlidhe vorfommt; feit den Nöntgenftrablen,
dem Radium, der Elementen-Ummwandlung ufm.
find wir wirflih allerlei gewöhnt. Aber ein in-
278
— mo. —
ſtinktives Gefühl ſagt uns auch, daß ein gewiſſes
Maß innerer Uebereinſtimmung auch in jedem fol-
hen neuartigen Falle vorhanden fein muß. Stu-
diert man jedoch die vorliegenden Berichte forg-
faltig dur, fo ergeben fih, wie mir ſcheint, zwei
Säge mit ganz unmißverftändliher Deutlichkeit:
1. Die Menge fowohl wie die Wunverbarfeit
der produzierten Phänomene ift umgefehri
proportional der Schärfe der Kontrollmaß-
nahmen und |
2. die Art der produzierten Phänomene ift
durhaus abhängig von den Zufälligkeiten
der perfönlichen Bedingungen.
Das Iestere befagt, daß einerfeits die Erwar-
tungen der Teilnehmer, andererfeits die Speziali-
täten” des Mediums und drittens ausgeſprochene
Moden die Art der Phänomene beftimmen. Schon
das lentere widerfpridht allem, was wir fonft aus
der Maturforfhung gewöhnt find. Die Natur
fennt feine Moden, fie bleibt fi immer gleich. Die
Maturerfheinungen falen auh nicht verfchieden
aus, je nahdem, wer fie unterfuht und an welchem
Objekt fie unterfucht werden. Für die Wirfungs-
weife der Schwerfraft ift es 3. B. einerlei, ob id
fie an Bleikugeln wie Cavendiſh oder an Stein-
mauern wie Rihar; unterfuhe. Jedes Medium
aber arbeitet nur mit ganz beftimmten Speziali-
täten, deren Ergebniſſe fih, wie oben "dargelegt,
großenteils gegenfeitig widerfprehen. Bei einer
wirklich realen neuen Naturerfheinung wäre zu er-
warten, daß fi die gleichen Erfcheinungen in jedem
Salle wiederholten oder höchſtens doh gegenfeitig
ergänzten.
Noch fei bemerkt, daß in dem Buche auch der von
Dennert mir befonders zum Vorwurf gemadıte
Fal Laſzho aktenmäßig aufgeflärt wird. Ich
hatte im Anſchluß an Mitteilungen der Tagesprefle
berichtet, daß S hren Noggin g auh nad dem
Geſtändnis Laſzlos die Echtheit der von diefem pro-
duzierten Phänomene verteidigt, das Geftändnis für
erzwungen oder unter fchwerem, feelifhem Drud
entftanden und deshalb für nicht bemweisfräftig
erflärt habe. Dennert beruft fih dem gegenüber
zur Rechtfertigung Schrends auf den Bericht des-
jelben an den Verſuchsleite Tordai, den er
fhon im Oktober 1923 (ein Vierteljahr vor ber
Entlarvung Laſzlos) gefehrieben habe und in dem er
bereits Tordai gewarnt und Zweifel an der Echtheit
der Phänomene ausgefprodhen habe. Diefer Brief
ift, wie auh Dennert mitteilt, im Märzheft 1924
der „Pſychiſchen Studien” (der offiziellen ZS. der
deutſchen Okkultiſten) abgedrudt. Dies alles ift auh
nadh der aftenmäßigen Darftelung Gulat-Wellen-
burgs zutreffend, Dennert fheint nun aber nicht zu
willen, daß trog diefer feiner eigenen
idon im Oktober 1923 erlafienen
Der phyſikaliſchhe Mediumismus.
Warnungen Schrenck MNotzing (in einer
in der B. 3. am Mittag ergangenen Berid-
tigung”, welde in der Voſſ. Ztg. vom 8. Ja-
nuar 1924 abgedrudt ift und fih auf die in-
zwifchen erfolgten Mitteilungen der Tagespreſſe
über die Entlarvung Lafzlos bezieht) ganz un-
verblümt die Ehtheitder Phäano-
meneverteidigt und die oben ange»
führten Ausredenbezüglich des Ge.
tändniffes Laſzlos vorgebradt
bat. Cs heißt in diefer von G. W. teilweife ab-
gedrudten Zufhrift Schrends wörtlih: „So viel
läßt fih heute ſchon mit DBeftimmtheit fagen, daß
die bei diefer Gelegenheit (d. h. bei Schrends
eigenen Erperimenten im Oktober 1923). feftge-
ftellten Erfoheinungen fih weder durch Helfershelfer,
noh durch die betrügerifche Anwendung von Wolle
und Gänfefert erflären laffen, wie überhaupt die
Möglichkeit ſchwindelhafter Manipulationen durd
die Art der Verſuchsanordnung ausgefchloffen war.
Was das angeblihe Geftändnis . . . anlangt, fo
find folde unter ſchwerem ſeeliſchem Druck ... zu
ftandegefommenen Angaben . . . mit größtem Mif-
trauen aufzunehmen . . „ An dem Ergebnis un-
ferer Unterfuhungen wird durd das nachträgliche
Verhalten ... . oder durd vielleicht neuerlich fon-
fiatierte DBetrugsverfuhe nichts geändert”. JG
denfe, das ift denn dod deutlich genug, und ift ges
rade das, was die Preffe und auh ih damals
Schrenck Notzing vorgeworfen haben: er hat wirf.
ih in biefer, nach der Entlarvung Lafzlos ge-
ſchriebenen (!) Berichtigung verfudht, das Geſtänd⸗
nis Lafzlos zu entfräften, um die Echtheit ber Phä-
nomene zu retten. Wenn er fhon vorher an Tor-
dai jene von Dennert zitierten und im Märzheft
der Pſychiſchen Studien zu feiner Entlaftung wie-
dergegebenen Warnungen gerichtet hatte, fo bleibt
diefes Verhalten um fo unbegreifliher. Jh Fann
es mir nicht anders erflären, ale aus einer ähn-
lihen feelifhen Einftellung hervorgegangen, wie fie
fo oft im politifchen, fozialen und auch im kirchlichen
Leben vorkommt: innerhalb des eigenen Kreifes gibt
man einen vorgefommenen Schaden offen zu und
ſucht ihn fogar abzuftellen, aber nah außen hin muß
vor den anderen das Gefiht gewahrt und deshalb
eine Sade, die man im Grunde felber für oberfaul
hält, nad) allen Kräften nod verteidigt und be-
fhönigt werden. Das mag parteitaftiich angefehen
zwedmäßig fein, in der Wiflenfchaft, der es nur um
die Wahrheit zu tun fein darf, ift es, gelinde ge-
jagt — ungebräudlih. Als dann die Sade dod
nicht mehr zu retten war, hat Schrend Notzing
jelber durd die als Sonderdrud feines März-
artifels in den Pf. St. erfhienene Brofhüre „Der
Betrug des Mediums Lafzlo” fih berauszupaufen
verfuht. Das mag ihn in den Augen gläubiger
Wege zur eleftrifhen Sernfinematographie.
Dffultiften rechtfertigen. Für einen nüchternen
Beobachter bleibt die Tatfache beftehen, daß er na d
der (am 27. Dezember 1923 erfolgten) Entlarvung
durch jene ‚Berichtigung‘ zuerft die unangenehme
Sade auf andere Weife aus der Welt zu jchaffen
verfucht Hat. Ich muß es unferen Leſern überlaflen,
danad zu beurteilen, ob Dennerts hieraufhin gegen
mich gerichrete Vorwürfe berechtigt find. Für mih
ift mit diefem Dorfommnis aufs neue und diesmal
in aller Deffentlichleit Elargeftellt, dag Schrend
Notzing, an deffen gutem Willen ich im übrirgen
niemals gezweifelt habe, den Phänomenen nicht
mehr unvoreingenommen, fondern befangen gegen-
überfteht, und ich babe deshalb niht die geringfte
Veranlaſſung, auf feine Derfiherungen in an-
deren Fällen, daß ‚Betrug ausgeſchloſſen geweien
fei”, noch irgend welchen Wert zu Tegen. Ich halte
bis auf weiteres alle angeblihen Erfheinungen von
fogenanntem phyſikaliſchem Mediumismus
für ausgemachten Schwindel, und empfehle nod-
mals dringend das angezeigte Bud allen Lefern zur
eigenen information. Wenn irgend eines, fo ift
diefes Werf geeignet, wie ein reinigender Windſtoß
die diden, ftidigen Wolfen auseinander zu jagen,
die feit dem Kriege auf dem deutſchen Geiftesleben
often. Bon allen Weltanfhauungsfragen hält es
fih übrigens gänzlich fern, es bringt weiter nichts
als eine rein ſachliche Kritif der behaupteten Tat-
ſachen. Gerade das ift es, was wir brauden, und
wenn bei diefer nüchternen Kritif die neuen Ber-
fuhe zur wiffenfhaftlihen Begründung uralter
primitivfter animiftifher Maturerflärung in bie
Brüche gehen, fo halte ih das nit nur für feinen
Nachteil, fondern nur für einen Vorteil vom
219
Standpunfte eines wahren metaphyſiſchen Idealis⸗
mus aug, der es wirklich nicht nötig bat, mit einer
eines Fidfehiinfulaners würdigen Naturphilofophie
einen Bund zu fchliegen. Dod darüber habe: ic
das Mötige fhon in meinem Auffag in Wr. 11,
1923 gefast.
Nachſchrift. Nah Abfaffung diefes Manuffripte
finde ih in der Sept.. Nummer 1925 der Plſych.
Studien einen Auffas von Verweyen, dem
bisherigen Führer des Moniftenbundes, über "Willi
Schneider, in melhem Verweyen glatt erflärt, daß
er durd eigene Erlebniffe in Sitzungen mit Willi
Schneider vollflommen von der Echtheit der Phä-
nomene überzeugt fei. Sehr verftändigerweife fügt
er aber hinzu, daß die Wiſſenſchaft gar nicht anders
könne, als auch auf feine, ebenfo wie aller anderen
Einzelperfonen Urteil Feinen entfcheidenden Wert
zu legen, zumal die von Klindowftröom (DB. zitiert
aud das bier beſprochene Wert) mitgeteilten Hen-
ningfchen Verſuche vorlägen. Gerade weil er per-
ſönlich überzeugt fei, darum müfle er als Wiflen-
ſchaftler verlangen, daß endlich einmal vollgiltige,
jeder Kritif ftandhaltende Beweiſe vorgelegt wür-
den. Wenn alle, die von der Echtheit folder Phä-
nomene überzeugt find, fo dächten, fo wäre der
Streit vermutlich Tängft zu Ende. Uebrigens ift
die Feftftellung, daf Verweyen nunmehr aud feine,
(wie ih aus privater Mitteilung weiß, längft ge-
hegte) Ueberzeugung von der Echtheit offulter Phä-
nomene nunmehr offen ausfpricht, ein intereflantes
Zeichen der Zeit. Jh bin neugierig, ob der DMB.
ihn nunmehr ebenfo wie Aigner u. a. ganz heraus-
graulen wird.
— — — ⸗ ml —— —— M M U I — — — — — — —— — — —— — — — nn — — — — — — — —
Wege zur elektriſchen Fernkinematographie.
Eines der intereſſanteſten Gebiete der modernen
Technik, deſſen rapide Entwicklung ſich ſoeben vor
unſeren Augen abſpielt und deſſen Auswirkungen
nicht nur für den allgemeinen Welt-Bildverkehr
und den gewöhnlihen Telegraphendienft, fondern
legten Endes aud für die Sernfinematographie und
das elektrifhe FTernfehen von überrafchender Be-
deutung werden dürften, ift das Gebiet der elef-
teifhen Bildtelegraphie.
So wunderfam und unglaubwürdig es vielfad)
Laien auh Flingen mag, die Möglichfeit, Bilder
und Photographien auf telegraphifhem Wege, felbft
über die größten Entfernungen und mit erheblicher
Geſchwindigkeit, zu übertragen, it nach jahrzehnte-
fanger, mühevoller Entwidlungsarbeit aus dem
Stadium einer Laboratoriumsfuriofität herausge-
treten, ift tehnifch durchführbar geworden und fhidf
fi) nunmehr an, in dag Getriebe des wirtfchaftlidhen
Bon Jng.
Berthold Freund.
Lebeng einzutreten.
Während man noh vor dem Kriege mit adhtungs-
vollem Staunen die leiftungen bewunderte, die
ſchon damals durch das Gelingen guter telegra-
phifcher Bildübertragungen über Telephonleitungen
erzielt wurden, fonnte man nunmehr bereits aud
drahtloſe Bildübertragungen von Europa nadh Ame-
rifa durdführen und fo den praftifchen ‘Beweis er-
bringen, daß unabhängig von Teitungsführungen
und felbft über Weltmeere hinweg, eine elektrifche
Uebermittlung von Bildern möglich ift.
Wenn aud bei Iegteren die Qualität der Bilder
und die Gefchwindigfeit der Uebertragung noh ver-
hältnismäßig gering waren und daher noh gute
Arbeit wird geleiftet werden müflen, bevor das
Biel: das eleftrifhe Sernfehen, praktifch verwirklicht
fein wird, fo ift bereits das bis jeget auf diefem
Wege Erreihte außerordentlih beachtenswert und
280 Wege zur _eleftrifhen Serntinematograpbie.
bereits für einen telegraphifhen Welt-Bildverfehr
von größter praftifher Wichtigkeit.
Das bisherige Prinzip der Bildübertragung, das
fidh praftifch als das allein brauchbare erwiefen hat,
ift relativ einfah. Es fann wie folgt beichrieben
werden:
Das zu übertragende Bild, 5. B. eine Photo-
graphie, wird als aus lauter winzigen Flächenele⸗
menten oder „Bildpunkten“ zuſammengeſetzt ge»
dacht, die in regelmäßiger, etwa ſchachbrettförmiger
Reihenfolge angeordnet find. Jedes diefer Bild-
elemente befigt dann einen beftimmten helleren oder
dunfleren Lichtwert, je nachdem es beleren oder
dunfleren Stellen des Bildes angehört. Dem
Tichtwert eines jeden Bildpunftes fann ein beftimm-
tes ihn Fennzeichnendes Zeichen, 5. B. ein beftimm-
ter eleftrifher Strom, zugeordnet werden, der zu-
gleidh ein telegraphiſch übertragbares Zeichen dar-
ſtellt. In Form eines folden eleftrifhen Zeichens
fann dann ein jeder einzelne Bildpunft von der
Sendeftation zur Empfangsftation übertragen wer-
den. Dort wird dann jedem anfommenden elef-
trifhen Zeichen wieder der zu demfelben zugehörige
Lichtwert in Form eines Heinen Bildpunftes zu-
geordnet und feftgehalten. Die fo erhaltenen Bild-
punkte werden dann in der vorgeſehenen ſchachbrett⸗
förmigen Reihenfolge nebeneinandergefügt und da-
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Sa. 1.
al iR eine Reihe von getonten Bildpunkten
b) zeigt die Wiedergabe dieier Punfereibe um Linienrasterbild
c) vigt die au b) geberinen Etrommmpulie die jur Uebertragung der Bildpunkte dienen.
d) und die an die an der Empfaagoſeite anfommenden Telegraphierimpulie.
e) Rellt die vom Empfanger wirdergegebene Punktreibe dar.
durd wieder zu einem dem Originale entipredhenden
Bild zufammengefest. Das ift das Grundprinzip
aller bieber praftiih verwendeten bildtelegra-
phifhen Apparate. Naturgemäß würde die tele-
qrapbifche Uebertragung eines Bildes auferordent:
Sende Seite
Empfangs Seite
lich lange Zeit in Anſpruch nehmen, wenn der ganze
befchriebene Vorgang etwa durd) die Arbeit eines
Menſchen durchgeführt werden müßte. Die Ueber-
tragung eines Bildes z. B. von der Größe 10X10
cm würde unter der Annahme, daf etwa 10 Bild-
punfte auf jeden qmm entfallen und das Bild
fomit insgefamt 100 000 Punkte befigen würde,
faft 24 Stunden in Anfprud nehmen!
An eine ſolche Uebertragungsmweife von Hand aus
ift fomit praßtifch nicht zu denten. Es war aber
mit durchaus einfachen technifhen Hilfsmitteln
möglich, die foeben befchriebenen Vorgänge voll-
fommen automatifh und mit febr hoher Geſchwin⸗
digkeit durchzuführen, fo daß die telegraphiicde
Uebertragung eines Bildes von der angegebenen
Größe ihon in wenigen Minuten durdgeführt
werden fonnte.
Durch die neueften Errungenfchaften der Technik
ift nunmehr auch nod eine weitere weſentliche Stei-
gerung ber Uebertragungsgefchtwindigfeit möglich ge-
worden, jo daf man dem Ziele der eleftrifchen Fern-
Finematograpbie und des elektrifchen Sernfehens um
einen bedeutenden Schritt nähergerüdt ift.
Die bisherigen Apparate für Vildtelegraphie, die
nadh dem oben angegebenen Prinzip arbeiten, können
vom technifehen Standpunkt in drei wefentlih ver-
fhiedene Gruppen eingeteilt werden.
Die erte und ältefte diefer
Gruppen bilden die fogenannten
Telautographen. Der erfte praf-
tifhe Apparat diefer Art wurde
von DBadewall im jahre 1847
erfunden und im jahre 1902 von
Profeſſor Korn weſentlich verbei-
fert. Bei diefer Gruppe von
Apparaten Fann das telegraphifd:
su übertragende Bild nicht direkt
in den Gendeapparat eingelegı
| werden, vielmehr muß zunädft
nach dem Originalbild im Wege
‚eines befonderen Werfahrens ein
ſogenanntes Tintenrafterbild her-
i geftellt werden, und zwar mit
| einer ifolierenden Schicht auf einer
“ eleftrifhy leitenden metallischen
Grundfolie. Erft diefes befondere
Rafterbild fann beim Telautogra-
phen zur eleftrifhen Bildübertra-
gung verwendet werden. Dies ge-
ſchieht durch eleftrifhes Abtaften
des metalliihen Mafterbildes mittels eines die Bild-
fläche quer zu den Raſterlinien beftreihenden me-
tallifhen Taitftiftes, wobei legterer in eng neben-
einander liegenden Linien die ganze Bildfläche ab-
taftet. Dort mo diefer Taftitift auf blanfe Metall-
Wege zur elektrifhen Fernfinematograpbie.
ftellen gelangt, fchließt er den Stromkreis einer
Batterie und dort, wo er über eine Mafterlinie glei-
tet, bleibt der Stromkreis unterbrohen. Da im
Rafterbild die dunflen Bildpunkte durd breite, die
bellen Bildpunkte dagegen dur ſchmale Stellen der
Raſterlinie (refp. durch ſchmale und breite metallifche
Zwiſchenräume zwifchen den Rafterlinien) dargeftellt
werden, fo entiprehen beim Abtaften des Raſter⸗
bildes den dunklen Bildpunkten kürzere und den bel-
leren Bildpunkten längere Stromimpulfe. Der
befchriebene Vorgang ift in Figur 1 ſchematiſch ver:
anſchaulicht.
Praktiſch wird das Abtaſten des Raſterbildes an
der Sendeſeite dadurch bewerkſtelligt, daß die Bild-
folie auf einer Walze aufgewickelt und mit dieſer in
gleichförmige Umdrehung verſetzt wird.
Ein Taſtſtift ſchleift ähnlich dem Stift einer
Grammophonwalze, auf dem Zylinder und bewegt
ſich zugleich langſam gleichförmig parallel zur
Zylinderachſe. Dadurch wird der fidh drehende Zy-
linder vom Taſtſtift in einer engen fortlaufenden
Schraubenlinie abgetaſtet.
Die hierbei gewonnenen längeren und kürzeren
Stromimpulſe können dann z. B. über Telegra-
phenleitungen oder auch drahtlos zur Empfange-
ftation geleitet und hier zur Rückgewinnung
der Bildpunkte verwendet werden. Letzteres gefchieht
nun dadurch, daß die in der Empfangsftation an-
fommenden Stromimpulfe eine geeignete Schreib-
vorrihtung (3. B. einen Lichtfchreiber) betätigen, die
auf einem mit dem Zylinder der Sendeſeite voll-
fommen ſynchron Taufenden Empfangsznlinder
Dunfte von den jeweiligen Impulslängen ent-
ſprechender Größe regiftriert. Dies ift gleichfalls
in Figur 1 fchematifch dargeftellt. Ein volltommener
Synchronismus zwifchen dem Sender und dem Em.
on ende Seite
u
7
u C
Zimplangs "Seite
Jig. 2.
a) iR eine Reihe von getönten Bildpunkten. b) zeigt den zu a) ge
Prinzip des „Phototelegraphen“.
börigen veränderliden pbotoeleftriihen Etrom. c
der Empfangsftation ankommenden veränderlihen Strom. d) yeigt
die vom Empfänger wiedergegebene getönte Punktreibe.
jeigt den an
pfänger ift unbedingt erforderlih, damit die Tage
der Bildzeilen und ſomit auch die Anordnung der
Bildpunkte im empfangenen Bilde vollkommen
richtig bleibt.
281
Das bier beſchriebene Verfahren der Bildtele-
graphie ift, wie oben ausgeführt wurde, ein indiref-
tes, indem nicht das zu übertragende Bild felbft, fon-
dern erft ein die Uebertragung ermöglihendes Me-
tallfolien-Rafterbild verwendet werden Fann.
Die Vorteile der telautographifhen Methode
liegen beſonders darin, daß ſowohl die Konftruftion
wie aud die Bedienung der Apparate auferordent-
lidh einfach ift, daß die Reichweite der telegraphifchen
Das Prinzip des „Phototelautograpben”.
a) zu überfragende getönte Punktreibe. b) die Telegrapbierzeichen,
duro melde die Tönungswerte übertragen werden. c) die an der
Fig. 3.
Empfangsflation anfommenden Impulſe. d) das durch Die
empfangenen Impulſe wieder reproduzierte Tönungsbild.
Uebertragung auh bei geringem Energieaufwand
groß ift und daß die Methode ohne weiteres aud
für drabtlofe Bildübertragungen verwendet werben
fann. hr Hauptnachteil liegt aber darin, daß fie
die umftändliche Herftellung eines befonderen Me-
tallfolien-Rafterbildes erfordert und dadurd mit
einem unliebfamen erhöhten Zeite und Koftenauf-
wand verfnüpft ift.
Diefer hauptſächliche Nachteil wurde dur die
zweite Gruppe der bildtelegraphifchen Apparate, die
fogenannten Phototelegraphen, befeitigt. Bei diefen
Apparaten, deren erfte Konftruftion von Bidwell
im Jahre 1881 erfunden und die im Jahre 1906
von Prof. Korn mwefentlich verbeflert wurde, werden
die heleren und dunfleren Bildpunkte niht erft auf
dem Umwege über ein Nafterbild zu entipredhenden
eleftrifhen Zeichen umgewandelt, fondern bei ihnen
werden die Lichtwerte der “Bildpunkte durd eine op-
tifhe Einrichtung direkt feftgeftellt und durch eine
fogenannte Tichteleftrifhe Zelle zu entſprechenden
eleftrifhen Stromftärfen umgewandelt. Hierzu
wird das Bild am beften in Form eines transpa-
renten Films, 3. B. eines gewöhnlichen Negativs,
verwendet. Durd einen äußerſt dünnen Lichtſtrahl
wird das Bild in engen parallelen Linien abgeleud-
tet, ähnlich wie das Mafterbild beim Telautographen
vom Taftftift beftrihen wird. Dadurd werden alle
Punkte der Bildflähe hintereinander vom Lidt-
ſtrahl durchleuchtet. Der Lichtſtrahl fällt, nachdem
er die Bildfläche durchdrungen bat, auf eine dahinter
befindliche Tichteleftrifhe Zelle, welde die Eigen-
nm — — — — — — —h —
elektriſchen Widerſtand gemäß der Stärke der
Belichtung zu ändern und dadurch den Strom einer
elektriſchen Stromquelle gemäß dem jeweiligen
Lichtwert in feiner Stärke zu verändern. Es be-
fteht hierbei annähernd Proportionalität zwifchen
Lichtſtärke und eleftrifher Stromſtärke. Durch
Anwendung einer ſolchen Einrichtung gelingt es ſo⸗
mit, beim Abtaſten der Bildflächen mittels eines
dünnen Lichtſtrahls den jeweiligen Tönungswerten
der aufeinander folgenden Bildpunkte genau ent⸗
ſprechende Stromwerte zu erhalten. Ein jeder
Stromwert iſt dann ein Maß für die Helligkeit des
augenblicklich beleuchteten Bildpunktes. Die hier-
durch gewonnenen veränderlichen Stromſtärken
werden von der Sendeſtation zur Empfangsſtation
geleitet und hier zur Wiedergabe entſprechender Hel⸗
ligkeitsſtufen verwendet, die punktförmig feftgehal-
ten und in derſelben Reihenfolge, in welcher das Ab⸗
taſten der Punkte auf der Sendeſeite erfolgt, zeilen⸗
weiſe zum Bilde zuſammengefügt werden. Das
Prinzip ift durch Figur 2 ſchematiſch dargeſtellt. Zur
richtigen Wiedergabe bes Bildes an der Empfange-
ftation ift, ebenfo wie beim Telautographen, ein ges
nauer Synchronismus zwifhen Sender und Em-
pfänger erforderlih. Die genaue Tönungsabſtu⸗
fung wird im Empfangsapparat dadurd gewonnen,
daß entiprehend ber Stärke der anlommenden
Ströme eine Lichtquelle verändert wird, die auf dem
photographifhen Empfangszylinder einen ent-
fprechend helleren oder dunfleren Punkt abbildet.
Die Vorteile diefer photoeleftriihen Methode
befteben darin, daß grundfäglich Feinerlei Vorar⸗
beiten dem eigentlihen Bildübertragungsvorgang
vorausgehen müflen, da das photographifche Bild
unmittelbar in den Sendeapparat eingelegt wird,
ferner, daß die Webertragungsgefhmindigfeit bei
diefer Methode außerordentlich boh ift. Ein wei-
terer Vorteil befteht auh nod darin, daß die Iö-
nungsfeinheiten des Bildes ſowohl auf der Sende-
feite wie auh auf der Empfangsfeite gut zur. Wir-
fung kommen können und darum aud photographiſch
ſchön wirkende Bilder ergeben. Die Nachteile diefer
Methode beftehen aber darin, dap fie im wefentlichen
nur über furze Entfernungen gut arbeitet, daß ihre
Mermendung bei radiotelegraphifchen Uebertragun-
gen praftiih mit Schwierigfeiten verbunden ift, dafi
fie den Aufwand größerer Sendeenergien erfordert
und durch Energiefhwanfungen fowie dur äußere
Einflüffe ftarfen Störungen ausgefest ift.
Diefe Nachteile, insbefondere die ſchwierige Ber-
wendbarfeit der Methode für drabtleie Uebertra-
gungen über ganz große Entfernungen ließen dic
Sorderung entiteben, ein Derfabren zu finden, dafi
Wege zur elektrifhen Sernkinematographie. _
ſchaft hat, beim Auftreffen von Lichtfirahlen ihren
mit drahtlos leicht übertragbaren Zeichen arbeitet,
aber dennodh ohne Verwendung von MRafterbildern
oder fonftigen Zwifhenformen ausfommt und fomit
nadh dem direkten phototelegraphifhen Verfahren
arbeitet. Diele Forderung führte zur dritten
Gruppe der bildtelegraphifchen Apparate, zu den
Phototelautographen (wie fie hier vorläufig benannt
werden fönnen.)
Die erfte praftifhe Konftruftion eines folden
Apparates wurde von mir im fahre 1923 erfunden
und ausgeführt. Bei diefem Apparat werben bie
zu übertragenden Bilder ebenfo wie beim befchrie-
benen Phototelegraphen unmittelbar in den Sende”
apparat eingelegt und unmittelbar optiſch abgetaftet.
Die von der lichtelektrifhen Zelle gelieferten verän-
derlichen photoeleftrifhen Ströme wirken im Appa-
rat auf kurze, in gleihfürmigen Zeitabftänden raſch
aufeinander folgende Telegraphierftridhe ein, deren
Länge von ber jeweils vorhandenen Stromftärfe
beftimmt wird. Die Länge eines jeden Telegraphier-
firihes (der einem Stromimpuls beim Telauto-
graphen entipricht) ift dann ein genaues Mag für
die Helligkeit des zugehörigen Bildpunktes.
Diefe Strihzeihen werden dann an ber
Empfangsftation ähnlich wie beim Telautographen
einer photographifhen Megiftriervorrihtung zuge-
führt, welde das photographifhe Sefthalten
der ankommenden Zeichen bewirkt. Zur genauen
Wiedergabe des Bildes ift auh hier wie bei den
anderen angeführten Methoden ein genauer Syn-
chronismus zwifhen Sender und Empfänger er-
forderlih. Das Prinzip ift in Figur 3 ſchematiſch
veranſchaulicht.
Die Vorteile dieſer Methode beſtehen darin, daß
hier mit drahtlos leicht zu übertragenden Tele-
graphierzeichen gearbeitet wird, ohne daß dabei
Hilfsraſterbilder oder ſonſtige Vorarbeiten erforder⸗
lich wären. Es wird bei geringem Energieaufwand
der Sendeſtation eine große Reichweite erzielt.
Die Methode kommt vor allem für drahtloſe Bild⸗
übertragungen insbeſondere bei ganz großen Ent-
fernungen in Frage. Gegenüber den anderen Me»
thoden weift fie aber eine etwas Fompliziertere
Apparatur auf.
An der lekten Abbildung ift eine aus dem
Sommer 1924 ftammende Bildübertragung wieder-
gegeben, die erfennen läßt, daß das Erreichte in
Anbetracht der zu überwindenden Scwierigfeiten
ſchon recht befriedigend ift.
Bezüglich diefer drei genannten Syſteme wurde
insbefondere in allerlester Zeit öfters die Frage bes
handelt, weldyes von ihnen für einen praftifchen
bildtelegraphifchyen Betrieb als dag geeignetfte an-
gefehben werden fann. Aus dem bei der Beipre-
hung der Eigenfhaften der einzelnen diefer Sy-
teme (hon Gefagten geht hervor, daß jedem von
ihnen ganz beftimmte Bor- und Nachteile anhaften.
Die Vorteile find insbefondere folgende: Der Tel-
autograph ift Fonftruftiv und in der Handhabung
außerordentlih einfah und überdies im Gemicht
ſehr Teiht. Der Phototelegraph arbeitet auper-
ordentlih rajd und liefert gut getönte Bilder. Der
Phototelautograph geftattet eine direkte Bild-
übertragung mittels Telegraphierzeichen ohne Be-
nügung von Mafterbildern oder fonftigen Wor-
arbeiten. Aus diefen grundlegend verfchiedenen
Vorteilen der drei genannten Syſteme geht ſchon
hervor, daß es fih hier um Spfteme handelt, die
für verfchiedene Anwendungsgebiete befondere Eig-
nungen befisen. Während der Telautograph z. B.
für einen Betrieb auf Flugzeugen und für fonftige
mobile Stationen befonders geeignet ift, ift der
Phototelegraph insbefondere für den Nahverkehr
über Leitungen zu bevorzugen, wogegen der Photo-
telautograph ingbefondere für den großen draht-
lojen Weltverfehr in Frage fommt.
Die Aufgaben und Probleme der Bildtelegraphie
find noh mannigfadher Art. Eine weitere Er-
böhung der DBetriebsfiherheit, die Beſeitigung von
äußeren ftörenden Einflüffen, die weitere Erhöhung
der Mebertragungsgefhmindigfeit find einige der
wichtigften von ihnen. Sn diefer Hinficht beftehen
jedbod weitgehende und gangbare tehnifhe Mög-
lichkeiten. Insbeſondere ift durch die Mittel der
modernen Phyſik und Technik noh eine weitgehende
Steigerung der Uebertragungsgeihwindigfeit mög-
li. Uebertragungen von Porträts, die bisher z. B.
zehn Minuten in Anfprud nahmen, werden alsbald
ſchon in zehn Sekunden bewerfftelligt werden fön-
nen, was einer fechzigfahen Erhöhung der Ge-
ſchwindigkeit entiprechen wird. Für den praftifchen
Weltbildverfehr wird dies von ausfchlaggebender
Wichtigkeit fein.
Für die Löfung der eleftrifhen Fernfinemato-
graphie und des eleftrifchen Fernſehens reihen aber
au dieje Gefhwindigfeitsfteigerungen noh lange
nicht aus. Denn erft wenn die oben in Ausſicht
geftellte Geſchwindigkeitserhöhung niht nur erreicht,
fondern noh weiter um mindeftens das Hundert-
fahe gefteigert werden und die Uebertragung eines
Bildes dann nur noh ein Zehntel Sekunde be- _
tragen wird, wird es möglich fein, ein fernfine-
matographiſches Sehen zu ermöglichen, indem dann
sehn Bilder in der Sekunde dem Auge zugeführt
werden fünnen. Die hierbei erforderlichen Ueber-
tragungsgefhmwindigfeiten find ganz enorm. in
Wege zur_eleftrifhen Sernkinematographie.
283
— —
Bild von der Größe 10X10 Zentimeter, das, wie
eingangs ausgeführt, aus etwa 100 000 Punften
befteht und für die Zwede der eleftrifhen Fernfine-
matographie mindeftens zehnmal in der Sefunde
übertragen werden muß, würde bereits 10X 100000
— 1000 000 Punftübertrogungen in der Sekunde
Fig. 4.
Ein mit dem erften Freund'ſchen Verſuchsapparat übertragenes Bild.
erfordern. Aber mit 100 000 Punkten, aus denen
hierbei das einzelne Bild zuſammengeſetzt anges
nommen wurde, fann man nod bei weitem Feinen
beliebigen Neihtum an Details wiedergeben. Ein
folhes Bild ftünde felbft hinter dem allerfchlechte-
ften Kinobild noh um ein ganz beträdtlihes Map
zurüd.
Trotzdem find, wenigftens vorläufig, die An-
ſprüche an einen eleftrifchen Fernfehapparat noh
weitaus beſcheidener. Laboratoriumsverfuhe er-
reichten bisher höchſtens 10 000 bis 50 000 Punfte
in der Sekunde, vereinzelt und unter befonderen
Umftänden auh etwas darüber, aber die Schwierig-
feiten, die nicht linear, fondern in einer höheren
Potenz mit der Uebertragungsgeihwindigfeit mad-
fen, und zwar in Bezug auf alle verwendeten An-
Ingeteile, ftellen vorläufig gerade dem Eindringen
in die für die praftiihe Fernfinematographie er-
forderlihen Größenordnungen der Frequenzen nod
nicht überwundene Schwierigfeiten entgegen.
Aber die Arbeit ift einmal in Angriff genommen
und der Weg ift gewiejen. Die allernädfte Zeit
wird wichtige Sortfhritte in diefer Michtung
bringen.
284 Dom Genoffenfhaftsleben unferes grünen Waflerpolppen ‘Chlorohydra viridissima: mit Algen.
Vom Genoflenichaftsleben unferes grünen Waſſerpolypen
(Chlorohydra viridissima) mit Algen. won xerit piena
Won den drei Gattungen der Süßwaſſerpolypen
zeichnet ſih Chlorohydra viridissima (= Hy-
dra viridis) im Gegenſatz zu den Angehörigen der
beiden Gattungen Hydra und Pelmatohydra durd)
die ftets grine Farbe aus, die bedingt ift durch ein
dauerndes und inniges Zufammenleben mit Algen.
Durch diefe Tatſache find die Tierchen fchon ofi
Gegenftand genauerer Unterfuchungen gewefen. Das
meifte Intereſſe vereinigte fih auf die Frage nad
der Art und Weife der Bereinigung von Tier und
Pflanze. Eine Zeitlang beftand die Anſicht, daft
die Algen ein Schmarogerleben im PDolnpenleib
führen. Jedoch gelangte man allmählicd zu der
Ueberzeugung, daß es fih um ein echtes Genoffen-
ſchaftsleben, um eine Eymbiofe handelt, bei ber
beide Teile DBorteile genießen. Die in der legten
Zeit befonders von Wilhelm Goetſch im
Münchener zoologifhen Inſtitut angeftellten Unter-
fuhungen haben die letztere Anfchauung nicht nur
beftätigt, fondern fie haben uns aud einen tiefen
Einblid in die Art und Weife der Symbioſe tun
laffen. Im folgenden mögen einige wichtige Er-
gebniffe in Kürze mitgeteilt werden.
ft es bei dem innigen Zufammenleben von
Polyp und Age möglich, beide Teile fo zu trennen,
daß fie für ſich weiterleben können? Oder ift die
Gewöhnung im
Laufe der Zeit fo
ftarf geworden,
daß eine Zren-
gu
EN
N a m
K?
