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Full text of "Untersuchungen ueber die grundfragen des sprachlebens"

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UNTEltöUCHUNGEN 




UEBER DIE 


ÜRUNDFlUaEN DES SPRACHLEßENS 


VON 


D" PH. WEGENER. 


HALLE 

MAX NIEMEYEB 
1885. 


VORWORT. 


Die nachfolgenden Untersuchungen sind in ihrer vor- 
liegenden Form aus zwei Vorträgen hervorgegangen, die Unter- 
zeichneter auf zwei provinziellen Pliilologenversammlungen in 
Magdeburg (Herbst 1883) und in Halberstadt (Exaudi 1884) 
gehalten hat. Ueber den ersten dieser Vorträge enthalten die 
Berliner Zeitschrift fdr Gymnasialwesen (1884) und die Jahr- 
bücher für Philologie und Pädagogik desselben Jahres aus- 
führlichere Referate. Der Inhalt und Umfang beider Abhand- 
lung, besonders der letzteren ist erweitert und vertieft. 

Die Themata sind in beiden Fällen beibehalten und von 
ihrer Wahl und Begrenzung ist auch die Anordnung und Grup- 
pierung des Stoffes bedingt geblieben. Hätte dem Unterzeich- 
neten die nötige Buhe und Müsse zur Verfügung gestanden, so 
würde ihm selbst eine systematische Bearbeitung der berührten 
und einiger verwandten Gebiete zweckentsprechender erschienen 
sein. Bei den gegebenen Verhältnissen musste er sich jedoch 
mit dieser loseren Form von Untersuchungen begnügen und 
eine systematische Ausgestaltung günstigeren Tagen oder 
weniger gebundenen Kräften überlassen. 

Magdeburg am 4. Mai 1885. 

Ph. Wegener. 


INHALT. 


Aus dem Leben der Sprache. g^.^^ 

I. Sprache : physiologisches und psychologisches Prinzip, Ver- 
such einer Abgrenzung. Leistungen für beide Gebiete. 
Methode und Aufgabe der psychologischen Untersuchung 1 

II. Die Sprache wird erlernt im Dunkel des Unbewussten. Auf 
späteren Stufen der Kindheit vorbessert der Erwachsene 
das Sprechen des Kindes durch Bewusstmachen des richtigen 
Tonbildes. — Alle Lautbewegung besteht in der Nach- 
ahmung solcher Tonbilder, diese werden mit anderen Vor- 
stellungsgnippen zu Reihen verknüpft: der Inhalt des 
Wortes. Lautbild und Wortinhalt rufen sich gegenseitig 
in das Bewusstsein ; das Muskelgefiihl. Gründe für die un- 
vollkommene Aussprache des Kindes 7 

III. Der Wortschatz des Kindes, ausgelöst aus Sätzen; Gründe 

der Auslösung 11 

IV. Die erste Art der Verwendung dieser Worte. Eingliederung * 
der Worte in eine Reihe von Unlust- und Lustgefiihlcn. 
Das Wort wird Hilfe oder Mittel. Das Weinen, das Wort 
unter Weinen; ethische Umgestaltung des Weinens. Die 
Tempora in der Kindersprache. Verbum substantivum. 

Das Wort in der Kindersprache ein Satz 12 

V. Der Ton beim Sprechen oder die actio; Bedeutung und 

Modificationen des Tones. Gesticulation. Das Ethische . 15 

VI. Exposition und Aussage, logisches Subject und logisches 
Prädicat. Situation der Anschauung, der Erinnerung oder 
des Bewusstseins, der Stimmung, der Weltanschauung und 
des Culturlebens 11) 

VII. Die Abstufungen in dem Bedürfuiss zur Exposition ... 27 

VIII. Das logische Prädicat 29 

IX. Wie gestaltet sich das Bedürfniss nach logischem Prädicat 
und Exposition in der sprachlich-grammatischen Form? — 
Die Correctur: Apposition und Relativsatz 32 

X. Die demonstrativen Nebensätze sind Correctursätze ... 34 


VI 

Seite 

XI. Die mit dem interrogativen Pronomen gebildeten Neben- 
sätze sind gleichfalls Correctursätze. Verlust des Em- 
pfindungstones 37 

XII. Das Bestreben die Exposition vor das Prädicat zu stellen 
in der entwickelten Sprache. Verbalflexion. Freie Sprache, 
Correctur als stilistisches Mittel 40 

XIII. Nominalflexion. Stellung der Expositionselemente in den 
modernen Sprachen. Noch einige Petrefacten nachträglicher 
Exposition 42 

XIV. Hat ein Wort verschiedene Bedeutungen? 47 

XV. Die Metapher und ihre Entwicklung zum congruenten Aus- 
drucke 50 

XVI. Die Entstehung congruenter Wortbedeutung überhaupt . . 53 

Schluss GO 

Zur Frage: Wie verstehen wir Sprache? 

Thema 03 

A« Zweck nnd Veranlassung des Sprechens* 

I. Monolog ist zwecklose Eede 04 

II. Dialog ist zweckvolle Rede. Der Zweck des Sprechens. 

Die Bedeutung der Sympathie und der selbstischen Triebe 00 

B* Die Willensbeeinfliissiing* 

III. Imperativ und Frage. Uebergang von monologischen und 
dialogischen Lautreihen in einander. Die Bedeutung des 
Wortes in den ersten Stadien des Sprechens 70 

IV. Mechanisiening des Gebrauchs und des Verständnisses der 
Sprachmittel; congruente Sprachmittel. Die indogermanische 
Form des Imperativs. Die Form der Frage 73 

V. Die freien Sprachmittel der Willensbeeinflussung. Zer- 
legende und comprimierte Form der Willensbeeinflussung 70 

€• Die Substanz nnd der Satz« 

VI. Substantivierte Adjectiva und ihre Ergänzung durch Prä- 

dicierung 83 

VII. Ergänzung durch nachträgliche Correctur. Die Mitteilung 
als Imperativ empfunden. Die Substanzbezeichnung ist 
Demonstration eines Anschauungsbildes, d. h. Aufforderung 
ein Bild der Anschauung zu betrachten. Substantiv und 
Adjectiv ursprünglich Sätze 8b 

VIII. Die üntersubstanz und das attributive Adjectiv. Demon- 
strativ und Artikel. Proklisis und Enklisis in Folge man- 
gelnden Illustrationswertes 90 


VII 

Seite 

jIX. Jedü lautliche Acusserung des Menschen kann Mittel 
werden an die Situation zu erinnern, in der diese Aeussening 
statt fand. Reflexlaute unf Aflfoctionslaute in der Nach- 
ahmung absichtlich oder unabsichtlich verändert. Assimi- 
lation der Situation. Das Prädicat Aufiforderung zur Er- 
innerung 95 

X. Resultate. Beispiele von Worten, die sich aus Sätzen ent- 
wickelt haben; Haupt- und Nebensatz 100 

D. Die Handlung* 

XI. Wie verstehen wir Zeitverhältnisse? Der Hörer construiert 
das chronologische Verhältniss; das Hysteron-Proteron und 
Proteron-Hysteron 105 

XII. Die Tempora des Verbums als Sprachmittel ftir die chrono- 
logische Ordnung der Handlungen untereinander; die an- 
deren sprachlichen Formen zur Fixierung dieser Ordnung 108 

XIII. Beziehung des Subjects zum Verb und des Verb zum Ob- 
ject muss vom Hörer construiert werden. Die Verbindung 
des Verbs mit Subject und Object vollzieht sich in der 
Zeit als Correctur eines verzeichneten Bildes 114 

XIV. Die bei der Construction rege werdende Erwartung bildet 
das Band unter den sprachlichen Gliedern. Unklarheiten 
sind auch in den flectierenden Sprachen durch Constniction 
des Hörers zu heben. Möglichkeit der Ergänzung von Be- 
ziehungspunkten der Handlung und dieser selbst; sogen. 
Ellipse. Thätigkeitssubstantiv 117 

XV. Handlung wird verstanden erst durch den Zweck der Thätig- 
keit. Automatische und spontane Thätigkeit. Sprachliche 
Wichtigkeit der ersteren. — Automatische und spontane 
Subjecte. Wichtigkeit der automatischen Subjecte. Be- 
stimmtheit der Handlung durch den Zweck; das räumliche 
Ziel und das afficierte Object 120 

XVI. Das Bewusstsein des Zieles fuhrt zur Umwandlung des 
Präsens in die Bedeutung der vollendeten oder der zu- 
künftigen Handlung. Zustand und Handlung, rtickwärts- 
laufende Construction - 124 

XVII. Aus der Andeutung des Anfangs einer Handlung werden 
die weiteren Folgen erschlossen und mitgedacht. Das Ver- 
ständniss einer Handlungsmitteilung erschliesst sich aus 
rückwärts- und vorwärtsgreifenden Schlüssen, die aus der 
Erfahrung geschöpft werden. Aus den Erwartungen ent- 
wickelt sich das logische Schema der Cansalität .... 126 

XVUI. Die Eile der Mitteilung von Thatsachen lässt die Erwartung 
in dem Hörer nicht zur Entfaltung kommen. Die Schnellig- 


VIII 

Seite 

keit der Auffassung steigert sich durch das Congruent- 
werden der Worte und sjTitactischen Formen LU 

XIX. Wie und an welchen Sprachmitteln stellt der Hörende die 

einzelne Handlung vor? 1:37 

XX. Handlung ergänzt ans Verben des Willens und Objectsan- 
gaben. Die Handlungsbezeichnung in der unmittelbaren 
Rede mit dem Empfindungstone 14"^ 

XXI. Das Verbum mit seinen Formen entstanden durch die Be- 

dürfiiisse des Referats 140 

XXH. Lessings Anschauung von der Darstellbarkeit der Handlung 

im Laocoon ist falsch 152 

XXni. Die Grenzen der Zerlegbarkeit einer Handlung. Nur durch 
Auge und Tastsinn wahrgenommene und mit Bcwusstsein 
erfahrene Handlungen sind dem Hörenden bei der Mit- 
teilung verständlich 150 

XXIV. Nicht erfahrene Handlungen werden durch Analogie , d. h. 

nach Mustern, verstanden. Personenmuster 150 

XXV. Die Muster für Raum Verhältnisse, quantitative und qualita- 
tive Bestimmungen. Die Construction der Handlung nach 
Clustern und dem Causalitätsgesetze 103 

XXVI. Die Individualisierung. Die Deutlichkeit der Individuali- 
sierung bedingt durch das Interesse lOS 

XXVII. Der Vergleich. Schluss ITS 

Zusätze und Nachträge 1S4 


Aus dem Leben der Sprache. 


L 

Das Gebiet, aus dem ich einige Forschungen vorzulegen 
gedenke, habe ich das Leben der Sprache genannt, ein 
nicht selten gebrauchter Ausdruck, der die Sprache unter dem 
Bilde eines wirklich lebendigen Organismus, etwa dem einer 
Pflanze darstellt, darum pflegt man auch vom Wachstum der 
Sprache zu reden. Die Lehre von diesem Leben könnte man 
die Biologie der Sprache nennen. Selbstverständlich ist jener 
Ausdruck ein Bild, — ein Bild, bei dem majU nicht vergessen * 
darf, dass die Sprache nicht ein Wesen oder ein Organismus 
von räumlicher Selbständigkeit ist, wie etwa der sich selbst 
bestimmende Mensch, sondern nur ein CoUectivname, also 
eine Abstraction, für gewisse Muskelbewegungen des Menschen, 
welche mit einem bestimmten Sinne bei vielen Personen einer 
gesellschaftlichen Gruppe verknüpft sind, oder wie der psycho- 
logische Terminus lautet, mit gewissen Vorstellungsgruppen 
und Vorstellungsreihen associiert sind. Alles dies bildet nur 
einen Teil der gesammten psychischen und physischen 
Lebensäusserungen des Menschen, einen Teil, 'der mit den 
übrigen Vorgängen des menschlichen Organismus in engster 
Verbindung und regster Wechselbeziehung steht. 

Die physischen Muskelbewegungen treiben Luftströme aus 
der comprimierten Lunge, nuancieren diese durch die wechseln- 
den Stellungen der Stimmbänder, der Zunge, der Zähne, der 
Lippen und des den Nasenkanal schliessenden Gaumensegels. 
Der so modificierte Luftstrom wird dem Sprechenden wie anderen 
Personen hörbar und ruft im Hörenden wesentlich denselben 
Sinn in das Bewusstsein, welchen der Sprechende mit den 
Muskelbewegungen und dem diesen entsprechenden akustischen 
Bilde verbunden hat 


4 

Der Name Sprache ist also die abstraete Zusammenfassung 
all dieser menschlichen Thätigkeiten, die sich wie die mensch- 
liche Thätigkeit überhaupt aus zwei Factoren bilden, dem 
physiologischen und psychologischen. Man hat die 
Wirksamkeit und die Gebiete beider Factoren oder Prinzipien 
zu scheiden gesucht, so Osthoff in seinem Vortrage über das 
physiologische und psychologische Prinzip in der Sprache, — 
doch meines Erachtens bisher noch ohne Erfolg. Sicher dürfen 
die Fälle progressiver Assimilation, wie der deutsche Umlaut 
und die deutsche Brechung, die Einwirkungsarten des griech. 
j auf vorhergehende Laute, in ihren Gründen nicht zu den 
physiologischen Erscheinungen des Sprachlebens gerechnet 
werden, sie gehören dem psychologischen Gebiete an. Ferner 
darf die Erzeugung der erlernten Laute im Munde eines Men- 
schen eben so wenig zu seinen rein physiologischen Thätig- 
keiten gerechnet werden, wie die Finger- und Handbewegung 
des Ciavierspielers, die technische Bewegung des Schnitzers, 
Töpfers, Schreibers u. a. Was man hier physiologisch nennt 
ist nichts weiter als eine mechanisch und automatisch 
gewordene ursprünglich spontane Bewegung. Das Physiolo- 
gische bei der Sache ist nur die Natur der Organe, ihre 
Stellung und Bewegungsform , dagegen der Impuls und die 
Eegelung der Bewegung derselben hat mit der Lautphysiologie 
nur insofern zu thun, als die Natur der Organe der Intention 
des Menschen gewisse Schwierigkeiten und Hemmungen ent- 
gegensetzt. Die Art wie complicierte Lautbewegungen hervor- 
gebracht werden, ist also genau so zu beurteilen, wie die ge- 
nannten technischen Bewegungen zu Stande kommen, ferner 
das Gehen, Laufen, Tanzen u. a. Soll auf Grund dieser 
Mechanisierung etwas über die Giltigkeit, Ausnahmslosig- 
keit, Unumstösslichkeit der Lautgesetze ausgesagt werden, 
d. h. der Veränderungen, welche im Laufe der Zeit in der 
Aussprache der Laute innerhalb grösserer Lautreihen eintreten, 
so darf man sich nicht darauf berufen, dass man es mit einem 
Naturgesetze zu thun hat, sondern man muss sich stets be- 
wusst bleiben, dass man sich auf dem Gebiete automatischer, 
mechanisierter psychologischer Vorgänge befindet. Für die 
Untersuchung gerade dieses psychischen Gebietes bleibt eigent- 
lich noch Alles zu thun; — die zweite Abhandlung wird auf 


dieses Gebiet für andere Fragen des Sprachlebens zurück- 
kommen. 

So viel ist jedoch deutlich, dass die physiologischen wie 
die psychologischen Vorgänge bei der Betrachtung der Sprache 
in das Auge gefasst und untersucht werden müssen. 

Die physiologischen Bedingungen des Sprechens 
sind mit Glück und Erfolg in der sogenannten Lautphysio- 
logie oder Phonetik behandelt, welche ihre Untersuchungen 
selbstverständlich am lebenden Menschen angestellt hat. Dass 
auch diese Wissenschaft noch in ihren Anfängen steht, scheint 
mir gewiss. Sie grenzt offenbar die Lautvorgänge noch zu 
sehr nach den in der alten Grammatik unterschiedenen Lauten 
ab, offenbar sehr complicierten Gebilden, so dass man darüber 
z. B. streitet, ob die Media als tönender Verschlusslaut zu be- 
zeichnen sei oder als Lenis. Offenbar ist doch das Tönen, 
d. h. die Verengung der Stimmritze eine Artikulation für sich, 
die eben so gut bei der Tenuis stattfinden kann. Und das 
Tönen der Stimmritze liesse sich sehr wohl als eine Art Vocal 
bezeichnen, welcher beim Verschliessen des Ansatzrohrs, wäh- 
rend des Verschlusses und beim Oeffnen desselben fortdauert. 
Thatsächlich findet sich dieser reine Stimmton und zwar 
silbenbildend, während der Verschluss hergestellt wird, im 
Niederdeutschen wenigstens westlich von Magdeburg in den 
proklitischen Formen op mik, et iss, ik bin. Ich habe statt des 
blossen Stimmtons die Vocale der Pausaform geschrieben, was 
natürlich ganz ungenau ist. Die Verengung der Stimmritze 
muss natürlich die Exspiration verlangsamen, vor der Media 
so gut wie vor der Tenuis. 

Viel zu thun bleibt ferner der Lautphysiologie in ihrer 
Anwendung auf die Sprachgeschichte, richtiger würde diese 
Aufgabe allerdings der Sprachgeschichte selbst zuzuweisen 
sein. So ist für die Entstehung von sehr vielen Lautverände- 
rungen mit Sicherheit ein Continuum der Organverschiebung 
von einem Punkte aus in einer [bestimmten Richtung anzu- 
nehmen, bis die sprachgeschichtlich constatierte Stelle erreicht 
ist, z. B. bei dem Uebergange von s zu r. Zum vollen Ver- 
ständnisse eines solchen Ueberganges gehört die Kenntniss des 
Ausgangspunktes, der Entwicklungsstufen dieser Organbewegung 
und des Endpunktes. Die lautphysiologische Betrachtung der 


Sprachgeschichte hat also z. B. die Articulationsweise aufzu- 
suchen, bei der ^ zu r werden konnte. Der Uebergang ge- 
schah lateinisch und deutsch beim Tönendwerden des s. Das 
neu entstandene r musste ein Zungen -r sein, man mag dies 
unmittelbar an den Alveolen bilden oder vorn am harten 
Gaumen, — der bei dieser Articulation ohne Vibration der 
Zungenspitze entstehende ^-Laut ist nicht das sogenannte reine 
s, sondern ein s. Aus dieser Betrachtung ergiebt sich daher 
für das Lateinische, Griechische, wie das Deutsche das ge- 
rechte Bedenken, ob die graphischen Zeichen s wirklich die 
sogenannten reinen ^- Laute waren, vielmehr waren sie wenig- 
stens an dieser Stelle s. Dieselbe Thatsache des üeberganges 
von s zu s beweist das Französ. raison aus rationem\ wurde 
tj zu t mit Zischlaut, so konnte dieser zunächst kein andrer 
sein als ts^ entsprechend wird das Italien, ci, ce articuliert; 
dieselbe Thatsache ist für das griech. ^ = ds z, ß. in vofii^o), 
für griech. rr oder öö anzusetzen, also jcgarxco wurde wenig- 
stens zu einer bestimmten Zeit gesprochen prätso. Wenn im 
Griechischen 6 zu h wird zwischen Vocalen, also tönendes ö, 
so muss die Zunge sich zunächst etwas entfernen vom Gaumen 
und bei dieser Entfernung zunächst eine Enge entstehen, welche 
nicht sogen, reines s giebt, sondern s. 


Weiter, viel weiter zurück ist die Erkenntniss der psy- 
chologischen Vorgänge trotz des vortrefflichen Buches von 
H. Paul, j Prinzipien der Sprachgeschichte ' Halle 1 880. 

Genannt müssen auch werden die verdienstlichen Schriften 
Yon Steinthal und Lazarus; genannt muss ferner werden 
Whitney, der bei seiner nüchternen Untersuchungsweise manches 
gesund beurteilt hat. Der Grund des langsamen Fortschreitens 
dieser Erkenntniss ist einerseits in dem wohlverdienten Miss- 
credit zu finden, den sich die logische Behandlungsweise der 
Sprache zugezogen hat, der aber leider so vielfach zu dem 
rohsten Empirismus zurückgeführt hat, — andererseits in der 
einseitigen Neigung der modernen Sprachforschung, das über- 
lieferte Material vergangener Sprachepochen statistisch fest zu 
stellen oder nur alte Sprachstufen als würdige Gebiete der 
Forschung zu betrachten. Eine gesundere Richtung ist in Be- 


zng auf den letzten Punkt allerdings vor Allem bei den 
jüngeren Germanisten zu eonstatieren. — Wie die physiolo- 
gischen Erscheinungen nur aus der Beobachtung des lebendigen 
Sprechens und zwar in erster Linie des Sprechens der eigenen 
Person klar werden konnten, also in erster Linie ein Be- 
wusstwerden dessen, was wir täglich thun, — ebenso muss 
die lebendige, heut gesprochene und dem Sprechen- 
den bis in die feinsten Nuancen verständliche 
Sprache, also die lebendige Muttersprache den Boden 
und das Orientierungsgebiet aller psychologischen 
Beobachtungen bilden. Erst diese Untersuchungen können 
sichere Sprachgesetze ergeben, aus denen dann wieder folgen- 
reiche Rückschlüsse auf die erstorbenen Sprachen möglich 
werden. 

Wie der Physiologe nicht an altegyptischen Mumien oder 
an Petrefacten seine Studien machen wird, sondern am leben- 
digen Thier- oder Menschenleibe, ebenso müssen wir die Ge- 
setze vom Leben und Wachsen der Sprache an den uns durch- 
sichtigsten Spracherscheinungen der lebendigen Muttersprache 
erst kennen lernen, um hieraus den grossen Trümmerhaufen 
der Ueberlieferung von den ausgestorbenen Sprachen sichten, 
ordnen, verstehen zu lernen. 


n. 

Die bestimmten Lautreihen, welche wir Worte nennen, 
als solche und ihre Verbindung oder Association mit einem 
bestimmten Sinne, d. h. mit einer Vorstellungsgruppe, muss 
erlernt werden; denn dieselbe Lautreihe bedeutet in verschie- 
denen Sprachen ganz Verschiedenes, so ist ndd. ssett = setze 
lautlich dem frz. sept = sieben gleich. Der redefertige Mensch 
lässt sich daher vergleichen mit einem geübten Clavierspieler, 
der nur die Note, einen ganzen Accord, einen ganzen Tact 
oder mehr auf dem Notenblatte zu sehen braucht, um ohne 
Besinnen die entsprechenden Tasten auf dem Instrumente zu 
greifen. Der sprechfertige Mensch braucht nur ein Haus, einen 
Baum zu sehen, eine Handlung wahrzunehmen, oder ohne 
Wahrnehmung sie zumBewusstseinzu bringen, nur einen Wunsch 


8 

zu hegen, so findet er ohne bewusste Ueberlegung der einzelnen 
Momente das entsprechende Wort und den sinngemässen Satz. 

Ja, es ist dem sprechfertigen Menschen geradezu unmög- 
lich, ein Bewusstsein von den einzelnen Impulsen zu gewinnen, 
durch welche die Muskeln zur Sprachbewegung angeregt werden, 
oder von den einzelnen Muskelvorgängen selbst, oder von der 
Art der Verbindung dieser physiologischen Thätigkeit mit den 
Vorstellungsgruppen seiner Seele. Es herscht hier dasselbe 
unbewusste Dunkel wie bei allen anderen Bewegungsvorgängen 
unseres Leibes. 

Alle diese Bewegungen erlernt der Mensch in einer Zeit 
seines Lebens, in der noch Alles in ein bewusstloses Dunkel 
gehüllt ist, in das niemals das Licht des Bewusstseins hinein 
leuchtet. Ja, es ist sogar schwer, sich einzelner Resultate der 
Bewegungen bewusst zu werden, z. B. dass bei dem w- Laute 
die Lippen gerundet waren, dass wir bei den Nasalen den 
Nasenkanal öffnen, ob wir das r mit dem Zäpfchen sprechen, 
oder alveolar an den Zähnen. Ja der orthographische Unter- 
richt beweist die Schwierigkeit der Zerlegung der Worte in 
ihre Laute. Also die ganze Erlernung der Muttersprache, 
sicher in den ersten Jahren des Lebens und zum allergrössten 
Teile auch in den späteren Lebensjahren vollzieht jsich im 
Dunkel des Unbewusste n. Man ersieht schon hieraus, 
welch methodischer Fehler es ist, Spracherscheinungen aus 
bestimmt reflectirter Absicht der Sprechenden zu erklären. 

Natürlich ist es bei diesem unbewussten Erlernen dei 
Sprache nicht ausgeschlossen, dass auf späteren Stufen dei 
Kindheit der Erwachsene corrigierend dem unvollkommenen 
Sprechen des Kindes zu Hülfe kommt. Doch welche Mittel 
verwendet dabei der naive, überhaupt ein jeder lautphysiologisch 
nicht gebildete Mensch? — Er sagt dem Kinde: du mussl 
nicht sagen / sondern r , nicht ä sondern b u. s. f. Er giebi 
also nicht Anweisungen über den richtigen Gebrauch dei 
Organe, sondern führt dem Kin,de das correcte Tonbild zum 
Bewusstsein, in der unbewussten aber richtigen Voraussetzung 
dass alle lautliche Bewegungen des Kindes in dei 
Nachbildung solcher Ton- oder Lautbilder bestehen 
Also in grossen Zügen besteht das lErlemen der Sprache beim 
Kinde in folgenden Vorgängen: 


1. Tonbilder oder Lautbilder werden empfunden, die 
Muskeln suchen dieselben nachzubilden, es gelingt mehr und 
mehr die Laute diesen Originalbildern gleich zu bilden. 

2. Diese gehörten und wieder erzeugten Lautbilder werden 
unter gewissen Verhältnissen empfunden, verschiedene Laut- 
bilder unter verschiedenen Verhältnissen: das eine, wenn das 
Kind gevnsse Schmerzgefühle hat vne Hunger oder Durst, das 
andere, wenn gewisse optische Empfindungen erregt sind u. s. f. 
Gleichzeitig mit diesen Empfindungen oder richtiger in un- 
mittelbarer Folge treten die Lautbilder in die Seele, d. h. kurz 
nachher oder vorher, und bilden mit diesen zeitlich verknüpfte 
Vorstellungsreihen. Je häufiger diese Reihen in der Seele auf- 
treten, desto stärker und unzerstörbarer werden sie, desto 
fester verknüpfen sich die einzelnen Glieder dieser Reihe 
unter einander. 

Nun hat der Mensch niemals bloss Lichtempfindungen 
oder bloss Gehörsempfindungen, unmittelbar mit diesen ver- 
bunden sind auch stets Tast- oder Druckempfindungen, ver- 
mittelt durch das fein organisierte Nervengewebe der Finger- 
spitzen oder durch andere gröbere und stumpfere Teile der 
Epidermis, welche durch den Druck der Lage und Stellung 
des Körpers afficiert werden. Dazu kommen die ununter- 
brochenen Empfindungen, welche der Ablauf des Stoffwechsels 
mit sich bringt. Hört das Kind das Lautbild Milch, so ge- 
schieht dies also unter den geschilderten psychologischen Ver- 
hältnissen, es wird dies Wort oft in Verbindung mit dem 
Schmerzgefühle des Hungers und Durstes hören, es wird bei 
dem Worte die Lichtempfindungen der weissen Flüssigkeit in 
der glänzenden Flasche haben, es wird die glatte und harte 
gewärmte Flasche betasten, es wird saugen nnd das Unlust- 
geftihl des Hungers verlieren. Sehr oft wird sich dieser Vor- 
stellungsablauf bei dem Worte Milch, Fläschchen und anderen 
Worten wiederholen. Nach dem psychologischen Gesetze, dass 
gleiche Vorstellungen verschmelzen und sich verstärken, un- 
gleiche sich hemmen, wird also das stets Gleiche als Vor- 
stellungsgruppe mit dem Lautbilde Milch fest und unzerstörbar 
verbunden. Wir nennen die so entstandene Vorstellungsgruppe 
den Inhalt oder Sinn des Lautbildes, d.h. des Wortes. 


■i - * - , > ■> , 


10 

Vorstellungsgruppen, hier also Lautbild und Inhalt, 
welche mit einander verbunden sind, können sich gegen- 
seitig in das Bewusstsein rufen; wird also das Lautbild 
Milch gehört, so tritt jener Inhalt in das Bewusstsein, umge- 
kehrt ruft der bewusst gewordene Inhalt das Lautbild hervor; 
das Lautbild war durch das häufige Aussprechen mit dem 
Gefühle der Muskelbewegungen verbunden, welche beim 
Aussprechen des Wortes notwendig eintreten müssen, also wird 
auch das Muskelgefühl associiert und durch dieses die Muskel- 
bewegung selbst erzeugt, welche jenes Lautbild sprachlich 
hervorbringt. 

Die Worte, welche die Kinder in der ersten Zeit 
erlernen, sprechen sie sehr unvollkommen aus: 1. die 
Laute sind denen der Erwachsenen noch nicht vollständig 
gleich, 2. die Worte, d. h. die Lautreihen sind unvollständig. 
Der Grund für die letztere Erscheinung ist ein dreifacher: 
1. gewisse Laute machen besondere Schwierigkeit für die 
Nachbildung, so das / und die r- Laute. Vielfach ist es den 
Kindern in den ersten Lebensjahren noch nicht gelungen, die 
entsprechenden Muskelbewegungen für diese Laute zu finden, 
die Laute bleiben daher unausgesprochen. 2. Nicht alle Teile 
eines Wortes werden mit gleicher Energie von dem Sprech- 
fertigen exspiriert, man unterscheidet hochbetonte und minder- 
betonte Silben und auch bei diesen mehrere Grade. Im Satze 
wird das Betonungsverhältniss noch mannigfaltiger, da hier 
eine Abstufung der einzelnen Worte vor und nach dem Ton- 
worte eintritt, gewisse Worte accentlos werden, wie die En- 
klitika und Proklitika. Die schwächer betonten Silben und 
Worte müssen nach einem bekannten psychologischen Gesetze, 
dem Weberschen Gesetze, nemlich dass die Empfindungen 
wachsen wie die Logarithmen, wenn die Reize wie die Zahlen 
wachsen^), — also die Empfindungen, welche das Kind beim 
Hören der minderbetonten Silben hat, müssen in dem an- 
gegebenen Verhältnisse schwächer sein als die Empfindungen 
für die hochbetonten Silben. Man findet daher in der Kinder- 
sprache der ersten Jahre die Tonsilben der stark verstümmelten 


^) Vgl. Wundt Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. 
Bd. 1, S. 108 ff. 




11 

Worte verhältnissmässig correcter und praeciser wiedergegeben 
als die unbetonten Silben. 3. Man findet oft in der Kinder- 
sprache Verwechslung von Lauten. Ich erinnere mich von 
einem etwa vierjährigen Kinde den Satz gehört zu haben: 
sonne man von dinne wette füttn statt soll ich mal von diesen 
welche pflücken. Offenbar ist der /-Laut dem Kinde schwierig 
gewesen und darum ersetzt durch n oder in der schwierigen 
Verbindung mit f fortgelassen , der Ar-Laut ist ersetzt durch t. 
Es ist deutlich, dass das Muskelgefühl für den A- und ^Laut 
in der Seele des Kindes zusammengefallen ist, eine Aehnlich- 
keit der akustischen Empfindung bei diesem Laute ist ja hand- 
greiflich, ebenso wie bei n und /. Es ergiebt sich hieraus, wie 
aus einer Reihe anderer Thatsachen, dass die einzelnen Laute 
eine Associatioh in der Seele eingehen können, durch Aehn- 
lichkeit der akustischen Empfindung und des Muskelgeflihls. 
Aehnliche Laute werden als partiell gleich, bei ungenauer Be- 
obachtung als total gleich empfunden und verschmolzen. Der- 
gleichen sprachwidrige Verschmelzungen verschiedener Laute 
müssen in der Weiterentwicklung der Sprache des Kindes 
wieder gelöst werden. 


m. 

Das Kind hört nicht blos einzelne Worte, die meisten 
Worte hört es im Zusammenhange des Satzes. Und doch 
spricht es zunächst nur einzelne Worte selbständig aus. Also 
lösen sich die von ihm in den ersten Stadien seiner Sprach- 
entwicklung gebrauchten Worte erst aus grösseren 
Gruppen, den Sätzen, aus. Dieser Process ist schon oben 
geschildert als unbewusste Abstraction, bei der Gleiches sich 
verbindet und verstärkt, Ungleiches sich hemmt. Doch dabei 
bleibt es noch unklar, warum nicht sämmtliche gleich häufig 
gebrauchten Wörter neben einander auf der ersten Sprachstufe 
gebraucht werden. Die Anzahl der auf dieser Stufe wirklich 
verwendeten Wörter ist sehr gering. Es muss also unter den 
durch jenen Abstractionsprocess in der Kindesseele aufge- 
speicherten Wörtern ein Unterschied in der psychischen 
Wirksamkeit und Intensität bestehen. Ein solcher Unter- 


12 

schied wird auf doppelte Weise herbeigeführt: 1. die Wörter 
desselben Satzes haben verschiedene Stärke der Beto- 
nung, also muss auch die Empfindung des hörenden Kindes 
von verschiedener Stärke sein und genau so wie bei den ver- 
schieden betonten Silben desselben Wortes eine verschiedene 
Präcision der Nachbildung und Verwendbarkeit bedingen. Da 
nun die betonten Wörter die für den Sinn wichtigsten Be- 
standteile des Satzes sind, so wird das Kind gerade durch 
die besondere Stärke der für seine Bedürfnisse und seine Vor- 
stellungswelt wichtigsten Worte auch diese am ehesten kennen 
und anwenden lernen. Diese Betrachtung führt auf den 
zweiten Gesichtspunkt, nach dem sich der Schatz der anwend- 
baren Wörter beim Kinde bestimmt: 2. Die wichtigsten 
Wörter sind diejenigen, welche mit der Befriedigung der 
Strebungen und Bedürfnisse des Menschen, hier also 
des Kindes, associiert sind. Worte, welche regelmässig mit 
einem starken Lust- oder UnlustgefÜhle verbunden sind, haben 
eine unverhältnissmässig grössere Empfindungsstärke als andere. 
Also die mit Lust- und Unlustgefühlen in der Kindesseele ver- 
knüpften Worte sind es, welche an Stärke der Empfindung 
und an Fähigkeit reproduciert zu werden die übrigen weit 
übertreffen. 

Das hier ausgesprochene psychologische Gesetz ist in 
seinen Wirkungen so bekannt, dass ich nur an Tage der 
Freude oder des Leids zu erinnern brauche, von diesen sagen 
wir: sie werden uns unvergesslich sein. Durch dieses Gesetz 
wird das Kind früh in den Stand gesetzt, für seine Bedürf- 
niss- und Strebungszustände Wortbezeichnungen anzuwenden. 
Die frühsten Worte des Kindes sind daher Worte wie Mama, 
Fläschchm^ Milch, Babd, Kuckelicht, Ticktack, Puppe, oppa (auf 
den Arm) u. a. 

IV. 

Es tritt bei dem Kinde in den ersten zwei Jahren eine 
Entwickelungsstufe ein, wo es nicht mehr bei einem Unbehagen 
blos weint, sondern auch Mama, Fläschchen oder andere der- 
artige Worte ruft, Worte die in seiner Seele fest eingegliedert sind 
in die Empfindungsreihe vom Schmerzgefühl z. B. des Hungers 


13 

bis zur Stillung desselben. Und zwar ist das Wort in dieser 
Reihe an der Stelle eingefügt, wo die Linderung des Schmerz- 
gefühls eintritt, es ist also fest assoeiiert auf der einen Seite 
mit dem Gefühle der Unlust, auf der anderen Seite mit dem 
nachfolgenden Gefühle der Lust. Es tritt nun die Wahr- 
nehmung hinzu, dass diese Lauterzeugung vorhandene Unlust- 
gefllhle zu beseitigen pflegt, denn die Mutter kommt auf den 
Ruf und weiss das Kind meist zu trösten. So wird das Wort 
zur Hilfe oder zum Mittel ein vorhandenes Unlust- 
gefühl zu beseitigen. 

Diese Hülfe wird angewandt, wenn ein Schmerzgefühl vor- 
handen ist; das Schmerzgefühl erzeugt die Reflexbewegung 
des Weinens, das Wort also unter Weinen ausgesprochen ist 
das Mittel Abhülfe des Schmerzes zu fordern. Das Kind wird 
zugleich von den Eltern erzogen, man sucht ihm das ^Weinen 
bei jeder Gelegenheit' abzugewöhnen, es gelingt fast immer, 
d. h. der Ausbruch des Weinens wird unterdrückt, doch auch 
jetzt noch stellt der Schmerz die Muskeln zum Weinen ein, 
man hört daher, auch wenn das Weinen unterdrückt ist, noch 
immer einen weinerlichen Ton. Dieser Ton vrird im späteren 
Leben mehr und mehr gemildert, doch ein Rest bleibt stets in 
dem schmerzlichen Tone auch des Erwachsenen, der sich zu 
beherschen weiss. Ich mache darauf aufmerksam, dass hier 
ein ethischer Factor in die Sprachentwicklung und 
in die Form der Lautgebung eingreift. 

Das Wort also, welches das Kind weinend oder weinerlich 
spricht, ist für das Kind ein Mittel das Unlustgefühl zu besei- 
tigen, für den Hörenden, vor Allem die Mutter, die Auf- 
forderung Hülfe zu bringen. Dies Wort ist der Im- 
perativ des Kindes, den Niemand missversteht. Der Grund 
aber, dass diese Form des Ausdrucks vom Hörenden als Im- 
perativ gefasst wird, ist in erster Linie ein ethischer, das 
Gefühl der Verpflichtung, dem htilfebedtirftigen, leidenden Men- 
schen zu helfen, also das Gefühl der Sympathie. Später 
werden wir auf diese Punkt näher eingehen. 

Insofern diese Aeusserungsweise des Kindes ein Schmerz- 
gefühl constatiert, insofern ist sie Ausdruck der Gegenwart. 
Und bleibt das Herz des Anwesenden kalt bei dem Schmerzens- 
ausdruck, bleibt der Hörer blosser Beobachter, so wird er nicht 


14 

die Forderung der Hülfe dabei empfinden, nicbt einen Im- 
perativ heraushören, sondern die einfache Thatsache, dass das 
Kind Schmerz empfindet. So wird der Arzt dem leidenden 
Kinde gegenüberstehen, ähnlich wie der Physiologe den Zuck- 
ungen des Hundes oder des Kaninchens. Schon hier ist er- 
sichtlich, dass nicht die Form des Ausdruck als solche, sondern 
die Art der Verknüpfung in der Seele des Hörenden be- 
stimmend ist für die Bedeutung und den Inhalt der Worte. 

Insofern jedoch der Schmerz durch Gebrauch des Wortes 
als Mittel auf die Linderung hinweist, insofern ist jene Aeusser- 
ungsweise Ausdruck der Zukuft. — Reine Gegenwart 
zeigt das Kind, wenn es aufschreit im Schmerze, oder aufjauchzt 
vor Lust beim Anblick des Lichtes oder eines glänzenden 
Gegenstandes, oder in der Freude des Spiels. Das jubelnde 
Kuckelicht, Ticktack oder auch das verwunderte mein Magert, 
meine Puppe, wenn eine Veränderung mit diesen Dingen vor- 
gegangen ist, oder wenn die Dinge dem Kinde unerwartet auf- 
stossen, ist reiner Ausdruck der Gegenwart. Greift jedoch das 
Kind nach der Lampe, und kann es diese nicht fassen, so tritt 
das Schmerzgefühl der gehemmten Strebung und getäuschten 
Erwartung ein, ein nun weinerlich klingendes Kuckelicht ist 
reiner Ausdruck des Strebens, die Zeit, welche jetzt in der 
Kindesseele die Herrschaft hat und vom Hörer erschlossen 
wird, ist die Zukunft. Aehnlich wenn das Kind einen Gegen- 
stand sucht und nicht findet, es ruft vielleicht: mein Wagen. 
eine Aeusserung, die als Imperativ, als Frage und als reine 
Strebungsäusserung gedeutet werden kann. 

Hat sich das Kind gestossen, so läuft es weinend zur 
Mama und weinend oder weinerlich ruft es stossen, Thür, 
Stein u. a., und die Mutter weiss daraus mit Sicherheit den 
Schluss zu ziehen, dass sich das Kind gestossen hat. Oder 
hat das Kind die Lampe gesehen, läuft es zur Mutter und ruft 
Kuckelicht, so weiss diese, dass das Kind die Lampe gesehen 
hat. Hier haben wir die Bedeutung des eigentlichen Per- 
fectums, welches die Vollendung einer Handlung und deren 
Fortdauer in der Gegenwart berichtet. Die ganze Schärfe der 
Bedeutung dieses Tempus wird nur im Gefühlsleben des Men- 
schen klar, wo die Handlung als Lust- oder Schmerzgefühl im 
Sprechenden noch fortdauert. 


15 

Kommt der Vater nach einiger Zeit zu dieser Familien- 
seene, und erzählt ihm das Kind ohne Spuren des Schmerzes 
mit gleichgiltigem oder gar fröhlichem Gefühle: stossen^ so 
sind die Folgen und das Nachleben des Schmerzgeflihls ge- 
schwunden, die Handlung ist reiner Aorist. Ebenso beim 
Lustgefühle. Die Thatsache selbst lebt in der Erinnerung fort, 
doch Freude und Schmerz sind nur noch blasse Momente des 
Wissens, nicht mehr lebendige Gefühle. Darum ist die gram- 
matisch ausgebildete Form des Aorists, nicht die des Perfects, 
das rechte Tempus für die kalte Erinnerung des Erfahrenen; 
dies ist der sogenannte Aoristus gromicus odör empiricus. 

Die Dinge existieren für uns nur durch unsere 
Empfindungen von ihnen, die ersten Existenzen, deren 
sich der Mensch bewusst wird, sind die, welche Lust- und 
Schmerzgefühlen entsprechen. Die abblassende, gefühllose Er- 
innerung an diese giebt die wichtigsten Bausteine für die 
psychischen Gebilde, welche wir die Dinge nennen. Somit be- 
darf der Mensch jener ersten Stufe der Gefühls- 
sprache einer sprachlichen Benennung der Formen 
des Seins nicht, die Ausdrucksformen des Seins sind eben 
die Reflexbewegungen, welche die Empfindungen in den 
Stimmorganen der Menschen hervorbringen. 

Somit hätte sich herausgestellt, dass das Kind das 
Wort als Satz gebraucht. Ja diese Sätze zeigten die- 
selben temporalen Nuancen, welche die ausgebildete Sprache auf- 
weist: Präsens, Futur, Perfect, Aorist, die Begehrungsform, doch 
nicht das Imperfectum. Das Kind meint den Satz in diesem 
temporalen Sinne, sobald es bemerkt hat, dass es so verstanden 
wird, — denn dadurch wird die Lautform zum Mittel, also zur 
Ausdrucksform, — und die Mutter versteht das Kind wirklich 
so. Also das Kind spricht einen wirklichen und verständlichen 
Satz. All diese Sätse, mit Ausnahme des aoristischen Satzes, 
waren von irgendwelcher Erregung des Gefühls begleitet. 


V. 

Dasselbe Wort konnte für die verschiedenen Satzformen 
und die verschiedenen Zeiten gebraucht werden, also nicht das 


16 

Wort als solches, nicht der Wortkörper bildet d|en Satz 
neben diesem ist der Ton oder die Art des Vortrages, die 
actio, wie es die römischen Ehetoren nennen, ein zweites 
wesentliches Element dieses Wortsatzes. Vom weinenden und 
weinerlichen Tone ist die Eede gewesen, die Mutter erkennt 
daran die Stärke des Schmerzes oder der Freude und die Be- 
gehiTing des Kindes. Das Wort ist für den Hörenden die Er- 
klärung oder Illustration des Geflihlsausbruchs, indem es ihm 
die Sphäre der Gefühle oder das Object derselben, oder das 
Ziel der Begehrung andeutet. 

Der Subjectsbergiff, d. h. die Person, an der das Prä- 
dicat zur Erscheinung kommt, oder welche das Gefühl hat, 
ist nicht im Worte ausgesprochen, sondern liegt 1. im Tone 
angedeutet, der es ja zweifellos macht, dass eben das Kind 
es ist, welches sich freut, den Schmerz empfindet, oder die 
Verwunderung hegt. Und 2. wird der Subjectsbegriff durch die 
unbewusste ganz allgemeine Voraussetzung der Mutter gewonnen, 
dass das Kind sich nur um die eigenen Empfindungen der 
Lust oder Unlust kümmert. Erst der intellectuelle Fortschritt 
des Kindes aus den eigenen Aeusserungen der Gefühle Rück- 
schlüsse auf die andeter Personen zu machen und der ethische 
Fortschritt, für die Geflihlsäusserungen Anderer Mitgefühl zu 
empfinden erhebt das Kind über diese Stufe des einseitigen 
elementaren Egoismus hinaus. 

Auch bei dem sprechfertigen Menschen kann jedes Wort 
durch den Ton zum Imperativ werden, oder grammatisch 
ausgedrückt, in den Imperativ treten: Brot, Kuchen, essen, 
trinken, fort, mir, her, hierher, hier, auf der Stelle, mehr, was 
andres, noch etwas, vorwärts, nun, schiiell u. s. f. Diese von 
Kindern mit weinerlichem oder unzufriedenem Tone so oft 
gebrauchte Ausdrucksweise, z. B. Butterbrod, Apfel, mein Hut, 
meine Stiefel ist für die Umgebung nicht missverständlich, gilt 
aber für ungezogen, und wir verbieten diese Form der Forde- 
rung, da sie den Willen und freien Entschluss der angeredeten 
Person nicht respectiert, also rücksichtslos und unhöflich ist. 

Doch nicht der Ausdruck durch das einzelne Wort wird 
verpönt, das Bittende: ein Stückchen Brod des Bettlers ist durch 
die Unterwürfigkeit des Tones ethisch durchaus unantastbar. 
Dieser Ton erkennt die Berechtigung und Möglichkeit an, dass 


17 

die Forderung vom Angeredeten abgeschlagen werde, mit die- 
sem Tone tritt das Wort in den Bitt modus. 

So zeigt sich, ein wie mächtiger Hebel für die Mitteilung 
der Ton des Vortrages ist, die Nuancen und Modifieationen 
desselben sind ausserordentlich mannigfaltig. Sie sind bedingt : 
1. von der Ordnung, Reihenfolge und Distance der musicalischen 
Töne, also der Satzmelodie, 2. von der Stärke, der Form und 
dem Tempo, mit der der Luftstrom aus der Lunge tritt, 3. 
von der Stellung der Organe, wie sie durch gewisse Eeflex- 
bewegungen, besonders Weinen und Lachen, geschaffen wird, 
und ebenso von der ethischen Gegenwirkung gegen diese Eeflex- 
bewegungen, so dem Verbeissen des Weinens, Unterdrücken 
des Lachens, Zurückhalten des Luffcstroms beim Stöhnen. 

Und neben dem Tone her geht die beredte Sprache des 
Auges, der Mine und des Gestus, der Gefühlsausdmck ist 
ja nur die weitere Fortsetzung der Reflexe, welche den Sprach- 
ton nuancieren, und oft auch die Bewegung von Arm und 
Hand. 

Die Satzmelodie und die Reflexe differenzieren 
die Qualität der auszusprechenden Empfindungen von Lust 
und Schmerz und damit weiter die Qualität der Mitteilungs- 
form, des Befehls, der Bitte und des Wunsches, der Verwunde- 
rung und Frage, der Behauptung, — die Intensität und 
Form der Exspiration n|üanciert die Grade der Leiden- 
schaft oder des Gefühls, so der laute Ton der Stimme, 
die Hast, mit der gesprochen wird, die Ruhe oder das Phlegma 
u. s. f. Natürlich treten diese drei Factoren stets verbunden 
im Satze auf. — 

Der Vorleser, Redner und Schauspieler kennt, wenigstens 
unbewusst, die ausserordentliche Mannigfaltigkeit dieser Nu- 
ancen des menschlichen Stimmorgans, sein Erfolg vor dem 
Publicum ist zum grossen Teile von der richtigen Wahl und An- 
wendung dieser Tonmittel bedingt. Ich kann hier nur wenige 
Fälle dieser Nüancierung anführen, da für die Specialunter- 
suchung noch eben nichts gethan ist: Wir unterscheiden mit 
Sicherheit einen schmeichelnden Ton der Stimme bei gelindem 
und verlangsamendem Druck der Muskeln auf die Lunge und 
einer Satzmelodie, welche sich von einer hohen Note bedeutend 
senkt und am Schluss wieder hebt Dieser Ton stimmt in der 

2 


18 

Satzmelodie mit der Frage und Verwunderung überein, unter- 
scheidet sieh aber in der Form und Energie der Exspiration. 
Wird ein Befehl auf diese Melodie gesungen, so wird in den 
Worten ausser der Aufforderung noch die Anfrage verstanden, ob 
der Angeredete die Bitte erfüllen will. Dies ist der Ton, den 
wir von einem wohlerzogenen Kinde in der Bitte fordern, weU 
wir in diesem Tone den nötigen Respect vor dem Eigenwillen 
der gebetenen Persönlichkeit finden. Tritt uns dieser Ton in 
einem Behauptungssatze des redefertigen Menschen entgegen, 
so empfinden wir dabei Anerkennung der Würde und Bttek* 
sieht auf die angeredete Person, der Ton wird von uns als 
verbindlich empfunden. 

Das Studium und die genaue statistische Fixierung dieser 
Nuancen ist für die Sprachwissenschaft ein dringendes Be- 
dttrfiiiss. Schon das Gesagte kann zeigen, welche tiefgreifende 
Bedeutung die fundamentalen ethischen Anschauungen des 
Menschen für das Verständniss dieser Tonnüancen als Mittel 
sprachlichen Ausdrucks haben , wie für die Verwendung und 
Ausgestaltung dieser Mittel. Jene Ausdrucksformen erhalten 
ihren Vorstellungsinhalt erst durch die Erkenntniss einer glei- 
chen Organisation des Menschen, die Fähigkeit auf den Willen 
zu wirken erst durch die Anerkennung der sittlichen Pflichten, 
mit dem Leidenden mitzuleiden und ihm zu helfen. Hier weist 
die methodische Sprachforschung auf eine Perspective für die 
Erkenntniss des menschlichen Geistes hin, die weit über das 
Gebiet der Sprachenerkenntniss im gewöhnlichen Sinne hinaas- 
Uegt. 