Ry
T
a
ID
Re) DS
nung der beiden p se h
Zeile gleichbedeu⸗ AA si
tend ift mit ihrem = A c
Tode? Bevor wir ww:: m
diefe Frage beant- k N A H3 n
worten wollen, X
müſſen wir einen D FE
flüchtigen Blit 9 H
auf den anatomi- Aa:
fhen Bau von BS JR
Chlorohydra Sap A | _—
- — =w
—
werfen. Wie alle
Polypen beſteht
auch unſer grüner
Waſſerpolyp aus
Jig. I.
Langeſchnitt durh Chlorohydra. m -
Mundofßnung; h . Körperbohlraum
x ; P (Magen): | Fangarme: koo Knoſpe:
einem zylindri— c> —— s Enisi; n-
niod ;
ſchen Schlauch, —
der mit dem Fuße feſtgewachſen iſt, und aus
der am entgegengeſetzten Pole liegenden Mund—
öffnung, die mit Fangarmen (Tentakeln) ausge⸗
rüſtet it. Die Körperwand fegt fib aus zwei Zell.
hichten zufammen, dem Ectoderm und dem Ento:
derm. Zwiſchen beiden liegt die nicht aus Zellen
aufgebaute Stüsfhiht (Fig. 1). Außer diefen
Körperbaufteinen befißen die Tiere nod Organe
verfchiedener Form, die zum Teil ale Waffe, zum
Teil ale Haftorgane die
nen und zufammenfaflend
N als Meffelkapfeln (Dur
fhlags-, Widel-, Haft
/ Eapfeln) bezeichnet werden.
2 N Für unfere Betrachtung
erübrigt fih ein näheres
Eingehen auf ihren Bau.
Die Vermehrung gefehiebt
(7
DIR
ES auf geſchlechtlichem und
— ungeſchlechtlichem Wege.
We) Bei der letzteren Art
Ex entfteht am Körper des
Tieres ein Auswuds, a
—— Knoſpe, die immer mehr
853 in die Länge wäh. €
W bilden ſich die Arme und
der Mund aus, und folie.
Lich Löft fid die Knoſpe ab.
(Fig. 1.) Die die Po
Inpen bewohnenden Algen
baben ihren Se m
Entoderm und bevorzugen
als Aufenthalt die nad
innen gerichtete Seite der Zellen, während die m
den Magen hineinragenden Lappen frei davon find
(Abb. 2). Die Algen feinen eine befondere Nail:
der im reien Iebenden Chlorella vulgaris pu
fein, die fih durd einen glodenfürmig ausgebildeten
Blattgrünapparat auszeichnet und fig durch Zwei⸗
teilung vermehrt. (Abb. 3.) Daf die ſymbion
Fig. 2.
Sonitt durd den @ierfiod von
Eborobupra. e » Ei mit Algen:
k. ifen; c . Eetoderm; n.
Entoderm mit Eborellen, die an
der Zelbafis angefiedelt find.
(Rad Greiſch.)
| 93
o = 5, b
a - Chloralla —— EN (Nad Goetich
tiihen Chlorellen infolge des Zuſammenlebens eine
phyſiologiſche Abänderung erfahren haben, zeigt fid
darin, daß fie einer künſtlichen Kultur großen
Widerſtand entgegenfegen. Aber aud die Polnper
laffen fih niht fo leidt ihrer Gäſte berauben, f
dafi lange Zeit die Meinung galt: Eher gebt Chlore:
bydra zugrunde, als daß fie ſich von den Algen
285
Vom Genoflenihaftsleben unferes grünen Waflerpolypen (Chlorohydra viridissimal mit Algen. 285
trennt. Goetſch jedoch gelang es, algenfreic
Tiere heranzuzüchten. Die grünen Polypen wur-
den in kalkarmes Waſſer gebracht, an einen dunflen
und Falten Ort geftellt und tüchtig mit Flohkrebſen
(Dapbniden und Cyclopiden) zwecks rafcher Knofpen-
vermehrung gefüttert. Zunächſt verblaßt die Kör-
permitte; die entftehenden Knofpen werden beller;
Jup und Mundgegend folgen, und nad) ungefähr
A bis % Jahre find fowohl die Knofpen als das
Muttertier algenfrei, was fih an dem jeßt voll-
Jig. 4.
Linke weiße Chlorohvdra; rehte grüne Chlorohydra mit Knoſpe
und Çi, das durh Algen grünlih gefärbt it. (Mad Goetic.)
fommen weiß erfcheinenden Körper zeigt. (Abb. 4.)
Wie die mifroffopifhe Unterſuchung ergab, gerieten
die Algen durch die ungünftigen Verhältniſſe ali-
mählich in Auflöfung. Da die algenfreien Chloro-
hydren (Chlorohydra alba) in ihrer geſchlecht⸗
lichen und ungeſchlechtlichen Vermehrung fih von
den grünen Tieren im wefentlihen nicht unter-
feiden, weil die Tiere fih in der 15 Monate lan-
gen Kultur alg lebensfähig erwiefen, muß die ge-
ftellte Frage dahin beantwortet werden: Chloro-
bydra und Algen laffen fih durch Fünftlihe Bedin-
gungen trennen.
Daraus könnte man leidt den Schluß ziehen,
daf die Polypen keinen großen Gewinn aus dem
Genoſſenſchaftsleben haben. Aber fhon aus dem
Umftande, dag Chlorohydren ohne ihre pflanzlichen
Bewohner hinfälliger find, läßt fih auf eine feft-
ſchem Gebiete liegen.
gefügte Gewöhnung ſchließen. Faft immer maden
die Tiere bei der Entalgung einen Eranfhaften Zu-
ftand durch, der fih nur durd gute Pflege beheben
läßt. Nah welcher Richtung bin liegt der Bor-
teil? In erfter Linie wird man daran denken, daß
die grünen Algen dur die Abgabe von Sauerftoff
den Chlorohydren nüglich find. Jedoch feint hier
nur ein indirefter Einfluß vorzuliegen, indem die
grünen Zellbewohner das Umgebungswafler mit
Sauerftoff verforgen, der dann erft den Tieren zum
Nutzen gereicht. Der unmittelbare Vorteil dürfte
nah NHungerverfuhen auf ernährungsphnfiologi-
Normale grüne Polypen
vermögen vier Monate ohne Futter zu leben. Sie
zeigen eine allmähliche Größenabnahme. Die wei-
Ben Eremplare dagegen halten faum die halbe Zeit
aus. Schon nah vier Wochen beobachtet man an
ihnen krankhafte Erfcheinungen, woran fie nad) und
nach eingehen. MWahrfcheinlich erzeugen die Chlo-
rellen Dele bezw. Fette, welde von ihren Wirts-
tieren aufgenommen werden. Deshalb find die
Chlorohydren anderen Gattungen gegenüber we-
niger fleifhbhungrig, was auh durd ihren Bau
zum Ausdrud kommt, indem fie kürzere Fangarme
und eine geringere Anzahl von DBerdauungszellen
befigen.. Dag die Algen im Tierförper Borteile
mannigfacher Art genießen, ift wohl ohne weiteres
verftändlih. Deshalb muß das Zufommenleben
von Polyp und Alge als ehte Symbioſe angefpro-
den werden.
Um die lebenswichtige Gemeinfhaft aufrecht zu
erhalten, haben fih bei den Chlorohydren Einrid-
tungen ausgebildet, die dafür forgen, daß den Nady-
fommen die Algen mitgegeben werden. Bei der
ungefchlehtlihen Vermehrung durch Knoſpen ift
der Vorgang leicht zu verſtehen. Wie geſtalten
fi die Verhältniſſe bei der geſchlechtlichen Ver—
mehrung? Die Chlorohydren find Zwitter, d. b.
` an demfelben Tiere finden fih Hoden und Cier-
ftöde. Die Geſchlechtsorgane find Bildungen des
Ectoderms. Der Eierftod ftellt eine Anhäufung
son Zellen — den fog. Pfeudozellen — dar. Sie
geben aus den Wanderzellen (fnterftitialzellen)
hervor, die zwiſchen den Ectodermzellen liegen und
die Fähigkeit befigen, im Körper des Polypen þer-
umumwandern. Ihre Bewegungsmöglichkeit er-
ftredt fidh aud auf dag Entoderm, wobei fie die
Stütlamelle durchbrechen. Eine Wanderzelle wird
im Eierftod zur Eizelle, während die anderen zer-
falen und als Mährmaterial für die wachſende
amöbenartige Eizelle dienen. Schon im jugend-
lihen Zuftande Eönnen durh das Mikroſkop im
Eiplasma grüne Algen nachgewieſen werden. (AL-
bildung 2.) Se größer das Ei wird, defto mehr
nimmt die Algenzahl zu, und wenn das Ei aus der
Amöbenform in die rundliche übergeht, dann er-
286
fennt man an größeren Tieren ſchon mit unbewaff-
netem Auge die grünlihe Färbung des Eis. (Ab
bildung 4.) Wie kommen die Algen in die Eizelle
hinein, umfomehr als das Ei eine Bildung bes
Estoderms ift, während die Algen fih im Ento-
derm finden? Aller Wahrfcheinlichfeit nach kommt
hierfür eine zweite Art von Wanderzellen in Frage,
die aus dem Entoderm ftammen und Algen ent-
halten. Das es folhe Wanderzellen geben muß,
lehrt folgender Verſuch: Es gelingt ohne Schwie-
rigkeit, Zeile von normalen Chlorohydren mit
Teilen von weißen Eremplaren zum Zufammen-
wachſen zu bringen. So ftellt Abbildung 5 ein
Tier dar, das ein grünes Fußſtück und ein weißes
Kopfſtück befist. Im Laufe einer verhältnismäßig
furzen Zeit (134 Wohe) wird der weiße Abjchnitt
grün. Das Ergrünen gefchieht aber nicht ſchritt⸗
weife von der Verwachſungszone aus, fondern an
allen Stellen ziemlich gleichzeitig.
Auch finden fih Tiere, bei denen
im hellen Teile zuerft infelartig
grüne Partien entftehen. (Abb. 5.)
Soldye Agenwanderzellen gelangen
auch in die Nähe des. Eierftodes,
werden vom Ei aufgenommen, und
die mitgeführten Algen werden frei.
Wenn die Algen für das Po-
Inpenleben eine fo große Role ſpie⸗
len, dann taucht die Frage auf:
Wie verhalten fih weiße Chloro-
hydren einer Neuaufnahme von
Algen gegenüber? Kann man durd
Darreihung von Chlorellen die
Symbioſe wieder herftellen? Das
hatte anfangs feine Schwierigkei⸗
ten, weil zerbrüdte Teile grüner
Artgenoffen von den Tieren nicht
aufgenommen wurden. Als aber
die richtige Methode gefunden war,
gelang es ohne weiteres. Daphnien
werden die Schalenflappen augein-
auseinander gebogen und algenhaltige Teile einge-
Hemmt. Bei der Verfütterung fo vorbehandelter
Flohkrebſe gelangen die Algen in den Magenraum
der Polypen, werden frei und aufgenommen. Nach
zwei bis drei Wochen ift die Symbioſe wieder vol-
ftändig hergeſtellt. Wie hier die Wiederergrünung
auf Fünftlihem Wege gefchieht, fo fann fie auh auf
fpontane Art und Weife entftehen, fofern den Po-
Ippen Chlorella vulgaris zur Verfügung ftebt.
rüner und weißer
lorohydra. Ber-
logerung von Algen
in ben oberen algen-
loſen Teil.
Die Quantentheorie. Bon B. Vavint. (ons)
lehre müflen diefe beiden Beifpiele der wichtigften
durch fie erzielten Sortfehritte genügen. Es liefe
Dirie Quantentheorie.
Die Meuinfektion maht ſich zunächſt an irgend
einer Körperftelle in Form von Feinen grünen
Flecken bemerkbar, die fih immer mehr ausbreiten.
(Abb. 6.) Die Leichtigkeit, mit der die weißen
Chlorohydren eine Wiebervereinigung mit den
Sig. 6.
Neuaufnahme von Algen bei weißen Chlorohydren. (Nah Goeth.)
Algen eingehen, ift weiter ein ‘Beweis dafür, dap
die Tiere auf ein Zufammenleben eingeftellt find.
Es gelang fogar, eine Symbioſe von Chloro-
hydren mit einer Algenart zu beobachten, die in der
freien Natur noh niht beobachtet wurde. Dieſe
neue Genoflenfhaft zeigt uns in ihrem Zuflande-
fommen einen Teil des Weges, wie fih eine Sym-
biofe entwideln fann. Bei manden ergrünenden
Eremplaren von Chlorohydra alba fanden fid
bei mifroffopifher Unterfuhung Feine Chlorellen,
fondern Algen von anderem Bau. (Abb. 3.) Wahr-
ſcheinlich handelt es fih um eine Form der Gattung
Oocystis. Diefe neuentftandene Symbioſe ging
aber nicht fo ganz ohne Schwierigkeit ab. Die Po-
Inpen zeigten zunähft Schädigungserfheinungen,
die in der Verkleinerung des Körperumfangs ihren
Ausdrud fand. Sie mußten zum Freflen genötigt
werden, und nie fam es zu einer Eibildung. Erft
im Laufe der Zeit erholten fih die Tiere. Und bob
wurde das Zufammenleben nicht fo ſtark, wie bei
einem ſolchen mit Chlorellen; denn bei dem Auf-
treten beider Algenarten in einem Tier wird
Oocystis von Chlorella überwudert und ganz
verdrängt. Wenn man noh Verſuche berüdfichtigt,
Die mit Polypen anderer Gattungen gemacht wor-
den find, wo wir Arten finden, die überhaupt Feine
Algen aufnehmen (Pelmatohydra oligactis, Hy.
dra circumcincta) und anderfeits folde, die burg
ein Zufammenleben gefhädigt werden und nur mit
großer Mühe Fünftlih erhalten werden können
(Hydra vulgaris), dann läßt fih eine Reihe auf
ſtellen, die das Entſtehen eines Genoſſenſchafts⸗
Icbens ifluftriert: Unempfänglichfeit, Schwächepara⸗
fitismus, echte Symbioſe.
H
Wir wollen davon aber abfeþen und uns zum
Schluß fragen: welche grundfäglide Bedeutung
fommt denn nun diefer neuen — der Phyſik zu?
Wenn neue, bis dahin ganz unbelannte Tat-
ſachen, bier alfo die Eriftenz eines gewiflen flein-
ften Wirkungsquantums, in der Wiffenfchaft feft-
geftellt werben, fo fann das zweierlei bedeuten.
Entweder hat man wirflid etwas gefunden, was
ganz außerhalb alles bisher Bekannten liegt und
fi auf Feine der bisher befannten Erfcheinungen
zurüdführen läßt. Oder aber man hat nur eine
bis dahin noh nie beobachtete Kombination und
Erfheinungsform der bereits befannten Kräfte
entdeckt. Beifpiele für den erfteren Fall liefert
die Geſchichte der Phyſik u. a. in der Entdedung
der Wechſelwirkung zwifchen Elektrizität und Mag-
netismus durch Derfted, der Induktion durch Fa-
raday, der Gravitation durch Newton uff... Bei-
fpiele der zweiten Art find 3.3. die Entdedung der
Polarifation des Lichts (Malus 1810, Zurüd-
führung auf die Theorie der Transverſalwellen),
die der Radioaktivität (Becquerel und die Euries
1896 ff, Zurüdführung durch Rutherford auf
eleftriihe Spannungszuftände innerhalb der
Atome) ufw. Der legtere Fall zeigt deutlich, wie
vielfady beiderlei Arten von Entdelungen in ein-
ander greifen. Die ganz neue Grundtatſache, die
aud in der Radioaktivität fi äußert, it die Eri-
Renz des eleftrifhen Elementarguantums, die jedoch
grumdfäglih ſchon durch Faradays Unter
fuhungen über die Eleftrolnfe und die Deutung
diefer Verſuche nad Arrhenius und Helm-
polg gemaht war. Wir fiehen nun bei der
Quantentheorie Sdr der Frage:
Eriftenz folder kleinſter Wirkungsquanten auf
die bereits befannten atomiftifhen Verhältniſſe zu-
rüdführen, ober ftelt fie etwa felber die Grund-
tatſache vor, auf die umgefehrt alle Atomiftif über-
haupt fih gründet? ft das erftere der Fall, fo
müßte man verfuhen, ob man niht aus den bis-
ber befannten Geſetzen der Elektrizität zuſammen
mit der Tatſache der Exiſtenz des kleinſten La-
dungsquantums (der Cleftronenladung) die Not-
wendigleit des ,„Wirfungsquantums” ableiten
fann. Daß diefe beiden „Quanten“ fo einfach
nebeneinander gegeben fein follten, ift recht wenig
einleudhtend. Es könnte aber ja vielleicht auch um-
gelehrt fo fein, daß die Eleftrizität deshalb nur in
Elementarladungen vorfommt, weil die Wirkung
nur in Planckſchen Quanten eriftiert. Welche
Größe ift alfo die urfprünglichere? Solde Fragen
wird ein pofitiviftifher Phnfifer natürlih für dum-
mes Zeug erflären. Er wird ad majorem glo.
riam Machii behaupten, daß es ganz einerlei fei,
ob man e mit h, oder h mit e im Zufammenhang
bringe. Ich fann mid hier niht auf eine aug-
führlihe erfenntnistheoretifhe Auseinanderfeßung
darüber einlaflen, warum ein folder rein äußer-
_ Die ie Quantentheorie.
Läßt fih die
287
liher Formalismus — iſt. Der Leſer
wird hoffentlich von des Gedankens Bläſſe nicht
ſchon ſoweit angekränkelt fein, daß er den Unter-
ſchied nicht fühle. Läßt fih nun heute ſchon irgend
etwas darüber fagen, welche Auffaflung die grö-
Gere Wahrfcheinlichkeit für ſich Hat? Zunächſt, wir
haben den fraglihen Zufammenhang bis heute
überhaupt niht. Diele Phnfifer vermuten nur,
daß er da ift, weil es ihnen zu fonderbar erſcheint,
daß eine folhe Reihe von einander ganz unab-
hängiger Grundgrößen wie e, h, M (die Maffe des
MWaflerftofflerns), m die Maffe des Elektrons,
c = die Lichtgefhwindigfeit und dazu die Gravi-
tationsfonftante fo einfach neben einander daſtehen
follten. Das ift genau fo wenig einleuchtend, wie
es den Chemikern feit Mendelejeffs Entdedung des
periodifhen Syſtems jemals eingeleuchtet hat, daB
diefe rund 9O Elemente mit diefen merkwürdigen
inneren WBerwandtfchaftsbeziehungen nicht auf
irgend eine gemeinfame Grundlage zurüdgeben
follten. Dies legtere Problem baben wir ja nun
beute fo ziemlich gelöft (vgl. m. Auffag in U. W.
1921 Mr. 4). Uber eben die bei diefer Löſung
auftretenden wenigen Grundgrößen ftehen da nun
als brutale Tatſachen vor ung, und es ärgert ung,
dag wir nicht zwifchen ihnen auh noch ein ver-
bindendes Band aufgefunden haben. Ein inftinf.
tives Gefühl fagt uns, daß eine Welt, die fo ein-
fadh in ihren Grundlagen ift, daB man alles Ma-
terielle auf diefe geringe Zahl von einander unab-
bängiger Daten ſchon heute zurüdführen tann,
fiher wohl auh nod ein bischen einfacher, nämlich
fo eingerichtet fein wird, daß nur eine einzige ders
artige elementare Quantität wirklich ſchlechthin als
gegeben angenommen werden muß. Oder follte ſelbſt
das nicht nötig fein? Uns fchwindelt bei dem Ge-
danken, daß dann die ganze Phyſik und Chemie tat-
fühlih eine a priori Eonftruierbare Wiſſenſchaft
fein würde. Aber verfteigen wir ung deshalb vor-
läufig lieber nicht zu body, fondern bleiben bei un-
ferem ganz beftimmten Problem des Wirfungs-
quantums. Es fpridht in der Tat ein febr ſchwer⸗
wiegender Grund fhon heute dafür, daß dieſes
jelber die Grundgröße ift, auf die die anderen zu-
rüdzuführen wären. Diefer Grund entftlammt der
zweiten umfaflenden neueren phufifalifchen Theorie,
der Melativitätstheorie. In diefer fpielen befannt-
lid der Raum und die Zeit eine untrennbare ge-
meinfame Rolle, fie bilden nah Minkowsfi eine
Union, die man gewöhnlih einfah die ‚Welt‘
(Minkowskiwelt) nennt. Es ift die Welt der vier
Dimenfionen oder Koordinaten X, Y, Z, t (drei
räumliche und eine Zeitkoordinate). Nun fpielt
in der gewöhnlichen Phyſik befanntlih die Energie
die Role der weientlihften Grundgröße. Mit
einem gewiflen Redt baben Oſtwald u a.
285
Energetiter gelehrt, daß letztlich alles Energie fei.
(Sie hätte freilich diefe Ausſage auf die Welt ber
Phyſik befhränfen folen). Dap auh die Mafie
nichts als eine Art von „Energieknoten“, aljo An-
häufung von Energie in einem febr Feinen Raum,
ift, ift heute allgemein als febr wahrſcheinlich aud
von den Gegnern der Relativitätstheorie zugeftan-
den, in der diefer Sag zuerft Far ausgeſprochen
worden ift. Mach Einftein ift die Mafie eines
Körpers einfach fein Energieinhalt, dividiert durch
das Quadrat der Lichtgefhwindigfeit). Diefe Bor-
ftellung, daß es alfo eigentlih nur Energie gibt”,
die der Gefamtfumme nadh unveränderlid, bleibt, ift
aber nun dodh in der Mel. Th. nur eine einfeitige
Faſſung einer allgemeineren Wahrheit. Da bie
Zeit nur die eine der vier grundſätzlich gleichberedy-
tigten Koordinaten ift, fo ift der „Sag von der Er-
haltung der Energie‘ nur fozufagen eine zeitliche
Projektion (um das genauer darzulegen, müßte ich
wieder mathematifhe Formulierungen bringen).
Die eigentlihe Grundgröße in der Rel. Th. ift
nicht die Energie felber, fondern das Produft aus
der Energie und der Zeit, mit anderen Worten die
oben als Wirkung bezeichnete Größe. In der
Minkowskiwelt gibt es” alfo eigentlich nicht zuerft
Energie, fondern Wirkung, und erftere entfteht erft
aus diefer durch Divifion mit einer Zeitftrede. (Der
Kenner der mathematifhen Phyſik wird fib hier-
bei daran erinnern, daß aud ſchon in der Elaffifchen
Mechanik, in den fogenannten Minimumprinzipien,
eben diefe felbe Größe, das Zeitintegral der
Energie, die entfcheidende Rolle fpielt.) Sollte es
nun zufällig fein, daß gerade diefe Größe, die Wir-
fung, in dem Plandihen Quantum vorkommt?
Das ift fhmwer einzufehben. Man kommt vielmehr
ganz naturgemäß auf den Gedanken, daß es wohl
in der „Welt“ der Relativitätstheorie eben zunächſt
einmal diefes Quantum der Wirkung gibt, und daf
tie anderen elementaren Quanten dann davon ab-
zuleiten feien. Aber wie? Weift die Quanten-
lepre in ihrer gegenwärtigen Form ſchon aus diefem
allgemeinen Grunde über fih hinaus zu weiteren
grundſätzlichen Fragen, fo wird diefer Eindrud erft
recht gefteigert, wenn wir ibre fpezielle Ausgeftal-
tung in der oben fur; angedeuteten Bohrſchen
Theorie ins Auge fallen. Trog aller Erfolge der-
felben — wie groß fie find, das zeigt am beften
Sommerfelds klaſſiſches Werk über ‚„Atombau und
Spektrallinien“ — ift es jedem Einſichtigen Elar,
daß irgend etwas daran noch nit in Ordnung ift.
Es it und bleibt ein Fraffer Widerfpruh gegen
unfere ganzen fonftigen phyſikaliſchen Lehren, dan
das umlaufende Elektron auf der Duantenbabn
sicht ftrablen fol. Außerdem wird, wie ſchon er-
wähnt, nicht im mindelten begreiflich, wieſo durd
den „Sturz“ des Elektrons eine ‚Welle‘, d. b.
Die Quantentbeorie.
doch ein periodifher Vorgang, im Raume ausge-
Löfi werden fol. In Ermangelung eines befleren
bebelfen wir ung eben einftweilen bier mit einer
„Siktion‘‘, d. b. einer DVorftellung, von der wir
wiflen, daß fie mindeftens zu einem Teile falſch fein
muß. Aber auh außerhalb der Bohrſchen Atom-
theorie gibt die Duantenlehre ſchwere Rätſel auf.
Nehmen wir 5. B. den Iichtelektrifhen Effekt. Der
Austaufh von Energie zwifhen Feld und Materie
fol aud hier fo vor fih gehen, dag nur Vielfache
des Quantums h.n übergeben Eönnen. Nehmen
wir violettes Licht mit einer etwas Heineren Schwin-
gungszahl ale 800 Billionen pro Sekunde an, fo
beträgt hn rund 5 billionftel Erg. Das ift zwar
eine für uns febr Eleine Zahl, wir müflen aber be-
denken, daß die „Energiedichte“ in einer Lichtwelle
auch nur eine febr geringe ift. Ein foldes „Lidt.
quant’ nimmt dann immerhin fhon einen redt be-
trächtlihen Raum ein. Nun entfteht folgende
Frage: wo bleibt dann die bisher dodh überall fo
gut beftätigte Wellentheorie des Lichts, und wie
wollen wir den Zuſammenhang diefer mit den grö-
beren eleftrifhen Wellen, fchlieglih mit den ganz
langfam veränderlichen oder überhaupt Fonftanten
elektrifchen Feldern, mit anderen Worten mit der
Elektroſtatik, fefthalten, einen Zufammenhang, der
doch durch die ganze Entwidlung der Phyſik feit
Marwel unabweisbar aufgedrängt it? Aufer-
dem, felbft einmal über diefe Bedenken hinmegge-
fehen, wie fol ein fo ausgedehntes „Lichtquant“ es
anfangen, fih auf dag eine Elektron zu konzentrie⸗
ren, das dadurch ſchließlich Losgelöft wird. Die
Schwierigkeiten diefer Theorie find ſo unüberwind-
lich, dag wohl die Mehrzahl der Forſcher fih Pland
felber anfchließt, der den umgekehrten Weg gebt:
dag Quantum niht im Felde felber zu fuchen, fon:
dern eg erft beim Webergang in die Materie auf.
treten zu laffen. Das aber führt in andere faft
ebenfo fhlimme Sragen: wenn man diefe Vorftel-
fung annimmt, fo muß man offenbar den Ueber-
gang fo auffaflen, daf die aus dem Felde zunädft
ganz kontinuierlich einftrömende Energie fidh in dem
betreffenden Atom anbäufen läßt, bis der Betrag
hn erreicht it. In diefem Augenblick wird irgend
ein Zufammenbang im Inneren des Atoms losge-
löt, und das Elektron wird frei. Wie nun aber,
wenn der Lichtſtrahl unterbrohen wird, ebe die
Energie hn erreicht it? Wo bleibt dann die be-
reits in die Atome hineingegangene Energie? Wird
fie wieder ausgeftrablt? Mit welder Schwingunge-
zahl? And wer beforgt dag, da dod die Lichtaus-
fendung felber fonft nur quantenbaft vor fid) geben
ſoll? Solche und nod viele andere ähnlihe Sra-
gen drangen fid dem Phyſiker beute auf, aud
Mand bar fie in feinen Worträgen über bie
Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifche Umfhan.
Duantentheorie‘) ganz klar formuliert. Die Zu-
funft muß die Löſung derjelben bringen.
So viel ſcheint ſchon heute flar zu werden: wir
fommen im Gebiet der Atome wohl überhaupt nicht
mit denjenigen Gefegen aus, die wir aus Beobach⸗
tungen im größeren Gebiet abgeleitet haben. Die
Bohrſche Theorie benugt u. a. das fog. Coulombſche
Anziehungsgefes für eleftrifhe Ladungen, wonach
die Anziehung bezw. Abftoßung zweier Ladungen
dem Produft diefer Ladungen dirett und dem Qua-
drat ihrer Entfernung umgefehrt proportional ift.
Man fann füglich bezweifeln, ob dies Gefeg über-
haupt in diefen Fleinen Entfernungen und bei die-
fen auf fo Heinem Raum fonzentrierten im Ber-
hältnis dazu riefigen Ladungen noch gilt. Ebenſo
benust die Bohrſche Theorie die üblichen Formeln
für die Zentrifugalfraft. Stellt man fih auf den
Standpunkt der ‚allgemeinen Relativitätstheorie”,
fo ſtimmt auh das gar niht, weil in folder un-
mittelbaren Nachbarſchaft verhältnismäßig fo gro-
Ber Energiefnoten (Maflen, Ladungen) der Raum
ganz andere Krümmungsverhältniffe haben muß,
als der euflidifhe Raum der gewöhnlichen Medha-
nif. So wird wohl dag Ergebnis der fpäteren Ent-
widlung jedenfalls dag fein, daß die „makroſkopi⸗
ſchen“ Gefeße uns dann nur als Grenzfälle für
„verhältnismäßig große” Gebiete erſcheinen wer-
den, während die Elementargefeße ganz andere fein
werden. Es dürfte fi bier dann auf nod Hleine-
rem Gebiet dag wiederholen,, was in etwas größe-
rem Maßſtab die Wärmelehre zeigt. Hier find die
mafroffopifhen Gelege, 3. B. der Wärmeleitung,
der Diffufion, inneren Reibung ufw. zu erhalten
durh Summierung vieler Billionen einzelner, aber
ungeordneter Wirkungen der einzelnen Moleküle,
die fih gemäß den Gelesen der Mechanik bewegen.
Märmelehre ift weiter nichts als „ſtatiſtiſche Me-
hanit. Aehnlich dürfte in Zufunft die gewöhn-
1) Man vol. die Sammlung derfelben: „Phyſikaliſche
Rundblicke“, Leipzig, Hirzel 1922, insbefondere die beiden
legten Vorträge.
lihe Elektrizitätslchre als die Lehre von den Se-
famtwirkungen erſcheinen, die fih ergeben, wenn
zahlloſe einzelne atomiftifche, d. b. quantenhaft ein-
gerichtete Gebilde zuſammenwirken.
Vielleicht ift es erlaubt, einen noh weitergehen-
den Gedanken hier auszufprehen. Die eben ers
mwähnte Wärmelehre könnte man definieren als die
Lehre von den Gefegen der Unordnung. In der
Tat beruht ihr wichtigfter Sag, das fog. Entropie-
gcfeb, auf der Annahme der elementaren Unorbd-
nung der Molefularbewegungen. (Vgl. ‚‚Unfere
Melt” und die Brofhüre von W. C la ffen über
dag Entropiegefeg, Keplerbundverlag.) Die weit-
tragenden hieran gefnüpften Fosmologifchen Folge-
rungen haben bier ſchon oft eine Rolle gefpielt. Jm
geraden Gegenfas dazu ift das Planckſche Quanten-
prinzip offenbar ein Prinzip der Ordnung. Es fon-
dert aus allen möglihen Bahnen 3. B. im Bobr-
ſchen Modell diefe einzelnen ganz beftimmten Bah-
nen aus, es hindert überhaupt, daß im atomiftifchen
Gebiet irgend etwas dem Entropiefag ähnliches gel-
ten könnte. Sollte es nun vielleiht denkbar fein,
dag wir bier den Anfang zu dem lange vergeblich
aefuchten Faden in der Hand hätten, der uns aus
dem Labyrinth der unvermeidlihen Energieentwer-
tung wieder auf der anderen Seite herausführt?
Wäre es niht vielleicht möglich, daß bier auf die»
fem Gebiete des Allerfleinften die Gegenrehnung
aufgemacht würde für die dauernde unaufhaltjame
Verwandlung der Energie in nicht mehr nußbare
Formen im großen? Ein beftridender Gedanke!
Ich werde mih aber hüten, ihn als neue Lebre ;u
verfündigen. In der Wiſſenſchaft gilt nur das als
ernfthaft disfutierbar, was aud pofitiv fruchtbar
gemacht werden fann. Solche allgemeine Ideen
find gut und ſchön als Abfchlüffe gut durchgearbei⸗
teter Theorien. Wielleiht werden wir bald klarer
über alle die vorhin aufgeführten und noh zabi-
reihe andere hier nicht erörterte Fragen feben.
Dann erft wird es Zeit fein, der zulegt erwähnten
Trage wieder naher su treten.
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
a) Anorganiſche Naturwiſſenſchaften.
Eine neue, höchſt einfache Ableitung der Rot-
verichiebung der Spektrallinien hat Kr a LI (Lincei.
Rend. 30, 309; Phyſ. Ber. 18, 1187) gegeben.
Er betradtet ein Bohrfches Atom an der Sonnen-
oberflähe. Ein von diefem ausgeftrahltes L idt-
l h.? l
quant hat eine Maffe m = — Bringt man
es in die größere Entfernung T von der Sonne,
fo bat das emittierte Quantum die größere Energie
gefaßt werden.
\ x
gleih der alten mal 1 + ~o
xM. i ,
hra — T M die Sonnenmaffe, * die Gra-
sitationskonftante). Diefe Energie fann als Siht-
quantum mit vergrößerter Schwingungszahl ” auf-
Segt man m aus der erften Glei—
hung ein, fo ergibt fi die neue Schwingungszahl
und daraus die
—— x M.
Einfteinihe Verſchiebung mare
290
Die für die Trage nah der Eriftenz von Sub-
elektronen (vol. ‚„‚Unfere Welt” 1925, Heft 8) wich.
tige Ermittelung des genauen Fallgefeges für Kleine
Kugeln in einem widerftchenden Mittel bat M a t-
taud neu geprüft (Zeitfhrift für Phyſik 32, 439;
Phyſikaliſche Berichte 18, 1205). Es ergab fid
im wefentlichen eine ‘Beftätigung der Mefultate von
Millikan; als Mittelwert für das eleftrifche
Elementarquantum erhielt M. e = 4,758 . 10°"
ESE,. was gut mit Millifans Wert (4,772)
flimmt.
Mit einer gewöhnlichen fog. Glimmlampe
laßt fih der photoelektriſche Effekt (vgl. meinen Auf-
fag über die Duantenlehre, ‚‚Unfere Welt” Nr. 10,
©. 257) bequem demonftrieren. Die Entladung
fegt ein, wenn man eine etwas unterhalb der Zünd-
fpannung gelegene Spannung anlegt und dann be-
lichtet. Weitere Unterfuhungen über diefe Erfchei-
nung veröffentlihte Greina her (Phyſikaliſche
Zeitfhrift 26, 376; Phufilalifhe Berichte 18,
1231), wo Üntereffenten fie nadlefen mögen.
Brauchbare Schulverfudhe!)
Ueber den Mechanismus der gefchichteten Ent:
ladung madte E. Soldftein fürzlih neue Mit-
teilungen (Zeitfehrift für Phyſik 32, 190; Phyſi⸗
kaliſche Berichte 17, 1162). Er ftellte feft, daß die
die Schichten erzeugenden Elektronen nicht, wie
man manchmal angenommen hat, an der Glaswand,
fondern im Gas felber gebildet werden, daß fi
darin alfo ſchwach gekrümmte „Sastathopden”
bilden, welche die Elektronen in der Richtung auf
die Anode hin emittieren. _
Die in der Radiotelephonie fo vielfeitig verwen-
tete Elektronenröhre erweift ſich auch als höchſt
empfindliches Galvanometer (Röhrengalvanometer)
brauchbar. Neue Mitteilungen darüber geben
Jaeger md Scheffers in den wiſſenſchaft⸗
lichen Veröffentlichungen des Siemens - Konzerns
(4, 233; Phyſikaliſche Berichte 17, 1156). Bei
diefen Salvanometern fließt der zu meflende Strom
über einen im ©itterfreis liegenden großen Wider-
ftand und wird vergrößert im Anodenftrom gemeffen.