Der Ton bildet erst den Schlüssel zum Verständnisse des 
Wortes oder Satzes, nicht blos in der Kindersprache. Wenn 
wir im Kaufladen oder im Gasthofe sagen: ich bitte um die 
Speisekarie, um dies oder jenes, — so wird die Bitte meist mit 
einer Bestimmtheit des Tones ausgesprochen, dass von einer 
Frage, ob es dem Kellner, Wirt oder Verkäufer genehm sei, 
uns das Geforderte zu geben keine Rede mehr sein kann. 
Aehnlich ist oft die Form, deren sich der höher stehende gegen 
den Untergeordneten bedient, so sagt der Vorgesetzte zu dem 
Untergebenen: ich bitte die Acten in acht Tagen fertig zu stellen. 
Der Ton sagt uns trotz der sprachlichen Form der Bitte, dass 
wir es mit einem stricten Befehle zu than haben. Offenbar 


19 

sind einmal dieselben ethischen Rücksichten massgebend ge- 
wesen, welche bei dem brüsken Fordern ]and Befehlen des 
Kindes erwähnt wurden; man wollte auch im geschäftlichen 
und dienstliehen Verkehre die freie Persönlichkeit des Anderen 
rücksichtsvoll und höflich respectieren. Aber sobald der Ton 
der sprachlichen Bitte befehlend ist, so wird der Wortausdruck 
zu einer leeren Form, bei der zunächst eine Incongruenz mit 
dem Inhalte empfunden wird; schliesslich schwindet jedoch 
[dieses Gefühl, und Inhalt und Form erscheinen als congruent, 
mr bleibt an der Form das stilistische Gefühl haften, dass die 
Httform eine feinere oder edlere Ausdrucksform des Befehls 
|ei, wie sie die Verkehrssprache der höheren Gesellschaft for- 
[ert Einen gleichen Vorgang haben wir vermutlich im latei- 
ischen Prohibitiv der classischen Zeit, wo die Verkehrssprache 
jr höheren Stände den Imperativ verpönt hatte und diesen 
irch den wünschenden Conjunctiv Perfecti oder durch noH, 
w ersetzte. Die beiden letzteren Ausdrücke sprechen die 
[wehr einer Handlung nicht im Interesse des Sprechenden, 
idem rücksichtsvoll in dem des Angeredeten aus. 


VI. 

iine Zeitungsannonce oder eine mündliche Bekanntmachung 
lit: 
^Der Verein Concordin feiert am 7. Juni sein Stiftungs- 
fest im Saale der Vereinigung zu Berlin'. 
Igendliches Mitglied dieses Vereins hört oder Uest die 
mntmachung und ruft erfreut den Seinen gegenüber aus 
iftungsfest im Saale der Vereinigung'. Die Angehörigen ver- 
jhen den jungen Mann oder die junge Dame, wissen sie 
doch von keinem anderen Stiftungsfeste, über das der Jüngling 
sieh freuen könnte, als dem der Concordia, sie kennen auch 
den Tag der Feier und die Stadt derselben. Doch warum 
hat das Gomit6 des Vereins die umfängliche Bekanntmachung 
erlassen, der junge Mann war knapper? 

Das Zeitungsblatt, in dem die Mitteilung veröffentlicht 
wurde, wendet sich an sehr viele Leser, auch sehr viele, die 
nicht Mitglieder der Concordia sind, oder vielleicht von diesem 

2* 


20 

Vereine gar nichts wissen; es giebt auch noch andere Vereine 
als die Concordia. Die ersten Worte dienen also dazu, die 
Adressaten der Mitteilung zu bezeichnen, ihnen zu sagen, dass 
ihnen die Mitteilung gilt. Die Mitglieder ersehen hieraus, dass 
ihnen eine Vereinsmitteilung gemacht werden soll, — etwa über 
die Beiträge oder einen Gesellschaftsabend? Nein, — betreflfs 
des Stiftungsfestes, dessen Feier am 7. Juni den Vergesslichen ein- 
geschärft wird. — Nun, was wird denn eigentlich mitgeteilt? — 
das Stiftungsfest und seine Feier schwerlich, sondern der Ort, 
wo dasselbe gehalten werden soll: im Saale der Vereinigung. 
Alles ausser dieser Ortsangabe ist für die Mitglieder ganz 
interesselos, das üebrige dient nur dazu, den Kern der Mit- 
teilung verständlich zu machen, — verständlich auch für Nicht- 
mitglieder, aber für diese wird der Kern der Mitteilung schwer- 
lich Interesse haben. Also die Angaben ausser der Ortsangabe 
sind wie die Exposition eines Bomans oder Dramas, wie die 
Vorerzählung einer Anecdote nur Vorbereitung für die Pointe. 
Der Kernpunkt der Mitteilung wird ausgesagt von dem, was 
zur Einführung und Orientirung ausgesprochen ist, genau so 
wie von einem Hause gesagt wird: das Haus in der Wilhelms- 
Strasse ist fertig. Dieses Verhältniss pflegt man grammatisch 
durch die Ausdrücke Subject und Prädicat zu bezeichnen, die 
Gruppe von Vorstellungen von der eine Aussage gemacht wird, 
nennen wir Subject, die Aussage selbst Prädicat. Das Subject ist 
das intresselose Bekannte, die Aussage das Intressierende und 
Neue, allerdings nicht immer findet dies Verhältniss zwischen 
grammatischen Subject und grammatischen Prädicate statt. 
Bei der Betonung: dein Vater hat es gesagt, ist das Neue und 
interessirende das grammatische Subject, aber logisch das Prä- 
dicat. Man darf darum jene Exposition das logische 
Subject, das Interessierende und neue dagegen das 
logische Prädicat nennen. Allerdings ist dabei der Uebel- 
stand, dass der Ausdruck logisches Subject ein fester Terminus 
in der Grammatik schon geworden ist: Man versteht darunter 
das handelnde Subject, besonders wenn dies die Form des 
grammatischen Subjects, den Nominativ, nicht hat, wie in dem 
Satze: der Baum ist vom Knaben gesehen, hier ist logisches 
Subject vom Knaben. Vorzuziehen ist darum der Deutlichkeit 
wegen statt logisches Subject Exposition zu sagen. 


21 

Die Exposition dient dazn, die Situation klar zn 
stellen, damit das logische Prädieat verständlieh wird. 
Die Situation ist der Boden, die Umgebung, auf der eine 
Thatsache, ein Ding u. s. f. in die Erscheinung tritt, doch auch 
das zeitlich Vorausliegende, aus dem heraus eine Thätigkeit 
entsprungen ist, nemlich die Thätigkeit, welche wir als Prädieat 
aussagen, und ebenso gehört zur Situation die Angabe der 
Person, an welche die Mitteilung gerichtet ist. Die Situation 
wird bei der sprachlichen Mitteilung nicht blos durch Worte 
bestimmt, viel gewöhnlicher und ausgedehnter durch die um- 
gebenden Verhältnisse selbst, durch die unmittelbar vorher- 
gegangenen Thatsachen und die Gegenwart der Person, mit 
der wir sprechen. Die durch die umgebenden Verhältnisse und 
die Gegenwort der angeredeten Person gegebene Situation 
kommt uns durch die Anschauung zum Bewusstsein, wir nennen 
sie daher die Situation der Anschauung. 

Stehe ich mit Jemandem vor einem Baume, so genügt voll- 
ständig das Wort Linde, um zu sagen: dieser Baum ist eine 
Linde. Der vor uns stehende Baum bildet, auch unbenannt, 
das Subject des Satzes. Oder sage ich bei dieser Situation: 
das ist eine Linde, so erhält doch das Pronomen erst durch die 
gegenwärtige Anschauung seinen Inhalt. — Stelle ich Jemanden 
in einer Gesellschaft vor, so wäre es gradezu unpassend zu 
sagen: dies ist Herr Müller, ich weise nur mit der Hand auf 
ihn hin, um ihn von den übrigen anwesenden Personen zu 
unterscheiden und sage : Herr Müller, Die lebendige Anschauung, 
präcisiert durch den Gestus, ist die Situation und das Subject. 
Es ist klar, dass ein gegenwärtiges Anschauungsbild nicht so 
einfach ist, dass alle Teile desselben das Subject sein könnten, 
noch auch das gesammte Anschauungsbild. Neben jener Linde 
im Parke steht vielleicht auch eine Eiche, und vieles Andere 
ist sichtbar, die angeredete Person ja auch. Der Gestus und 
die Richtung der Augen geben Anhaltepunkte für die Aus- 
scheidung eines Teiles aus dieser complicierten Masse, doch 
auch ohne diese Illustration bleibt ein derartiges Prädieat be- 
ziehbar. Ja, der Gestus selbst ist ja eine Thätigkeit, die Hand, 
der Arm, ein Finger wird dabei gezeigt, warum bezieht der 
Hörende das Prädieat nicht anf diese Teile der Anschauung? 
Es muss ein Sehluss von dem Hörenden aus der Natur des 


22 

Prädicats sowohl wie ans dem Inhalte der Anschauung gewonnen 
werden, um die Beziehung richtig zu machen. Ich deute hier 
diese Frage nur an über welche die zweite Abhandlung einigen 
Aufschluss geben soll. 

Setzt Jemand ein Glas Wein vom Munde und sagt: vor- 
trefflich!^ so zweifle ich keinen Augenblick, dass er den eben 
genossenen Wein so nennt; selbst wenn ich nur das leere Glas 
sehe, so ergänze ich den Ausruf zu dem Satze: der Wein ist 
vortrefflich. Also die Situation wird auch bestimmt durch 
vollendete Handlungen, die noch im Vordergrunde unseres 
Bewusstseins stehen. Und das zu denkende Subject ist nicht 
blos die gesammte Handlung, wie hier das Weintrinken, sondern 
ein Moment dieser Handlung, der Wein, — also auch hier 
Hegt ein Schluss des Verstehenden vor, von dem später die 
Rede sein wird. Diese Situation wird passend genannt werden 
Situation der Erinnerung. 

Sind die Augen von Tausenden auf ein grosses Schau- 
spiel, eine Krönung z. B. gerichtet gewesen , so ist der Ausruf 
schön, herrlich, auch bei dem Auseinandergehen der Menge 
noch verständlich, durch die Voraussetzung, dass alle Zuschauer 
nur das Gesehene im Bewusstsein tragen. Die Situation der 
Erinnerung besteht in den Vorstellungen, die unmittelbar vor 
dem Sprechen oder dem Hören des Gesprochenen bevnisst ge- 
wesen sind, an die sich unmittelbar in der Zeit eine sprach- 
liche Aeusserung anschliesst. Wegen des Prävalierens der un- 
mittelbar in der Zeit vorausgegangenen Vorstellungen wird die 
expositionslose sprachliche Aeusserung aus ihnen ergänzt. Es 
zeigt sich hier eine neue Schwierigkeit bei Beurteilung dieser 
Verhältnisse, die Situation der Erinnerung ist zu einer Zeit in 
der Seele des Hörenden das logische Subject, wo auch eine 
Anschauung für den Hörenden vorhanden ist, und doch wird 
nicht diese zur Exposition vom Hörenden verwandt, sondern jene. 

Schon so viel ist jetzt ersichtlich, dass die Bewusstseins- 
elemente oder Vorstellungsgruppen, welchen im Augenblick 
das grösste Interresse zugewandt ist, auch die grösste Fähig- 
keit besitzen müssen die expositioneilen Elemente abzugeben. 
Nun gibt es aber anhaltende und feste Interessen und 
Neigungen des Menschen, die natürlich gleichfalls diese 
Fähigkeit besitzen müssen, und die sogar im hohen Masse 


28 

geeignet sind eine fehlende ExpoBition zu ersetzen. Bei ihrer 
hohen Intensität sind auch diese Interessen im Stande die durch 
Anschauung und Erinnerung des unmittelbar Vorhergehenden 
gegebenen Vorstellungen so zu verdunkeln, dass diese die 
Schwelle des Bewusstseins nicht überschreiten, und sie selbst 
haben die grösste Fähigkeit durch andere Vorstellungen, selbst 
solche, welche nur eine entfernte Beziehung zulassen, in das 
Bewusstsein gehoben zu werden. Sie bilden ein sehr wichtiges 
Vorstellungsmaterial, aus dem andere Vorstellungen ergänzt 
werden. Man denke, Jemand sagte: die Bretter sind heute 
frisch gestrichen, der gewöhnliche Mensch wird darunter irgend 
welche Bretter verstehen am Hause oder sonst wo, er wird 
sich wahrscheinlich umsehen, wenn er diese Aeusserung ganz 
abrupt hört, ob in der Anschauung Bretter vorhanden sind, 
die gemeint sein könnten, der Schauspieler versteht darunter 
wenigstens sehr leicht ,die Bretter, welche die Welt bedeuten'. 
Hört der Jäger von Löffeln, so ist er wenigstens ebenso geneigt 
an die Ohren des Hasen zu denken, als an die Suppenlöffel 
bei Tisch, selbst wenn er einen solchen bei Tisch in der Hand 
hält. So hat der Militär seine besonderen Gruppen der grössten 
Associationsfähigkeit, andere der Jurist, andere der Seemann, 
andere der Philologe, andere der Geistliche u. s. f. Daher die 
hübsche Anecdote, welche Steinthal erzählt, dass ein Menschen- 
kenner sich anheischig macht, aus den Antworten, welche ver- 
schiedene ihm unbekannte Personen auf eine Bätselfrage geben, 
ihren Stand zu bestimmen. Diese verschiedenen Interessenkreise 
haben daher ihre eigenen Ausdrucksweisen, die bekannten 
termini technici, welche ihren Inhalt aus der Situation 
des Bewusstseins, d. h. aus den fest gewordenen Interessen 
ergänzen, so die Löffel, der Lauf des Hasen, der Schweiss des 
Wildes, die vielen juristischen Termini und die grosse Menge 
der Handwerkerausdrücke; testudo bei den Römern kann die 
Schildkröte, das militärische Schilddach, die Leier sein. 

Die genannten Arten der Situation sind die wichtigsten; 
doch darf nicht vergessen werden, dass alle Empfindungen 
und Gefühle, welche während der sprachlichen Aeus- 
serung vorhanden sind als expositioneile Massen von 
Bedeutung werden können. Die durch augenblicklich vor- 
handene Anschauung und durch die Erinnerung an kurz vor- 


24 

hergegangene Thatsachen erregten Gefühle der Freude und 
des Schmerzes gehören zu den beiden oben erwähnten Kate- 
gorien der Situation, der der Anschauung und der Erinnerung. 
Aber wie neben den momentan erregten Interessen die festen 
Interessen hergehen, so wird das momentane Gefühl begleitet 
von der festen Gesammtempfindung , welche der gehemmte 
oder leichte Ablauf der physischen Lebensfunctionen und der 
seelischen Vorstellungen mit sich bringt, ebenso von dem Ge- 
ftthle, welches einem gewünschten oder behinderten Ablaufe 
der Lebenszwecke zu folgen pflegt, diese festgewordenen Ge- 
fühle sind die Stimmungen des Menschen, die wir als feste 
Grössen in dem geistigen Leben des Menschen auch vielfach 
Temperamente nennen. Diese heiteren und lebendigen Stim- 
mungen, oder traurigen und melancholischen Gefühle äusseren 
sich im gesammten Vorstellungsleben des Menschen und daher 
auch in seinem sprachlichen Ausdrucke, sie färben den ge- 
sammten Ton der Stimme, die Actio fröhlich oder schmerzlich 
und tragen damit direct ein positives Stimmungselement in die 
Aeusserungen des Sprechenden hinein. Sie sollten also den 
Hörenden auch zu Rückschlüssen auf ein vorhergegangenes 
fröhliches oder trauriges Ereigniss veranlassen, auf einen mo- 
mentan vorhandenen Schmerzenszustand, der Abhülfe fordert, 
wie dies bei dem Imperativ der Fall war und wie es in der 
Frage geschieht. Doch wenn der Hörer sieht, dass Heiterkeit 
und Schwermut der allgemeine Character oder die Natur des 
Sprechenden ist, so sieht er von dieser wie von jeder anderen 
Charactereigenschaft des Sprechenden beim Auffassen des In- 
haltes der Mitteilung ab. Die Wirkung dieser Stimmung auf 
den Hörer bleibt nur eine stilistische. Für die Poesie und 
Litteratur ist es von grosser Wichtigkeit diese individuellen 
Stimmungen der litterarischen Persönlichkeit zu kennen, ebenso 
werden die Urteile des Menschen nach Wert und Unwert erst 
aus dieser Quelle voll verstanden und gewürdigt, denn der 
Melancholiker wird in seinem Urteile leicht pessimistisch, und 
er sieht Galle, wo das heitere Gemüt Honig zu schmecken 
glaubt, er sieht Verwesung, wo ein Anderer heiter blühendes 
Leben erblickt. Und somit geben diese festen Stimmungen 
ein nicht unwesentliches Material expositioneller Elemente, — 
doch für das Wortverständniss der lebendigen Rede ist diese 
Seite des physischen Lebens ohne tiefere Bedeutung. 


35 

Wir sprachen von der Situation der fest gewordenen Inte- 
ressen, doch nicht blos einzelne Stände oder Klassen innerhalb 
einer Volksgemeinschaft, nicht blos einzelne Familien und 
Individuen haben solche gemeinsamen Interessen, auch ganzen 
Völkern, ganzen Zeiten und Culturepochen sind derartige feste 
Interessen gemeinsam. In diesem Falle pflegt man von den 
herrschenden Ideen einer Zeit zu reden. Man denke 
z. B. in Berlin hätte man Freiheit gerufen im Jahre 1809, würde 
das Volk bei diesem Ausrufe dieselben Vorstellungen gehabt 
haben als das Pariser Volk in den Jahren der grossen Revo- 
lution, der Preusse würde die Befreiung von der Fremdherr- 
schaft, der Franzose die specifisch politische Freiheit und 
Gleichheit im inneren Staatsleben verstanden haben. Im heutigen 
Paris würde der Ruf revanche vermutlich eine ganz bestimmte 
Deutung finden, es würde als Aufruf zum Rachekriege gegen 
uns empfunden werden. Welcher Vorstellungsinhalt verbindet 
sich dem modernen Franzosen mit dem Worte Prussien und 
welcher Inhalt dem Preussen, wenn er stolz bekennt: ich bin 
ein Preusse; — was dachte der Römer des goldenen Zeitalters 
bei Graecus oder Graeculus, und was wird bei dem Namen der 
Perser vorgestellt haben, der bei Salamis mitgekämpft hatte? 

Sprachlichen und litterarischen Aeusserungen einer Zeit, 
ihren Dichtungen und Schriftwerken merkt man sofort an, dass 
eine Menge von Expositionselementen unausgesprochen bleiben, 
die wir aussprechen würden. Wir denken und fühlen anders 
als jene Menschen, das Ganze hat für uns etwas Fremdes, die 
unausgesprochenen Expositionselemente kann man auch die 
Vorurteile der Zeit nennen. Wenn Brunhild in den Edda- 
dichtungen den Sigurd zu morden sucht aus unbezwingbarer 
Liebe, so ist uns die Voraussetzung der Frau nicht unmittel- 
bar bewusst, die Voraussetzung dass sie im Jenseits mit ihm 
vereint zu sein hofft. Wenn dasselbe gewaltige Weib ihr Dienst- 
gesinde durch Geschenke zu bestimmen sucht, ihr freiwillig in 
den Tod zu folgen, so ist das für uns unverständlich, wir 
kennen nicht den Wunsch jener altgermanischen Zeit, ge- 
schmückt und geehrt in das Jenseits einzugehen. Die Edda- 
dichtung verliert kein Wort zur Exposition, nur aus einer nach- 
träglichen Vorstellung der Brunhilde lässt sich die Anschauung 
erschljessen. Man denke, ein moderner Dichter wolle diese 


26 

Thatsachen fftr moderne Leser gestalten, er würde sicher ent- 
weder episch oder dramatisch die leitenden Ideen und bestim- 
menden Vorurteile jener Zeit zu exponieren bestrebt sein. Die 
Zeit selbst ist sich einig über diese Anschauungen und verliert 
darüber kein Wort. 

Da die ganze Art die Welt zu denken und aufzufassen 
von solchen Ideen bestimmt ist, die Beurteilung der ethischen 
Werte, die Anschauungen von dem Zusammenhange der Dinge 
unter sich, mit dem Menschen und mit Gott, die Anschauungen 
von den Kräften des Lebens und der Welt, die Anschauungen 
von den Pflichten des Menschen gegen sich, gegen Andere und 
gegen die Gottheit, — so nennt man diese Situation auch die 
Weltanschauung des Menschen oder der Zeit und Teile 
dieses Weltbewusstseins das religiöse und sittliche Be- 
wusstsein. Wie verschieden diese Weltanschauung in den 
verschiedenen Völkern und Culturepochen ist, bedarf einer 
Ausführung niisht, die litterarischen Denkmäler solcher Zeiten 
und Völker werden uns ja erst verständlich durch ausführliche 
Commentare, d. h. Expositionen zu Aeusserungen, welche jenen 
Zeiten ohne diese Expositionen verständlich waren. Beginnt 
Horaz das achte Lied im dritten Buche: 

Martiis caelebs quid agam Kalendis, 

Quid velint flares et acerra iuris 

Plena miraris positicsque carbo in 

Cespite vivo — 
so war dem religiösen Bewusstsein der damaligen Zeit sofort 
mit dem ersten März die Feier der Matronalien gegeben, die 
Personen, welche dies Fest feierten, seine Cultusform und viel- 
leicht seine religiöse Bedeutung und damit das Staunen des 
Maecen verständlich. Wir müssen uns erst mühsam aus anderen 
Notizen diese l'hatsachen zusammensuchen, um zu verstehen, 
warum Maecenas sich über des Horaz Festfeier wundern soll. 
Sprach der Kömer sein pluil aus, so gibt er keine Situation 
keine Exposition, es versteht sich ihm von selbst, dass der 
Kegengott der Juppiter Pluvius den Kegen bringt, bedeutet uns 
das expositionslose es regnet dasselbe? 

Hieran schliesst sich von selbst, dass die culturellen Diffe- 
renzen der verschiedenen Völker und Zeiten bedeutende Diffe- 
renzen in der Exposition hervorbringen müssen. Sagen wir 


27 

heute: er nahm das Holz um Feuer anzumachen, so wird ein 
Jeder darunter Holz verstehen, das durch vorhandenes Feuer 
oder durch Zündmasse erzeugtes Feuer in Brand gesteckt werden 
soll Würde auch der Culturmensch diese Vorstellung damit 
verbinden, welcher das Entzünden des Feuers nur durch Bei- 
bung von Hölzern kennt? Würde dieser die Aeusserung Stahl 
und Stein verstehen? Diese Situation nennen wir die Cultur- 
sitnation. 

Erst durch Vergleichung unserer Weltanschauung und 
unseres Culturzustandes mit anderen kommen wir zur Empfin- 
dung und zum Bewusstsein, was wir beim Sprechen mit Genossen 
derselben Weltanschauung und derselben Cultur voraussetzen 
und ohne Exposition lassen. Der gesammte Inhalt der Worte 
von allen Thätigkeiten , Lebensformen und ; Werkzeugen, also 
den Dingen, die jenem Wandel unterstehen, ist bedingt von 
diesen Voraussetzungen der Weltanschauung und des Cultur- 
lebens. 

Das möge genügen, um eine Vorstellung von dem Vor- 
stellungsmaterial zu geben, das ich die Situation genannt habe. 


vn. 

Je klarer und vollständiger die Situation durch 
die Anschauung gegeben ist, um so weniger sprach- 
licher Mittel bedarf es. Also die sprachliche Aeusserung, 
welche auf eine gegenwärtige Anschauung gerichtet ist, wird 
am knappsten gehalten werden können. Unter den poetischen 
Kunstgattungen bedarf das auf der Bühne gespielte Drama 
der wenigsten Worte, der Fantomimus kommt sogar ohne 
sprachliche Mittel aus. So fallen bei der Darstellung auf der 
Bühne alle Bühnenbemerkungen des Schauspiels fort, denn 
das Ensemble der Scene stellt die in diesen Bemerkungen an- 
gegebenen Thatsaehen und Verhältnisse eben direct und körper- 
lich dar. Wie einfach wird durch dieses Ensemble der Bühne 
das Verständniss der Worte z. B. im Anfange des Egmont: 
Soest: Nun schiesst nur hin, dass es alle wird! Ihr nehmt mir's 
doch nicht! Drei Ringe schwarz, die habt ihr eure Tage nicht 
geschossen. Und so war' ich für diess Jahr Meister. — Wie 


28 

wäre man ohne die Anschauung der Gruppen auf der Btthne im 
Stande zu ersehliessen, dass ein Armbrnstsehiessen stattfindet, 
dass Soest ein Krämer oder wenigstens Bürger, dass Jetter, 
an den er jene Worte richtet, gleichfalls ein Bürger ist? Wer 
würde wissen, dass während dieser Worte auch Soldaten an- 
wesend sind? Wer könnte auch nur ungefähr die Zeit der 
Handlung erraten, oder den Ort, ob die Handlung im Walde, 
im Dorfe, in der Stadt etc. statt fände? Der Dramatiker also 
benutzt als ein sehr wesentliches Expositionselemente die leben- 
dige, gegenwärtige Anschauung. Wie langer Expositionen 
würde ein Roman bedürfen, der die eben berührte Situation 
wählen wollte! Der Roman und überhaupt die Erzählung 
braucht die meisten Worte, weil er die meisten expositionellen 
Mitteilungen zu machen hat. 

Die Situation wird undurchsichtiger 1, je weiter 
und mannigfaltiger die Zahl der umgebenden Personen und 
Gegenstände ist. Hier kann vielfach die Hinweisung der Hand 
noch aushelfen. Aber die einzelnen Vorgänge bei den einzelnen 
Personen können nicht mehr mit gleicher Vollständigkeit be- 
achtet werden. In einem grossen und gefüllten Weinhause 
würde es sehr zweifelhaft werden, ob ein am fernen Tische 
gehörter Ruf vortrefflich sich auf den Wein, auf eine Speise, 
auf eine Anecdote, einen Vorschlag oder sonst etwas bezöge. 

undurchsichtig wird 2, femer die Situation, wenn räum- 
liche Trennung stattfindet: a) zwischen den Personen, die mit 
einander sprechen ; b) zwischen der sprechenden und hörenden 
Person einerseits und den Personen und Dingen, von denen 
sie sprechen, andererseits. Also weniger deutlich und umständ- 
licher ist die Mitteilung im Briefe als die mündliche Be- 
sprechung über ein gegenwärtiges Anschauungsbild und ebenso 
eine Mitteilung über eine Landschaft Indiens in Europa als 
an Ort und Stelle. — Undurchsichtig wird die Situation 3. 
ferner durch zeitliche Trennung von dem Objecto der Mit- 
teilung, dies ist der Fall, den wir beim Egmont berührten. 
Soll der Romandichter uns in ferne Zeiten z. B. der ägyptischen 
oder griechischen Geschichte führen, so empfindet er eine 
viel grössere Schwierigkeit der Exposition als wenn er uns 
wie Spielhagen in das moderne Leben einer deutschen Stadt 
versetzt. 


29 

Schwieriger wird nun 4. schliesslich die Exposition, je 
grösser der Kreis der angeredeten Personen ist. Ein Dichter, 
der sich an eine ganze Nation wendet, oder an die gesammte 
gebildete Welt, kann nicht auf eine Situation rechnen, welche 
durch festgewordene Interessen geschaflfen wird und nicht auf 
die Beihttlfe zur Exposition, wie sie der Handwerker bei seinen 
Zunffcgenossen findet oder das Kind im Schosse seiner Familie, 
wo der Vater eben sein Vater, Karl sein Bruder, der Schrank 
ein ganz bestimmter Schrank ist n. s. f. Je verschiedenartiger 
die Interessen der angeredeten Personen, um so grössere An- 
forderungen werden an die sprachliche Exposition gestellt 
Und je höher die Individualität innerhalb einer Sprachgemein- 
schaft entwickelt ist, um so mannigfacher sind die Interessen- 
kräfiie, um so höher wachsen die Anforderungen an die Ex- 
position. Man vergegenwärtige sich den tausend und aber- 
tausenden Individualitäten der modernen gebildeten Gesellschaft 
eines Volkes gegenüber die enge Welt der Kinderstube, von 
deren leicht verständlichem Stammeln wir ausgingen, oder den 
engbegrenzten Horizont und die Gleichheit und Gonstanz der 
Beschäftigungen und der Lebensweise bei einem kleinen Stamme 
von Wilden. — Hierauf beruht zum guten Teile das Gesetz, 
dass räumliche Trennung oder Verschiedenheit in der Lebens- 
weise bei ursprünglich eng verbundenen Teilen derselben 
Sprachgenossenschaft schnell Verschiedenheiten, allerdings nicht 
sowohl in der lautlichen Form, als in der Ausdrucksweise 
herbeiführen. 


VIII 

Der Exposition gegenüber steht das logischePrädicat. 
Schon oben war darauf hingewiesen, dass dieses nicht mit dem 
grammatischen Prädicate zusammenfällt, obgleich allerdings 
ein naher Zusammenhang besteht. Das Glied des Satzes, 
welches den Ton trägt, der betonte Satzteil ist das logische 
Prädicat. Der grammatischen Form nach kann dies ein 
Subject, eine Zeit- oder Ortsbestimmung oder irgend eine 
andere grammatische Kategorie sein. So lässt sich der Satz: 
die Schlacht bei Leipzig ist am 18. October geschlagen mehrfach 


80 

betonen, die Schleicht bei Leipzig — , ist am achtzehnten 
October — , ist am 18. October — geschlagen. Man empfindet 
unmittelbar den Unterschied der Bedeutung des Satzes bei 
verschiedener Betonung: wird Leipzig betont, so ist damit gesa^ 
diese Schlacht fand am 18. October statt, eine andere aller- 
dings wurde an einem anderen Tage geschlagen, von der fest- 
stehenden Thatsache, dass am 18. October eine Schlacht statt 
fand, wird die Angabe prädiciert, welche Schlacht dies war. 
Wird die Zahl achtzehnte betont, so wird damit einer An- 
nahme widersprochen, etwa der, dass dieselbe am 25. October 
stattgefunden habe, von der feststehenden Thatsache, dass 
im October bei Leipzig gekämpft sei, wird das richtige 
Prädicat ausgesprochen u. s. f. Also bei der verschiedenen Be- 
tonung ergibt sich jedesmal ein verschiedener Sinn, denn 
jedesmal ist das logische Prädicat und die Situation oder 
das logische Subject verschieden. Bemerkenswert ist, dass in 
unserem Satze gerade das grammatische Prädicat nicht betont 
werden kann. 

Auch aus diesem Beispiele ergibt sich, was schon oben 
erwähnt war, dass das Prädicat stets das Nene und In- 
teressierende derMitteilung enthält, oder noch besser 
gesagt das Wertvolle. Ueber diesen Punkt werden wir 
mehr hören, wenn wir an die Frage nach dem Zwecke des 
Sprechens treten. 

So viel ist hieraus schon jetzt ersichtlich, dass nur solche 
Worte logisches Prädicat sein können, welche im Stande sind 
ein Wertvolles dem Hörer mitzuteilen. So viel ich sehe ist 
das nur beim Relativpronomen nicht möglich, sonst können 
alle die sogenannten Formworte die betonten Satzteile sein, so 
die Präpositionen: janeben dem Hause aber nicht in dem Haus; — 
die übrigen Adverbia: sehr schön, sagst du? er macht es gar 
zu arg; dein Bruder kam auch n, s, f.; dagegen das Relativum 
der, welcher lässt sich nicht betonen, das relative Adverbium 
dagegen kann das logische Prädicat sein, vielleicht aber nur 
im Widerspruch gegen eine zu corrigierende Behauptung oder 
Annahme: ich ging zu ihm erst, als ich es hörte (nicht bevor), 
ich habe geschrieben, weil ich dich liebe (nichl obgleich), das 
wird geschehen, wenn er kommt {wie du behauptest, aber es ist 
zweifelhaft, ob du Recht hast). 


SI 

Das Mittel also, durch das die beiden scharf zu sondern- 
den Klassen von Satzelementen vom Sprechenden auseinander- 
gehalten werden, ist die grössere oder geringere Stärke des 
Tons, — ich sehe hier davon ab, dass in den Sprachen mit 
musikalischem Accente zugleich eine musikalische Erhöhung 
des Tones statt findet. Wie wichtig der Accent fttr das Ver- 
ständniss des Satzes und seines Sinnes ist, beweist ein Vergleich 
zwischen stttmperhaftem und monotonem Lesen gegenüber einem 
gut betonten Vortrage. 

Dieses Mittel genügt vollständig das logische Prädicat her- 
vortreten zu lassen; und doch findet sich in den modernen 
Sprachen, speciell dem Französischen und Deutschen, das 
Bestreben, auch durch grammatische Construction den 
betonten Satzteil hervortreten zu lassen. Man wird 
sich dieses Bestrebens besonders bewusst, wenn man die ge- 
nannten Sprachen mit dem Lateinischen und Griechischen ver- 
gleicht Sätze wie primus Caesar hoc fecit tibersetzen wir häufig 
durch Caesar war der erste, der dies that; und ebenso bei der 
Betonung Caesar hoc fecit, Caesar war es, der. Im Franzö- 
sischen wird in solchen Fällen der Ausdruck c'est que so viel 
gebraucht, dass ich Beispiele sparen kann. Man darf sagen, 
dass besonders betonte Nebenbestimmungen häufig so in den 
modernen Sprachen in den Vordergrund gerückt werden, z.B. 
sein Bruder war es, mit dem er kam; lat. cum fratre venit, es 
war Nacht, als er zurückkehrte, es ist lange her, seit und viele 
andere. 

Man hat hierbei den Eindruck, als ob sich ein Wider- 
spruch im Sprachgefühle zeige, den betonten Satzteil in ein 
syntaktisches Verhältniss zn bringen, das im AUgemeinen zum 
Ausdruck von nebensächlichen Bestimmungen dient, man hat 
auch das Bedürfniss, das wichtigste Glied der Mitteilung an 
den Anfang zu rücken, was bei der fixierten Wortstellung der 
modernen Sprachen nicht ohne weiteres möglich ist. Bezeichnend 
ist hierbei die Thatsache, dass man das logische Prädicat 
in solchen Fügungen auch zum grammatischen Prä- 
dicate macht. Ich weise bei dieser Gelegenheit sogleich da- 
rauf hin, dass 1. ein Bestreben vorhanden ist, das logische 
Prädicat an die Spitze zu stellen, 2. ein Bestreben das logische 
Prädicat zum grammatischen Prädicat zu machen, und 3. dass 


32 

die allgemeine Stellung des grammatischen Prädieats in den 
neueren Sprachen hinter dem Subject ist, offenbar ein Wider- 
spruch in der Anschauungsweise, auf den wir zurttckkommen 
mttssen. 

IX. 

Es entsteht nun die Frage: wie befriedigt die Sprache 
thatsächlieh jenesBedttrfniss nach logischemPrädicate 
und Exposition, welche Formen werden hierfür gewonnen, 
wie verhält sich die grammatische Form zu den eben ge- 
schilderten einen geschlossenen Satzbau begründenden Ver- 
hältnissen? 

In dem Satze: Themistokles, ein Grieche aus Athen, ein Zeit- 
genosse des Aristides, schlug bei Salamis die Perser, welche nach 
Griechenland gezogen waren, um dieses Land zu unterwerfen, in 
einer Seeschlacht — in diesem Satze steckt ein sehr reicher 
Inhalt. Verfolgen wir die Gänge, welche hier die Darstellung 
nimmt: zuerst ein Personenname das Subject, — für einen Ge- 
schichtskundigen genügend um Vaterland und Lebenszeit zu 
bezeichnen; denn es gibt nur einen Themistokles von histo- 
rischer Bedeutung. Für Ungelehrte bedarf es einer Erläuterung 
nach Ort und Zeit, diese ist enthalten in einer doppelten 
Apposition. Offenbar also ist der Erzähler in seinen Angaben 
bestimmt durch die Ueberlegung, welche expositionellen Ele- 
mente er nach dem Eenntnissstande des Hörenden zu geben 
hat. — Die erklärende Apposition folgt nun dem der Erklärung 
bedürftigen Subjecte nach; man sollte von einer wohlgeordneten 
Darstellung erwarten, dass die Exposition dem der Exposition 
bedürftigen Worte voranginge. Es verhält sich hier also Themi- 
stokles zu seinen Apposititionen wie das logische Prädicat des 
Satzes zn seinen exponierenden Momenten, zu seiner Exposition 
oder seinem logischen Subjecte. Eine klare und einfache Er- . 
Zählung würde sagen: es lebte zur Zeit des Aristides ein Mann 
in Athen mit Namen Themistokles, 

Die Anwesenheit der Perser bei Salamis wird durch den 
Relativsatz erklärt; dieser ist die Exposition zum logischen 
Prädicat: die Perser wurden bei Salamis geschlagen. Beide 
Arten der Exposition, Apposition und Belativsatz, 


33 

stehen stets hinter ihrem logischen Prädicate. Also diese 
so einfachen, so vielgebrauchten Formen der Exposition stehen 
logisch an falscher Stelle. 

Zur Erklärung dieser befremdlichen Thatsache bedarf es 
nur der Ueberlegung, wie der Sprechende im Allgemeinen zum 
Bewusstsein davon kommt, dass seine Mitteilung einer Ex- 
position bedürfe. Im Allgemeinen pflegt der Mensch, besonders 
der naive Mensch, anzunehmen, dass sein Mitmensch innerlich 
genau so organisirt und gestimmt sei, dass er dasselbe denke 
und wisse, wie er selbst. Beginnt er seine Mitteilung mit dieser 
Voraussetzung, so wird er sich oft vom Gegenteil überzeugen 
müssen durch den verständnisslosen Ausdruck in den Mienen 
des Angeredeten oder noch director durch die Frage: von wem 
sprichst du, wann war das, wo geschah das u. s. f. Also 
ursprünglich wird der Redende erst während des Sprechens 
bemerken, dass er zur Erklärung gewisse Angaben hinzufügen 
müsse. Auch kann sich der Redende über das Mass dessen 
täuschen, was zur Exposition mitzuteilen ist, er kann zu viel 
geben und damit langweilig werden und als vorsichtiger Pedant 
erscheinen, er kann zu wenig geben, und unklar werden. Da- 
rüber belehrt ihn die Miene des Angeredeten, ist dieser zerstreut 
bei der Mitteilung und interesselos, so kann der Sprechende 
daraus einen Schluss auf seine Weitschweifigkeit ziehen, liest 
er auf dem Gesichte des Angeredeten das Befremden und die 
Züge des Verständnissmangels, oder hört er geradezu die IVage, 
so hat er damit den Hinweis erhalten sich zu corrigieren und 
nachzuholen, was er übergangen hatte. 

Ferner aber, das logische Prädicat ist ja das den Sprechen- 
den am meisten Interessierende, es ist im Augenblicke die 
stärkste Vorstellung in ihm, es steht durchaus im Vordergrunde 
^ des Bewusstseins und drängt eben darum am stärksten zur 
Mitteilung. Diesem mechanischen Uebergewicht des logischen 
Prädicats in der Seele hat die ruhige Ueberlegung, dass eine 
Exposition zum Verständnisse nötig sei, und was dieselbe er- 
fordere, das Gleichgewicht zu halten. Wie oft jedoch die ruhige 
Ueberlegung der übermächtigen Gewalt jener psychologischen 
Potenzen des Gefühls und der Strebung unterliegt, beweist die 
Ethik auf Schritt und Tritt. 

Das natürliche Uebergewicht des Interesses wird noch 

6 


34 

verstärkt durch die gesteigerte Animiertheit, welche das leben- 
dige Sprechen mit sich bringt gegenüber dem ruhigen Schreiben, 
ebenso durch das elementare Bestreben des Menschen inte- 
ressant zu sein. Es ist daher psychologisch nur natürlich, dass 
der naive Mensch die Expositionselemente erst nach dem Prä- 
dicate ausspricht. Die einmal geschaffene und fest gewordene 
Sprachform behält auch der künstlerisch gestaltende Dichter 
und Schriftsteller bei. Apposition und Relativsatz sind 
also nachträgliche Correcturen unserer mangelhaften 
Darstellung. 

X. 

Es ist interessant, dass uns die grammatische Form 
der Nebensätze einen Einblick in das Werden der ex- 
positioneilen Form gestaltet, etwa wie die Petrefacten uns 
Formen eines früheren Daseins erschliessen. 

In den indogermanischen Sprachen werden zur Bildung 
der Nebensätze vor Allem zwei Klassen von Stämmen ver- 
wendet, Demonstrativstämme und Stämme des Fragepronomens. 
Im Griechischen, Lateinischen und Deutschen haben wir hier- 
für 1. den Demonstrativstamm ta- grich. to-, deutsch tha-^ da-, 
nhd. der die das; 2. lateinisch die Interrogativstämme qui und 
quo-, deutsch hrva-, woraus nhd. wer, was, welcher, mit ihren 
Ableitungen. Von diesen Stämmen sind die meisten und wich- 
tigsten Conjunctionen dieser drei Sprachen abgeleitet. Doch 
da diese Sprachen in der Wahl der Stämme nicht überein- 
stimmen, so haben wir darin den Beweis, dass die Entwick- 
lung des Nebensatzes erst innerhalb der einzelnen Sprachen 
vollzogen ist. Um so auffallender und interessanter ist also 
die Uebereinstimmung in dem inneren Princip der Bildungs- 
weise dieser Sätze. 

Sehr durchsichtig ist die Entstehung des Relativsatzes 
aus dem Demonstrativum: Die Griechen schlugen die Perser, 
das war ein Volk aus Asien, — die waren aus Asien gekommen, — 
damals war Xerxes König u. s. f. Diese Sätze sind also wirk- 
liche Demonstrativsätze, die nur im Deutschen eine den Neben- 
sätzen eigentümliche Wortstellung erhalten haben, und die 
sich sonst nur durch die geringe Bedeutung ihres Inhaltes und 


35 

daher durch das geringe Mass ihrer Betonung von den demon- 
strativischen Hauptsätzen unterscheiden. Als Demonstrativsätze 
sind sie der stets und auch heute gebräuchlichen und leben- 
digen Parenthese gleich und functionell Satzappositionen, 
also nachträgliche Correcturen der Darstellung. 

Selbstverständlich findet sich die Satzapposition in allen 
drei Sprachen, doch sie ist nicht überall die feste Form des 
Nebensatzes oder wenigstens des Relativsatzes geworden oder 
geblieben. Im Deutschen ist sie es in so fern nicht geblieben 
als die Relativsätze eine andere Wortstellung erhalten haben 
als die parenthetischen Appositionssätze, eine Wortstellung, die 
für alle auch auf anderem Wege entstandenen Nebensätze ge- 
meinsam ist, z. B. also auch für die mit dem Substantiv Weile 
gebildeten Consalsätze: weil ich ihn sah, ftlr die mit einem 
Participium gebildeten Sätze: Während ich den Brief erhielt, 
für die indirecten Fragesätze: ich fragte ihn, oh er ihn gesehen 
halte und ebenso für die aus dem Interrogativum gebildeten 
Nebensätze. Die demonstrativen Sätze haben sich der für den 
Nebensatz üblichen Weise der Wortstellung angeschlossen, sich 
also einem Systemzwange gefügt. — In der griechischen Sprache, 
auch in den Dialecten scheint sich das Relativum oq mit der 
Zeit durchgesetzt zu haben gegen die Formen vom Stamme ro-, 
vgl. Kühner Gr. Gr. 1, 174, 2. 

Doch nicht alle mit dem Demonstrativum gebildeten deut- 
schen Nebensätze können so erklärt werden. In einem Satze 
er reiste ab, nachdem die Sonne aufgegangen war kann der 
demonstrativische Ausdruck nach dem etymologisch nur zum 
Hauptsatze gezogen werden = er reiste ah nach der Zeit, diese 
Zeit war: die Sonne war aufgegangen. Ebenso muss da in 
Sätzen wie wir freuen uns, da du kommst etymologisch zum 
Hauptsatze gerechnet werden: wir freuen uns da, du kommst. 
Ebenso in Sätzen mit indem: indem ich hier verweile, dingt er 
schon Mörder; — Je nachdem, — auf dass: du sollst Vater und 
Mutter ehren, auf dass dirs wohl gehe, 

Ist von uns hier richtig etymologisch bezogen und con- 
struiert, so zeigt sich principiell wieder dieselbe Erscheinung 
wie in der Apposition. In dem Satze: er reiste ah, nach dein 
ist gesprochen, als ob der hinweisende Ausdruck an sich schon 
verständlich wäre, der Sprechende selbst verbindet ja aller- 

3* 


36 

dings einen bestimmten Inhalt mit der Demonstration, — der 
nachfolgende Satz: die Sonne war aufgegange^i sehliesst sieh 
daran als Correctur, als nachträgliehe Exposition. Ebenso sind 
gewiss die Sätze etymologisch aufzufassen, nach deren Muster 
sich die vielen deutschen Verbindungen mit dass gebildet haben, 
z. B. ich glaube dass er kommt. Zunächst war das neutrale das 
das einzige Object des Verbums ich glaube, und wenn es un- 
verständlich war, so setzte man parenthetisch oder appositionell 
er kommt hinzu. Der Gebrauch der Sätze mit dass wird ur- 
sprünglich gewiss auf die Verbindung mit transitiven Verben 
beschränkt gewesen sein, doch sobald man das Pronomen 
nicht mehr als Pronomen fühlte, sondern conjunctionell zum 
nachfolgenden Satze zog, war der Ausbreitung der Constructions- 
weise Thor und Thtir geöffnet. 

Dass der blosse Hauptsatz als nachfolgende Erklärung 
eines unverständlichen Wortes dienen kann, verstehen wir aus 
dem freien Gebrauche der parenthetischen Sätze vollkommen, 
z. B.: er besuchte den anderen Bruder {er n-ar ein Farmer etc.). 
Und auch der formelhaft gebundene Gebrauch des Personal- 
pronomens im relativen Sinne, z. B.: 7nit dir, du ein krone his/ 
aller eren (vgl. Paul mhd. Gr. § 342, Anm. 2); ferner in Neben- 
sätzen mit nu7i eig. = Jetzt, z. B.: ich sterbe ruhig, mm ich sie 
dir empfehle, (Paul mhd. Gr. § 352, 5); ebenso bei eh, mhd. 
e, entsprechend der etymologischen Zugehörigkeit von ?^^^ und 
ß wird mhd. auch ein daz hinzugefügt; ebenso weil, mhd. die 
wile und die wile daz, die wile und. Auch das mhd. doch im 
Sinne von obgleich (Paul a. a. 0. 352, 7) gehört hierlier, das ur- 
sprüngliche Participium während ist gleichfalls etymologisch zum 
Hauptsatze zu construiren. 

Man wird daher nicht zweifeln können, dass ein besonders 
im Deutschen viel gebrauchtes Verfahren expositionellc Neben- 
sätze zu bilden sich an den demonstrativen Hinweis anschloss 
in Fällen, wo dieser flir den Hörenden nicht verständlich war, 
und darum einer nachträglichen Erläuterung bedurfte. Es ist 
das Verfahren der Correctur. Wir haben bei Besprechung 
dieser Erscheinung noch andere princijnell gleiche Formen ge- 
funden, nur dass in diesen die Correctur sich an ein anderes 
der Erklärung bedürftiges Wort anscliloss. Sprachgcschiclitlich 
interessant war dabei die Erscheinung, dass der zu allgemein 


37 

gehaltene Teil des Hanptsatzes mit der Zeit zum erklärenden 
Nebensatz bezogen wurde. Dieser Erscheinung werden wir 
noch öfter begegnen. 


XL 

Es mag unentschieden bleiben, ob wir den Stamm des 
griechischen Relativpronoms 6g interrogativ oder demonstativ 
ansehen sollen, doch da die demonstrative Bedeutung flir das 
Griechische sicher bezeugt ist, vgl. Kühner, Gr. Gr. § 518, 3, 
und da der Relativsatz sich zweifellos auf dem Boden der 
Einzelsprachen entwickelt hat, so sehe ich keinen Grund, auch 
für das Griechische entsprechend den relativen Bildungen vom 
Stamme to- die Entstehung dieser Nebensätze aus dem Demon- 
strativpronomen in Abrede zu stellen. 

Doch mag man nun diese griechischen Sätze nach der 
Weise der deutschen Sätze erklären oder nach der der Latei- 
nischen Relativsätze, das Resultat unserer Untersuchung nach 
den Mitteln der Sprache, die Exposition zu bezeichnen, wird 
dadurch nicht alteriert. Denn sicher hat sich der lateinische 
Relativsatz mit dem Pronomen qui und seinen Ableitungen 
aus dem Fragesatze entwickelt. Es besteht hier die That- 
sache, dass der Relativsatz als einleitendes Wort eine Form 
des Fragepronoms hat, z. B.: Themistocles, qui Athenis natus est, 
vicit Persas. Der Relativsatz enthält die Erklärung des Namens 
durch die Angabe der Geburtsstätte, es konnte also der 
Sprechende den Angeredeten nicht fragen, wer in Athen ge- 
boren war, denn das hatte er eben als Thatsache zur Er- 
klärung des Namens mitzuteilen. Der Fragesatz kann auch 
nicht aus dem Sinne des Angeredeten sein, denn diesem ist 
ja von Jemanden, der in Athen geboren war, bisher nichts 
gesagt. 

Allerdings ist das Fragepronomen aus dem Sinne des An- 
geredeten, doch wonach muss dieser fragen, wenn ihm bei 
dem Namen Themistokles etwas fragwürdig erscheint? Doch 
offenbar, wer Themistokles sei. Die alte Construction war: 
A sagt; Themistokles; B: Wer?, — A: Er wurde in Athen 
geboren. 


38 

Latein, quianam lieisst warum? wesswegen (vgl. Georges 
Lexic), — quia lieisst 7veiL Die alte Construction war: die 
Perser zogen nach Griechenland, — Warum? — Sie wollten 
unterwerfen, 

Quippini bedeutet warum denn nicht (Georges Lex.), quippe 
denn. Der mit quia und quippe eingeflihrte Satz enthält die 
Antwort auf die Frage warum! — Die Antwort selbst konnte 
unmöglich organisch und bei klarem Bewusstsein von der 
Grundbedeutung der Worte quia und quippe mit diesen, also 
mit einem Ausdruck = warum? eingeleitet werden. 

Zunächst constatieren wir aus dieser Satzforra, dass die 
Exposition nachträglich gegeben wird und zwar unter der 
Form, unter der in sehr, sehr vielen Fällen dem Redenden 
erst das Bewusstsein für die Verpflichtung aufgeht, eine der- 
ai-tige Exposition zu geben. Auch diese Form ist in der 
freien Sprache, nicht blos in der naiven, häufig genug, z. B.: 
Ich will fortziehen. Warum! {Nun) es gefällt mir hier nicht. 

An sich wäre es denkbar, worauf wir später zu sprechen 
kommen, dass die interrogative Bedeutung dieser Stämme qui- 
und quo- sich aus der demonstrativen entwickelt habe, und 
ich will eine solche Möglichkeit für die Zeit vor der Ent- 
stehung der Einzelsprachen gar nicht in Abrede stellen, aber 
eben so sicher ergibt sich aus der Vergleichung des griechischen 
Stammes xo- des lateinischen quo- und des germanischen hwa-, 
dass vor der Sprachtrennung dieser Stamm die interrogative 
Bedeutung erhalten hatte. 

Die oben gegebene Erklärung, welche mir die einzig mög- 
liche erscheint, gilt daher auch für die übrigen von diesem 
Stamme oder diesen Stämmen gebildeten Ableitungen, also für 
quod, ubi, unde, ut, quam, quom, cum, quando. 

Weiter nun finden wir hier eine sprachgeschichtlich sehr 
interessante Thatsache: Zwei Sätze 1. ein Fragesatz, dessen 
Prädicat aus dem Vorhergehenden zu ergänzen war und 2. die 
Antwort auf diese Frage sind zu einem continuierlichen, 
organischen Satzganzen verschmolzen. 

Bei diesem Vorgange der Verschmelzung ist vor Allem die 
eine Frage zu beantworten: wie ist es möglich, dass ein Frage- 
satz seinen Frageton einbüsst? Denn erst wenn der 
folgende Ton von dem Frageworte gewichen ist, kann es mit 


39 

dem Behauptungggatze der Antwort vergehmelzen. — Zunäcligt 
igt fegtzugtellen, dagg dag fragende wer, wie u. g. f. von der- 
gelben Pergon gegproelien wird, welche auch die Antwort gibt, 
dagg algo die gpreehende Pergon der Angeredeten die Frage 
referierend entnimmt = ,wie' fragst du. 

Dergleichen Fälle, dagg eine directe Aeuggerung referierend 
in die Rede einer anderen Pergon tibergenommen wird, gind 
auggerordentlich häufig: z. B.: Jemand hat eine Pergon mit du 
angeredet, der Angeredete antwortet: du, das verbitte ich mir 
oder das du verbitte ich mir, oder in Verbindung mit einer 
Präpogition du hast mich mit du angeredet, oder mit verbaler 
Ableitung duzen, ihrzen. Die Anrede der einen Pergon algo, 
d. h. eine mtindliche directe Aeuggerung wird zum Object der 
Auggage der anderen Pergon und nimmt dadurch ganz den 
Character eineg appellativen Subgtantivg an. Der Ton, den 
dag Wort du in der Anrede trug, kann verloren gehen und 
geht natürlich regelmäggig verloren, wenn dag entlehnte Wort 
Flexion oder Ableitunggguffixe erhält. Ebengo gagen wir das 
wie, das wo, das wenn u. g. f., griech. ro Jtcog, x6 ütov, xo ütolov 
u. g. f., das Vaterunser und mit Flexion des Vaterunsers, griech. 
dXaXa und aXaXdl<(D, Hurrah, Uussah gchreien oder adverbial 
da geht es hurra hopsassa. Dag griechigche r/ fifjv igt Ver- 
gicherunggpartikel, daher im Schwur und bei feierlichen Ver- 
gprechen gehr am Platze, aber eg wird auch dem von einem 
Verbum deg Schwöreng und Vergprecheng abhängigen Infinitiv 
beigefügt (vgl. Kühner, Gr. Gr. 502, 4 a). Dag Taciteigche, doch 
auch in der klaggigchen Zeit vorkommende, an bei einem 
zweifelhaften Grunde hat wahrgcheinlich geinen Frageton ein- 
gebüggt, z. B. Tacit., Ann. 2, 42: finem vitae sponte an fato im- 
plevit, entwickelt aber hat gich der Augdruck aug der directen 
Frage: er starb freiwillig, — oder eines natürlichen Todes? 

Diege Herübernahme directer Aeuggerungen einer anderen 
Pergon in eine referierende Auggage, wobei der urgprüngliche 
Empfindunggton verloren geht, ermöglicht überhaupt ergt die 
Bildung wirklicher Sprachworte mit vollentwickelter gram- 
matigcher Form aug den interjectionellen Lauten. So ergt war 
eg möglich, aug der Interjection ach: das Ach und ^eh, dag 
Verbum ächzen zu bilden, vielleicht auch dag griechigche dxog; 
ebengo olfico^cQ, örtva^o) u. a. — Und ergt der volle Verlugt 


40 

des Empfindungstoncs lässt diese Empfindungswoi-te an Laut- 
entwicklungen und Lautveränderungen der Sprache wie z. B. 
der Lautverschiebung teilnehmen; denn der interjectionelle Laut 
selbst steht ausserhalb solcher Lautveränderungen und mit ihm 
ein jedes Wort, dass sich deutlich für das Sprachbewusstsein 
an jene Interjectionen anlehnt. 

Doch ich darf hier diese Gedankenreihe abbrechen. Also 
die mit dem Fragepronomen gebildeten Relativsätze sind in 
der Form etwa gleich deutschen Sätzen 'wie: er ist gestorhen. 
Wie — das will ich dir erzählen, oder das wie will ich dir er- 
erzählen. Und wenn das Fragepronomen integrierender Teil 
des Relativsatzes wurde, so musste selbstverständlich auch die 
grammatische Rection des Pronomens durch das Ver- 
bum des ursprünglichen Antwortsatzes bestimmt wer- 
den, z. B.: ab urhe profecius est, quem vidisii, etymologisch war 
die Construction ab urbe profectus est, Quis? vidisti (eum). 


xn. 

Also alle Formen des pronominalen Nebensatzes sind aus 
der nachträglichen Con-ectur einer Mitteilung ohne genügende Ex- 
position hervorgegangen. Erst die Ausbildung der Sprache 
zur Kunst und zur Lehre schärft die Verpflichtung ein, 
die Exposition dem logischen Prädicate vorauszu- 
stellen. Diesem Sti-eben nach vorausgehender Exposition ist 
es zu danken, dass in fortgeschrittenen Zeiten, z. B. denen der 
klassischen Latinität der relative Expositionssatz so massen- 
haft dem Hauptsatze vorausgestellt wird; und bei dem Gefühle, 
dass das logische Prädicat das Verbum sei (und allerdings ist 
das häufig der Fall), tritt das Verbum an das Satzende, also 
hinter all die Bestimmungen, welche als Exposition erscheinen. 

Zu demselben Resultate führt eine Beti'achtung der Ver- 
balflexion des Indogermanischen. Das die Person be- 
zeichnende pronominale Suffix wird dem Woii;stamme nach- 
gesetzt, und es ist dem Verbalstamme gegenüber so schwach 
betont, dass es sich diesem enklitisch anschliesst und seine 
Selbständigkeit als Wort vollständig einbüsst. Da das logische 
Prädicat den Ton trägt, so ist entschieden die Form der Ver- 


) 


41 

balflexion aus den Fällen des Sprachgebrauchs hervorgegangen, 
in denen nicht die durch das Pronomen bezeichnete Person, 
sondeiTi der Verbalstamm das logische Prädicat enthielt. Die 
Bildung ist etwa einer deutschen Form kommt V ähnlich, — 
eine sehr häufige Verbindungsweise, neben der jedoch auch 
der Fall vorgekommen sein wird, der sich widergeben lässt 
durch das Deutsche kommt er. 

Da die mit Enklisis des Pronomens gebildete Verbalform 
das Muster fllr alle Verbalformen abgab, so muss der bei 
weitem häufigste Fall der gewesen sein, dass der Verbalstamm 
das logische Prädicat enthielt, dass also das exponierende 
Subject dem Prädicate erst nachfolgte. Und so fest verschmolz 
das pronominale Suffix mit dem Stamme, dass es auch da er- 
halten blieb, wo noch ein besonders Subjectswort zum Verbum 
trat; — also ich sag* ich, du sagstu, Karl liebfr bilden etwa 
das Schema dafllr. 

Fttr die dritte Person wird nicht selten auch in der Zeit 
wo die pronominale Geltung des Suffixes noch deutlich em- 
pfunden wurde, der unbestimmten Exposition mit dem Pronomen 
er eine nachträgliche neue Exposition angefügt sein nach dem 
Schema: kommt er Karl. Diese der Apposition ganz analoge 
Form ist sehr häufig im lebendigen Gespräche und gehört 
gleichfalls unter die Kategorie der Expositionscorrecturen. Ich 
lasse hier einige Beispiele dieser Con-ecturweise aus der künst- 
lerischen Rede folgen: Göthe Herm. und Dor. 1, 95 Freilich ist 
er zu preisen, der Mann; 1, 104 Und wer erzählet es wohl, das 
mannigfaltigste Elend? 1, 113 Traurig war es zu sehen, die 
mannniy faltige Habe u. s. f. — Götz: Lumpenhunde^ die Reiter 1 
Es wird einem sauer gemacht, das Bisschen Leben und Freiheit. 
Aus Götheschen Liedern z. B.: 

Ich kann sie kaum erwarten. 
Die erste Blum' im Garten. 
Die erste BlülfC am Baum; 

oder aus dem getr. Eckard: 

f Sic kojnmen, da kommt schon der nächtliche Graus. 

Sie sinds die unholdigen Schwestern. 
Sie trinken das mühsam geholte, das Bier, 
Dann sind sie Euch hold, die Unholden. 


42 

Diese Beispiele, die sich gerade aus Götbe massenhaft 
häufen Hessen, beweisen die Ausdehnung dieser Correcturform 
in der Sprache, sie ist hier sogar zu einem belichten und ent- 
schieden wirksamen stilistischen Mittel geworden. 


xm. 

Die Bedeutung der Nominalsuffixe ist uns unbekannt, 
aber so viel ist doch klar, dass die Ntiancierung der Beziehung 
des Stammes, also die Functionen des Casus, abgesehen vom 
Vocativ, der im Princip der reine Stamm ist, im Suffixe an- 
gedeutet waren, nicht im Wortstamme. Diese Thatsache ergibt 
sich auch aus den wenigen lebendigen Suffixen wie den gTiech. 
'd^eVy -da, 'öS, -&i, dem latein. -tus. Da auch hier das Suffix 
vom Tone des Stammes verschlungen ist, so wird auch hier . 
der häufigste Fall, wo der Stamm das logische Prädicat, die 
Ansätze d. h. die Beziehungselemente die Exposition enthielten 
das Muster für die Nominalbildung überhaupt geschaffen haben. 
Auch hier ist also die Anordnung der Elemente genau wie 
beim Verbum. Auch die Form der Nominalflexion hat ihre 
Entstehung in der nachträglichen Correctur mangelhafter 
Exposition. Diese Bildungsweise ist gleich der deutschen 
Vulgärform: wo er draus erkannte, wo er rein ging, da hat er 
sich dran gemacht u. a. Häufig setzen wir in der täglichen 
Rede ein Substantiv ganz beziehungslos und lassen erst nach- 
träglich diese Beziehung folgen: das Haus, da hin ich rein ge- 
gangen, — dein Buch, da habe ich viel drin gelesen u. a. 

Sehr beachtenswert erscheint es, dass die modernen 
Sprachen die Reihenfolge der Elemente in ihren Neu- 
bildungen meist umgekehrt stellen. Romanisch und deutsch 
wird das Personalpronomen dem Verbum, eigentlich zum zweiten 
Male, zugefügt, aber vorgesetzt, so fai, tu as, ich habe, du hast. 
Ebenso stehen die neugebildeten Htilfsverba vor dem Verbal- 
stamme, während in der älteren indogermanischen Bildung das 
Hilfsverb nachsteht, ich nenne die Formen: eXvoa, kvöco, 
tXvd-rjv, lat. amabam, amabo, amavi, germ, suohta. Die Casus- 
functionen des Genitivs, Dativs, Locativs, Ablativs, Instrumen- 
talis werden germanisch vielfach, romanisch regelmässig durch 


43 

vorgesetzte Präpositionen widergegeben, und flir mehrere Casus 
gehen dem Romanisehen das Lateinische und Griechische 
darin voran. 

Also in diesen Neubildungen stehen die meist expositionell 
gebrauchten Satzelemente an ihrer logisch berechtigten Stelle. 
Auch hier ist sicher der Fall Muster bildend gewesen, in dem 
dfese Vorsatzelemente unbetont also expositionell stehen, das 
beweist die p ro kl i tische Form der Präpositionen, wodurch 
sie sich vielfach von den älteren Adverbialformen scheiden, 
ebenso die proklitisch entstandene Form einiger Personal- 
pronomia wie franz. je, ndd. *k = ich. — Auch die Wort- 
stellung des modernen Satzes, im Allgemeinen mit dem 
Subject vor dem Verbum gehört hierher, und ebenso die pro- 
klitische Stellung des Pronom conjoint im Romanischen, ob- 
gleich allerdings gi-ammatisches und logisches Prädicat nicht 
identisch ist. 

Man darf hiernach wohl sagen, dass uns die Sprachge- 
schichte ein Bild von dem allgemeinen Fortschritte des Men- 
schengeistes entrollt: die ruhige, vemtinflige Ueberlegung und 
Berechnung der Verständnissfähigkeit des angeredeten Neben- 
menschen gewinnt die Oberhand über die elementare Gewalt 
des Gefühls und des Streben s. 

Doch, ehe ich diesen Punkt verlasse, muss ich noch auf 
einige interessante Petrefacten dieser Erscheinung der 
nachträglichen Exposition hinweisen, festgewordene gi*amma- 
tische Formen wie aXXoq re xal exslvog; lat. cum alü tum ille, 
cum. ceteris rebuts tum hac re; deutsch ausser anderen dieser 
(vgl. Kühner, gr. Gr., § 522, 4), aXXoc; re xal = präsertim cum. 
Der Ausdruck andere bezeichnet den Rest eines Subtractious- 
vorganges. Man spricht von einer Anzahl Menschen, scheidet 
von diesen einige oder einen aus, was übrig bleibt, sind die 
Uebrigen, die Anderen. Für den Hörer ist der Umfang des 
Restes und damit der Ausdruck die Anderen, Andere erst ver- 
ständlich, wenn ihm der Minuendus und Subtrahendus vorher 
gegeben ist. In den obigen Ausdrücken dagegen wird der 
Minuendus als bekannt angenommen, dann folgt cu7n alii, ceteri 
u. s. f., also der Rest, und erst auf diesen der Subtrahendus 
nie. Offenbar ein Verfahren, gegen das der Mathematiker sehr 
energischen Protest einlegen würde. Möglich wird diese An- 


44 

Ordnung der Elemente dadurch, dass der Sprechende beim 
Beginn seines Satzes die Subtraction in seinem Inneren schon 
vollzogen hat, und dass er sich nicht darum kümmert, ob auch 
der Hörende die zur Subti-action notwendigen Elemente kennt 
Also auch hier wird die Situation zunächst unvollständig an- 
gegeben, bedarf also einer Correctur und diese Correctur ist 
tum ilie, xal exsTvog. 

Die gleiche Vernachlässigung der Exposition zeigt sich 
bei den correspondirenden Partikeln re — xai, xal — xal, 
ovre — ovT£, et — et, que — et, 7iec — nee, nee — et; ij — ij, 
aut — aut, sive — sive. Mag man bei et — et nun ausgehen 
von der Bedeutung auch oder und, in beiden Fällen besagt es 
z. B. im Satze et Caesar et Pompeius , dass das Prädicat auch 
vom Cäsar gilt. Also Cäsar wird mit einer noch nicht ge- 
nannten Person auf eine Stufe gestellt. Der Hörende kennt 
die vorausgesetzte Person nicht, wol aber der Sprechende, es 
ist Pompeius, der erst nachträglich genannt wird. Cäsar und 
Pompieus sind Summanden; durch das erste et wird die Sum- 
mierung vollzogen, doch erst ein Summandus ist genannt, der 
andere folgt erst der Summierung nach. Hatten wir im ersten 
Falle die Reihenfolge: Minuendus — Rest — Subtrahendus, so 
hier die ganz entsprechende: erster Summandus — Summe — 
zweiter Summandus. 

Genau ebenso steht es mit der Form der Alternative in 
f} — Tj, aut — aut, ebenso in der Doppelfrage mit utrum — an, 
jtorsQov fi; weder — iioch : die beiden Elemente, auf welche mit 
utrum, ütotBQOv, weder hingedeutet wird, sind ja noch nicht 
dem Hörenden gegeben, sie müssen daher in der Form der 
Satzapposition nachgebracht werden; utrum dbis an manes eigent- 
lich was von beiden? setzt die Kenntniss einer Alternative zwischen 
zwei Fällen voraus, da diese nicht vorhanden ist, so wird sie 
nachträglich gegeben: gehst du oder bleibst du? 

Das gleiche Verfahren nachträglicher Exposition gilt flir 
die Vergleichung. Der Comperativ grösser enthält schon das 
Resultat der Vergleichung: sage ich: er ist grösser als du, so 
habe ich mit er ist grösser das Facit einer Vergleichung zweier 
Personen (er und du) gegeben, also das Facit einer Rechnung. 
Und doch ist nur eine Person, ein Glied der Proportion erst 
genannt, ich muss mir daher die Zwischenfrage gefallen lassen: 


45 

in Verhältniss wozu? = lat. qicam und diese habe ich durch 
nachträgliche Angabe der anderen bislier ungenannten Person 
zu beantworten, also durch Angabe des zweiten Gliedes der 
Proportion. 

Gleichfalls hierher gehören auch die Ausdrücke so und 
die damit oder in diesem Sinne gemachten Bildungen wie 
ianius, talis, roöog, rolog, solch u. s. f. Diese Ausdrücke sind 
nur dann unmittelbar aus der Situation verständlich, wenn die 
verglichene Vorstellung vor unserem Auge oder Ohre als An- 
schauungsbild steht oder wenn sie unmittelbar vorher genannt 
ist, z. B. so kam es, nemlich wie es eben gesagt war. Doch 
trägt der Sprechende allein das Maass der Beurteilung in 
seinem Inneren, so setzt er den Hörenden nicht in den Stand, 
die Vergleichung zu verstehen. Es bedarf dalier nachträg- 
licher Correctur durch als, wie, quam, ut, dass, oloq, quanlu^s 
u. s. f. 

Selbstverständlich empfindet das Sprachgefühl 
der entwickelten Sprachstufen auch nicht die leiseste 
Spur von Unvollkommenheit bei diesen einmal fest- 
gewordenen Satzformen, sie erscheinen vielmehr als 
der wirklich logische adäquate und congruente Aus- 
druck des Gedankens. Und trotzdem sind sie hervor- 
gegangen aus der täglich zu beobachtenden naiven Voraus- 
setzung des Sprechenden, als müsse der Hörende genau die- 
selben Vorstellungen bewusst haben und vergleichen wie der 
Sprechende, als wäre der Massstab des Sprechenden ein all- 
gemein bekannter und absoluter. So gebraucht das Kind arg- 
los sein: so schön, so gross und auch die entwickelte deutsehe 
Sprache hat das expositionslose so als Steigerungsform selbst 
in den edelsten stilistischen Nuancen, z. B. es war' so schön 
gewesen, es hat nicht sollen sein (Scheffel). Expositionslos 
ist das lateinische haud ita miillo post, das Taciteische non 
perinde = nicht wie es sein sollte und der Comparativ in dem 
Sinne von zu, allzu. 

Hat der Sprechende jedoch ein mal die Situation geklärt, 
so bedürfen die nachfolgenden Prädicate selbstverständlich 
nicht von Neuem der Expositionselemente, z. B.: Scipio ging 
nach Africa, er schlug ein Lager, Es wäre durchaus anstössig 
die Exposition Scipio zu widerholen, ja die lateinische Kunst- 


46 

spräche hat sogar die Fähigkeit, nach der Exposition die 
neuen Prädicate ohne jede Rückbeziehung auf das Subject 
durch den Infinitiv, d. h. durch eine nominale, substantivische 
Form auszudrücken; so Caesar cum Bubiconem iransiisset, oh- 
sidere oppida, vincere exercitus u. s. f., und auch wir können 
ähnlich sagen: als Caesar den Rubico überschritten halte, (da) 
Belagerung von Städten, Sieg über Heere u. s. f. Diese aus der 
Sprache des Gefühls stammende Ausdrucksform hat den stili- 
stischen Character der Gefühlssprache, die Lebhaftigkeit und 
Anschaulichkeit bevsrahrt. 

Wie ein jedes Object der gegenwärtigen Anschauung die 
Exposition zu einem Prädicate bilden kann, so kann eine 
jede Vorstellungsgruppe, die sprachlich dem Hören- 
den in das Bewusstsein gerufen ist, die Exposition 
sein für die weiter anschliessenden Aeusserungen, und 
nur nach diesem Princip ist es möglich, eine lange Reihe von 
Prädicaten und Sätzen zu einer einheitlichen Darstellung zu- 
sammenschliessen. Denn unendlich würde die sprachliche Reihe 
werden, müsste bei jedem neuen logischen Prädicate die ge- 
sammte Exposition in Worten ausgesprochen werden. Zur 
Weisung für die Beziehung auf vorhergenannte Stücke der 
Darstellung dienen dieselben Mittel, welche für die Hinweisung 
auf die gegenwärtige Anschauung verwandt werden, die demon- 
strativen Pronomina; natürlich musste sich bei dieser Demon- 
stration eines Erinnerungselementes statt eines Anschauungs- 
elementes die Bedeutung der Demonstrativa vielfach ändern, 
so die der Casus obliqui von lat. is und griech. avxoq des 
deutschen er. 

Durch die blosse festhaltende Erinnerung werden Satz- 
formen möglich wie Caesar kam, sah, siegte, oder beim Objecte 
griechischer und lateinischer Sätze wie: Caesar em vidit el amavit, 
wo deutsch eine Hinweisung notwendig wird mit ihn: er sah 
den Caesar und liebte ihn. Ebenso werden so nominale Ver- 
bindungen ermöglicht wie Caesar is frater et filius, mein Sohn 
und Bruder, die Ergänzung eines gemeinsamen Verbums wie 
vidit Caesarem et Ciceronem u. a. — Ein Blick in die erste 
beste Erzählung und eine einfache Ueberlegung muss beweisen, 
dass jede frühere Aeusserung des Erzählenden die Exposition 
aller nachfolgenden Prädicate bildet. — Doch wir dürfen hier 


47 

den Faden abbrechen, da wir auf verwandte und ergänzende 
Fragen noch an anderer Stelle zurückkommen werden. 


XIV. 

Man hat darüber gestritten, ob ein Wort mehrere Be- 
deutungen haben könne. Das Wort Löwe hat allem An- 
scheine nach nur eine Bedeutung. Die Bedeutung dieses, wie 
aller Wörter, ist die Summe aller Vorstellungen, welche mit 
ihrer Lautreihe, hier Löwe verbunden werden. — Doch bei 
und von wem verbunden werden? — Hat wirklich der Zoologe 
und das Kind, dem man ein Bild des Tieres gezeigt hat, die- 
selben Vorstellungen mit diesem Worte associiert? Hat der 
Africareisende, welcher mehr als einmal mit dem Löwen in 
Berührung gekommen ist, oder der Tierbändiger nicht andere 
Vorstellungen bei diesem Namen als der stille Leser des Reineke 
Fuchs? 

Der Zoologe hat mehr, deutlichere und besser geordnete 
Vorstellungen bei dem Worte als das Kind, der Löwenjäger 
hat vermutlich über den anatomischen Bau des Tieres unvoll- 
ständige und ungeordnete Vorstellungen, doch er kennt den 
Character des Tieres vielleicht besser, jedenfalls verbindet er 
alle die Gefllhle der Furcht und des Entsetzens mit dem Namen 
der Bestie, welche er bei der Begegnung mit derselben empfun- 
den hat. So unterscheidet sich der Inhalt der Worte 
1. nach dem Gesichtspunkte der Vollständigkeit der associler- 
baren Vorstellungen, 2. nach dem der Ordnung der wirklich 
associierten Vorstellungen, 3. nach der Art und Stärke der 
Gefühle, welche die Erinnerung unter den associierten Vor- 
stellungen aufgespeichert hat. 

Man darf die beiden ersten Gesichtspunkte zusammenfassend 
die Gesichtspunkte der Erkenntniss nennen, der dritte ist ethisch 
und ästhetisch. 

Offenbar ist also bei den verschiedenen Individuen der- 
selben Sprachgemeinschaft Gleichheit der Bedeutung der Worte 
trotz der Gleichheit ihrer lautlichen Form nicht vorhanden. 

Aus den angedeuteten Gesichtspunkten ergibt sich auch, 
dass die Vorstellungsgruppe eines Wortes, z. B. Löwe bei den 


48 

verschiedenen Individuen sehr verschiedene Verbin- 
dungen mit anderen Vorstellungsgruppen eingegangen 
sein kann. Die Verbindung nach dem wesentlichen Inhalte 
der Vorstellungsgruppe führt beim Zoologen zu der Unter- 
ordnung unter gewisse höhere Gattungen und Klassen; der 
Laie und das Kind verbinden nach zufälliger Aehnlichkeit den 
Löwen vielleicht mit anderen gelben Geschöpfen oder mit 
mähnentragenden Tieren, — oder nach der Art der begleiten- 
den Gefühle mit schönen, edlen, guten, furchtbaren, nützlichen 
Tieren, bedingen doch diese Gefühle ein ethisches oder ästhe- 
tisches Werturteil oder auch beides zusammen. 

Ein Unterschied in der Art des Werturteils wird auch da- 
durch bedingt, ob die Vorstellungsgruppe eines Wortes dem 
Vorstellungsablaufe des alltäglichen Lebens angehört, oder ob 
sie durch die Seltenheit, mit der sie in das Bcwusstsein tritt 
sich den Reiz der Neuheit und des Interesses wahrt. Man 
denke daran, wie verschieden die Gefühle dessen sind, der 
ein Gebirge zum ersten Male sieht und des ständigen Be- 
wohners des Gebirges. Durch die Häufigkeit und Alltäglichkeit 
des Ablaufs einer Vorstellungsreihe und der Lautreihe stumpfen 
sich die Wertgefühle für beide ab, es tritt ein Zustand der 
Gleichgiltigkeit und Blasiertheit diesen Reihen gegenüber ein. 
Die Bedeutung dieser Nüancierung nach den begleitenden Ge- 
fühlen und den Werturteilen für die stilistische Geltung der 
Worte liegt auf der Hand. 

Also Gleichheit der Bedeutung eines Wortes ist weder in 
Beziehung auf den realen Inhalt und die Verbindung seiner 
Vorstellungsgruppe noch in Beziehung auf die begleitenden 
Gefühle vorhanden, weder materielle noch stilistisch -formelle 
Gleichheit der Bedeutung bei verschiedenen Individuen der- 
selben Sprachgemeinschaft. 

Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass innerhalb des 
Lebensganges eines Menschen von der Gleichheit der 
mit einem Worte verknüpften Vorstellungen nicht die 
Rede sein kann. Die meisten Vorstellungsgruppen wachsen 
an Umfang und Inhalt, viele, obgleich längst nicht alle, werden 
durch wissenschaftliche Arbeit begrifflich gegliedert und lösen 
sich dadurch mehr und mehr von Gruppen, mit denen sie nur 
nach einer zufälligen und äusseren Aehnlichkeit verknüpft 


49 

waren. Bei Vielen werden die begleitenden Gefühle, welche 
in der Kindheit und Jngend so lebendig waren, stumpf und 
schwach, so dass der Greis meist mit Wehmut an die frische 
und sprudelnde Freude zurückdenkt, die schon das blosse Wort 
erregte. Bei anderen Vorstellungsgruppen schärft; sich das 
ethische Geftlhl für ihre Hässlichkeit und Gemeinheit, der Er- 
wachsene bedient sich daher sehr vieler gemeiner Worte nicht, 
welche das Kind arglos ausspricht und die derbe Jugend als 
Kraftausdrücke verwendet. 

Wer also meint, die Bedeutung eines Wortes sei stets die- 
selbe und nur eine, kann nur daran denken, dass zu einer 
bestimmten Zeit in der Seele eines Individuums mit demselben 
Worte stets dieselbe Vorstellungs- und Geftlhlsgruppe ver- 
bunden wird. Zunächst möchte es schwierig sein, eine Einigung 
darüber herbeiführen, wie lang diese Zeit zu bemessen sei; — 
wer es weiss, wie blitzartig oft Erkenntnisse von dem Wesen 
einer Sache, von der Zusammengehörigkeit einer Gruppe von 
Vorstellungen mit anderen einschiesst, wird jede zeitliche Ein- 
heit, die hier in Betracht kommen könnte, nach der , ratio 
ruentis acervi' von der Hand weisen. 

Doch es kommt ein anderer Punkt hinzu, der für die 
Spracherkenntniss von tiefgreifender Bedeutung ist. Bleiben 
wir noch bei unserem Beispiele Löwe^ so ist jedenfalls klar, 
dass in dem Satze: der Löwe kann die stärksten Knochen zer- 
malmen andere Eigenschaften des Tieres in den Vordergrund 
des Bewusstseins treten als bei dem Satze: der Löwe ist ein 
edles königliches Tier, — Beim ersten Satze wird uns das ge- 
waltige Gebiss und die Muskelkraft des Tieres bewusst und 
zwar in ihrer Bethätigung, also z. B. beim Verzehren eines Stiers. 
Bei dem anderen Satze stellen wir uns die Haltung des Tieres, 
seine Physiognomie, als Ausdruck seines ethischen Characters 
vor, vielleicht auch gewisse grossmütige Handlungen. Denn 
wie vollzieht sich das Verständniss des Inhalts jener Sätze? 
Der Löwe ist edel, d. h. die Vorstellungen, welche wir unter 
der Wortnota edel zusammenfassen, lassen sich mit der Vor- 
stellungsgruppe Löwe verbinden, doch offenbar nicht mit jeder 
Vorstellung dieser Gruppe, sondern nur mit einigen. Gelingt 
es uns, diese einzelnen Vorstellungen, von denen das edd 
prädicierbar ist, selbst aufzufinden, so verbinden wir eben mit 

4 


50 

diesen das Prädicat, gelingt dies nicht, so muss der Sprechende 
uns angeben, mit welchen Vorstellungen die Verbindung mög- 
lich ist. Der Sprechende wird dann erklären, wie das Aus- 
sehen des Tieres ist, wie es sich dem Menschen gegenüber 
verhält u. s. f. Diese Erklärung ist also nichts als eine Aus- 
wahl aus vorhandenen Vorstellungen, mit denen die Verbindung 
des Prädicats vollziehbar ist, oder auch das Hinzuthun von 
noch fehlenden Vorstellungen. Und der Sprechende? — Nun 
der spricht ja eben nur das aus, was im Vordergrunde seines 
Bewusstseins lebendig ist, den Edelmut, nicht die Stärke oder 
die Verdauung. In dieser Thatsache, dass nur immer Teile einer 
Vorstellungsgruppe bewusst sind, wenn nicht das reflectierende 
Denken hinzutritt, — in dieser Thatsache liegt der Grund der 
so häufigen Erscheinung, dass die Aussage von einem Subject 
schief, d. h. zu weit oder zu eng ist. 

Somit müssen wir die Annahme der Einheit der 
Wortbedeutung fallen lassen. 

Noch schärfer zeigt sich die Unzuträglichkeit einer solchen 
Annahme aus einer anderen Verwendung des Wortes: er ist 
der Löwe des Tages, — Hier gestattet der Ausdruck schlechter- 
dings nicht, an die gelbe Farbe des Löwen, seinen anatomischen 
Bau, seinen Aufenthalt in der africanischen Steppe zu denken. 
Ich persönlich denke bei dem Ausdrucke nur an die hervor- 
ragende Rolle, welche die so bezeichnete Person spielt. 

Brauchen wir also ein Wort innerhalb eines Satzgefüges, 
so gestattet die Verbindung mit den übrigen Worten 
nur einem Teile der mit dem Worte verbundenen 
Vorstellungsgruppe in das Bewusstsein zu treten, die 
übrigen bleiben unter der Schwelle des Bewusstseins. Und 
bewusst werden bei dem logischen Subjecte nur die Teile der 
Vorstellungsgruppe, welche als Exposition des Prädicats dienen. 


XV. 

Doch wichtiger für die Entwicklung der Sprache ist noch 
die Frage, wie sich in solchen Verbindungen das 
logische Prädicat verhält. Bilde ich den Satz: Karthago 
nmrde vom jüngeren Scipio ausgelöscht, — so würde ich viel- 


51 

leicht von denen verstanden werden, welche wissen, dass die 
Beziehungen des jüngeren Scipio zu Karthago darin bestehen, 
dass er Karthago zerstört hat, — die also zu der von mir 
gegebenen Exposition noch ein wesentliches Stück hinzubringen, 
nemlich dass Karthago hier unter dem Bilde eines Lichtes zu 
denken ist Andere werden sagen: der Satz ist unsinnig, — 
und doch Carthago exstincta est muss jedem Römer verständ- 
lich gewesen sein. Waren die Römer psychisch anders orga- 
nisiert als wir? Sicher nicht. 

Schon eher verständlich würde der deutsche Satz werden, 
wollte ich sagen: Das Licht Karthagos wurde vom jüngeren 
Scipio ausgelöscht; dann würde ich die Exposition, dass Kar- 
thago als Licht zu denken sei, dem logischen Prädicate er- 
läuternd hinzufügen. Der Römer bedurfte dieser Exposition 
bei exstinguo so wenig, als wir ihrer bedürfen in dem Aus- 
drucke: der Krieg entbrennt, 

Thatsächlich denken wir bei entbrennen in dieser Verbin- 
dung nichts weiter als bei ausbrechen, vom Kriege gesagt, — 
obwohl wir uns bei einigem Nachdenken sagen können, dass 
der Ausdruck entbrennen den Krieg unter dem Bilde eines 
Feuers darstellt. Bei ausbrechen dagegen, — sicher gleichfalls 
seinem Ursprünge nach ein bildlicher Ausdruck, ist es un- 
möglich, auf anderem Wege als dem der historischen Forschung 
die ursprüngliche Anschauung aufzufinden. Es kann also im 
Laufe der Sprachentwicklung die Erinnerung an das Bild, 
unter dem etwas von einer Vorstellungsgruppe prädiciert wird, 
vollkommen im Sprachbewusstsein erlöschen. 

So zeigt sich uns eine Entwicklungsreihe des metapho- 
rischen Gebrauchs, welche damit anhebt, dass zum Verständniss 
des metaphorischen Prädicats ein Hinweis in der Exposition 
erfordert wird, das Subject unter diesem Bilde zu denken, und 
die damit schliesst, dass man das Bild, durch welches der 
metaphorische Ausdruck herbeigeführt wird, gar nicht mehr 
empfindet. 

Unzweifelhaft wird, nach der oben über die sprachlichen 
Formen der Exposition gegebenen Ausflihrung, der naive 
Mensch recht oft die Exposition erst nachträglich auf Verlangen 
des Hörenden beigefügt haben; femer ist ersichtlich, dass diese 
oft nicht gefordert wurde, wenn dem Hörenden die gesammte 


52 

Situation so durchsichtig war, dass er auch ohne Erklärung 
den Sinn der Metapher verstand. 

Die Metapher beruht auf Verbindung von Vorstellungs- 
gruppen nach partieller Gleichheit, wird also 'stets individuell 
sein. Hat ein einzelnes Individuum eine glückliche und 
treffende Metapher gebraucht, so findet diese Anklang und 
Nachahmung, — es geht hier wie in der Mode, — die Me- 
tapher wird vielleicht zum constanten Sprachgebrauch. Ein 
Vorgang aus neuerer Zeit mag diesen Vorgang erläutern. 
Herbart verglich die Vorgänge in der Seele mit mechanischer 
Bewegung: wie sich physische Körper hemmen, so hemmten 
sich auch die psychischen Vorstellungen. Diese Auffassung 
fand allmählich Anklang, oder man hielt doch das Bild fttr 
ein glückliches. Heute versteht jeder philosophisch Gebildete 
den Ausdruck Hemmung der Vorstellungen. Für diesen bedarf 
es also nicht mehr der umständlichen Exposition : ,man hat sich 
die Vorstellung als mechanische Grösse zu denken,' 

In unserem Beispiele vom Kriege also wird offenbar 
innerhalb jener Sätze: der Krieg entbrennt , der Krieg bricht 
aus, nur der von der Situation geforderte Sinn empfunden, 
die Vorstellungen, welche mit dem Worte entbrennen sonst 
verbunden werden, sind in dieser Verbindung total vergessen. 

In dieser Entwicklungsreihe sind drei Stufen zu unter- 
scheiden : 

1. Der Krieg lodert auf wie ein Feuer, man fügt oft eine 
expositionelle Ausführung der bildlichen Vorstellung hinzu. 
Hier wird neben dem Beginne des Krieges auch noch der 
Anfangsmoment des Feuers mitgedacht, der Inhalt dieses 
Ausdrucks ist also reich und anschaulich. 

2. Der Krieg lodert auf, — man empfindet, dass das Prä- 
dicat vom Feuer hergenommen ist, jedoch denkt man die 
Aehnlichkeit beider Gruppen nicht mehr aus, weil die Ver- 
gleichung schon oft vollzogen und darum geläufig ist; die 
Vergleichung ist abgekürzt oder comprimiert. 

3. Der Krieg bricht aus, — es werden nur noch in der 
Gruppe Krieg liegende Vorstellungen bewusst, nicht mehr 
solche aus der Gruppe Feuer. 

Dieser Vorgang ist derselbe den man das Abblassen 
und Abgreifen der Worte genannt hat. Und es ist nicht 


53 

Zufall, dass ich den Vorgang an der Abblassung bildlicher 
Ausdrücke geschildert habe. Die notwendige Voraus- 
setzung alles Abblassens ist die, dass das logische 
Subject und das logische Prädicat nicht vollkommen 
entsprechend waren, dass das Prädicat seiner Function 
nicht ganz congruent war. Das Abblassen besteht eben 
darin, dass das Prädicat alle Vorstellungen einbüsst, 
welche der vom Subject bestimmten Situation nicht 
entsprechen, und dass es die Vorstellungen in sich 
aufnimmt, welche von jener Situation gefordert 
werden. 

Dieses Abblassen kann sich nur am logischen 
Prädicate vollziehen, denn das logische Subject muss die 
Situation correct in ihrer nackten Realität bezeichnen, darf 
also keine Vorstellungen erregen, welche nicht in der Situation 
liegen. So kann ich wohl sagen : die Lohe des Krieges ist aus- 
gebrochen, doch nie allein vom Kriege: die Lohe ist ausgehrochen. 
Wäre jedoch durch Abblassen in der Prädicierung Lohe dem 
Kriege congruent geworden, dann könnte es auch das logische 
Subject sein. Es ist den Erklärern des Horaz daher mit Recht 
eine Stelle anstössig gewesen wie Od. 4, 14, 22 f., wo es vom 
Tiberius heisst: 

impiger hostium 

Vexare iurmas et frementem 

Mittere equum medios per ignes. 

Geht ignes, wie der Zusammenhang es fordert, auf den 
Kampf, so ist der bildliche Ausdruck in der Exposition ge- 
braucht, wo gleichsam eine Correctur und Richtigstellung des 
Bildes nicht möglich ist. Da es aber sehr unwahrscheinlich 
ist, dass ignes abgeblasst war zur Bedeutung von Kampf, so 
werden wir entweder die Beziehung auf den Kampf fallen 
lassen müssen, oder hier einen von den nicht vereinzelten 
Fällen sehen, wo die rhetorisch-poetischen Regeln, an denen 
sich die römischen Dichter gebildet haben, zur Unnatur führen. 

XVL 

Das hier gefundene Gesetz ist für die Entwicklung der 
Wortbedeutung und für die gesammte Geschichte der Sprache 


54 

von grösster Bedeutung. Wenn z. B. dens, odovq der Essende 
ist, so konnte es vom Zahne zunächst nur prädicativ stehen, 
denn ausser dem Zahne kann auch manches andere der 
Essende genannt werden. Als logisches Subject wurde es 
erst verwendbar, nachdem es im Umfange und Inhalte der 
Vorstellungen der durch die Anschauung gegebenen Vorstel- 
lungsgruppe Zahn congruent war. So sind alle Worte 
ohne Ausnahme, welche logische Subjecte also ex- 
positionsbildend sein können, zu dieser Fähigkeit 
erst durch ihr Abblassen im prädicativen Gebrauche 
gelangt. Und bevor die Sprache für das logische 
Subject abgeblasste Worte hatte, war sie unfähig, 
die Situation anders als durch Hinweis auf die Si- 
tuation der Anschauung zu bezeichnen. So bildet der 
soeben geschilderte Process der Abblassung die Brücke 
zwischen der ersten im Anfange unserer Untersuchung 
dargelegten Sprachstufe zu der entwickelten Stufe 
einer ausführenden Exposition. 

Wir wollen versuchen uns diesen Vorgang im Einzelnen 
noch klarer zu machen, obwohl erst die folgende Abhandlung 
die letzten Gründe dieser Erscheinung angeben kann: 

Wir hatten in den letzten Ausführungen mit dem Con- 
gruentwerden 1. von Verben wie ausbrechen, entbrennen^ vom 
Kriege gesagt, 2. von Substantiven wie dens der Zahn ge- 
sprochen. Oflfenbar muss der Ausdruck Congruenz in beiden 
Fällen etwas verschieden verstanden werden. Im ersten Falle 
der Krieg e7itbrennt wird das Verbum congruent der Thätigkeit 
oder dem Zustande, der am Kriege als Anfangszustand zur 
Erscheinung tritt, — im zweiten Falle wird dens congruent 
der Vorstellungsgruppe, die wir mit Zahn bezeichnen. In 
beiden Fällen war es aber die Absicht des Sprechenden das 
Betreflfende, also Anfang des Krieges und Zahn damit zu be- 
zeichnen, diese Vorstellungen zu erwecken war also die Auf- 
gabe oder die Function des Verbs sowohl als des 
Substantiv. Schärfer formulirt werden wir sagen, das 
Prädicat wird congruent seiner Function. 

Die Situation als Anschauungs- oder Erinnerungsbild ent- 
hält stets ein substantielles Element. Wenn wir also sagten, 
das logische Subject entwickele sich aus dem logischen Prä- 


55 

dicate, so können wir dies nur auf die substanzbezeichnenden 
Worte beziehen, und diese nennen wir Substantiya. So han- 
delt es sich nun um die Frage: wie ist es zu denken, 
dass prädicative Substantiya zu logischen die 
Situation congruent bezeichnenden Subjecten 
werden können, die unfehlbar im Stande sind, eine be- 
stimmte Vorstellungsgruppe in das Bewusstsein aller Sprach- 
genossen zu rufen ? Der Ausdruck der Essende ruft entschieden 
eine ganz andere Gruppe in unser Bewusstsein, als der Aus- 
druck Zahn, 

Setzen wir den Fall, wir treten vor ein Gebäude, für das 
die congruente Benennung Schloss wäre: Wir erstaunen viel- 
leicht zunächst über die räumliche Masse und rufen: ein ge- 
waltiges Bauwerk, ein mächtiger Bau, Wir tiberschauen die 
Linien und die Gruppirung der Teile und nennen es einen 
schönen, einen edlen, einen herrlichen Bau, Wir beachten die 
Ornamente und die Form der Anlage und finden Ueberein- 
stimmung mit gewissen historischen Formen der Baukunst, wir 
nennen das Schloss ein Renaissancegehäude , einen gothischen 
Bau, ein romanisches Haus, Wir werden uns der Thätigkeit 
der Menschenhand bei demselben bewusst im Gegensatze zu 
den Werken der Natur, wir nennen es ein Werk, ein Bauwerk, 
oder ist dieses bewusstsein verbunden mit dem Gefühle der 
menschlichen Schwäche gegenüber der Allmacht Gottes, so 
reden wir vom Menschenwerk, Tritt uns der Zweck, dem das 
Gebäude gedient hat, vor die Seele, so heisst es ci7i Wohnhaus, 
ein Palast, ein Palais, ein Residenzschloss. Fernere Benennun- 
gen würden etwa sein können je nach verschiedenen Beziehun- 
gen : praktisches, wohnliches Gebäude, Castell, Festung u. a. — 
Stände uns ein Mensch Namens Müller vor Augen, so kann 
der sein ein weiser, kluger Mensch, ein Narr, ein Schurke, ein 
Esel u. a. 

All diese Benennungen sind Urteile und die Namen selbst 
sind die Prädicate des gegenwärtigen Anschauungsbildes. Und 
bei jedem Prädicate haben wir das Bewusstsein, dass uns das 
Anschauungsbild genannt wird, allerdings nicht mit dem con- 
gruenten Namen, sondern so dass der Name das Anschauungs- 
bild einer bestimmten Klasse zuweist, die in uns vorhanden 
ist. Diese Klasse oder Kategorie ist jedoch nicht die Gattung, 


56 

unter welche das Anschanungsbild seinen wesentlichen Merk- 
malen nach zu subsumieren wäre. So können gothische Ge- 
bäude, Kirchen, Privathäuser, ßathhäuser, Innungshäuser u. a. 
sein; die eigentliche Kategorie, deren wesentliche Merkmale 
auch die wesentlichen Merkmale des angeschauten Individuums 
sind, bezeichnen wir mit Schloss. Und trotzdem ergänzt sich 
der Anschauung gegenüber jene Benennung goihisches Gebäude 
in uns ohne Weiteres zu der Kategorie Schloss, mit dem Prä- 
dicate gothisch. Wir haben daher die Empfindung, eine 
deckende Benennung zu hören, die nur etwas reicher ist als 
das farblose Schloss. Also dem Anschauungsbilde gegenüber 
oder auf dem Boden der Situation der Anschauung 
ergänzt sich die nicht deckende oder ihrer Fun- 
tion nicht congruente Benennung zur congruenten 
Benennung. Doch wir müssen hinzufügen, dass bei dieser 
Situation sich die Benennung stets zur individuellen 
Benennung ergänzt, denn die bei der Benennung em- 
pfundene Vorstellungsgruppe ist identisch mit dem Anschauungs- 
bilde und das Anschauungsbild ist stets ein Individuum. Das 
betreffende Schloss ist also entweder gothisch oder romanisch 
u. s. f Die Benennung selbst aber ist generell. 

Es besteht ein nicht geringer Vorzug des guten und phan- 
tasievollen Stilisten darin, den Gegenstand oder die Person, 
von der er spricht, an verschiedenen Stellen, wo eine Substanz- 
bezeichnung desselben erforderlich ist, in verschiedener Weise, 
abwechselnd zu benennen. Diese Benennungen werden genau 
so gemacht, wie eben von dem Anschauungsbilde ausgeführt 
war, es sind Prädicate von jenem Gegenstand nach den ver- 
schiedensten Beziehungen. So ist von Rom die Rede gewesen, 
hindeutend darauf heisst es später die Stadt, das Babel {des 
römischen Reichs oder Italiens), die Hauptstadt, die Siebenhügel- 
stadt, die Tiberstadt u. a.; es ist von Goethe die Rede, statt 
den Namen zu wiederholen sagt der Schriftsteller später der 
Dichter, der Lyriker, der Freund Karl Augusts, der geniale Mann, 
der edle Geist, der Frankfurter Bürgersohn u. a. In einer all- 
gemein gehaltenen Ausführung ist von den vier Cardinal- 
tugenden die Rede, die späteren Sätze sagen statt Cardinal- 
tugend Tugend, sittlicher Zustand, sittlicher Character, Sittlich- 
keit, edler Sinn u. a. 


57 

Aach in diesem Falle sind die späteren Benennungen nicht 
deckend und an sich ihrer Function nicht congruent und doch 
werden sie es durch die Erinnerung an die vorher exponierte 
Situation, somit werden nicht deckende Benennungen, die ich 
als freie Benennungen bezeichnen will, durch die Si- 
tuation der Erinnerung zu deckenden und con- 
gruenten Benennungen. — Je nachdem die einmal ge- 
schaffene Situation individuell oder generell ist, je 
nachdem werden auch die freien Benennungen als individuell 
oder generell empfunden. 

Auf Dörfern, die einer bestimmten Stadt, z. B. Berlin, nahe 
liegen, ist es ganz gewöhnliche Ausdrucksweise nach Stadt gehen 
oder in die Stadt. Niemand denkt dabei an eine andere Stadt 
als z. B. Berlin. Also die dem Bewusst^^ein zunächst liegende 
Stadt und die Stadt, welche die im Verbum ausgedrückte Thä- 
tigkeit am wahrscheinlichsten betrifft, wird bei dieser freien 
Benennung vom Hörenden verstanden. Denn dass Stadt flir 
Berlin nicht deckender Ausdruck ist, liegt auf der Hand. Im 
eng begrenzten Horizonte des Hörenden wie des Sprechenden 
liegt nur diese eine Stadt, und diese ist daher die am leichte- 
sten associierbare Gruppe. Also die freieBenennungwird 
als congruent empfunden auf dem Boden der Si- 
tuation des Bewusstseins, wie wir oben diese Art der 
Situation nannten. Die hier bei der Benennung vorgestellte 
Gruppe ist individuell. Ebenso in Ausdrücken innerhalb 
eines begrenzten Kreises wie aufs Schloss gehen, die Kirche 
(== Ortskirche), in den Krug, auf die Kneipe, in die Schtde u. a., 
in allen Fällen wird daher eine bestimmte Schule, Kirche u. s. f. 
gedacht. 

Ebenso ist innerhalb des Hauses der Schrank, der Koffer^, 
die Küche, das Ciavier, der Bücherschrank etwas ganz bestimm- 
tes Einzelne. Man denke sich nun, neben jener Stadt ent- 
stände eine zweite, die gleich nahe läge, diese würde vielleicht 
die Neustadt oder neue Stadt sein. Also lauter Individual- 
bezeichnungen, die den eigentlichen, in dieser Weise entstan- 
denen, Namen gleich sind, daher so viele Namen mit Hausen, 
Haus, Burg und ähnliche; und die Personennamen wie Karl, 
August bezeichnen innerhalb einer kleinen Gemeinschaft eine 
ganz bestimmte Person. 


58 

Doch wir finden innerhalb einer engeren Gemeinschaft nicht 
blos die Ergänzung eines generellen Ausdrucks zu einem in- 
dividuellen durch die Macht oder Situation des Bewusstseins, 
ebenso die Ergänzung von Gattung zur Art. Der 
Bergmann versteht unter Todliegendem eine bestimmte Gattung 
Gesteins, der Schüler unter dem Beinen und Unreinen die Rein- 
schrift und den Entwurf, der Erste und Letzte in Schtilerkreisen 
ist der, der den ersten oder letzten Platz in der Klasse hat, 
für den Infanteristen heisst mit vollem Gepäck mit Tornister, 
Mantel und Brotbeutel, dem Eömer ist insigne zum Abzeichen, 
bonum zum Gute, mortales zum Begriff Menschen geworden. 
Wir haben hier wesentlich dieselbe Erscheinung als bei dem 
Entwicklungsgange des generellen Ausdrucks zum Individuellen, 
der Unterschied liegt nur im Bewusstsein des Sprechenden und 
Hörenden, dass der Ausdruck auf viele Individuen beziehbar 
ist. Der einzelne Schüler versteht, wenn er sagt ich habe das 
Unreine fertig seinen Entwurf, also etwas Individuelles. 