Vorausſetzung für das Gelingen ift vor allem tadel-
lofe folation des Gitters und fodann Verwendung
fehr niedriger Anodenfpannung (bis 7 Wolt mar.),
um Sonifation in der Röhre zu vermeiden. Durd
eine Nüdfopplung wird die Empfindlichkeit nod
weiter erhöht. Die Verfaſſer geben an, daß auf
diefe Weife noh Ströme bis zu 5 . 10-'* Amp. und
Spannungen bis zu 10° Volt meßbar gemacht
worden find. (Die Empfindlichkeit der feinften mag-
netifhen Galvanometer it im Höchſtfalle bisher
etwa auf 10- Amp. gebracht werden.) Diefe neue
Anordnung dürfte fih vor allem in der Strahlungs-
meſſung weitgehend einbürgern. |
Die Finetifhe Gastheorie definiert als Tempera:
aturwiſſenſchaftliche und _naturphilofophiihe Umſchau
tur bekanntlich die mittlere Bewegungsenergie der
in einem Gasraum enthaltenen Moleküle. Nun ift
tatſächlich in jedem ſolchen Raume außer den Mole⸗
külen auch elektromagnetiſche Strahlung vorhanden,
welche mit der Molekularenergie in fortwährendem
Austauſch ſteht gemäß dem Planckſchen Geſetz.
C. Wertheimer (Zeitfhrift für Phyſik 32,
596; Phyſikaliſche Berichte 18, 1235) zeigt num,
daß man finngemäß zur Definition der
Temperatur in dem betradteten Raume nicht
die Molekularenergie, fondern die Strap-
lungsenergie heranzuziehen hat. Bei Be
rücdfihtigung deffen ergibt fih dann aud eine De»
finition der Temperatur für den
freien Weltraum, die fonft feinen Sinn
haben würde, weil dort Feine Moleküle find.
Das viel erörterte Problem der Temperatur bes
Dampfes über Löfungen (die regelmäßig gegenüber
dem reinen löfungsmittel eine Erhöhung des Siede⸗
punftes zeigen) fcheint Möbius wefentlidh geför-
dert zu haben dadurdy, daß er den Dampf durd enge
PDapiermäntel nah dem Gegenftromprinzip ftrömen
ließ. Diefer Dampf zeigte dann tatfädhlid eine be-
deutend höhere Temperatur als der Siedepunft des
reinen Löfungsmittels war. Sie näherte fih bis
auf 4% dem Siedepunfte der Löfung. Damit dürfte
die alte Streitfrage, ob der Dampf die normale
oder die höhere Temperatur hat, endgültig zugunften
ber letzteren Feftftellung geklärt fein. (Phyſikaliſche
Berichte 18, 1240; Zeitfehrift für techniſche Phy-
fit 6, 58.)
Neue möglichft erafte Dichtebeflimmungen von
Sauerftoff haben Barter und Starfwen-
ther (Proc. Nat. Acad. Amer. 10, 479; Phyj.
Berichte 18, 1193) angeftellt. Diefelben find wid-
fig, weil auf Sauerftoff alle übrigen Gasdichten
und aud die Molefular- und Atomgewichte bezogen
werden. Es ergab fih im Mittel 1,42901 g pro
Liter. Für die bei vielen phufifalifhen und hemi-
ſchen Rechnungen benuste Konftante des „Mol:
volumens” ergibt fih danach 22 415 liter.
W. Kolhörfter þat die im Jahre 1923 bei
Meflungen der durchdringenden Strahlung auf dem
Jungfraujoch gefundene Periodizität
mit verbeflerten Inſtrumenten nadhgeprüft und die
früheren Ergebniffe beftätigt. Er ift febr bemer-
kenswert, daß die Marima diefer Strahlung dann
eintreten, wenn die Milchſtraße oder ihr De-
nachbarte Teile des Sternhimmels im Zenit ftehen.
(Berl. Ber. 1925, ©. 120; Phyſ. Ber. 17,
1162.)
Eine intereffante Studie über die Entflehung des
atmotpbärifhen Sauerftoffs hat Tammann in
der Zeitfehrift für phfifalifhe Chemie 110, 17 ff.
gegeben, worüber die Naturwiſſenſchaften (Nr. 36)
eingehend berichten. Nah T. ift die Hypotheſe De-
rechtigt, daß der freie Sauerftoff der Atmoſphäre
erft ſpäter nah Bildung einer feften Silikatkruſte
entitanden ift und zwar durd Diffoziation dee Waſ—
fers. Diefe beträgt bei 1500 Grad und 100 Atm.
Drud 0,00004, d. b. fo viel von dem Wafer-
(dampf) ift unter diefen Bedingungen in die Ele-
mente geſpalten. Ebenſo groß ift aber auh unge-
fähr das tatfächliche Verhältnis des atmofphärifchen
Sauerftoffs zum Geſamtquantum des Meer-
waffers. Es fragt fih nur noh, wo der zugehörige
Waflerftoff geblieben ift und wie jener große Drud
zuftande gefommen ift. Der Waflerftoff it das
einzige aller Gafe, das wegen genügend großer
Molefulargefhwindigfeit in nennenswertem Betrag
die Atmofphäre verlaffen fann. Hierzu ift näm-
lih eine Molefulargefehwindigfeit von mehr ala
11 km/sec notwendig, die bei den in Betracht
Eommenden Temperaturen von reichlih 1000° nur
der Waſſerſtoff mit einem merflihen Bruchteil
feiner Molefüle erreiht. Der gewaltige Drud
von 100 — 150 Atm. andererfeits ift dadurd zu er-
tlären, daß bei jenen hoben Temperaturen das
Wafler, das jest in den Meeren ruht, die Erde ala
Dampfmantel umgab. Tammann berechnet, daß
5 ein Drud von etwa 150 Atm. zuftande kommen
onnte. i
c) Naturphiloſophie und Weltanſchauung.
Jn der Septembernummer der Moniſtiſchen
Monatshefte findet fih wiederum ein redt
intereflanter Bericht des Biologen P. Ramme-
rer über feine Eindrüde in Amerila, und ingbe-
fondere über die Derhältniffe, welche zu dem be-
rühmten Affenprozeß geführt haben. Natürlich ift
der ganze Artikel im gehäffigftem Tone gegen die
„Frömmler“, „Rückſchrittler“ ufw. gehalten, denn
Kammerer ift einer der rabinteften Moniften, einer
ber ganz wenigen Afademifer, die noh an führen-
der Stelle im DMB ftehen, nicht nur Freidenker
von größter Waſchechtheit, fondern auch mit dem
ſozialiſtiſch pazififtifichen Kurfe des DMB von gan-
zer Seele einverftanden. Das braucht uns aber
nicht zu hindern, aus feinem Bericht dasjenige her-
auszufudhen, was aud uns intereifiert. Zunächſt
Thon das gleih am Anfang ftehende Bekenntnis,
daß Kammerer’s „Begeiſterung für die fortfchritt-
lihe Atmofphäre, die ihn beim erften Betreten
amerifanifhen Bodens gegrüßt habe, bald durd
unaußbleiblihe Enttäufhungen ernüchtert“ wurde.
„Als fei es an der Affenfchande von Dayton nicht
genug, erließ der Rektor der Harvard-Univerfität
in Boſton ein Werbot, das womöglich nod
ihlimmer ift, weil es nicht aus religiöfer,
fendern aus miflenfchaftlihder Unduldfamfeit er-
fließt: Einſteins Melativitätstheorie wurde als
„Irrlehre“ gebrandmarft und, weil nicht hochſchul⸗
fähig, aus der Alma Mater relegiert.” Kammerer
Maturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umfhau.
201
führt ſofort hinterher einen Fall an, wo auf einer
deutſchen Univerſität ein Profeſſor einem jungen
Privatdozenten bedeutet habe, er dürfe feine zahl-
reichen günftigen Erfahrungen mit der Steinad-
ſchen DVerjüngungsoperation nicht veröffentlichen,
weil dann feine afademifche Karriere zu Ende fein
werde, (?) und fügt die Frage hinzu, was beffer fet:
den Skandal wie in Amerika auszupofaunen oder
ihn insgebeim zu begehen. Im weiteren führt
dann Kammerer eine Reihe bedeutender amerita-
nifher Forſcher an, die ſich unzmweideutig für die
Entwicklungslehre (Kammerer fagt: Affenabftam-
mung des Menſchen) ausgefproden haben, darunter
auch den berühmten Pflanzenzühter Luther
Burbanf, von dem er einen Ausiprud über
Bryan (den Führer der Fundamentaliften) anführt: -
„Er (Bryan) ift mein verehrter Freund, aber das
braucht mih nicht blind dagegen zu maden, dag
Mutter Natur ihm mit einem Schädel von äußert
primitivem Typus bedacht bat. Er nähert fih in
den Umriffen auffällig dem des Neandertalers“.
Nachdem er dann den Verlauf des Prozefles im
allgemeinen gefhildert und Fritifiert bat, Fommt er
zu dem Sage: „In unnahbarer Höhe Hält der
Mammonismus feine ſchützende Hand über dem
Ganzen: für ihn ift es immer ein Profit, wenn das
Wolf dumm bleibt oder verbummt wird... . . nidhte
fann amerifanifcher fein, als die Form in der
Bryan das ausdrüdt: Die Hand, die Sheds un-
terfchreibt, hat dag Redt zu beftimmen, was in
den Schulen gelehrt werden fol”. Er meint dann
weiter, daß diesmal der Kapitalismus fih aller-
dings verrechnet habe, denn in Wirklichfeit habe
der Prozeß eine großartige Reklame für die Ent-
wiclungslehre bedeutet. Es hätten hunderttaufende
auf diefe Weife etwas von ihr gehört, die fonft nie
dazu gelommen wären. Die Hauptſache iſt
ihmaber, daß auf die amerikaniſche
Maniereszueinemoffenen Brud:
zwiſchen Wiſſenſchaftund Religion
beziehungsweiſe Kirche komme und
das iſt Kammerer ſehr ſympathiſch. Er ſchildert,
wie in Deutſchland die Kirche „Schritt für Schritt
klein beigegeben“ habe, wie man auch in Amerika
das verſuche, wie es jedoch in Dayton bei der un—
erbittlichen Alternative: Gott oder Gorilla ge-
blieben fei. „Vergeblich raten Beſchwichtigungs—
bofräte zur Mebereinfunft. Sie find die Klügeren,
und wir dürfen ung freuen (sic!), daß ihre Stim-
men ungehört verhalen”. Ob folde offenbare
Seelenverwandtfhaft mit einem ausgemachten
Teinde aller Religion und Kirche diejenigen bei uns
nicht ftugig macht, die mit den amerifanifhen un-
damentaliften fnmpatbifieren? Man fpürt aus
Kanımerers Worten ordentlih die Freude heraus:
Blamiert euch nur, fo weit es irgend geht, je toller
292
defto lieber, denn defto mehr werden wir (die mo-
nıftifchen Freidenfer) davon profitieren. Natürlich
verquickt Kammerer aud dieg mit politifchen Ideen.
Er schließt fih vorbehaltlos den unerhörten An-
griffe: an, welde Langkavel, Goldfcheid u. a. in
den Moniftifhen Monatsheften vor kurzem gegen
dic deutfhe Wiſſenſchaft gerichtet haben, wonach
unfere ganze Wiflenfhaft nichts als eine Brut-
ftätte der Reaktion“ und „oft ſchlimmer fei als
felbft die Kirche‘, und es ift für ihm felbftverftänd-
lih, daß „Kirche und beamtete Hochſchulwiſſenſchaft
für die Intereſſen des Finanzkapitals Schulter an
Schulter kämpfen‘. „Das tun fie aber nicht der
Sache zuliebe, fondern weil bie Beamten ber
Wiſſenſchaft aud leben wollen”. Deutſche Wiſſen⸗
ihaftler, hört hr das? Das fagt einer, der auf
deutfchen, beziehungsweiſe deutfch - üfterreichifchen
Univerfitäten ftudiert und feine erften Forfcher-
iporen verdient bat! Und dag glauben ihm die
= Scharen proletarifher Freidenfer, die aus diefen
moniftifchen Blättern mit geiftiger Koft verforgt
werden. Schade, daß es Fein geſetzliches Mittel
gibt, folhe Beleidigungen eines ganzen Standes,
denen aud die geringfte Unterlage fehlt, gebührend
zu ahnden. Es bleibt nichts anderes übrig, als fie
niedriger zu hängen.
Mande Zeitungen und Zeitfehriften haben von
dem in Mr. 6 ausgeführten Vorſchlag einer Na-
mensänderung unferes Bundes Notiz genommen,
die einen zuftimmend, die anderen warnend oder
ablehnend. Auf die einzelnen und die Frage felbft
einzugehen ift hier nicht der Ort. Aber nicht vor⸗
übergehen fann ih an e i n e r Aeußerung, das ift die
des bereits fattfam befannten Dr. Süßen-
auth, Herausgebers von Natur und Kultur”.
Er fhreibt (Septembernummer, S. 475): „Es ift
zu fürdten, daf die Popularität des Leibniz-Bun-
des eine wefentlic geringere fein wird alg die des
Keplerbundes. Denn dem Herzen des Fleineren
Mannes fteht der große Leibniz reichlich ferne. Er
könnte hödftens der hohen Wiſſenſchaft gegenüber
als vertrauenerwedendes Aushängefchild dienen,
worauf es dem Leiter des Keplerbundes, Dr. Ba-
sine befonders anzufommen heint. Aber der
jestnodh regierenden Wiffenf haft
su liebedienern, dürfte für die Zu-
Eunft faum 5zwedmäßig fein. Die
neue Zeitwirddiefogenannte Bor-
ausfesungslofen (das Deckmäntel—
den für Materialismus) von ihren
Tehrftühblen entfernen (Don mir ge
\perrt. BF.)
Angriffe diefer Art find mir nicht neu, fie küm—
mern midh aud) weiter nicht. Es gibt palt Leute,
tenen es nicht möglich ift, nad) der Wahrheit ohne
Parteibrille auszufchauen und die deshalb aud nicht
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
begreifen können, daß es ſo etwas bei anderen gibt.
Wenn ich bei vielen Gelegenheiten offen ausge-
ſprochen babe, dat in manchen Punften in den be-
kannten Streitfragen die Wiflenfchaft durchaus im
Recht geweien ift, und dag die Religion alle Ur-
fahe bat, fi ernftlih darauf zu befinnen, wo fie
ihre Grenzen vielleicht in gutem Glauben über-
ſchritten hat, fo ift das natürlich für ſolche Herren,
denen das abfolut niht paßt, nicht anders zu ver-
ftehben, denn als „Liebedienerei“ gegen die Wiffen-
fhaft, um ihr „Vertrauen zu ermeden”. Man
fann, um zum „Herzen des Pleineren Mannes” zu
ſprechen, gar niht maſſiv genug werben, und es
fommt dabei auh durchaus nicht fo genau auf bie
genügende Subftanzierung der gemachten DBermu-
tungen über die Motive des anderen an, wenn diefe
nur möglichft fchlechte find. Mein Verhalten ge-
gen ſolche Inſinuationen zu verteidigen, fällt mir
deshalb garnicht ein. Aber ich wollte fie dod hier
wenigftens zur Kenntnis geben, und dann ganz
befonders die Aufmerffamfeit un-
ferer leferaufdenlegten Sag len-
fen. „Die neue Zeit wird die Dorausfeßungs-
lofen von ihren Lehrſtühlen entfernen”. Das
MWörthen ibre” darin ift fo hübſch doppeldeutig.
Es Fann heißen: die Tehrftühle der neuen zeit, es
fann aud heißen: die Lehrftühle der „Voraus—
fegungslofen” (liegs: der heutigen Profefloren).
Vermutlich werden die Freunde des Herrn Dr.
Süßenguth in Bayern uns baldmöglichft vorzu⸗
führen verfuchen, wie dag gemeint it. Dann wird
es bald aud bei uns fo weit fein, wie in Amerifa.
Hoffentlih werden unfere Gelehrten und die ge-
famte Intelligenz dann nicht zum zweiten Male den
Fehler begehen zu glauben, daß dodh der Bund mi
dem Unglauben die befte Garantie für die wiffen-
ſchaftliche Freiheit fei, fondernfih larma-
hen, daß die Reaftion tets die Er-
bindes Unglaubens ift. Die Sade der
gefunden Vernunft fteht fih immer am fchlechteften
dabei, wenn die Ertreme das große Wort führen.
Das hat Kammerer (fiehe oben) auh ganz richtig
herausgefühlt, daher feine Freude über den offe-
nen Bruh” in Amerifa. Die Wiſſenſchaft und
ihre Freiheit gedeihen — das lehren ung diefe bei-
den typiſchen Dertreter der äußerften Flügel —
am beften dabei, wenn ein echter Glaube herridht,
der fidh feines eigenen Weſens flar bewußt ift und
ih eben deshalb hütet, Gott ins
Handwerk zu pfuſchen. Unglaube und
Aberglaube Zügelloſigkeit und Nichts als Bevor-
mundung ſind gleichermaßen der echten Wiſſenſchaft
abträglich. Wer von uns iſt ſo dumm zu glauben,
daß der ſozialiſtiſche Staat, wenn er die Alleinherr⸗
ſchaft einmal wirklich hätte, etwaigen Vertretern
anderer wirtſchaftlicher oder ſozialer Theorien bie
Lehrfreiheit auf den LUniverfitäten gönnen würde,
die feine eigenen Theoretiker zu Zeiten des Alten
Regiments” bis auf wenige Ausnahmefälle ge-
noflen haben? Sa, wer bildet fih ein, man würde
auh nur gegebenenfalls ſolche Ketzer, wie eg vor-
dem geſchah, einfach relegieren, ihnen aber ruhig
geftatten, in Broſchüren, Zeitſchriften und Zei-
tungen einem noch größeren Kreife, als fie es auf
einem akademiſchen Tehrftuhl Könnten, ihre Mei-
nungen vorzutragen. Bor die Ifchefa mit folden
MReaktionären! Und Herr Kammerer würde der
erfte fein, der in folhem Falle einem DBertreter der
„Lehrfreiheit“ fagen würde: Ja, Bauer, das ift ganz
was anderes. Es fommt einem bei ſolchen Anläffen
erfhütternd zum Bewußtſein, wie tief die beiden
Abgründe find, zwifchen denen das deutſche Wolf
auf Ihmalem Grate hinwandern muß auf dem
Wege zur Höhe. Gott gebe, daß wir weder zur
Rechten nod zur Linfen abftürzen!
d) Verſchiedenes.
Jn der Detmolder Ortsgruppe des Keplerbundes
ſprach am 17. Oktober der befannte ‘Begründer
der „Heimatlehre“, der Freiburger Zoologe Pro-
feffor Dr. Konrad Guenther, über das Thema
„Der tropifche Urwald und der deutſche Wald’ —
mit dem Untertitel „Durch Heimatnatur zu deut-
fher Art —. Die Ausführungen des Bor-
tragenden wurden eingeleitet durd den Hinweis
auf die Abhängigkeit der Seelenart eines Volkes
von der Natur feiner Heimat. Anders ift die
Empfindungsweife eines Volkes der Steppe als
die einer meerbefahrenden Nation und wieder an-
ders ift fie bei den ‘Bewohnern des Gebirges.
Unter den Maturfaftoren, welde die Seele un-
feres Bolles geftaltet haben, nimmt nun ohne
Zweifel der Wald eine überragende Stellung ein.
Darauf weift fhon die Vorliebe unferer Sagen
und Märden für ihn als den Schauplatz ihrer
Handlungen. Man denfe als ‘Beifpiel nur an die
Siegfriedfage und an ihre Wiederbelebung durd)
Ridhard Wagner, in der ja gerade das Wald-
weben” die Grundftimmung angibt. Wie der
Mortragende die Verflochtenheit unferer fonftigen
deutfhen Kunft mit dem Wald darzuftellen wußte,
fann bier nicht wiederholt werden; erwähnt feien
nur nod die Namen: Stifter und Storm, Schwind
und Böcklin. Ja felbft in unferem religiöfen
Empfinden laffen fih urfprünglide Beziehungen
zum Wald nacdmeifen, haben doh unfere Bor-
fahren nah dem DBeriht von Tacitus ihre Götter
nicht in Tempeln, fondern in heiligen Hainen ver-
ehrt und wurden doh aud fpäter noh die Kirchen
febr oft mitten im Walde errichtet. So liegt eine
gar tiefe Erkenntnis über die deutfche Wefensart
in dem Worte Arndts: „Dem deutfhen Manne
dürfen niemals Bäume fehlen”.
___Waturwiffenfhaftlihe und naturphilofophifhe Umfhau. .
293
Die heutige nduftrienlifierung und Medani-
fierung unferes Dafeins hat unferem Volke frei-
lich viel von diefer urfprüngliden Verbundenheit
feiner Seele mit dem Wald geraubt. Gar vielen
gilt das Heimifche nichts mehr, ſodaß fie fehnfüchtig
nadh dem Fremden Ausfchau halten. Da ift es
denn wohl angebradıt, einen Vergleich anzuftellen
zwiſchen dem tropifchen Urwald und dem deutſchen
Wald, nit in der Abfiht, nur das Schöne an
diefem gelten zu laffen, fondern vielmehr um zu
erkennen, daß zulegt doh die Schönheit unferes
Waldes am meiften unferer Empfindungsweife ent-
ſpricht. Man kann nit fagen, daß der heimiſche
Wald an fi ſchöner fei als der tropifche, aber
fiher ift, daß deffen Schönheit uns fremd ift und
uns deshalb auh nicht fo bis ing Innere ergreift.
Vor allem fehlt dem tropifchen Urwald das ge-
beimnisvolle Dammerlicht unferer heimifchen Wäl—
der. In ihm fallen die Tichtftrahlen infolge der
relativen Seltenheit der Blätter und ihrer be-
fonderen Stellung an den Aeften mit unverminder-
ter Helligkeit faft überall bis auf den Boden, ftatt
wie bei uns dur die faftigen Blätter hindurd-
zufcheinen.. Gewig ift die Mannigfaltigkeit des
tropifhen Waldes an Pflanzenarten fehr viel grö-
Ber als die des heimifchen, finden fih dodh in ihm
einige Tauſend verſchiedener Baumarten gegen nur
36 bei ung und etwa 2000 holzbildende Soling-
gewächſe gegen die drei, welche wir befißen, Efeu,
Geißblatt und Waldrebe. Allein für diefen Reih-
tum an verfchiedenartigen Gewächſen befist unfer
Wald wieder einen Ausgleih in der Fülle der Er-
fheinungsformen, welde ihm durh den Wechſel
der Jahreszeiten verliehen wird. Dabei ift ee
wohl niht zu bezweifeln, daß ein weit ftärferer
Anreiz zum feelifhen Miterleben der Natur dann
für uns vorhanden ift, wenn ung die befannten
Arten in dem fchidfalshaften Wechſel der jahres-
zeitlihen Aenderungen entgegentreten, als wenn
wir immer wieder nur auf neue, unbefannte Arten
ftoßen.
Diefe Ausführungen des Wortragenden wurden
durch Lichtbilder veranſchaulicht, welde zum größten
Zeil von ihm felbft auf längeren Reifen in den
Tropen aufgenommen worden find. Darauf ging
Prof. Guenther zu den Folgerungen über, welde
wir aus ben dargelegten Einfihten zu ziehen baben.
Wenn wir heute fo fehr die Entwurzelung unferes
Volkslebens bedauern und verfuchen ihr die frühere
Bodenftändigfeit zurüczugeben, fo müffen wir vor
allem diefe feine innere Abhängigkeit vom Wald
und darüber hinaus von der ganzen Natur berüd-
fihtigen. Kein Weg erfcheint ausſichtsreicher, un-
ferem Volk wieder innere Ruhe, Feftigfeit und Ge-
meinfchaftsempfinden zu geben wie die Stärfung
feines Gefühles für die Eigenart der Heimatnatur.
EI Be —
Neue Literatur.
Durch bloße Belehrung über die Einzelheiten der—
ſelben kann dies freilich nicht erreicht werden, ſo
wichtig aus ſolche Unterweiſung iſt. Man muß
ſelbſt die Natur mit Gefühl betrachten, um in An-
deren Gefühl für fie zu erweden. Ja der Verfaffer
machte fogar der früheren Naturwiſſenſchaft einen
gewiffen Vorwurf daraus, daß fie zu ausschließlich
mit dem DVerftand der Natur gegenübergetreten ift;
gewiß eine bemerfenswerte Aeußerung für einen
führenden Maturforfher der Gegenwart. Diefe
Einftellung des Gefühle in die Maturforfhung
fann freilich nicht bejagen, daß fie ihre Behaup—
tungen von nun an ftatt auf allgemeingültige Be-
weife auf perfönlihe Vorurteile begründen fol, fie
will vielmehr nur hinweifen auf die Notwendigkeit,
dag Einzelne in der Natur immer innerhalb ihres
Ganzen zu ſehen. Damit werden wir dann zwar
auch nicht zu einer Auflöfung aller Fragen in einer
reftlofen Harmonie gelangen, vielmehr wird uns
viel unbegreiflicheg Leid der Geſchöpfe überall ent-
gegentreten. Aber gerade das Miterleben diefes
Leides wird uns am leichteften dazu führen, uns
jelbft dem Ganzen zu unterftellen, deffen Ziele über
den Einzelnen hinausgehen müffen, aber damit doch
aud erft feinem Dafein Sinn und Wert verleihen.
ER 5 A
Richard Müller-Freienfels, Grundzüge einer
Lebenspfuchologie. Band I: Das Gefühle: und Wilens-
leben. Leipzig 1924. Verlag von Johann Ambrofius
Varth. (X und 404 Seiten.) — Die beiden piyhifhen
Grimdtatfahen der Einheit und der Enge des Bewußtſeins
haben zur Folge, daß im menfhlihen Geifte die Welt fih
als ein aus disfreten Teilen beftehbendes Ganzes darftellt:
aus der Einheit des Bewußtſeins ergibt fih mit imma-
nenter Motmwendigkeit die DBorftellung der Welt als eines
Ganzen, die Enge des Bewußtſeins nötige dazu, das Welt-
ganze als aus Teilen zuſammengeſetzt fib vorzuftellen. Jeder
einzelne diefer Teile fann nun auf Grund der angeführten
frufturellen Eigenart der menſchlichen Pſyche auh feiner-
feits je nah Bedarf oder Standpunft entweder als Konti-
nuum oder als Kompofitum, als einheitlihes oder als
mofaifartig zufammengefeßtes Gebilde gedaht werden. AM-
gemein ift zu fagen, daf gegenüber allem, was Gegenftand
menfhliher Erfahrung oder Erkenntnis zu werden vermag,
die angedeutete doppelte inftellungsmöglichkeit befteht.
Hieraus erwähft das Problem des zwifhen dem Ganzen
und den Teilen obwaltenden Verhältniſſes, und zwar find
nun angefihts diefes Problems insgefamt vier verſchiedene
Standpunkte denkbar. Ich nenne zunähft den naiv reali-
ftifhen Standpunft des fogenannten gefunden Menihen-
verftandes, der ohne weitere Meflerion beides, das Ganze
und die Teile, einfah als Realität hinnimmt. Freilich
zeigt fidh dann bei einer tieferen Unterfuhung alsbald, daf
diefer naive Standpunkt in Schwierigfeiten und Wider-
ſprüche verwidelt, daß fidh ſchlechterdings nicht einfeben läßt,
wie ein als Realität vorausgefegtes Kontinuum aus gleidh-
falle realen Teilen zufammengefeßt fein foll oder wie man
durh Summierung bdisfreter Elemente zu einem realen
Ganzen gelangen will. Dem ſoeben Eritifierten Stand-
punkte verwandt ift der des ffeptiziitiichen Pofitivismus,
der die erwähnten Schwierigkeiten zugibt und daher ſowohl
den Begriff des Ganzen wie den der Teile für biologiie
bedingte Fiktionen erflärt, zugleih aber behauptet, daß eben
vermöge der Struftur der menfhliben Pſyche unfer Den
fen niemals imftande fein Fönne, den Boden derartiger
Fiftionen zu verlaffen. Der Mangel diefes Standpunftes
ift, daß er weder das erfenntnistheoretiibe noh vor allem
das metaphufiihe Bedürfnis befriedigt. nfolgedeffen bat
man immer wieder verſucht, dadurd zum Ziele zu fommen,
daß man entweder den Begriff des Ganzen oder den der
Teile als Illuſion binftellte und nun je nachdem bald die
Vorftellung eines Ganzen aus den Teilen bald die Wor-
ftellung von Teilen aus dem Ganzen berleitete: fo entfteben
die wiflenfhaftlihen Methoden der Induktion und der De-
duftion bezw. die beiden weltanfhauungsmäßigen Stand:
punkte des atomiftifhen Materialismus und des telenlogi-
ihen Idealismus. Nachdem namentlih in den eraften
Wiffenfhaften lange Zeit hindurch — und zwar innerbalb
gewiffer Grenzen zweifellos mit bedeutendem Erfolge —
einfeitig die induftive Methode als allein zuläffig Eultivierr
worden ift, mehren fib im Zufammenbange mit der Re-
naiffance eindringender philofophifher Beſtrebungen neuer-
dings wieder die Stimmen derer, die die Hobe Bedeutung
auh des deduktiven Verfahrens als eines fruchtbaren For-
ihungspringips energija betonen, die fogar davon überzeugt
find, daß man, wenn aud nicht zu einer adäquaten Erfennt-
nis, fo doch zu einem Fongenialen Werftändnis der Er-
iheinungswelt nur dann vorzudringen hoffen darf, wenn
man fid) bemüht, von der dee des Ganzen aus die Feil-
phänomene zu begreifen. Soweit es fih dabei um Wor-
gänge im DBereihe der Organismen handelt, pflegt man
diefe Betrachtungsweiſe als Vitalismus zu bezeihnen. Aud
in der Pſychologie it es durd Jahrzehnte Mode geweſen,
ſich ausfhließlih der induftiven Methode zu bedienen; bie
Aſſoziationspſychologie meinte, felbft die Fompligierteften
jeelifhen Prozeſſe aus Empfindungsaflogiationen berleiten,
gewiffermaßen als chemiſche Verbindungen pinhiiher Ete-
mente erklären zu Fönnen. Don einem Weranfertiein des
Ichs in legten metapbufiihen Tiefen war Feine Mede, die
Perfönlihfeit wurde im Sinne des Naturalismus zu einem
Produfte des Milieus degradiert, der Begriff der Seele
als einer aktiv funktionierenden Ganzheit fhien endgültia
abgetan. Im Gegenfage Hierzu vertritt nun Müller-Sreien-
felg in feiner „Lebenspſychologie“, deren erfter Band uns
vorliegt, höchſt temperamentvoll und mit gewicdtigen Grün
den den vitaliftiihen oder ganzbeitliben Standvumft Die
Seele als ein finnvolles, fpontan wirfendes Ganzes fommi
bei ibm wieder zu ibrem Rechte: die durd) äußere Reize
bedingten Empfindungen oder Vorftellungen rufen niemals
zwangsläufig ein für allemal feitftiehende Gefühle und
Willensregungen hervor, vielmehr können fie auf das Ge-
fühle. und Willensleben nur auslöfend einwirfen, und war
Neue Literatur. 295
ganz verſchieden je nad der Dispofition, je nad ber trieb-
baften Einſtellung des Geſamtichs; fo fann die DVorftellnng
derfelben Speiſe bald ein Luftgefühl und Begehren, bald
Ekel und Ablehnung auslöfen. Immer ift es die Gany-
heit der Seele, die darüber entfheidet, in welchem Sinne
das Fühlen und Wollen durd eine gegebene Vorſtellung
affigiert wird. Im übrigen ift der Autor ernſtlich beftrebt
geweien, Einfeitigfeiten zu vermeiden, und bekennt felbft,
der Affoziationspfuchologie mandhe wertvolle Anregung zu
verdanken, nur macht er mit Recht geltend, dag für ein
wirflihes Werftändnis des Geelenlebens wenig gewonnen
it, wenn man irgendeinen einzelnen Bewußtſeinsinhalt aus
dem Zufammenhange der Gefamtpiuche herausreift und nad
finftlih vorgenommener folierung erperimentell unterfudt.
An einer Stelle freilih huldigt Müller-Sreienfels felbft der
jont von ihm fo ſchneidig befämpften naturaliftifhen An-
betung des Milieus, wenn er nämlich fagt: „So ift Platos
Abfolutismus nicht wirklich abfolut, fondern durchaus ein
Produft des Hellenentums feiner Epoche, fo ift der Katholi-
jismus nicht wirflih kat⸗holiſch, d. b. für alle gültig, fon-
bern ein Produkt ſpätrömiſcher, italienifher und — fpa-
nifher Eigenart; fo ift die Moral Kants niht aus abio-
Intee Moral gewonnen, fondern ift die kritiziſtiſch aufge-
puste Moral der preußifhen Provinz in der fpäteren Auf-
klärungszeit“ (&. 333). Gerade bie angeführten Beifpiele
aber zeigen befonders deutlih, daf es große Perfönlichfeiten
und geiftige Bewegungen gibt, die ſchlechterdings nicht aus
dem Milieu beraus erflärt werden können, weil durd fie
tieffte Menihbeitsprobleme in einer Weile gelöft worden
find, die zwar vieleiht nicht auf abfolute Geltung Anſpruch
erheben darf, aber in ihren Wirkungen doh weit über die
Schranken einer beftimmten Zeit und einer beftimmten
Nation hinausreicht. Doc fol durd diefe kritiſche An-
merfung der Wert des höchſt Iefenswerten und anregenden
Budes, das Müller-Freienfels uns geſchenkt hat, niht in
Frage geftellt werden. Dr. Schilling Lage.
Charles Baudouin, Suggeſtion und Auto:
— (Dresden, Sibyllenverlag 1924, broſch. 6 A,
16 ©.)
Baudouin, Philofophieprofeffor in Genf, ift neben dem
Praftifer Coné der große Theoretifer der fuggeftiven Heil-
methode, die zur Zeit genau fo wie die (allein genommen,
ebenfo einfeitige) Pſychoanalyſe Freuds im Mittelpunfte
der Aufmerkfamkeit. Auf Grund ber Erfahrungen der
„Neuen Schule von Nancy‘ bat er eine umfaflende Unter-
ſuchung der Suggeſtion vorgenommen. Er unterfdieb
dabei zwei Stufen: I. Eine vom Suggerierenden gleihjam
vorgelegte oder aufgelegte dee wird vom Geifte des zu
Beeinfluffenden angenommen. 2. Diele bee wird Tat,
d. b. das Vorgeſtellte — fei eg eine Halluzination oder
ein Heilungsprogeß — wird verwirfliht. Das Weſent⸗
lihfte ift die zweite Stufe, alfo die Umwandlung ber dee
in eine Tat. In der Fremdfuggeftion fieht B. alfo nur
einen befonderen Fall der Suggeftion, die Selbftfuggeftion
(„Autofuggeftion”) ift der eigentlihe Grundtyp. Kurz
definiert B.: Suggeſtion ift die unbewußte Verwirklichung
einer bee, — beruhend auf dem Gefeg, daß jede “Idee
nah Verwirklichung ftrebt. Er zeigt nun im einzelnen,
wie die Suggeftion als Kraft, mit der man fig felbft
behandelt, Heilzweden dienfibar gemacht werben Fann.
Ribots Scheidung der Aufmerffamfeit in unwillfürliche
und beabfihtigte liefert ibm den Eimteilungsgrund der
Euggeftion in drei Arten: die unmwillfürlihe Suggeſtion
(Safzination und Beſeſſenheit - Safzination gefteigerter Art),
die beabſichtigte Suggeftion (beides Autofuggeftion) und die
von einem Fremden hbervorgerufene Euggeftion (Hetero.
fugggeftion”’).
An Hand von zahlreihen Beiſpielen von Suggeſtionen
aus dem Bereiche des MWorftellens, Fühlens und Handelns
erhalten wir ein padendes Bild von der Macht der Sugge⸗
ftion und der Möglichkeit, dur fie unfer Leben zu beein-
fluffen. Das wichtige Gefek, das dabei berüdfihtigt werden
muß, beißt (nad Eone): „Wenn Wille und Einbildungs-
fraft miteinander ringen, behält die Einbildungstraft die
Oberhand und zwar ausnahmslas oder no fhärfer: „Im
Widerſtreit zwifhen Willen und Einbildungskraft ift bie
Kraft der Cinbildungskraft gerade proportional bem
Quadrat der Willensftärke.” Suggeſtion wird alfo umfo
fruhtbarer, mit je geringerer Anftrengung fie verbunden
ift. — Seiner Theorie getreu, fieht B. in der Hppnofe in
leßter Linie nur eine Autofuggeftion. Man nimmt nad ihm
nur an, was einem gemäß ift, wird alfo zur willenlofen
Puppe in der Hand des Hppnotifeurs nur, wenn man fi
einbildet, daß alles fo kommen muß; — nicht aber, daß dabei
der Wille des Hppnotifierten im Spiele fei; die Auto-
fuggeftion entipringt vielmehr, wie oben bargetan, einer
unwillkürliche Einbildung Er ftügt feine Lepre
duch die Tatſache (fie it wirklich in biefer Allgemein-
giltigfeit feftgeftelle?): „Wenn man 5. B. als poftbypnoti-
Ihe Suggeftion einem anftändigen Menſchen eine böfe
Handlung aufträgt, fo wird ihm zur beftimmten Zeit wohl
diefe Handlung einfallen, aber er wird den Einfall ver-
mutlich mühelos abſchütteln, wie er aud fonft üble Gedanken
abtut, die ihm durch den Kopf gehen.” N.