Ebensowohl ist es möglich, Art- oder Individual- 
bezeichnungen als generelle zu verstehen, wenn 
die Situation des Bewusstseins ergänzend zu Hilfe kommt. Der 
bekannte Vers sint Maecenates , non derunt, Flacce, Mar ones 
zeigt uns den Weg, wie das römische Palatium die Benennung 
für Kaiser paläste, für palas, Pfalz, palais abgeben konnte. Per- 
sonen oder individuelle Anschauungsbilder haben ihren Cha- 
rakter, d. h. ihre Summe constituierender Merkmale und nach 
diesen können Gattungen bezeichnet werden, diese Bezeichungen 
werden durch die Situation des Bewusstseins als deckend em- 
pfunden. 

Die eigentlich wesentliche Art der Situation bei der Um- 
IjiT^andlung des logischen Prädicats zum logischen Subjecte ist 
somit die Situation des Bewusstseins. Die Situation der An- 
schauung und der Erinnerung verfliegen wider nach kurzer 
Zeit. Aber die Situation des Bewusstseins, der leichtest asso- 
ciierbaren Vorstellungsgruppen, kann nur dadurch entstehen, dass 
die Situation der Anschauung und der Erinnerung durch Häu- 
figkeit und Interesse in unserer Seele fixiert wird. In so fern 
sind auch jene beiden Arten momentaner Situation bedeutungs- 
voll für die Entwicklung der Wortbedeutung. 

Die Vielheit von Benennungen zeigt sich besonders deut- 


59 

lieh bei den Namen und Bezeichnungen der Götter. Vielnamig 
ist Zeus, und vielnamig Odin. Oben waren Gesichtspunkte 
erwähnt, nach denen das tote Ding benannt werden kann, die- 
selben Gesichtspunkte kommen natürlich auch bei Personen 
und Göttern in Betracht, nur spielen hier die ethischen Be- 
zeichnungen eine grosse Rolle und ausserdem Thaten, welche 
an diesen Personen haften, also das historische Bewusstsein. 
Bekannt sind Beinamen wie Numanlinus, Africanus^ Asiaticus 
von den Scipionen, und oft genug müssen diese Beinamen 
die Person selbst, ohne Zufügung einer Exposition be- 
zeichnen. Bei Göttern fungieren so Beinamen wie Delius, Pythius, 
Cypriq, u. a. 

Bei Delius, Cypria und anderen Benennungen nach der 
Abkunft würde ein Missverständniss sehr leicht möglich sein, 
doch hier tritt erläuternd hinzu das Prädicat. So ist Africanus 
Carthaginem delevit ganz unzweideutig vom jüngeren Scipio zu 
fassen, denn von keinem Anderen lässt sich diese Thatsache 
verstehen. Dies ist die Exposition des logischen 
Subjects durch das logische Prädicat, eine Ex- 
positionsweise, die den Hörer befähigt unter den Arten oder 
Individuen einer Gruppe, welche als congruente Bezeichnung 
den Namen des logischen Subjects trägt, zu unterscheiden. 
Das Nähere über diesen Vorgang werden wir in der folgenden 
Untersuchung bringen. 

Selbstverständlich kann es sich bei dieser Entwicklung von 
freier Bennung zum festen congruenten Namen nicht um das 
einfache Wort allein handeln, oder auch nur um solche Worte, 
die als Compositionen unter einem Accente stehen wie Bettel- 
mann, Rathaus, Auch Edelmann, Rotkehlchen, Gelbschnäbel und 
andere Compositionen sind aus attributiver Verbindung von 
Adjectiv und Substantiv hervorgegangen und ihre Grund- 
bedeutung war der Gruppe von der sie ausgesagt wurden 
gleichfalls nicht congruent, sondern wurde als deckend nur 
dann empfunden, wenn die Exposition durch Anschauung, Er- 
innerung oder Bewusstsein gegeben war. Genau so steht es 
mit gewissen Verbindungen von Adjectiv und Substantiv, die 
sich zur vollen Compsition nicht entwickelt haben wie der 
graue Löwe, die gefleckte, die gestreifte Hyäne, das gelbe Fieber, 
der schwarze Tod, die asiatische Cholera, graue Salbe, der 


60 

schuldige Teil, böswillige Verlassung, fahrlässige Tötung, schwef- 
lige Säure, All diese Benennungen bezeichnen als stehende 
Namen gewisse Kategorien oder Gruppen, in denen nicht blos 
die sprachlich benannten Merkmale enthalten sind, sondern 
noch viele andere, und diesen Gruppen sind die mit jenen Be- 
nennungen verbundenen Vorstellungen congruent geworden. — 

Also das Bedürfniss der Mittheilung des Kindes und des 
culturlosen Primitivmenschen führt zu den im einzelnen Worte 
bestehenden Sätzen, diese genügen der complicierten Situation 
nicht mehr, der Mensch bedarf reichlicher Expositionsmittel; 
das Material zu diesen Mitteln liefern die Worte, welche als 
Prädicate des Primitivsatzes abgeblasst und ihrer Anschauungs- 
und Vorstellungsgruppe congruent geworden sind. Mit Hilfe 
dieser Mittel deckt der Sprechende die Mängel der Exposition 
welche er aus der unterbrechenden Frage und den verständ- 
nisslosen Zügen des Hörenden erschliesst. Diese Formen der 
Correctur werden feste Sprachformen, deren Ursprung das 
Sprachbewusstsein vollständig vergessen hat. Ursprünglich 
Linien, durch welche nachträglich das verzeichnete Bild ge- 
bessert wird, werden sie zu den festen und grundlegenden 
Conturstrichen, bei denen ein späteres Sprachbewusstsein das 
logisch wohlthuende Gefühl der Klarheit und die ästhetisch- 
ethische Empfindung der Schönheit und des Adels haben kann. 

Man wird erkennen, wie die Grundgedanken der hier mit- 
geteilte n Untersuchungen nach allen Seiten über sich hinaus- 
weisen, wie sie als Gesichtspunkte der Geschichte des Er- 
kenntnisslebens, der Ethik und Aesthetik von Bedeutung sind. 
Denn alle Erscheinungen des menschlichen Geisteslebens bilden 
einen in sich geschlossenen Organismus, in dem eine jede 
Regung des einzelnen Organs nachzittert in den übrigen Or- 
ganen, dessen Blüten in Poesie und Kunst, Seelenadel und 
sittlicher Anmut auf den Zweigen und Aesten erwachsen sind, 
von dessen holzigem Bau hier einige Faser nund Zellen einer 
näheren Betrachtung unterzogen waren. 


Zur Frage : Wie verstehen wir Sprache? 


Alle menschliche Sprache, die wir kennen, 
ist artikulierte Lautbewegung, nicht eine Summe oder 
ein Aggregat von Naturklängen und Naturlauten ; alle wirklich 
in der Sprache verwandten Laute sind von einer grösseren 
Zahl von Individuen nach einer tibereinstimmenden Norm ge- 
bildet. Die Art, wie der sprechfertige Mensch diese Laute 
bildet, und die Verbindung ihrer Reihen mit einem bestimmten 
Sinne hat er aus dem Zusammenleben mit anderen 
Individuen erlernt. Wir erlernen aber eine Sprache, in- 
dem wir uns gewöhnen, mit gewissen Lautbildem einen be- 
stimmten Sinn zu verkntipfen und die Verknüpfung dieser 
Lautbilder selbst unter einander in einem bestimmten Sinne 
zu fassen. Wer hat uns aber gesagt, welcher Sinn mit jenen 
Lautreihen verknüpft werden soll? — Niemand; denn das 
lässt sich eben Niemandem sagen, der die Sprache nicht schon 
versteht. Somit ist deutlich, dass das sprachliche Verstehen 
nicht allein von der Kenntniss der Worte und ihrer Bedeutung, 
noch von der Kenntniss der syntaktischen Formen und ihrer 
Bedeutung abhängig ist. Sonst würden wir nie Sprache ver- 
stehen, noch selbständig gebrauchen lernen. Es ist somit 
wichtig für das Verständniss des Wesens und 
Lebens der Sprache klar zu stellen, welche Fac- 
toren und Vorgänge es möglich machen, dass wir 
überhaupt Sprache verstehen und zu untersuchen, 
in welcher Weise diese Factoren Bedeutung für 
die Sprachbildung selbst gewinnen. 


64 


A. Zweck und Veranlassung des Sprechens. 

I. 

Wir fragen zuerst nach der Veranlassung und dem 
Zweck des Sprechen-s, eine Frage, die schwieriger ist, 
als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Jedes Sprechen 
hat eine Veranlassung, aber nicht jedes Sprechen auch einen 
Zweck. Das zwecklose Sprechen ist der Monolog, 
dieser steht mit den unwillkürlichen Reflexlauten wesentlich 
auf einer Stufe, also mit dem Husten, dem Räuspern, Niesen, 
Schnalzen, Schmatzen, dem hörbarem Athmen, dem Keuchen, 
Aechzen, Stöhnen, dem Weinen, Lachen, dem Schmerzensschrei. 
Als eigentliche Sprache können diese unarticulierten Naturlaute 
nicht gelten , es fehlt ihnen die Gestaltung nach dem festen 
Lautsystem der Sprache, obgleich sittliche und ästhetische 
Schönheitsrticksichten und die Erziehung auf die Form jener 
GefÜhlsausbrtiche wesentlich umgestaltend wirken und so eine 
weitere und mannigfachere Gliederung derselben herbeiführen. 
Zur Sprache gehören dagegen die Interjectionen o, ach, weh, 
na nu, ach Herrje, brr, äks, pfui, ei, Donnerwetter, tarnend, 
potztausend, Gott, Christes ne und viele andere. Auch sie 
werden zwecklos in gewissen Gefiihlslagen hervorgestossen. 

Diese Interjectionen sind nicht blos geformte Naturlaute, 
sondern auch vielfach aus Sprachworten hervorgegangen, wie 
Gott, Donnerwetter u. a. Die Anrufung Gott und der Fluch 
sind eigentlich Gebetsformen, setzen also eine angeredete Per- 
son, die Gottheit, voraus und entstammen somit dem zweck- 
vollen dialogischen Sprechen. Also auch dialogische 
Worte verwachsen so fest mit gewissen Empfindungsvorgängen, 
dass sie auch ohne bestimmten Zweck, d. h. unwillkürlich ge- 
sprochen werden. 

Ja, man sieht zwischen der Interjection und dem syntactisch 
ausgebildeten Ausrufssatze einen Wesensunterschied nicht. Rufe 
ach wie schön ist das, wie herrlich, grässlich, zu schön sind 
sehr vielfach nicht auf einen Hörenden berechnete Sätze, son- 
dern unwillkürliche Ausbrüche unserer Empfindung. Die Form 
der Sätze mit dem fragenden wie ist aber der dialogischen 


65 

Rede entlehnt, wo die Frage in der Absieht Antwort zn erhalten 
gestellt wird. 

Wir constatieren somit den bekannten Uebergang von 
willkürlichen zu automatischen Bewegungen (vgl. 
Wundt, phys. Psychol. Bd. n 402 flf.) auch für die Sprache, 
— begreiflich genug, da Sprache eben Bewegung ist Für 
den Hörenden sind diese monologischen Laute und Lautreihen 
Zeichen gewisser innerer Vorgänge, die er verstehen muss, da 
diese bei ihm so gut wie bei Anderen jene Laute erregen. 

Dürften wir das monologische Sprechen, wie es 
im Drama verwendet wird, ohne weiteres hierher ziehen, so 
würde jener Uebergang noch viel weitgreifender sein, denn die 
hier gebräuchlichen Sätze bestehen aus expositioneilen Elemen- 
ten, die ursprünglich nur in Bücksicht auf eine angeredete 
Person gewählt sind. Die Frage ist interessant und wichtig 
wie weit unter der Einwirkung eines starken Aflfectes der Mo- 
nolog im wirklichen Menschenleben geht. Ich kann zur Lösung 
derselben nur wenig beitragen, doch weise ich darauf hin, dass 
bei starker Leidenschaft wohl stets oder doch oft eine Stö- 
rung des Situationsbewusstseins eintritt, d. h. dass 
sich die Dlusion bildet, als ständen wir irgend einer Person 
in Hass oder Liebe, in Schmerz oder Freude, in Furcht oder 
Hoflfhung gegenüber. Auch der dramatische Monolog ist viel- 
fach deutlich von dieser Illusion getragen, man vergleiche z. B. 
den Schlussmonolog im Egmont. Hier redet Egmont zunächst 
den Alba an: ^Feindseliger Mann! Du glaubtest nicht mir diese 
Wohltthat durch deinen Sohn zu erzeigen'^ u. s. f. Dann ab- 
gesehen von den Anreden, , süsser Schlaft ^Du schönes Bild, 
das Licht des Tages hat dich verscheucht !\ wendet er sich an 
das niederländische Volk ^Schreitet durch! Braves Volk! Die 
Siegesgöttin führt dich an!^ Aehnlich unterredet sich Lady 
Macbeth mit ihrem Gemahl in dem Monologe Act I Scene 5: 

, Glamis und Cawdor bist du, und sollst werden 

Was dir verheissen ist! u. s. f.' 
Ebenso Banquo IE, 1 * 

,Da hast's nun: König, Cawdor, Glamis, Alles, 

Nach der Verheissung u. s. f.' 
Man wird auch an sich selbst beobachten können, dass 
man sich zuweilen so lebhaft in eine Situation des Gesprächs, 

5 


66 

des Zankes, einer Rede, eines Antrages hineinversetzt, dass 
man Worte und Sätze so bildet, wie man sie bei dieser Ge- 
legenheit etwa sprechen könnte. Allerdings wtisste ich nicht, 
dass ich je dabei zu lauten Aeusserungen gekommen wäre. — 
Die Möglichkeit ist jedoch bei Entstehung des dramatischen 
Dialogs nicht zu vergessen, dass dieses Kunstmittel vielleicht 
aus einem Fehlgreifen des Dramatikers hervorgegangen ist, 
der gewisse Gedanken seiner Personen dem Hörer mitteilen 
musste und diese selbst erzählen liess, ohne zu bemerken, dass 
er damit die Grenzen seiner Kunstmittel tiberschritt und in 
die epische Situation verfiel. — Auch die Beurteilung vieler 
lyrischer Situationen hängt eng mit dieser Frage zu- 
sammen, denn die eigentliche Gefiihlslyrik ist Gefühlsausbruch, 
der seiner ganzen Situation nach nicht auf eine angeredete 
Person berechnet ist. Wenn der lyrische Dichter auch an sein 
lesendes Publicum denkt in litterarischen Zeiten wie heute, so 
ist dieser Gedanke doch für die lyrische Situation selbst ohne 
Bedeutung, trotzdem ein lyrisches Kunstwerk die Expositions- 
elemente enthalten muss, aus denen die Stimmung dem Leser 
verständlich wird, denn auch die Mitteilung dieser Elemente 
muss durchaus zwecklos erscheinen. Also die Frage, in wie- 
fern diese Gefiihlslyrik die kunstmässige Ausbildung des natür- 
lichen kunstlosen menschlichen Gefühlsausbruchs sei, wird sich 
nur aus einer erschöpfenden Behandlung des Umfanges und 
des Wesens jenes monologischen Sprechens beantworten lassen. 


n. 

Erst im Dialog tritt der Zweck und die Absicht 
auf, in einer bestimmten Weise auf eine angeredete 
Person einzuwirken. Die Lautreihen sind hier also 
Sprachmittel. 

Die Anschauung, dass der Zweck alles Sprechens die 
Mitteilung von Gedanken sei, hat entschieden etwas Wahres, 
wenn man diese Definition auf den Dialog beschränkt, aber 
sie ist zu weit. Warum teilen wir Gedanken mit und welche? 
Die Definition ist auch zu eng, denn alle Willensbeeinflussung 
in der Sprache, wie Imperativ, Bitte, Aufforderung, erscheinen 


67 

uns doch nicht als Gedankenmitteilnng. Ferner ist durchaus 
nicht immer das wirklich Mitgeteilte der Zweck nnseres 
Sprechens. 

Der Zweck unseres Sprechens ist stets der, den 
Willen oder die Erkenntniss einer Person so zu be- 
einflussen, wie es dem Sprechenden als wertvoll er- 
scheint So soll im Imperativ und Wunsche der Wille des 
Angeredeten zum Handeln bestimmt werden, in der Frage zur 
Aufklärung über eine dem Sprechenden wertvolle Vorstellungs- 
gruppe. Das geforderte Handeln und die geforderte Antwort 
ist so wenig immer Selbstzweck, wie die Speise, die wir for- 
dern; vielmehr ist beides häufig Mittel eines höheren Zwecks. 
So enthält der Imperativsatz überlege mal, ob — , denk dir mod — , 
recognosce mecum — , iam intelleges, die rhetorische Frage, die 
Frage, welche im Deutschen den Bedingungssatz vertritt, nicht 
den Zweck der sprachlichen Aeusserung, sondern sie ist nur 
eine Hilfe, ein Mittel. Zum Teil sind diese Sätze in ihrer 
untergeordneten Bedeutung für den Zweck sehr deutlieh da- 
durch gekennzeichnet, dass sie für das Sprachgefühl Neben- 
sätze geworden sind. 

Die Zecke ordnen sich wie die Wertgefühle zu 
einem unendlich abgestuften System; es beginnt die 
Welt der Werte mit der elementaren sinnlichen Lusterregnng, 
durchläuft die grosse Reihe der höheren Lustempfindungen bis 
zur reinsten Lust, der inneren ethischen Befriedigung. Jene 
Welt der Werte schliesst in sich das Lustgefühl der gestillten 
Neugier und das stolze Glück, das uns bei der Lösung eines 
hohen wissenschaftlichen Problems erfüllt. 

Diese Werte sind die Zwecke der sprachlichen Mittel, mit 
diesen sucht der Sprechende den Willen des Angeredeten zur 
Befriedigung entweder seines eigenen selbstischen Begehrens 
zu beeinflussen oder ihn selbstlos zur sittlichen Handlung zu 
bestimmen, oder ihm durch Rat und Lehre die Güter des 
Lebens zu erschliessen. Mit diesen sucht er ebensowohl in 
eigensinniger Rechthaberei den Hörenden zu seiner Ansicht zu 
tiberreden als den Unerzogenen und weniger Gebildeten zu 
einer menschenwürdigen Erkenntniss zu führen und ihn von 
den Idealen seiner eigenen Weltanschauung zu überzeugen. — 
Die weitere Ausführung dieser Zwecke gehört der Ethik aa. 

5* 


68 

Auch das leichte Geplauder oder die steife Pflichterfüllung 
der Unterhaltung, — sie sind stets von dem Zweck bestimmt, 
ein Wertvolles zu realisiren, mag nun der Sprechende Inter- 
esse für die eigenen [Interessen zu erregen, oder liebe Er- 
innerungen aufzufrischen suchen, oder mag es ihm darum zu 
thun sein seinen Geist glänzen zu lassen und Bewunderung 
zu ernten, oder der Etiquette zu gentigen und der Missachtung 
der Gesellschaft zu entgehen. 

All die Zwecke des Sprechenden lassen sich in zwei 
grosse Klassen teilen, die selbst wider ethisch und psy- 
chisch untereinander verknüpft sind: 1. Sympathie oder 
Interesse für die eigenen Zustände und Wertur- 
teile zu erregen, und 2. Sympathie und Interesse 
für fremde Zustände und Werturteile zu zeigen. 

Die erste Kategorie schliesst die selbstischen, die zweite 
Kategorie die selbstlosen Zwecke in sich. Es ist unmittelbar 
deutlich, wie ein selbstischer Zweck zum Mittel eines 
selbstlosen Zweckes werden kann und umgekehrt, denn 
alle untergeordneten Zwecke sind Mittel der höheren Zwecke. 
So kann der Gelderwerb das Mittel zur Wohlthätigkeit und 
Humanität werden, wie bei H. Franke, und die Unterstützung 
eines Hilfsbedürftigen das Mittel zum eigenen Emporkommen. 
Ebenso können die Formen der selbstischen Zwecke Mittel zu 
selbstlosen Zwecken sein, wie der Befehl und die Forderung 
Mittel der Erziehung sind, und umgekehrt bei der Schmeichelei 
das Beweisen der Sympathie für fremde Zustände Mittel zu 
selbstischen Zwecken. 

So wenig die Gesellschaft bestehen kann, wenn ihre Glie- 
der von rein selbstischen Zwecken beherscht werden, ebenso 
wenig die auf der Gesellschaft ruhende Sprache; denn die 
Sympathie ist die fundamentalste Voraussetzung 
alles Sprachverständnisses. Keine Mutter würde das 
Weinen des Kindes als eine Aufforderung verstehen, ihm zu 
helfen. Niemand würde das weinerlich gesprochene ßutterbrod, 
meine Stiefeln, wovon oben die Rede war, als Imperativ fassen. 
Niemand würde die Hinweisung auf einen Gegenstand der An- 
schauung als eine Aufforderung verstehen, den Menschen oder 
das Tier, das Haus oder den Raum anzusehen. Ja Niemand 
würde überhaupt einem Sprechenden nur zuhören oder den 


69 

Pantominen eines Stummen mit dem Auge folgen, wenn dieser 
elementare ethische Zug im Mensehen fehlte. 

Die Wichtigkeit der Sympathie fttr die grundlegendste 
aller menschlichen Thätigkeit die Sprache ist ein starker Be- 
weis, dass der Mensch im Zusammenleben mit dem Neben- 
menschen notwendig zur Ausbildung des sympathischen Triebes 
und damit zur Ausbildung der Grundlage aller Sittlichkeit ge- 
langen muss, eine Entwicklung des Menschen, die in der Ge- 
sellschaft sich mit gleicher Sicherheit und Notwendigkeit ein- 
stellt als die Entwicklung räumlicher und zeitlicher Anschauung. 

Aber ebensowenig wäre Sprachverständniss 
möglich, wenn uns der selbstische Trieb fehlte, 
wenn wir nicht bei jeder sprachlichen Aeusserung eines Anderen 
nach dem Zweck derselben fragten. Wir würden nicht im 
Stande sein, in der sprachlichen Aeusserung das Mittel eines 
Zweckes zu erkefinen, wenn wir nicht nach unserem eigenen 
Muster voraussetzten, dass jeder Mensch gewisse Handlungen 
nur dann vornähme, wenn er etwas erreichen wolle. 

So veranlasst uns der selbstische Trieb, das Sprechen 
eines Andern als zweckvoll anzusehen, die Sympathie dagegen, 
auf das Sprechen des Andern zu achten und dasselbe zu 
deuten. Der Massstab und das Schema, nach dem Beides 
geschieht, sind unsere eigenen inneren Zustände des Begehrens 
und der Geftihlserregung. Wir setzen bei dem Sprechenden 
unbewusst dieselben psychischen Vorgänge und den gleichen 
psychischen Organismus voraus, wie bei uns selbst, und die 
sympathische Stimmung ist ja eben der Empfindungszustand, 
in den uns die Ausdeutung fremder Zustände nach dem Muster 
der eigenen versetzt. 


70 


B. Die Willensbeeinfiussung. 

in. 

Verstehen wir jene weinerlichen Ausrufe Butter- 
brod, Fläschchen, meine Stiefeln in dem Sinne eines Im- 
perativs, so haben wir als Grund des Weinens einen Schmerz- 
zustand nach dem Muster unserer eigenen Vorgänge erschlossen, 
wir schliessen weiter nach dem Muster unseres Empfindungs- 
ablaufs, dass Butterhrod in Beziehung zu dem Schmerzgefühle 
stehen muss. Da ein Butterbrod als solches einem Kinde 
keinen Schmerz zu machen pflegt, so schliessen wir weiter — 
wieder nach eigenem Muster, — da wir auch ein Butterbrod 
in der Hand des Kindes nicht sehen, dass dasselbe vermisst, 
also begehrt wird. Daraus ergibt sich der weitere Schluss, 
dass jenes Schmerzgefühl Hunger sei. Nun*flihlen wir in uns 
die ethische Stimme der Sympathie, die uns auffordert den 
Leidenden zu helfen, — und damit entsteht die Vorstellung 
der Imperativischen Bedeutung jener Sprachform. 

Hätte das Kind bei Jenem Ausrufe das Butterbrod in der 
Hand, so mtisste der Schluss zu einem ganz verschiedenen 
Resultate führen, nemlich zu dem, dass das Kind das Brod 
nicht essen wolle. So führt die Andeutung des Schmerzens- 
rufes nebst dem Inhalte der Wortvorstellung und der anschau- 
lichen Situation zum Verständnisse. 

Hätte das Kind das Brod gegessen und riefe in der an- 
gegebenen Weise Butterbrod aus, so könnte die Deutung sein 
1. noch ein Brod, 2. das Brod habe dem Kinde Schmerzen 
gemacht. Hier hat in die Deutung die in der Erinnerung des 
Hörenden lebendige Situation eingegriffen. Die Elemente, aus 
denen die Deutung gewonnen wird, sind also an sich durch- 
aus nicht derart, dass sie den betreffenden Schluss herbei- 
führen mtissten. 

Ebenso geht es bei der Frage. Wir hören das stau- 
nende Tisch, Stuhl, wir sehen das Auge des Sprechenden auf 
uns gerichtet und schliessen, dass dieser etwas von uns er- 
wartet, wir kennen das Unlustgefühl des Staunens, das aus 
dem Unvermögen der Recognition entsteht, oder aus dem Un- 
vermögen, eine Verbindung gewisser Vorstellungen zu voll- 


71 

ziehen, die sich in uns zu verknüpfen snchen. Wir bemessen 
bei dem staunenden Ausrufe Stuhl nach unserer Kenntniss von 
dem Wissen und den inneren Zuständen des Sprechenden, 
ferner nach der Eigentümlichkeit der Situation, ob der Stau- 
nende ein Anschauungsbild nicht mit Sicherheit als Stuhl zu 
recognoscieren vermag, oder ob er den Stuhl sucht, den er 
hier erwartet, oder ob er nicht begreifen kann, wie der Stuhl 
in diesen Zusammenhang gekommen ist. Und haben wir dies 
Alles erschlossen, so fühlen wir dem UnlustgefÜhle des Spre- 
chenden gegenüber sympathisch die ethische Forderung, ihm 
zu helfen und ihm Auskunft zu geben. 

Die sympathische Forderung, Hilfe zu bringen fühlen wir 
auch dann den Leiden eines Anderen gegenüber, wenn dieser 
nicht zu sprachlichen Mitteln greift. Mittel wird aber Alles 
das, dessen Wirksamkeit wir an uns erfahren haben 
und eben nur das; Mittel werden nicht erfunden, 
sondern entdeckt. Haben wir die sympathische Wirkung 
der Leidensäusserungen eines Anderen, z.B. das Weinen auf 
uns erfahren, so werden uns diese Aeusserungen geeignet er- 
scheinen, mit ihnen gleiche sympathische Wirkungen bei An- 
deren zu erzielen. So werden die zwecklosen monologi- 
schen Aeusserungen und alle sonstigen Reflexäusserungen, 
deren Wirkung wir an uns erfahren haben, zu Mitteln für 
unsere Zwecke. Darum weint das Kind, sobald es die 
Wirkung seiner Tränen an der Mutter erfahren hat, um den 
Willen der Mutter zu bestimmen. Man gewöhnt daher dem 
Kinde das Weinen nur ab, wenn man die bezweckte Wirkung 
nicht eintreten lässt. 

So stellt sich ein doppelter Uebergang vom mono- 
logischen und dialogischen Sprechen heraus: Die zweck- 
losen Aeusserungen werden durch die Wirkung, die man an 
ihnen beobachtet, zu zweckvollen Aeusserungen und durch die 
Mechanisierung der Bewegung wandeln sich die zweckvollen 
Aeusserungen wieder zu zwecklosen monologischen Lautaus- 
brüchen. Durch diesen Process erhält der Dialog lautliche 
Zeichen aus der Masse der Reflexlaute, und die Reflexlaute 
werden mehr und mehr in das System der durch den Dialog 
geschaffenen Laut- und Wortbildung eingegliedert. Somit sind 
auch die Empfindungslaute und Empfindungstöne des sprechen- 


72 

den Menschen darchans nicht als reine Natnrlante anzusehen, 
ja selbst die Satzmelodie nicht. Denn die melodische Tonfolge 
innerhalb eines Wortes und der Sätze ist z. B. in den ver- 
schiedenen deutschen Dialecten sehr verschieden, daher kommt 
es, dass der Pommer dem Thüringer nachsagt, er singe und 
umgekehrt der Thüringer dem Pommer. Niemand hört eben 
mehr die Melodie, die er selbst singt, um so schärfer dagegen 
die anderer Sprachgemeinschaften. — Auch der lautlose Hin- 
weis mit der Hand und die Bichtung der Augen sind zunächst 
zwecklos, aber auch sie werden infolge ihrer Wirksamkeit zum 
zweckvollen Mittel. 

Man begreift leicht nach dem Gesagten, wie eine Vocabel, 
ein Wort, das bisher unbekannt war, aber durch die übrigen 
Elemente, aus denen wir unser Verständniss der Rede schöpfen, 
erschlossen wird, — wie ein solches Wort in dieser Verbindung 
allmählich als wirksames Mittel empfunden werden muss, wie 
es seine Bedeutung und seinen Inhalt allmählich aus dem 
Ensemble von Elementen gewinnt, die den Hörenden zu jenen 
Schlüssen zwingen, welche wir Sprachverständniss nennen. — 
Doch ich deute diesen Vorgang nur an, da ich nicht vorhabe 
an jenen Primitivstufen des Worteriemens die Untersuchung 
zu ftlhren, sondern an den entwickelten Stufen, wo dem Hören- 
den und Sprechenden der Vocabelschatz der Sprache schon 
bekannt und geläufig ist. Aber darauf möchte ich an 
dieser Stelle doch hinweisen, dass die Worte zunächst 
nicht als Lautgefässe mit bestimmtem Inhalte 
erlernt werden, sondern alsMittel zu bestimmten 
Zwecken. Was wir also Inhalt der Worte zu nennen pflegen, 
ist die abgeblasste Abstraction, bei der die Verwendung der 
Worte zu den verschiedensten Zwecken den Charakter des 
Mittels dem Worte allmählich abstreift; dieser Charakter bleibt 
nur den Worten, welche stets ein und derselben oder doch nur 
wenigen Functionen dienen, nemlich den Worten mit einseitig 
formaler Function wie den Conjunctionen, Partikeln, Pronomi- 
nibus und Präpositionen. Ebenso würde es mit Butterbrod, 
Fläschchen, meine Stiefeln gegangen sein, wenn diese Worte 
nur dem Zwecke in der Sprache dienten, den Hunger zu stillen 
oder die blossen Füsse zu bekleiden. 


73 


IV. 


Eg kann nnn scheinen, dass die oben durch Zergliedernng 
und Analyse gewonnenen ethischen und psychischen That- 
sachen allerdings bei den ersten Schritten des Verstehens und 
Sprechens von Bedeutung gewesen sind, aber sehr bald ihre 
Wirksamkeit verlieren. Das wäre ein Irrtum, dieselben Factoren 
bleiben stets im Sprachleben wirksam. Allerdings empfinden 
wir bei der herkömmlichen Imperativform des Verbs und den 
grammatisch festgewordenen Formen der Frage nichts mehr 
von diesen ziemlich complicierten Schlüssen. Aber es ist ein 
allgemeines psychisches Gesetz, dass compli- 
cierte Schlussreihen durch Häufigkeit und Ge- 
wöhnung schliesslich so schnell ablaufen, dass 
das Bewusstsein für die einzelnen Schlüsse voll- 
ständig verloren geht und die Schlusscomponenten erst 
durch reflectierte Analyse widergefunden werden können. So 
ist es bei der Bildung der Raumanschauungen, bei dem Be- 
wegungsabläufe des geläufigen Clavierspiels, bei dem Lesen, 
bei allen technischen Fertigkeiten gegangen. Bei dem Kinde 
müssen daher jene Schlüsse langsamer und behinderter sich 
vollziehen als bei dem Erwachsenen, und das ist thatsächlich 
der Fall. 

Ebenso allgemein gültig ist das Gesetz, dass 
ursprünglich spontane und bewusste Mittel all- 
mählich automatisch und unbewusst verwendet 
werden. Wie daher der Sprechende schliesslich, wenn ihm 
der Zweck bewusst ist, ohne Ueberlegung, rein mechanisch zu 
Imperativ- und Frageformen greift, so muss das Mittel ebenso 
mechanisch bei dem sprechfertigen Hörer den Zweck in das 
Bewusstsein rufen. Und diese Mechanisierung von Sprach- 
mitteln ist ebenso notwendige Voraussetzung für die Ausbildung 
der Sprache zu ihren höheren und höchsten Aufgaben, wie die 
Mechanisierung der technischen Zweckbewegungen bei dem 
Handwerker und Künstler erst das vollkommene Gelingen ihrer 
Kunstthätigkeit garantiert, — die Mechanisierung der Muskel- 
thätigkeit beim Gehen und den schwierigen Leistungen des 
Seiltänzers und Kunstreiters erst Sicherheit und volle Selbst- 
bestimmung mit sich bringt 


74 

Sprachformen , die in einer Sprachgemeinschaft automa- 
tische, mechanische Mittel ihres Zwecke geworden sind, rufen 
bei dem Hörenden nur diesen Zweck in das Bewusstein, man 
kann sie daher von dem Standpunkte des Sprach- 
verstehens auch congruente Sprachzeichen nennen, 
— congruent insofern, als der durch sie wirklich bewusst ge- 
machte Vorstellungsinhalt gleich ist dem Vorstellungsinhalte, 
den sie bewusst machen sollen. 

Die indogeraminische Imperativform war natür- 
lich nicht von vorn herein mechanisiert, die II. Person Singu- 
laris war der reine Stamm, und so lange die eigentliche Verbal- 
flexion fehlte, wurden diese Stämme auch in allen anderen 
syntactischen Verbindungen verwendet, so haben sie sich in 
den späteren Sprachstufen erhalten für den Vocativ des Singu- 
lares, ferner in den ersten Bestandteilen vieler Compositionen 
wie parricida, [avÖQoxrovoq^ Wohnhaus u. a., also der eigent- 
lich echten indogermanischen Composition, wo sie dieselbe 
Function wie der limitative Genetiv versehen. Auf der vor- 
flexivischen Stufe der indogermanischen Sprache war daher in 
jedem einzelnen Falle ein Schluss notwendig, um die für den 
besonderen Fall beabsichtigte Bedeutung des Stammes d. h. 
seine Function zu verstehen. 

Die modernen Sprachen haben in der Frage nicht 
von vorn herein eine besondere Wortstellung gehabt, und auch 
jetzt ist die fragende Wortstellung nicht den Fragesätzen allein 
eigentümlich, dieselbe Stellung ist im eingeschobenen Satze ge- 
bräuchlich. Also die Bestimmung des syntaktischen Zweckes 
ist noch bis heute nur durch Schlüsse möglich, wenn diese auch 
sehr schnell ablaufen mögen. — Die griechischen Fragen 
mit ovxovv, aga, äg^ ov, äg ovv zeigen deutlich die Form der 
Schlussfolgerung, ebenso äga fiij, ficov, ficov ov, ficov (ir] (vergl. 
Madvig, Synt. d. gr. Spr. 199, b) ; das Grundschema für diese 
Verwendungsweise ist bei den Formen mit ov ein Satz wie: 
also er ist nicht gekommen, für die Formen mit ^rj : behüte dass 
er gekommen ist. Ich gehe hier nicht auf die Frage ein, in 
wiefern die genannten Verbindungen alle als deckende Frage- 
einleitungen angesehen werden können und ob nicht das ety- 
mologische Bewusstsein bei der einen oder anderen Verbindung 
gewahrt ist. Klargestellt ist diese Sache noch nicht. — Nun 


75 

derartige folgerade Behauptnngssätze im Verwunderungstone 
gesprochen dienen ja auch im Deutschen häufig zur Frage, 
nur ist bei uns diese Form nicht wie im Griechischen mecha- 
nisiert, — ist Griechisch die Form mit ovxovv doch auch in 
Fällen im Gebrauch, wo der Sprechende in der Situation eine 
Veranlassung zu einem derartigen Schlüsse nicht finden konnte 
(vgl Kühner gi\ Gr. die Abschnitte § 587, 10 ff.). 

Die Mechanisierung des Sprachmittels ist eben der Grund 
dass die gewählte Form nicht mehr nacli ihrer Grundbedeutung 
verstanden wird, sondern nur in ihrer Function für den Zweck 
es ist dies die Verdunklung des etymologischen Be- 
wusstseins. 

Jene griechische Frageform enthält also ursprünglich ausser 
dem Vei-wunderungstone keinen Hinweis auf die Forderung um 
Auskunft, sie ist nichts als verwundernde Behauptung; ebenso 
steht es in den Fragesätzen mit //9y == behüte, oder hoffentlich 
ist das yiicht der Fall. Die Mechanisierung wird hier deutlich 
bewiesen durch die Verwendung des ^r/ in einem indicativischen 
Hauptsatze. Die Forderung einer Auskunft wird vom Hörenden 
nur aus der Unsicherheit erschlossen, womit der Sprechende 
seine Behauptng aufstellt. — Auch die lateinischen Fragesätze 
mit -ne und num sind negative Behauptungssätze dieser Art, 
wie die Bedeutung von ne in ne-que, ne-cessarius u. s. f., femer 
die Bedeutung num in num-quam neben um-quam beweist, — 
aber mechanisierte Behauptssätze. 

• Doch der verwundernde Behauptungssatz ist nicht immer 
mechanisiert, er lebt daneben frei in der Sprache, allerdings 
verwendet er nicht jenes -ne und num, diese Wörtchen fristen 
nur noch in den mechanisierten Verwendungen ihr Dasein. 

Auch der Verwunderungston selbst kann als me- 
chanisiertes Sprachmittel bezeichnet werden. Auch er 
kann durch Worte ersetzt werden, die in freier Weise den 
Mangel an Verständniss ausdrücken. Statt verwundert zu 
sagen : hier fehlt ein Stuhl, könnten wir auch sagen : hier fehlt 
ein Stuhl, das versiehe ich nicht, oder ich verstehe nicht, dass 
hier ein Stuhl fehlt, — Der Verwunderungston deutet das Un- 
lustgeftihl des Nichtverstehens an und wirkt dadurch auf die 
Sympathie des Hörenden. Der Satz: das verstehe ich nicht 
referiert die Thatsache des Verständnissmangels und lässt 


76 

darans das Unlnstgeflihl erschliessen ; es kann somit gleich- 
falls als Aufforderung Auskunft zu geben aufgefasst werden, 
natürlich nicht notwendig, sondern bei bestimmten Situationen. 

Man darf somit sagen: Bevor die Sprache durch 
Gewöhnung mechanisierte Mittel gewonnen hat, 
lässt sich Frage nur durch verwunderte Mittei- 
lung bezeichnen. — Wir unterscheiden nun zwei Kate- 
gorien der Frage: 1. die Bestätigungsfrage, z. B- 
ist A fortgegangen? — , bei der der Sprechende Auskunft ver- 
langt, ob eine Vermutung von ihm richtig ist und diese be- 
stätigt wissen möchte, 2. die Ergänzungsfrage, z. B. 
wer hat das gethan ?, wen hast du gesehen ?, wie, wo, warum u. s. f 
Hier wird nach einem im Vorstellungszusammenhange unbe- 
kannten Gliede gefragt, während die Thatsache selbst sicher 
und bekannt ist. 

Für diese zweite Klasse haben die indogermanischen Spra- 
chen bestimmte Pronomina entwickelt, die sowohl inter- 
rogative als indefinite Bedeutung haben; griech. rlq; 
jtovj jtot, jtoöog, jtotog etc. und ionisch die Formen mit k; 
lat. quis, qui, ubi (aus cubi), unde {cunde), quo u. s. f ; deutsch: 
ahd. hwer, nhd. wer, was, wo, wie, warum u. s. f. — Auch diese 
Fragen sind aus dem Behauptungssatze im Verwunderungstone 
hervorgegangen; so bedeutete quis (rig, wer) fecit? eigentlich: 
irgend einer hat es gethan, der Hörende fühlte sich durch eine 
derartige Behauptung in der oben angegebenen Weise zur Be- 
antwortung veranlasst. 

Natürlich ist auch heute diese Form der Ergänzungsfrage 
lebendig. So kann der Suchende sagen: irgendwo habe ich 
das Buch hingelegt, und da jenes Indefinitum irgendwo, irgend, 
wer u. s. f selbst wieder mechanisiertes Mittel zum Ausdruck 
der Unkenntniss ist, so kann dafür gesagt werden: ich kenne 
den Mann nicht, der das gethan hat, und auch dieser Ausdruck 
wird unter bestimmten Verhältnissen als Frage gefasst werden. 

V. 

Da wir stets von Neuem die Beobachtung machen, dass 
gewisse Aeusserungen uns in einer bestimmten Weise beein- 
flussen, und wieder absichtslose Aeusserungen unsererseits für 


77 

andere wirksam sind, so müssen stets neue Spraehmittel 
geschaffen werden, und da die Wirksamkeit sich stets nach 
gleichen psychisch -ethischen Gesetzen richtet, so müssen die 
neu geschaffenen Mittel sets nach gleichen Gesetzen ge- 
bildet sein. 

Das eigentliche Beobachtungsfeld für die Wirksam- 
keit der Sprachmittel ist daher die freie ausführende Dar- 
stellung, nicht die mechanisierten syntactischen For- 
men, in denen die Reihe der Schlüsse verkürzt ist. Die syn- 
tactischen Mechanisierungen werden wie Petrefacten erst aus 
der frei ausführenden Rede verständlich. 

Der Sympathie erregende Schmerzton des Imperativs kann 
wie bei der Frage durch die thatsächliche Mitteilung des 
Schmerzes ersetzt werden; wer zum Arzte kommt, sagt: mir 
thut der Arm weh, das Auge schmerzt ?nich, und glaubt damit 
den Arzt zur Hilfeleistung aufgefordert zu haben, und dieser 
versteht ihn in diesem Sinne. Um zu trinken oder zu essen 
erhalten, sagt das Kind: ich bin so hungrig, ich habe Durst; 
das Kind, das zu Bette gebracht sein will, klagt: ich bin so 
müde. Also die blosse Erregung des Mitgefühls durch Angabe 
des Leidens dient zur Imperativischen Willensbeeinflussung. 

Aus dem Schmerzausdrucke musste zunächst der Wunsch 
oder Wille des Leidenden erschlossen werden, um Imperativisch 
zu wirken, die thatsächliche Angabe, was unser Wille oder 
Wunsch sei, muss natürlich gleichfalls Imperativisch wirken. 
So treten wir in den Buchladen und sagen: ich wünsche den 
Lessing, ich möchte den Goethe, ich hätte gern einen Atlas u. s. f., 
— und der Buchhändler empfindet bei dieser Mitteilung des 
Begehrens die Aufforderung, das betreffende Buch zu geben, 
er antwortet vielleicht sogar: zu Befehl, Der Römer gebraucht 
die Form hoc factum volo für einen , gemessenen Befehl.' — 
Deutlich ist vdeder aus den angeführten Beispielen, welche 
Wichtigkeit der Voraussetzung eines bestimmten Zweckes oder 
einer Absicht des Sprechenden für das Verständniss hat. Würde 
nicht vom Buchhändler angenommen, dass der Redende mit 
seiner Mitteilung bei ihm etwas erreichen wolle, so wäre die 
Deutung als Imperativ erschwert. 

Der Wunsch oder Wille wird erregt durch die Anschauug 
oder Vorstellung eines Gutes oder von etwas Wertvollen. Kin- 


78 

der, die Knchen auf dem Tische sehen, wollen ihn haben; 
dem Gourmand läuft bei Erwähnung von Austern und Cham- 
pagner das Wasser im Munde zusammen. In den meisten 
Fällen wird es daher genügen, einem Angeredeten gegenüber 
einen wertvollen Gegenstand zu nennen oder als wertvoll zu 
bezeichnen, um seinen Willen zu erregen. Sieht das Kind Je- 
manden Kuchen essen und sagt: ja Kuchen schmeckt schön 
oder Kuchen ist mein Liblingsessen u. a., so erschliesst der Hörer 
daraus, dass er vom Kuchen abgeben solle. Denn eine Ab- 
sicht muss das Kind mit den Worten verbinden, diese ist von 
dem Kuchen etwas zu erhalten, und da der Hörende die Er- 
füllbarkeit dieses Wunsches in seiner Hand hat, so werden 
die Worte als Willensanforderung empfunden. 

Zum Willen kann ja nur der Wunsch werden, dessen Er- 
füllbarkeit wir glauben einzusehen, nach der geschilderten Si- 
tuation muss das Kind also die Realisierbarkeit des Wunsches 
als abhängung vom Willen des Hörenden ansehen. Man nennt 
derartige Willensbeeinflussungen Winke mit dem Zaun- 
pfahle, d. h. Winke, die ein Missverständniss nicht zulassen. 
Die Möglichkeit des Verständnisses derselben beweist die 
wichtige psychische Thatsache, dass wir allgemein 
gehaltene Sprachäusserungen, die das Generelle zu 
einem einzelnen in der Anschauung oder dem Be- 
wusstsein gegebenen Falle enthalten, auf diese so 
beziehen, als sei nicht der Satz allgemein, sondern vom 
concreten Falle gesprochen. Es wird also der allgemeine 
Satz durch die concrete Anschauung selbst zu einer concreten 
Vorstellungsgruppe ergänzt. Im Wesentlichen ist diese That- 
sache der gleich, welche wir bei der Namengebung und Prä- 
dicierung besprachen, wo z. B. Mensch, Schrank von einem gegen- 
wärtigen Anschauungsbilde oder in der Erinnerung enthaltenen 
individuellen Erinnerungsbilde trotz der generellen Bedeutung 
dem Individualbilde als congruent empfunden wurde. Nur 
handelte es sich dort um ein Prädicat, hier um einen ganzen 
Satz. 

Derselbe Vorgang ist häufig bei sittlichen Mahnungen in 
allgemeinen Sätzen, die sich der Hörende anziehen soll, diese 
Sätze werden als Prädicate der eigenen ethischen Zustände 
empfunden und müssen darum individuell erscheinen. Sagen 


7» 

wir z. B. einem Unzufriedenen gegenüber: nur der Zufriedene 
ist glücklich, so empfindet der Unzufriedene die Aussage als 
eine Beurteilung seiner Unfriedenlieit. Dasselbe geschieht beim 
Sticheln, — und in der Ironie werden sogar aus dem Bewusst- 
sein oder der Anschauung die sprachlich gegebenen Vorstel- 
lungen in ihr Gegenteil umgedeutet. 

Es bedarf einer besonderen Ausführung nicht, dass die- 
selben Verhältnisse, die bei der positiven Willensbeeinflussung 
hervorgetreten sind, sich auch bei der negativen zeigen, bei der 
Prohibition. Ein neues Moment liegt nur darin, dass der 
Sprechende bei der Prohibition jedesmal die Voraussetzung 
haben muss, der Angeredete beabsichtige oder wünsche etwas 
Bestimmtes zu thun, und diese vorausgesetzte und beflirchtete 
Handlung will der Sprechende eben abwehren. 

Es ist bekannt, wie in diesem Falle ein blosses Abwinken 
mit der Hand, — offenbar ein abgekürzter und mechanisierter 
Gestus die Annäherung von etwas Ueblem abzuwehren, — 
femer wie der drohend ©der warnend erhobene Finger, oder 
ein 7iicht, nicht doch genügt. Die Beziehung der Abwehr auf 
die im Bewusstsein vorhandene Willensregung oder eine Hand- 
lung, bei deren Ausführung wir begriffen sind, ist ja einfach, 
aber die richtige Deutung braucht damit noch nicht gewonnen 
zu sein. Es reicht z. B. der Diener bei Tische Speisen herum, 
die Wirtin macht eine abwehrende Bewegung, da kann je nach 
den Umständen darunter gemeint sein : nicht herujnr eichen oder 
nicht den betreffenden Personen präsentieren, oder nicht von der 
Seite, oder nicht in der Form u. a. m. Versteht der Angeredete 
den Wink richtig, so kann das Verständniss nur durch die 
Ueberlegung gewonnen werden: was kann unter den obwal- 
tenden Umständen verboten sein ? Der Schluss lässt sich also 
nur gewinnen aus der Vergleichung des thatsächlichen Vor- 
ganges mit dem Bewusstsein des Pflichtgemässen oder dem 
Normalgefühl flir das Correcte. Aber der Schluss ist nie 
zwingend, nur möglich. Somit richtet sich also das 
Verständniss sprachlicher Aeusserung nach der mög- 
lichen Beziehbarkeit von Vorstellungen auf einander, 
— ein wichtiges psychisches Gesetz. 

Der Wink und die prohitive Negation sind mechanisierte 
Mittel, die freien Sprachmittel, welche diesem Zwecke dienen, 


80 

beruhen auf denselben seelischen Vorgängen wie die Mittel des 
Befehls. 

Zu den Mitteln der Willensbeeinflussung gehört auch Dro- 
hung und Versprechen. Auch hier muss der Hörende die 
Absicht der Beeinflussung erst erschliessen. Man sagt: es 
wird dir schlecht gehn, wenn du das thust, du erhältst Schläge, 
wenn — . Dieser Satz ist zunächst ganz allgemeiner Art, er 
bedeutet: in Jedem Falle, wenn du das thust, erhältst du Schläge 
dieser allgemeine Satz muss also erst vom Hörenden auf seine 
besondere Absicht bezogen werden. Es ist auch nicht gesagt, 
von wem der Angeredete die Schläge erhalten wird, das Alles 
wird durch die Beziehung des allgemeinen Satzes auf den be- 
sonderen Fall hineingedeutet. Bei mechanisierten Formen der 
Drohung, in denen Aposiopese häufig ist, wird gar nicht mehr 
empfunden, dass der Sprechende allgemein spricht, z. B. wehe 
dir, wenn du das thust; na, wenn du das thust, thust du das! 
Der drohende Ton, der sehr viele Abstufungen in der Inten- 
sität und Schärfe hat, erleichtert das Verständniss. 

Ebenso muss das Versprechen erst erschlossen werden, 
z. B. einen Gulden für ein Glas Wasser, ein Königreich für ein 
Pferd! — Nicht missverständlich ist die Drohung: sieh dir mal 
die Peitsche an, oder kennst du die Rute? Hier wird eben nur 
die Vorstellung eines Uebels in die Seele gerufen, die Ver- 
bindung derselben mit der Absicht dieses Bewusstmachens er- 
schliesst der Hörende selbst, heute wie in der Urzeit der Sprache. 
Darum gentigt es, die Peitsche zu zeigen, oder auf die Rute 
am Spiegel hinzuweisen, oder zu sagen: Für artige Kinder habe 
ich etwas Schönes, 

Es lassen sich noch andere Formen der Willensbeein- 
flussung anführen, wie die Frage als Anfrage z.B. beim 
Kaufinanne, ob er diese oder jene Waare führe; auch aus 
dieser Anfrage wird sofort die Absicht, die Waare zu kaufen, 
erschlossen, denn es muss die Kenntniss dieser Thatsache für 
den Fragenden einen Wert haben, der Kaufmann erschliesst 
daher nach dem ihm nächstliegen Vorstellungscomplex : der 
Fragende will die Waare kaufen. Dies ist nur eine von den 
möglichen Deutungen, denn der Statistiker kann dieselbe Frage 
zu ganz andern Zwecken stellen. 