Cari Ludwig Shleih, Es länten bie Gloden.
Phantafien über den Sinn bes Lebens. (Concordia
Deutihe Verlagsgeſellſchaft, Berlin). Fat möhte ih
meinen, die Macht der materialiftiihen Weltanfhauung
wäre nie fo ftar! geworden, hätte es nit in der Zeit
ihrer Vorherrſchaft an vollstümlihen und doch gehalt-
vollen Schriften von der Art diefes leichtbeſchwingten
Buches gefehlt. Es ift erfreulih und bedeutſam zugleich,
daß diefe Schrift aug noch nah dem Tode des als Arzt
berühmten und als Menſch allfeitig geliebten Erfinders
der nfiltrationsanäfthefie und Gegners bes Chloro.
forms Auflage um Auflage erlebt. Belegt diefe Fat-
fade doch, daß weite Kreife angefangen haben, ihr Be-
dürfnis nah Belehrung über weltanfhaulide Fragen auf
anderem Wege zu filen als noh vor einem halben Men-
fhenalter. Das Gefühl dafür it wachgeworden, daß
recht verftandene Maturwiffenfhaft die Welt niht der Ge-
heimniſſe enttleidet, fondern gerade ben Blid in die Wunder
um uns ſchärft. Und da ift es ein beneidenswertes Ge-
(hit Schleichs geweien, Hinter den naturwiſſenſchaftlichen
Morgängen und Gefegen, die er in leicht faßlicher Sprache
fhildert, das nicht verftandesmäßig Ausihöpfbare ahnen
zu laffen. Damit ift (hon angedeutet, daß er mit diefem
Buch niht die Wiſſenſchaft bereihern will; es gebt ihn
bier niht um neue Sorfhungsergebniffe. Es gebt ihm
um eine vollstümlid erfaßbare Zufammenfhau verſchie⸗
bener Wiffensgebiete, und er will flaunen und wundern
madhen. So felt fih diefes Buh in die Reihe der
nun ſchon nicht mehr fpärlihen wiflenfhaftvermit-
telnden Shriften, als deren Krone jebt wohl
Sellinels Volkshochſchulvorträge über das „Weltgeheim-
nis” anzufeben find. Und es ift von Gewinn, beide Ber-
faffer zu vergleihen. Beiden eignet eine ganz feltene Fähig-
feit, wiſſenſchaftliche Einfihten zu veranihaulihen. Beider
Bücher wirken, obne polemifh zu fein, ſchon durch ihr
bloßes Gelefenwerden als Gegengewichte gegen bie einft fo
beliebte troftlofe Löfung der „Welträtfel”. Und dod ift ein
Unterfhied da. Während Jellinek bei allem didteri-
(hen Schwung feiner Sprade immer als Forſcher ſpricht,
it Schleih der Dichter, dem die Wiflenihaft das gefügige
Material der geftaltenden Phantafie if. Seiner Darftel-
M
Neue Literatur.
— — — ee er
lung' fehlt völlig das Gepräge der Unterſuchung. Sie ift
ein Märchen, in deffen Gewand fi erafte Weisheit leidet.
Eine glüllihe Vereinigung von dihterifher Schau, wiſſen⸗
ſchaftlicher Durhbildung und pädagogiſchem Geſchick hat hier
die Möglichkeit Wirklichfeit werden laffen, den Lefer in dié
Wunderwelt einer ganzen Reihe von Wiflensgebieten ge-
rabezu fpielend einzuführen. Was das bedeutet, wird jedem
Har, der zum Vergleich etwa Heffters an fih ausgezeich⸗
netes Büchlein „Vom Sinn ber Mathematik” heranzieht.
Wie ift da die Einkleidung am Außenrand geblieben und
welde Denkzumutungen find da an den ungeſchulten Lefer
geſtellt! Gewiß, auh Schleih hat feine Schatten! So
wird manchem die Einfleidung gelegentlih bie Klippe des
Kitſches und des Süßlichen nicht völlig umfhifft zu haben
erſcheinen. Mandem mag aud bie „Traumelfe“ in ihrer
gar zu nafeweifen Altklugheit lächerlich ſein. Aber was ver-
ſchlägt das alles gegenüber der Freude der — nochmals fei
es unterfrihen! — ſtarken Kraft der Veranſchaulichung,
die bier am Werle gewefen ift und der es gelungen ift,
felbft fo verwidelte Zufammenbänge wie die Darftellung
der Goethiſchen Farbenlehre Iebendig und plaftifh zu ge-
ftalten! Adolf Grimme.
Zwei Meifebüher liegen vor mir; das eine ©. Mi.
haelis, Weltreifegedanten (erfhienen im Furde-DBerlag,
1923, 187 &.), das andere D. Dr. J. Witte, Sommer:
fonnentage in Japan und China (Verlag Vandenhoeck und
Ruprecht, Göttingen. Preis 6 M.) Beide Bücher find
Zeugen eines weltweiten Chriftentums. Zweck der Meile
des früheren Reichskanzlers war die Teilnahme an der Kon-
feren; des Chriſtlichen Studentenweltbundes in Peting. Er
bat aber dieje Gelegenheit benutzt, um in China, Japan
und Amerifa fi mit führenden Geiftern aller Berufskreiſe,
in erſter Linie mit chriſtlich Gefinnten, über die großen wirt-
fhaftlihen und weltpolitifhen Fragen der Gegenwart aus-
zuſprechen und dabei den deutfhen Standpunkt zur Gel-
tung zu bringen, fo 3. B. in der Kriegsihuldfrage, über
die er zahlreihe Vorträge im verfhiebenen Städten ge-
halten bat. Das Hauptthema der Pelinger Konferenz; war
„ber wirtihaftlihe Wiederaufbau”. Es ift außerordentlich
anregend und lehrreih, die Gedanken Fennen zu lernen, die
in einem fo geiftreihen Manne wie unferem geweſenen
Reichskanzler durh die Beobachtung der wirtihaftliden,
politifhen, fozialen und religiöfen Verhältniſſe in Oftafien
ausgelöft worden find. Am meiften bat mid interefliert,
was der Derfafler über amerilanifhe Kultur zu fagen weiß.
Das Trodenlegungsproblem erörtert er mit ebenfo freiem,
jedem Vorurteil abholden, aber Flarem Blide, wie bie
fhädlihen Wirkungen des Pragmatismus, befonders auf
dem Gebiete der Erziehung und der Demokratie, die „für
wahrhaft große Männer keinen Raum läßt”, trogdem aber
den großen Vorteil þat, daß fie die Einzelnen zur Mitver-
antwortung erzieht. Man wird es nicht bereuen, daf Bud
elefen zu baben. Das Gleihe gilt aug von dem zweiten.
itte, der Direltor des „Allgemeinen evangelifch-prote-
flantifhen Miffionsvereins zu Berlin” bat die hier vor-
liegenden Meifeberihte bereits größtenteils in der „Chriſt⸗
ligen Welt” veröffentliht. Auch er hat dort im fernen
Oſtaſien für die deutihe Sahe mehr als eine Lanze brechen
Können, und es feint, daß befonders in Japan ſchon febr
viele rechtlich denkende Männer zu der Ueberzeugung ge-
kommen find, daß Deutihland ſchweres Unrecht geſchehen ift.
Doh nicht in diefen politifhen Streiflihtern liegt der
Hauptwert diefes Buches, fondern in den hodintereflanten
DBerihten über die zahlreihen Auseinanderjegungen, welde
Witte mit gebildeten bubddhiftifhen und anderen nichtchriſt⸗
Iihen Prieftern hatte. Wer im „gebildeten Deutihland
weiß, daß es in Japan eine befondere Jorm des Buddhis-
mus, die fog. „Schin⸗Dchu“ gibt, die eine geiftig febr bod-
ftebende Theologie, fogar eine entiprehende theologiihe Ja-
kultät befißt, freundliche Beziehungen zur chriſtlichen Mif-
fion pflegt und flets einige ihrer Priefter an deutſchen theo-
logiſchen Fakultäten fiudieren läßt? Alte Sreundihaft mit
einem folgen ermöglihte W. die Teilnahme an ben Gottes-
bienften (wenn man dies Wort hier gebrauden darf) biefer
Kirche. Mit Regt fagt W., dab foldes Studium ber
fremden Religionen an Ort und Stelle in ihrer gegenwär-
tigen Lebensform eine unbedingt notwendige Ergänzung bes
bloßen Studiums ihrer Literarifhen Quellen fei. Denn
„Meligion ift doch nit Lebre, fondern Leben, und bies
Leben muß man fehen, wie es hier pulfiert. Dann erft ver-
ſteht man, was diefe Millionen Menſchen mit foldem Eifer
zu ben Tempeln führt. (©. 78.) Höchſt intereflant if
aug z. B. die Schilderung der beiden neu in Japan auf-
gefommenen Religionen der Shinto” und ihres Ab.
legers, der Religion, die beide von ganz einfachen Frauen
aus dem Bolle erft vor verhältnismäßig Furzer Zeit ge-
fliftet find, heute aber bereits ihre Anhänger nad Millionen
bezw. Hmderttaufenden zählen.
Jn den weiteften Kreifen unferer Gebildeten bat man
leider zumeift von chriſtlichen Miffionaren eine MWorftellung,
die nit gerade fumpathifhe Züge aufweift. Was aber
wirflih chriſtliche Miffion fein fann und fein fol, das kann
man aus diefem Buche lernen. Hier ift weithersiges Wer-
ftehen, liebevolle Einfühlung in die fremde Volksart, ja
auch Lernenwollen von dem, was der andere vielleiht vor
uns voraus hat. Trotzdem aber Tein verwafdhener Aller-
weltsglaube, fondern tief innerli gefühltes Erleben deſſen,
was bas Chriftentum nun doch vor allem anderen tatfäd-
li voraus hat, und was jedem Bolle in irgend einer Weite
not tut. Das Bud ift dabei außerorbentlid feflelnd ge-
ſchrieben. Bt.
Berichtigung
zu dem Aufſatz „Erfchütterungsmeßapparate” von
Prof. Dr. Gelfert im DEtoberheft unferer Beit-
ſchrift.
Herr Prof. Dr. Mainka⸗Göttingen bittet uns,
nachſtehende Berichtigung von Angaben jenes Auf-
faßes zu bringen:
n1.) Profeſſor Mainta war nicht Direftor der
Hauptftation für Erdbebenforfhung, fondern hatte
als wiflenfhaftliher Mitarbeiter vor allem die Ar-
beiten im Obfervatorium zu beauffihtigen.
2.) Die Fortfeßung der Straßburger Haupt-
ftation für Erdbebenforfhung ift die mit Unter-
fügung der Zeißwerfe in Jena gegründete Reihs-
Zentralftelle für Erdbebenforfhung, deren Direktor
Herr Prof. Heder ift.
3.) Die „Erda A.-G.” in Göttingen ift 1921
dur Herren Dr. Ambronn ing Leben gerufen, deren
Vorſtand er zunächft allein war. Der Vorftand
wechjelte mehrfah. Herr Prof. Mainta war ur-
fprünglih Abteilungsleiter, feit Auguft 1924 hat
er die techniſch⸗wiſſenſchaftliche Leitung der Arbeiten
in Göttingen.‘
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WISSENSCHAFT UND WEITANSCHAUUNG
p- a
- @ XVII. Jahrg. Detmold, Dezember 1925 Heft 12
|
| Herausgegeben Schriftleitung:
| vom Professor
| Keplerbund Dr. Bavink
| Detmold Bielefeld
6
Inhalt:
Die Bedeutung der neuen Schule von Nancy. Von Apotheker Franz Klocken-
bring. ® Die Lösung des Rätsels der Vitamine? Von Studiendirektor Dr,
Max Müller. ® Das Stutjen der Baumkronen. Von Dr, Franz Schacht. ® Zum
Wesensunterschied von Pflanze und Tier. Von Dr. Hans Andre. ® Die
Analysen-Quarzlampe. Von Diplom-Ingenieur Leopold J]. Busse. ® Aus-
sprache. ® Naturwissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ®
Neue Literatur.
NATURWISSENSCHAFTLICHER VERLAG DETMOLD
„UNSERE WELT“
erscheint monatlich. Bezugspreis innerhalb Deutschlands, durch Post, Buchhandel, oder unmittelbar vom
Verlag, vierteljährl. 2.— Goldmark, ins Ausland der höheren Versandunkosten wegen 2,30 Goldmark. Der Brief-
träger nimmt Bestellungen entgegen. Anzeigenpreise: Die 4 gespaltene 1 mm hohe Kleinzeile 15 Gold-
pfennig. Bei Wiederholungen angemessener Rabatt. Anzeigen-Annahme bis 15. des Monats.
Zahlstellen für Ausliandsbeiträge
Oesterreich: Postsparkasse Nr. 156038. Schweiz: Keplerbund-Postscheckkonto: Zürich Nr. VIIL. 10635.
Holland: Dr. W. van der Elst, Utrecht, Julianalaan 13, Postrekening 52198. Mexiko: M. Lassmann.
Apartado 549 Mexiko D. F.
Alle Anschriften sind zu richten an Naturwissensch. Verlag od. Geschäftsst. des Keplerbundes, Detmold.
— — — — — — — —— —
— — — —— — — — —
lnhaltsverzeichnis <:cheinengen Zeitschrin „Der Haturfreund.
Christblume. Von Dr. Hans Bleher. ® Weihnachtsabend am Waldrand. Von G. A. Schmitt. ® Amerikas
Entdeckung vor Columbus. Von Prof. Dr. Hennig. ® Die Sprachlosigkeit der Tiere. Von Dr. Hanns
Meyer. ® Die Deutschamerikaner und ihre neue Heimat. Von Pastor Georg von Bosse. ® Wasser-
stoff — der Urstoff der Welt. Von Dr. Minna Lang. ® Das Geheimnis der Eskimos. Von Dr. Günther Hesinert. S
Häusliche Studien. ® Kleine Beiträge. ® Aussprache. ® Der Sternhimmel im Dezember. ® Natur-
wissenschaftliche und naturphilosophische Umschau. ® Neue Literatur.
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des Wissenswertesten aus der Astronomie. Von Prof. Dr. J. Plass- |
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Am Fernrohr. stirnten Himmels. Von Dr. Fr. Becker.
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Hevelius. mischen Physik. Herausgegeben von Prof. Dr. ].
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Schriftleitung: Prof. Dr. Ba vink, Bielefeld.
Für den Inhalt der Auflähe Neben die Derfafler;igre Aufnahme magt Re nicht zur Aeuhernug des Bundes.
XVIL Jahrgang
Dezember 1925
Heft 12
Die ebeut der neuen n Schule von Nancy.
P
Von Apothefer Franz Ktodenbring.
Im legten Jahrzehnt ift ſchon außerordentlich
viel über die neue Schule von Nancy” und ihren
Begründer Emil Coué gefchrieben worden, aber
fo lange nicht genug, bis nicht ihre Erfenntniffe
und Errungenfchaften in die weiteften Kreife ge-
drungen find. Während die „alte Schule von
Nancy” unter Führung von Bernheim und Lié
bault zwar der Wiſſenſchaft einen Foftbaren Shag
bot durd eine ſachgemäße Einführung in die Medi-
zin der bie dahin mit mehr oder weniger Mif-
trauen beachteten Hypnoſe, bislang nur ausgeübt
und anſchaulich demonſtriert durh Männer, die
man gern mit einem unheimlihen Schimmer son
„Zauberei und Hererei umgeben wollte, über-
fchreiten die Erfahrungen der ‚neuen Schule von
Nancy” bei weitem den Rahmen der Wiſſenſchaft
und rufen eigentlich jeden Menfchen auf, Stellung
zu nehmen zu ihren Erfenntniffen und Darbie-
tungen.
Alle großen Männer hatten ftets bei aller Wer-
ehrung, die man ihnen zollte, eine große Anzahl
von Meidern und Gegnern, die aber eigentlih nur
ein Beweis mehr find für ihre Größe. Coué's
Gegner find vor allem in ber Aerztewelt zu finden,
die geradezu in zwei Lager gefpalten ift. Natürlich
ift es nicht verwunderlih, daß hier, wo man ben
frafieften Materialismus lernt und lehrt, nur gan,
almählih die Erkenntnis Fuß faflen Tann, daf
die Materie durch den Geift, der Körper durd die
“dee geformt und geleitet werden, und organifche
Sunftionen im weiteften Maße geiftiger Beeinfluß-
barkeit unterliegen. Die Verurteilung Coué's
und feiner Schule aber geht hier manchmal in
törihter Derblendung foweit, dag man ihr Furz-
weg jede „Wiſſenſchaftlichkeit“ abſpricht. Diefem
„Poſitivismus mit feinem ironifhen Lächeln,” der
jede Wiſſenſchaft in eine jedem verftändliche For-
mel bringen Fann, trat Prof. Bavin! erft in Heft
Nr. 7 fehr wirffam entgegen, in dem er fihreibt:
„Diele philiftröfe Auffaſſung verfagt in Wirklich⸗
feit ſchon in den fogenannten exakten Wiffenfchaften.
Das Beſte, was ſie zu geben haben, wird eben nicht
durch eine nüchterne Rechnerei, ſondern durch eine
der künſtleriſchen Phantaſie auf's engſte verwandte
Genialität gefunden, natürlich wird dieſelbe hier
auf's ſtrengſte gezügelt durch die fortwährende Kon⸗
trolle an den Tatſachen. Nun, dieſe Kontrolle
an den Tatſachen in Bezug auf die Leiſtungen des
Couéismus an fih und anderen ift jedermann ohne
Schwierigkeiten möglich und tatfählih aud das
überzeugendfte Werbemittel zur Anhängerſchaft an
diefe Lehre.
Man bört fogar Stimmen, die Coué's Lepre
aus national-politifhen Gründen ablehnen, d. h.
ihr gleich garnicht näher treten, weil es fih um
einen Sranzofen handelt! Ich tähte, das dürfte
als ein lächerlicher Grund bezeichnet werden und
eines gebildeten Menſchen ganz und gar unmwürdig;
ihnen möchte ich zurufen: „Die Toloranz erft führt
auf den Gipfel von Kultur und Leben!”
Es könnte nun fo ausfehen, als wollte ih mid
zum DBerteidiger Coués aufwerfen. Dem muß id
mit aller Entfchiedenheit widerfprehen. Coué har
feinen Derteidiger nötig, feine Rechtfertigung liegt
in feinem Werf, feinen prachtvollen Erfolgen und
feiner uneigennügigen Hingabe zum Wohle einer
leidenden Menschheit. Seinen Namen befannt
und feine Lehre verftändlicher zu machen unter Hin-
weis auf den Auffag in Heft 10 über die feelifche
Erziehung ift die alleinige Abſicht diefer Zeilen.
Coué Hat ein „ideodynamiſches“ Geſetz des
Geiftes entdedt, das in der Dualität unferes We
feng die Gegenfäglichfeit regiert zwiſchen der Cin-
bildungsfraft und dem Willen. Die Kenntnis
298
diefes Geſetzes erlaubt es zum allererfien Mal,
auf wiſſenſchaftlichen Wege die Zufammenhänge
unferes geiftigen Lebens zu beherrfhen. Wie be-
reits in dem erwähnten Aufſatz in Nr. 10 gezeigt
wurde, baut fih Coués Lehre auf
1.) auf die Theorie des Unbewußten (Unter-
bewußtfein),
2.) auf die Ueberlegenheit der Einbildungskraft
(Glaube) über den Willen,
3.) auf die Beeinflußbarfeit (Suggeftibilität)
des Unterbewußtſeins durd eine bewußt ge-
leitete Autofuggeftion.
Wie aus zahlreihen DBeifpielen an „ungebil-
deten” Leuten, d. h. Menfchen, die niht die Mög-
liġfeit haben, in den Mechanismus einer Auto-
fuggeftion einzudringen, und dodh ihrem blinden
Glauben gehorchend, in der Ausübung der ge-
nannten Heil- und Erziehungsmethode die ge-
wünſchten Erfolge erzielen, hervorgeht, ift es
durchaus nicht erforderlich, eben diefen Mechanismus
genau zu fennen, — ganz abgefehen davon, daß
auch die pſychologiſche Willenfhaft noh in den
Anfängen der Erkenntnis geiftiger Funktionen
fteht —. Der Gebildete jedoch fheut fih, Behaup⸗
tungen gedanfenlos naczubeten und ſucht mit
Redt eine vernünftige und natürlihe Erflärung.
Merkwürdigerweife madt aber fhon die Theorie
über das Unterbemußtfein febr große Schmierig-
feiten. Die Pſychologie von Heute lehrt ung,
daß die Verfönlichkeit eines jeden Menſchen ge-
fpalten ift in fein „Ich⸗Bewußtſein“, deffen Funt-
tion der Wille ift, und fein „Ich⸗Unterbewußtſein“,
das durd die Einbildungsfraft — oder den Glau-
ben — geleitet wird, und daß eben dieſes Unter-
bewußtfein als Leiter aller organtifdhen
Funktionen, als Träger der Erinnerungen, Erfah-
rungen und Erziehungsrefultate faft die ganze Per-
fönlichfeit bedeutet und dem „Ich⸗Bewußtſein“,
das nur ſcheinbar durd feine Gegenwartsautorität
die große Rolle fpielt, mit allem ‘Bedarf in Förper-
licher und geiftiger Beziehung zur Verfügung ftebt,
ähnlich wie der verantwortlihe Minifter dem Re-
genten. Hören wir dodh ein Wort eines der größten
Pſychologen der Gegenwart, Prof. Freud, der in
feiner Einführung zur Pſychoanalyſe in überzeu-
gendfter Weife die geradezu beängftigende Gewalt
des Unterbewußtfeing demonftriert. Er ſpricht von
den beiden großen „Kränkungen“, die „der naiven
Eigenliebe der Menſchheit“ durd die Wiſſenſchaft
widerfuhren, 1. die Erfenntnis des Kopernifus,
daß unfere Welt nicht der Mittelpunft des Alle,
fondern nur ein Stäubhen im Weltenfyftem ift,
2. Darwin’s Lehre, „die das angeblihe Schöp-
fungsvorreht des Menſchen zunihte macht, und
ihn auf die Abftammung aus dem Tierreih und
die Unvertilgbarfeit feiner animalifhen Natur
Die Bedeutung der neuen Schule von Nancy.
verwies”, und fügt dann diefen Bemerkungen „bie
dritte und empfindlichfte Kränkung‘ für, die
menſchliche Größenſucht“ bei, erbracht „durch bie
heutige pſychologiſche Forſchung, welche dem Ich
nachweiſen will, daß es nicht einmal Herr im eig-
nen Haufe, fondern auf Färglihe Nachrichten an-
gewiefen bleibt von dem, was unbewußt in feinem
Seelenleben vorgeht.‘
Diefe Bemerkungen allein dürften genügen, um
wenigftens jedermann anzuregen, biefer bedeutenden
Entdefung näbherzutreten. So weift Freud in
genanntem Werfhen nah, daß 3. B. die foge-
nannten Fehlleiftungen (Verſprechen, Verhören,
Verfchreiben, Verlieren ufw.) nicht, wie man fonft
fhledhthin annimmt, dem bloßen Zufall unter-
liegen, fondern vollwertige ſeeliſche Afte find, die
man etwa als Streihe auffaffen fann, weldhe das
Unterbewußtfein dem Bewußtfein fpielt. Kompli-
zierter, aber auh ungleich intereflanter liegt der
Soll bei den Träumen; dort täufht das Unter-
bewußtfein mit einer geradezu raffinierten Ent⸗
ftellungstechnif, die dem gewandteften Detektiv
alle Ehre madhen würde, das Bewußtſein mit
Hilfe von Verdrängung und Entftellung der Ge-
danken, fi) dabei einer Faum Eontrollierbaren Sym-
bolik im Erfegen von Gegenftänden und Perfonen
bedienend, fo daß das Bewußtſein ſchon allein gar
nit mehr in ber Tage ift, fih den -„Unfinn zu
erklären.” [Leider dürfte es zu weit ablenfen,
die führende Molle zu erläutern, die das Unter-
bemwußtfein nah Freud in den umfangreihen Krant-
heitserfeheinungen der Meurofen fpielt. Nur wolle
man fefthalten: eg gilt heute als Tatſache, dag
unfer Unterbewußtfein frei beftimmt und verfügt
über unfer Tun und Wollen, und daf eg nur einen
Weg gibt für das Bewußtſein — hier den Men-
fhen überhaupt — erzieherifh mitbeftimmend auf
fein Unterbewußtfein einzuwirfen, nämlich eine be-
wußt geleitete Einbildungskraft, ein Glaube, ber
in bewußter Autofuggeftion oder inbrünftigem Gebet
Schritt für Schrit an fih zu beffern beftrebt ift
und fih fo almählih der Erfüllung feiner Ziele
und Wünfche nähert.
Der vielgepriefene Wille allein erreiht da gar
nichts, eg fei denn, daß er durd den Glauben im
weiteften Mape geftügt it. Denn wenn das Be-
wußtfein fagt, „ich will fchlafen” und das Unter»
bewußtfein entgegnet, ‚ich fann nicht”, fo unter-
liegt der Wille in diefem wie in jedem anderen
ähnlihen Falle. Diefes nachgewieſen zu baben,
ift das große Verdienſt Emil Coué’s. — Damit,
find wir zu unferm zweiten Punkte gefommen: der
Ueberlegenbeit der inbildungsfraft über den
Willen. Auch diefer Punkt ift vielfach Gegenftand
des größten Widerſpruches, umfomehr, als bier
ein jeder aus „vielfadher eigener Erfahrung” das
Die Bedeutung der neuen Schule in Nancy.
Gegenteil leicht beweifen zu Fünnen glaubt. Tau⸗
fende von Beifpielen liefen fih finden, um diefes
zu demonftrieren, und da Beiſpiele vielleiht am
beredtften zu beweiſen vermögen, fo will ih deren
auh einige anführen, die der Wirklichkeit ent-
nommen find. Coué felbft ift fih über den Wert
des Beweiſes diefer Tatfahe — feine eigentlichfte,
perfönlichfte Erfenntnis — feinen Patienten gegen-
über fehr wohl Mar und fühlt fih verpflichtet,
- jedem einzelnen denfelben am eigenen Leibe vorzu-
führen. Er verfährt etwa folgendermaßen, ſpricht
zu ihnen: „Streden Sie die Arme nad) vorn und
ſchließen Sie die Hände fo feft, wie Sie können.
Denken Sie jest „Ich will die Hände öffnen,
aber ih fann nicht, ich fann nicht, ih . . . . ufw.
ih fann nicht. . . . Oeffnen Sie doh, aber
denfen Sie weiter . . . ih fann nicht, ich Fann
niht . . . Der Patient kann tatſächlich die
Hände nicht voneinander trennen, fo febr er aud
will, er drückt im Gegenteil immer fefter.
Darauf Coué in wundervoll ruhigem Ton mit
feiner melodifhen Stimme: „Denken Sie jest:
— — Ich fann!” Der Patient öffnet die Hände
ſoſort. — Afo der Wille muß fih der Einbildung
fügen.
In einer der franzöfifhen Kolonien Nordafrikas
tam eines Tages ein Mann zum erften Male in
feinem leben zu einem Arzt und Elagte über eine
bartnädige Verſtopfung. Nah der. Unterfuhung
reichte ihm der Arzt ein Rezept etwa mit folgenden
Worten: Wenn Sie nah Haufe fommen, fo
nehmen Sie dieg auf einmal ein, und die Stuhl-
entleerung wird fih bald einftellen. Der Mann
befolgte den Rat wörtlih, ging nah Haufe und
verfpeifte fein — — Rezept; bald darauf hatte
er emen vollen Erfolg. |
Der Leiter des Coué⸗Inſtitutes in Paris erzählt
aus feiner jugend ein recht anſchauliches Erlebnis:
Im Alter von 10 Jahren hatte er beide Hände
mit vielen häßlihen Warzen befest. Man riet
feiner Mutter, ihn einem alten Mann, der als
„Hexenmeiſter“ befannt war, — der Vorfall
ereignete fih auf dem Lande — vorzuftellen. Dieſer
Alte nun zählte die Warzen, fchnitt eine gleiche
Anzahl Furzer Fäden, machte über jede Warze mit
einem Faden ein Kreuz, band dann alle Fäden
zufammen zu einem Bündelchen und befeuchtete
diefes legtere mit feinem Speichel. Wor, während
und nad diefer Handlung fprah er dem auf den
Knieen liegenden Knaben Gebete und allerhand
Zauberfprühe vor. Dann hieß er ihn aufftehen
und fügte hinzu, er werde diefe Fäden nunmehr an
dem Fuße eines Kreuzes auf dem Friedhofe ein-
graben und wenn die Fäden verfault feien, feien
auh die Warzen verfhwunden. Befagter Leiter
des Eoue-nftitutes führt dann weiter aus, daf
299
er tatfächlih nah 14 Tagen Feine Warzen mehr
hatte, und gibt dazu, was das erflaunlihe daran
ift, eine ganz einfahe und natürlihe Erflärung.
Es dürfte wohl jedermann von vornherein flar
fein, daß weder Gott noh der Teufel mit diefer
Angelegenheit etwas zu tun haben. Die Worte
des Herenmeifters gruben fih mit Hilfe der Cin-
bildungsfraft durch Vermittlung des Gehörs in
das Unterbewußtfein ein, es entftand daraufhin
eine belebende Auslöfung und f&höpferifche Orien-
tierung der Lebenskraft, die im Hinbli auf bie
entiprehende Verwirklichung auf eine unbemwußte
und den Gefamtorganismus mobilifierende Art zum
Erfolg ftrebte. Phyſiologiſch erfcheint folgende
Erklärung wahrfheinlih: Den Gefäßen und dem
Leitungsvermögen wurde vom Nervenſyſtem aus ein
derartiger Impuls mitgeteilt, daß die Blutzufuhr
nah den Warzen unterbunden wurde und leßtere
abfterben mußten.
Noch anſchaulicher und überzeugender aber dürfte
dag folgende und legte Beiſpiel fein, das ung
amerifanifche Aerzte berichtet haben. Um die Ge-
walt der Einbildungsfraft zu erweifen, erbaten fie
fih zum Tode verurteilte Verbrecher aus und ver-
ſprachen, diefelben auf eine menſchlich würdige Art
aus dem Leben zu befördern. Jn mehrfahen Ber-
ſuchen fagten fie dem Verbrecher etwa folgendes:
„Sie willen, daß Sie zum Tode verurteilt find,
ih habe von Stantswegen den Auftrag erhalten,
diefes Urteil zu vollziehen. Ich werde Ihnen einen
kleinen Stid in den Naden maden, und in einigen
Minuten werden Sie verbluten, ohne den geringften
Schmerz verfpürt zu haben.’ Darauf wurde der
Betreffende recht bequem hingefegt, ihm ein gänz-
lih indifferenter Nadelftih in den Naden gemadıt
und darauf aus einem vorher hergerichteten Gefäß
warmes Waſſer von Körpertemperatur in einem
Schlauch an die Stichftelle geleitet, um von dort
aus in ein darunter bereitgeftelltes Emaillegefäß
börbar bhineinzutropfen. Obwohl niht ein
Tropfen Blut austrat, erfolgte in furzer Zeit der
Tod allein auf die Einbildung bin ih verblute.“
Genug damit der Beifpiele, der Lefer fuche felbft
weiter, er findet deren täglich unzählige, viel ein-
fachere alg diefe. immer ift es die Einbildungs-
fraft, d. b. der Glaube, der den Ausfchlag gibt,
und der Wille muß fih fügen. . Nur wo Wille
und Glaube einander entiprechen, da ift das Gleich-
gewicht gewahrt, da ſpricht man von „Selbftbe-
meiſterung.“ Sonſt beißt es, wie in ber Bibel:
„Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, und dag
Bije, das ih nicht will, dag tue ich‘ oder: ich
wid Schlafen, aber eg geht nicht — ich will effen,
aber ih habe feinen Appetit — ich will arbeiten,
ab-r mein Kopf ift ganz leer — ich will verreifen,
aber ih bin zu müde — ich will niht zornig werden,
300
aber ih fann nicht anders ufw., kurz, ih will’s,
aber ih fann nicht!
Man will mit feinem Willen, aber man fann
mit feinem Glauben (Unterbewußtfein), dies ift
einfach ein Maturgefeß und wohl der Mühe wert,
gewußt zu werden. Seiner Rolle entiprechend
mag man jedem feine Funktion und Aufgabe laffen;
der eine beftimmt, während der andere handelt. —
Auf die Erziehung des Unterbewußtfeins haben
wir demnach unfer Hauptaugenmerf zu richten; diefe
brennende Frage bat die „neue Schule von Nancy”
an ihrem Teile weſentlich mit in den DBordergrund
der angewandten Pſychologie gefhoben. Die Pflege
des Körpers ift natürlih von grundlegender Be-
deutung für feine geiftigen Leiftungen und Fähig-
feiten. Ihm als der materiellen Hülle des Unter-
bewußtfeins hat man felbftverftändlich in viel wei-
terem Mage Sorgfalt und Pflege in den phufifchen
Lchensvorgängen angedeihen zu laffen, als man eg
Ihlehthin gewohnt ift, und zwar mit bewußter
Auswahl und Beobachtung. Wiel wichtiger als
nah der Kalorienrehnung ift eine Auswahl der
Speifen nah ihrer Herkunft und ihrem Bitamin-
gehalt. Man ftreitet lange her und hin, ob vege-
tarifhe oder animalifhe Nahrung für den Men-
fhen das Richtigere fei, anftatt fi einfach dem
Inſtinkt hinzugeben, der dodh darüber gar feinen
Zweifel laffen fann, welche geiftigen Lebensregun⸗
gen fih entwideln müflen aus der Nahrung toter
Tiere mit all ihren Parafiten und Torinen. Jn-
dem ich mich aber hiermit leider nur auf diefen
Sag befhränfen muß, möchte ich den Lefer felbft
zu weiterem Machdenfen und Studium anregen —
er wolle auh auf das Urteil Plutarhs und
Leonardo da Vincis abten. — Ferner: ein durd
die Nahrung reinerworbenes ‘Blut will aud rein
erhalten fein; das beforgen wir durd eine fachge-
mäße Atmung bis in die Lungenfpigen hinein, wo-
durch wir dauernd ein DBlutgift — die Koplen-
faure — entfernen! Zu zeigen, wie man atmen
iol, fann gleihfalls nicht Aufgabe diefer Zeilen
fein, wenngleich wenigftens darauf hingewieſen
werden muß, wie ungeheuer wichtig zur Entwid-
fung des Unterbewußtfeing und der Intelligenz eine
richtige Atmung ift. Indem ich vieles, Darunter
den Schlaf und das feruelle Gebiet übergehen muß,
fann ih nicht umhin, eine Trage noh Furz zu
ftreifen, weil fie noh zu unferem Thema gehört:
das Denken. — Man ift, was man ift, und was
man denft! Die ungewollt fih einfchleichenden
Gedanken find aufs firengfte zu überwachen und zu
leiten — denn wie vielleiht noh erinnerlich, be-
deutet nah Dernbeim ein Gedanke fhon eine Wirt-
lichkeit — und nad den Gedanken müflen fih die
Worte richten, die man fpricht, denn merfwürdiger-
meife fallt auh ihnen eine nicht unbedeutende er-
Die Bedeutung der neuen Schule in Nancy.
zieherifhe Wirkung zu. Mindeftens ebenfo-
viel Wert wie auf die Erziehung des Willens, ift
auf die Erziehung der Einbildungsfraft zu legen.