81 

Besonders häufig ist die Frage warum nichts z. B. warum 
gehst du nicht und lateinisch ist die entsprechende Frageform 
mit quin ganz mechanisiert. Seine etymologisch berechtigte 
Construction hat diese Frage behalten mit dem Indicativ quin 
conscendimics eguos, doch wenn auch gesagt wird quin conscen- 
dite, quin conscendamus, so ist eine Construction eingetreten, die 
zwar für den gesammten Zweck des Ausdrucks, also für die 
Function der ganzen Frage angemessen ist, doch nicht fbr ihre 
etymologische Form. 

Da auch die festen Sprachformen der Willensbeeinflussung 
auf solchen möglichen Deutungen beruhen, so müssen sie in 
der Zeit ihres freien Gebrauchs, also bevor sie mechanisiert 
wurden, auch andere Deutungen zugelassen haben, doch sobald 
sie mechanisch wirkend werden, erscheint ihre Bedeutung als 
notwendig gegeben, sie sind ihrem Zwecke congruent geworden. 

Auch die künstlerisch gestaltete Volksrede verfolgt 
den Zweck eine Anzahl von Individuen zu einer bestimmten 
Handlung zu bewegen, oder von einem bestimmten Vorhaben 
abzubringen, oder beides zugleich, z. B. Ciceros Rede de im- 
perio Cn. Pompei. Also auch sie ist eine Imperativische 
resp. prohibitive Sprachform der Willensbeeinflussung. 
Die gerichtliche Rede sucht die Richter zur Freisprechung oder 
Verurteilung zu bewegen, der Prediger oder Paränetiker den 
Hörer zu einer bestimmten Weise des religiösen und sittlichen 
Handelns zu bestimmen, also lauter Willensbeeinflussungen 
durch sprachliche Mittel. Und allen diesen Rednern stehen 
keine anderen Mittel zur Verfügung als die, welche sich auch 
beim Imperativ oder dem Prohibitiv gezeigt haben. 

Auch sie müssen selbstverständlich die mechanisierten 
Mittel der Willensbeeinflussung benutzen, daneben aber im aus- 
gedehntesten Masse die freien Sprachmittel. Sie suchen daher 
die Sympathie flir die Person der Angeklagten zu erregen, es 
werden die Leidenszustände desselben in der sehr wirksamen 
miseratio ausführlich dargelegt, das Gefühl für das Leiden 
und das Unglück der Mitmenschen wird auch in der politi- 
schen und moralischen Rede ein Mittel sein, den Hörer zur 
Hülfe dagegen zu veranlassen. Es wird das geforderte Han- 
deln als ein Gut, als wertvoll dargestellt, umgekehrt als Uebel 
das Gegenteil. Der Weg, der beschritten werden soll, wird als 

6 


82 

möglich und leicht ausführbar geschildert, im Gegenteil der 
Weg, von dem der Redner abrät. 

Es sind also genau dieselben Gesichtspunkte, die wir bei 
den Imperativformen fanden, nur sind hier die Mittel gehäuft, 
denn der Hörende soll tiberredet werden, es sind die einzelnen 
psychischen Gänge und Reihen nicht zusammengedrängt, son- 
dern auseinandergelegt. Somit ist die Rede ein Imperativ^ 
in dem genau das Gegenteil vorliegt von der Mechanisierung 
der Sprachmittel im syntactischen Imperativ, die Mittel selbst 
sind jedoch aus derselben Quelle geschöpft. Wir können diese 
Form die zerlegende nennen, die festen syntactischen 
Formen aber die verdichteten oder conprimierten. In 
diesen wird nur noch das Resultat des Vorstellungsablaufes 
empfunden, dessen einzelne Teile bei der ersten Form zur 
deutlichen und wirksamen Empfindung kommen. Darum er- 
scheint uns der Inhalt der zerlegenden Form viel reicher als 
der der verdichteten, und darum ist das Stilgefühl für beide 
Formen ein ganz verschiedenes. Denn die Unterschiede 
des Stilgefühls sind bedingt durch die Zahl und Qua- 
lität der Empfindungen, aus denen uns der sprach- 
liche Zweck einer redenden Person bewusst wird. 

Je häufiger eine Sprachgenossenschaft die Veranlassung 
hat, den Willen zu beeinflussen, um so grösser muss die Zahl 
der mechanisierten Mittel werden, denn häufiger Gebrauch 
mechanisiert. Je schwieriger und mannigfaltiger die Verhält- 
nisse sind, unter denen diese Beeinflussung statt findet, um so 
mehr wächst das Bedürfniss nach neuen und frischen Bildungen, 
welche den psychisch-ethischen Vorstellungsverlauf unverkürzt 
in das Bewusstsein treten lassen ; und damit wächst der Reich- 
tum der Sprache an stilistischen Nuancen. Und je häufiger 
der Hörer grössere Vorstellungsreihen, die auf einen Zweck 
zielen, in sich hat producieren und auf den einen Zweck be- 
ziehen müssen, um so grösser wird die Fähigkeit, grössere 
Sprachmassen zu beherrschen. Characteristisch ist hierfür das 
Beispiel der Spartaner, die behaupteten, am Ende einer atti- 
schen Rede vergessen zu haben, was am Anfange gesagt sei. 
Der Zusammenhang von Grammatik, Rhetorik und 
Stilistik ist hiermit angedeutet. 


m 


C. Die Substanz und der Satz. 

VI. 

Knüpfen wir an eine Mhere AnsfUhrung an, nemlich an 
die Thatsache, dass alle Benennungen von Dingen und Per- 
sonen durch Prädiciemng einer Handlung oder Eigenschaft 
von ihnen geschieht, wie dens der Essende war und die Be- 
deutung Zah7i annahm. Offenbar ist aber eine solche Prädicats- 
bezeichnung einer Definition nicht gleich und nur eine Definition 
sollte im Stande sein, ein Ding oder eine Person mit voller 
Klarheit in das Bewusstsein zu rufen. An einer anderen Stelle 
ist gezeigt, dass das Prädieat durch Mechanisierung, wie wir 
jetzt sagen werden, also durch den häufigen Gebrauch seinem 
Subjecte congruent werden kann. Doch die Thatsache erfordert 
noch eine genauere Ausführung. 

Wir sind in der glücklichen Lage, einzelne Substantiv- 
bildungen genauer zu verstehen; es sind dies die substan- 
tivierten Adjectiva, z.B. der Adlige, der Bürgerliche, der 
Schwarze, der Neger, der Rote (politisch) u. a. Hier ist 
deutlich, dass das Adjectivum die Qualität bezeichnet, 
der Artikel die Substanz. Die Substanzbezeichnung ent- 
hält die Hinweisung auf eine Person männlichen Geschlechts, 
sie ist nicht verschieden von dem Ausdruck der Mensch. Das 
ganze Substantiv der Schwarze ist aber nicht gleich einer jeden 
schwarzen Person männlichen Geschlechts, man denkt noch 
ausserdem mit: von afrikanischer Race, mit gewissen geistigen 
und physischen Qualitäten. Die Bezeichnung ist generell wie 
jede sprachliche Benennung, sie weist auf eine bestimmt aus 
der Gesammtmenschheit ausgesonderte Klasse hin. Haben alle 
Individuen einer Sprachgemeinschafi; diese Klasse ausgesondert, 
und ist für diese der Ausdruck der Schwarze das allgemein 
verständliche Zeichen, so muss eine Gewöhnung, also eine Me- 
chanisierung vorausgegangen sein, und bei der Mechanisierung 
werden auch die erschlossenen Vorstellungen im Inhalte der 
Bezeichnung mitgedacht sein. 

Daneben haben wir ganz gleiche Bildungen, die durch 
den Gebrauch nicht mechanisiert sind z. B. der Gute, d. h. der 

6* 


84 

Mensch, dessen einzig unterscheidendes Merkmal die Sittlichkeit 
ist, dCLs Schöne, das Grüne, das Warme, d. h. Alles was schön, 
grün, warm ist. Hier wird zu der angegebenen Eigenschaft 
ein anderes Merkmal nicht mitgedacht, wie dies bei der 
Schwarze, der Neger, der Rote, ebenso bei honum das Gut, in- 
signe das Abzeichen geschieht. Die mitgedachten Merk- 
male können nur durch Ergänzung in den Inhalt der 
Bezeichnung aufgenommen werden. Ergänzung aber 
kann nur aus den Vorstellungen erfolgen, welche den 
höchsten Grad der Associierbarkeit besitzen. Wir sahen 
oben, dass diesen Vorzug der Associierbarkeit 1. die in der An- 
schauung gegebenen, 2. die in der Erinnerung enthaltenen Vor- 
stellungen besitzen, welche eben oder vor kurzem bewusst ge- 
wesen sind; dazu kommen 3. die in der Situation des Bewusst- 
seins enthaltenen Vorstellungen. Aus diesen muss daher die 
Ergänzung geschöpft sein. Und diese Ergänzung bleibt not- 
wendig für jeden einzelnen Fall, wenn das Wort auch in 
anderer Bedeutung möglich ist, und das wird bei den meisten 
Worten der Fall sein. So kann der Schwarze auch vom 
Schornsteinfeger oder dem Teufel oder einem schwarzgeklei- 
deten Manne gesagt sein. Welche Bedeutung gemeint sei, soll 
der Zusammenhang ergeben, sagt man, d. h. eben jene Vor- 
stellungen der Anschauung und Erinnerung, welche das grösste 
Associationsvermögen besitzen. 

Ohne Bedenken wird daher der Schwarze vom Africaner 
verstanden, wenn vor dem Sprechenden und Hörenden ein 
solcher steht, durch Ergänzung aus der Anschauung. 
Ebenso sicher wird die Bezeichnung auf den Neger bezogen, 
wenn wir ein Kapitel lesen, dessen Ueberschrift lautet : Africa^ 
und dessen Anfang heisst: die Schwarzen sind ein kräftiger und 
bildsamer Stamm. Hier also haben wir die Ergänzung aus 
der Erinnerung an das Land Africa gezogen. Ohne irgend 
einen derartigen Hinweis, dass Africa und der Schwarze ver- 
bunden werden sollen, schliessen wir es aus der Möglichkeit 
Africa und der Schwarze auf einander zu beziehen. 

Diese Art der Ergänzung ist für das zusammenhängende 
Sprechen von grösster Wichtigkeit. Africa ist logisch das Sub- 
ject, weil die Exposition, zu die Schwarzen^ und doch wäre es 
unmöglich beide Begriffe grammatisch als Subjeet und Prädicat 


85 

zu verbinden. In der Verbindung würde es etwa heissen: die 
Schwarzen in Africa, Und doch ist logisch das angegebene 
Verhältniss vorhanden, weil es uns möglich, ja notwendig ist, 
bei der Landesvorstellung die Vorstellung der Bewohner mit- 
zuempfinden. Genau genommen ist also die bei Africa mit- 
gedachte Vorstellungsgruppe ^ewöÄwer Africas logisches Subject. 
So werden also fest an eine bezeichnete Gruppe as'so- 
ciierte Vorstellungen, trotzdem sie nicht selbst be- 
nannt sind, wirksame Factoren fttr Sprachverständniss 
und Sprachbildung. 

Diese Thatsache ist zu wichtig, als dass.ich ganz an ihr 
vorüberginge. Wir sagen z. B. das Feuer im Ofen brennt nicht, 
wir denken, in diesem Falle als Subject nicht die erwärmende 
Flamme, sondern meinen, das im Ofen vorhandene Brenn- 
material steht nicht im Brand, an sich ist jener Ausdruck Wider- 
spruch in sich selbst, — durch die an Feuer associierten 
Gruppen wie Brennmaterial, Holz, Kohlen erhält die Verbindung 
einen guten Sinn. Ebenso ungenau ist der Ausdruck die 
Lampe anzünden, gemeint und verstanden wird die associierte 
Gruppe der Docht; den Cicero lesen, mitgedacht sind die Schrif- 
ten, die ganze Stadt trauert natürlich die Bewohner ; eine Tasse 
trinken, ein Glas Eis essen, einen Teller Suppe essen. Sagen 
wir ein Haus vergolden, so meinen wir nur die Teile, wo so 
etwas zu geschehen pflegt ; dagegen ist das Mittaghrod, Abend- 
hrod nicht blos das Brod, was mir zu dieser Zeit essen, ge- 
meint sind auch die übrigen Speisen; laden wir zu einer Tasse 
Thee ein, so weiss der Eingeladene genau, dass ausserdem 
noch manches andere gereicht wird. Bei puppis denkt der 
Römer das ganze Schiff mit, wie bei Kiel, Steuer. Wir sehen 
also, dass die poetischen Formen des pars pro toto und totum 
pro parte mit der Thatsache zusammenhängen, dass wir die be- 
kannten Gruppen nie einzeln, sondern in Verbindung 
mit einer Reihe associierter Gruppen denken. 

Diese Andeutungen mögen genügen, um die Wichtigkeit 
dieser Vorstellungscomplicationen flir das Sprach- 
verständniss darzuthun. Wir kehren zu der abgebrochenen 
Gedankenreihe zurück. 

Ich erinnere weiter an die oben behandelte Thatsache; 
habe ich von Rom gesprochen, so wird der nachfolgende Satz : 


86 

die Stadt lag am Tiber sieher von Rom verstanden, und die 
Genasbezeiehnnng ergänzt sieh aus der Erinnerung an die 
Individaalvorstellung Rom. Das ist nur möglieh, wenn ich die 
nene Bezeichnung Stadt als Prädicat auf die vorherbezeichnete 
Vorstellung beziehe. -— In dem Beispiele : Cäsar wurde an den 
Iden des März ermordert, er war in die Curie gegangen, ist er 
ein Prädicat zu dem in der Erinnerung vorhandenen Cäsar. 
Diese Beziehung auf den Cäsar würde auch gemacht werden, 
wenn der zweite Satz begönne : dieser Mann, selbst dann, wenn 
ausser dem Sprechenden und Hörenden noch ein Mann in der 
Anschauung gegenwärtig wäre. 

Und doch mtisste der Ausdruck notwendig auf die gegen- 
wärtige dritte Person bezogen werden, wenn nicht Cäsar vor- 
her erwähnt wäre. So prävaliert also ein Moment der Er- 
innerung vor einem Momente der gegenwärtigen Anschauung. 
— Warum ? — Weil der Sprechende von Cäsar eine Mitteilung 
macht, diese muss einen Wert für ihn haben, so schliessen wir, 
also wird die mit dem Wertgeflihle verknüpfte Person bei ihm 
im Vordergrunde des Bewusstseins stehen. — Ohne diese Be- 
ziehung und die daraus folgende Ergänzung wären wir nicht 
im Stande, zwei Sätze in ihrem Zusammenhange zu verstehen. 
Doch diese Beziehung, das ist festzuhalten, ist nichts 
weiter als eine zwar nicht ausgesprochene, aber mit- 
gedachte Prädicierung des zweiten Ausdrucks vom 
ersten, also z.B. der Schwarzen von Africa. 


VII. 

Eine dritte Art der Ergänzung erfolgt erst nach- 
träglich, also durch nachfolgende Correctur oder Li- 
mitation einer zuerst allgemein und ungenau bezeich- 
neten Vorstellungsgruppe. Wir hören den Satz: die 
Schwarzen wohnen in Africa. Die mehrdeutige Bezeichnung 
die Schwarzen wird durch den Zusatz wohnen in Africa ein- 
deutig. Der psychische Process verläuft jedoch so schnell, d. h. 
so mechanisch, dass wir uns der Veränderung der zuerst bei 
dem Subject vorgestellten Gruppe gar nicht bewussten werden. 
Doch man denke sich ganz langsam gesprochen: Die Roten — 


87 

fiäben — wider — einen Putsch in Paris gemacht^ da empfinden 
wir die Spannung und Erwartung, was unter den Rolen zu 
verstehen sei. D. h. wir sehen voraus , dass eine bestimmte 
Species aller der rot zu nennenden Mensehen vom Sprechenden 
gemeint sei, wissen aber nicht welche. Haben wir das Prä- 
dicat gehört, und sind wir mit dem politischen Jargon bekannt, 
so werden sofort die nötigen Ergänzungen erschlossen, und uns 
steht das limitierte Vorstellungsbild vor der Seele. Es ist dies 
der Vorgang, den wir in der ersten Abhandlung andeutend 
benannten die Exposition des logischen Subjects durc|h 
das logische Prädicat. Wir bemerkten oben, dass diese 
Exposition da eintritt, wo unter einer Mehrzahl möglicher Be- 
deutungen eine bestimmte zu wählen ist. 

Folgen wir dem Vorgange noch etwas weiter! — Bei dem 
vereinzelten die Roten suchen wir also in unserem Vorstellungs- 
schatze nach einer Gruppe, auf die wir den Ausdruck beziehen 
können, d. h. von der wir den Ausdruck prädicieren können, 
= die und die Klasse von Menschen sind die Roten. Die ge- 
suchte Gruppe ist das logische Subject zu dem ausgesprochenen 
Prädicate, die Frage unseres Inneren würde formuliert lauten: 
was ist das, die Roten? Folgt aber das Prädicat: haben in 
Paris einen Putsch gemacht schnell jenem grammatischen Sub- 
jecte nach, so werden wir uns weder der Frage noch der ent- 
sprechenden Antwort bewusst, weil das Satzverständniss für 
uns in Folge der Gewöhnung mechanisch verläuft. Anders, 
wenn wir einer kantischen Deduction mit kantischen Termini 
zuerst entgegentreten, da fragen wir uns: was ist das transcen- 
dental? und besinnen uns darauf, d. h. wir geben uns darauf 
Antwort. Doch haben wir uns eingelesen, so fungiert auch 
die Transcendenz, die Aesthetik, Aprioriiät u. s. f. mit mechani- 
scher Sicherheit. Genau so geht es uns bei dem Auffassen eines 
fremdsprachlichen Satzes, wenn uns die Sprache nicht mecha- 
nisch geläufig ist. 

Wir suchen also nach der Vorstellungsgruppe, die mit dem 
Sprachworte zu verbinden ist, und das thun wir, weil der 
Sprechende zu uns spricht, also müssen wir uns doch in 
imserem Willen angeregt fühlen, die den Worten entsprechenden 
Vorstellungsgruppen in uns zu producieren, sonst würden die 
Laute des Sprechenden ebenso eindruckslos an uns vorüber- 


88 

rauschen, wie die Menge von Vorstellungen, welche gleichzeitig 
mit ihnen in unsere Seele treten. Somit empfinden wir 
die Worte des Sprechenden als Imperativ, und auch der 
Sprechende bedient sich der imperativischen Formen, um ge- 
hört zu werden, wie: denke dir mal, stelle dir einmal vor, überlege 
einmal; — er gebraucht den Vocativ, — ein Imperativ = merke 
auf, höre zu. Er gebraucht das Demonstrativum, d. h. ein laut- 
liches Zeichen der Aufforderung, einem Gegenstande oder einer 
Person die Aufmerksamkeit zuzuwenden; dazu macht er dem 
Anschauungsbilde gegenttber den Gestus hinzusehen oder hin- 
zuhorchen, z. B. dieses Bild! er lässt darauf vielleicht ein 
schön! herrlich! hören. Der Hörende schaut hin, sieht das 
Bild und fasst schön als Prädicat zu dieses Bild, 

Man denke sich diese Wortfolge mechanisiert, so erhalten 
wir den einfachen Satz: dieses Bild (ist) schön. Sehr deutlich 
zeigen die romanischen Sprachen, wie die Demonstration ur- 
sprünglich ein imperativischer Satz war, der in der mechani- 
sierten Rede zum Satzteile wurde. Französisch ce livre est 
beau, — ce ist entstanden aus lateinisch ecce oder ecce id, 
also zunächst ecce id, liber, bellus est. Und wie verhält sich 
ecce und id zu einander ? Jedes ist eigentlich ein selbständiger 
Satz für sich = sieh nur mal, dies, also zwei Imperativsätze. 
Von dem id wird nun wieder in einem selbständigen Satze 
liber als Prädicat ausgesagt, = es ist ein Buch, und von dem 
so mit einem Prädicat versehenen Anschauungsbilde wird ein 
neues Prädicat ausgesagt = bellus est. 

Genau so verfährt der elementare Anschauungsunterricht: 
dem Kinde ist ein Bild zur Beschreibung vorgelegt, z. B. ein 
Baum. Es wird nun beschrieben: das ist ein Baum, der ist 
grün, darauf sind Aepfel, die werden abgenommen ml. s. f. Für 
den Erwachsenen, der die graphischen und colorativen Zeichen 
des Malers mit mechanischer Sicherheit recognosiert, würde 
man kurz sagen: Die Aepfel dieses grünen Baumes rverden ab- 
genommen. Die Prädicate sind zu Attributen geworden. 

Somit liegt in den sprachlichen Worten und 
Zeichen zunächst nichts, was seiner Natur nach 
die Substanz ausdrückte, sondern das Wort, an 
das wir das sprachliche Verständniss der Sub- 
stanz anknüpfen, ist ein Imperativ, der von uns 


89 

Änfmerksamkeit und Beobachtung fordert, and 
diese aufmerksame Beobachtung des Auges oder 
Ohres führt ein Anschauungsbild in das Bewusst- 
sein, dieses Anschauungsbild ist die Substanz. 

Doch dieser psychische Process des Verständ- 
nisses verläuft schliesslich so schnell, dass wir 
die Factoren nicht mehr empfinden, sondern dass 
uns die Demonstration der Anschauung gegenüber 
als congruente Substanzbezeichnung erscheint. 

Es erschliesst sich so ein wichtiges Problem 
der Sprachgeschichte. Man hat längst erkannt, dass 
das masculinale und femininale -s im Nominativ Singularis der 
indogermanischen Sprachen, z. B. in magnus, ayad-o-g, goth. 
fisk-s nichts weiter sei als das Demonstrativum sa, das im 
gothischen sa, sd im griechischen 6, i} noch vorliegt. Die Be- 
deutung mag der unseres nhd. der entsprochen haben, dyad-og 
würde dann also sein = ^m^ der, d.h. gleich dem Satze: der 
ist gut. 

Das neutrale i in illud oder illut, quod, quid, id, hod-ce 
wie es vorliegt in hoc, gothisch thata und griechisch mit Apo- 
kope im Auslaut in z6, ö, xovro, exetvo ist gleichfalls ein De- 
monstrativstamm, und wie der Artikel des Griechischen und 
Gothischen beweist, nicht für das persönlich handelnde Subject 
im Gebrauche gewesen, — daher griech. m. f. b, ^ goth. sa, so 
aber neutral ro thata. Ein iUud würde also gleichfalls ein 
Satz gewesen sein : jenes das d. h. jenes ist das. Das -n der 
schwachen deutschen Adjeetiva ist wohl gleichfalls ein demon- 
strativer Stamm, der im lateinischen an u. s. f. noch deutlich ist. 

Ferner geht ein Teil der Suffixe wie das griechische -ß-sv, 
'd-t, 'de, -öS mit Sicherheit auf demonstrative Pronomina zurück. 

Also beweist die Sprache in ihrer Bildungsweise, die uns 
die mechanisierten Reste alter Sprachstufen erhalten hat, dass 
das Wort ein Satz war, dessen bedeutungsvolles 
Element, das Prädicat, im Stamme erhalten ist, 
dessen Substanz aber in den Endungen durch De- 
monstration angedeutet wird. Danach müssen wir auch 
schliessen, dass das Adjectivum, welches mit denselben Sub- 
stanzzßichen versehen ist, wie das Substantivum, ursprünglich 
gleichfalls ein Satz war, der sich zum Substantivum conden- 


90 

sierte oder comprimierte. Der Uebergang vom Substantiv zum 
Adjectiv vollzieht sich dann in derselben Weise wie bei victor 
exercitus, 

vm. 

Nur ein Unterschied besteht zwischen jenen alten 
indogermanischen Substantivbildungen wie «r^pcö- 
jio-q, und den modernen wie der Gute; in den alten Bil- 
dungen folgt der die Substanz andeutende demonstrative Im- 
perativ nach, in den jüngeren Bildungen geht er voran. Dies 
ist genau derselbe Unterschied, den wir zwischen der Bildung 
rid^rj-lii und ich stelle fanden. Die Bildungsweise mit nach- 
folgendem logischen Subjecte nannten wir die nachträgliche 
Correctur, da erst aus Rücksicht auf die Verständlichkeit für 
den Hörenden nachträglich das logische Subject mitgeteilt wird- 

Wir finden im Indogermanischen zwei grosse 
Klassen von Substanzen unterschieden: 1. die per- 
sönliche, 2. die unpersönliche. Die persönliche Sub- 
stanz zerfällt wider naturgemäss in eine männliche und 
eine weibliche. Somit ist die Empfindung, welche man 
bei der persönlichen Substanz hat, ungefähr gleich dem Sub- 
stantiv Person, Mensch und die unpersönliche dem Substantiv 
Ding, Die persönlichen substantiellen Erscheinungen gliedern 
sich allmählich wider nach den verschiedensten Gesichtspunkten 
in eine grosse Menge von Klassen und Gruppen, die gleichsam 
Unter Substanzen genannt werden können, denn unter dem 
rein psychologischen Substanzbegriflf dürfen wir uns nicht den 
logisch-metaphysischen qualitätslosen Substanzbegriflf denken, 
— so enthält ja die männlich-persönliche und die weiblich- 
persönliche Substanz gleichfalls schon eine Menge von Quali- 
täten. Die psychologischen Substanzen sind stets 
mit Qualitäten gedacht, selbst das ganz unbestimmte 
Neutrum z. B. in Fällen, wo wir in der Ferne eine Erscheinung 
sehen, die wir noch nicht recognoscieren können, sie ist uns 
ein etwas^ wir fragen: was ist das^ also neutral. Qualitäten 
hat auch diese Erscheinung wie alle Erscheinungen. Ent- 
sprechend sind die Untersubstanzen, also die sprachlichen 
Substantiva , Genus- und Specialbezeichnungen , z. B. Mensch, 
Mann, Tier, Löwe, Ding, Baum, Haus, Berg u. a. 


91 

Hat die Sprache auf dem angegebenen Wege 
die Substanzbezeiehnung durch Ergänzung ge- 
wonnen, also Substantiva durch mechanisierte 
Sätze erhalten, so können diese Substantiva selbst 
wieder vertretend für die allgemeinste Substafnz- 
bezeichnung, durch Demonstration, eintreten, so 
wird gebildet neben der Gute, der gute Mensch, das schwarze 
Tier, die grosse Stadt u. s. f. 

Die Stellung der Substanzbezeichnung hinter 
dem Adjectiv scheint sehr alt zu sein, man vergleiche 
das Griechische und Deutsche; und dies ist dieselbe Stellung, 
welche das Demonstrativ in dyad-og einnimmt. Auch die Ver- 
bindung die grosse Stadt hatte ursprünglich die Bedeutung 
eines Satzes, gebildet nach dem Schema der nachträglichen 
Correctur, das Adjectivum war ursprünglich das Prädicat, das 
Substantivum das Subject. Ganz entsprechend verfährt auch 
die indogermanische Composition, der substantielle Begriff folgt 
nach, der prädicative geht voraus: so in Batmann, Hausthür, 
parricida, Edelmann, Grossvafer, magnanimus u. a. Das vorauf- 
gehende Prädicat enthält stets die limitative Bestimmung, wo- 
durch die nachfolgende Genusbestimmung beschränkt wird, der 
erste Bestandteil entspricht der logischen differentia specifica, 
der zweite Bestandteil dem logischen genus proximum. 

Diese alte Form des Satzbaus, die sich uns auch in der 
Apposition zeigte, entspringt dem lebhaften Interesse des Spre- 
chenden, das eigentlich Wichtige und Wertvolle auszusprechen 
und nimmt auf die Möglichkeit des Verständnisses wenig Rück- 
sicht. Je fortgeschrittener und ruhiger das gesammte Denken 
und die ethischen Formen des Verkehrs werden, um so mehr 
wird die Rücksichtnahme auf den Hörer zunehmen. Es trat 
daher im Allgemeinen die bekannte Satzform ein : zuerst Subject 
dann Prädicat. Die Wortordnung der alten Verknüpfungsweise 
war jedoch mechanisiert, blieb also erhalten, aber man empfand 
sie nur noch als congruentes Mittel, eine limitierte, substan- 
tielle Gruppe zu bezeichnen, nicht mehr als Mittel zur Bezeich- 
nung der sich entwickelnden Vorstellungsreihe eines Satzes, 
und in dieser Function, also als attributive Verbindung, hat 
sich die Form gehalten. 

Selbstverständlich konnte die Mechanisierung auch nach 


92 

der Feststellung dieser Wortordnnng prädieative Satzverbin- 
dungen in derselben Weise wie früher ergreifen, und so ist das 
griechische ovrog b avriQ zum Substanzausdruek mit Attribut 
mechanisiert, nachdem das Griechische seine Unterscheidung 
von^Prädieat und Attribut schon festgesetzt hatte. Der Artikel 
beweist in dieser Verbindung wie in der mit tTcelvoq, oöe, jcäq 
(ganz, all), dass o ccvjjq Subject, das Pronomen Prädicat war. 
Ebenso ist es dem Adjectivum :^oXvg ergangen, das zwar stets 
prädicativ gestellt, aber augenscheinlich auch attributiv em- 
pfanden wurde. 

Ging also die Mechanisierung weiter und ergriff auch Ver- 
bindungen des Adjeetivs mit dem Substantiv, die nach der 
geregelten Wortstellung prädicativ sein sollten, so konnte diese 
Form neben der alten, nach dem Schema der nachträglichen 
Correctur, Platz greifen, und beide Arten der Stellung, konnten 
neben einander für das Attribut gebraucht werden, so Deutsch 
der Ritter gut, Lateinisch die offenbar willkttrliche Stellung des 
attributiven Adjeetivs. 

Ist die obige Ausführung in ihren Grundzttgen richtig, so 
muss das psychische Resultat von einer grösseren 
Reihe prädicativer Urteile über eine Substanz, also 
z. B. über eine Person, ein Tier oder ein Haus, für den Hörer 
stets das sein, dass sich all diese Prädicierungen, 
welche ausgedehnte Vorstellungsreihen geben, im Bewusst- 
sein zu einem ruhenden Bilde, d.h. zu einer Gruppe 
von Vorstellungen comprimieren, in die alle jene Prädi- 
cate nun als inhärierende Attribute eingegliedert sind. Und 
das ist allerdings der Fall. Man denke sich z. B. wir lesen 
die Beschreibung eines Tieres, wir hören die Erzählung von 
einer historischen Person, oder die Charakteristik eines poeti- 
schen Helden, — was tragen wir am Schlüsse der Leetüre, 
am Schlüsse der Mitteilung in unserem Bewusstsein? — Nicht 
mehr die sich erst zeitlich vollziehenden Reihen von Prädi- 
cierungen, sondern eine feste Gruppe, in der alle Züge, alle 
Prädicate als anhaflkende Eigenschaften, also als Attribute auf- 
genommen sind. Ebenso geht es bei dem einzelnen Prädicats- 
satze z. B. der Mensch ist gut, das psychische Resultat dieser 
Reihe für den Hörer ist die Gruppe der gute Mensch. Die 
Sprachreihen einer ausführlichen Charakteristik sind jedoch zu 


98 

lang, als dass sie mechanisiert werden könnten, sehr leicht je- 
doch ist dies bei den kleineren Satzreihen, besonders solange 
sie einer bestimmten Verbalform entbehren. Diese erregen 
dann nnr die Grappe im Be^usstsein und werden als con- 
gmente Mittel zum Ausdruck einer mit Attribut versehenen 
Substanz empfunden. 

Die ganze obige Ausführung basierte auf der Demonstration 
eines gegenwärtigen Anschauungsbildes; aber die Substantiva 
der Gute, der Schwarze u. s. f. sind auf die gegenwärtige An- 
schauung nicht beschränkt. Doch wir sahen am Schluss der 
ersten Abhandlung, dass das Erinnerungsbild dieselbe Bedeutung 
für die Ergänzung eines Prädicats hat, wie das Anschauungs- 
bild. Ist z. B. soeben ein Vogel vorüber geflogen und nicht 
mehr sichtbar, oder ist der Vogel eben genannt, so beziehen 
wir den Hinweis dieser, der, er mit derselben Sicherheit auf 
die Gruppe Vogel, als wäre sie anschaulich gegenwärtig. Wir 
sahen an jener Stelle femer, dass auch das feste Bewusstseins- 
bild die gleiche Kraft der Ergänzung hat, dies Bewusstseins- 
bild konnte individuell und generell sein. Ist das Bewusst- 
seinsbild einer grösseren Klasse von Individuen gemeinsam, so 
wird es unter so vielen verschiedenen individuellen Verhält- 
nissen in das Bewusstsein getreten sein, dass diese sich gegen- 
seitig hemmen, und nur das Abstractum im Bewusstsein lebendig 
ist; dieses Abstractum ist aber eben das generelle Bewusst- 
seinsbild. Sage ich z. B. der Tote so wird bei einer grösseren 
Sprachgemeinschaft unmöglich an ein bestimmtes gestorbenes 
Individuum gedacht werden, was innerhalb eines kleinen Kreises, 
z. B. einer Familie, sehr wohl möglich ist, — sondern an den 
toten Menschen überhaupt. 

Auch in diesem Falle hat die Demonstration der die Func- 
tion Imperativisch den Hörer zu veranlassen ein Bild bewusst 
zu machen, hier allerdings ein Bild, das als festes Erinnerungs- 
bild in ihm vorhanden ist, aber augenblicklich nicht im Vorder- 
grunde seines Bewusstseins lebt. Dies so bewusst gemachte 
Bild kann natürlich von dem abstracten Genusbilde nicht ver- 
schieden sein. Die Hinweisung selbst kann also nichts Neues 
geben, wie der Hinweis auf ein Anschauungsbild, an dem die 
individuelle Eigentümlichkeit neu sein kann, diese Hinweisung 
allein kann also auch nicht mehr als Frädicat empfunden werden. 


94 

Der Hinweis auf ein festes Bewusstseinsbild ist mögücli, 
insofern diese Gruppe etwas Bekanntes ist, wie der Gute, d. h. 
die von allen Hörern ausgesonderte Gruppe mit diesem Namen. 
Aber der Hinweis an sich ist nicht im Stande, diese Gruppe 
bewusst zu machen, das blosse der ist ausser Stande, die 
Gruppe guter Mensch zu reproducieren, wenn sie nicht schon 
unmittelbar vorher genannt ist. Bei dem gegenwärtigen An- 
schauungs- und Erinnerungsbilde ist diese Möglichkeit aller- 
dings vorhanden, wie wir sahen ; denn steht ein Schwarzer vor 
uns, so kann der Hinweis der uns dieses Bild in das Bewusst- 
sein bringen. Hören wir also ohne Anschauungs- und Er- 
innerungsbild der Gute, so denken vnr bei dem Artikel noch 
nichts Klares, — Klarheit erhalten wir erst, durch Gute, und 
somit muss uns nun Gtite viel vrichtiger erscheinen als das 
Pronomen. Dieses lehnt sich daher in unserem Bewusstsein 
vorwärts weisend an Gute an, vorwärts weisend offenbar in 
dem Sinne, als in uns die Erwartung erregt vdrd, dass dieses 
der erklärt oder illustriert werden soll. So wird es verständ- 
lich, dass eine Folge von Sätzen der — Gute — ist gestorben 
zu einer Einheit vereinigt werden kann auf dem Boden der 
Situation des Bewusstseins. Dem Anschauungsbilde wäre dies 
kaum möglich gewesen, denn hier hätte das geschaute Bild 
selbst die Illustration zu der abgegeben. 

Somit wurde also das demonstrative Pronomen auf 
dem Boden der Situation des Bewusstseins wegen 
seines geringen Illustrationswertes dem nachfolgen- 
den Prädicatsworte untergeordnet und das Pronomen 
musste proklitisch werden, d. h. sich zum Artikel wan- 
deln. Folgte dagegen das Pronomen nach, so musste fttr das 
Verständniss das erste Wort die entscheidende Bedeutung haben, 
das Pronomen wurde hier enklitisch. So entwickelt 
sich also die Betonung der Mensch, des oderV Menschen u. s. f. 
und auf der andern Seite avB^Qcajto-g, 

Somit ist also die Art, wie wir die sprachliche 
Aeusserung verstehen, entscheidend für den Illustra- 
tionswert der einzelnen Satzteile und damit für die Stärke 
des Tones und. das Tempo, mit dem wir diese Teile aus- 
sprechen und damit für die Lautgestaltung des Wortes. 
Derselbe Vorgang der Vorlehnung war uns schon bei der Ent- 


95 

atehung des Relativsatzes entgegengetreten: Caesar venit, — 
qui? — Ruhiconem transierat; das ursprünglich fragende Wort 
hat gar keinen Illustrationswert, erregt aber die Erwartung auf 
eine Illustration, die Folge ist die proklitische Hinlehnung auf 
die eigentliche Illustration, d. h. den nachfolgenden Antwort- 
satz; ebenso: ich glaube das, — er kömmt, das für die Illu- 
stration wertlos gewordene das lehnt sich vor an die Illustration 
er kömmt, wir schreiben es in diesem Falle dass. 


IX. 

Zur Vervollständigung des Gesagten ist es notwendig, 
noch eine andere Klasse von Substantivbildungen ins Auge zu 
fassen, deren Wesen gleichfalls durchsichtig ist. Die moder- 
nen Sprachen können wie die griechische von einem 
jeden Worte durch Vorsatz des neutralen Artikels 
ein Substantiv bilden: to Jtov, ro (laXa, ro jcoaov, das 
Ach, das Klingling, das Pfui, das Wenn, das Aber, das Kommen 
u. s. f 

Pfui ist Empfindungslaut des Ekels, das Pfui bezeichnet 
die Thatsache, dass Pfui gesagt wird, ebenso das Ach die 
Thatsache des Achsagens, und es lässt sich sagen: da war 
viel Ach uyid Weh. Das Wo, Wenn, Wie, Aber u. s. f bezeichnet 
das Wenn, Wo sagen oder die Situation und die Verhältnisse, 
unter denen man wo, wie, aber gebraucht. Das Morgen, das 
Heute, das Gestern ist die unbestimmte, aber dem Hörenden 
bekannte Substanz, von der man morgen, heute, gestern sagen 
kann. 

Hat Jemand gesagt: höre ich etwas, so werde ich es dir 
schreiben, so kann ihm geantwortet werden: höre ich etwas, 
das ist ein schlechter Trost. Jemand ist von einem Anderen 
mein lieber Freund genannt, er kann ihm antworten : mein lieber 
Freund das verbitte ich mir oder das, dein (jenes, dieses) mein 
lieber Freund verbitte ich mir, oder ach was ! mein lieber Freund. 
Der zuerst den Ausdruck gebraucht hat, erkennt in der Ant- 
wort seine eigenen Worte wider und versteht darunter: wenn 
du mich mein lieber Freund nennst, so verbitte ich mir das. 

So kann eine jede lautliche Aeusserung des Menschen 
als Zeichen gewählt werden, um damit an die Situation zu 


96 

erinnern, nnter der diese Aensserung geschah. Gebrauchen 
viele Menschen dieselben Laute unter gewissen Verhältnissen, 
so erinnert selbstverständlich jenes Zeichen an die Situation, 
in der viele Menschen oder der Mensch überhaupt diese Laute 
hören lässt Vielen Menschen gemeinsam sind auch auf den 
primitivsten Stufen der Entwicklung die Reflexlaute, wie das 
Weinen, das Lachen u. a. Also können diese Beflexlaute das 
Mittel werden, die Situation des Lachens, Weinens, Stöhnens, 
Aechzens u. s. f. dem Hörenden in das Bewusstsein zu rufen. 

Nur muss der Hörende erkennen können, dass diese Re- 
flexäusserungen nicht eigene Empfindungsreflexe des Sprechen- 
den sind, sondern Zeichen und Mittel zum Ausdruck Air eine 
fremde Empfindung. Verstanden kann der Gebrauch der Reflex- 
laute als Nachahmung der Laute eines anderen höchstens wer- 
den, wenn die übrigen Zeichen fUr den Empfindungszustand 
des Sprechenden auf eine ganz andere Empfindung weisen als 
der Reflexlaut, z. B. wenn gelacht wird mit gerunzelter Stirn 
und feindlichem Auge oder drohender Faust, oder das Weinen 
nachgeahmt wird fröhlicher Miene. Auch wenn diese Reflex- 
nachahmung mitten im Gespräch eintritt, und dieses selbst 
keine Motivierung für einen entsprechenden Stimmungswechsel 
bietet, — auch dann wird allenfalls die Nachahmung erkenn- 
bar sein. 

Doch auch in diesen Fällen wird der Hörer Schwierig- 
keiten, sogar grosse Schwierigkeiten finden in dem Lachen 
oder Weinen des Sprechenden die Nachahmung eines fremden 
Lachens oder Weinens zu erkennen. — Einen sehr bedeutungs- 
vollen Wink gibt uns die lebendige Sprache, wie wir uns 
die Erkennbarkeit einer Reflexäusserung als Nach- 
ahmung zu denken haben: es hat Jemand gerufen ach mein 
Gott und ein anderer persifliert diesen Ausdruck, so übertreibt 
er absichtlich den AflFectton, mit dem die Worte gesprochen 
sind. So suchen sich die Kinder gegenseitig dadurch zu ärgern, 
dass sie den AflFectton, das Weinen, die Verwunderung u.a. 
von anderen Kindern tibertreiben und unschön nachahmen. 
Damit ist eine DiflFerenz zwischen dem Originale und der Nach- 
ahmung geschaflfen, aus der vom Hörenden sofort die Verhöhnung 
erschlossen wird. Die absichtliche Entstellung der Original- 
laute ist hier das Mittel 1. jene Laute als fremde Laute dar- 


97 

zastellen, 2. ein Urteil über dieselben, also ein Prädieat über 
dieselben zum Ausdrneke zu bringen. 

Daneben haben wir einen andern Fall: Jemand hat ge- 
rufen ach, mein Gott, ein anderer gewantwortet: ja, ach mein 
Gott — das kann gar nichts helfen. Der Sprechende wird 
meist oder doch oft, wie schon in der ersten Abhandlung er- 
wähnt wurde, den Empfindungston, mit dem jener Ausruf ge- 
sprochen ist, gar nicht widergeben. So ist, wie wir sahen, der 
Ausruf ach als Substantiv ganz ohne Empfindungston, ebenso * 
wie das Vaterunser ganz ohne Vocativton. 

Femer ist es auch begreiflich genug, dass die Empfindungs- 
töne dann nur ungenau wiedergegeben werden, wenn der 
Sprechende nicht selbst die entsprechende Empfindung hat, 
sondern eine andere, und es ist nichts natttrlicher, als dass in 
diesem Falle der nachahmende Empfindungston ersetzt wird 
durch den Ton, welcher der lebendigen Empfindung des Spre- 
chenden gemäss ist. Wir haben es hier offenbar mit dem Er- 
satz einer Empfindungssituation durch eine andere zu thun. 

Diese für das Sprachleben äusserst wichtige Erscheinung 
bedarf einer kurzen Erläuterung. A freut sich und B berichtet 
die Thatsache, da sind also zwei persönliche Gefühls- und 
Bewusstseinssituationen vorhanden, von A und von B. Hat A 
in der freudigen Stimmung Worte gesprochen, so sind diese 
erwachsen auf seiner Empfindungs- und Bewusstseinssituation, 
das Referat von B erwächst dagegen auf der seinen. Eine 
genaue Wiedergabe jener ersten Situation und der in ihr ge- 
thanen Aeusserung wttrde erfordern, dass B sich ganz in die 
Situation von A versetzt, was sehr schwierig ist, und eigentlich 
auch, dass er genau die specifisch der Individualität von A 
entsprechende Form der Aeusserung wiederholte, z. B. die Höhe 
der Stimme, das Tempo des Sprechens n. a., und dies ist noch 
schwieriger. Die Forderungen an das Referat von B sind also 
genau dieselben, die man an einem Schriftsteller stellt, der 
eine Handlung durchaus objectiv getreu darstellen will, und 
ausserdem an einen Schauspieler, der z. B. eine historische 
Person wie Friedrich den Grossen getreu copieren will. Dies 
letztere ist überhaupt vollständig nicht möglich, und wie schwer 
das erstere ist, beweist der Gang der Litteratur, denn wirklich 
und ohne Zuthat der eigenen Individualität die Handlung 

7 


98 

anderer Personen, besonders solcher, die vor uns gelebt haben, 
darzustellen gelingt annähernd wohl erst der neuesten Zeit 
Frühere Stufen aller Zweige der Litteratur beweisen, dass die 
Situation, über welche referiert wird, mit der des Referierenden 
vermischt ist. Die homerischen Dichtungen geben ein Bild der 
historischen und culturhistorischen Situation, in der sie ent- 
standen, nicht der Zeit, in der die erzählten Handlungen spielten, 
die Helden und Personen der Lucretiaerzählung in der Kaiser- 
Chronik sind Personen des 12. Jahrhundert, die des Nibelungen- 
liedes Personen der Grenze des 12. und 13. Jahrb., und so geht 
es weiter bis auf die griechischen Helden in Alongeperttcken. 
Nicht frei von solchen Anachronismen ist Shakespeare und 
Goethe. 

Genau derselbe Vorgang liegt uns vor bei der einfachen 
Wiedergabe von Sprachäusserungen fremder Personen durch 
eine andere Person. An jenen grossen Abweichungen lässt 
sich die Differenz nur deutlicher erkennen; doch auch das 
Resultat dieser einfachen Wiederholung zeigt deutlieh genug 
die Stärke der Entstellung, zu der das Referat führen kann, 
dies Resultat ist die indirecte Rede. Diese war natürlich nicht 
sofort fertig, sondern ihre Formen entwickeln sich allmählich, 
je nach der Stellung der referierenden Person wandeln sieh 
die Personenbezeichnungen z. B. die II. Person zur I. oder die 
I. zur II. oder HI., die Tempora und Modi verschieben sich. 

Durch solche in ihrem Wesen der Lautgebung 
gleichen Entstellung kann der Reflexlaut einer Per- 
son zum Mittel einer anderen Person werden, die 
Lage, Situation und Empfindung anzudeuten, unter 
der der Reflexlaut zunächst gebraucht war. 

Ein ganz ähnlicher Vorgang zeigt sich bei den sehall 
nachahmenden Sprachmitteln. Dass diese in der Sprache 
vorhanden sind, ist sicher, in welchem Umfange, wird sieh 
schwerlich je feststellen lassen, jedenfalls wollen wir die Frage 
nicht untersuchen. So sind schallnachahmend in der Kinder- 
sprache ohne Zweifel Muh oder Muhkuh, fVauwau, Haufhauf 
oder Haufhund, PUepile, Tucktuck^ es sind Wortbildungen, welche 
die Tierlaute nachahmen; dazu kommen eine Menge von Nach- 
ahmungen mechanischer Geräusche und Töne, z. B. wohl batzen, 
klatschen, bauzen, baffen, knattern u. a. Aber diese Nach- 


9Ö 

ahmungen verzichten ebenso auf eine genaue Wiedergabe des 
Eigentons wie das Sc fmetter enteng fttr den Trompetenton. Also 
auch hier hat die Situation des Referierenden, nemlich die 
Eigentttmlichkeit seiner Lautorgane, die Situation, unter der 
jene (xeräusche und Töne sich bildeten assimiliert Auch diese 
Sprachbildungen sind zu blossen Andeutungen geworden. 

Ebenso werden auch Sprachwörter, die ein Mensch in 
komischer Weise oder übertrieben häufig gebraucht, zu charac- 
teristischen Zeichen ftlr diese Person: bekannt ist Jasamirgoti, 
Marschall Vorwärts \ ich kenne den Spitznamen Eben und Wie 
fttr Personen, welche diese Wörter als Flickwörter gebrauchten. 

Somit können alle Ton-, Geräusch- und Lauterscheinungen 
an einem lebenden Wesen oder leblosen Gegenstand als Mittel 
benutzt werden, i diesen Gegenstand selbst in das Bewusstsein 
zu rufen. Bis heute brauchen diese lautlichen Zeichen 
keine bestimmte grammatische Form zu haben, um 
eine grammatische Function zu versehen. Sie vertreten 
Sätze, z. B.: Jemand ist gefallen, wir sagen hauzJ bums!, oder 
mit zugeftigtem Erklärungssatze bums, bauz, da liegt er. Nach 
dem schon oben besprochenen psychischen Gesetze, dass die 
Teile des Satzes, die eigentlich illustrative Apposition waren, 
wegen ihrer grösseren Verständlichkeit ftlr den Hörenden, oder 
wegen ihres Illustrationswertes, zur Hauptsache werden, — 
also nach diesem Gesetze empfindet man jenes bums, bauz bei 
da liegt er im wesentlichen als einen die Art bezeichnenden 
adverbialen Zusatz. — Aehnlieh im Satze: nun huldrdebuldr bei 
dem Zusätze ging es oder nun ging es huldrdebtUdr. Die Ver- 
wendung der Worte als Substantiva war anfangs schon mitgeteilt. 

Als Mittel die betreffende Situation in das Bewusstsein zu 
rufen sind diese Worte die sprachlichen Prädicate der Situation. 
Wir dttrfen sagen, dass alle Prädicate Mittel sind eine Situation 
anzudeuten oder an dieselbe zu erinnern. Sie müssen zunächst 
als Aufforderung empfunden werden die betreffende Situation 
vorzustellen oder zu vergegenwärtigen, d. h. als Imperative der 
Erinnerung. Somit ist das Sprachmittel für die Sub- 
stanz (Pron. demonstr.) der Imperativ oder die Auf^ 
forderung etwas Gegenwärtiges zu sehen oder zu hören; 
das Sprachmittel für das Prädicat die Aufforderung 
sich an eine Situation zu erinnern. 




100 


X. 

Der Anschauung gegenüber genttgt offenbar in den meisten 
Fällen für die Demonstration der blosse Hinweis mit der Hand 
und die Richtung der Augen. Wenn nun auch hierfllr Spraeh- 
worte gebraucht werden, die sogenannten Demonstrativa, so ist 
klar, dass diese Worte zum Vorgänge des Zeigens und Hin- 
weisens genau in demselben Verhältnisse stehen müssen, wie 
Wauwau, Pfui u. s. f. zur Situation, an die mit diesen Worten 
erinnert werden soll. Also auch die Demonstrativstämme 
sind Prädicate von der Situation des Hinweisens, als 
Sprachmittel mttssen sie also ursprünglich dazu gedient haben, 
die Situation des Hinweisens in die Erinnerung zu rufen. Der 
Sinn muss etwa gewesen sein: siehe hin oder hier gibt es 
etwas zu sehen. 

Damit ergibt sich, dass es ursprünglich in der 
Sprache kein Lautmittel gibt eine Substanz zu be- 
zeichnen, sondern dass alle Sprachmittel Prädicate, 
d. h. Erinnerungsmittel sind, durch die bekannte Si- 
tuationen angedeutet werden, — Situationen compli- 
cierterArt, in denen leblose Körper, Raumverhältnisse 
Personen, Sinnesqualitäten enthalten sind. Durch die 
Function dieser Prädicate für einen bestimmten Zweck 
werden sie zu Bezeichnungen gewisser Teile oder 
Merkmale oder Verhältnisse dieses Situationsbildes. 

Die einfachste sprachliche Aeusserung ist ur- 
sprünglich ein Imperativ, — der Befehl für den Hö- 
renden, sieh an eine Situation zu erinnern, jedes neue 
Wort ein neuer Imperativ. Durch die Gewöhnung, Ge- 
läufigkeit und Mechanisierung des Verständnissablaufs 
werden diese Imperativsätze nicht mehr als Sätze em- 
pfunden, sondern nur in ihrem Resultate als Vorstel- 
lungsgruppen. Durch den Schluss des Hörenden auf 
den Zweck des Sprechenden ordnen sich die zu einer 
Reihe gefügten Worte zu einem Satze, in dem die ein- 
zelnen Teile für den Zweck einen verschiedenen Wert 
h^ben. Solehe Reihen oder Sätze können sich wider 
von neuem zu einfachen Sprachworten mechanisieren. 


101 

Man muss sich vorstellen, dass die Sprache zuerst einzelne 
Laute als Prädicate der Anschauung verwandte, — Laute wer- 
den mit Lauten verbunden zu neuen Sätzen, diese mechani- 
sieren sich wieder zu Wurzeln, — Wurzel von Wurzel prädiciert 
mechanisiert sich zum Stamm, — Stamm von Stamm prädiciert 
zum flectierten Worte, — Wortsätze wieder zu grösseren Wort- 
ganzen, also zu Compositionen. Und wie im einfachen Satze 
die Worte, welche ursprünglich ja selbst Sätze waren, sich zum 
ganzen Satze und seinem Eradicate verhalten, so verhalten sich 
die Sätze einer Periode zum Prädicate der Periode, und die 
Perioden wieder in der ausgeftlhrten Bede zum Zweck oder 
zur Idee derselben. 

Das ist das Bild eines steten Absterbens und einer steten 
Neugeburt und Erstarkung der einfachen zellenartigen (Gebilde 
zu dem gewaltigen Baum der entwickelten Sprache. 


Ehe ich dieses Gebiet verlasse und den Nachweis, dass 
das Wort in der Sprache sich aus dem Satze entwickelt hat, 
sei es mir gestattet, zum Schluss eine Reihe von sicheren 
und durchsichtigen Fällen zusammenzustellen, in denen 
die einzelnen Satzcomponenten, die sich zum Worte 
mechanisiert haben, noch erkennbar sind. 

Latein, quamvis ist zur Partikel geworden, obgleich es ur- 
sprünglich ein Satz war = wie sehr du willst^ reine Partikel 
muss es sein, wo es den Indicativ bei sich hat, also schon 
spätestens bei den Augusteischen Dichtern. 

Griecb. sl 61 fiij mit steter Auslassung des Verbs ist dem 
Adverbium sonsi gleich. 

Griech. ov fi^v dXXa ursprünglich doch dies geschah nicht, 
sondern erhält die Bedeutung dem ungeachtet, dennoch, so er- 
klärt schon Bäumlein, Partik. 156. 

Griech. o/cf ort, öijXov on sind reine Adverbia, z. B. Xen. 
Anab. 5, 6, 5 Jigcc/imra fihv ovv ol6* ort JtoXv nXelco i^ofiev, 

Griech. aXXwg rs xal heisst einfach besonders. 

Lateinisch sine ist eigentlich wenn nicht, als Präposition 
mit dem Ablativ zeigt sich der Wortcharakter deutlich. 

Latein, quisquis, quicunque sind in der Livianischen Zeit 
einfache Pronomina in der Bedeutung jeder, klassisch so in 
der Verbindung mit modo und ratione. 


102 

Latein, forsitan^ forsan nnd aueh einfaches fors heissen 
vielleicht. 

Latein, ideo ist doch sicher nichts als id eo^ d. h. das ist 
darum der Fall, 

Franz. peut-itre heisst vielleicht. 

Latein, quasi = gleichsam aus der Bedentang me werm^ 
vgl. wq ore in homerischen Gleichnissen. 

Ital. e un anno, un anno fa = vor einem Jahre, Franz. iV-y-a 
quelque jours == seit\ Ital. tempo fa = vor kurzem, tre mesi fa 
n. 8. f. 

Ital. poffare (= puo fare) = der Tausend! 

Latein.: Terenz braucht idpropterea = darum vgl. Wölfflin, 
Archiv 1, 167. 

Latein, scilicet, videlicet, nimirum in der Bedeutung selbst- 
verständlich. 


Eine Zwischenstufe zwischen der Geltung solcher Sätze 
als Hauptsätze und als Worte bildet ihre Verwendung als 
Nebensätze. Als Nebensätze schon haben sie eine geringere 
Wichtigkeit und Bedeutung för den Hauptgedanken, wie man 
sagt, oder besser flir den Zweck des Sprechenden oder für 
sein Hauptprädicat. Auch bei etymologisch durchsichtigen 
Formen tritt daher volle Mechanisierung ein; d. h. all diese 
Ausdrücke lassen schliesslich nur noch den Zweck, dem sie 
dienen und ihre auf diesen Zweck zielende Function in das 
Bewusstsein treten, nicht mehr ihren ursprünglichen Satzsinn, 
aus dem diese Function erschlossen werden musste. Auch in 
diesem Sinken zum Nebensatze gibt es Stufen, so wird 
der Lateinische imperative oder adhortative Bedingungssatz: 
tolle hanc opinionem, sustuleris der Form nach wohl noch als 
Hauptsatz empfunden, aber die Function ist der der Nebensätze 
mit si gleich, darum stets das Asyndeton. Dagegen empfindet 
niemand mehr die deutschen fragenden Bedingungssätze als 
Hauptsätze z. B. hast du das gesagt, so wirst du, der logische 
Hauptsatz wird daher mit der Nachsatzpartikel so eingeleitet, 
und die Fragemelodie ist ganz geschwunden. Der Form der 
Hauptsätze nahestehend werden wohl die lateinischen Gon- 
cessivsätze im Gonjunctiv empfunden, dagegen sind die pro- 
hibitiven Sätze mit ne und fii] z. B. nach den Verbeii des 


108 

Fttrchtens za reinen Nebensätzen geworden, es kann daher 
Griechisch auch der Optativ eintreten, d. h. die Form der in- 
directen Rede im Nebensatze. — Sätze, von denen noch die 
Bede sein wird, wie beim Beginn einer Erzählung Ein Mann 
hatte sein Leben lang gearbeitet, aber nur wenig verdient, da 
kam eines Tages, oder entsprechende lateinische Formen z. B. 
Horaz. Ep. 1, 7, 29 : Forte per angustam tenuis volpecula rimam 
Repserat in cumeram etc. — diese Sätze sind Haupsätze der 
Form nach, und doch ist ihre Function die der Nebensätze, 
wie das Plusquamperfectum beweist, «= als ein Mann gearbeitet 
hatte. 

Der logische Sinn, die Function, ist in beiden Sätzen 
gleich, verschieden aber die Empfindungen des Hörenden, sein 
stilistisches Gefühl, denn je langsamer die ergänzenden Schlüsse 
sich vollziehen, um so grösser ist die Summe der bewussten 
Vorstellungen, welche dem Hörenden den Zweck des Spre- 
chenden vermitteln. Aber durch Mechanisierung kann eben 
dieses Geftlhl für den Vorstellungsreichtum schwinden und der 
Ausdruck seiner Function congruent erscheinen, wie die Zahl- 
Wörter, die eigentlich Substantiva waren, z. B. müle, durch ihre 
Function zu Adjectiven wurden, wie B^snXayriv durch seine 
Function, die dem iq)oßi^O'riv wesentlich gleich war, die Mög- 
lichkeit bot, auch die Construction von q)oß6ta9'ai anzunehmen. 
Dieselbe Entwicklung hatte übrigens q)oßetod'ai selbst schon 
durchgemacht. So wird das ital. si mit dem activen Verbum 
im Sinne unseres man dieser Function in der Volkssprache 
immer mehr gleich z. B. in einem Ausdrucke wie quando si e 
constretti; so der partitive Genetiv im Romanischen, der die 
Functionen des Subject und Object vertritt, das Genitivzeichen 
wird hier geradezu als ein Teilungsartikel empfunden. 

Die einzelnen Sätze und Perioden in einem grösseren 
sprachlichen Ganzen gruppieren sich genau in derselben Weise 
wie jene Sätze in kurzen Aeusserungen. Der wichtigste Teil 
ist das Prädicat des Ganzen, alle anderen Sätze stufen sich 
in ihrer Geltung ab nach dem Grade der Wichtigkeit, die sie 
fUr das Prädicat haben. Das Prädicat kann hier sein die 
Pointe in einer Anecdote, ein allgemeiner Satz in der Fabel 
oder Parabel, eine Thatsache, die erwiesen werden soll, oder 
die Idee des Ganzen. Aber die Worte selbst und die sprach- 


104 

liehe Form ist ausser Stande, auch nur annähernd dieses 
Gewiehtsverhältniss der einzelnen Sätze klar zu stellen, das 
bei den einfacheren Aeassemngen durch die Formen von Haupt- 
satz, Nebensatz und Wort wenigstens annähernd bestimmt wird. 
Und je weniger entwickelt eine Sprache ist, um so weniger 
Mittel besitzt sie dazu. 

Die Ordnung und Gruppierung der einzelnen Glieder in 
ihrem Verhältnisse zur Idee des Ganzen muss bis zu einem 
Grade immer dem combinierenden und construierenden Ver- 
ständnisse des Hörenden überlassen bleiben. In der lebendigen 
Bede, also auch bei der Declamation bietet die Betonungsweise 
und das Tempo dem Hörenden ein wichtiges Hilfsmittel, auch 
die Schrift hat einige Zeichen hierfür erfunden, die Inter- 
punction. 

So haben wir gesehen, dass der Hauptsatz sich 
durch eine Beihe von Stufen mechanisiert zum Neben- 
satze und zum Worte. 

Das Umgekehrte, dass Nebensätze das Haupt- 
prädicat enthalten, ist natürlich nicht ausgeschlossen 
und kommt oft genug vor; auch ist es so selten nicht, dass 
gewisse Sätze, die der Form nach Nebensätze sind, oft oder 
regelmässig das Hauptprädicat bezeichnen, ein sicherer Fall 
liegt vor in den Hauptsätzen mit eld's, el yccg, deutsch wenn 
doch, offenbar eigentlich conditionale Nebensätze. Auch die 
oben erwähnte Drohung wenn du das thusi ist Nebensatz. Auch 
diese Sätze werden ihrer Function congruent und erscheinen 
uns als Hauptsätze. Aehnlich ist in quamvis dicat der Gon- 
junctiv ursprünglich bedingt und untergeordnet dem vis, auch 
in licety und doch ist dieses conjunctivische Verbum das bei 
weitem Wichtigere geworden, sobald quamvis und licet zu Par- 
tikeln herabsanken. So kann also auch das untergeordnete 
Element durch Steigerung seines Wertes für das Hauptprädicat 
zum übergeordneten Elemente werden und Nebensatz zum 
Hauptsatze. 

Also Schlüsse aus verhältnissmässig geringen Andeutungen, 
mit Bücksicht auf den Zweck des Bedenden, und aus dem 
Wertverhältnisse der einzelnen bewusst gemachten Vorstellungs- 
reihen vollziehen sich in der Seele des Hörenden, ermöglichen 


105 

das Verständniss des Gesagten und erfttllen die lallenden An- 
dentangen und Zeichen des Sprechenden mit einem Inhalte, 
der die Sprache zn den höchsten Aufgaben des geistigen Lebens 
beföhigt. Das Mechanisieren jener Schlüsse und das Absterben 
der Grundbedeutung, die Wandlung des etymologischen Sinnes 
in den fhnctionellen , ein Process, der so häufig thöricht be- 
klagt wird, — dieser Process des Sterbens ist der wahre Lebens- 
odem der Sprache. 


D. Die Handlung. 
IX. 

Die berühmten Worte des Cäsar: veni, vidi, vici fasst man 
ohne Bedenken in den Sinne: zuerst bin ich gekommen, dann 
habe ich gesehen und dann gesiegt, also als chronologische 
Reihe. Offenbar bietet die syntactische Form der Sätze und 
die Art ihrer Verbindung gar keine Veranlassung zu dieser 
Auffassung, und jenes ganz gleich gebildete excessit, evasit, 
erupit wird nicht als chronologischer Ablauf verstanden, viel- 
mehr erscheinen jene drei Verba als Bezeichnungen derselben 
Thatsache. In dem Satze: ich blieb zu Hause und las fassen 
wir beide Handlungen als gleichzeitig. 

Offenbar wird die Ordnung mehrerer Handlungen 
untereinander vom Hörenden hergestellt nach dem rea- 
len Inhalte, der die Handlungen bezeichnenden Verben; 
man fragt, wie sie sich verbinden lassen und verbindet so. Die 
Möglichkeit dieser Verbindungsweise wird aus der Erfahrung 
erschlossen, welche der Hörende bei den benannten Handlungen 
gemacht hat. Also kann die chronologische Ordnung von Hand- 
lungen nur dann vom Hörenden hergestellt werden, wenn die 
Handlungen in ihrem Inhalte, Verlaufe und ihrer causalen Ver- 
bindung bekannt sind, es mttssten denn besondere Anweisungen 
vom Sprechenden gegeben werden. 


106 

Sollen die HandluDgen als aufeinander folgend erschlossen 
werden, so verlangen wir im Allgemeinen, dass die frühere 
Handlang aneh an früherer Stelle genannt wird, sonst haben 
wir das logisch anstössige Gefühl eines Hysteron-Pro- 
teron. Die zeitliche Folge der Vorstellungen des Hörenden 
entspricht dann im Wesentlichen dem zeitlichen Ablaufe der 
realen Handlungen. Die zeitliche Aufeinanderfolge der sprach- 
lichen Zeichen ist damit selbst zum Zeichen und Mittel der 
Darstellung geworden. 

So ausnahmslos ist nun allerdings das Gesetz nicht, dass 
aufeinander folgende Handlungsworte einen entsprechenden 
realen Ablauf der Handlungen in das Bewusstsein rufen. Häufig 
bezeichnen wir eine frühere Handlung, die als Exposition der 
Prädicatshandlung dient, parenthetisch erst nachträglich: z. B. 
er zog das Kleid aus, er trug einen schönen, dunklen Rock, 
Und so verfahren wir in all den Fällen, wo durch nachträg- 
liche Correctur zeitliche, causale, concessive Nebensätze ent- 
standen sind nach den beiden Mustern: 

1. Cäsar überschritt den Ruhico , — der hatte sich ent- 
schlossen, — daraus der relativische Nebensatz: der sich ent- 
schlossen hatte, 

2. Cäsar überschritt den Rubico, — wer war das ? er hatte 
sich entschlossen, — daraus der lateinissche Relativsatz mit qui. 

Diese Satzverbindungen können zu Nebensätzen nur wer- 
den, weil der Hörende 1. bekannte Handlungen ihrer realen 
Beziehbarkeit nach ordnet, 2. weil er unterscheidet, welches 
die ftir die Mitteilung eigentlich wertvolle Handlung ist, d. h. 
das Prädicat der Mitteilung, und welches die nur vorbereitende 
expositioneile Handlung. Die Exposition ist nicht Zweck der 
Mitteilung, sondern nur dienende Hülfe für das Prädicat, also 
diesem untergeordnet. 

Der Grund für das Proteron-Hysteron, um diesen 
Ausdruck für die geordnete Form der Erzählung zu gebrauchen, 
ist ein psychologischer: Wird uns etwas erzählt oder mit- 
geteilt, so ist die Gesammtheit der Erzählung das Wertvolle, 
nicht der einzelne Satz oder die einzelne Handlung, das volle 
Wertgefühl tritt also erst mit dem Schluss der Mitteilung ein. 
Offenbar muss bei einer Erzählung von Anfang an die Annahme 
bei dem Hörer vorhanden sein, dass ihm etwas Wertvolles 


107 

mitgeteilt wird und damit aneh die Erwartung oder gar Span- 
nung auf die Fortsetzung der Anfangs mitgeteilten Handlung. 
Wird uns nun nicht die chronologische Weiterentwicklung ge- 
boten, sondern eine frühere Handlung, so tritt Enttäuschung 
der oft gespannten Erwartung ein, ein Unlustgefühl, das wir 
nur dann ertragen, wenn uns dies Hysteron-Proteron hilft, 
den Gesammtverlauf der Handlung zu verstehen, wie es bei 
der nachträglichen Exposition der Fall ist. 

Aber vollständig beseitigt wird das Unlustgeftthl der ge- 
täuschten Erwartung nicht durch die Empfindung, dass uns die 
nachträgliche Gorrectur in unserem Verstehen fördert, solange 
überhaupt in diesen Firmen das Hysteron-Proteron zum 
Bewusstsein kommt. Es lässt sich daher das Bestreben 
in der Sprache beobachten, das Hysteron-Proteron, 
auch das der Exposition zu beseitigen. So kann man 
beobachten, dass die aus nachträglicher Exposition hervor- 
gegangenen Sätze in der Periodenbildung mehr und mehr an 
den Anfang treten. Ist z. B. der Satz mit quom, cum aus dem 
fragenden Adverbium = wann hervorgegangen, so kann diese 
Frage nur nach dem übergeordneten Satze ursprünglich ge- 
standen haben, z. B. Cäsar Rubiconem transiit. — Quom? (= 
wann) — viderat; ebenso bei postquam, quando, ut, ubi, quia. 
Und doch ist die gewöhnliche periodische Ordnung dieser 
Sätze die, dass der Nebensatz vor dem untergeordneten Satze 
steht, offenbar weil sie im allgemeinen Früheres als dieser be- 
zeichnen. 

In der künstlerisch ausgeführten Erzählung finden 
sich gleichfalls die beiden Formen des Proteron-Hysteron 
und die des Hysteron-Proteron, die letztere wie in der 
Satzperiode nur zur nachträglichen Exposition. In ihrer wider- 
wärtigen Uebertreibung wird diese Form des Hysteron-Pro- 
teron von Immermann im Münchhausen gegeisselt, die andere 
Form erscheint als die correcte und ordnungsmässige Weise 
der Erzählung. 

Beide Formen flihren zu dem gleichen Resultate des Ver- 
ständnisses, aber die Ordnung der Vorstellungen und damit die 
Formen der Schlüsse, welche zum Verständniss führen, und 
der stilistische Eindruck sind verschieden. Bei dem Hysteron- 
Proteron wird langsamer und weniger mechanisch der Zweck 


108 

der Mitteilnng erschlosseD, diese Form ist daher nnter Um- 
ständen pikanter nnd sogar spannender, — spannender nem- 
lieh, wenn es dem Schriftsteller dnrch eine expositionslose 
Erzählung gelingt, das Interesse des Lesers für eine Person so 
zu erregen, dass es diesem wertv^oU erscheint, über die Vor- 
geschichte der Person näheren Aufschluss zu erhalten. Diese 
Erzählungsform ist in unserer modernen Novellistik sehr häufig; 
ich weise auf Storms , Immensee' hin: in dieser Novelle wird 
unser Interesse wachgerufen ftir einen Alten und uns nun 
dessen Jugenderinnerungen mitgeteilt. Da ist also geradezu 
das, was formell als Exposition zu fassen ist, zum Hauptgegen- 
stande der Erzählung geworden, zum logischen Prädicate, ebenso 
in desselben Dichters Novelle, ,Drttben am Markte.' 

So vortrefflich auch Storm zu erzählen weiss, leugnen lässt 
sich doch nicht, dass an der Stelle, wo in die frühere Zeit 
zurückgegriffen wird, also wo die Erwartung auf eine Fort- 
setzung der begonnenen Handlung enttäuscht wird, sich ein 
nicht unerhebliches Unlustgefühl einstellt, das erst allmählich 
durch die Spannung der neuen Erzählung überwunden wird. 

Umgekehrt hat aber die andere ordnungsmässige Form 
etwas Naives und Kindliches, auch oft wohl gar Pedantisches, 
— sie ist die bekannte Form des Mährchens, das mit seinem 
es war einmal ein Mann anhebt. Auch Horazens Vorschrift in 
der Ars poetica, nicht ab ovo anzufangen, beweist, dass dem 
Stilgefühle des römischen Dichters die ganz plane Erzählungs- 
form nicht genehm war. Denn Horaz meinte natürlich unter 
seiner Forderung, in medias res zu führen, der Dichter solle 
möglichst nahe der eigentlich wertvollen Handlung anfangen, 
wie Homer, und alles Frühere erschliessen lassen oder durch 
nachträgliche Angaben exponieren. 


XIL 

Durch die Entwicklung der Tempusformen bietet die 
Sprache ohne Zweifel eine wertvolle Beihilfe zur rich- 
tigen Construction der zeitlichen Ordnung. Die beiden 
alten Sprachen und das Romanische sind dem Deutschen gegen- 
über noch im Vorteile, da sie das Imperfectum vom Aorist, 


109 

Perfectam historicum, Pass6 d^fini unterscheiden. Aber ver- 
Btändlich wird ja das Zeitverhältniss auch ohne diese Unter- 
scheidung durch die sachliche Construction des Hörenden. 

Ebenso wichtig sind die Formen der Nebensätze für die 
Leichtigkeit und Sicherheit des temporalen Verständnisses, aber 
sie sind erst allmählich aus Hauptsätzen entstanden und haben 
sich erst im Laufe der Zeiten innerhalb der Einzelsprachen zu 
mechanischen und congruenten Zeitbestimmungen entwickelt. 
Also auch ohne sie muss das Verständniss der Zeitverhältnisse 
möglich sein. 

Die Tempora der indogermanischen Sprachen sind zu- 
nächst auch gar nicht Ausdrucksformen fUr die Ordnung der 
Handlungen unter einander, sondern Ausdrücke fUr das zeit- 
liche Verhältnisse des sprechenden Subjects zu den Hand- 
lungen, daher wird bei zwei Handlungen der Vergangenheit, 
von denen die erste früher ist als die zweite, z. B. veni, vidi, 
die erste nicht durch ein Plusquamperfectum, die zweite durch 
einen Aorist bezeichnet, sondern beide durch einen Aorist. 
Denn das sprechende Subject steht zu beiden in dem gleichen 
zeitlichen Verhältnisse. Das Plusquamperfectum bezeichnet 
ein Verhältniss einer vergangenen Handlung oder besser voll- 
endeten Handlung zu dem Bewusstsein einer nicht mehr gegen- 
wärtigen Person, über welche die gegenwärtige und sprechende 
Person referiert Nennen wir die sprechende Person A und 
die Handlung B, die Person, über welche referiert wird A p. 
(p. = perfectum) und die Handlung, welche in Beziehung zum 
Bewusstsein von A p. steht, B p., — so verhält sich A : B = 
Ap. :Bp. Ap. und Bp. als die Objecte des Referats von A 
sind die indirecte Rede in dem oben besprochenen Sinne und 
B ist zu A die directe Rede. Man darf somit das Plusquam- 
perfectum die indirecte Referatsform zum Perfectum und das 
Imperfectum die indirecte Referatsform zum Präsens nennen. 
Vergangene Handlungnn haben als directe Referatsform den 
Aorist. 

Erst im Nebensatz des Lateinischen, Deutschen und Ro- 
manischen wird das Plusquamperfect und Imperfectum zur 
Ordnung vergangener Handlungen gebraucht, z. B. als Cäsar 
überschritten hatte, zog er. Die Umwandlung der Bedeutung 
vollzieht sich so : da die für A p. vollendete Handlung, B p., 


110 

die zunächst nnr ein Bevmsstseinsverhaltniss zu A p. bezeiebnet, 
mit dem directen Referate im Aorist eng verbunden und diesem 
als Nebensatz untergeordnet ist, ao gewinnt sie damit auch zu 
A ein Zeitverhältniss und man nennt dies die Yorvollendung 
oder das Plusquamperfectum. Diese Entwicklung vollzieht sich 
also erst im Nebensatze, nicht im Griechischen, denn hier bleibt 
in den Sätzen mit ejcsl, ore u. s. f. der Aorist, wie er auch im 
Hauptsatze stehen würde, z. B. 7]X0's xal kvlxijös, beide Hand- 
lungen auf A bezogen, und ebenso ijcel tjld-sv, kvlxrjös. Auch 
im Lateinischen hat sich diese Ausdrucksform in den Zeit- 
sätzen mit Ausnahme von den Sätzen mit cum gehalten, daher 
haben ubi, ut, postquam, ubi primum, cum primum u. s. f. den 
Indicativ Perfecti , d. h. den Aorist bei sich. Und auch das 
deutsche Präteritum in diesen Sätzen, wo die sogenannte genaue 
Ausdrucksweise das Plusquamperfect verlangen soll, ist als 
Rest dieser Construction anzusehen, z. B. als er kam, setzte 
er sich. 

Die wiederholenden, iterativen Nebensätze, welche lateinisch 
das Plusquamperfect und Perfect fordern, haben griechisch den 
Optativ resp. den Conjunctiv mit av^ sind also sicher einmal 
als bedingt durch das Bewusstsein des Subjects im Haupt- 
satze gefasst; und so wird es auch mit den meist conjnnctivi- 
schen Nebensätzen mit cum sein, welche gegen die Regel der 
Temporalsätze das Plusquamperfectum fordern. Aehnlich ist 
erst allmählich statt des Conjunct. Imperfecti in irrealen Be- 
dingungssätzen der Conjunctiv Plusquamperfecti eingetreten, 
das griechische Imperfect und der Aorist enthalten das Ur- 
sprüngliche , jenes setzt die Handlung in Beziehung zu A p., 
dieser (der Aorist) in Beziehung zu A. 

Offenbar also war ursprünglich in den Nebensätzen so 
wenig wie für die Hauptsätze ein zur Ordnung der Zeiten ge- 
eignetes Tempus vorhanden. Der Gebrauch des Plusquam- 
perfects für diesen Zweck muss als ein Fortschritt in der Deut- 
lichkeit der Sprachmittel gelten. 

Ebensowenig bezeichnet das Futurum eine spätere Stufe 
in der Entwicklungsreihe der Handlung, — später als eine vor- 
hergenannte, in veni, vidi, vici ist jede nachfolgende Handlung 
später als jede vorhergehende und wird doch nicht durch das 
Futurum ausgedrückt. Das Futurum bezeichnet die zukünftige 


Ill 

Zeit von dem gegenwärtigen Bewusstsein einer Person aus, 
der redenden Person A, d. h. eine Handlung, die von dieser 
Person beabsichtigt und gewollt oder von ihr durch Induction 
erschlossen und daher erwartet ist. Z. B. 1. Um 10 Uhr werde 
ich zu Hause sein^ weil ich es vorhabe oder will, — 2. es wird 
heute regnen^ ein Inductionsschluss, da der Regen als die Folge 
bestimmter Bedingungen erscheint, welche jetzt vorhanden 
sind. — Es kann nicht auffällig sein, dass die Willensform, der 
Conjunctiv, als angemessene Form der Zukunft; überhaupt ver- 
wendet wurde, vgl. die futurale Bedeutung des Conjunctivs bei 
Homer, das lateinische Futurum der HI. und IV. Conjugation 
und wahrscheinlich ist das griechische Futurum mit -ö- Xvom 
nichts weiter als ein Conjunctiv Aoristi mit verkürztem Binde- 
vocal, es fehlt daher natürlich der Conjunctiv dazu. 

Auch innerhalb der zukünftigen Handlungen wird lateinisch 
eine chronologische Ordnung durch das Futurum exactum be- 
zeichnet, wenn die frühere Handlung durch einen Nebensatz 
ausgedrückt wird im Griechischen fehlt wieder ein entsprechen- 
der Ausdruck, denn der Conjunctivus Aoristi mit av kann als 
solcher nicht gelten, und wenigstens ursprünglich nicht das 
Participium Aoristi. Doch wir brechen hier diese Special- 
betrachtung ab. 

Nur ein Fall ist mir bekannt, wo das Plusquamperfectum 
auch im Hauptsatze rein dem Zwecke der chronologischen 
Ordnung dient, es ist das schon erwähnte exponierende Plus- 
quamperfectum, sowohl der Prädicatshandlung vorgestellt als 
nachgestellt. In der Nachstellung z. B. er trug ein Kleid, das 
hatte er in A gekaufi\ vorgestellt im Beginne der Erzählung z. B. 

Forte per angustam tenuis volpecula rimam 
Repserat in cumeram frumenti Hör. ep. 1, 29 

und häufig so im Deutschen, ferner das Plusquamperfectum vor 
einem Satze mit als^ lat cum c. Indic, dem cum des Nachsatzes 
oder cum inversum] z. B. kaum hatte er das gesagt, als die 
Thüre aufging. Möglich ist hier das Plusquamperfectum in 
der Voranstellung, da dem Hörer bevnisst ist, dass ihm etwas 
Wertvolles mitgeteilt werden soll, die Handlung des Plusquam- 
perfects setzt er Mher als dieses Wertprädicat und erschliesst 
zugleich, dass dieses Wertprädicat ein directes Referat über 


112 

Vergangenes sein mnss. Wie nahe sieh diese Ansdrneksweise 
mit dem Nebensatze berührt, ist oben angedeutet, die Bezeich- 
nung der Grammatiker cum inversum oder cum im Nachsatze 
beweist deutlieh, dass auch die gröbere Empfindung in der 
Handlung des Plusquamperfects den logischen Nebensatz er- 
blickt. 

Sonst also dient das Tempus des Hauptsatzes dazu, das 
Verhältniss der Handlung zur Zeitstufe einer gegenwärtigen 
Person zu bestimmen. Ein eigentümliches Mittel verwendete 
die indogermanische Sprache im Augment, das im Griechi- 
schen und Altindischen vorhanden ist. Hat man recht, was 
mir nicht zweifelhaft scheint, dass die vorgesetzte Silbe a, b 
eigentlich damals bedeutete, so konnte die Vergangenheit daraus 
vom Hörenden erschlossen werden, weil das damals im Gegen- 
satz zum Jetzt empfunden wird; doch ein Hinweis auf eine 
bestimmte frühere Zeit kann nicht mehr dabei empfunden sein, 
als man den Vorsatz als präteritales Zeichen ansah. Aehnlich 
sprechen wir im Deutschen von dunnemals oder sagen: das war 
damals in dem Sinne von früher^ und das Lateinische olim 
kommt doch vermutlich von dem Pronomen ille her. 

Wurden nun mehrere präteritale Handlungen hinter ein- 
ander genannt, so gentigte es ursprünglich jedenfalls, dies prä- 
teritale Zeichen einmal zu setzen, nemlich so lange in dem 
Augment die Kraft des präteritalen Hinweises empfunden wurde. 
So sagen auch wir: einst zogen die Griechen nach Troja, be- 
lagerten die Stadt zehn Jahre und nahmen sie ein, ohne dass 
wir bei jeder einzelnen Handlung die Zeitbestimmung einst 
wiederholen. So werden überhaupt die expositioneilen Mittel 
stets nur einmal gesetzt und dann auf alle folgenden Aeusse- 
rungen einer continuierlichen Sprachreihe vom Hörenden be- 
zogen. Vergass man, welche Bedeutung dem Augmente inne- 
gewohnt hatte, und hatte sich die präteritale Form von der 
präsentischen in Endung und Stammformation geschieden, so 
wurden somit Formen mit und ohne Augment in gleicher 
Bedeutung neben einander gebraucht, ein Zustand wie er 
bei Homer und im Sanskrit vorhanden ist, bis entweder 
die augmentierte Form (attisch und gemeingriechisch) oder 
die augmentlose Form (lateinisch deutsch u. s. f.) sich durch- 
setzte. 


lis 

Das wichtigste Sprachmittel zur Andentung der 
chronologischen Ordnung ist also die Ausbildung des 
Nebensatzes und im Zusammenhange damit die Um- 
gestaltung der Tempusbedeutung, insofern das Tempus 
des Nebensatzes ein chronologisches Ordnungsverhältniss nicht 
blos zur Zeitlage des sprechenden Subjects, sondern auch zur 
Handlung des dem Nebensatze ttbergeordneten Satzes bezeichnet. 
Damit gewinnt die Sprache die Vorteile der periodischen 
Verknüpfung; aber diese Verknüpfung ist doch nur imstande, 
kleine Stücke einer grösseren Erzählung in ein chronologisches 
Verhältniss zu einander zu setzen, die Perioden selbst müssen 
durch den Hörer erst in ihrem zeitlichen Verhältniss wider 
construiert werden, genau so wie die oben besprochenen Haupt- 
sätze z. B. veni, vidi, vici. 

Doch auch zur Ordnung dieser grösseren Glieder hat die 
Sprache Ordnungswörter geschaffen, wie darauf, dann^ nun, 
ferner, indessen, unterdes u. a., Lat deinde, tum, autem, interea, 
interim y postea u. s. f., im Griechischen überwiegt alle Ver- 
knüpfungsformen wie sha, isiBtxa das vieldeutige öL Doch 
alle Glieder lassen sich in dieser Weise schwerlich verknüpfen, 
oder es geschieht doch wenigstens nicht, denn das Gefühl 
der Pedanterie wäre die notwendige Folge. So bleibt noch 
immer, auch bei der saubersten Ausbildung der Satzverknüpfung^ 
dem Hörer und Leser die Construction der chronologischen 
Ordnung zum ^guten Teile nach dem Inhalte der Handlung 
selbst überlassen. 

Und ist denn die Satzverbindung so genau, oder kann sie 
in allen Verbindungen so genau sein, dass die zeitlichen Ver- 
hältnisse vollkommen bestimmt wären? Sage ich: ais Cäsar 
den Ruhico überschritten hatte, drang er in Italien ein, enthält 
da die Verknüpfungsform auch nur die geringste Andeutung 
darüber, wie lang die Zwischenzeit zwischen beiden Handlungen 
zu denken ist? Ich erzähle: Jemand liest und fahre fort: indes 
klopfte es an die Thür, da fehlt die Angabe, Tyie lange er ge- 
lesen u. s. f. Man mache den Versuch, all den zeitlichen Fra- 
gen, die zur genauen zeitlichen Fixierung aufgeworfen werden 
können, gerecht zu werden, und man wird auf unüberwindliche 
Schwierigkeiten stossen. Der Sprechende gibt genau nur die 
chronologischen Momente, welche für die Auffassung des Ge- 

8 


114 

sammtprädieats einen besonderen Wert haben, die anderen 
Zeitmomente werden nur ungefähr angegeben, oder man lässt 
sie ersehliessen. 

xni. 

Auch die Yerbindungs- und Beziehungsweise des 
Subjects zum Verbum und des Verbums zum Object 
muss der Hörer erst construieren, die Worte an sieh 
bezeichnen dieselbe nicht Wie ganz verschieden sind die 
Beziehungen zu denken z. B. bei den verschiedenen Verbin- 
dungen des Wortes haben: er hat ein Haus, ein Buch, eine 
Krankheit, Kopfschmerzen, einen scharfen Verstand, schwarzes 
Haar u. s. f. oder bei machen : er macht eine Reise, Fehler, einen 
Tisch, Sprünge u. s. f. 

Die richtige Construction dieser Beziehung ist nur möglich, 
wenn der Hörende eine Kenntniss z. B. des Besitzverhältnisses, 
des Krankheitszustandes, der geistigen Fähigkeiten eines Men- 
schen gewonnen hat. Also aus der Kenntniss des realen Ver- 
hältnisses, die wir nicht durch die sprachliche MitteUung, son- 
dern durch Erfahrung gewonnen haben, ergänzen wir den wenig 
besagenden Ausdruck zu seinem vollen Inhalte. 

Auch die Art der Bewegung des handelnden Sub- 
jects ist bei jeder Thätigkeit ganz verschieden, z.B. 
A isst, A lebt, springt, schlägt, schreibt u. s. f. Und ebenso 
verschieden ist die Art, wie das Object von der Thä- 
tigkeit betroffen wird z. B. ich sehe den Menschen, ich schlage 
ihn, vermahne ihn, nähre ihn u. s. f. Aber alle diese Beziehungen 
werden durch je eine grammatische Form bezeichnet, durch 
den Nominativ als Subjectscasus und durch den Accusativ, resp. 
t)ativ, als Objectscasus, ja beim Passiv ist der Nominativ sogar 
Objectsbezeichnung. 

Somit bietet die Sprache selbst doch nur ausserordenlüeh 
wenig Angaben ttber das Verhältniss der Handlungscomponenteu 
zur Handlung ; und gerade diese Beziehungsweisen bilden einen 
wesentlichen Teil des Inhaltes der Handlungssätze. Es geht 
auch hier wie bei den oben behandelten Schlüssen des Hörenden: 
zunächst verlaufen diese Schltlsse langsam, bis die Gewöhnung 
sie mechanisiert und bis der Hörende und damit der Spre- 
chende glaubt, die durch Schlüsse gewonnenen Ergänzungen 


116 

seien in den Spraehworten selbst ausgedrfiekt, da die mecha- 
nisierten SeUnssreihen die SehweUe des Bewusstseins nicht 
mehr überschreiten. 

Die sprachliche Bezeichnung einer Handlang mit 
Subject und Object ist eine allmählich in der Zeit ab- 
laufende Reihe, die also dem Hörer nicht auf einmal 
als ein Ganzes vor die Seele gestellt wird, sondern 
in einzelnen Teilen. Der Vorgang kann hier ein doppelter 
sein: 1. die Handlung ist genannt, also dem Hörer in das 
Bewusstsein gerufen, und nun erst nach der Handlungsbezeich- 
nung folgt die Angabe von Subject und Object, — 2. zuerst 
ist die Subjects- und Objects-Bezeichnung gegeben, dann folgt 
die Thätigkeitsbezeichnung. 

1. Dare librum fratri deceL 
Dari a me librum fratri decei. 

Hier tritt zuerst das Geben in das Bewusstsein des Hörers, 
d. h. eine Art von Bewegung, welche von einer Person auf eine 
andere übergeht und dieser ein Object vermittelt. Offenbar ist 
diese Bewegung oder Thätigkeit als solche niemals vorhanden, 
gesehen und beobachtet wird sie nur am concreten Falle, wo 
eine bestimmte Person einer anderen bestimmten Person einen 
bestimmten Gegenstand gibt. Erst durch den bekannten Pro- 
cess der unbewussten Abstraction fasst man die einzelnen Be- 
wegungsmomente gleichsam als Einheit und die Subjecte und 
Objecto als allgemeine Personen, Aber ohne diese Subjecte 
und Objecto fehlt der Thätigkeit jede Begrenzung, jede Form, 
also müssen sie als die bestimmenden Punkte der Thätigkeit 
bei der Vorstellung der Handlung selbst von vornherein mit- 
gedacht sein. Daher kann man bei einer Aeusserung: er gibt 
das Buch fragen : wem denn, weil man diesen Beziehungspunct 
zur Begrenzung notwendig mitdenkt. 

Hören wir also dare und verstehen wir die Thätigkeit, so 
denken wir von vornherein eine Subjectsperson, eine inter- 
essierte Person und ein sächliches Object, aber alle diese Punkte 
als unbestimmte, als solche, nach denen wir fragen möchten. 
Die Verbindung dieser Punkte ergibt uns die Thätigkeit geben. 
Wird uns nun weiter ein Dativ mitgeteilt, so setzen wir diesen 
in die Function der unbestimmten interessierten Person, die wir 

8* 


116 

bei geben schon mitdenken mossten, ebenso den Aceusatiy, 
ebenso den Nominativ. Das abstracto Bewegongsbild mit seinen 
anbestimmten and abstracten constitativen Pankten wird also 
nachträglich za einem bestimmten and concreten Bilde erhoben, 
d. h. dadurch, dass die unbestimmten Punkte corrigiert und in 
bestimmte Punkte umgewandelt werden. Der Vorgang ist also 
dem der nachträglichen Correctur gleich, von dem wir oben 
gesprochen haben. 

Bei der Häufigkeit dieses Vorganges empfinden wir in der 
eigenen Muttersprache nur selten noch diesen psychischen Wan- 
del, wohl aber bei fremden Sprachen, die uns weniger geläufig 
sind. Die Probe jedoch, dass dieser Vorgang auch bei dem 
geläufigsten Sprachverstehen statt findet, gibt uns die That- 
sache, dass wir in unserer Erwartung getäuscht sind, wenn die 
fttr die Construction notwendigen Punkte nicht bezeichnet wer- 
den, wir vermissen etwas und wissen genau anzugeben, welchen 
Beziehungspunkt So erscheint uns z. B. der Satz : wir geben 
dir unvollständig, wir fragen daher: was denn. 

2. Frater librum tibi dat. 

Das Subject, das Object und die interessierte Person werden 
dem Handlungsworte vorausgeschickt — Die Form frater wird 
seiner Lautgestalt nach als Subject empftinden , d. h. d^r Hö- 
rende denkt: der Bruder handelt oder thut etwas, das un- 
bestimmte Object etwas erhält seine Bestimmung durch das 
nachfolgende Ubrum, ebenso erweckt der Dativ die Erwartung 
einer Handlung, welche im Interesse der genannten Person ge- 
schieht Hier ist also vor Allem die Handlung zunächst das 
Unbestimmte, aber auch die Art, wie Subject und Object in 
Verbindung zu bringen sind, kann nur ganz unbestimmt sein, 
wie oben gezeigt wurde, bestimmt wird ja diese Beziehung 
erst durch die Qualität der Handlung; sobald nun das Thätig- 
keitswort genannt wird, erhalten diese abstracten, unbestimmten 
Beziehungen ihre Bestimmtheit Also auch hier wird das un- 
bestimmte und ganz abstract gehaltene Bild durch die nach- 
folgende Bestimmung corrigiert. 

Auch hier gibt uns unser Sprachbewusstsein einen Beweis, 
dass dieser Process wirklich vorhanden ist, auch wo er sich 
unbewusst vollzieht Würde nach einem Accusativ und Dativ 
ein Verbum gesetzt werden, das mit diesen Casus nicht ver- 


117 

bnnden werden kann, so würde ein starkes Geflihl der ver- 
letzten Erwartung eintreten, das wir als Anstoss am Sprach- 
fehler bezeichnen, z. B. wttrde Lateinisch auf hoc remedium 
aegroto — lUor folgen statt adhibeo, so wären wir enttäuscht, 
vnr hätten das Unlns^efUhl des Sprachfehlers. 

XIV. 

4 

Ich denke, es ergibt sich aus der oben gegebenen Analyse, 
welchen Wert diese fortschreitende Construction der Handlung 
ftir das Sprachleben überhaupt hat Die Erwartung auf 
Klärung eines unbestimmten, unklaren Verhältnisses 
wird bei dem Hörenden erregt und damit ein Band 
geschaffen, wodurch die einzelnen Teile als Glieder 
zu einem Satzganzen zusammengefasst werden. Ist 
die Erwartung befriedigt, so tritt das Geftthl ein, 
dass die Mitteilung vollständig geworden ist. 

Nun ist aber der sprechfertige Mensch im Stande, eine 
ganze Reihe solcher Erwartungen neben einander zu 
hegen. Wenn wir z. B. eine Periode verstehen: als Cäsar, der 
Gallien unterworfen hatte, denRvhico überschritten hatte, drang er 
in kurzer Zeit bis zum Herzen Italiens vor — , so ist mit den Worten 
als Cäsar eine Erwartung erregt, — während diese noch unbe- 
friedigt bleibt, mit den Worten der Gallien eine neue Erwartung 
wachgerufen und mit unterworfen hatte auch befriedigt, aber 
die zuerst erregte Spannung der Erwartung dauert fort und 
kommt zum Abschluss zunächst bei den Worten überschritten 
hatte, doch damit ist die durch die Form des Nebensatzes er- 
regte Erwartung noch nicht zum Abschlüsse gekommen, die 
Befriedigung hierfttr bringt erst der Hauptsatz. 

Aber vielleicht enthält dieser Hauptsatz noch gar nicht das 
eigentlich Wertvolle der Mitteilung, dies wird vielleicht erst 
nach hundert oder tausend Perioden gegeben, wie z. B. im 
Roman, und die Erwartung einer solchen wertvollen Mitteilung 
dauert fort, bis das Wertvolle wirklich mitgeteilt ist So also 
bildet die erregte Erwartung das innere Band des Satzes, der 
Periode und des sprachliehen Kunstwerkes. 

Nicht flectierende Sprachen mtlssen der freien Construction 
des Hörers offenbar viel mehr überlassen als die flectierenden 


lis 

Sprachen, obgleich auch diese manche Unklarheiten nnd Un- 
sicherheiten ttbrig lassen, die erst ans dem gesammten Inhalte 
der Mitteilung geklärt werden können. So sagt man dentseh 
sowohl ich werfe den Stein, als ich werfe den Menschen mit 
dem Steine, der sprachliche Ansdruck ist in beiden Fällen ganz 
gleich, das zu denkende Verhältniss aber ganz verschieden. 
Klarheit gibt in jedem einzelnen Falle nur die Reflexion auf den 
Character des Objects und die Absicht oder die Folgen der 
Thätigkeii Lateinisch kann castra muntre sowohl heissen ein 
befestigtes Lager aufschlagen als em vorhandenes Lager be^- 
festigen; wenn Horaz sagt: 

Velox amotnum saepe Lucretilem 
Mutat Lycaeo (c. 1, 17, 1), 

so meint er das umgekehrte Verhältniss als mit den Worten: 

nunc mitibus 

Mutare quaere trisiia (c. 1, 16). 

Hier kann der Hörer Gewissheit nur erbalten, wenn er die 
Handlung des munire und mutare mit den anderen voraufgehen- 
den und nachfolgenden Handlungen causaliter verbindet 

Hört man einer Erzählung oder sonstigen sprachlichen Mit- 
teilung zu, so wird man oft die Beobachtung machen, dass 
man Worte, schon ehe sie ausgesprochen sind, im Vor- 
aus weiss, oder wenigstens mit Sicherheit ein Synonymen 
dafür angeben kann. Ja, wenn im Gespräche der Redende 
stockt, so wird der Hörende nicht selten ihm einhelfen und 
ihm das Wort sagen können, nach dem jener vergeblich sucht 
Man denke z. B. es würde erzählt : als ich nach Berlin — , mit 
Sicherheit werden wir ein Verbum der Bewegung ergänzen, 
wie kommen, fahren, gehen, reisen u. s. f. Der Hörende hat da 
also aus dem Terminus ad quem die Thätigkeit der Bewegung 
ergänzt Die Leichtigkeit einer solchen Ergänzung wächst 
1. in dem Masse, als dem Hörenden die Situation der mit- 
zuteilenden Handlung bekannt ist, 2. in dem Masse, als die 
Verbindung gewisser Worte isoliert und mechanisiert ist So 
wttrde der Römer der klassischen Zeit zu legibus scribundis nur 
einen Amtsnamen und in erster Linie decemviri ergänzt haben, 
die Worte quod felix fährten die bekannte Ergänzung von 
selbst herbei. Instructiv ist in dieser Beziehung die Beobaeh- 


119 

tnng, wie viel wir beim Sehreiben abkttrzen and andeuten, z. B. 
Lai S, p. qu. B., etc., u. s. w. 3. Die Leichtigkeit wäehst in dem 
Masse, als bei dem Character nnd der Situation des Subjeetes 
die Wahl einer möglichen Handlung eng begrenzt ist: griechisch 
jtota/iog ixölöcoat kann nur ein Object haben, das Wasser, — 
ruft man einem fahrenden Kutscher halt zu, so kann das Object 
nicht zweifelhaft sein, bei dem Reiter kann das Aufsitzen nur 
einen Zielpunkt haben. 

Ich will hier nicht auf weitere Einzelheiten eingehen, son- 
dern nur auf die Thatsache hinweisen, dass aus solchen Fällen, 
in denen ein Bestimmungspunkt der Handlung oder diese selbst 
mit Notwendigkeit ergänzt wird, gewisse Verktlrzungen 
des sprachlichen Ausdrucks hervorgegangen sind. Den 
absoluten Gebrauch der Verba transitiva habe ich angedeutet, 
ebenso werden sich viele intransitive Verba auf diese Weise 
aus transitiven entwickelt haben. Bekannt ist femer, dass 
beim lateinischen Ablativus absolutus Passivi das logische Sub- 
ject nicht sprachlich bezeichnet wird, sondern zu ergänzen ist : 
z. B. Cäsar GaUis victis in Jtaliam rediii. Das ganze Gebiet, 
das man so häufig unter dem Namen Ellipse zusammenzufassen 
pflegt, erfordert eine sorgfältige Ordnung des Materials im Ein- 
zelnen, doch die Principien sind klar und, wie es mir scheint, 
hier erschöpfend dargestellt 

Wie bei dem Verbum die Beziehungspunkte, handelndes 
Subject und leidendes Object mitgedacht werden müssen, so 
ist auch bei den substantivischen Bezeichnungen einer Handlung 
diese Ergänzung notwendig, z. B. das Sterben, der Tod, das 
Leben, der Gang, die Reise, der Schlag, der Wurf, ytQo^ig, exer- 
citatio u. s. f. Dies ist in erster Linie bei den Substantivis 
actionis und actoris der Fall; die zu diesen tretenden Sub- 
jects- wie Objectsergänzungen stehen im Genitiv, und erst der 
Zusammenhang, also die Construierbarkeit der Factoren muss 
zeigen, in welcher Function das genitivische Nomen zu denken 
ist Das unmittelbare Geftthl hat diese Genitive in Parallele 
mit dem verbalen Subjecte und Objecto gestellt und sie danach 
subjective und objective Genetive genannt Nur ein Schritt 
weiter ist es daher, wenn diese Worte als Infinitive und Parti- 
cipien wirklich in den Verbalcharacter übertreten und verbale 
Construction als Infinitive und Farticipien annehmen. — Auch 


120 

bei ihnen findet bekanntlich der Uebergang der relativen in 
die absolute Bedeutung statt wie beim Verbum. 

XV. 

Sehen wir einen Menschen graben, als Töpfer beschäftigt, 
einen Tisch arbeiten u. s. f., so erblicken wir thatsächUch viel- 
leicht nichts weiter, als dass er den Spaten senkt, dass er 
Thon knetet, dass er hobelt oder sägt. Und doch sprechen 
wir es als unsere durch Wahrnehmung gewonnene Erkenntniss 
aus: er gräbt, er macht einen Tisch u. s. f. Wir sondern in der 
sinnlichen Wahrnehmung deutlich vielleich jeden Spatenstich, 
jeden Hobelzug, jede Drehung der Töpferscheibe, — wissen 
wir aber die Thätigkeit zu erklären, so bezeichnen vnr nicht 
eine Vielheit von Bewegungen, sondern einzelne Handlungen, 
als zusammenfassende G^sammtheit jener einzelnen Bewegungen. 