Wohl felten wurde zur Löfung einer fo wichtigen
Grage folh ein einfaches Mittel gegeben, wie es
Coué gleih mit ihrer Erkenntnis zufammen
fand: die bewußte Autofuggeftion. Unter aber-
maligem Hinweis auf ben früher bereits erwähnten
Aufſatz muß nochmals betont werden: unerläßlich
zur wirffamen Autofuggeftion find völlige Förper- .
lihe Entipannung (Ausihaltung des Willens) und
mechanische, monotones Vorſichhinſprechen. Man
fann fih die verfchiedenften Suggeftionen maden,
je nad) feinen Wünfchen und Zielen; von geradezu
univerfaler Wirkung aber ift Coués klaſſiſches
Säschen geworden: „Es gebt mir von Tag zu Tag
beffer”, weil es alle Ziele und Wünſche umfapt für
jedermann und in jeder Lebenslage. Jm allgemei-
nen und normalerweife vollziehen fi die Heil-
wirfungen nah der Coué - Methode allmählich
Schritt für Schritt nad dem Sag: Natura non
facit saltus; doch oftmals — ja, man fann fagen
in jeder Sitzung, die Coué täglich unentgeltlich ab-
hält, gibt es einige Fälle, wo augenblidliche Heil-
erfolge, wie wir fie in der Bibel Iefen, beobachtet
werden. Das find dann die vielbefprodenen
„Wunder von Nancy”. Es ift gar Feine Selten-
heit, bag Leute, die nicht, oder nur mit Stöden
oder Krüden geben Fonnten, und im Wagen Famen,
zu Fuß das Haus verlaflen, daß Schwerhörige
hören, daß teilweife Gelähmte ihre Glieder mit
einem Male gebrauhen können — ja, Coué er-
zählt felbft den wunderbaren Fall, daß eine Dame
aus England, die zwanzig Jahre auf einem Auge
nicht fab, in einer Sigung plöglic wieder fehen
lernte. Auch dafür gibt Coué eine ganz einfache
und natürlihe Erflärung. Jn al diefen Fällen
hatte eine Erkrankung oder Verletzung den mo-
mentanen Gebrauch des Gliedes ausgefchaltet, die
Verlegung heilte aus, es blieb aber unbewußt bie
Vorftelung des Nichtgebrauchenfünnens zurüd (id)
fann nicht fehen, hören, geben ufw:). Mur diefe
Vorftelung „ih fann nicht‘ ward unter Coués
Einfluß befeitigt, der aber nie unbetont läßt, daf
er noh nie jemanden geheilt habe, fondern nur
cine natürliche, in jedem Menfchen vorhandene Kraft
wede, indem er die Meberzeugung ‚ich Fann nicht‘,
in die gegenteilige verwandelt: „id fann.” Damit
trat dann auch ſchon das fonft gefunde Glied in feine
natürliche Funktion. Es fann felbftverftändlih nur
in den feltenften Fällen von vornherein erfannt wer-
den, welde Leiden wirflih nur als „eingebildet‘
bezeichnet werden dürfen.
Gewiß, man fann nicht alles erreichen, man
fann nicht alles heilen, aber das Mögliche
fana ein jeder erreihen, wenn er glauben lernt.
Die Löfung des Nä: Rätſels der Vitamine?
Und indem man lernt, ſich in ſeiner jeweiligen
Lage wohlzufühlen, ja dieſelbe von Tag zu
Tag zu beſſern, bat man gleichzeitig einige Foft-
bare Güter erworben: einen fröhlichen Optimis-
mug, der die Sorgen und Mühen des Lebeng mit
Leichtigkeit überwindet, eine ine Toleranz, bie dag Zu⸗
Die Löſung des Rätſels der
ner geheimnisvollen Ergänzungsſtoffe tieriſcher und
menſchlicher Nahrung rein herzuftellen, die man
Vitamine nennt.
Unfere Kenntnis von diefen Stoffen fchreibt fid
erft feit wenigen Jahren her, aber das Schrifttum
darüber ift ſchon geradezu unheimlich angeſchwollen.
Man glaubte bis vor Furzem, dag im wefent-
lihen viererlei Nahrungsmittel ausreichten, um
eine richtige Ernährung zu gewährleiften, nämlich
Eiweißſtoffe, Kohlehpörate, Fette und Salze. Es
zeigte fi) indeflen, daß Tiere, die man mit reich
lihen Mengen diefer vier Arten von Stoffen er-
nährte, zurüdblieben, fränfelten und eingingen. Es
waren alfo noh Ergänzungsftoffe notwendig, eben
jene Vitamine. Man Eonnte fie nicht rein þer-
fielen, wußte aber, in welchen Nahrungsmitteln
fie vorhattden waren. Setzte man dem Futter
jener Tiere folche zu, fo erholten fih die Patienten
febr ſchnell.
Die Vitamine find alfo unbedingt nötig zur Ge-
fundheit und zum Wachstum des. Körpers, wenn
fie auh nicht unmittelbar Energie ober gewebe-
bildenden Stoff zuführen. Man Tann die Wita-
mine auch nicht im Körper felbftändig bilden, daher
eben die Motwendigkeit entiprehenden Nahrungs-
zufuhr. Sonft treten die fogenannten Mangel
franfheiten auf. Dem Fehlen eines beftimmten
Vitamins entfpriht eine befondere Erkrankung.
Man fennt zur Zeit mindeftens fünf DBitamine,
die man in Ermangelung a befferen Namens
durch Zuſatz der Buchſtaben A, B, C, D und E
Fennzeichnet. Das heißt: man ‚Kenne bie betreffen-
ben Ergänzungsftoffe nur infofern, als man ber-
ausbefommen Bat, in weldher Nahrung fie vor-
handen find.
Da ift zunächſt das wachstumsfördernde Bita-
min Es kommt vor in Vollmilch, Rahm,
Butter, Käfe, im Tierherzen, Eidotter, Tomaten,
Salat, Klee und anderem. Beſonders reih an
diefem Vitamin ift der Lebertran. Es fommt aber
nicht vor 3. B. in Margarine. Alfo es ift unrichtig,
dag Margarine denfelben Nährwert hat wie Butter!
Das DBolksempfinden bat hier das ganz richtige
Gefühl. Fehlt der Nahrung das Vitamin A, fo
wird das Wachstum beeinträchtigt und die Wider-
ftandsfähigkeit gegen Krankheiten herabgeſetzt. Ge-
Vitamine? D
Japaniſchen Forſchern ift es gelungen, einen je- `
301
ſammenleben mit dem Nebenmenſchen erleichtert
und auh Freude und Genug am Fremdartigen und
Unbefannten bereitet und die Selbftmeifterung fei-
nes Ichs, welches zweifellos zu den Föftlichiten
Schätzen gehört.
Don Stubiendireftor
Mar Müller.
nieft man eine A-lofe Koſt längere Zeit, fo ent-
fteht eine eigentümliche Krankheit, die Xerophthal⸗
mie oder Yugendürre, das heißt ein Trodenwerden
ber Augen, das oft Erblindung im Gefolge hat.
Sie wird befonders in Dänemark beobachtet, wo
nämlich die Bauern die Mil abrahmen, um bie
Butter nad) England verkaufen zu Fönnen. Die.
Leidtragenden find die — erblindenden — jütifchen
Kinder.
Der Mangel an Vitamin A trägt endlich bei
zur hun der englifhen Krankheit, der Ra-
bitis. Der A-hältige Lebertran ift das befte Heil-
mittel (nur muß es rober fein, Fein gebleichter,
feine Emulfion!), ferner frifches Gemüfe und Obft.
Früher hielt man Rachitis für eine allein durd
„mangel bewirkte Krankheit; (dann müßte bie
A-hältige Vollmilch zur Heilung genügen; das ift
aber niht der Fal); das Vitamin A fpielt hier im
Gegenfaß zu der Augendürre nur eine mittelbare
Rolle.
Auh das Vitamin B ift Iebensnotwendig.
Es ift ebenfalls ein Wahstumsförderer. Es fin-
det fih am häufigften von allen Bitaminen. Grüne
Blätter und Gemüfe, Getreidevollforn, Nüſſe,
Südfrüchte (diefe find alfo im Winter Fein Lurus!),
Tomaten, dag find einige der Quellen, aus denen
wir e8 beziehen Fünnen. Das Aufblühen von Leu-
ten, die vom Typhus genefen, fommt vielleicht da-
her, daß die Typhusbazillen B-hältig find. Dap das
MWahstum von Kindern im Frühling fchneller vor
fidh gebt als im Winter, dürfte fih dadurch er-
. Bären, daß die Milh im Frühjahr und Sommer
B.reiher ift; denn das Wieb frißt dann Grün-
futter auf der Weide. Das Bitamin B ift leicht
im Wafler löslich; wenn man daher Gemüfe ab-
brüht, fo wird diefer Wachstumsförderer befeitigt!
Es ift zum Glück verhältnismäßig hißebeftändig,
fonft Fünnten die Fünftlich genährten Kinder nicht
gedeihen, die auf abgekochte Milch angewieſen find.
Es wirft in geringften Mengen; daher empfiehlt
Dr. von Kügelgen in feinem Buch Die Mangel-
franfheiten‘ einen Zufag von Möhren- oder Ge-
müjefaft zur Wadstumsfteigerung.
Das Fehlen von Vitamin B ruft Appetitlofigfeit
und Schwäche, fowie Gewichtsabnahme hervor. Ob-
wohl es in fo vielen Stoffen vorfommt, haben
doch Soldaten, Seeleute, Reiſende, Gefängnis-
302
infailen, Kinder und andere, die aus irgend einem
Grunde längere Zeit eine einfeitige Koft hatten,
infolge des Mangels an Vitamin B die fhwerften
Gefundpeitsfhädigungen erfahren. So ift da eine
Tropenfranfheit, Sprue, der ingbefondere euro»
päiſche Frauen in Städten bei einfeitiger B-Iofer
Koft (Brot) anheimfallen, während die Bananen
effenden Landbewohner in ber — geſund
bleiben. Mit bewirkt durch Mangel an B ift die
fogenannte Dedemfrankheit, die in Indien in Hun-
gerzeiten nicht felten it und im Stedrübenwinter
1917 auh uns heimfuhte. Sie bat auch 3. B.
unfern Hilfsfreuzer „Kronprinz Wilhelm‘ früh-
zeitig in einem amerifanifhen Hafen Schuß fuchen
laffen, da alles an Bord erfranfte, trog anfcheinend
befter Verpflegung: drei Pfund frifhen Rind—
` fleifhe pro Tag und Mann, Käfe, Salzfifh und
Wurf, Schinken, feines Weipbrot, Zwiebad,
Büchfengemüfe, Kartoffeln, Fett und Kaffee in
Menge! Auch Kartoffeln gab es, doh waren fie
. wohl abgebrüht oder getrodnet. Die Offiziere
blieben gefund, denn fie hatten friſches Obft
und Gemüfe! Die Leute wurde aud fofort geheilt,
als fie an Land Gemüfe- und Kartoffelauszüge be-
tamen. Das hätten fie aber auh an Bord haben
fönnen, fogar ein Auszug aus dem fudermweife ver»
ſenkten Vollweizen hätte genügt. „Schiffsberiberi“
ſuchte fie heim, weil die Ergebniſſe der Witamin-
forfhung dem Sciffsarzt noh nicht genug befannt
waren.
Das Vitamin B wird eben durch unfere Kon-
fervierungsmethoden von Obft und Gemüfe völlig
zerftört; auch reines Weißbrot enthält es nicht.
Srüber bezeichnete man das Vitamin B wohl aud
als Anti-beriberi-ferum, doch hat diefe Krankheit
eher mit einem andern Vitamin zu tun.
Vitamin C ift als foharbodheilender Er-
gänzungsſtoff befannt, weil Mangel an C Sgar-
bot (Skorbut) verurfaht, worunter vor allem
Sciffsbefagungen (Walfifhfänger!) Teiden, die
lange auf Büchſenſpeiſen angeriefen find.
Im Spätwinter folen ganze Stämme Esfimos
in Mordamerifa ausfterben, weil fie der Skorbut
befällt! Friſches Gemüfe bringt fofort Heilung;
1795 wurde den englifchen Kriegsichiffen das Mit-
nehmen von Zitronen als Heilmittel gegen Skorbut
befohlen. Denn Vitamin C findet fih 3. B. in Bi-
tronen, Apfelfinen, Tomaten, Kohl, Spinat, Erb-
fen, Bohnen und Möhren. Die meiften Gemüfe und
Süpdfrüchte weifen es auf. Kuhmilch it im Win-
ter fo arm an C, daß die Kinder Säuglingsfchar-
bod befommen können. Man gibt daher Kleinen
Kindern neuerdings mandhmal etwas Apfelfinen-
oder Tomatenfaft bei.
Vitamin qſcheint irgendwie in Beziehung
zu ftehen mit gewiflen Phosphorverbindungen, die
Die Löfung des Mätfels der Vitamine?
— — — u ——
bei der Knochenbildung eine Rolle ſpielen. Es fin-
det fih u. a. in Wurzeln, Obſt, Getreide, Nüffen,
Milh, Hülſenfrüchten und Hefe. Sein Fehlen ruft
in Verbindung mit dem Mangel an einem andern
Frgänzungsftoff Beriberi hervor, eine eigentümliche
Tropenfrankheit, die befonders in Neisländern häu-
fig auftritt, aber nicht an fie gebunden ift. 3. B.
trat fie 1894 auf norwegifhen Schiffen auf, als
die Erbfen-, Sped- und Schwarzbrotnahrung durd
MWeikbrot- und Büchfenfleifchfoft erſetzt wurde;
überhaupt ftellt fie fih ein, wenn die Nahrung
durch zu langes Erbigen, Körner durch Schälen,
Gemüfe durch Weggießen des Brühwaſſers ent-
wertet werden. Das Polieren des Reiskorns z. B.
raubt ihm gerade die vitaminhältigften Beftand-
teile. Beriberi wurde eine Maflenfeude, als der
Genuß von poliertem Reis Sitte wurde, weil die
alten Handmühlen durch Dampfmühlen verdrängt
wurden, die die Schalen des Reiskorns vollftändig
vom Reis entfernen. Genuß von Meisfleie bradıte
fofort Heilung. Eine Nachprüfung in javanifchen
Gefängniffen zeitigte das Ergebnis, daß bei Cr-
nährung mit poliertem Reis von 39 Gefangenen
einer beriberifranf war, bei Verwendung von Reis
mit teilmeife noch erhaltenem Silberhäutchen nur
jeder 416te, bei einer Koft von ganz unpoliertem
Reis nur jeder 10 725te! Aud die neuzeitlidhen
Meble find derart ausgemahlen (und fo alle daraus
bergeftellten Bad- und Teigwaren), dap ſolche Nah-
rung — ebenfo wie die üblichen Konferven — eine
fehr einfeitige Koft darftellt. Aud fehlt dies Vi⸗
tamin in unferm einheimifchen Obft.
Vitamin E ift erft neuerdings in den Blid-
punkt der Aufmerkſamkeit getreten. Es zeigte fid
nämlich, daß Ratten, denen man zu ihrer einfeitigen
Kot noh genug an Bitaminen der beiprodenen
Art zufeste, zwar gefund weiterlebten, aber fih
nicht fortpflanzen konnten. Es fehlte offenbar noch
ein weiteres Bitamin. Es kommt z. B. im Salat
vor, fowie im Reis. Als man ihnen ſolche Nahrung
hinzugab, pflanzten fie fid wieder fort.
Als fo die Kunde von den Vitaminen aud in
weitere Kreife drang, fuchte man natürlich, eine
möglihft vitaminhältige Nahrung zu ges»
nießen, und bat wohl den Nährwert einer
Koft ausihliegliih nah dem Witamingehalt beur-
teilt. Obwohl man ſich die Sahe im Grunde recht
einfah machen fonnte, in dem man ;. B. grünen
Gemüfen und Südfrüchten befondere Beachtung
ſchenkte, tauchten eine Menge Fünftliher Drogen
auf, die den Anfprud machten, Vitamine Fonzen-
friert zu enthalten. Natürlich darf man feine Wi-
tamine nicht in ber Apothefe fuchen, fondern viel-
mehr im Garten oder auf dem Markt. Aber num
ſcheint es dod, als fei es gelungen, Ditamine rein
berzuftellen.. Die Wiſſenſchaft der legten Jahre
batte fi) ja ganz befonders abgemüht, und zwar
ſchien es ganz ausfichtslos, die geheimnisvollen Wi-
tamine zu faflen, jo daß man ſchon meinte, fie feien
garnicht ſtofflicher Natur, fondern es lägen Strab-
lungen zugrunde.
Nun hat der Japaner Katfumi Tafahafi im La-
boratorium von Profeffor U. Suzufi im phyfi-
kaliſch⸗chemiſchen Forfhungsinftitut in Tofio Wita-
min A gewonnen, aus Tebertran, Spinat und grü-
nem Meerlattih. Es ift ein gelblichrotes Del,
durchſichtig und dickflüſſig, von eigenartigem, nicht
gerade unangenehmen Geruch, leicht bitterem Ge-
fhnmd und überrafchenderweife nicht fo unbeftän-
dig, wie man gemeint hatte: im Tuftleeren Raum
deftilliert, zerfällt es Feineswege.
Die Japaner haben es Biofterin getauft, weil
es dem fchon als Beftandteil von pflanzlichen und
tierifhen Zellen gut befannten Cholefterin in der
Zufammenfesung und in den Eigenfchaften ähnelt.
Erftaunlih ift die Wirkung des Bioſterins auf
Lebeweſen. Ein Millionftel Gramm, das einer
Das Stußen der Baumfronen. Von Dr. Fran Svadr.
Was die Mode befiehlt, darüber wird nicht nad.
gedacht, Es ift den Leuten heilig, ob es gleih Sha-
den bringt, es wird gemacht! Diefem vollswirtfchaft-
lipen Geſetz unterliegen angewandte Kunft und
Aefthetil vorwiegend. Das fieht man an dem ge-
genwärtig modevorſchriftsmäßigen gärtnerifchen
Stugen der Baumfronen. Die Abb. 1 und 2
(Robinien) zeigen, was aus den fo behandelten
Bäumen wird, die als fhön (!) gelten folen,
während man fie in Wirklichkeit zur Berfrüp-
pelung gebradt hat.
Die in den Blättern bereiteten Mäbhrftoffe .
wandern in den Stamm, um hier zunächſt gelagert
zu werden und im nädften Frühjahr das Material
zur Meubildung der Blätter herzugeben. Wird
nun einem Baum die Krone genommen, dann ift
die Meubildung von Blättern natürlih auf ein
MWeniges eingefehränft, und infolgedeflen „wiſſen“
die im nädhften Frühjahr in Bewegung -gefegten
Nährſtoffe nicht, wo fie unterfommen follen. Es
bleibt ihnen bei dem Mangel an Blattknoſpen
fein anderer Weg als der, einer außergewöhnlidhen
Verdickung der verbliebenen Aftftümpfe und bes
Stammes als Material zu dienen. Weil diefe
Verdickung ſtür miſſch, förmlich erplofiv erfolgt,
ift fie ungleihmäßig und zeigt fih, bi Nobinien
zunächſt fat regelmäßig an der Anfasftelle der
Aefte, in einer ftarfen Knotenbildung, die
aber aud an anderen Stellen des Stammes, be-
fonders infolge von NRindenbefhädigungen auftreten
fann. Bei Platanen zeigt ſich außer zahlreichen
Das Stugen der Baumkronen.
303
vitaminarmen Nahrung zugefegt wurde, mit der
Ratten gefüttert wurden, genügte, fie gefund und
wachſend zu erhalten, während fie fonft eingegangen
wären. Merfwürdigerweife ftarben Matten, die
einen Tropfen au viel hefamen. Es handelte Rd
dabei allerdings um bag Zehntauſendfache der ge-
wöhnlichen Gabe! Mfo die Gefahr einer Ber-
giftung liegt nicht vor, wenn tatfählih nun die
Ernährungswiflenfhaft dazu übergehen folte, durd
Zufag von Biofterin den Nährwert unferer Spei-
fen entfcheidend zu beeinfluflen.
Doch es klingt faft zu ſchön, um wahr zu fein.
Aber unfer Gemwährsmann, Dr. Stoffen vom
Science Service in Wafhington, der in ber legten
Nummer des Scientific Monthly von der japa-
nifhen Entdeckung berichtet, ift ein Forſcher von
Ruf, der faum auf eine bloße Ente hereinfallen
dürfte.
v. Kügelgen, Die Mangelkrankheiten. Dresden, Pahi,
1925. Scientifie Monthly, September und Oftober 1925.
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Fällen von Stammknoten und -verdidungen
(Abb. 3) regelmäßig an den Aeſten eine reiche
Knöthenbildung, mwodurd die normaler-
weife geraden Hefte eine außergewöhnlig Enor-
rige, fat zickzackmäßige Form annehmen.
Won den in Heidelberg zwiſchen Römerſtraße und
MWilhelmsplag an der SKaiferftraße ftehenden 22
geköpften Platanen haben 20 in den verfchiedenen
Graden an den Stämmen Knoten oder Verdickun⸗
gen. Während die Obftbäume fhon infolge des
gewöhnlichen Auspugens und Tichtens der Krone
die überfchüfligen Nährſtoffe in neugebildeten fog.
MWafferreifern unterzubringen fuchen, darf
man fih nicht wundern, daß ein Baum, dem faft die
ganze Krone genommen wird, zu auffallenden
Verlegenheitsverdietungen fhreiten muß. Daß bei
regelmäßigem Kunftfhnitt von Obfibäumen eine
gleichzeitig erwünfchte Derdidung der Zweige er-
folgt, ift den Gärtnern befannt. Weshalb die
Robinien oder mande Sorten befonders und faft
regelmäßig zu folden Knotenbildungen neigen,
wenn ihnen eine bereits aus ftärferen Aeſten be-
fiebende Krone eingeftugt wird, läßt fi natür-
lich niht fagen. Doc läßt fih beobadıten, daß,
wenn die Einftusung in jüngerem Alter erfolgte
und in nur Furzen Zwifchenräumen wiederholt
wurde, dann unnormale Entwidlungen unter-
bleiben. Das ift verftändlich. Bei einer bereits ftarf
entwidelten Krone find Gefäße, Säfte-
from md Wurzeldrud in ihrer Größe
und Stärfe auf die Ernährung einer foldhen ein-
304
geſtellt. Wird dem Säfteftrom nun plöglic das
Abflußgebiet faft ganz genommen, dann ſucht fih
der Saft in den entftehenden Meubildungen einen
anderen Abflug. Daß diefe vorwiegend an- den
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Abb. 1.
Anfagftellen der Xefte zuftande fommen, ift
eine Folgeerfheinung des bier aus allen Aeſten
fih konzentrierenden Säfterüdftaus So
zeigt es fih auh an den zur Erzeugung von Geräte-
ftielen gezogenen KRopfmweiden (Abb. 4), bei
denen allerdings die ftehen bleibenden Aftitümpfe
wefentlich zur Vergrößerung des Kopfes beitragen,
der fih oft viel größer findet, als es die Abbildung
zeigt. Degünftigend kommt an der Anfabftelle der
Aefte bei Robinien hinzu, daß bier meiftens die
Veredelung erfolgte, wodurd die neue Wer-
unregelmäßigung, Unterbrehung bezw. Verengung
im Derlaufe der Gefäße einfegte mit der Wirkung
einer Saftftauung. Endlich hat die Natur
aud das Beftreben, die mit der Veredlung erfolgte
Verlegung kräftig auszubeffern und mit
einer Ummulftung zu verfehen, wie fie ähnlich bei
dem Anwachſen gebrodhener Knochen ftattfindet.
Aus diefen Gründen finden ſich auh fonft Wer-
Das Stusen der Baumfronen.
edlungsftellen oft verdidt, ſoweit das niht ſchon
durch ein ftärferes Difenwahstum der Veredlumgs⸗
forte herbeigeführt wird. Zu firamm gewordene
oder fogar eingewachſene Pfahlbänder können natür-
lih bei SKronenneubildung ebenfalls zu einer
Stockung des zurüdfließenden Saftes an der frag-
lihen Stelle beitragen und die Knotenbildung be-
günftigen. Dennoch muß die Kroneneinftugung als
die Saupturfadhe unter den begünftigenden
Einflüffen anerfannt werden. Das läßt fih an den-
jenigen Fällen erkennen, in denen die Knoten fürm-
lih aus dem Stamme hervorgequollen erfheinen.
Verdickungen diefer auffälligen Art laffen fidh. infolge
von DVeredelungen fonft niht beobachten. Wo Wer-
edlungen allein in Betracht fommen, pflegt fih nur
ein ftärferes Dickenwachstum des Edelftammes in
größerer Länge zu vollziehen. Die Veranlaſſung
zu abnormen Auswüdfen fann dadurch verftärkt
worden fein, daß die Bäume in Kompofterde ge-
pflanzt wurden. Die gefunden Bäume zeigen da-
durd eine fo üppige Zweigentwidlung und Blätter-
bildung, daß mitunter Zweige abbraden, weil fie
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Abb. 2.
ſich ſelbſt nicht tragen können. Auch die vereinzelt
vorkommenden, ganz außergewöhnlich vermehrten
hexrenbeſenartigen Reiſervermehrungen
bei manchen Robinien, die Verknorrungen der
Aeſte und vereinzelten Verwarzungen des ganzen
Stammes (Abb. 3) an geftusten Platanen find Er-
fheinungen, die fih niht auf eine (weil bier über-
baupt nicht vorgefommene!) Veredelung zurüd-
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Abb. 3.
führen laffen.
Man fuhr die in Rede ftehenden modenmäßigen
Derftimmelungen der Bäume ehrenvoll damit zu
begründen, daß man fagt: die Anmohner der
Straße wünſchen fie, um Licht in die Häufer zu
befommen. Eine folhe Motivierung verdient die
vollfte Würdigung, wo ſolche Fäle wirklich gegeben
find. Sie find ja zahlreich genug in für Alleen
eigentlih zu fhmalen Straßen, wo man aber
dennody etwas Grünes niht ganz entbehren und
den Eintritt des. Frühlings auh vom Zimmer aus
genießen möchte. Wenn man fih aber weiter um-
fieht, dann wird man finden, daß das Stutzen der
Kronen Feineswegs auf diefe Fälle befchränft,
fondern auh dort, wo es nicht angezeigt ift, aljo
allgemein, d. h. modegemäfß ausgeführt wird.
Weil durd das Stutzen der Krone die Blüte vor-
übergehend oder dauernd verhindert wird, ſcheint
man fih garnicht zu überlegen, weshalb man zum
Stutzen veredelte Kronen nimmt, da die Veredelung
doh nur der Blüte wegen gefhieht. Die vor-
berfte Robinie in Abb. 5 (es ift die zweite von links
in Abb. 2) zeigt, wie gegebenenfalls eine eingeftugte
Das Stutzen der Baumfronen. 305
Mobinie im vollen Blätter- und (fehlendem) Blü—
teni dmu d” ausfieht! — Wenn man darüber
nachdenft, wird man doh wohl zugeben müflen, daß
man fonft unter „ſchön“ etwas anderes zu verftehen
pflegt. Man wolle beachten, daß der in Abb. 5
wiedergegebene Baum einer der in Abbildung 2
photograpbierten ift. Die Aufnahme zur Abb. 2
erfolgte im Winter, diejenige der Abb. 5 Anfang
Suni. Der Unterfchied ift nur gering, während an
einem gefunden Baum im Sommer die Aeſte durd)
den Dlattreichtum völlig verdedt find. Die abge-
bildeten Nobinien haben ein Alter von gegen 5)
Jahren, befinden fih aber auf dem Sterbe—
e ta t, dem einige dazwifchengeftandene ſchon anheim-
gefallen find. Man fieht an zahlreihen der mit
Kröpfen verfehenen Nobinien, daß die Krüpfe
ftellenweife noh ftarf wachſen, naddem die Kro-
nen ſich wieder in einer normalen Weife entwidelt
baben. Diefes auffallend ftarfe Wachstum ift daran
erkennbar, daß im Innern der Kröpfe eine fo ftarfe
Holzentwidlung ftattfindet, daß. die Rinden- und
Borkenbildung niht folgen kann. So geidieht
cs, daß die Rinde fih jo zart und hellfarbig, faft
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Abb. 4.
weiß, entwickelt, daß ſolche Stellen auf größere
Entfernung hin erkennbar ſind. Es ſchimmert der
Baſt durch oder iſt gar nicht von Rinde bedeckt. Auch
auf manchen Querſchnitten ſind durch die große
306
Breite der Jahresringe diefe Verhältniſſe erfenn-
bar, die Deranlaffung zu der Behauptung geben
fönnten, daß die Kropfbildung nicht eine Folge der
Kronenftugung, jondern nur der Veredelung fei.
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Abb. 5.
Hierauf ift zu erwidern: nahdem die Wer-
edelung die Deranlaffung zur Kropfbildung an
diefer Stelle gegeben haben fann und wohl meiftens
gegeben haben wird, bleibt dennoch das Weiterwad-
jen des Kropfes bei voller Meubildung der Krone
und unabhängig von der ftattgefundenen Derede-
Iungsbeihadigung dadurch vollig erflärlih, daf
unmittelbar nah erfolgter Stußung in der Nähe
und innerhalb der Kröpfe fid) eine fo große Geſamt—
fläche von Gefähquerfchnitten gebildet hat, daß man
idh darüber nicht wundern darf, wenn diefe zu
einem Teil in vermehrter Säftezufuhr nun auch nod
weiter wirken, nahdem die neue Krone imftande
fein würde, die gefamte Menge an erzeugten Nähr—
ftoffen zu verbraucden.
Es ift von zuftändiger Seite behauptet worden,
es handle fih in den Abb. 1, 2 und 5 niht um
Erfranfungen, fondern um die Spielart der K o r É-
robinien. Zur Widerlegung diefer Behauptung
dient die Abb. 6. Diefelbe zeigt einen abgeftor-
a Das tugen der Baumkronen.
benen Aft, dem die Rinde genommen ift. Man fieht
mit aller Deutlichkeit, daß nah Beſeitigung der
Rinde infolge der warzenartigen Wude-
rungen des Holzkörpers die Oberfläche ebenfo raub
ift, wie es die Rinde war. Läge eine Korkipielart
vor, dann müßte dag Holz unter der Minde glatt
fein- Uebrigens fiehbt man an den Stellen a oben
und unten nod Eleine Teile der normalen Holzober-
flähe. Der hier gemadte Einwand und aud der-
jenige, welder die Kronenftugungserfranfungen
damit abweift, daß es fih nur um Verwachſungen
der MWeredelungsftellen handle, entpuppen ſich
alg Urteile folder Leute, denen die Mode das oberfte
Geſetz ift, denen ein Urteil über die Mode aber
völlig entgeht. Man ſucht ihre Herrſchaft daher mit
allen aufwendbaren Unmöglichfeiten zu ftügen. Die
einzige für diefe Kritifer vorhandene Unmöglichkeit
ift die, daß etwas anderes als die Mode richtig fein
fünne. An dem Aft Abb. 6 ift außerdem zu er-
fennen, wie die Aefte infolge der Kronenftugungen
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Abb. 6.
bei ſonſt ganz gerade wachſenden Bäumen Krüm—
mungen erfahren, die am auffallendſten bei Pla—
tanen in die Erſcheinung treten. (Abb. 3.)
Die Abb. 7 zeigt Querſchnitte erkrankter Aeſte,
Das Stutzen der Baumfronen. 307
aus denen erfihtlic ift, wann die Knotenbildungen
entftanden find. und welden Teil des Querfchnitts
fie einnehmen. Bei dem Querfchnitt 1 liegt das
Marf in der Mitte der oberen Hälfte. Die ganze
untere Hälfte ift der Querfchnitt einer einfeitigen
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mit etwa 12 Jahren, hauptſächlich nach oben hin,
bei 5 ebenfalls im 12. Jahr nach oben hin, dann
aber erft im Alter von etwa 30 Jahren ganz ge-
waltig nad der entgegengefegten Seite (unten).
Abb. 7.
Aftverdidung. Auf dem Querfohnitt 2 fieht man
an der unter der Rinde liegenden hellen Partie
die ftarfe Verdickung des legten Jahresringes- Die
Verdickung ift hier in allen Jahren ziemlich gleidh-
mäßig um den Aft herum erfolgt. Die Lage des
Marks befindet fih daher ziemlih in der Mitte.
Auf dem Querſchnitt 3 begann die Verdidung nad)
oben rechts zuerft etwa im 12. Lebensjahr, nad) un-
ten zu dagegen erft gegen das 30. Jabr, zulegt mit
der riefigen Ausbudhtung nad unten linfs. Beim
Querſchnitt 4 begann die Knotenbildung ebenfalls
Iihen Bäume zugleich geftugt worden find. Die
Querſchnitte laffen übereinftimmend erfennen, daß
das zuerft etwa im 12. Jahre gefchehen fein muf.
ermit ftimmt auh die Ausjage von Leuten ent-
irrehenden Lebensalters, welche die Bäume nur in
dem jeßigen Zuftand gefannt haben wollen, wobei
die allmählihe Zunahme der Verdickungen nad
wiederholtem Einftugen natürlich überſehen wird.
Auf fämtlihen Querfchnitten ift eg deutlih zu er-
fennen, daß fie Querfchnitte eines Aftes mit einer
Holzoberflähe wie Abb. 4 find. Wo die Verdickun—
308
gen anfangen, find die Jahresringe nicht mehr
fharf ausgeprägt, weil mit der Ungleihmäßigkeit
der Derdidungen aud die Jahresringe natürlich
ungleihmäßig werden müflen und die fcharfe Mar-
fierung mit ihrer um ein Vielfaches erfolgenden
Verbreiterung durd einen viel allmählicheren Ueber-
Hang von dem Frübjahrs- in dag Herbftholz und um-
gekehrt verwifcht wird.
Die vorliegenden Unterfuhungen erfolgten an
Bäumen der Stadt Heidelberg, wo Herr Garten-
direftor Karl Diebolder fie mir danfens-
wert ermöglichte.
Meine erfte Weröffentlihung über das vor-
liegende Thema bat mehrere furdtbare Wut-
Zum MWefensunterfhted von Pflanze und Zier. _
ausbrüde der Gärtner in Möllers deutſcher
Gärtnerzeitung zur Folge gehabt. Man fann das
nur vollfommen verftehen, wenn man die Macht
der Mode und die Unbefanntfhaft der Gärtner
mit pflanzenphpfiologifhen Vorgängen fennt. Die
Wiſſenſchaft der Gärtner befhränft ſich bis zu
deren höchſten Kreiſen hinauf in Deutſchland in⸗
folge des bisherigen Fehlens einer Hochſchule auf
die ſpezielle Botanik. |
So erklärt es fih, daß ich, als ih vor einer
Reihe von Jahren an gehöriger Stelle zur Cr-
richtung einer gärtnerifhen Hochſchule eine An-
regung verfuchte, feinem Verſtändnis begegnete;
mir wurde eine ſcharfe Abmeifung zuteil.
Rum Wefensunterfchied von Pflanze und Tier.
H
Von Dr. Hans Andre.
Im Septemberheft von „Unſere Welt” fchrieb
B a v int eine Beiprehung meines Budes: „Der
Mefensunterfhied von Pflanze,
Tier und Menſch“ (Verlag Franke, Habel-
fhwerdt, Schlef.). Bavinf wendet fidh darin gegen
die Scholaftifche Methode meines Buches, die aus den
vollfommen zu Redt beftehenden funthetifhen Ka-
tegorien ſcharfe Gegenfaspaare mache, welche reale
. Vebergänge ausschließen. ‘Dadurd werde die Wirt-
lichkeit vergewaltigt, die
nungen der Arten, Ordnungen, Klafien, Reiche
ufmw., welche die Syntheſe madhen muß, keineswegs
zeigt, vielmehr Uebergänge aufweiſt. Solde
Uebergänge werden denn auh von der Entwid-
Iungslehre dogmatifch gefordert.
Zunächſt darf ich wohl daran erinnern, daß die
vom Entwidlungsgedanfen vollkommen unbeein-
flußte Scholaftif ebenfalls eine gewifle Kontinuität
im Organismenreich anerkannte. Thomas ; DB.
ſchreibt: „Wie Ariftoteles im 7. Buch der Tier-
geſchichte ſagt, fchreitet die Natur allmählich fort,
fo zwar, daB fih die Welt der unbelebten Wefen
früher finder als die der Pflanzen, die zwar im
Vergleich zu den unbelebten Wefen belebt, im Wer-
gleidh zu den Tieren unbelebt zu fein fcheinen. Und
ähnlich fchreitet die Natur fort von den Pflanzen
zu den Tieren und zwar wiederum in einer fon-
tinuierlihen Stufenreihe, infofern nämlich gewiſſe
unbeweglidhe Tiere, die am Boden haften, fih nur
wenig von den Pflanzen zu unterfheiden feinen.”