Ganz anders, wenn wir die Thätigkeit nicht verstehen, 
dann sagen wir: er dreht immerzu eine Scheibe, sticht in den 
Boden u. s. f. Worin anders besteht aber dies Yerständniss als 
in dem Bevnisstsein des Zweckes, den der thätige Mensch bei 
seiner Thätigkeit verfolgt? Handlungen erkennen und 
verstehen wir also erst durch den Zweck der Thätig- 
keit, so dass diese zum Zwecke der ersteren wird. Der 
Zweck ist somit das Band, durch das wir eine Folge 
von Bewegungen zu einer Einheit zusammenschliessen. 

Auch das Hobeln, das Stechen, das Drehen ist eine Hand- 
lung, da gewisse Mittel und Bewegungen angewandt werden 
mttssen, um das betreffende Ziel zu erreichen. Ja das Ziel 
kann diese Bewegung selbst sein, doch man nimmt bei der 
menschlichen Thätigkeit vernünftige Zwecke an, d. h. solche, 
die wir als wertvoll ftlr den egoistischen oder sittlichen Men- 
schen ansehen können. Einen solchen Zweck kann die Be- 
wegung an sich nur unter ganz besonderen Umständen haben. 
Darum wird man eine zwecklose, wenn auch zielvollendete Be- 
wegung im Allgemeinen nicht zu den Handlungen rechnen, 
wie z. B. das zwecklose Stechen, Schlagen, Springen, Schwim- 
men, Laufen, Gehen u. s. f. Bei diesen Bewegungen wird man 
stets nach einem ausserhalb derselben liegenden Zwecke fragen, 
d. h. man wird sie als blosse Mittel ansehen. 


121 

Diese Anflfassmig hat offenbar in der Mechanisierung der 
Thätigkeit ihren Grund, man ftthlt selbst nicht mehr, dass das 
Gehen ein Ziel ist, zu dem gewisse Mittel in Bewegung gesetzt 
werden müssen. Man könnte solche Thätigkeiten oder Hand- 
lungen also mechanisierte Handlungen nennen, die sich 
automatisch yoUziehen, und die keine Spur einer spontanen, 
zweckbewussten Willensthätigkeit mehr in sich tragen. 

Es ist sprachlich von der grössten Wichtigkeit, dass wir 
solche Thätigkeiten aussondern, 1. sie bilden die Bausteine, 
aus denen sprachlich die complicierten Handlungen 
zusammengesetzt werden, 2. sie führen dazu, dass wir 
zwei Arten von Subjecten unterscheiden, a) spontane, 
absichtlieh und zweckbewusst handelnde, und b) automa- 
tische. 

Um zunächst an die letzte Thatsache anzuknüpfen: es 
wäre schwer denkbar, wie das unpersönliche Ding die Sprach- 
formen des persönlichen Wesens annehmen könnte, und wie 
die Thätigkeiten der persönlichen Subjecte von den unpersön- 
lichen prädiciert werden könnten, wenn das persönliche Subject 
immer als spontan, als zweckbewusst und vernttnffcig wollend 
in den Thätigkeitssätzen zu denken wäre. Leicht und einfach 
dagegen ist es die Formen der automatischen Bewegungen, die 
wir an uns selbst wahrnehmen auf das bewegte Ding zu über- 
tragen. So geht der Zeiger auf' der Uhr von Stundenzahl zu 
Stundenzahl, ohne dass wir daran denken, er mttsse die Ab- 
sicht gehabt haben, sich zu bewegen, so läuft, so springt die 
Kugel, der Ball über die Ebene u. s. f. Ich weiss sehr wohl, 
dass dies nicht der einzige Grund des metaphorischen Ge- 
brauches ist, und ich werde später selbst noch auf den Ver- 
gleich hinzuweisen Gelegenheit haben, aber ich halte die Me- 
chanisierung der Handlung flir einen ausserordentlich mächtigen 
Hebel, das Gebiet des Dinglichen und Unpersönlichen auf das 
Gebiet der freien Persönlichkeit so hinttberzuheben, dass die 
Formen dieses Gebietes die allgemeinen Musterformen für jenes 
Gebiet werden konnten. 

Durch diese Mechanisierung wird es möglich, dass die 
persönlichen Subjeetsformen auch bei den Verben des Zu- 
Standes und des Leidens verwandt werden, genau so wie bei 
den Verben der wirklichen Handlung; Schmerz empfinden, do- 


122 

lere, hören, schlafen, liegen, stehen u. s. f. sind keine Thätig- 
keiten oder Handlangen. 

Wir fühlen ferner keinen Widersprach, wenn die passiven 
Verba das leidende Object im Nominativ bei sich haben. — 
Diese Thatsache hat es aaeh vermatlich erleichtert, dass indo- 
germanisch viele Sachbezeichnangen die persönliche Form des 
Nominativs annehmen konnten, denn dies ist die Thatsache, 
welche wir mit Personificierang der sachlichen Gmppen be- 
zeichnen. Die Neatra der o-Stämme haben zwar einen Acca- 
sativ, aber keinen Nominativ, z. B. templum, avzQOV, magnum, 
ayad-ov. Nehmen sie einen Nominativ an, so werden sie per- 
sönlich zam Mascalinam magnus, ar/ad-oq. Die Sache scheint 
arsprttnglich indogermanisch nar als Object gebraucht zu sein, 
da ihr die selbstbestimmende Bewegangskraft fehlt, daram fehlt 
im sogenannten Nominativ des Neatrams entweder jede Endang 
and der blosse Stamm wird verwandt, oder es wird die masca- 
linale Accusativform gewählt. Die Bewegang eines Dinges 
scheint also einmal stets als darch ein persönliches Subject veran- 
lasst gedacht za sein, and erst die Unterscheidung automatischer 
Bewegung und automatischer Subjecte ermöglicht es, dass jene 
sachlichen Objecte zu automatischen oder mechanischen Sub- 
jecten wurden. Es soll damit nicht bestritten werden, dass 
auch formale Analogien des Stammes bei dieser Art von gram- 
matischer Personificierung mitgewirkt haben, wäre aber diese 
formale Aehnlichkeit der Stämme auf volle Verschiedenheit der 
Bedeutung und der Function gestossen, so würde sich schwer- 
lich die Angleichung durchgesetzt haben. Ausser Acht ist auch 
nicht zu lassen, dass das Urteil der Menschen und Völker über 
das, was persönlich und unpersönlich sei, sehr verschieden ist 
und je nach den Culturstufen verschieden war. 


Also nach dem Zwecke sondern wir aus den grossen con- 
tinuierlichen Reihen menschlicher Bewegung und menschlicher 
Thätigkeit die einzelnen Thätigkeiten als Handlungen aus, 
die Thätigkeiten selbst werden also zu Mitteln der 
Zwecke. 

Die Thätigkeit des Steüens, Legens, Sitzens bestimmt sich 
zunächst nach dem niedrigsten Zwecke, dass das Objeet der 
Thätigkeit steht oder liegt. Soll ich den Ausdruck: er legt 


123 

das Buch hin yerstehen, so mass ich den Zweek denken nnd 
mir aus demselben die Bewegnngsmittel vergegenwärtigen oder 
Bewegungen denken, die mit der Verwirklichung des Zweckes 
ihre Begrenzung erfahren. Die Begrenzungen durch das locale 
Ziel z. B. ich lege das Buch auf den Tische gibt dem Zwecke 
eine bestimmtere Gestalt und damit der Thätigkeit als Mittel 
eine begrenztere Form. Ich schreibe einen Briefe — hier ist 
der nächste Zweck der Brief selbst, und er bestimmt fest die 
Form der Thätigkeit des Sehreibens. Wie wir oben sahen, 
auch das Object selbst bestimmt die Form der Thätigkeit. 

Nun waren im Indogermanischen die Formen fUr das Object, 
das locale Ziel und den Zweck, der gleichfalls als locales 
Ziel der Bewegung gedacht wird, gleich. Die Unterscheidung 
der verschiedenen Functionen, welche im bestimmten Zusammen- 
hange diese Form versah, musste natürlich construiert werden. 
Uebrigens ist auch uns diese Construction noch nicht ganz er- 
spart, wenn wir auch im Allgemeinen für das Ziel und den 
Zweck Präpositionen verwenden; denn das schon oben erwähnte 
efficierte Object ist ja nichts als der Zweck der Thätigkeit, 
z. B. er baut ein Haus, er schreibt ein Buch, tsixI^bi retxog, 
castra munit (= schlägt ein befestigtes Lager auf% und dieses 
mtlssen auch wir vom afficierten Objecto unterscheiden. 

Es ist interessant zu sehen, worin der eigentliche Unter- 
schied dieser Objecto beruht; ist das efficierte Object der 
Zweck der Thätigkeit, so ist das afficierte Object stets 
das räumliche Ziel der Bewegung, z. B. ich schlage den 
Menschen^ die Bewegung des Schiagens hat den Menschen zum 
räumlichen Ziele, ich sehe das Haus, ich esse das Fleisch u. s. f. 
eine jede Thätigkeit hat als Bewegung zunächst das afficierte 
Object zum räumlichen Ziel. Somit ist es nur natürlich, dass 
das räumliche Ziel ^ und das afficierte Object gleiche sprach- 
liche Formen hatten; und da das efficierte Object den Zweck 
bezeichnet, der Zweck aber unter der Form des räumlichen 

^ Wie die Städtenamen auf die Frage wohin? Lateinisch im Accusativ 
stehen, ebenso die isolierten Formen domum, rus, die PiSpositionen mit 
dem Accusativ auf die Frage wohin?, der poetische Gebrauch des blossen 
Accusativ auf diese Frage bei Homer und den lateinischen Dichtern be- 
weisen, dass dieser Casus ursprünglich die Ausdrucksform des localen 
Zieles war. 


124 

Ziels gedacht wird, ist auch hier die Uebereinstimmang in der 
sprachlichen Form nur natürlich. 

Und doch empfinden wir zwischen dem afficierten Objecto 
und dem räumlichen Ziele einen Unterschied. Ich schlage den 
Menschen ist also ursprünglich = ich schlage nach dem Men- 
schen^ und doch empfinden wir bei dem ersten Ausdrucke die 
Vorstellung, dass die Thätigkeit wirklich ihr räumliches Ziel 
erreicht, im zweiten Falle aber, dass die Thätigkeit nur das 
Ziel zu erreichen sucht, <»hne die Angabe, dass es gelingt 
Hierüber soll der folgende Abschnitt Auskunft geben. 

XVI. 

Wir sahen, dass der Hörende zum Verständniss einer 
Handlung stets den Zweck sich mit vorstellen muss. Diese 
Zweckvorstellung gibt der Thätigkeit in den Augen des 
Hörenden die Richtung auf die Vollendung, d. h. auf 
die Begrenzung der Thätigkeit. Der Zustand, in dem die Thä- 
tigkeit ihren Abschluss findet, also der Zustand der Vollendung 
ist das Erstrebte, daher die Verbindung der Verba der Absicht 
mit dem Infinitiv Perfecti im älteren Latein und im Mittel- 
hochdeutschen bei wollen und sollen. Und darum erregt die 
Andeutung des Beginns einer Handlung bei dem Hörenden 
notwendig die Aussicht und Erwartung, dass das Ziel er- 
reicht wird. 

So heisst das Präsens ich töte, interftcio doch zunächst nur: 
ich wende die Mittel an, den Tod einer Person herbeizuführen, eben- 
so ich lege das Buch hin, ich schreibe das Wort u. s. f., also die 
Praesentia und dem entsprechend die Imperfecta stehen 
eigentlich de con a tu = ich suche zu töten, zu schreiben, zu 
schlagen. Trotzdem bedeutet uns die Form des Präsens, dass 
die Mittel ihren Zweck auch verwirklichen. Man hat daher 
im Lateinischen und Griechischen die Praesentia und Imperfecta 
de eonatu als besondere grammatische Verwendungsweisen 
unterschieden. Die räumlichen Ziele solcher Praesentia 
müssen bei dieser Umwandlung der Bedeutung zu 
erreichten Zielen d. h. zu afficierten Objecten mecha- 
nisiert werden, und die Zwecke der Handlung müssen 
zu verwirklichten Zwecken werden, d.h. zu Resultaten 


125 

der Handlang oder efficierten Objeeten. Das also ist 
die Lösung des oben hervorgetreten Widerspmehs zwischen 
Ziel and affieiertem Objecto. 

Im Deutsehen hat sieh aus der Bedeutung der unvollendeten 
Bewegung, welche einem zukttnftige Ziele zustrebt, die Be- 
deutung des Futurums entwickelt, z. B. ich gehe zur nächsten 
Musterung, ich gehe morgen in die Kirche, ich thue das doch. 
Offenbar ist in diesem Falle, wie in dem vorhergehenden, die 
Bewegung und der Zweck zu einer momentanen Einheit con- 
densiert, die entweder nach der Zeit der Bewegungsmittel als 
gegenwärtig vollendet gedacht werden kann, oder nach der 
Zeit des Zweckes als zukünftig vollendet. 

Eine ganz gleiche Erscheinung ist es, wenn Praesentia 
mit Inchoativformen, wie diöaöxo}, tvQloxm, nicht mehr den 
Anfang der Thätigkeit, sondern den ganzen Verlauf bezeichnen. 
Femer, — wenn präsentische Zusammensetzungen, deren ur- 
sprüngliche Bedeutung inchoativ sein musste, futurale Bedeutung 
annehmen, wobei die condensierte Handlung in die Zukunft 
projiciert wird, aber der Anfang nicht mehr als in der Gegen- 
wart liegend empfunden wird. Hierher gehört das deutsche 
zusammengesetzte Futurum: ich werde thun^ eine Ausdrucks- 
form, die ursprünglich bezeichnen musste: ich entwickele mich 
jetzt zum thun. Ebenso gehört hierher das lateinische Futurum 
auf "bo wie amabo, monebo, ibo, vom Stamme des griechischen 
9)i;co, lat fui. 

Etymologisch gleich in der Bildungsweise ist das deutsche 
passive Präsens: ich werde geschlagen, bei dem zunächst nur 
der Anfang der Thätigkeit bezeichnet wird, der weitere Verlauf 
aber mit Bücksicht auf das Ziel heute deutlich mit empfun- 
den wird. 

Wir dürfen auch annehmen, dass durch diesen Process 
die indogermanischen Sprachen ihr Perfectum ent- 
wickelt haben. Die Form dieses Tempus enthält durchaus kein 
Element, das die Vollendung der Thätigkeit bezeichnete, denn 
die Reduplication, welche der Wiederholung desselben Wortes 
in der freien, nicht mechanisierten Bede gleich ist, also auch der 
rhetorischen Iteratio und Duplicatio, findet sich auch im Präsens 
und im Aorist Der freie Gebrauch der Verdoppelung lehrt 
aber als Bedeutung dieser Doppelsetzung des Wortes nur die 


126 

der Wiederholung der Handlang und der Verstärkung der In- 
tensität sowohl dem Grade naeh, als versiehernd der 9^alität 
nach. Wie das Präsens geradezu Perfectbedeutung annimmt, 
zeigt der Gebrauch einer ganzen Reihe griechischer Verba wie 
axovcn, xXvoo, Jtvv&avoiiai, alcd-dvoiuu, yiyvoHixco, ßavd-avco, 
Xiyco u. a. Lat. audio, video, deutsch ich höre, sehe, erfahre, 
bemerke (vgl Etthner. gr. Gr. § 382, 4). 

Die doppelte Bedeutung der dauernden Thätigkeit und der 
vollendeten Handlung als Zustand zeigen gleichfalls die Nomina 
actionis und actoris wie exercitatio = Uebung als Thätigkeit des 
Uebens und als Zustand des Gettbtseins, Mörder, Dieb sowohl 
als einen Mord ausführende Person als eine Person dieses Zu- 
standes oder Characters. 

Wie nahe sich die präsentische und die vollendete Be- 
deutung einer Handlung überhaupt berühren, beweist femer 
das romanische Praesens Passivi je suis atme ^= nhd. ich werde 
gelieht und die gleiche Bildungsweise des alten Deutsch; 
ferner die Bedeutung einer Beihe griechischer Perfecta wie 
oö(BÖa = ö^co, öiöux, und diöoixa «= g>oßovfiai, ol6a ich weiss, 
niipQLxa u. a., dazu die deutschen Praeteritopraesentia. 

Zustände bilden den Abschluss einer Bewegungsreihe; 
in bestimmten Zusammenhängen wird daher die vorange- 
gangene Bewegung aus der Bezeichnung des ruhen- 
den Zustandes vom Hörer rückwärts construiert und bei der 
Zustandsbezeichnung mitempfunden. Vom Ringer, der zu Boden 
fällt, sagt man : da liegt er ^^ er ist hingeworfen. Bekannt sind 
Ausdrucksformen wie oiacxoo vjto rivog, cbto&vf^cxQ »* ich 
werde getötet, dxovco *= es wird von mir gesagt. Im Lateini- 
schen und Deutschen ist aus der Verbindung des Verbum sub- 
stantivum und des Zustandsadjectivum das passive Perfect und 
Plusquamperfect gebildet, wie interfectus est, mortuus erat. — 
Umgekehrt bezeichnet man Zustände durch die zum Ziel ge- 
führte Handlung wie Lateinisch cognovi und so vielfach beim 
grieehisehen Perfectum. 


xvn. 

Doch wir verfolgen den Einflnss weiter, den die dur^h die 
Andeutung einer Handlung rege gemachte Erwartung des 


127 

Zieles oder Zweckes der Handlang auf die spraehliehe Dar^ 
Stellung austtbt Dieser Einflass ist sehr bedeutend. 

So erzählt man : der Krieg wurde erklärt, die erste Schlacht 
fvar bhitiff, oder m der ersten Schlacht fielen a. s. f. Dass auf 
die Erklärung des Krieges auch wirklich die Kriegführung 
folgte, ist nicht gesagt; dieser weitere Verlauf wird als selbst- 
verständlich ergänzt, denn das Ziel der Kriegserklärung ist 
eben die Ftthrung des Krieges, und wird nicht ausdilieklieh 
das Gegenteil gesagt, so erschliesst man aus dem mitgedaehten 
Zwecke die Verwii^lichung. Man könnte nach grammatischer 
Terminologie fast sagen : das Präsens ist zum Perfect erhoben. 

Ich erhielt einen Brief, dass der Freund gestorben sei, — 
das Lesen des Briefes wird aus dem Zwecke, den ein Brief 
überhaupt hat, als selbstverständlich ergänzt Ohne diese 
springende Art der Erzählung wäre es unmöglich, eine 
grössere Erzählung zu Ende zu bringen. 

Diese Thatsaehe lehrt uns ausserdem einen wichtigen Ge- 
sichtspunkt fttr die Bedeutungsentwicklung und Bedeu- 
tungsveränderung der Worte. Wird nemlich bei einem Worte, 
das den Anfang einer Thätigkeit bezeichnet, die zum Ziele 
führende Weiterentwicklung mitgedacht, so können diese spä- 
teren Entwicklungsstufen schliesslich auch als Inhalt des Wortes 
mitempfunden werden. So denkt der Römer bei intacla virgo, 
wir bei unberührter Jungfrau thatsächlich nicht bloss an die 
Berührung, sondern auch an die weiteren Folgen derselben, 
ebenso bei dem deutschen Ausdrucke: er hat das Mädchen nicht 
berührt. Bei integer^ dessen Ableitung von in und tango sicher 
ist, wird stets nur an gewisse Folgen der Berührung gedacht: 
an das Zerbrechen, daher unversehrt, oder an das Beschmutzen 
und Beflecken, daher unbesudelt, rein vom Character. Bei dem 
Deutschen angreifen den Feind wird stets an die Folgen ge- 
dacht, die dem Anpacken des Gegners beim Bingen folgen, 
an den Kampf; die Sache richtig anfassen weist aiuf die Thä- 
tigkeit hin, welche zur Ausflihmng erforderlich ist. Aehnlich 
Lateinisch aggredi hostem, appeller e =■ landen mit dem Ge- 
danken auch wirklich an das Land gehen; sich einschiffen nach 
America u. s. f. 

So bildet sich das Verständniss einer Erzäh- 
lung oder sonstigen spra<)hliehen Mitteilung 1. durch 


128 

Schlüsse auf naehfolgende Momente der Entwicklung 
2. durch Bttckschlttsse auf Vorausliegendes. Man ver- 
gleiche z. B. den Anfang von Goethes Hermann und Dorothea: 
Wie viele Bttckschlttsse sind hier notwendig um die Person 
des Sprechenden kennen zu lernen, die Situation, unter der er 
spricht und die Thatsachen, welche dem Momente des Anfangs 
dieser Dichtung vorausliegen. Man vergleiche femer Uhlands 
, klein Boland', ,das Nothemd', und unzählig andere Dichtungen 
dieser Art 

Selbverständlich können auch solche Bttckschlttsse, wenn 
sie sich häufig wiederholen und mechanisieren, in die Be- 
deutung des Wortes aufgenommen werden, wie es in den oben 
angeführten Beispielen der Fall war: xst/iai als Perfect Passivi 
zu rlOTjfii, djto&njöxa} als Passiv zu aütoxTBlvo), exjtljcrco 
und ^svya) als Passiv zu kxßaXXco u. s. f. 

Es bedarf kaum einer besonderen Ausführung, dass diese 
vorwärts und rttckwärts weisenden Schlttsse vom Hörenden 
nicht aus den Worten an sich, sondern nur aus der Erfahrung 
geschöpft werden können, welche von den betreffenden Hand- 
lungen gemacht sind. Wo die Erfahrung fehlt, da fehlt eben 
das Verständniss der sprachlich angedeuteten Handlung selbst 
So kann die Mitteilung: das Fleisch wird gekocht, das Fleisch 
ist gar, der Hund wird geschlagen nur dadurch verstanden wer- 
den, dass man den Zweck des Kochens kennt und danach die 
Mittel, welche demselben dienen, findet oder aus der Erfahrung 
erschliesst, und bei gar^ dass uns der Zustand bekannt ist, in 
dem das Fleisch als geniessbar gilt. 

Wer nichts weiss von der Art, wie sich ein Eisenbahnzug 
in Bewegung setzt, wird auch die Mitteilung nicht verstehen: 
ein Pfiff der Locomotive, und der Bruder war verschwunden. 
Also zum Verständnisse der sprachlichen Bezeichnung 
einer Thätigkeit ist notwendig die Eenntniss der Ent- 
wicklungsmomente und des Ziels der Thätigkeit 

Die auf die nachfolgenüen Zustände einer Handlung ge- 
richteten Schlttsse werden psychologisch durch die Eirwartung 
herbeigeführt, die Erwartung entspringt der häufigen 
Erfahrung, dass sich eine Thätigkeit in einer be- 
stimmten Weise fortzusetzen pflegt — Diese Erwartung 
spielt fär die gesammte innere Verknttpfung der Thatsachen, 


129 

wie sich zum Teil schon oben zeigte, eine sehr grosse Rolle. 
Wir haben hier noch eine andere Wirkung der Erwartung zu 
betrachten. 

In dem obigen Beispiele: der Krieg wurde erklärt können 
wir fortfahren: aber es kam nicht zum Kriege, oder, es kam je- 
doch oder doch es kam, lai sed, tamen u. a.; — d. h. wir sagen 
die Erwartung, welche der Hörende auf den thatsächlichen 
Eintritt des Krieges haben muss, ist in diesem Falle nicht zu- 
treffend. Der Sprechende nimmt also auf die Erwartung des 
Hörers bei der Verbindung seiner Sätze Rttcksicht. Ein Asyn- 
deton, also die verbandlose Zusammenordnung der Sätze, würde 
in diesem Falle gleichfalls adversativ verstanden werden. 

Die Verbindung kann auch eine concessive sein, lateinisch 
mit quamquam, etsi, licet, quamvis^ und quam vis nimmt ja deut- 
lich Bezug auf die inneren Zustände des Hörenden, ursprüng- 
lich wie sehr du willst, die angeredete Person ist aber der 
Hörende. — Griechisch könnte in diesem Falle der Adversation 
aXXä stehen, dessen Grundbedeutung klar ist = in anderer Weise, 
natürlich als der Hörende denkt oder erwartet. Die eigentliche 
Bedeutung einer solchen Verbindung war also : Der Krieg wurde 
erklärt; — es kam anders, als du, oder man, vermutest; es kam 
nicht zum Kriege. Der Begriff in anderer Weise (aXXä) lässt 
sich nicht verbinden mit den Worten: es kam nicht zum Kriege, 
denn nicht dieser Satz wird alteriert, sondern die Erwartung 
des Hörenden. Beide Sätze : es kam anders und der Krieg trat 
nicht ein vereinigen sich schliesslich für das Sprachbewusstsein 
zu einem, sobald in aXXa nur noch seine Function gefühlt wird, 
nemlich die Function des Widerspruchs. 

Lautete der Satz: der Krieg wurde erklärt, und es kam 
also zum Kriege, — so wird damit die gehegte Erwartung be- 
stätigt, die Fortsetzung ist also nicht anders als der Anfang, 
sondern ebenso und das bedeutet also. Man gebraucht daher 
die Adverbia so, also, somit, Lateinisch ita, itaque. Griechisch 
a)öT€ zum Ausdrucke dieses mit der Erwartung übereinstimmen- 
den Verhältnisses, und auch das deutsche so im Nachsatze 
entspringt diesem Gebrauche. Ja, auch das Asyndeton würde 
in diesem Falle durch constructiven Schluss als conclusiv em- 
pfunden werden. 

9 


ISO 

Auch die ttbrigen coneessiven Ansdrncksformen berahen 
auf dieser Erwartung, das deutsche doch aus d6 uch hat die 
Bedeutung : auch in diesem Falle. Also in dem obigen Bei- 
spiele: und doch kam es nicht zum Kriege wird gesagt: auch in 
diesem Falle nicht, wo man es hätte erwarten sollen; ähnlich 
dennoch. Die Bildungen mit auch: auch wenn, wenn auch, xal 
d, el xcd, etsi, etiamsi, die mit jceg, xal jcbq sprechen aus: 
(mch wenn der Krieg erklärt war, so kam es nicht zum 
Kriege, d. h. sie betonen, dass beide Thatsachen neben ein- 
ander Gültigkeit haben, während doch die Erwartung beide 
nicht mit einander yerbinden mag. Ebenso ist das deutsche 
obgleich = wenn in gleicher Weise gedacht. Bei quamquam und 
quamvis wird gesagt: wie sehr auch der eine Fall gültig ist 
er stösst den anderen doch nicht um. Also diese Concessiv- 
sätze sind Gestaltungen der Bede, die der Bedende mit Bttck- 
sieht auf die Erwartung des Hörenden entwickelt 

Wenn wir nun nicht mehr an die vergleichende Grund- 
bedeutung jener Ausdrücke denken, sondern nur an die fol- 
gernde oder widersprechende Function, so haben wir es da 
zunächst mit der schon wiederholt bemerkten Thatsache zu 
thun, dass die Ausdrücke ihrer Function gleich oder congruent 
geworden sind. Aber diese Function selbst ist schon eine Um- 
gestaltung oder besondere Gestaltung der Erwartung. Die Ver- 
hältnisse nemlich, welche in uns die Erwartung auf einen be- 
stimmten weiteren Verlauf erweckt haben, erscheinen uns als 
die Gründe selbst für den Weiterverlauf; es wjandelt sich 
gOmit der psychische Zustand der Erwartung in die 
logische Vorstellung eiQ.es Causalitätsverhältnisses, 
und unsere durch Erfahrung gewonnenen Erwartungen in ihrer 
Totalität sind die Formen und das Schema, nach denen wir 
alles Geschehen in der Welt verknüpfen. 

Wie unvollständig und lückenhaft die Erfahrung ist, auf 
der sieh diese Erwartungen und damit das Causalitätsbewusst- 
sein auferbauen, bedarf hier einer besonderen Ausfuhrung nicht 
Die Mängel dieser Erfahrung sind ja eine Hauptquelle aller 
Irrungen und eine um so gefährlichere Quelle, als auch die 
lückenhafteste Erfahrung die Erwartung für den Handlungs- 
verlauf erregt und ein Gausalitätsbewusstsein bildet Daher 
die vielen thöriehten und kindischen Verknüpfungsformen, wie 


sie sich im Aberglauben und in dem sogenannten mythischen 
Denken der Völker zeigen. Doch wir verfolgen die Unvoll- 
kommenheiten dieser Verbindungsweise nicht weiter, wir con- 
statieren jedoch die für das Sprachleben so überaus wichtige 
Thatsache, dass aus dieser Erfahrung die Erwartung einer be- 
stimmten Weiterentwicklung des Geschehens resultiert und dar- 
aus das Schema, wie wir Handlungsfolgen glauben 
verknüpfen zu müssen. 

Bei dieser Umwandlung der Erwartung verliert sich itn 
Hörenden das Gefühl der Spannung, das der Erwartung eigen 
ist, und bei dem Widerspruch das Gefühl der getäuschten Er- 
wartung ; statt dessen empfindet der Hörer nur das blasse Ge- 
fühl logischer Uebereinstimmung und logischen Widerspruchs. 

Bei dem Character, den jene Erfahrungen tragen, treten 
Durchbrechungen des Schemas oft genug ein, denn die 
Erwartung ist nur auf unvollständiger und lückenhafter Er- 
fahrung erbaut, sie muss also oft falsch sein. Wie unendlich 
häufig sind daher Sätze mit jenem aber, doch in der Erzählung, 
wie oft entwickelt sich die Handlung also anders, als man er- 
wartet hat I Jenes Schema ist also doch nur ein vermutendes, 
es trägt nicht den Character strenger Gesetzmässigkeit 

xvin. 

Zum Bewusstsein, dass die Schlüsse auf die Weiteren t-r 
Wicklung einer Handlung unsicher und nur Vermutungsschlüsse 
seien, kommt der Hörer im Ganzen selten, wenn in der Er- 
zählung auf die Thatsache, welche unsere Erwartung anregt, 
sogleich die Thatsache folgt, welche wir erwartet haben oder 
welche unserer Erwartung entspricht Hört man in schneller 
Aufeinanderfolge die Sätze: A versprach zu kommen, kam aber 
nicht, so hat der Hörer nicht die Zeit, sich der Spannung der 
Erwartung bewusst zu werden und der Unsicherheit hinzugeben, 
ob wohl A kommen werde. Sobald ihm aber die Zeit bleibt, 
diese Erwartung zu empfinden, so wird er auch die Unsicher- 
heit seiner Vermutung empfinden, und die Frage wird ihm auf- 
tauchen: wird er wohl kommen? 

Erzähle ich von Cicero: er ßrchtete, dass er seinen politi- 
schen Einfluss verlieren würde, so steht der Hörer erwartungsvoll 

9* 


132 

der Weiterentwicklung gegenüber, wenn ihm vom Sprechenden 
die Zeit zur spannenden Erwartung gelassen wird; fährt der 
Sprechende aber sogleich fort: und wirklich verlor er seinen 
Einfluss^ so hat der Hörer nur die Empfindung, dass Cicero 
das Uebel richtig vorausgesehen hat, und dass er von dem 
Uebel auch betroffen ist. Der Ausdruck und wirklich hat für 
ihn dann nur die Bedeutung: was dem Cicero als möglich er- 
schien, ist thatsächlich geworden. Lateinisch würde in solchem 
Falle entweder bloss gesagt sein: et amisit^ es bleibt da also 
dem Hörer überlassen zu beurteilen, ob sich die Furcht be- 
stätigt hat oder nicht, — oder man fügt ein versicherndes vero, 
profecto hinzu. Dieser Zusatz kann ursprünglich nur dazu ge- 
dient haben, die erwartungsvolle Frage der Unsicherheit bei 
dem Hörenden mit einem ja, wahrhaftig zu beantworten, oder 
noch richtiger ausgedrückt, die Vermutung des Hörenden zu 
bestätigen. 

Die gleiche Erscheinung findet sich bei den Verben des 
Hoffens, Versprechens, Schwörens, Drohens, Vermutens, bei 
denen die Verwirklichung in der Zukunft zwar angenommen, 
aber mit einer gewissen Unsicherheit erwartet wird. Wir dür- 
fen annehmen, dass das Sprachbewusstsein des Römers bei 
jenem et vero, et profecto schliesslich dasselbe war wie bei 
dem Deutschen und wirklich^ d. h. dass es als Mitteilung des 
Thatsächlichen empfunden wurde. So zeigt sich auch hier, 
wie bei dem griechischen aXXa^ dem deutschen also u. s. f. die 
Umwandlung eines subjectiven Empfindungszustandes 
in die Vorstellung eines objectiven realen Verhält- 
nisses, Der Grund liegt in der Schnelligkeit der Erzählung, 
bei der es nicht möglich ist, das Gefühl der Erwartung bis 
zur Spannung und bis zur Frage kommen zu lassen. 

Geht für den Hörenden das Gefühl der Erwartungs-Span- 
nung bei einer Form des Ausdrucks verlorep, so verliert dieser 
Ausdruck in seiner stilistischen Wirksamkeit einen wichtigen 
Factor, eben jenes spannende Gefühl. War der Grund für den 
Verlust die Eile der Erzählung oder Mitteilung von Thatsachen, 
bei der sich die Spannung nicht entwickeln kann, so wird die 
künstlerische Form der Darstellung dem Hörenden die Zeit 
lassen, die Erwartung zu voller Kraft auszugestalten, denn 


133 

gerade die Spannung der Erwartung ist für die künstlerische 
Erzählung von der grössten Wichtigkeit 

Käme es dem Dichter darauf an, für jene gefahrvollen 
Zeiten des Cicero und fttr dessen Person Interesse zu erregen, 
so würde er nicht bloss sagen : Cicero ßkrchtete seinen Eiiifluss 
zu verlieren, und er verlor ihn wirklich, — sondern er wttrde 
im Einzelnen ausfuhren, welche Vorstellungen, Geflihle und 
Wünsche im Cicero wach wurden. Damit würde die Furcht 
in ihre Teile zerlegt, bei dem Hörer wttrde das Geflihl der 
Erwartung länger festgehalten und damit spannender gemacht. 
Gerade bei der Handlung ist der stilistische Unterschied der 
zerlegenden und comprimierenden Form der Darstellung sehr 
bedeutsam. Man sehe z. 6. wie Goethe die nackte Thatsache : 
Hermann ßrchiet, äass Dorothea ihn abweisen könnte poetisch 
zur Darstellung bringt: (Klio) 

,Aber der Jüngling stand, und ohne Zeichen der Freude 
Hört' er die Worte des Bolen, die himmlisch waren und tröstlich, 
Seufzete tief und sprach : „ Wir kamen mit eilendem Fuhrwerk, 
Und wir ziehen vielleicht beschämt und langsam fiach Hause; 
Denn hier hat mich, seitdem ich warte, die Sorge befallen, 
Argwohn und Zweifel und Alles, was nur ein liebendes Herz kränkt. 
Glaubt Ihr, wenn wir nur kommen, so werde das Mädchen uns 

folgen. 
Weil wir reich sind, aber sie arm und vertrieben einherzieht? 
Armut selbst macht stolz, die unverdiente. Genügsam 
Scheint das Mädchen und thälig, und so gehört ihr die Welt an. 
Glaubt Ihr, es sei ein Weib von solcher Schönheit und Sitte 
Aufgewachsen, um nie den guten Jüngling zu reizen? 
Glaubt Ihr, sie habe bis jetzt ihr Herz verschlossen der Liebe? 
Fahret nicht rasch bis hinan! Wir möchten zu unsrer Beschämung 
Sachte die Pferde herum nach Hause lenken. Ich fürchte, 
Irgend ein Jüngling besitzt dies Herz, und die wackere Hand hat 
Eingeschlagen und schon dem Glücklichen Treue versprochen. 
Ach! da steh' ich vor ihr mit meinem Antrag beschämet." 

Dagegen bei dem Ausdrucke: Cicero fürchtete wissen wir 
von den individuellen Empfindungsvorgängen nichts, die sich 
nach dem Character der Situation und der Person bestimmen, 
ja wir zerlegen uns den Ausdruck fürchten nicht einmal in 


134 

seine allgemeinen Merkmale: erwarten und UebeL So mecha- 
nisch und schnell verläuft die Vorstellungsreihe: er erwartete 
ein Uebel, dass wir uns der einzelnen Factoren einzeln nicht 
mehr bewusst werden, natürlich noch weniger der Vorstellungs- 
factoren von erwarten und von Uebel und so in fortgesetzter 
Zerlegung' weiter. Wir sind gewöhnt, diese Vorstellungsreihen 
so schnell zu reproducieren, dass sie als compacte Einheit, als 
Vorstellungsgruppe empfunden wird. 

Das Fürchten ist uns somit zu einer besonderen Species 
der Vorstellung oder Vermutung geworden. Beachten wir nun 
die griechische und lateinische Constructionsweise dieser Verben, 
so ersehen wir, dass diese Condensierung des Vorstellungs- 
ablaufes nicht immer vorhanden war. In beiden Sprachen folgt 
ein finaler Satz mit fii], ne, negativ ii^ ov, ne non, ut und 
dem Conjunctiv. Die Partikeln fii^ und ne sind blosse Nega- 
tionen, zunächst also ohne die Kraft, einen Nebensatz zu bilden. 
Der Satz : tinieo ne veniat zerfällt also ursprünglich in die zwei 
Hauptsätze: 1. ich fürchte 2. er soll oder möge nicht kommen. 
So lange diese Verbindung in dem etymologischen Sinne em- 
pfunden wurde, musste also auch bei dem Fürchten mit vor- 
gestellt werden, dass die Aussicht auf ein künftiges Uebel das 
Begehren oder den Willen hervorruft, das Uebel abzuweisen, 
bei dem Uebel selbst also musste das Merkmal empftinden 
werden, dass es etwas Abzuweisendes, ein ,fugiendum' sei. 
All diese einzelnen Vorstellungen wurden durch die Mechani- 
sierung zu einer Gruppe gebunden und condensiert, der Willens- 
satz wurde zu einer blossen Ergänzung des transitiven Verbums, 
also zum Objectssatze. Dagegen ist die Form des Ausdrucks 
im etymologischen Sinne der ausführenden künstlerischen Dar- 
stellungsform gleich, wo die prohibitiven Wünsche einer fürch- 
tenden Person dargestellt werden; und bei einer solchen Dar- 
stellung musste die mitempfindende Erwartung des Hörers viel 
spannender sein als bei dem mechanisierten Ausdrucke. 

Eine ähnliche Thatsache bieten die lateinischen Verben 
des Hindems, welche quominus oder ne bei sich haben. Ein 
Ausdruck wie impedio eum, quominus oder ne veniat oder pro- 
hibeo mit gleicher Construction bedeutet etymologisch: ich hin- 
dere ihn, er soll nicht kommen. Allerdings wird weder impedio 
noch prohibeo in einer frühen Zeit einmal ganz deckender Aus- 


135 

druck für das deutsche hindern gewesen sein, vielmehr be- 
zeichneten die Ausdrücke eine Thätigkeit, aus der das Hindern 
erst erschlossen wurde, vielleicht ich verwickle Jemandes Fuss, 
er soll nicht = impedio und ich halte Jemanden in seiner Be- 
wegung nach vom fest = prohibeo. Es kommt hierbei nur darauf 
an zu zeigen, dass der Vorstellungsinhalt, welcher durch den 
mechanisierten Ausdruck im Hörer erregt wird, ärmer ist als 
in der Zeit, wo die etymologische Bedeutung empfunden wurde. 
Dasselbe gilt von den übrigen lateinischen Verben, welche 
ne bei sich haben (vgl. Kühner, Lat 6r. § 190) und zum Teil 
auch quo minus. Zwischen beiden Ausdrucksweisen ist ja ety- 
mologisch ein nicht unerheblicher Unterschied, z. B. Cie. Tusc. 
1, 38, 91 : non deterret sapientem mors, quominus in omne iempus 
rei publica^ consulat: denn entweder ist der Satz mit quominus 
ein indirecter Fragesatz wie die griechischen Sätze mit ojtcoc; 
und bezeichnet die Art und Weise wie Jemand etwas nicht 
thun soll; oder der Satz ist gebildet aus dem relativen Ge- 
brauche des Pronomens qui^ wie das deutsche damit und gibt 
an, dass die Handlung des deterrere u. a. das Mittel ist, durch 
welches Jemand etwas zu thun verhindert wird, also durch 
das Abschrecken am Sorgen verhindert. Die Sätze mit ne da- 
gegen enthalten die Sprachäusserung des abhaltenden oder 
hindernden Subjects zunächst in directer Bede, z. B. Pytha- 
goricis interdictum putatur, ne faha vescerentur Cic. Divinat 
1, 30,]62 ursprünglich: ,sie sollten nicht essen'. Bei diesen Sätzen 
ist das regierende Verbum überflüssig, so lange sie directe 
Bede der sprechenden Person sind, es wird dagegen notwendig, 
wenn der Satz mit ne ein Beferat über die Willensäusserung 
einer anderen Person enthält. Damit ist je nachdem der eine 
Satz Exposition für den anderen, entsprechend der Form der 
ausführenden Darstellung. — Die bei diesen Gonstriictionen 
gebräuchlichen Verba haben natürlich selbst von ihrem etymo- 
logischen Sinn eingebüsst, z. B. ist recuso sicher aus der Ge- 
richtssprache hergenommen, und die überlieferte technische 
gerichtliche Bedeutung: eine Klage ablehnen oder gegen eine 
Klage Einspruch einlegen (vgl. Georges) mag die zu Grunde 
liegende sein. Interdico heisst gewiss ursprünglich ich spreche 
dazwischen, so dass eine Person von ihrem Zwecke getrennt 
wird. Das Endresultat der sprachgeschichtlichen Entwicklung 


13ß 

int dsm: die dareh einen bestimmten Zweek als Mittel 
bestimmte Handlang wird ganz allgemein vorgestellt, 
nieht mehr in der bestimmten Form, wie sie etymolo- 
giseh bezeiehnet wurde. 

Dieser Vorgang ist ein so regelmässiger, dass hier noch 
einige Beispiele stehen mögen: ich weise ehrt Anerbieten zurück^ 
Niemand denkt mehr an den abweisenden Gestos der Hand, 

— ich lehne etwas ab, vergessen ist die Bedentang des Lehnens, 

— ich räume dies ein, concede, permitto, Niemand denkt mehr 
an ein räamliehes Platzmaehen, — ich beschreibe mündlich 
d(u Haus, describo, wer fühlt noch den Widersprach zwisehen 
Sehreiben und der mttndlichen Darstellung? — ich lasse den 
Punkt bei Seite, omitto, praetermitto n. a. 

So lange der eigentliche Sinn deutlich bei den AusdrUeken 
mitempfunden wurde, so lange musste aus der individuell be- 
stimmten Handlungsbezeichnung die allgemeine Gattung er- 
schlossen werden, z. B. aus dem bei Seite lassen die allgemeine 
Kategorie des fiXr unwert halten, aus dem beschreiben das dar- 
stellen n. s. f. War dagegen der etymologische Sinn geschwun- 
den, so wurde bei dem Ausdrucke nur noch die allgemeine 
Kategorie verstanden, der Ausdruck wurde deckend und con- 
gruent mit seiner Function und je allgemeiner um so ärmer. 

Ich denke, wir verstehen so, wie ein timeo, ne und ver- 
wandte Ausdrücke ursprunglich eine viel längere und lang- 
samer ablaufende Vorstellungsreihe beim Hörer erregten als 
nach dem Eintritt der Gongruenz, denn 1. wurde der Inhalt 
des sogenannten regierenden Verbums zur Gongruenz mecha- 
nisiert, 2. wurde der selbständige Hauptsatz mit ne zu einem 
untergeordneten Ergänzungsgliede für das regierende Verbum, 
zu einem blossen Object, damit verkürzte sich a) die Zeit, 
welche der Vortrag der Sätze beanspruchte, b) der Inhalt der 
syntaotisclion Form, in die der Satz eingekleidet war, erlitt 
eine Einbusse seines Inhalts, der Ausspruch des Willens wurde 
nicht mehr empfunden. — Damit musste sich weiter die Mög- 
lichkeit für den Hörer verringeren, bei dem gesamm- 
tcn Ausdrucke die Spannung der Erwartung zu ent- 
wickeln, z. B. ob die Furcht sich verwirklicht. 


137 


XIX. 

Doch wir verlassen diese Fragen und kehren zur Unter- 
suchung zurück, wie der Hörende Handlungsmitteilung versteht 

Wir haben gesehen, wie bei der Verbindung von Subject, 
Object und Thätigkeit eine fortgesetzte Gorrectur statt findet, 
wir haben die Bedeutung der Zweckvorstellung für die Zu- 
sammenfassung der Bewegungen zu einer Handlung kennen 
gelernt und die tiefgreifende Bedeutung der Erwartung für die 
Verbindung und Verknüpfung von Handlungen zu einer lücken- 
losen Handlungsreihe dargestellt, — es bleibt uns nun noch 
die Frage ttbrig: wie und an welchen Sprachmitteln stellt der 
Hörende sich die einzelne Handlung vor? 

Es gibt in allen indogermanischen Sprachen eine Menge 
von denominativen Verben, also solchen, die von einem 
Substantiv oder Adjectiv durch eine Ableitungssilbe gebildet 
werden: so Deutsch ackern, fcutschm, /ussen, stiefeln, zäumen, 
satteln, pflügen, Schriftstellern, tischlern, mauern; röten, er- 
gänzen, kürzen, schwärzen, künden, ebenen, öffnen, trocknen, 
bessern, verschlechtem, entzweien, einen, einigen; donnern, be- 
völkern, blättern, begeistern, rändern, zertrümmern, duzen, ihrzen, 
siezen, schattieren, grundieren, stolzieren und viele andere; 
französische Denominativa stellt Mätzner zusammen, frz. Gramm. 
§ 78 : z. B. barricader, pallisader, voyager, fourager, signaler, 
enibarasser, cuirasser, actionner, perfectionner, occasiomier u. a. 
Italienische Ableitungen dieser Art finden sich unter anderen 
verbalen Bildungen bei Baragiola, ital. 6r. § 135. Lateinische 
Ableitungen bei Kühner, lat. Gr. § 21G S. (vgl. auch die hier 
angegebene Litteratur): comare, cenare, curare, cumulare, nu- 
merare, regnare, vagari, laetari, maturare, calcare, pacare; 
aegrere, albere, salver e, lucer e, lactere; erudlre, finire, grandire, 
ineptire, insanire, ferocire u. a. — Griechische Verba bei Kühner, 
Gr. Gramm. § 328 : ripaa), dvTida>, agiörao), eörido/iai, voiw, 
oxveo, etöai/ioviw, OoHpQoviw, ^oqbo?, xQ^^oco, 6rjX6a>, yvfi- 
v6(o, sXevd^eQoo), ßaOiXe'tw, (povBvoo, jtopjtsvm, öixd^m, ^«u- 
pd^oo, rsixl^o), jtXovrl^cD, prjdl^(D, eXXrjvl^a}, ßaQvvo}, r-dvvco 
und andere. 

Sage ich: er sattelt das Pferd, er pflügt den Acker, er 
trocknet das Holz, er blättert im Buche, er schattiert die Zeich- 


138 

mnig, er ebnet den Weg u. a., so wird der Ausdruck verstanden, 
aber was wird durch die Verba zum Verständniss dem Hören- 
den wirklich mitgeteilt? 

Satteln gibt 1. durch die verbale Ableitungssilbe die Thä- 
tigkeit, aber welche? Keine bestimmte, sondern Thätigkeit im 
aller allgemeinsten Sinne, 2. durch den substantivischen Stamm 
Sattel ein Object dieser Thätigkeit. Die ganze Bildung be- 
zeichnet somit etymologisch eine Thätigkeit mit dem Sattel vor- 
nehmen oder vielleicht besser die Thätigkeit mit dem Sattel 
vornehmen, denn der bestimmende und begrenzende Factor Sattel 
steht an erster Stelle und ist schon im Bewusstsein, bevor die 
allgemeine Thätigkeitsbezeichnung vernommen wird. Beide 
Bestandteile verhalten sich unter einander wieder wie logisches 
Prädicat (Sattel) und logisches Subject (das Thätigkeitssuffix) 
und nach dem schon vielfach beobachteten Gesetze der alt- 
indogermanischen Wortstellung steht das logische Prädicat vor 
dem logischen Subjecte. 

Da dem Hörer bei jenen Bildungen nicht gesagt wird, 
welche Thätigkeit an dem Sattel zu denken sei, so muss er 
ein Verständniss dafür gewinnen 1. aus dem ganz allgemeinen 
BegrifiFe Thätigkeit 2. aus einem Objecto an dem diese Thä- 
tigkeit zu denken ist und, wird das Object das Pferd noch 
hinzugefügt, so erhält der Hörer damit einen neuen Beziehungs- 
punkt, nach dem er die am Sattel vorzunehmende Thätigkeit 
bestimmen und begrenzen kann. 

Sagen wir: er pflügt den Acker, so erhalten wir zunächst 
wieder die allerallgemeinste Thätigkeit, die am Pfluge vorzu- 
nehmen ist, und als weiteren Beziehungs- und Begrenzungs- 
punkt das Object Acker. Wir finden hier also die schon oben 
bei der Beziehung von Subject, Object und Verbum beob- 
achtete Thatsache wieder, dass der Inhalt einer Thätig- 
keit vom Hörenden construiert werden muss, indem er 
gewisse Beziehungspunkte der Thätigkeit richtig ver- 
bindet. Die Verbindungsweise selbst muss er kennen, mit- 
geteilt wird sie ihm nicht. 

Es ist, um ein Gleichniss zu geben, wie mit einer geome- 
trischen Aufgabe: es wird' uns z.B. das Dreieck nicht fertig 
gegeben, sondern drei Punkte in der Ebene und die Forderung 
ein Dreieck zu construieren, wir haben dann die verbindenden 


139 

Linie nach unserer Kenntniss des Dreiecks selbst zu finden; 
oder werden uns drei Punkte in der Ebene gegeben und der 
Name Kreis, so haben wir die verbindende Kreislinie selbst 
zu construrieren. Wie nun für die Anschauung der mathe- 
matischen Figur die Linien als das eigentlich wichtige er- 
scheinen, und in den genannten Fällen doch nicht gegeben 
werden, so erscheint die verbindende Thätigkeit bei der Hand- 
lung als das eigentlich Wesentliche, aber auch sie ist nicht 
gegeben, sondern muss wie die Lösung jen6r geometrischen 
Aufgabe gefunden werden. 

Sage ich: er einigt die Streit enden, er ebnet den Weg, er 
ergänzt das Buch, er öffnet die Thür, so sind fttr den Hörenden 
Erkennungsmerkmale der Handlung 1. die Thätigkeit allgemein 
gefasst, 2. die Zustandsbezeichnungen wie eben, einig, offen, 
ganz 3. das Object worauf diese Thätigkeit gerichtet sein 
soll Zunächst construieren wir die Beziehbarkeit dieser Mo- 
mente : die Thätigkeit soll so auf das Object gerichtet werden, 
dass dieses Object in den angegebenen Zustand kommt, die 
Thür z. B. soll so behandelt werden, dass sie offen ist Wie 
das geschieht oder geschehen soll, müssen wir wissen, eine 
Mitteilung erhalten wir darüber nicht. Also die Handlung wird 
nicht mitgeteilt, sondern erschlossen. 