Trotzdem zieht Thomas als ein weſenhaft auf die
Qualität gerihteter Naturbetrachter — er
bat bier wohl aud von Albert dem Großen man-
deg gelernt — eine fharfe Grenzkontur zwifchen
Pflanze und Tier. Er weiß, daf es im
Reihder Qualitätenaub Sprünge
gibt. Ks fragt fib nun: Hat Thomas (der bier
jene fiharfen Tren⸗
ganz auf Ariftoteles fußt) das Wefentlide
im qualitativen Unterſchied von Pflanze und Tier
gejeben? Daß Thomas nicht mit der modern-
biologifhen Frageſtellung an das Problem heran-
tritt ift ſelbſtverſtändlich.
As Wefenseigentümlidhfeiten des pflanzlichen
(vegetativen) Lebens gelten Ariftoteles und Thomas:
Ernährung (im weiten Sinne als Affimilation
zu faffen) und Wachstum (mit damit verbun-
dener Entwicklung). Beim Tier hingegen kommt
das Sinnes- und nftinftleben als Wefensfon-
ftante die tierifhen Handlung hinzu. Sihaus-
vrüdlih auf Ariftoteles berufend,
firiert der deutſche Botanike Alerander
Braun den Gegenfag fo: „Entwidlungs-
geſchichte, fann man fagen, ift die eigentliche
Natur der Pflanze, die außer der Kraft des Bil-
dungs- und Fortpflanzungsprozefles Feine höhere
Kraft des Lebens befist, während beim Tier der
leiblihe Bildungsprozeß nur als Worarbeit zur
Anfnüpfung einer höheren Lebenstätigfeit erfcheint.
Denn mit der Kraft der äußeren ‘Darftellung ver-
bindet das Tier eine Kraft innerliher Lebeng-
erfaflung, die fi) im Seelenleben ausſpricht, durch
welche das Tier ein inneres Zentrum erhält, von
welhem aus der Organismus in eins und aus-
ſtrahlender Tätigkeit bewegt und beherrfht wird.”
Prügnanter fann man, glaube ich, den Unterfchied
nicht ausdrüden. Während die Pflanze Embryo-
nalzonen (Degetationspunfte und Cambium) von
fortlaufender Wadhstumstätigfeit befigt, während
fie ſich fozufagen nur entwidelt („Entwicklungs⸗
geſchichte“ it die Natur der Pflanze), erreicht das
Tier ein Stadium, wo es fozufagen „fertig (im
Mollbefis feines Leibes) ift, und nun fegt bei ihm
die „Handlung“ ein. Die gefehlofiene Form des
Leibes fordert ſinngeſetzlich die „Pſyche“ während
die offene Form der Pflanze für die Pſyſche als
Prinzip der Handlung, bildlih geipro-
hen, noh gar Feinen „Raum“ hat. Es kommt
nun für die vwiflenfchaftlihe Reizphyſiologie ber
Pflanzen darauf an, das, was die alten Denfer
(vorab Ariftoteles) mit originaler Intuition gefehen
haben, im Erperiment zu verifizieren, zu unter-
fuben, ob die Pflanze wirklich nur das „Ge⸗
wächs“ ift, wie die deutfhe Sprade in tiefer
Anlehnung an bie fhlihte Augenwahrheit fagt.
Wir find nun heute wirklich daran, diefen Elaffifchen
Begriff der Pflanze erperimentell wieder zu ent-
deden und zwardburdhdiebahbnbredhenden
Arbeiten des bolländifhen Botas
nifers Blaauw. Daf diefe Entdedung fo
fpät fam, daran ift nit ſchuld der die Wirflichkeit
vergewaltigende Dogmatismus der Scholaftifer,
fondern der Dogmatismus der Piychovitaliften und
der Entwidlungslehre, der die fcharfen Konturen
qualitativer Unterfchiede allzeit zu verwiſchen be-
ftrebt war und die pflanzlihe Reizphyſiologie mit
unerlaubten Begriffen aus der Tierſpychologie ver-
unreinigt hat. Wir wollen nun fehen, wie ber
Begriff der Pflanze als reines „Gewächs“, dem
jede Spur degs „HDandlungsartigen”
in feinen Reaftionen fehlt, durd die
neue Forſchung fih bewährt. Blaauw ging aus
von dem lementarphänomen des Phototropismus
bei Phycomyces. Er maß die Sporangienträger
von Phycomyces und fand, dap diefelben bei fehr
geringen, aber auch bei größeren und febr großen
Lichtmengen ftets etwa vier Minuten nah Be
leudhtungsbeginn eine ftarfe DBefchleunigung bes
Wahstums zeigen, die nach fieben Minuten ihren
Höhepunkt erreicht und dann wieder abfällt. Diefe
Erfcheinung, daß durd Beleuchtung ein bisher an-
näbernd gleihförmiges Wachstum in ein ungleidh-
förmiges übergeführt wird, nennt Blaauw „Pho⸗
towahstumsreaftion”. Läßt man bie
Beleuchtung einfeitig wirfen, fo tritt in der nor-
malen Zeit die Photomahstumsrenktion ein und in
dem Zeitpunkte, wo bei vierfeitiger Beleuchtung
diefelbe ihren Höhepunkt erreicht, tritt eine ſchwache
Krümmung ein, die allmählich ftärfer wird, big fie
nah 21 Minuten ftehen bleibt und fpäter zurüd-
geht. Der zylindrifche Sporangienträger von Phy-
eompces bricht dag fenfredht einfollende Licht fo, daf
die Hinterfeite erheblich heller wird als die Bor-
derſeite. Demgemäß erreiht die Wachstums-
befhleunigung auf der Rückſeite einen höheren
ert, eg erfolgt eine Krümmung nadh vorne.
Bringt man aber den Pilz in Paraffinsl und fest
ihn ebenfalls einfeitiger Beleuchtung aus, jo wird
duch den ftarfen Berechnungserponenten des Oels
die Vorderſeite heller beleuchtet und es tritt eine ne-
gative Krümmung ein. Zugleich ift das ein Beweis
zum Wefensunterfhied von Pflanze und Zier.
EE (©,
dafür, daß die Strahblenrihtung ganz
gleihgiltig für den Erfolg der einfeitigen Beleuch⸗
tung ift. Es handelt fih nur um die Helligkeit.
Daraus geht auch hervor, daB der Pilz die Hellig-
feit zweier Seiten niht etwa ‚vergleicht‘ oder den
Unterfchied „empfindet, fondern daß feine photo-
tropifhe Meaftion weiter nichts ift als eine ein-
feitige DBeeinfluffung der Wahstumsgefchwindig-
feit durch photochemiſche Prozeſſe. Blaauw ver-
ſucht nun die bei Phycomyces gewonnene Deutung
auch auf den Phototropisums vielzelliger Organe
anzumenden und fchließlich alle Probleme des Tro-
pismus überhaupt (auh des Geotropismug fowie
der naftifhen Bewegungen) in Wadhstums-
probleme aufzulöfen, alfo in den pflanzlichen
Meizerfheinungen alles „Handlungsmäßige“ (Tro⸗
pismen nah Art der Reflexe gedacht) völlig aus-
zufchließen. in indirefter Beweis gegen die Ne-
flernatur des pflanzlichen Tropismus ift auch der,
daß es beim Tier (wie Pawlow nachgewieſen hat)
bedingte, auf Erfahrungsaffoziationen beruhende
Meflere in feiner Sefretionstätigfeit gibt, während
es bedingte Iropismen, denen eine Affoziation zu
Grunde liegt, bei den Pflanzen nicht gibt. Die
Verſuche Erig Bebers, der faft ein halbes
Jabr fih damit befhäftigte, bei Mimoſen A ffo-
ziationen bervorzurufen, hatten ein völlig ne-
gatives Reſultat. Die Reizleitung und Neiz-
beantwortung bei Mimoſen hat zudem mit der ner-
vöſen Funktion bei der tierifchen Meflerbewegung
gar nichts gemeinfam. Die Gefchwindigfeit der
Meizleitung fteht, wie neuerdings Snow zeigte,
mit der Gefchwindigkeit des Saftfteigens durchaus
in Einflang, fo daß die fhon früher von Ricca
ausgefprohene Vermutung, daß die Weiterleitung
des Wundreizes der Blätter durch im Saftftrom
mitgenommene Meizftoffe beforgt wird, fih zu be-
ftätigen ſcheint. So unfrudtbar die an tierpfucho-
logiſche Analogien fih anlehnende Erforfhung für
ein tieferes Eindringen in die pflanzliden Reiz-
phänomene war, fo frudtbar erwies fidh die neue
von Blaauw angeregte Forfhungsrihtung, die mit
fiherem Inſtinkt an die rein vegetative Natur der
Pflanze anfnüpft. Ale faule” und dogmatifch be-
fangene Schule ermweift fih die alte. Richtung, die
aus bdeszendenztheoretifchen Vorurteilen den Um-
terſchied zwiſchen Pflanze und Tier zu verwifchen
fuhte. Blaauw hat geradezu revolutionierend ge-
wirft und ſchon eine Reihe wertvollfier Arbeiten
mit ſchönen pofitiven Ergebniffen angeregt.
Bavink meint, ih würde die Wirklichfeit ver-
gewaltigen, weil id ‘Disfontinuitäten dort fehe, wo
eine unbefangene Betrachtung lauter faft fon-
tinuierliche Webergänge zeigt. In Wirklichkeit ift
aber feine Betrachtung durchaus nicht unbefangen,
denn es entgeht ihr, wohl aus deszendenztheo-
310
retiſchen Borurteilen heraus, die Unftetig-
feitdes Dualitativen. Bei der Pflanze
ift die pſychophyſiſche Lebenseinheit noh unauf-
geipalten, weil fie als n ih t handlungsmäßig (fon-
dern rein vegetativ) rengierende Form für das Piy-
hifche im engeren Sinne (als Kraft innerlicher Le-
benserfaflung) feinen Raum hat. Erft beim Tier
tritt aus der pſychophyſiſchen Lebenseinheit das Piy-
hifche fozufagen Heraus und dem Phnfifchen als
feinem „Leib“ gegenüber. Zwiſchen der pſycho⸗
phyſiſchen Unaufgefpaltenheit und der pſycho—⸗
phyſiſchen Aufgelpaltenheit befteht ein Sprung
und nun geht es mit der Entftehung neuer Emp-
findungsqualitäten immer weiter in Sprüngen.
„Niemand glaubt”, fagt Stumpf, „daß Farben
und Töne fhon von allem Anfang zum Empfin-
dungsmaterial gehörten. Vielmehr ftellen wir uns
vor, daß diefes zuerſt nur aus einem einzigen
Qualitätenkreiſe beftand, etwa aus DBerührungs-
empfindungen oder einem ganz verfchwundenen
Urfinn. Die Entwidlungslehre ftatuiert demgemäß
ein allmähliches Hinzufommen der fogenannten
höheren Sinne zu den niederen. Nun hat aber ein
grabueller Uebergang von Berührungsempfindungen
in Gerüche, Farben oder Töne etwas Abfurdes.
Diefe Empfindungen find im vollften Sinne fpezi-
fiih verfchieden. Eine Berührungsempfindung, die -
im Begriff ift, ftetig in einen Gerud oder in eine
Sarbe überzugehen — das ift nicht bloß für unfere
Phantafie, das ift aud für unfer Denfen eine Un-
möglichkeit. Stumpf weift weiter darauf hin, daß
qualitative und fpezififhe ‘Differenzen auh dort
zum Vorſchein Fommen, wo auf der phufifchen Seite
nur ſcheinbar graduele Unterfchiede vorliegen wie
bei Menſch und Tier. Weit entfernt nun, bdie
Wirklichkeit zu vergemwaltigen, ſcheint mir die Er-
fenntnis der qualitativen Disfontinuitäten erft zu
ermöglichen, daß Reizphyſiologie und Pſychologie
der Einzelligen den tieferen MWirklichfeitsfon-
taft mit ihrem Gegenftande finden. Zmifchen der
pſychophyſiſchen Unaufgefpaltenheit pflanzlichen
Die Analyſen-Quarzlampe. Von Diplom-Ingenieur Leopold J. Buſſe. &
In den letzten zwei Jahren fand ſich ein neues,
recht praftiihes Anwendungsgebiet der ultra-
violetten Strahlen, das fiber auh der Eleftro-
technik gute Dienfte leiſten fann.
Es betrifft die Analnfe, oder befheidener gejagt,
die Erfennung und Unterfcheidung verfchiedener
Materialien, die äußerlid von oft völlig gleichem
Ausfeben im Schein der bunflen Ultraviolett:
Beftrablung ihre gegenfeitigen Unterfchiede oder
beigemifchte Verunreinigungen mübelos erfennen
laffen. Sehr viele Körper oder Stoffe, wahr-
josinlid eine viel größere Zahl als bisher ange-
Die Analyfen-Quarzlampe. _
Seins und der pſychophyſiſchen Aufgefpaltenheit
tierifchen Seins gibt es ebenſowenig eine Zwifchen-
ftufe wie zwifhen Quadrat und Würfel. Ent-
weder ift dag eine oder das andere gegeben.
Für die Verhaltungspſychologie der Einzelligen er-
wächſt nun die überaus intereffante Aufgabe, bei
aller fcheinbaren äußeren Gleihförmigfeit den
Dunft der pſychophyſiſchen Auffpaltung zu finden.
Meines Erachtens ift er mit der Affozietionsfähig-
feit, einem Elementarbeftandteil der Handlung, ge-
geben. Daß pflanzlihe Spermazellen oder
Schwärmfporen afloziieren Eönnen, Erfahrungen
fammeln, hat noh niemand entdedt. Die Aufgabe,
die ihre chemotaktifhen oder phototaftifhen Be-
wegungen erfüllen, können fie, wenn man fih die
Situation vergegenwärtigt, durdaus ohne Ge-
dächtnis löſen.
Schlußbemerkung.
Vom Verfaſſer nachträglich eingeſandt.
Zum Schluß noch eine Bemerkung über den Eindruck
der prachtvollen Filme, welche die Anilinfabrik über Wags-
tum, Ranken und Blühen der Pflanze hergeſtellt hat. Die
Bewegungen der Ranken z. B. regen zunächſt die dichtende
Phantaſie an, die betreffende Pflanze zu beſeelen. Uber
nun ift es, als ob diefe Seele den „Pflanzenleib“ gar
nicht recht beberrfhen Fönnte, denn die Ranken⸗
bewegung erfcheint uns in ihrem Hine und Serfrümmen
wie „blind und, wenn die Rante ibr Ziel nit er-
reicht, wie „krampfhaft“. Bei einer Vorführung der
Pflanzen, der ih beimohnte, bemerkte Herr Direftor
Shwarz feb, mandmal babe man das Gefühl, als
müſſe man der Pflanze helfen. Man braucht mit diefen
Bewegungen nur den eleganten Flug einer Fliegen fangen-
den Möwe zu vergleihen. Hier ift der Leib der reftlce
willige und überaus geihmeidige Diener der wahrnehmen-
den und die Sitwation inftinftiv beurteilenden Schäßungs-
kraft des Vogels. Shen Ariftoteles betont ein-
mal in Bezug auf das Leib Seele⸗Verhältnis febr fein,
„die Baukunſt Fönne nit in die Flöten fahren‘. Mur
die Tonkunſt fann die Flöte gleihfam „befeelen”. Und
fo paft aud die wahrnehmende und inftifntiv urteilende
Sinnesfeele nur in die geſchloſſene, der Hand-
lung fäbige Leibesform bes Tieres, nicht in
die offene Wahstumsform der Pflanze. Diten wir
fie doch hinein, fo wirkt die Pflanze im Film auf uns mehr
wie ein „Marionette denn wie ein befeeltes Weſen.
nommen, zeigen bei intenfiver Belichtung eine nur
ihnen eigene befondere Fluoreszenz von aber fo
ſchwacher Tintenfität, daß ſolches Selbſtleuchten von
roter, grüner, blauer ete. Farbe während der Be-
ftrablung mit gewöhnlichen Lichtquellen nicht wahr-
nehmbar ift, denn je heller die Lichtquelle, deſto
geringer ift die Fluorescenz; in jedem Falle
aber bleibt fie unwahrnehmbar, weil das helle Licht,
durch das fie erregt wird, fie immer überftrahlt.
Man bedarf alfo einer Lichtquelle, die ein für's
Auge dunfles Licht ausfendet, das aber trogdem
genügend Aftinität bietet, um dag Fluorescenzlicht
311
a — — — — — — — — — — — — — —
hervorzurufen. `
- Eine ſolche Lichtquelle fand man in der Quarz-
lampe, nahdem es gelungen war, bequem zu hand-
habende Filter herzuftellen, die von der Gefamt-
beftrahlung des Quarzbrenners nur das unficht-
bare dunfle Ultra-DViolert durdlaffen, das heißt
die Strahlung von Fürzeren Wellenlängen als
vierhundert Milliontel Millimeter, während fie
das helle Licht völlig ausfhalten. Wohl gab
es auh früher jhon gewiſſe Flüffigkeitsfilter
aus ¿wei bis drei verfchiedenen Flüffigkeiten
in Kuvetten hintereinander zufammengebaut (das
fogenannte Woodſche Filter); deffen Herftellung
und Handhabung war aber derart umftändlich, daß
eine für die Praris beftimmte Lampe unmöglich mit
ſolchen Filtern eingerichtet werden Eonnte.
Das neue Filterglas der Analyfen-QDuarzlampe
— Original Hanau — Modell 1925, welde die
Hanauer QDuarzlampen-Gefellihaft als Neuheit
auf dem Möntgen-Kongreß in Bad Nauheim im
Mai vorführte, ift als ganz neues glastechnifches
Produft in der Literatur noh nicht bejchrieben.
Es handelt fih um ein für's Auge in der Durd-
fiht fo gut wie ſchwarz erfcheinendes Glas. Man
fiehbt die Sonne ganz dunfelrot hindurdleudten,
den QDuarzbrenner felbft ganz dunfelviolett, prat-
tijh genommen geht alfo Fein fihtbares Licht
hindurch.
Das wirkſame Ultraviolett der Quarzlampe
zwiſchen etwa 400 und 300 Wellenlänge, das be—
kanntlich für's Auge unſichtbar iſt, wird jedoch durch—
gelaſſen. Durch dieſe beſondere aktiniſche Strah—
lung werden nun bei der gleichzeitigen Ausſchaltung
jedes unſichtbaren Lichtes die charakteriſtiſchen Fluo-
rescenzen in der ihnen eigenen Intenſität und Farbe
deutlich wahrnehmbar.
Techniſche Erläuterungen.
Für die Konſtruktion des Apparates wurde nach
langer Erprobung und ſorgfältigſter Beurteilung
aller noh in Zukunft zu erwartenden Verwendungs—⸗
möglichkeiten die in der Abbildung dargeſtellte Ban-
art gewählt. In erfter Linie wurde auf möglidhft
großen und freien Beobadhtungsraum, alfo auf
bequemfte Arbeitsmweife, Gewicht gelegt.
In den oberen, Faftenförmigen Aufbau ift der
Brenner lihtdicht eingefchloffen. Durch die Fleine,
vorn fihtbare Kurbel wird das Kippzünden be-
wirft. Genau unter dem Brenner befindet fih
das neue Dunfelfilter, durch welches die Ultra-
violett-Beftrahlung in den geräumig ausgebildeten
unteren Beobachtungsraum fällt.
Der Boden der oberen Brennerfammer (welcher
die Dunkelſcheibe enthält, die auch in der Abbildung
erfcheint) ift nah vorn herunterzuflappen, was ein-
mal für die Auswechslung der Scheibe dienlich ift,
um fie für gewifle befondere Proben durch andere
Gläſer erfegen zu Fünnen, dann aber auh, um mit
dem unfiltrierten reinen Quarzlicht unter dem
Brenner DBleichproben, Farbechtheitsprüfungen,
allgemein photochemifhe Verſuche vornehmen zu
fönnen, welche die volle unfiltrierte Strahlung des
DAuarzbrenners erfordern. Der dann auferordent-
lihe helle Beobachtungsraum wird feitlich durch dte
Vorhänge abgeſchloſſen und von vorn auf ca. 5 cm
vom Boden (zum Einſchieben der Proben) durch dre
beruntergeflappte Kaftenwand ſelbſt.
Die Hintermand der oberen Brennerfammer, die
ein gewöhnliches dunfelgraues Glas zur Beobady-
tung des Brenners enthält, ift ebenfalls abflapp-
bar, wodurdh man eine horizontale freie Ausftrab-
fung des Brenners erzielt, welche vorteilhaft zu
Mikrosfopbeleuhtung (Ultramifrosfop) und zu
manden anderen DBeleuhtungszweden, die ftarfes
aftinifches Licht erfordern, benußt werden fann.
Das dunfle Filterglas fann man auh an die
Stelle des grauen Beobachtungsglaſes bringen,
um im verdunfelten Arbeitsraum in horizontaler
Richtung auf größere Entfernungen mit dem abge»
filterten Dunfel-Ultraviolett auf ausgedehnte
Fläche Verſuche anzuftellen, 3. B. Beſtrahlung
größerer Gegenftände zum Auffinden von Fehlern
in der Oberfläche. Hier fei beifpielsweife erwähnt,
daB gan; neuerdings gefunden wurde, daß Haur-
ſchäden durch Nöntgenftrahlen, die bei gewöhnlichen
Siht fih noch jeder Erfennung entzogen, in dem
Dunfel-Ultraviolett der Quarzlampe bereits febr
deutlich fihtbar wurden. Man gewinnt alfo die
Möglichkeit, viel füher und demgemäß wirffamer
jolhe Schäden zu befämpfen.
An eleftrotehnifhen Fabrifaten werden unhomo-
gene Oberflächen, mangelhafte Stellen in der
Iſolierſchicht ete. als Ermittelungsobjefte in Frage
312
fommen, boch if diefe Kumenbunz noch zu neu, um
etwas beftimmtes, auf praftifhen Beobachtungen
beruhendes, bereits fagen zu können.
Die bisher für den Apparat entdedten Verwen⸗
dungsmöglichfeiten liegen, der Entwidlung ange-
meflen, welde die Quarzlampe in den legten
Jahren zu einem faft rein medizinifhen Apparat
gemacht hat, auh vorzugsmweife auf medizinifchem
und chemifhem Gebiet; dodh find fie intereflant ge»
nug, um auch bier kurz erwähnt zu werden. Wir
folgen dabei einer Fleinen Broſchüre ‚„‚Ultraviolette
Strahlen und ihre Eigenart”, die im Sollur-
Verlag erihienen ift.
Der Apparat wird zum Gebrauch fo aufgeftellt,
daß der Beobachtungsraum niht eben vom hellen
Tageslicht getroffen wird. Die Heinen Vorhänge
dienen nötigenfalls zu weiterem Lichtſchutz. Pein-
lichſte Dunkelheit ift bei den Beobachtungen feines-
falls erforderlig, da die Ultraviolett-jntenfität des
Quarzbrenners reichlich ftark it. Selbft bei hellem
Sonnenfdein find die harafteriftifhen Fluorescen;-
farben deutlich zu fehen, fobald man fih nur eini-
germaßen vom Tageslicht abwenbet.
Praktiſche Anwendung.
Der erfte natürliche Verſuch wird fein, daß man
fidh die Lichtquelle einfach anfieht. Man blidt alfo
von unten ber, am beften unter Zuhilfenahme eines
Epiegels, durd das Dunfelglas in den Brenner
hinein, der ganz dunfel nad oben erfennbar ift.
Sofort merft man in der völligen dunflen Um-
gebung einen ziemlich hellen Mebelichleier vor den
Augen, der etwas feltfames, fremdartiges an fid
þat. Unwillfürlih verfuht man, allerdings ver-
geblich, ihn zu verfcheuchen. Die Erfcheinung rührt
daher, daß die Linje und der Glaskörper des Auges
als Eiweigförper ihrerfeits fluoreseieren, alfo Licht
ausfenden, das die Augennerven als unbeftimmten
hellen Nebel empfinden.
Hat jemand falfhe Zähne und kommt damit in
den Strahlengang des Ultraviolett, fo fieht man
die eventuell noh vorhandenen natürlihen Zähne
in dem dunklen Gefiht Hel bervorleudten,
während die Fünftlihen Zähne ſchwarz unſichtbar
bleiben. Man fieht alfo die von Natur aus dort
beftehende Zahnlüde an deren Stelle. Aehnliches,
weniger auffallend, ficht man an der Handoberfläche
und den Nägeln. Die Hand bleibt dunkel, während
die Nägel, überhaupt jede Hornhaut, fih heller ab-
heben.
Man beobachte eine Anzahl Papierproben, die
im Tageslicht von gleiher Farbe find. Jm Dun-
felultraviolett zeigen fie häufig ganz verſchiedene
Sluorescenzfarben, von den in jhnen verarbeiteten
verfchiedenen Etoffen herrührend. Auf ein Blatt
Papier oder Karton made man eine Reihe Sett-
oder Delflede, 3. B. Mineralöl, Leinöl, Dafelin
Die Analpfen- Duarzlampe.
etc.. Faft alle Oele leuchten — hell, doch beob⸗
achtet man ſehr deutlich Sarbenunterfciede.
Befonders auffallend ift die Fluorescenzerfchei-
nung an den Gubftanzen, die als fluorescierend
befannt find, wie DBaryumplatinscyanür, Uran-
faliumfulfet ober Friftallifierendes Schwefelzink
(Sidotblende), das, meiſt durch eine Spur
Radium ſelbſtleuchtend gemacht, in den Radium-
uhren verwendet wird. Wenn dieſe Körper vorher
völlig dunkel gehalten werden — Radiumuhren
zählen natürlich nur halb, weil ſie ſchon in einigem
Maße ſelbſtleuchtend ſind — und man bringt ſie
ins dunkle Ultraviolett, ſo leuchten ſie auffallend
hell. Dieſe Erſcheinung bat ſchon praktiſche An-
wendung zur Erkennung von Fälſchungen oder
Miſchungen gefunden und in weiterer Verfolgung
zu einer Art von Ultraviolett⸗Analyſe geführt, die
natürlich auf eine gewiſſe, wenn auch ziemlich große
Gruppe von Körpern beſchränkt bleibt.
Zum Beiſpiel wird man leicht Hausdiebe über-
führen Fönnen, wenn man die Waren, von denen
man unnachgewiefenen Abgang bemerft, mit Spu-
ren eines, unfcheinbaren Salzes beftaubt, das im
normalen Licht durchaus unbemerkt bleibt, 3. B.
mit dem ganz unfchädlichen falizylfauren Natron,
das gern als Konfervierungsmittel eingemachten
Früchten zugelegt wird. Jedes Staubförnden
dieſes Salzes leuchtet im Dunkel⸗Ultraviolett wie
ein helles Sternchen in violetter Farbe.
Von beſonderer Bedeutung wird der Apparat
für gerichtsärztliche Unterſuchungen werden, da
Blutſpuren, Spermaflecken etc. beſonders auffällige
Tluorescenzen zeigen. Aeltere Unterſuchungsappa⸗
rate zu ähnlichen Zweden ohne uarzbrenner
und Dunfelglas, waren außerordentlih Tompli-
ziert und unzuverläflig.
Auch follen Edelfteine und Perlen — je nad
ihrem Urfprung — verfchiedenartig fluorescieren.
Gezüchtete japanifche Perlen unterſcheiden fidh deut.
lih von den natürlihen Perlen.
Zu Unterfuhungen eben diefer Art find bei nam-
haften daran intereflierten Firmen. bereits die
Apparate in Gebrauch. Die Firmen äußerten fid
vellbefriedigt darüber.
Durch Beobachtung im Dunfel-Ultraviolett fol
fi) Wolle von Baumwolle und Seide, vegetabilt-
ides Del und Mineralöl fihtlih unterfcheiden.
Verſchiedene Arten von Papier und Pappe zeigen
merflihe Unterfhiede. Caſein fluoresciert ftärfer
als Eellulofe ſelbſt. Selbft von gefärbten Stoffen
Fünnen viele, die fluorescieren, dadurd von anderen,
gleich gefärbten Stoffen unterfhieden werden, die
das Fluorescieren nicht zeigen. Uranfalze fluorescie-
ren im feften Zuftande außerordentlich hell, fo dap
fogar noh 171000 des Salzes in einer Töfung durd
Sluorescieren feftgeftellt werden fann. Eine Borar-
Ea Ausiprade.
Perle, die auh nur eine Spur des Uranornd ent-
hält, fluoresciert farblos aber deutlih. Aceton
fann im Alkohol deutlich entdeckt werden; bei 1
Prozent ift die fluorescierende Wirkung nod febr
deutlih. Ferner gehören Chinin, Affeulin und die
Uraninfarben zu den Subftanzen, die außerordent-
lih heil fluorescieren, fo daß febr geringe Mengen
diefer Subftanzen noh im Ultraviolett feftgeftellt
werben können: bei Chinin z. B. noch Löfungen
von 1 zu 100 Millionen im Waffer, bei Uranin
ebenfo; bei Aflculin fann fogar noh 1 Teil in
IC 000 Millionen durch deutliches Fluorescieren
bei günftigen Umftänden feftgeftellt werden.
Wir Haben bier demnah eine Feftftellunge-
methode, die in Genauigkeit dem Spektroskop nahe-
—— ——— V — —ñ nn
Ausſprache.
Da in dem Oktoberheft von „Unſere Welt“ auf
Seite 205 die Frage nach dem Uebel auf der Welt
wiederum angeſchnitten worden iſt, — und ſie wird
wegen ihrer Wichtigkeit immer wiederkehren müf-
fen —, fo fei in möglichfter Kürze darauf hinge»
wiefen, daß die Weiterverfolgung eines Fechner⸗
ſchen Gedankens eine redit einleucdhtende Löfung der
Trage gibt. Fechner führt in feinem „Zendaveſta“
als feine Meberzeugung den Gedanken faft etwas
zu breit aus, daß die Erde ein in fih geſchloſſener
Organismus fei, als höheres Individuum die Men-
fhen, ale Geſchöpfe (überhaupt alle irbifchen
Dinge, auh die Atmofphäre) in fih faflend, wie
ein tierifher oder pflanzliher Organismus feine
einzelnen Zellen. Nun befist aber jedes lebende
Weſen innerhalb fefter Grenzen bei feinem Wer-
den fowohl alg bei feiner fpäteren Entwidlung eine
gewiffe Freiheit, wie die Entftehung bezw. das
Variieren der Arten beweift.*) So hat aud die
Erde, wie jede perfünliche Individualität ihre eigen-
tümlihen Vorzüge und Mängel. Vollkommen ift
fie jedenfalls nicht, wie alle endlihen Wefen. So
erflärten fi phufiihe Mängel, wie die Sinnlofig-
feit der Hngelfchläge und Orkane, und Charafter-
fehler, wie die Unbegreiflichfeiten der Menfchheits-
geſchichte. Auch das eigentümliche, fcheinbar ta»
ftende Verſuchen in der Entwidlung der organifchen
Welt wird durch die Annahme einer gewiffen per-
fönlihen Entwidlungsfreiheit verftändlid. Ein
*) €. Dillmann fagt in „Aſtronomiſche Briefe”
©. 144 beim Kapitel: Sonnenfuftem: Wohl find
die unabänderlihen Geſetze alles Seins überall ein-
gehalten, aber innerhalb diefes Rahmens ift die
Belonderheit jedes einzelnen Gebildes nicht aug-
gefhloffen. Aus der Motwendigfeit
ſprießt überall in der Natur die
Freiheit.
313
— — — — — — — —— — — — —
kommt. (Nah F. A. Kitſching in The Analyt”
1922 Seite 106/107.)
Das wirkende Prinzip in dieſem Apparat ift
immer der befannte Höhenfonnen-DBrenner der
Hanauer Quarzlampen-Gefellfhaft von 0,5 —0,7
Kilowatt Verbraud, den man heute faft bei jedem
Arzt findet, für jede Stromart und Spannung
geeignet; dazu tritt das neue eigenartige Dunkel⸗
Ultraviolett-Slas, dag — wie fhon eingangs ge-
fagt — erft in den: legten zwei Jahren durd
gebildet wurde.
Die gut durchgedachte Kombination diefer beiden
neueren Errungenfchaften ermöglichte es, das vor-
liegende neue Inſtrument zu fchaffen, defen An-
wendungsfähigfeit und Tragweite heute noch nicht
zu überfehen ift.
12)
beunruhigender Gedanke ift dabei allerdings, daß
durch das Dazmwifchentreten eines uns unbegreifen-
den Organismus ung Gott fern gerüdt fei. Aber
es fei bier nur auf ein DBeifpiel verwiefen, das
der Sonne. Wir empfangen den alles Leben als
Quelle fpendenden Sonnenſchein auh nur dur
Vermittlung der irbifhen Atmofphäre, und doh
ift er uns trog feiner Gebrochenheit fo viel befümm-
liher als das direkte Sonnenlicht.
Dr. H. in R.
Zu der Beiprehung der Schrift von Fr. Lenz:
„Meber die biologifhen Grundlagen der Erziehung”
©. 240 von „Unfere Welt”:
Aud der Unterzeichnete ift natürlich einverftan-
den mit der günftigen Beurteilung diefes Shrift-
hens, das mehr Wert legt auf gute foziale Ber-
hältniffe, dur welche eine Auslefe der Beſtver⸗
.anlagten begünftigt wird, als auf eine Erziehung
des ganzen Menfchenmaterials ‚zur hödhften
Kultur” — ein Streben, das doh nies
mals in Erfüllung gehen fann. Aber der Aug-
drud „längſt widerlegte Ideen Tamards über die
erblihe Fixierung“ geht ihm dodh etwas weit; denn,
fo viel ihm befannt, fteht es mit diefer Frage fo,
daß allerdings viele vergeblihe Verſuche mit Ab-
fchneiden von Rattenſchwänzen und dergleichen ge
macht worden find und aud die durd hundert Ge-
nerationen übliche rituele Befchneidung als nega»
tives Beweismaterial für die Vererblichkeit folder
Fehlorgane hochgehalten wurde, daß fih aber doch
in allerneuefter Zeit die Anzeihen für dag Wor-
bandenfein von pofitivem Beweismaterial mehren,
wie 3. B. das von dem namhaften ruffifchen
Erperimentator Paßlaw beigebradte, wonad das
Klingelzeihen (zum Frage) von Matten, deren
Vorfahren fih an dasfelbe gewöhnt hatten, febr
viel rafcher verftanden wurde. Und offenbar fällt
314
ein ſolches pofitives Reſultat ſchwerer ins Ge-
wicht als das Wiedererſcheinen nuglofer Glied-
mafien (in neun Generationen), deren Derluft gar
feinen Eindruck auf die Pſyche des Amputierten
gemacht zu haben braut. Auch feinen Er-
fahrungen aus dem Menfchenleben, die 3. B. in
dem Ausdrud ‚von der guten Kinderftube” nieder-
gelegt find, und fib auh auf die Erziehung
von Eltern und Woreltern erftreden, in diefer
Richtung zu fprehen. Die Engländer, die dod
eine Nation von Züchtern find, gehen fogar fo weit,
zu behaupten, daß erft die dritte Generation ben
en, Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umschau.
—
Gentleman mache. Ich möchte daher lieber ſagen,
daß allerdings die Züchtung wichtiger ſei als die
Erziehung, wie ja in der Tat aus den ſchlechtſt er⸗
zogenen Menſchen manchmal die allertüchtigſten
werden, mich aber nicht ſo weit verſteigen, der Er⸗
ziehung, dieſer äußerſt mühſeligen, undankbaren,
aber doch auch notwendigen Aufgabe einen ſo wenig
aufmunternden Denkzettel anzuhängen. Nein, eine
Ermunterung tut den Erziehern not, wenn auch
nicht den unreifen demokratiſchen Verſuchen der
jetzigen Zeit. . Adolf Mayer.
è
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umfchan.
a) Anorganische Naturwiſſenſchaften.
Es war kürzlich hier die Nede von den neuen
Wiederholungen des berühmten Michelſonverſuchs,
auf dem die fpeziele Relativitäts—
theorie ruht. Diefe DBerfuhe ergaben, wie
der Lefer fih erinnert, das überrafhende Reſul⸗
tat, daß in größeren Höhen der Michelionverfud
entgegen den bisherigen Angaben doch ein pofitives
Ergebnis hatte, wenn auch nur zu einem Drittel
des aus der abſoluten Aethertheorie errechneten
Betrages. Wir wiefen damals darauf hin, dağ
man erft abwarten müfle, ob nicht vielleicht die
-durd die andere Umgebung bedingten phnfifalifchen
Veränderungen der Apparate dies merkwürdige
Ergebnis hervorrufen könnten. Wie berechtigt
diefer Vorbehalt ift, gebt. aus einer neuen
Unterfuhung von Brylinsfi (EM. 176, 559;
Phyſikaliſche Berichte 19, 1244) hervor. “Br.
fand, daß bereits eine Iemperaturdifferen; von
0,001 Grad Gelfius innerhalb der Mihel-
fonfhen DBerfuhsanordnung genügen würde, um
einen merkwürdigen, von Miller gefundenen.
und weder von der alten Theorie, noh von der
Melativitätstheorie erflärten periodifhen Effekt zu
erflären. Man fieht daraus, wie fabelbaft
empfindlich die Verſuchsanordnung gegen äußere
Störungen ift und tut deshalb doppelt gut, erft
weitere Ergebniffe abzuwarten, ehe man etwa er-
Färt, die Relativitätstheorie fei endgültig wider-
legt.
Der Japaner Takeo Shimizu hat ge
zeigt (Phyſikaliſche Berichte 20, 1343), dag man
das Einſteinſche Gravitationsgefeß und den rih-
tigen Betrag der Tihtablenfung erhalten
fann ohne die allgemeine Melativitätstheorie, nur
auf Grund der fpeziellen Theorie und des Hequiva-
lenzprinzipe (Schwere = Trägbeit), wenn man nur
alle in Betracht Fommenden Faktoren berüdfichtigt,
ingbefondere aud die Aberration. Was
diefe anbelangt, fo bat auf der anderen Seite jüngft
ein Franzoſe, A. Meg, gezeigt, daß dieſelbe
und
durh eine Vetbermitfühbrungstbeorie
nicht richtig zu erflären fei (€. MR. 180, 495;
Phyſikaliſche Berichte 20, 1341).
Ein englifher Phyfifer namens F. B idh o ws-
fy hat in der Phyſ. Rev. 25, 244 (Phyſikaliſche
Berichte 19, 1245) vor kurzem eine Abänderung
der Marwellichen Seldtheorie gegeben, welche nad
dem vorliegenden Referat in ziemlich weitgehenden
Mape den Widerſpruch zwiſchen dieſer
Theorie und der Quantenlehre be—
ſeitigen könnte. An die Stelle der Maxwellſchen
Seldveltoren D und H (eleftrifhe und magnetiſche
Feldſtärke) will er die Ausdrüde V D’ — hn
VH? — hn fegen. Wer fih näher dafür
interefliert, möge fih die Originalarbeit zu ver-
ſchaffen fuben, die mir leider auch niht zugänglich
it. — Andere grundfäglihe Unterfuhungen zur
Quantentbeorie hat L. de Broglie
(Ann. d. phyſ. 3, 22; Phyſikaliſche Berichte 19,
1250) veröffentliht. Der Sinn der Quanten-
theorie ift nadh ihm der, daß es unmöglich fein fol,
einen endlichen beftimmten Energiebetrag zu be-
trachten, ohne gleichzeitig damit aud) das Auftreten
einer beftimmten Schwingungsfrequenz zu verbin-
den, die ſich nad der befannten h.n.Beziehung
berechnet. Der Verfafler führt eine Reihe von
Folgerungen aus biefer Auffaflung aus, die bier
übergangen werben müſſen.
Eine intereffante Folgerung aus der Quanten-
theorie zieht W. S. Franklin (Science 60,
258; Phyf. Ber. 19, 1244). Bekanntlich baben
Schottky und andere darauf aufmerffam gemadıt,
daß in der Quantentheorie eigentümlihe Schwie-
rigfeiten betr. der üblihen Auffafiung des Kauſal⸗
begriffs entftehen. Das von einem Atom emit-
tierfe und von einem anderen abforbierte Tichtquant
muß fozufagen von vornherein wiflen, wo es Blei-
ben foll, wenn nicht ganz unmögliche Folgerungen
fi) ergeben follen. Es Eommt fo eine Art von
Teleologie in die Grundlagen der Phyſik þin-
ein: dag, wags am Ende eines beftimmten Beit-
Naturwiſſenſchaftliche und naturpbilofophifche Umſchau.
raumes erſt wird, beſtimmt ſchon das, was zu An⸗
fang desſelben geſchieht, während bei der klaſſiſchen
Theorie ſich alle Wirkungen ganz unbekümmert um
das, was aus ihnen wird, im Raume ausbreiten.
Franklin zieht nun die radikale Folgerung, daß der
ganze Zeitbegriff überhaupt nur für die matro-
ſkopiſche Phyſik, d. H. für die Phyſik größerer Maj-
fen, einen Sinn babe, dagegen im Gebiet des
Ultramifroffopifhen (der Atome, Elektronen und
Quanten) ebenfo wenig einen direften Sinn habe,
wie der der Temperatur, die ja ebenfalls nur einen
Durdfchnittswert über unermeßlich viele Einzel-
molefüle angibt. Die Zeit hätte demnach in den
fih auf jene elementaren Vorgänge beziehenden
Gleihungen gar nichts zu fuchen, träte vielmehr
zufammen mit der Entropie und dergleichen erft
bei der Bildung gewiffer Mittelwerte für febr viele
elementare Prozeffe auf. Jm Prinzip ift dies
nichts anderes alg die bereits öfter ausgefprocdene
Lehre, daß der phufifalifhe Sinn der Zeit eigentlich
die Entropiefunftion fei; der nicht umkehrbare
Richtungsſinn der Zeit folte danad identifch da-
mit fein, daß bei allen Naturvorgängen fidh die
Entropie immer nur vermehrt, niemals vermindert.
Neu ift die Verknüpfung diefes Gedanfens mit
den Problemen der Quantentheorie.
Intereſſante Unterfuhungen über den Blig hat
Peet (Journ. Frank. Inſt. 199, 141; Phyf.
Ber. 19, 1301) angeftelt. Es wurden Modell-
verfuhe im Laboratorium mit ftarfen Entladungen
eines Induktoriums angeftellt. Zunächſt ergab fih
dabei, daß für einen Meter Funfenftrede etwa
500 000 Bolt Entladungspotential nötig war.
Ferner wurde die von einem Blig in einer benad-
barten Leitung induzierte Spannung gemeflen und
durch Nahahmung der DBerhältniffe in Eleinerem
Mapftabe gefunden, daß diefe rund 1 Prozent der
Molkenipannung betrug. Hieraus berechnete P.
die lestere zu etwa 100 Millionen Wolt und das
Potentialgefälle zu rund 300 000 Volt pro Meter,
was mit dem obigen Werte ungefähr überein-
fimmt. Weiter berechnete P. die dem Blig eben-
fo wie jeder anderen eleftrifhen Entladung zufom-
mende Schwingungsdauer (jede Entladung hat ds-
zillatorifchen Charafter, außer wenn fie durd einen
febr großen Wipderftand bin langſam erfolgt). Er
fand, daß es fih um ſtark gedämpfte Schwingun-
gen handle. Eine Reibe tehnifh wichtiger Fol-
gerungen betr. Anlage von DBlißableitern u. a. er-
gab fih im DBerfolg der Unterfuchungen.
Die Nadialgefhwindigkeiten der Sternhaufen
und Nebel, d. b. die Gefchmwindigfeiten, mit denen
fih diefe Objekte von ung weg oder auf ung zu be-
wegen, find in neuerer Zeit mehrfach gemeflen wor»
den. Der Aftronom Strömberg hat über die
Ergebniffe einen zufammenfaflenden Bericht im
315
Aſtrophyſ. Journ. 61, 353 gegeben, von dem bie
Maturwiflenfhaften (Mr. 43) einen kurzen Aus-
zug wiedergeben. Für die großen Spiral-
neber find ganz auffallend große Werte der
Radialgefhwindigkeit gefunden worden, der größte
für N.G.C. 584 mit 1800 km/sec; bei nod
fünf anderen find Werte über 1000 Kmisec feft-
geftelt. Dabei entfernen fih diefe Gebilde faft
alle von uns, nur 5 von 48 kommen auf ung zu.
Kleinere Gefhwindigfeiten ergaben fih für die
Kugelfternhaufen (um 300 km/sec); aud gibt
es bier im Durchſchnitt faſt gleichviele, die fid
näbern und die fi) entfernen. Die aus diefen
Werten berechnete Eigenbewegung der Sonne
ſtimmt ziemlich genau mit der aus den uns nächſten
Sirfternen berechneten überein.
Dem amerifanifchen Afteonomen DPeafe ift es
gelungen, mittels der Michelfonihen fnterferenz-
methode den Durchmefler von Mira Ceti zu be-
ftimmen. Er fand 0,056, was bei der bereits
befannten Parallare den wahren Durchmeſſer von
416 Millionen Kilometern ergibt, alfo noch etwas
mehr als bei a Orionis, den man nad) der gleichen
Methode zu 386 Millionen Kilometern Durch⸗
meffer fand. Der Umfang von Mira entipridht
ungefähr der Größe der Marsbahn. (Matur-
wiflenfchaften 44.)
Ueber die von uns in der legten Umſchau mitge-
teilten auffallenden Unterfuhungen von È d d in g
ton und Adams am Giriusbegleiter berichten
jest auh die Tageszeitungen unter möglihft auf-
fallenden Unterfohriften. Es wird dabei fo dar-
geftellt, als ob die enorme Dichte des Begleiters
bereis ausgemahte Sade wäre. Demgegenüber
it der Hinweis angebracht, ‚daß diefer Schluß
einftweilen auf febr unfiheren Worausfegungen
ruht, und daf eine Dichte von 10 000 (Wafler =
1) an fi doch außerordentlid Bl ift.
b) Biologie.
Jn Heft 44 der Naturwiſſenſchaften ftellt J.
Spef den heutigen Stand der Probleme der
Plasmaſtrukturen dar. Er geht aus von den älte-
ren lehren, die eine mikroſkopiſch fihtbare Strut-
tur des Plasmas behaupteten, die bald als fibrillär,
bald als nesig, bald als körnig oder endlih als
wabig angenommen wurde. Wor genaueren Une
terfuhungen konnten alle diefe Theorien niht be-
fiehen. Am längſten hat fih Butſchlis Waben-
theorie gehalten. Ihre Unhaltbarfeit wurde voll-
ftändig erwiefen durch Spets Verfuhe in den
legten beiden Jahren, die zeigten, daß es fidh bei
dem, was Butſchli für Waben gehalten hatte,
um im Plasma verteilte (emulgierte) Waflertröpf-
hen bandelte. So ift es heute erwielen, daß eine
etwaige Plasmaftruftur nur im Gebiete des Ultra-
316 viſſenſd
mikroſkopiſchen liegen kann. Die auf dieſem Ge-
biete bereits gewonnenenen Ergebniſſe, die Nä⸗
gelis Mizellartheorie beſtätigen, werden in dem
Aufſatze merkwürdigerweiſe nicht erwähnt.
Ebenſo grundlegend wie umſtritten iſt in der
Biologie die Frage der Stoffaufnahme in die le⸗
bende Zelle. Die Tatſache, daß das Plasma für
eınige Stoffe durdläflig ift, für andere nid,
fheint manchmal nicht rein phyſikaliſch erflärbar
zu fein, fondern die Annahme eines felbittätigen
Eingreifens des lebenden Plasmas zu erfordern.
Diefe Annahme aber wird neuerdings erledigt
duch Verſuche von Ruhland und Hoff-
mann (Arh. f. wif. Bot. I, 1925; Matur-
wiſſenſchaften 36), die die in Rede ftehenden Er-
fheinungen aud an toten Zellen nachwiefen. Ihre
Merfuhe geben eine bemerkenswerte Stütze für
Ruhlandsg Ultrafiltertheorie der Plasmahant,
d. h. die Annahme, daß eine befondere Grenzſchicht
des Plasmas als feinporiges Filter wirfe, indem
fie die Stoffe je nah ihrer Molekülgröße durd-
laffe oder nicht, wobei die Porenweite von dem
ihrerfeits dur äußere und innere Umftände be-
dingten Duellungszuftand des Plasmas abhängt.
Die Annahme einer befonderen Grenzſchicht des
Plasmas, der Plasmahaut, erhält eine neue Be-
ftätigung durh Werfuhe von A. Weis (Ardh. f.
wiff. Bot. I 1925; Naturwiffenfchaften 36). —
Ein neues Beifpiel für die weitgehende Anpaf-
fungsfähigfeit der Lebeweſen an die mannigfachſten
Daofeinsbedingungen bietet die Entdeckung wads:
liebender Pilze, die Molifch gelungen ift (Na-
turwiffenfchaften 43). Das ſchwarze Fadengeflecht
diefer Pilze überzieht gerade die wachsausſcheiden⸗
den Stellen gewiffer japanifher Bambus- und
Ahornarten, fo daß die Pflanzen dadurch ein bunt-
fhediges Ausfehen erhalten. Molifch hat bie
Pilze mit Erfolg auf Bienenwachs gezüchtet. Das
Wachs muß alfo wohl eine Role in ihrem Stoff-
wechſel fpielen.
Der Bienenftant befhert uns nah Friſchs
Entdeckung der „Sprache“ der Bienen eine neue
Ueberrafhung. Beobachtungen, die N öf ch (Zeit-
ſchrift f. vergl. Phyſiol. 2, 1925; Naturmwiflen-
ſchaften 45) über die Arbeitsverteilung unter den
Arbeitsbienen angeftellt hat, gewähren einen ge-
radezu wunderbaren Einblid in das dem Auge des
Beobachters größtenteils entzogene Leben im Stot.
Es handelt fih um die Frage: Beſteht zwifchen den
Arbeitsbienen aud eine Arbeitsteilung oder übt
jede Arbeitsbiene alle Tätigkeiten aus, vielleicht
nacheinander in verfchiedenen Tebensaltern? Die
Entdedungen Röſchs zeigen, daß jede Arbeits-
biene nadjeinander alle Tätigfeiten ausübt, fie rüct
gleihfam mit zunehmendem Alter in andere Poften
auf. ie beginnt ihre Tätigkeit als Hausbiene
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
und zwar als Zellenputzerin. Nur in geputzte
Zellen legt die Königin Eier. Es folgt die Be-
förderung zur „Brutwärterin“, dann erhält fie
die Aufgabe, die Brut zu füttern. In der für fie
darauf beginnenden zweiten ‘Periode des „Stock⸗
dienſtes“ nimmt fie den heimfehrenden Bienen ben
Meftat ab, flampft den Pollen zu einer feften
Maffe zufammen und entfernt den Unrat aus dem
Stod. Während diefer Periode unternimmt fie
gleichzeitig Ausflüge in die Umgebung, die aber
nur ihrer eigenen Orientierung dienen. Am Schluß
der Periode ift die Biene reif geworden für den
verantwortungsvollen Poften des Torwächters.
Mit diefem Amt befchließt fie ihre Tätigkeit als
Hausbiene. Sie tritt in die zweite Hauptperiode
ihres Arbeitslebens ein und wird zur Feldbiene,
die Mektar und Pollen fammelt. Das Wunder-
bare und einftweilen now Rätſelhafte bei diefer
Pflichtenverteilung aber ift, daß zwar die Reihen-
folge der auf einander folgenden Abſchnitte ftets
diefelbe ift, ihre Dauer jedoch fih nah den Be
dürfniffen des Stods richtet. Es ift, als ob ein
vernunftbegabtes Wefen die Bienen nadh den For-
derungen des Staatswohls längere oder kürzere
Zeit in den einzelnen Aemtern verweilen läßt. Dies
Problem harrt noh der Erklärung.
Nah der Duplizitätstheorie des Sehens find
von den zweierlei Sehzellen nur die Zäpfhen für
Sarben empfindlih, die Stäbchen farbenblind.
Das Tagesfehen erfolgt mittels der Zäpfchen, das
Dämmerungsfehen mittels der Stäbhen. Diele
Theorie, die, fomohl was den Menſchen als aud
was die Gefamtheit der Wirbeltiere angeht, nod
umftritten ift, wurde für die Fiſche neuerdings von
K. v. Friſſch erperimentell bewiefen (Zeitſchrift
f. vergl. Phyſiol. 2, 1925; Naturwiſſenſch. 45).
Die Annahme, daß bei der Pflanze die Meiz-
leitung durch Meizftoffe (Wundhormone u. a.) ver-
mittelt wird, hat ſchon manhe Beftätigung er-
fahren. H. Seubert verfuhte (Zeitfhr. für
Bot. 17, 1925; Maturwiſſenſchaften 36), bie
Natur diefer Stoffe zu ergründen. Da eine de-
mifhe Analyſe der einer MWundftelle der Pflanze
entnommenen Wundftoffe nicht gelang, brachte fe
verfehiedene Stoffe an verwundete Pflanzen (Ha-
ferfeimlinge) beran und ftellte fet, welde eine
Krümmung auslöfen können. Sie fand eine ganze
Reihe Stoffe, die eine folhe Krümmung hervor-
rufen. Ihre Wirkung beruht, wie fih weiter þer-
ausftellte, darauf, daß fie das Wahstum hemmen
oder fördern. Kine einfeitige Wachstumsförde⸗
rung muß aber eine Krümmung hervorrufen. Die
Stoffe erhalten deshalb den Namen Wahstume-
regulatoren.
Beobachtungen von Czaja (Pflügers Arh.
f. d. gef. Phofiol. 206, 19245 Naturwiſſenſchaf⸗
___Waturwiffenfaftlibe und_naturphilofophifhe Umfhau.
ten 36) ergaben, daß die Meisbewegungen bei der
Denusfliegenfalle niht nur durch mechaniſche und
chemiſche Reize ausgelöft werden, fondern auch durd
eleftrifche und thermiſche.
Ueber die neueften Seuerfteinfunde im Unftrut-
tale, welche wegen ihrer Lagerung in befonders
frühen Schichten von großer Bedeutung find, be
richtete Prof. Walther, der Geologe der Hal-
‚Ienfer Univerfität, auf der 47. Tagung der Deut-
fhen Anthropologifhen Geſellſchaft in Halle. In
einer Slußterraffe der Unftrut, welche fi) nah An-
fiht Profeſſor Walthers allmählich eingetieft hat,
wurden Feuerfteine in folder Tiefe gefunden, daß
diefes Vorkommen geologifh nicht erflärbar ift.
Die Funde, an welden mindeftens in vier
Fällen mit völliger Sicherheit eine Bearbeitung
dur den Menſchen feftgeftellt werden konnte, fan-
den fih an einer Stelle, welche noch etwa 30 Meter
tiefer als die Meandertalfhicht liegt. Damit ift
mit ziemlich großer Sicherheit in Mitteldeutfchland
die Eriftenz von Menſchen für eine Zeit feftgeftellt,
welde nod vor der Meandertalperiode, wahrfchein-
lich Frühdiluvium, liegt.
„Die Pfahlbauten als Landfiedlungen“ war das
Thema, über welches Dr. H. Reinerth auf
ber gleichen Tagung ſprach, damit die beliebte Wor-
Relung von den in dag Randwaſſer des Sees hin-
eingebauten Pfahldörfern erſchütternd. Die Beweis-
führung Reinerths gründet fih vor alem auf den
Nachweis, dap der Waflerfpiegel der Seen, in
welchen man jest die Ueberrefte der Pfahlbauten
gefunden hat, zur jüngeren Stein- und ‘Bronzezeit
bedeutend unter dem heutigen Stand gelegen hat.
Eine Senkung desfelben um 2 Meter genügt je-
doh ſchon, um die fteinzeitlihen, eine ſolche von
3 bis 4 Metern, um die bronzezeitlihen “Dörfer
troden zu legen und daburd zu Uferfiedlungen zu
maden. Aud die Deutung der fog. „Brücken“
und „Wellenbrecher“ (3. B. am Bodenſee) als
Waſſerbauten ift niht notwendig. Diefelben Fön-
nen ebenfo gut Bohlenwege und Umzäunungen auf
dem Trocknen gewefen fein. Dr. Neinerth hat die
Pfahlbauten des Bodenfees und die Befunde im
Tedernfeemoor unterfuht und ift zu der Ueberzeu-
gung gekommen, daß die Pfahlbauten nit im
Waſſer geftanden haben, fondern Uferbörfer bil
deten.
c) Naturphilofophie und Weltanichauung.
Zu dem Streit über die Möglichkeit übers
normaler Wahrnehmungen (des Hellfehens im
weiteften Sinne des Wortes) bringt ein Auffas
in den beiden legten Heften der „Pſychiſchen Stu-
dien’ einen Beitrag, der niht überfehen werden
darf. Denn bei den von ihm mitgeteilten Ber-
fuchen liegen fo überfihtlihe Bedingungen und fo
erftaunliche Ergebniffe vor, daß man für die An-
Hand hielt.
317
nahme einer bewußten oder unbewußten Täuſchung
fo gut wie nichts mehr geltend maben fann. Sie
wurden im Taufe diefes Frühjahrs in dem Parifer
metapſychologiſchen Inſtitut unter der Leitung von
Prof. Rider mit jenem Ludwig Kahn als Ber-
fuheperfon veranftaltet, welder ſchon im Jahre
1912 Profeffor Schottelius in Freiburg erftaun-
lihe Proben feines Könnens gegeben hat. Der Be-
richt über die neuen Erperimente ftammt von Dr.
Oſty, der felbft an ihnen teilgenommen hat, und ift
für die „Pſychiſchen Studien” von Dr. Tifchner
überfegt. Diefe Verſuche mit K. beftanden darin,
dag die Erperimentatoren auf ein. Stüd Papier
von beliebiger Herkunft auf beliebiger Unterlage
einen Sag in diefer oder jener Sprade fohrieben
oder eine Fleine Zeichnung auftrugen und dasſelbe
fodann mehrere Male zufammenfalteten, während
K. fih unter Beobachtung und Ablenfung durd
ein Geſpräch im Nebenzimmer befand., Nachdem
K. wieder zurücdgefommen war, ließ er die Zettel
mifchen und wieder verteilen, ſodaß niemand mehr
wußte, wasg auf demjenigen ftand, welchen er in der
Darauf ftellte fih K., häufig nadh der
Bitte um Angabe, wo er beginnen folle, gewöhnlich
in einer Entfernung von etwa eineinhalb Metern
vor die betreffende Perfon und nannte meift fchon
nadh wenigen Sefunden den Inhalt des Zettels in
ihrer Hand, wobei er öfter zugleidh angab, von wem
derfelbe befchrieben worden war. Bon ſolchen Wer-
fuchen berichtet Dr. Ofty mehrere Dugend. Da-
runter ift fein einziger Derfager Kahns. Die
Fehler, die er gelegentlih madıte, find bloße Ber-
lefungen einzelner Worte, die gewiß nicht verwun⸗
derlich find, nachdem die aufgefchriebenen Säge oft
ſchwierige techniſche Ausdrüde enthielten oder aud
fremdipradhliche Zitate bildeten. Und felbft wenn
auh größere Fehler vorgefommen wären, würden
fie einem Verſuchsergebnis wie dem folgenden nicht
feine Beweiskraft rauben, da dasſelbe niht durd
einen Zufall zuftande gefommen fein fann. Ein
Dr. Moutier hatte auf ein Stück von einem
Korrespondenzbogen des metapſychiſchen Inſtitutes
den Sat gefchrieben: „Procrastination est le
Dieb del tiempo”, dazu eine Art Vignette gezeidh-
net, beftehend in einem Kreis mit einem längeren
Horizontalftrih und zwei kürzeren Striden rechts
und links nad oben, wodurd die Kreisflädhe in Sef-
toren von etwa 60° eingeteilt wurde; in jeden diefer
Seftoren feste M. noh einen Punft. Diefes
Papier fam bei der Mifhung in die Hand eines
Herrn Fraiſſe. K. machte nun, ohne dag Papier
berührt zu haben, fogleih die Angabe, daß fein
Inhalt von Herrn Dr. Moutier herrühre und daß
derfelbe verwidelt fei, eine Zeichnung und ein Sag
in drei Sprachen. Darauf verfertigte er zuerft
die Zeichnung und zwar genau richtig, fo daß audy
318
bei ihm der Horizontalſtrich allein den Kreis ſchnei⸗
det, während die beiden anderen Striche
die Kreislinie nicht berühren. Herr Moutier be-
merkte fpäter dazu, er habe, während K. die Zeich⸗
nung madıte, geglaubt, fie fei bei ihm anders —
eine Bemerkung, die für die Ablehnung der Ge-
danfenübertragung bei den Verſuchen ſpricht. Nady
der Sertigftellung der Zeichnung las K. auch den
ſprachlichen Inhalt des Zettels umd zwar ale
„Pronostication est le Dieb del tiempo.“ Das
falfhe Wort am Anfang verbeflerte er fodann,
nachdem er fur; feinen Zeigfinger in die gefchloflene
Hand des Herrn Fraiffe geftedt und fo mit dem
Zettel in Berührung gebracht hatte.
Die Erwähnung diefes einen Verſuches genügt
zweifellos fhon, um den Gedanken an ein zufälli-
ges Erraten des Zettelinhaltes oder an ein Finden
vermittels unbewußter Hilfen der Erperimenta-
toren auszufchließen. ‘Diefelben wußten nad) dem
Miſchen der Zettel ja felbft nicht, was auf dem-
jenigen in ihrer Hand fland, wenn fie nicht gerade
zufällig den eigenen wieder zurückbekamen. Damit
ift jedenfalls ein Zuftandefommen der vorliegenden
Ergebniffe durch unbewußte Zeichengebung oder
unabfichtliches Vorflüſtern ausgefchloffen. Auch
eine Gedanfenübertragung fann unter diefen Um-
ftänden nicht mehr genügen, wenngleich fie mitge-
fpielt haben fann. Jedenfalls aber muß von dem
Zettel, welhem K. gegenüberftand und den er zur
Erleihterung feiner Aufgabe manchmal fur; be-
rührte, noh ein unmittelbarer Eindruf auf ihn
ausgegangen fein. Mur durd einen folden fonnte
es ihm möglich werden, den Schreiber anzugeben
und ev. auf telepathifhen Wege mit feinem Willen
um den inhalt in Verbindung zu treten. Als Be-
weis dafür könnte man auh die Epifode anfeben,
welche fid am Schluß der berichteten Verſuche nod
ereignete. K. behauptete da, er vermöge es jedem
Zettel anzumerken, von welden Perfonen er be-
rührt worden ift, fo habe 3. B. Herr Dr. Lafla-
bliere niht auf denjenigen gefchrieben, welde er
(Kahn) verteilt hatte. Der betreffende Herr wider-
ſprach febr energifch, er habe den Zettel nicht ver
tauſcht. Schließlich aber fand er dodh den frag.
lihen Zettel zufammengefnittert in feiner Taſche.
Er hatte auf ihm einen Schreibfehler gemacht, als
er fein Zitat aus Viktor Hugo niederfchrieb, und
deshalb einen anderen genommen, wag er mittler-
weile {hon wieder vergeſſen hatte. Alfo er K.
mit ſeiner Behauptung doch recht.
In den „Münchener Neueſten Madriden” bat
im Laufe diefes Sommers eine höhft intereffante
Debatte ftattgefunden, die fih an den Daytoner
Affenprozeß anfnüpfte. Der befannte Gegner der
Abſtammungslehre, Profefor Fleiſchmann—
Erlangen hat in einem Aufſatz in Nr. 212 (vom
Naturwiſſenſchaftliche und
naturphiloſophiſche Umſchau.
2. 8.) einen ſcharfen Angriff gegen Darwin”
losgelaſſen. Auf bdiefen bat der Paläontologe
Daqué Münden in Nr. 244 erwidert und in
Nr. 255 Haben die an der Univerfität München
‚ wirkenden Zoologen und Paläontologen: Broili,
Dacqué, Demoll, Döderlein, Eid.
rich, Goetſch, v. Friſch, R.v. Hert-
wig, Koehler, Seiler, Stromer
von Reichenbach eine Erflärung erlaffen,
worin fie gegen die irreführende Behauptung
Fleiſchmanns Proteft einlegen, als fei die Ab-
ftammunge- oder Deszendenzlehre widerlegt und
zähle unter den Fachmänern nur noh wenige An-
bänger. Die Unterzeichner „erklären, daß fie
nad wie vor in der X.L. oder Des;. Theorie eine
der größten Errungenihaften ihrer Wiſſenſchaften
erbliden. Sie find der Ueberzeugung, daß diefe Auf-
faffung von faft allen Vertretern ihres Fades
geteilt wird. Mach einer weiteren, febr ſcharf
gehaltenen Ermiderung, die der in Saben der
Degi. Theorie bereits mehrfach hervorgetretene
Mathematifer Study -Bonn in Nr. 256 gegen
Sleifhmann eingefandt hat, ermwidert FI. dann
felber noh einmal in Nr. 258 unter dem Titel
„Das Wahnbild der Abſtammungs⸗Lehre“ und in
einer dritten unter dem Titel „Die große Errungen⸗
ſchaft.“ Darauf folgt ein ausführlicher Aufſat
von Dacqué in der Wiſſenſchaftlichen Beilage
der M. N. N. Nr. 270 (Was ift nun Abftam-
mungslehre?’‘) und eine weitere Einfendung von
R. Hertwig. Ganz befonders intereflant ift
die von Megr. Leo von Skibniewski,
Dr. theol. und iur. can., Protonotarius Apofto-
licus Titl. in Mr. 282 eingeſchickte Aeußerung
„Theologie und Abftammungstheorie” und ſchließ⸗
lih bat die Sahe noh ein Nachſpiel in anderer
Richtung gehabt, infofern ein anderer Einfender,
Prof. Ignaz Kaup bei diefer Gelegenheit die
Beftrebungen der modernen Naffenhygi-
eniker fcharf angegriffen hat (in Mr. 265),
worauf der befannnte Raſſenforſcher Lenz in
der Nr. vom 21. Oftober erwidert. Don einigen
Fleineren Einfendungen, die zwifhendurd noh er-
ſchienen find, fehe ih hier ab. Ich verbanfe die
Zufendung der ganzen Belege unferm verehrten
Bundesfreunde und Mitarbeiter Studien-Rat
Seiffert in Afbaffenburg und bitte bei diefer
Gelegenheit herzlich, mir doh nah Möglichkeit
alle derartigen Dinge aus der Tagesprefle zugehen
zu laflen, da uns fonft vielfad febr Wichtiges
entgeht.
Es ift nun unmöglich, eine ausführliche Inhalts⸗
angabe aller diefer Einfendungen an die M. N. N.
zu geben. Vielleicht entichließt fih die Redaktion
zur Herausgabe berfelben in Form einer Fleinen
Broſchüre. Jedenfalls ftellt die ganze Diskuſſion
ein überaus dharafteriftifches Zeichen der Zeit vor.
Sie beftätigt vollauf, was ih immer und überall
ausgeſprochen habe: daß die hier vorliegenden Prob-
leme nicht im entfernteften wirflid bereits gelöft
find, fondern nur auf den äußeren Anlaß warten,
um von neuem mit aller Schärfe hervorzubreden.
Es ift ein rein hiftorifher Zufall, bedingt durd
allerlei äußere Verfettungen, daB dag ganze Jnter-
effe der Gebildeten fih zur Zeit auf andere Dinge
richtet und deshalb für den Augenblid folde
Tragen unmodern find. Es wäre aber ein febr
gefährliher Irrtum, zu glauben, daß damit die
Sache aus ber Welt geſchafft it. Mit vollem
Redt hat in einer gleichfalls überaus leſenswerten
Abhandlung im Zag” (22. 7. 25.) Fr. Blum-
berg hervorgehoben, daß zwar. durd das „Sanfte
Einlenten der offiziellen modernen Theologie die
Streitart vorläufig bei uns begraben fei,” daß
aber „diefe Kirchhofsruhe nur die Stille vor dem
Sturm’ fei und auh bei ung „unter der Ober-
flähe an den verfhiedenften Stellen nicht erplo-
dierte Dynamitpatronen lägen.” Dieſen Eindrud
befommt man aud in ftärfftem Mage beim Durdı-
lefen der Einfendungen in den M. N. N., und
zwar ganz befonders derjenigen des päpftlichen
Protonotarius. Aus diefer ein paar Säge wört-
lih auszuführen, darf ich deshalb nicht verfäumen.
„Die katholiſche Kirche halt feit nunmehr faft
zwei Sjahrtaufenden unentwegt am Grundfag feft,
dag die Erfhaffung des Menfchen als befonderer,
in fi abgefchloffener göftliher Aft aufzufaffen ift
(vergl. die Entfcheidung der Bibelfommiffion von
30. 6. 1909). Entiprehend der der menſchlichen
Natur eigenen Zweiteiligfeit in Seele und Kör-
per betont fie deren verfchiedenen Urfprung: für die
Seele durch Mitteilung des göttlichen Lebens—
odemg, für den Körper durch Umbildung aus Erde,
alfo Umwandlung unorganifhen in organischen
Stoffes. Das Leben wurde durch Werbindung der
beiden Beftandteile im neuen Gebilde bewirkt.
Dieſes — nichts mehr und nichts weniger — ift
die Lehre der Fatholifhen Kirche, die fie in der
Hauptſache aus dem erten Bude
Mofis, Senefis I. 26-31, II. 7 ſchöpft.
Mofes fpielt hbierbeinur die Rolle
eines vollfommen glaubwürdigen,
zuverläffigen Zeugen und Bere
mittlerg einer ibm zuteil gewor-
dbenengöttliden Offenbarung. Daf
die katholiſche Kirche Mofes als
den tatfählihen Verfaſſer des
Pentateuchs, alfo aud des Budes
Geneſis, betrahtet und von ihren
Gläubigen betrachtet wiffen will,
ergibt fih ganz eindeutig aus der
Entfbheidungder Bibelfommiffion
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
319
— — — — ——
vom 27. 6. 1906.) Es wäre durchaus unrid-
fig, diesbezügliche Entfcheidungen der katholiſchen
Kirche als Teichtfertig, willfürlih oder voreinge-
nommen anzufehen, — fie find im Gegenteil ein
Ergebnis jahrhunderte, ja jahrtaufendelanger
Erwägungen.”
Der Einfender ftellt dann weiter feft, dag im
Genefisberiht die Sonderfhöpfung des Menſchen
in jeder Hinſicht fo ſtark betont fei, daß, „um ber
Wucht diefes ganz unzweidentigen Gegenfates zu
entgehen, man nur zur Teugnung des Tertes oder
der Geniunität und Authentizität des Zeugniffes
feine Zufluht nehmen müßte, wodurd bie
chriſtliche Auffaffung verlaffen
(ihon weil Chriftus felbft und feine Apoftel fih
wiederholt auf Mofes und fein Buch beriefen)
und die Streitfrage zu einer rein eregetifchen um-
geftellt wäre. Es gibt hier wahrlih nur ein
Entweder-Oder.”
innerhalb diefer Lehre von der Sonderſchöp⸗
fung des Menfchen will er dann freilich der Natur-
wiffenfhaft und Philofophie einen weiten Spiel-
raum laffen, indem es bdahingeftellt bleibe, ob die
Eingebung der Seele in den bereits aufnahme-
fähigen Körper zeitlih mit deffen Fertigftellung
zufammen fiel oder ob diefe Eingebung analog einer
Embryonalenentwidlung allmählich flattfand. Die
bier aufgeworfenen Doktorfragen machen der
Tholaftifhen Vorbildung des Verfaflers alle Ehre.
Matürli behauptet aud er, daß in den mittel-
alterlihen Handbüchern uſw. alles, was die moderne
Abftammungslehre hierüber etwa zu fagen habe,
bereits drinftehe (‚nur mit ein wenig anderen
Worten” Bk.), und fo zeigt er, daß felbftverftändlid)
Pater Wasmann niemals von dem feitens der
Kirche feftgelegten Standpunfte abgewichen fei;
„jedenfalls ift aber die gefallene Behauptung
(Studye), dag die Fatholifhe Kirche unter dem
Eindrudf feiner (Wasmanns) Schriften ihre An-
fhauung aufgegeben hätte, ganz unftihhaltig.‘
Nun folgt eine Flare Abfage an Darwin,
deffen Buch über die Entftehbuna
der Arten „vom Provinzialfonzil
in Köln 1860 formaliter und in
feinen Folgerungen als dem fatho-
lifhen Glauben und der Heiligen
Schrift widerſprechend erflärt
worden‘ fei, und darauf eine febr verbind-
lich gehaltene, in der Sache aber ziemlich ableh⸗
nende Auseinanderfeßung mit Dacque, fowie allen
denen, die die Abftammung des Menfchen aus dem
Tierreih behaupten und die fih nah des Ber-
faflers Meinung in Anbetracht der bisher nicht auf-
1) Diefe und einige folgende Eperrungen rühren von
mir ber. BE.
320
gewiefenen Zwifchenglieder faum dem Vorwurf
der wiſſenſchaftlichen Teichtfertigkeit entziehen‘
fönnten. Er nagelt Dacqués Sag feft, daß man
in betr. der Herkunft des Menſchen ohne die Ab-
ftammungslehre ‚in eine unmwiflenfchaftliche, gäh-
nende Leere flarren müßte” — dieſes „aufrechte
Geftändnis des gähnenden Zwiſchenraumes, ber feit
Jahrhunderten als Beftätigung hriftlicher Unter-
ſcheidung zwifhen Menfh und Tier empfunden
wurde, von fo autoritativer Seite muß feftgehalten
werden — und „nun frage ich: ift es ber Fatholi-
ſchen Kirche zugumuten, geſchweige denn zu verargen,
daß fie eine moralifche, jederzeit nachweisbare ge-
ſchichtliche Sicherheit gegen eine von ihren Gönnern
felbft nur als „wahrſcheinlich“ qualifizierte Hypo-
thefe einzutaufchen nicht gewillt ift, deren Realitäts⸗
gehalt vielleiht überhaupt niemals überprüfbar
‚fein wird?” Zum Schluß gibt der Verfaſſer ber
Ueberzeugung Ausdrud, daß der Kampf um bie
Anwendung der A. L. auf den Menfchen im Grunde
der Kampf um die menfchlihe Seele fei, „weil
durd Verkündung, Betonung und
Breittretung der vermeintliden
tierifhen Herkunft des Körpers
das Seelenbewußtfein in den
Volksmaſſen zurüdgedrängt wird
und weil breite Schichten fih eher in das bequemere
Bewußtſein eines unbefeelten Tieres hineindenfen
und hineinfühlen, als fie das Bewußtſein eines
befeelten Pithecanthropus annehmen follten.” Die
Allerwenigften wüßten die „‚verführerifhe Hypo-
theſe“ in Einklang mit einem Seelenleben zu brin-
gen, „beforgt fragt man fih, ob es noh immer nicht
genug Proben auf das Erempel gegeben hat’.
„Das chriſtliche Bewußtſein des
deutfhben Volfes bäumt fih gegen
jede Beeinträbtigung feiner Emp
findungen . die Folgen eines
Umfhwunges im Wege des Haecke—
lianismus oder der ebenfo ver-
derblihen (sic! BE), wenn auh ge-
fünftelteren Abftammungstheorie
wären für die öffentlide Moral
unberehenbarund unabfehbar,” und
endlich wird dem Haeckelianismus noh die Schuld
an der wilden Blutrünftigfeit der ruffifchen Nevo-
Iution beigemefien unter Berufung auf ein Wort
eines ruflifhen Univerfitätsprofeflors.
Wenn ic über diefe eine Aeußerung ausführ-
licher referiert habe alg über die anderen, fo ift es
deshalb geichehen, weil ich annehmen darf, daß die
Mehrzahl unferer Lefer über Fleiſchmanns faden-
fcheinige Gründe gegen die Abftammungslehre eini-
germaßen im Bilde ift. Sollte es nicht der Fall
fein, fo bitte ich fie, fih das in Nr. 6/1923 erwähnte
Buch von ihm und Grüßmader zu verfhaffen und
Naturwiſſenſchaftliche und naturphiloſophiſche Umſchau.
dann dazu R. Hertwigs ausgezeichnete Darſtellung
der UT. im Bande „Abſtammungs-⸗Lehre“ der
„Kultur und Gegenwart“ (Teubner) zu leſen,
welche Darſtellung, obwohl einiges daran mittler-
weile veraltet fein dürfte, immer noh weitaus die
befte ift. Eine Seite der Fleiſchmannſchen Aus-
führungen in den M. N. N. verdient aber audy
hier niedriger gehängt zu werden, dag ift die Art,
wie er von Darwin ſpricht. Nachdem er einen
kurzen Ueberblick über die Vorgeſchichte der A. L.
gegeben hat und auf den entftandenen Streit zwi-
[hen Naturforſchung und Kirchenlehre einen
Seitenblid geworfen bat, gebt er zu Darwin
über: „In einer ſolchen Zeitlage begann der junge
Engländer Karl Darwin (geb. 1809), angeregt
durch eine mehrjährige Reife um die Welt, über
die Frage nachzudenken, wie die Tierarten ent-
ftanden fein könnten. Schon in verhältnismäßig
jugendlihem Alter bildete er fih DBermutungen,
welche, wie feine Aufzeichnungen aus dem Jahre
1839 und 1845 beweifen, die Kernpunfte feines
1859 erfchienenen Werkes enthielten. Entfpre-
hend der praktiſchen Anlage feines
Volkes betrabhtete er die Tier-
welt von einem ganz neuen, ge-
ſchäftsmäßigen Gefihtspunfte,
nämlich dem der englifhen Tiers und Pflanzen-
züdhter, welde damals große Erfolge . . . erzielt
hatten... . Dod ftodte er lange Zeit, weil er feinen
dem planmäßigen Auswählen und gebuldigen Ab-
warten des Züchters vergleihbaren Vorgang fehen
fonnte. Endlih glaubte er die Schwierigkeiten
durch den Begriff der natürlichen Zuchtwahl über-
wunden zu haben... Das Leben faßte
er gleih den Gefhäftsleuten als
ein Wettrennen nah dem Ziele
auf... Der Gedanke gewann eine mädhtige
Kraft in ibm... Nachdem er ſich in den
falſchen Gedankengang verbiſſen
batte, begann er, die Beweis—
gründe inder Erfahbrungzu fugen.
Darin lag der große Fehler feines. Lebenswerkes.
Gerade umgefebrt wie der ftrenge
Naturforfher zu Werke gebt, der
eine große Menge von Erfahrungen fammelt und
daraus dag allgemeine Geſetz ableitet, trat er
mit einer vorgefaßten Meinung
an die Natur heran und fammelte
nachträglich Scheinbeweiſe für
feine vor der Erfahrung ausge-
fFlügelte Meinung ... Unter den Laien
laufen zwar nod heute viele Freunde feines Irr⸗
tums herum, dodh unter den Sahmännern, welde
die tatfächlihen, die zum Urteil beredhtigenden
Kenntniſſe befißen, gibt es nur ein Fleines Häuflein
unentwegter Anhänger” (f. o.! BE) Fleiſchmann
verſucht weiter die Abftammungslehre als ein ftehen-
gebliebenes Bruchſtück des einft ſtolzen Mauerwerks
des Darmwinismus hinzuftellen, geht dann auf aller-
lei Einzelheiten ein und kommt zum Schluß nod
einmal auf Darwins Perfon mit folgenden ge-
ſchmackvollen Worten zurüd: „Ein anderer
Fehler war die främerhafte Ge-
Thäftsmäßigfeit feines GBeiftes.
„Nutzen und Borteil, Unterdrüdung,
fer Shwadhen, unabläffiger Kampf,
— echt englifhe Gedanken waren
die Pole feiner Ausführungen,
aber den Vorgängen in der Natur wefensfremb.
Ihm -mangelte der Fünftlerifhe Sinn, um die
übermenſchliche Schönheit des Tierförpers zu be-
greifen. Wenn Study folde Aeußerungen als
„einen bemerkenswerten Mangel an Sachlichkeit“
bezeichnet, fo ift das zu begreifen, und er hat m. È.
auh recht, wenn er fagt, Sleifhmann fheine hier»
nadh gar nicht begriffen zu haben, wie naturwiflen-
fhaftlihe Theorien überhaupt entfteben. An diefer
Stelle liegt tarfählih der Schlüffel zu Fleiſch—
manns, für einen Maturforfher anfcheinend völlig
unbegreiflihem, Verhalten gegenüber dem Andenken
eines Großen, der ihn fo turmhod überragt, daf
derartige Angriffe felbftverftändlih nur ihn felber,
den Angreifer, lächerlich machen. Fl. ift ein
Veberempirift, er bat fidh feinerfeits in bie
Behauptung verbiffen (um feinen eigenen Ausdrud
zu gebrauchen), daB die Daturwiflenfchaft
weiter nichts zu tun babe, als aus einer unend-
lihen Summe von Einzelbeobadhtungen allgemeine
Regeln zu abftrahieren. Wenn dies der Sinn
der Matürforfhung wäre, fo fländen wir heute
noh da, wo Newton und Galilei flanden. FI.
will nicht fehen — er ift darin reiner Dogma-
titer und abfolut nicht zu belehren —, daf fat
allegrogen Sortfhritteder Natur-
wiffenfhaft auf dem Wege zus
ffiandegefommen find, ben be-
ſchritten zu haben er bier Darwin
vormwirft, nämlid der Bildung einer frucht⸗
baren Hnpothefe, die weit auseinanderliegende Dinge
einheitlich zufammenfaßt. Ohne ſolche zunächſt oft
geradezu gewagt anmutende Hypotheſen wäre weder
die eleftromagnetifhe Natur des Lichts, noh die
allgemeine Gravitation, nod die atomiftifhe Strut-
tur der Materie, noh unzähliges Anderes gefunden
worden. Das Verfahren der bloßen Zufammen-
faffung der Tatſachen in allgemeine Regeln führt
feinen Schritt in die eigentlihe Erkenntnis hinein,
diefe beginnt erft immer da, wo gefragt wird, wie
fommt dag und warum ift das fo, und diefe Fragen
fönnen garnicht anders als zunähft durd die
wiffenfhaftlihe Phantafie beantwortet werden, die
dann freilih hinterher ihre mehr oder minder
___Noturwifienfaftlice und naturphilofophifhe Umſchau—
32]
fühnen Ideen aufs forgfältigfte an der Erfahrung
nadprüfen muß. Es ift in der gefamten Natur-
wiffenfhaft einhellig anerfannt, daß gerade
Darwin und zwar gerade, weil er ein nüdter-
ner Engländer war, nah dbiefer Richtung
das Mufter eines vorfihtig abwä—
genden Forſchers gebildet bat. Er
hat, ganz im Gegenfag zu Haeckel und manden
anderen, fih gerade nicht damit begnügt, zu fpefu-
lieren, fondern mit einem faft beifpiellofen Fleiß
ein ganz ungeheures Erfahrungsmaterial verarbei-
tet, nit um, wie ST. fi mit völliger Verdrehung
des Tatbeftandes ausdrüdt, „nachträglich Shein-
beweife für feine vor aller Erfahrung ausgeflügelte
Theorie zu ſammeln“, fondern um, als ein echter
Forſcher, feine zunächſt hypothetiſch zugrunde geleg-
ten Ideen an der Hand möglichft vieler Erfahrun⸗
gen zu überprüfen. Wenn er fih dabei, wie die
Folgezeit ausgewiefen hat, in manden Punkten
geirrt hat, fo ift das ein nicht mehr als felbftver-
ftändliher Tribut, den auh der Größte an bie
Menfchlichkeit zahlen muß. Es ift außerdem nicht
wahr, daß, wie FI. es darftellt, die Folgezeit feine
Lehre völlig befeitigt habe, fie hat nur vieles richtig
geftellt und noh mehr ergänzend hinzugefügt. Des-
halb bleibt der große Grundgedanke Darwins, daß
aus an fih zunächſt „richtungslofen‘ (zum wenig»
ten, um Juſt's Ausdrud zu gebrauden, ‚‚teleolo-
giſch zufälligen”, wenn auh Faufal vielleicht ortho-
genetiſchen“) Mutationen durch Ausleſe das
Angepaßte herausgeſiebt werden kann, doch zu Recht
beſtehen. Es hat bis heute noch kein Neulamarckiſt
oder Neuvitaliſt eine andere und paſſendere Er-
Elärung 3. B. für die Flügellofigfeit der Inſekten
auf den ozeanifhen Inſeln und andere fhon von
Darwin. gebradhte DBeifpiele ung vorgeführt, womit
ich keineswegs behauptet haben will, daß alles fidh
auf dem Darwinſchen Wege erflären ließe.
In jedem Falle zeigt FI. auh durd diefen An-
griff wieder, daß fein Fachſpezialſtudium, auf das
er ſich hier ebenfo wie in feinem Budhe fo viel zu
gute tut, feine fehr ftarfen Schattenfeiten bat.
Wenn er nicht einfeitig immer nur auf die fo
“enorm verwidelt liegenden Probleme der Biologie
und fpeziell der Dererbungs- und Abflammungs-
forfhung fähe, fondern feinen Blid etwas weiter
hinaus auf die Nachbarwiſſenſchaften, in erfter
Linie auf die Phyſik, richten wollte, fo würde er
da ohne weiteres merfen, daf es rein unmöglich ift,
Naturforfhung in der Weite zu betreiben, wie er
das hier als deal hinftellt. Dieſer feinerzeit von
Mad vertretene Michtsalgempirismus ift durch die
moderne Phnfif fo volllommen widerlegt, daß es
fih gar nicht mehr lohnt, fih mit folden Behaup⸗
tungen wie der Sleifhmannfchen von dem modus
procedendi des ‚‚ftrengen Forfchers‘ nod ausein-
322 Natur
anderzuſetzen. Die Biologie ift jedoch, was nad
Lage der Dinge nur natürlih ift, immer einige
Poſttage hinter der Phyſik ber. Der Eritiziftifch
empirifhe Rückſchlag, den diefe vor SO big 20
Jahren durchgemacht hat, hat gegenwärtig feinen
Höhepunkt in der Biologie erreiht. Das ift der
innere Grund, warum foldbe Stimmen wie die von
St. fih überhaupt heute noch hervorwagen Fönnen.
Die nadh einer allzumweit fih vorwagenden fpefula-
tiven Periode (Haedel) einſetzende Reaktion ift
ftets proportional der Größe der enttäufchten Er-
wartungen. Diefe Enttäufhungen find es, die den
Eindrud erweden, als ob die Biologie im Grunde
von der ganzen Abftammungslehre überhaupt nod
nichts wife — einfhwerer Jrrtum, der
um fo verderblider wird, wenn er
nun in der Hand von Mfgr. Stib.
niewsfi und feinesgleihen zum
Mittel wird, an die Stelle mwiffen-
ſchaftlicher Forfhung wieder die
völlig willfürliden Konftruftio-
nen einer Dogmatif zu fegen, die fid
für Religion ausgibt, während fie doh nidhts als
ein Findliher naturphilofophifher Verſuch vergan-
gener Zeiten ift.
Die Gefahr, die bier droht, ift
fein Geſpenſt mehr, fie ſteht
bereits in voller Größe vor der
Tür. Es ift deshalb befonders danfensivert, daf
Männer wie Dacque, mit beflen fonderbaren
Theorien ih mich im übrigen nicht identifizieren
will, an fo hervorragender Stelle es offen aus-
ſprechen, daß fih religiöfes Empfinden mit der
wiſſenſchaftlichen Einfiht in dag Werden der Or-
ganismen fehr wohl verträgt. Mur fo entgehen
wir der furdtbaren Alternative: mit der Wiflen-
ihaft zum Unglauben oder mit dem Glauben in
die Barbarei. Wenn die Amerikaner in ihrer ge»
famten geiftigen Verfaſſung nichts anderes als
diefe Alternative fertig befommen follten, uns
Deutfchen geziemt es, uns auf unfere Führerrolle
auh in diefem Punkte zu befinnen und alg erftes
Wolf zu der neuen Faſſung der alten Wahrheiten
u kommen, die nötig geworden ift, nachdem drei
Jahrhunderte erfolgreiher Forſcherarbeit unfer
Weltbild von Grund auf umgeftaltet haben. Da f
die „Münchener Neueften Nadhrid-
ten” durdo die Disfuffion einer
Reihe unferer beten Forſcher Ge.
legenheitgegeben haben, in diefem
Sinneyumwirfen,feiibnenals Ber-
dient hodh angeredhnet.
Es bleibt noh übrig, zum Schluß ein Wort
iiber die Debatte zwiſchen Kaup und Len; zu fagen.
Hier fpielen offenbar politifhe Motive hinein. Die
Ergebniffe der modernen Raſſenforſchung find ge-
Naturwiſſenſchaftliche und naturphilofophifhe Umſchau.
wiffen politifhen Strömungen höchſt unbequem
und deshalb wird dagegen Sturm gelaufen. Ten;
verweift in feiner Erwiderung auf die in deutfcher
Ueberfeßung erfchienenen Bücher von Madiſon
Grant und Stoddard. JH Habe unter den
Literaturbefprehungen diefer Nummer erfteres
ausführlih angezeigt und benuge diefe Gelegen-
heit, unfere [Lefer auf das zweite erft recht
binzuweifen. Es heißt: „Der Kulturumfturz,
die Drohung des Untermenfchen” und ift wie das
erfte im Verlag Lehmann in Münden erfchienen.
Diefes Buch wirft erfchütternd, ſowohl durch die
Wucht der mitgeteilten Tatſachen, wie durch den
Tiefbli bis zu den Testen Wurzeln aller unferer
Revolutionen. Der WBerfafler zeigt, dag niht
wirtfchaftliche oder fozinle Verhältniſſe zulegt das
Ausfchlaggebende find, am wenigften bei der ruf-
fiihen Revolution und der internationalen Sow-
jetpropaganda, fondern daß es fih dabei legtlid um
die Empörung des „Untermenſchen“, d. i. des für
die erreichte Kulturböhe einfach erblich nicht reifen
Volksteils gegen diefe Kultur felber handelt, die
eine ihm nicht angemeflene Umwelt darftellt, un d
daß diefe Empörung automatifd
tommen muß, weil und wenn die
Vermehrung diefer minderwerti-
geren Volkselemente, wie es heute bei
uns und vordem in allen auf diefe Weife zugrunde
gegangenen alten Kulturen der Fall it, erheb-
Iıhftärfer ıiftalsdiederhöberwer-
tigen. Die von Stoddard aus der ruflifhen und
franzöfifhen Fommuniftifchen Literatur beigebrad-
ten Zitate zeigen bhandgreiflih, daß der Sag:
‚Alles muß verungeniert werden” tatſächlich bei
der großen Maffe der Revolution machenden Prole-
tarier (nicht natürlih bei den geiftigen Führern)
die Grundftimmung wiedergibt, und daß unfere
Eulturfreudigen Sozialiften in einer boffnungslofen
Doppelrolle fteden bleiben. Diefes Buch
follte jeder Deutſche leſen. Es faßt
den Maffenbegriff (im Gegenfag zu Günther u. a.,
aber im Einklang mit Lenz) nit im biologifchen
Sinne (alfo als nordifche, alpine ufw. Raſſe), fon-
dern einfah im Sinne der Rulturwertig-
feit. Raſſiſch wertvoll find diejenigen Familien,
gleichgültig welder biologifhen Rafie, die fih in
zahlreichen ihrer Glieder als Träger hochwertigen
Erbguts ausgewiefen haben. Die Vermehrung
folder Familien zu fördern, die der umgefehrt durd
große Zahl minderwertiger Angehöriger als erblich
untermwertig erwiefener Familien dagegen nad)
Möglichkeit zu verhindern, it, wie St. zeigt, der
einzige Weg, den unvermeidlidhen Untergang unfe-
rer Kultur aufzuhalten. Wenn er dabei der mo-
dernen Biologie ein wenig übertriebene Hymnen
fingt, fie geradezu als das neue Evangelium preift,
Neue Literatur. 323
fo möge man ihm das zugute halten. Was er
fagt, widerſpricht einer recht verftandenen Religion
nicht. Gott hat dem Menſchen auh die Erfennt-
nis diefer foziologifhen Gefeke gegeben, damit er
durd fie, wie durch feine Naturerfenntnis über-
haupt, das Gute in der Welt fördern und dem
Uebel fteuern fol. Wer diefen gewiß im Sinne
Madiion Grant, Der Untergang der großen Raſſe.
Meberfest von R. Polland. Verlag Lehmann, Münden
1925. Mit einem Bildnis des Verfaſſers und vier Raffen-
Tarten. 193 S. Wenn der Ueberſetzer im Vorwort meint,
die Lehren und Warnungen, die Grant feinen amerifaniihen
Landsleuten geben wolle, feien aud für das deutfhe Volk
febr nötig und nützlich, jo ift dem vollftändig beizupflidten.
Es fei aud gern zugegeben, daß das Bub wirflib fehr
viel, ganz außerordentlih viel Wiflenswertes enthält und
insbefondere dur die offenbar febr ausgedehnte Spraden-
fenntnis des Derfaflers unfere deutihe rein biologiih oder
Eulturbiftorifh eingeftellte Literatur zur Raſſenfrage wirt-
lich vorteilhaft ergänzt. Trotzdem fonnte eine reine Freude
beim Lefen in mir nicht wie bei Günthers Raſſenkunde oder
erft bei Lenz’ Raſſenhygiene auffommen. Cinmal, weil
Grant niht imftande geweien ift, den Deutfhen, feinen
Gegnern im Weltfriege, gerecht zu werden. Aber das fei ihm
verziehen. Mehr hat midh geftört, daß das Bud, man ver-
zeib den etwas jchulmeifterlih Elingenden Ausdrud, nicht
ordentlig durdgearbeitet ift. Der Verfaſſer wiederholt fi
immerzu, ſagt gelegentlih in zwei Sägen bintereinander
etwas, was nur balb zuiammenftimmt, bleibt nicht bei feinem
Gedanfengange, fondern ſchweift fortwährend ab, jo daß man
oft ganz den Faden verliert. Auch vermißt. man fchließlid
das Thema gänzlich. Es ift die Rede von den ariſchen
Spraben und ihrer Herkunft, von der Heimat der nor-
diſchen Raſſe, von der Geſchichte ſowohl diefer wie der ande-
ren europäiſchen Maflen und fonft noh von allem Möglichen,
was an fih febr intereffant ift, nur nicht vom Untergang der
nordifhen Rafie. Mur zu allerlest an einer ftatiftifhen
Ueberfiht des Raſſenbeſtandes bon einft und jest kommt der
Verfaffer wieder auf fein Thema zurüd. Diefe mangelnde
Konzentration ftört den Genuß febr ftarf, Für eine neue
Auflage möchte ih dem Ueberſetzer eine völlige Umarbeitung
empfehlen. Auch möge man den Titel lieber ändern. An
fih ift das Werf wirflih gut und nützlich zu leſen, es ent-
hält eine febr vollftändige Darftellung fait aller mit dem
Maffenproblem zufammenhängenden Fragen. Die phyſiſchen
Grundlagen der Kaffe, die Wohnfiße der europärfhen Raſſen,
ibr MWettftreit, ibr Verhältnis zu den Nationen und
Sprachen und ihre Rolle in den Kolonien bilden den Inhalt
des erften Kapitels, die Geihichte der Maffen das zweite.
Hier beginnt Gr. mit einer kurzen Schilderung der Stein-
zeiten und erzählt dann, was man von der Herkunft und der
Vorgeſchichte unferer drei Hauptraffen, der alpinen, Mittel-
meer- und nordiihen Raſſe, weiß oder mit Grund vermutet.
In den folgenden Abfchnitten werden dann näher die Aus-
beitung der nordiſchen Rafie, ihr DBaterland, ihre Fähig-
feiten, ihre Sprache uſw. erörtert. Den Anhang bildet die
erwähnte ftatiftifhe Ueberſicht. Bt.
des Chriſtentums liegenden Sag anerkennt, fann
im Grundjag in Stoddards Aufruf nichts Anti-
religiöfes finden. Aber unfere Kirchen werden noh
viel lernen müflen, ehe fie ihrer rein individualiftifch
eingeftellten Morallehre eine wirklich theozentri-
ihe, nicht anthropozentrifhe Kolleftiomoral hinzu-
zufügen imftande fein werden. Ä
Dr. Robert Scherwatzky, „Erziehung zur reli-
giöfen Bildung” (Verlag von Quelle u. Meyer, Leipzig
1925). i
Wenn man diefes Buh unferes Mitarbeiters lieft, fann
man fi eines wehmütigen Gefühles darüber nicht er-
- webren, daß man jelbft jo den MReligionsunterriht nicht
genoffen bat. Dann wäre uns nicht nur fpäter viel frugt
lojes Herumtappen erfpart geblieben, viele von ung wären
auh niht in die Oppofitionsftellung zu allem Meligiöfen
getrieben worden, weldhe fie nun vielleiht zeitlebens nicht
mehr verlieren Fönnen. Gewiß, es ift febr ſchwer, der
Jugend, die noh niht für ihre Lebensenttäufhungen einen
Troft bei der Religion ſucht, im Unterricht ein inneres Ber-
baltnis zu ihr zu geben. In feinem Fah ift deshalb aud
die Grundeinftellung fo entſcheidend, von welder aus die
Unterweifung erfolgt, wie in dem Meligionsunterriht umd
es ift von großem Wert, daß Scherwatzky in feinem Buhe
diefen Vorfragen Tängere Ausführungen widmet. Der
Schüler it argwöhniih gegen den Religionsunterricht; er
fürdtet, daß ibm durch denfelben nur DBallaft aufgehängt
werden foll, der ibm für fem fpäteres Leben nichts nügt,
vielmehr nur die Entfaltung feiner Perfönlihfeit hemmt.
Wenn es nicht gelingt, diefes doppelte Vorurteil zu befei-
tigen, find alle Bemühungen des Religionslehrers nußlos,
den Schülern etwas für ihr Leben mitzugeben. Es fann
nur gelingen, wenn in dem Unterriht die Quellen unferer
religiöfen Bildung wahrhaft lebendig werden. Zur Durg-
führung diefer ſchweren Aufgabe gibt Sch. gleih eine Fülle
von bedeufiamften Hinweifen; wie ftellt er z. DB. die alt-
teftamentliben Propheten in das Leben unferer Zeit ein,
immer wieder die Fruchtbarkeit ihrer Ueberzeugungen für
die Gegenwart aufzeigend! Wenn fo erft die Veriebendi—
gung der religiöfen Quellen gelingt, dann ſchwindet aud
das zweite Vorurteil des Schülers faft von felbft, die
Furcht, ihm folle durd die religiöfen Lehren die Freiheit
feiner Entwidlung geraubt werden. Denn auf diefem
Wege ftellt fih der Lehrer felbft ein in den Kreis der un-
gelöften Gegenwartsfragen, tritt jelbft als Sudender nad
Antwort auf fie den Schülern gegenüber, allerdings als ein
folder, welder weiß, daß die entgültige Antwort nur durd
die religiöje Erfahrung gegeben werden fann. Der reli-
giöfe Unterriht wird aus einer Bewältigung von Lebrftoff
ju einer „„Arbeitsgemeinfhaft der Suchenden“, aus einer An-
eignung von Wiffen zu einer religiöfen Handlung felbft,
dem gemeinfamen Suchen nah Gott und dem zur Gemein-
ſchaft verbindenden Finden feiner Herrlichkeit. EFTE 3
Zeitwende, Monatsihrift, herausgegeben von Tim
Klein, Otto Gründler und Friedrid
Tangenfaß, €. 9 Beckſche Verlagsbuchhandlung
Münden. Die beiden uns zur Beſprechung vorgelegten
Hefte rechtfertigen im ganzen genommen die vielfah ge-
begte Hoffnung, daß diefe Zeitihrift in ähnlicher Weiſe
324 _
wie das katholiſche „Hochland“ und die „Stimmen aus
Maria Laag” zum Kulturblatt des dertſchen
Droteffantismus werden könnte und folte Auf-
läge wie z. B. der von Bol; über den Gott des Alten
Teftaments oder von E. Hirſch über den Larfenfhen No-
man „Der Stein der Weiſen“ verdienen die weitefte Ver⸗
breitung. Aud fongt fand id fehr vieles Schöne und Ge-
diegene in den beiden Heften. An einem Aufſatz aber habe
ih ftarten Anftoß genommen, das war der von Ellwein
über „Reformatoriſcher Proteftantismus und Deuprote
ſtantismus“. Diefer Aufſatz enthält eine glatte Abiage der
Religion an die Kultur. „Wir Lönnen heute nur ent-
weder uns auf die Seite der modernen Kultur ftellen ober
Proteſtanten fein. Zwiſchen beiden haben wir die Wapi.
Beides zugleih geht niht an”. Wenn diefe Säge Pro-
gramm der neuen Zeitfhrift werden follten, fo ſtehe ih nicht
an, zu wünſchen, daß fie möglihft bald wieder in der Ber-
ſenkung verfhwinde. Aber hoffentlih ift der genannte Auf-
fag nur ein Stimmungsbild, wie es in gewiflen modernen
yroteftantifhen Kreifen ausficht. Wer dabei aber tertius
gaudens ift, braudt wohl faum ausgeführt zu werden. `
©. MRolffenftein, Das Problem des Unbewußten,
Verlag Püttmann, Stuttgart. Heft 5 der Fleinen Schriften
zur Geelenforfhung, berausg. von A. Kronfeld, Berlin.
Ein ausgezeihnetes Schrifthen, dás mit großer Sachkennt⸗
nis auf dem Gebiete der modernen Pindologie, insbeſondere
auh der Pſychoanalyſe, philofophiide Weite des Blicks ver-
einigt. Die Grundfrage, die der Verfaſſer erörtern will,
ift die nadh der Exiſtenz und der ev. Bedeutung eines „un-
bewußten Seelifhen”. Wiele Philoſophen und Pſychologen
haben in diefer Zufammenftellung einen Selbftwiderfprud
gefehen, da Seeliih-Bewußt fei. Das fog. Uebewußte
erflären fie für Phyſiſches (Gehirndispofitionen). Der Ber-
foffer kommt zu dem Ergebnis, daß awar mande der von den
Vertretern des Unbewußten herangezogenen Argumente nidt
ſtichhaltig find, daß aber gewiſſe Erfcheinungen vor allem
die „‚mittelbaren Aſſoziationen“, die poſthypnotiſche
Suggeſtion und gewifle von Freud u. a. fefigeftellte Tat-
ſachen doh zugunften ber Hypothefe des LUnbewußten
fpreden. Jn der zweiten Hälfte erörtert er dann die Be-
deutung bes Unbewußten in der Pſychoanalyſe. Die Schrift
fei wärmftens allen TSnterefienten empfohlen.
Imago, 3S. für Anwendung ber Pſychoanalyſe auf
die Geiſteswiſſenſchaften. Herausgegeben von ©. Freud.
Pſychologiſches Heft Nr. 1/2 1925. internationaler pſycho⸗
analytiiher Verlag Wien. ME. 13,50. Mit Beiträgen
von Miüller-Braunfhrweig, Weis, Harnik, Furrer, Sperber,
Wulff u. a. Don diefem Hefte mehr als zwei Aufſätze
hinter einander zu lefen, hält ein normaler Menih nidht aus.
Wer wiffenfhaftlih zu benfen gewöhnt ift, muß und darf
hinaus fein über das Anftoßnchmen an der Erörterung von
Dingen, über die man fonft nit äffentlih fpriht. Aber ein
folder Panferualiemus, wie ihn die Pſychoanalyſe nad
diefem Heft darftellt, überfleigt alle Grenzen. Man legt
das Heft mit dem Cindra aus der Hans, dab 99 Prez. des
gelamten menfhlihen Lebens im Seruellen wurzeln. Und
das ift offenbarer Unfinn. Es mag an der Pſychoanalyſe
viel Rictiges und Wapres fein. Jn diefer Einfeitigfeit ift
fie auf falihen Wegen. An diefem Urteil wird arh dadurd
fit) nichts ändern laffen, daß Freud allen, die diefes Urteil
ausiprehen, ohne weiteres nad feiner pſychoanalytiſchen Me-
thode als Motiv der Ablehnung verbrängte Afferie auf den
in Frage ftehenden Gebiet unterlegt. Durd dies Verfahren
wird die Debatte nicht gerade genußreiher. Gin gang
anderes und fpmpathifheres Bild von dem, was Pſychoana⸗
Ipfe ift oder dodh fein fann, entwirft uns ein Buch eines
feiner Schüler.
Nene Literatur.
Dr. €. Haeberlin, Geunblinien der Pſychoaualyſe,
Münden, Verlag der Aerztlichen Rundfhau 1925, ME. 3.
Dies Büchlein fann id mit gutem Gewiflen einem jesen
empfehlen, der fih über das neue und heute fo außerorbdent-
lich viel befprodhene Gebiet der pſychologiſchen Forſchung
unterrihten wil. Auch Aerzte, die fih noh niht genauer
genauer mit dem Gegenftande befaßt Haben, werden zur
erften Einführung in diefem von einem Arzt und Sachkenner
geihriebenen Bude viel ſchätzenswertes Material finden.
Es gibt in vier größeren Kapiteln einen Ueberblid über die
Theorien des unbewußten Seelenlevens, über Freuds
Theorien, über die pſychoanalytiſche Methodik und die vom
. Verfafler für unbedingt erforderlih gehaltene Ergänzung
der Analyfe durch Syntheſe im Sinne von Adler, Jung
n. a. In einigen weiteren kurzen Schlußkapiteln werben
nog die Fragen, wer analpfiert werben foll, wer analpfierem
Tann u. a. erörtert. Die kleine Schrift zeugt von eben fe
viel Sachkenntnis wie tiefer rein menſchlicher Weisheit und
läßt überall durchblicken, dag ein im legten Grunde frommer
Sinn hinter ihr flieht. Auch unfere Pfarrer feien deshalb
auf fie hingewiefen. Mit folgen Aersten wie dem MWerfaffer
zufammenzuarbeiten wird ihnen nur Freude und Anregung
bringen.
Weniger befriedigt hat mid ein anderes Buh des gleichen
Verfaſſers Dr. €. Haeberlin, Vom Beruf des Astes,
ebenfalls Münden 1925, ME. 3. Aug aus ihm ſpricht ein
reifes und tiefes Erleben aller äußeren und inneren Möte
und auch aller Befriedigung, die der Beruf des Arztes zu
verurſachen imftande ift, man fühlt an vielen Stillen, daß es
mit Herzblut gefchrieben ift. Alles in allem erfdien es mir
aber ein wenig breit und zu viele Selbſtverſtändlichkeiten
enthaltend, als daß es einen flärkern Einbrud machen
Tönnte. BE.
Franz Kof mat, Paläogesgraphie (Geologiihe Ge
ſchichte der Meere und Feftländer). Dritte, neubearbeitete
Auflage. Mit 7 Karten. 146 Seiten. Sammlung Göshen
Band. 406. Walter de Gruyter u. €o., Berlin W. 10
und Leipzig. 1924. Preis Goldmark 1.25.
Das vorliegende Bändchen „Paläogeographie“ felt fé
bie Aufgabe, die Umformungen ber Zeftländer und Ozean-
böden von den älteften, der Forſchung zugängliden Abſchnit⸗
ten der Erdgeihichte bis zur Gegenwart in großen Zügen
zu verfolgen. Die ftändige, durch Feine erbumfpannenhen
Kataftrophen gewaltfom unterbrohene Umprägung ber Erd-
rinde þat nit nur die Derteilung von Land und Meer
und den DBerlauf der Gebirge betroffen; es ift nichts lon-
ftant geblieben, aud nicht die Lage der Pole. Er gehört
zu den lodendften Problemen der Geologie, den Bezich-
ungen nachzugehen, bie dieje Erſcheinungen untereinander
urfählih verknüpfen, und die Einwickungen zu unter
ſuchen, die fie auf die Geſchichte ber belebten Welt aus-
übten.
Z. M. Feldhaus, Tage der Technik. Teqniſch⸗
hiftorifher Abreißkalender für 1926. (R. Oldenbourg, 365
Blatt, 365 Abb., 5 ME). Der bereits aufs befte einge»
führte Abreißfalender „Tage der Technik" erfheint in völlig
neuem Gewande für das neue Jabr 1926. Reichhaltig
und vielfeitig wie immer, wird er eine fhöne Gabe für ben
Weihnachtstiſch bilden. Das Format ift verbreitert
worden, fo daß die Bilder gegenüber früheren Jahrgängen
nod gewonnen haben. Die Anordnung ift überaus lobens-
wert; aud die gemütvolle Seite kommt in Taunigen Verſen
zu ihrem Redt.
„Scienfia”
Internationale Zeitschrift für Wissenschaftliche Synthese
Erscheint alle Monate (jedes Heft 100 bis 120 Seiten)
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sämtlicher Länder [Ueber die philosophischen Grundsäße der verschiedenen: Wissenschaften;
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Ueber die bedeutendsten biologischen Fragen und besonders über die vitalistische Lehre; Ueber die soziale Frage;
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