Sagen wir: er Schriftsteller l, er tischlert, er sattlert, iii]6i^€i, 
eXXijvl^ei u. a., so ist ausser der allgemeinen Thätigkeit eine 
Kategorie von Personen genannt: Schriftsteller, Tischler, Sattler, 
Meder, Hellene^ eine Kategorie die sich in unserer Seele nach 
ihrer Beschäftigung oder nach ihrem Character von den übrigen 
Personenkategorien ausgesondert hat Der Hörende erhält so- 
mit zwei Personenbezeichnungen das Subject und die Kategorie- 
bezeichnung, das Prädicat Beide stehen ungefähr in dem 
Verhältnisse, als sagte man: er ist ein Tischler. Der Hörer 
muss beide Personenbezeichnungen richtig construieren, er con- 
struiert Schriftsteller, Tischler, Sattler u. s. f. hier nicht wie 
Pflug, Acker, Sattler, sondern als Personen auch persönlich 
handelnd. Er erschliesst daher die Verbindung : er handelt als 
Schriftsteller u. s. f. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, dass 
solche Verbalbildungen von persönlichen Substantiven, die einen 
besonderen Charakter oder eine besondere Kategorie von Men- 
schen bezeichnen, in freier Weise stets neu gebildet werden 



140 

können. So wurde beim Bekanntwerden des Zastrowschen 
Verbrechens in Berlin ein Verbum zaslrorven gebräuchlich, eben- 
so von dem Verbrechen des Dr. Preuss preussen. 

Aus dieser Betrachtung haben wir drei Wege kennen 
gelernt, wie eine bestimmte Handlung zum Verständ- 
nisse gebracht werden kann: 1. durch Angabe der von 
der Handlung berührten oder afficierten Objecte wie satteln, 
pflügen, 2. durch Angabe des Zwecks der Handlung, ebenen, 
vereinigen, 3. durch Angabe von Personen, an denen wir 
eine bestimmte Art von Thätigkeit zu sehen gewohnt 
sind, schriftsteilem, tischlern. 

Wir sahen oben, dass die afficierten Objecte eigentlich die 
räumlichen Ziele der Thätigkeit sind, in sofern Hesse sich die 
erste Art der Handlungsbezeichnung auch die nach den räum- 
lichen Zielen nennen. Nun unterscheiden wir jedoch in Folge 
der Mechanisierung der Thätigkeit und der Trennung der Aus- 
drucksform scharf zwischen afficiertem Objecte und räumlichem 
Ziele, also bleiben wir lieber bei der Bestimmung durch affi- 
cierte Objecte. Aber die Begrenzung der Handlung nach den 
räumlichen Zielen ist auch so eine sehr häufige Art Hand- 
lungen zu bezeichnen : bekannt ist wohl sehr weit in Deutsch- 
land der Vulgärausdruck nach Stadt machen, nach Berlin machen. 
Das machen ist verbaler Ausdruck der Thätigkeit ganz im 
Allgemeinen, das Bestimmnngsmomente liegt allein in dem 
räumlichen Ziele nach Stadt, nach Berlin, Ebenso steht es 
vermutlich mit dem latein. proficisci, einer Ableitung von facio 
und dem Bestimmungsmomente pro = nach vorn. Das Deutsche 
Ollzweien ist eine Ableitung vom alten in zwei, der Ausdruck 
bezeichnet also ursprünglich das Ziel, wird aber jetzt als Be- 
stimmung nach dem Zwecke anfgefasst, weil wir entzwei als 
Zustandsbezeichnung empfinden. Französisch gehören hierher 
wohl Bildungen wie amasser {zusajnmenbringen aus *a mas\ 
amalir (von mat, glanzlos lassen), amaigrir, amari7ier u. a. 

Wie das räumliche Ziel und das afficierte Object eigentlich 
zusammenfallen, so der Zweck und das efficierte Object. Und 
da es sich bei unserer Untersuchung über das Verständniss 
der Handlung gar nicht um einzelne Verba allein handelt, so 
sind hierher zu ziehen die bekannten Verbindungen wie Romur 
lum regem fecit, griech. noutv ßaoiXia, eine Verbindung in der 


141 

Romulum afficiertes, regem efficiertes Object ist, oder Zweck, und 
die ZweckbezeichDung enthält der deutsche Ausdruck zum 
Könige machen. Hier ist das Thätigkeitswort ganz allgemein 
und die besondere Art derselben muss erst erschlossen werden. 
Doch ebenso notwendig ist ein Schluss bei den etwas spe- 
cielleren Thätigkeitsbezeichnungen wie xad^cördvai, djtoöeixvpai 
efftcere, creare consulem, reddere caecum, declarare, designare 
consulem; denn die in der betreffenden Verbindung zu ver- 
stehende Thätigkeit ist viel specieller als die durch das Ver- 
bum angezeigte. 

Wir stehen hier somit vor einer ähnlichen Erscheinung 
wie bei der Substanz, die zwei Hauptgattungen der psycho- 
logischen Substanz, die persönliche und unpersönliche, zerlegten 
wir in Untersubstanzen, wie Jüngling, Neger n. a. Und so lässt 
sich auch die allgemeinste Gattung der Thätigkeit in viele 
untergeordnete Genera und Species zerlegen. Statt sat- 
teln^ ursprünglich in dem Sinne sich mit dem Sattel zu thun 
machen lässt sich auch sagen den Sattel dem Pferde auflegen; 
legen und auflegen sind untergeordnete Genusbezeichnungen 
der Handlung. Statt schattieren lässt sich sagen : den Schatten 
zeichnen, statt ihrzen, duzen: ihr sagen, du sagen, statt nach 
Berlin machen: nach Berlin reiseti, gehen, fahren. 

Es ist jedoch deutlich, dass auch bei dieser Art der Be- 
zeichnung ebensogut Ergänzungen notwendig sind wie bei der 
allgemeinsten Thätigkeitsbezeichnung. Z. B. auf das Pferd den 
Sattel legen soll eine ganz andere Art der Thätigkeit bezeich- 
nen als das Buch auf den Tisch legen, die Decke auf den Fuss- 
boden legen. Diese besondere Art der Thätigkeit müssen wir 
aus dem Character der Beziehungspunkte ergänzen und ferner 
aus dem Zweck, z. B. wie wir den Sattel anzufassen haben, 
wie das Buch, wie die Decke, wie hoch und mit welcher Kraft 
wir diese Dinge heben müssen, wie wir die Decke ausbreiten, 
den Sattel festschnallen müssen, damit der Reiter diesen be- 
nutzen könne, die Decke ihrem Zwecke entspreche. Und nach 
Berlin fahren bezeichnet für Jemanden, der an der Bahnstrecke 
nach Berlin wohnt etwas ganz anderes, als für Jemanden, der 
die Post oder eigenes Gefährt benutzen muss, nach Hamburg 
fahrest ist für den Americaner und Engländer ganz etwas anderes 
als für den Leipziger. 


142 

Die besondere Species mnss also anch bei Angabe der 
Unterarten der Handlungsbezeichnung ergänzt und erschlossen 
werden, oder wird diese genau bezeichnet, ,so ist die indivi- 
duelle Art zu erschliessen, d. h. die Art und Weise, wie gerade 
das betreffende Subject diese Thätigkeit ausführt. Auf diesen 
Punkt werden wir noch zurückkommen. 

Doch wir haben eine Klasse von Begrenziungspünkten der 
Thätigkeit noch fast ganz ausser Auge gelassen, die localen 
Begrenzungspunkte, wenigstens haben wir von diesen nur 
das räumliche Ziel genannt. Die Fahrt geht von Hamburg nach 
London, — in diesem Satze ist der terminus a quo ebenso 
wichtig für die Handlungsbezeichnung wie der ad quem, — ich 
holte Wasser aus dem Brunnen, der terminus a quo Ist hier 
von der grössten Bedeutung für die Begrenzung der Thätigkeit 
Er ging über die Strasse, durch das Korn, unter der Drücke 
durch, jfl>er den Berg u. s. f.; er lebte in Berlin, ass im Gatten 
u. s. f. — lauter locale Begrenzungen der Handlung, durch 
welche ihr eigentümlicher Character erst constittiiert wird. 

Somit kommen zu den genannten Beziehungspnnkten für 
das Verständniss der Thätigkeit noch die localen hinzu. 

Wir können diese Punkte mit einer Anzahl anderer Punkte 
zusammenfassen zu der Klasse der adverbialen Bestim- 
mungen. Auch diese bestimmen den Artbegriff der Thätigkeit; 
so ist z. B. durch das Schwert bei töten, durch den Strang u. a. 
sehr bedeutungsvoll ftbr die Art der Handlung. — Es ist nicht 
notwendig an dieser Stelle auf diese Begrenzungspunkte näher 
einzugehen, da wir gesehen haben, wie das Verständniss aus 
Beziehungspunkten überhaupt erschlossen wird. 

Nur das sei bemerkt: eine grosse Zahl dieser Adverbia 
sind locale Bestimmungen oder haben sich aus der localen Be- 
deutung heraus zur modalen entwickelt z. B. qua lateinisch 
eigentlich local dann auch modal und so stets in quasi, man 
vergleiche zum Verständnisse dieses Vorganges deutsehe Aus- 
drücke: auf dem Wege des Frevels, auf dem Wege der Gewalt, 
auf den Bahnen der Sünde, ferner der Gebrauch ursprünglich 
localer Präpositionen wie per Utteras, per vim, griech. öia, ix. 


148 


XX. 

Unsere Geftthlslage nimmt als Wunsch und Wille, als Ab- 
weisung, als Lust als Sehmerz, als Zorn oder sonstiger Affect 
zu den Objecten der Aussenwelt bestimmte Stellungen ein, aus 
denen eine Handlung oder ein Zustand des Sinns ergänzt 
werden kann. Ganz vul^r sind deutsche Ausdrucke : ick wollte 
nach Hamburg, ich wollte fort von Hause und in die Fremde, 
das Packet soU nach Berlin, ich möchte fort, nach x, raus, ins 
Freie u. s. f. 

Wir haben es hier mit Verbindungen von Willensverben 
mit örtlichen oder räumlichen Bestimmungspunkten zu thun, 
Verbindungen, die vom Hörer aufgefasst werden in dem Sinne : 
ich möchte dahin gelangen, fahren, transportieren u. a., und ich 
möchte fortgehen von u. a. — Doch sprachlich bezeichnet ist 
nur der Wille und das Ziel oder der Ausgangspunkt, und je 
nach der Weise, wie sich bei den Beziehungspunkten der Wille 
realisieren lässt, ergänzt der Hörer die gewollte, gewünschte 
oder geforderte Thätigkeit. 

Genau dieselbe Er^nzung erschliesst der Hörende, wenn 
bei diesen Verben ein Object genannt wird: ich möchte das 
Buch, ergänzt haben, kaufen, — ich will einen Teller Suppe, 
ergänzt haben, essen; ich wünsche, möchte Tinte, Fleisch, er soll 
einen Teller Suppe u. s. f. 

Wir hatten nun in der ersten Untersuchungen gesehen, 
dass die Geftihlsvor^nge sehr unmittelbar durch eine besondere 
Art der Tonmodulation, des Tempos und der Intensität des 
Vortrages bei dem Menschen als Geftihlsausbruch zum Aus- 
drucke kommen. Selbstverständlich kann die Form der Actio 
dieser Affecte, wie wir dies nannten, die Verba fllr den Affect 
ersetzen. Doch dieser Geftthlsausbruch ist unmittelbar 
und direct und hat stets das sprechende Subject auch zum 
Handlungssubject, also ist der Ersatz durch den Empfindungs- 
ton nur in den Fällen möglich, wo der Sprechende auch zu- 
gleich das Subject jener Empfindungen selbst ist. Die Form 
kann auf die referierende Rede, wie wir an einer früheren 
Stelle bemerkten nur nach den Bildungsgesetzen der indirecten 
Rede, also mit verändertem Tone und mit Referatsexposition 
übertragen werden. 


144 

So besprachen wir früher ausführlich die in einem Objecte 
bestehenden Imperativsätze, wie meine Stiefeln, Butterbrod, 
ein SliAckchen Brod u. s. f. 

Diese Sätze waren zunächst Angaben des schmerzlieh 
vermissten Gegenstandes, wurden aber vom Hörer als Auf- 
forderungen empfunden z. B. die Stiefeln zu bringen oder auch 
zu putzen, zu gehen, zu flicken, — das Butterbrod zurecht zu 
machen und zu geben, den Hut aus dem Schranke zu nehmen, 
im Wesentlichen den gewünschten Gegenstand in der ihm 
entsprechenden Weise dem rufenden Subjecte zu Teil werden 
zu lassen oder zu geben, natürlich je nach der anschaulichen 
oder bewussten Situation oder, wie wir nun sagen dürfen, nach 
den anschaulichen oder bewussten Beziehungspunkten auch 
eine andere Handlung damit vorzunehmen : Z. B. Buch -» aus 
demselben vorzulesen , die Bilder = diese zu zeigen, — noch 
einen Blick = das Auge noch einmal auf eine Person oder 
einen Gegenstand zu richten, — einen Schluck «= thun zu lassen. 

Man darf hier einerseits afficierte und efficierte Objecte 
unterscheiden, welche bei dieser Ausdrucksweise gegeben wer- 
den sollen und andererseits Handlungsobjecte oder innere Ob- 
jecte, welche nach ihrer Weise gethan werden sollen, z. B. 
einen Zug aus der Pfeife, — bei der Anschauung eines Blei- 
stiftes noch einmal nemlich damit schreiben oder zeichnen, noch 
einen Druck, noch eine Fahrt, 

Einen Unterschied macht es femer, ob das afficierte und 
efficierte Object für die sprechende oder die angeredete Person 
gefordert wird, ein sprachlicher Unterschied ist dadurch nicht 
bedingt. So kann noch ein Butterbrod Forderung für den Hö- 
renden sein, dann wird ergänzt und erschlossen nehmen, natür- 
lich wieder in der dem Object entsprechenden Weise. 

Ebenso ist es bei den Forderungen mit einem localen 
Ziele: nach Berlin am Billetschalter gerufen wird verstanden 
als: gehen Sie mir ein Billet nach B, Doch ebenso kann 
dem Bedienten zugerufen werden: zum Kaufmcmnl — dieser 
erschliesst die Aufforderung zum Kaufmann zu gehen oder 
etwas dorthin zu bringen. Der Ausruf: her damit ist eigent- 
lich wohl gemeint in dem Sinne: komm damit her^ wird 
aber verstanden als gib das her. Natürlich ist ein Unterschied 
bei den übrigen localen Bestimmungen nicht, so beim Aus- 


145 

gangspnnkte der Bewegung: runter vom Stuhle, fort, raus, aus 
dem Hause, vom Pferde, weg mit den Büchern, fort den Wein; 
oder mit einem Objeete bei dem terminus a quo und ad quem: 
die Hände aus den Taschen, Hand von der Butter, das Schwert 
in die Scheide, das Buch in den Schrank, 

Aueh hier kann die Aufforderung eine doppelte Beziehung 
haben, entweder einen Befehl für den Angeredeten enthalten 
oder aueh eine Aufforderung des Sprechenden an sich selbst 
sein oder an sich und den Angeredeten zusammen. Die Selbst- 
anrede ist nach den Grundsätzen zu beurteilen, welche wir 
beim monologischen Sprechen entwickelt haben, doch die An- 
rede des Sprechenden an die anwesende Person mit Einschlnss 
der eigenen Person ist die Grundform des Adhortativus, z. B. 
fort von hier = lass oder lasst wis fortgehen von hier, Dass 
die sprechende Person sich bei der Aufforderung mit meint, 
muss der Hörende natürlich erst erschliessen. 

Nun noch einige Beispiele fUr die übrigen localen Be- 
ziehungen : durchs Thor, über den Tisch, im Schranke (z. B. soll 
gesucht werden), mit dem Besen (soll gefegt werden) u. s. f. 

Auch die Demonstration lernten wir als Imperativ kennen 
z. B. hier, gnädige Frau, da oder vielfach dialectisch /«/, man 
ergänzt beim Hören ein nimm, nehmen sie, essen sie u. s. f. 

Auch derVocativ ist ein Imperativ und wird verbal, d.h. 
als Handlungsausdruck verstanden: du! du da! Sie! Heda! 
Holla! Karl! iQ nach der Situation ergänzt man diesen Im- 
perativ als: höre, nimm, komm, wach auf als Verwarnung = 
thue das nicht, als Anspomung, aufmerksam oder gehorsam 
zu sein. 

Auch die Frage ist ihrem Wesen nach, wie wir sahen, 
imperativisch. Götz ruft: Wa^ für Nachrichten von meinen lieben 
Getreuen?^ und ergänzt wird: bringst du entsprechend dem 
Character des Objects und der Situation des Subjects. Man 
tritt in ein Zimmer und fragt: was? Feuer im Ofen oder ge- 
heizt? neue Stühle? (schon) die Lampe? bei der Arbeit? In jedem 
Falle ergänzt der Hörende eine andere Handlung. Wenn Götz 
ruft: meine Leute, wo sind sie? so ist die Frage: meine Leute 
bei der Situation ausreichend, der Zusatz wo sind sie? ist nach- 
trägliehe Correctur? Locale Fragen sind: nach Berlin? von 
Hamburg? durch das verbotene Thor? auf der neuen Strasse? 

10 


146 

Die Affecte der Freude und des Schmerzes führen zu 
derselben Ausdrueksweise und derselben Art des erschliessenden 
und ergänzenden Verständnisses seitens des Hörers. Sieg! 
Sieg! wird gedeutet als ich, wir haben gesiegt; — der Vater 
= ist da, ist gekommen, kommt, wird kommen; — ein Brief! 
Hochzeit! ein Kuchen! — heute zu Müllers = wir sind zu 
Müllers eingeladen, werden zu Müllers reisen u. s. f. — Beim 
Schmerze: weh, weh! der Löwe! ins Geßngniss =^ Bollen wir; 
Götz ruft: in Ketten meine Augäpfel, eine Klage im Götz lautet: 
Weh, weh! seine Wunden, ein schleichend Fieber;' — eine andere: 
Weh, weh! Gift von meinem Weibe! Mein Franz verführt durch 
die Abscheuliche! 

Im wegwerfenden AflPecte kann gerufen werden: pah! 
diese Elenden!, pfui! dieses Stü lieben oder über dieses Still- 
leben!, Schwindel! Unsinn! Humbug! Auch diese Prädicate 
von einer Handlung, von Personen, von Zuständen können und 
werden thatsächlich als Handlungen gedeutet, als Verba des 
Verurteilens verstanden oder = sie treiben Schwindel, Unsinn u.s.f. 

Als Beispiele für andere affectvolle Ausrufe mögen 
folgende Wortsätzchen dienen : Der Gerichtsdiener sagt zu Götz : 
Ich werde Euch begleiten, — Götz antwoi*tet: Viel Ehre! — 
Dank! vielen Dank! franz, merci, ital. grazie!, Er oder ich! Aus 
Egmont: Da gings! Rick, rack, herüber, hinüber! noch einen 
Schritt, und ihr seid verloren! Umsonst, der Nachbar schreitet — ; 
nach Frankreich! im Unwillen gerufen ist so viel als ich will 
nicht nach Frankreich. Ein Knall, und das Haus war ver- 
schwunden, — ein Krieg, und nichts bleibt übrig, — eine Brücke, 
und ich bin gerettet, — Mir das! mich zu schelten! me miserum! 
vae victis! Lauter leidenschaftliche Ausrufe, bei denen eine 
Thätigkeit vom Hörenden erschlossen wird. 

XXL 

Zunächst ist aus diesen Formen der directen und unmittel- 
baren GefÜhlsäusserung klar, dass es zum Verständniss 
einer Handlung gewisser besonderer Worte, die wir 
Verba nennen, gar nicht bedarf. Wo die sprechende und 
empfindende Person als solche vor unsem Augen gegenwärtig 
thätig oder leidend ist, werden die Handlungen ersohlossen. 


147 

welche erfahrnngsmässig diesen Empfindnngsznstand herbei- 
ftthren oder ihn beseitigen. 

Die Beziehungspnnkte der Handlung zerfallen bei dieser 
unmittelbaren Mitteilungsweise eigentlich nur in zwei grosse 
Klassen: 1. in das Subject, und das ist schliesslich der 
sieh selbst bewusste Mensch allein, 2. in Objecto, die 
entweder persönlich oder unpersönlich sind; und zu diesen 
gehören alle localen Beziehungspunkte der Handlung, nicht 
blos das locale Ziel als afficiertes Object und der Zweck als 
ef&ciertes Object, auch der Ausgangspunkt und die Punkte 
über die sich eine Handlung hin erstreckt und der Ruhepunkt 
der Handlung, sie alle werden von der Handlung tangiert, und 
sie alle sind Vorstellungsobjecte des redenden sich 
selbst bewussten Subjects. 

Empfindet der Hörende als selbstbewusst schliesslich sich 
nur selbst, so ist diese Empfindungs- und Anschauungsweise bei 
jeder anderen Person gleichfalls vorhanden, eine jede empfindet 
als selbstbewusst eben nur sich. Und obgleich der Hörende 
in dem Sprechenden, mit dessen Zuständen er Sympathie hat 
und der ihm als Anschauungsbild objectiy vor Augen steht, 
nur ein Object sehen kann, so versteht er dieses Object und 
dessen innere Zustände doch nur, insofern er dessen Zustände 
den seinen gleich setzt und nach dieser Analogie deutet, indem 
er sich also in die Seele des Sprechenden versetzt. Und da 
dieser Process des Menschen, einen Anderen mit sich innerlieh 
gleich zu setzen, zu den allerhäufigsten gehört, so muss er 
auch zu denen gehören, die am stärksten mechanisiert und 
darum am meisten unbewusst ablaufen. 

So wird der Redende für den Hörenden auch wieder Sub- 
ject Das wahre und eigentliche Subject kann also nur Ich 
sein, d. h. die erste Person, das nächste Subject ist für die 
I. Person die II Person, die fllr die I. Person auch wieder 
Object ist, also ein secundäres Subject. Tertiäre Sub- 
ject e sind die der III. Person, insofern sie als selbstbewusste 
Ursache von Handlungen im Bewusstsein der I. und H. Person 
vorhanden sind. Ein vierter Grad würde bei den Subjecten 
vorhanden sein, welche im Bewusstsein einer tertiären IIL Per- 
son vorhanden sind, ein fünfter Grad bei denen, welche von 
einer quartären IIL Person als selbstbewusste Ursachen em- 

10» 


148 

pfunden und vorgestellt werden und so in unendlichen Ab- 
stufungen weiter. Ganz entsprechend stufen sich die Ob- 
jecte ab. 

Würde dieses Verhältniss in der Sprache zum Ausdruck 
gebracht, so würde die Durchsichtigkeit und Einfachheit der- 
selben darunter ausserordentlich leiden. Doch auch hier hilft 
die Mechanisierung, der Sprechende verliert das Bewusstsein, 
dass die II. und III. Person ausser ihrer Subjectsfunction ihm 
gegenüber zugleich Objectsfunctionen hat. Man vergegenwärtige 
sich einmal die endlose Kette, die entstehen würde, wäre dieses 
Bewusstseins nicht geschwunden. Wollte man z. B. ausdrücken: 
Cicero meinte, dass seine Feinde ihn vernichten wollten, so würde 
zu sagen sein: Ich {der Sprechende) habe in mir den Cicero 
als Erinnerungsohject, diesen Cicero stelle ich vor, dass er seine 
Feinde als Beyvusstseinshild in der Seele hatte, und dass er seine 
Feinde vorstellte, dass sie, die ihn zum Bewusstseinsohject 
hatten, der wieder Subject für den Cicero selbst war, vernichten 
wollten. 

Die Vereinfachung des sprachlichen Ausdrucks 
besteht darin, dass der Redende das Subjectsbewusstsein, das 
er in und an sich selbst erfahren hat, auf andere Subjecte 
überträgt, und dabei selbst ganz zurücktritt, obgleich eine An- 
deutung des Verhältnisses noch gewahrt bleibt in der Unter- 
scheidung der Personen, von denen die I. Person primäres, die 
IL und ni. Person secundäres und tertiäres Subject sind. Aber 
diese Andeutung ist mechanisiert und so verkürzt, dass sie 
nicht mehr das Bewusstsein trifft. 

Die üebertragung selbst aber ist nichts weiter als- Ein- 
setzung der Sprachformen der I.Person in die IL und 
III., d. h. der Formen der directen und unmittelbaren 
Rede in das Referat, wobei, wie wir sahen, 1. Veränderungen 
des Empfindungstones eintreten, 2. expositioneile Zusätze über 
die Situation notwendig werden. 

Es würde nun zu fragen sein: welches sind die Formen 
des directen und unmittelbaren Empfindungsausdruckes ? Diese 
Frage ist im vorhergehenden Abschnitte und in der ersten Ab- 
handlung ausführlich erörtert. Diese Ausdrucksform ist der 
Woi-tsatz. 


149 

Die weitere Frage würde die sein: welches sind die Ex- 
positionsmittel des Referats? 

Diese Mittel sind die Mittel, durch welche es möglich ist 
ein logisches Prädicat dem Hörer zum Verständnisse zu bringen, 
dessen Situation weder in der Situation der Anschauung noch 
in der der unmittelbaren Erinnerung gegeben ist. 

Diese Antwort ist allerdings eine sehr allgemeine, doch in 
der Definition lässt sie sich nicht anders geben, wohl aber lässt 
sie sich veranschaulichen. Bei dem Referat ist 1. die Hand- 
lung vollendet und zwar so vollendet, dass die Folgen nicht 
mehr als Zustand anschaulich gegenwärtig sind, die Handlung 
ist die des Aorist; 2. die Person, welche die Handlung gethan, 
ist als handelnde Person nicht gegenwärtig und somit auch 
nicht als bei der Handlung empfindende oder leidende Person. 
Mag also z. B. die erste Person über eine eigene frühere Hand- 
lung referieren, die damaligen Empfindungszustände und ihr 
sprachlicher Ausbruch sind nicht gegenwärtig, sie müssen da- 
her durch ein Wort bezeichnet werden, das den Empfindungs- 
zustand als nicht gegenwärtig sondern verobjectiviert dem 
Hörer in das Bewusstsein rafen kann, also z. B. ein Ausdruck 
für zürnen, sprechen, klagen, sich /reuen; ferner ist der Em- 
pfindungszustand nicht gegenwärtig, so fehlt auch die Bezeich- 
nung des handelnden, sprechenden, zürnenden, klagenden Sub- 
jects auch dieses muss sprachlich bezeichnet werden. 3. Die 
dem früher handelnden Subjecte gegenüberstehende Person 
oder Personen, wenn solche vorhanden waren, sind nicht gegen- 
wärtig, sie müssen bezeichnet werden, 4. ebenso die nicht als 
IL Personen zu rechnenden Personen, auf welche die Handlung 
sich bezieht, müssen bezeichnet werden, 5. die Objecto im 
weitesten Sinne des Wortes, also auch die localen Punkte, auf 
welche die Handlung sich bezog. 

Doch hieraus ergibt sich noch kein klarer Unterschied von 
der unmittelbaren Rede. Was wurde hier bezeichnet? Nur 
die logischen Prädicate. In der referierenden Rede werden 
aber auch die logischen Subjecte bezeichnet. Z. B. Sieg^ Sieg! 
war directe Rede, der Hörer wusste, wer sprach, wer die Em- 
pfindung der Freude hatte, wer gesiegt hatte. Referierend 
könnte ein Satz lauten: A ruft: Sieg, Sieg!, dann wäre A ruft 
die Exposition. Wollen wir aber referieren, dass A einmal 


150 

siegte, so müssen wir sagen: A siegte. Was ist hier Exposition 
der referierenden Rede? 1. A das Subject, 2. die Elemente 
wodurch der Sieg in die Vergangenheit verlegt wird, also hier 
etwa die Silbe -te oder im griechischen tvlxfjös die ableitenden 
Bestandteile, wodurch der Stamm vcxi]- zur III. Person des 
Aorist wird. 

Rufe ich: meine Stiefeln, so wird das indirect: A rief: 
meine Stiefeln oder A fordert [meine] seine Stiefeln, Exposition 
ist hier A rief, A forderte, die Veränderung vom directen mein 
in sein steht auf gleicher Stufe mit der Veränderung des Em- 
pfindungstones. Ich brauche die gleichen Vorgänge an den 
anderen Teilen der Exposition nicht auszuführen: Pest über dich! 
würde referierend sein A wünschte die Pest über B, — her da- 
mit würde referierend sein, A befahl B den Gegenstand x zu 
bringen. Wie wir schon an einer früheren Stelle sahen, werden 
aber auch auf dem Boden der Anschauungs- und Erinnerungs- 
situation gewisse expositioneile Bestandteile notwendig, daher 
auch bei solchen Situationen: her das Buch. 

Doch wir dürfen nicht übersehen, dass das Referat auch 
auf der Stufe der Gegenwart möglich ist, wenn nemlieh, 
1. von einer nicht anwesenden, also III. Person eine gewohn- 
heitsmässige Handlung mitgeteilt wird, 2. eine Handlung, welche 
sich an einem anderen Orte abspielt, während der Sprechende 
die Mitteilung macht, z. B. A lügt = pflegt zu lügen, oder A 
geht jetzt auf die Jagd. 

Also die Handlungssätze mit den präcisen Formen 
des Verbums werden thatsächlich erst notwendig auf 
der Stufe des Referats, und die Formen des Referats 
müssen einfach als indirecte Rede verstanden werden. 
Wenn wir nun in den Referatssätzen das Object, die localen 
Beziehungspunkte, die Zustandsbezeichnungen als ergänzende 
Bestimmungen bei dem Verbum antreffen, so ist dies nicht das 
ursprüngliche, alte Verhältniss. Diese Beziehungspunkte waren 
ursprünglich, wie wir sahen, also in der unmittelbaren Em- 
pfindungsrede, Sätze, Wortsätze, diese wurden bei dem Referate 
zunächst selbständig mit den exponierenden Elementen zu- 
sammengestellt, verbanden sich dann aber nach dem Ent- 
wicklungsgesetze der indirecten Rede mit den Expositions- 
elementen und wurden so zu Satzteilen. 


151 

Erst bei dieser Auffassung der Satzentstehung erhält auch 
das früher Besprochene sein volles Licht: die Sätze timet, ne 
und die verwandten lateinischen Sätze mit ne waren deutlich 
die Verbindung eines exponierenden Verbums und der directen 
Bede = er fürchtet: A soU nicht kommen, er weigert sich: A 
soll nicht erhallen. Die directe Bede selbst aber zeigt schon 
die entwickelte Form der Beferatsrede mit besonderer Verbal- 
form, die directe Empfindungsrede sagt nur : A nicht das Buch. 
Utar aliqua re, XQHcO^al xcvl sind in ihrer Construction höchst 
wahrscheinlich ebenso zu erklären. Die directe Bede sagte: mit 
dem ßeile, die Beferatsrede setzt als Exposition uti und xQV^^^f' 
hinzu, der Instrumentalis blieb dabei. 

Die Verba der Absicht, welche ursprünglich in den indo- 
germanischen Sprachen den Infinitiv regierten, wie das Grie- 
chische und Deutsche beweist, daneben das alte Latein und 
die Isolierungen dieser Construction bei volo, nolo, malo, cupio 
den Verben des Beschliessens, — diese Verba sind alle Ex- 
positionen von Empfindungszuständen, welche in der unmittel- 
baren Bede kaum Gelegenheit war auszudrücken, oft; dagegen 
im Beferat. Bedenken wir nun, dass der Infinitiv in der un- 
mittelbaren Empfindungsrede oft Imperativ- oder Willensaus- 
druck ist, dass der Infinitiv eigentlich Substantiv war, so wird 
es auch hier wahrscheinlich, dass er aus der directen Bede 
beibehalten war. Z. B. nicht gehen, gehen direct, — er wünschte 
nicht — gehen indirect. — Und nur so erklärt sich die Negation 
bei den griechischen Verben z. B. des Hindems mit dem In- 
finitiv, z. B. excokvösv avxov fiij levac: nicht gehen! er hin- 
derte ihn. 

Wenn wir nun sehen, dass Handlung immer erschlossen 
wird, erschlossen wird aus den genannten Beziehungspunkten, 
wenn wir weiter sehen, dass die unmittelbare Bede dieser 
Handlungsbezeichnung entbehrt, oder doch sehr gut entbehren 
kann, so werden wir die Entwicklung des Verbums ab- 
hängig machen müssen von der Entwicklung des Be- 
ferats und als einzig mögliche Momente und Factoren, 
aus denen sich dies entwickeln konnte, die genannten 
Beziehungspunkte, also die Objecto ansehen. Und that- 
sächlich finden wir beim Verbum etymologisch nur eine mecha- 
nische Composition nominaler Bestandteile : z. B. 


152 

Xoyo-c 

Xeys-Ts 

Xoye. 

Die Elemente der Composition sind ausser dem als logisches 
Prädicat zu bezeichnenden Stamme expositioneile Elemente, die 
dem Referate dienen. Eine Veranlassung zur Exposition lag 
nicht vor für die L Person Singularis des Präsens und Futurums, 
weil dies in jedem Falle die sprechende und empfindende Per- 
son selbst sein muss und hier fehlt tibereinstimmend bei der 
grossen Masse der Verbalbildungen das Expositionselement -fii. 
Entsprechend fehlt dem primären Subjecte eyoi, ego die Flexion 
und dem secundären tu, cv wie dem Vocativ. 

Der Stamm, der dem Verbum zu Grunde liegt hat dann 
ähnliche Functionen versehen wie der Infinitiv und dem ent- 
sprechend finden wir diese Nominalform in der indirecten Rede 
nach den Verben des Sagens, z. B. djt^v eXß^elP, er sagte = 
Exposition, direct eXß^etv = kommen = ich komme. Auch dieser 
Infinitiv ist aus der directen Empfindungrede beibehalten. 


XXIL 

Bekanntlich hat tiber die Bedeutung der Handlung als 
Mittel der Poesie und tiber die Weise, wie sie zu Stande 
kommt, Lessing im Laocoon gehandelt, und wir sind es den 
Manen des grossen Mannes, wie dem Ansehen, das seine glän- 
zende Untersuchung geniesst, schuldig, auf dieselbe soweit ein- 
zugehen, als der Zweck gestattet, den wir verfolgen. 

Lessing sagt (Laoc. XVI 98 Hempel): ,Wenn es wahr ist, 
dass die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel 
und Zeichen gebraucht als die Poesie, jene nämlich Figuren und 
Farben in dem Raiune, diese aber articulierte Tone in der Zeit; 
wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes VerhcUtniss zu dem Be- 
zeichneten haben müssen: so können neben einander geordnete 
Zeichen auch nur Gegenstände, die neben einander oder deren 
Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen 
aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder 
deren Teile auf einander folgen.' 


153 

Lessing sagt also hier ttber die Mittel der Poesie, — doch 
was von dieser gilt, gilt von der Rede überhaupt, — also die 
Mittel der Poesie seien: 1. articulierte Töne in der Zeit, und 
damit hat er vollkommen Recht. 2. Die Mittel seien Mittel der 
Nachahmung, 3. diese Mittel müssten unstreitig ein bequemes 
Verhältniss zu dem Bezeichneten haben. 4. Aus diesen drei 
Prämissen wird geschlossen, der Gegenstand der Nachahmung 
müsste mit dem Mittel der Nachahmung in der zeitlichen Folge, 
dem chronologischen Ablaufe übereinstimmen. 

Der Schluss lässt sich nur wirklich würdigen, wenn die 
Prämissen richtig gewürdigt sind, doch wir wollen nicht die 
Frage allgemein so stellen: ist Sprache Nachahmung der dar- 
gestellten Objecte, sondern sogleich fragen ist die sprachliche 
Darstellung oder Poesie, welche Lessing für die allein berech- 
tigte ansieht, also die sprachliche Darstellung der Hand- 
lung Nachahmung der Handlung selbst? Unsere bis- 
herige Untersuchung hatte uns gelehrt, dass die Darstellung 
der Handlung dem Hörenden die Construction der Handlung 
überlässt und ihm nur die Beziehuugspunkte angibt, an denen 
er gleichsam die mathematische Aufgabe zu lösen hat, sie durch 
die entsprechenden Linien zu verbinden. 

Wir sprachen vom Satteln des Pferdes; — wie macht man 
es. dass man eine lautlose in Muskelbewegungen eines Men- 
schen bestehende, an einem leblosen Objecte vollzogene Hand- 
lung, die ein empfindendes Tier berührt nachahmt? Ich ver- 
stehe, dass man sagt, die Sprache ahme das Tosen des Meeres, 
das Pfeifen des Sturmes, das Schmettern der Trompete, das 
Schwirren des Bogens nach, — doch wie ein tönendes Mittel 
fähig sein soll eine tonlose Handlung nachzuahmen verstehe ich 
nicht. Doch jene Geräusche sind nicht articuliert, die Mittel 
der Sprache sind aber aiüculierte Töne! Wird also die Sprache 
auf die Nachahmung verwiesen, und sollen die Mittel der 
Sprache nur Gegenstände nachahmen, zu denen die Mittel ein 
bequemes Verhältniss haben, so darf Sprache und Poesie nur 
den articulierten Laut widergeben; wo findet sich der articu- 
lierte Laut aber anders als bei dem sprechenden Menschen, 
d. h. in der Sprache des Menschen? 

Nun sahen wir oben, dass in den Fällen, wo wirklich die 
Sprache articulierte oder auch unarticulierte Laute nachahmt, 


154 

die Nachahmung sich weit vom Originale entfernt; und nur 
diese schliesslich unkenntlich gewordene Wiedergabe fremder 
Laute wurde zum wirksamen Sprachmittel. 

Doch genug von der Nachahmung! Lessing ist vielleicht 
nur im Ausdrucke abhängig von der unglücklichen Theorie 
der Alten, speciell des Aristoteles, er meint wohl dasselbe, wag 
wir Beschreibung nennen, das scheint seine weitere Ausführung 
zu beweisen. Allerdings der Beweis ist sofort hinfällig, sobald 
die Theorie der Nachahmung beseitigt ist. Aber ist die Dar- 
Stellung der Handlung wirklich eine Beschreibung 
derselben? 

Eine Handlung beschreiben heisst, sie in ihre einzelnen 
Momente zerlegen und diese einzelnen Momente hintereinander 
aufzählen. Man denke sich, es sollte beschrieben werden, wie 
Diomedes zur Schlacht schreitet: würden wir bei dieser Auf- 
gabe vom Dichter erwarten, dass er uns angäbe, welche Muskeln 
vom Helden in Bewegung gesetzt würden, wie oft diese Muskel- 
bewegung statt fände, wie viele Fuss er die Beine spreizte, 
wie er die Arme dabei bewegte, wie viele Minuten er dazu 
braucht u. s. f. Das würde Beschreibung der Handlung sein, 
aber nimmermehr Poesie. Offenbar müssten dabei ^uch Mo- 
mente beschrieben werden, die Lessing dem Dichter zu be- 
schreiben verbietet, denn die Bewegungen der Arme und Füsse 
würden gleichzeitig erfolgen. Das Schreiten des Helden er- 
fordert einen Boden, einen Untergrund, und der würde bei der 
Thätigkeitsbezeichnung doch mit zu nennen sein, die Be- 
wegungen werden beeinflusst durch Beinschienen und Harnisch, 
diese Objecto dürften in ihrer Lage nicht unerwähnt bleiben. 

Oder wählen wir ein Lessingsches Beispiel, Ilias V, Ge- 
sang 722 ff., ich gebe die Stelle in der Jordanschen Ueber- 
setzung: 

,Hehe schob da sogleich auf des Wagens eiserne Achse 
Räder, gerundet aus Erz, acht Speichen zählend. Die Felgen 
Sind unvergänglich geformt aus Gold; der darüber in Reifen 
725 Angetriebne Beschlag von Erz, erstaunlich zu sehen; 
Silberne Naben umlaufen die beiden Enden der Achse; 
Streifengeflecht von Gold und Silber bildet den Fahrstuhl, ' 
Welchen geschweift ein Doppelgestäng als Brüstung einfasst. 


155 

Vor ihm sireckte sich aus die silberne Deichsei, Ans Ende 
730 Band sie das goldene Joch und hakte an diesem die schönen 
Goldenen Kummete fest. Nun führte die hurtigen Renner 
Hera unter das Joch, nach Streit verlangend und Schlachtruf 

Lesging bemerkt dazu (St. XVI S. 100. Hempel): ,Will 
Homer uns den Wagen der Juno sehen lassen, so muss ihn 
Hebe vor unseren Augen Stück vor Stück zusammensetzen. 
Wir sehen die Räder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel und 
Riemen und Stränge, nicht sowohl wie es beisammen ist, als 
wie es unter den Händen der Hebe zusammenkömmt. Auf die 
Räder allein verwendet der Dichter mehr als einen Zug und 
weiset uns die ehernen acht Speichen, die goldenen Felgen, die 
Schienen von Erz, die silberne Nabe, Alles insbesondere. Man 
sollte sagen: da der Räder mehr als eines war, so musste in 
der Beschreibung ebenso viel Zeit mehr auf sie gehen, als 
ihre besondere Anlegung deren in der Natur selbst mehr er- 
fordert.' 

Zunächst, um ohne Umschweif die Sache zu bezeichnen, 
gibt Lessing bei den Rädern zu, dass der Dichter ein räum- 
liches Nebeneinander darstellt. Der Grund dafür ist ebenso 
frostig und unrichtig, wie die ganze Nachahmungstheorie aus 
der er geschöpft ist. Ferner ist die Handlung der Zusammen- 
setzung weder nachgeahmt, noch beschrieben, wirkliche Hand- 
lungsworte von der Thätigkeit der Hebe sind 722 Hebe schobt 
729 ans Ende band sie das goldene Joch 730 und hakte an 
diesem — . Die Handlung des Schiebens nun besteht in diesem 
Falle zunächst aus einem Nehmen, die Räder müssen irgend 
woher genommen werden, emporgehoben, wohin getragen 
werden, in die betreffende Stellung gesetzt werden, um ge- 
schoben werden zu können, dann befestigt werden. Von all 
dem ist nicht eine Spur in der Darstellung. Und wäre das 
gesagt, wie und in welcher Haltung, mit welcher Muskel- 
anetrengung und Bewegung verrichtet Hebe die einzelnen Thä- 
tigkeiten? Wie stemmt sie die Füsse, stellt sie die Beine u. s. f. 
Hätte Homer das Alles beschrieben, so wäre er nicht Homer. 

Es ist ferner deutlich, dass eine derartige Beschreibung, 
mag sie nun ein Dichter oder Prosaist geben, eben so wenig 
anschaulich wäre wie die Hallersche Beschreibung der Alpen- 


156 

blumen, die Lessing (XVII S. 105 Hempel) als poetisch miss- 
glückt mit Recht bezeichnet. Also ist nicht blos der von 
Lessing angegebene Grund falsch, warum die Poesie 
nur Handlungen darstellen könne, sondern auch die 
Thatsache falsch, dass Poesie Handlungen anschau- 
lich zu beschreiben vermöchte. 

Die Lösung des Problems, an das Lessing sich wagte, war 
vermutlich bei der mangelhaften psychologischen Kenntniss und 
Schulung jener Tage nicht möglich; darum treffen die Auf- 
stellungen weniger die Person des grossen Kritikers als die 
Zeit, in der er lebte und auch die moderne Zeit, welche so 
oft die Lehren Lessings nachgebetet, oder mit stumpfen Waffen 
angegriffen hat, obgleich ihr ganz andere Mittel zu Gebote 
standen, die Frage zu beantworten als die, über welche Lessing 
verfügte, (lieber die Einwürfe gegen Lessing vgl. die An- 
merkungen Bltimners in seiner Ausgabe des Laocoon. IL Aufl. 
S. 593 ff.) 

XXIIL 

Ist es nun also unmöglich, Handlungen zu be- 
schreiben? Im eigentlichen Sinne des Wortes allerdings: 
wir sind ausser Stande, eine genaue, die einzelnsten Vorgänge 
darstellende Beschreibung einer Thätigkeit anschaulich zu ver- 
stehen und ebenso unfähig sie zu geben. 

Die Thätigkeit des Gehens und Legens, welche wir in ihre 
einfachen Factoren und Momente zerlegten, wurde für den 
Hörer unverständlich, oder verlor doch jede Anschaulichkeit. 
Trotzdem bleibt bis zu einem gewissen Grade eine Zerlegung 
der Thätigkeit anschaulich, z. B. er 7iahm das Rad, erhob es, 
wandte es nach der Achse hin und steckte es darauf. Schwer 
für uns zerlegar ist schon das Gehen, doch liesse sich dem 
Homerischen ßi} 6* i'fcev entsprechend sagen : er schritt aus und 
ging, erhob den Fuss und schritt. Wollten wir: schreiten weiter 
zerlegen etwa: er erhob den rechten Fuss, streckte ihn nach 
vorwärts, setzte ihn wider zu Boden — so hören wir auf, an- 
schaulich zu schildern, wir erklären ti'ocken und umständlich. 
Der Hörende verliert die Spannung und das Interesse, letzteres 
weil ihm Wertloses mitgeteilt wird, erstere, weil er in seiner 


157 

Erwartung, wie oben geschildert war, schon weit den Worten 
des Sprechenden vorausgeeilt ist. 

Wir fühlen unmittelbar, dass zu einer derartig zerlegenden 
Darstellungs weise Veranlassung nur da sein kann, wo wir an- 
nehmen, der Hörende wisse nicht, was schreiten bedeute, — 
ein kaum denkbarer Fall und wird er einmal praktisch, so 
machen wir dem Hörenden lieber die Schrittbewegung vor. 
Somit zeigt sich, dass wir in der zerlegenden Beschrei- 
bung einer Handlung gewisse Grenzen nicht tiber- 
schreiten dürfen, 1. Grenzen, die sich nach der geläufigen 
Bekanntschaft des Hörers gegentiber der Thätigkeit richten, 
2. Grenzen, welche das Gebiet der ganz unbewussten rein 
mechanisierten Thätigkeit von der zweckbewussten Bewegung 
scheiden. 

So sind also bei den verschieden Arten von Thätigkeiten 
einfachste Thätigkeiten in unserem Bewusstsein vorhanden, die 
nicht selbst mehr beschrieben werden, sondern nur als Bau- 
steine der Beschreibung verwendet werden. Man darf im All- 
gemeinen wenigstens so viel sagen, dass der Mechanismus der 
körperlichen Bewegung nicht mehr im einzelnen beschrieben 
wird, sondern dass gewisse grössere Reihen der Muskelthätig- 
keit, vrie die Bewegung des Beines, des Auges, des Kopfes, 
des Armes, der Hand als solche letzten Bausteine der Be- 
schreibung angesehen werden. Diese grösseren Reihen haben 
sich in uns gebildet und zu automatischen Bewegungen mecha- 
nisiert in einer Zeit der absoluten Unbewusstheit, sie können 
also auch in ihre uns unbewussten Elemente nicht zerlegt 
werden. Ebenso steht es mit den Elementen, aus welchen sich 
die grösseren Reihen und Thätigkeiten unserer Seele zusammen- 
setzen. Daher wird der Physiologe und Psychologe mit seiner 
zergliedernden Beschreibung nur vom Fachmann verstanden, 
nicht vom Laien, auch nicht vom gebildeten Laien. 

Nun wird doch aber der Physiologe und Psychologe that- 
sächlich von vielen Menschen verstanden, also sind auch diese 
elementarsten Thätigkeiten des Menschen durch zerlegende Be- 
schreibung verständlich. Gevnssl Es fragt sich nur, durch 
welche Mittel? Es sei hier gleich geantwortet: durch die 
Mittel, durch welche es dem Menschen überhaupt möglich ist 
Thätigkeiten zum Verständniss zu bringen, welche der Hörende 


158 

noch nicht kennt. Diese Mittel sind jedoch nicht die fort- 
schreitende Zerlegung. 

Halten wir zunächst fest: Alle mechanisierte Bewe- 
gung, von der wir annehmen, dass sie auch dem Hörer 
automatisch ist, wird nicht mehr in ihre Bestandteile 
zerlegt, ausser zu dem Zwecke, das bewusst zu machen, was 
wir unbewusst und automatisch thun. 

Diese einfachsten Thätigkeiten sind die früher schon als 
Bausteine der Handlungsdarstellung bezeichneten Bewegungen 
sie erscheinen uns als die einfachsten Thätigkeiten überhaupt, 
sind es aber nicht wirklich, sondern sind wieder aus noch 
einfacheren atomistischen Elementen zusammengesetzt. Wir 
dürfen uns somit des bequemen Ausdrucks Moleküle der Hand- 
lung gegenüber den Atomen bedienen. 

Was macht nun das Verständniss jener atomistischen Vor- 
gänge so schwierig? Bei einer Beschreibung ans der Mechanik 
des menschlichen Körpers, z. B. bei der Beschreibung der Aus- 
sprache des a oder r muss uns gesagt werden: m(m lege die 
Zunge an die Alveolen, öffne die Stimmritze u. s. f., die mitgeteilte 
Handlung des Legens und Oeffnens ist uns an sich ganz be- 
kannt, aber nicht die Beziehungspunkte, wir kennen die Alveo- 
len nicht so ohne weiteres, nicht die Stimmritze, und damit ist 
auch die specielle Thätigkeit unbekannt, die von dem be- 
sonderen Falle erfordert vrird. Wir haben hier also genau das 
umgekehrte Verhältniss von dem oben gefundenen Handlungs- 
ausdrucke: dort waren die Beziehungspunkte bekannt, und die 
Handlung wurde ohne Schwierigkeit ergänzt, auch wo sie 
nicht mitgeteilt war. Hier ist die Handlungsbezeichnung ge- 
geben, die Beziehungspunkte sind unbekannt, uns fehlt das 
Verständniss. Denn Thätigkeit ist ohne die Berührung der 
Beziehungspunkte nicht vorhanden, und ein Verbum ohne seine 
Objecte ist ein nichtssagendes Abstractum. 

Die lautphysiologische Angabe wird also darum nicht ver- 
standen, weil die Beziehungspunkte unbekannt sind, — nun 
kann man diese ja beschreiben : die Alveolen sind das hintere 
obere Zahnfleisch. Auch mit dieser Angabe kann der Hörende 
nichts anfangen, denn er hat mit Bewusstsein niemals beob- 
achtet, wie sich die Zungenspitze an diesen Teil des Mundes 
legt, und welcher Effect für das Ohr bei dem Exspirieren dabei 


159 

heranskommt. Hat er dagegen die Zunge wirklieh nach der 
Anweisung dorthin gelegt und nun exgpiriert, dann ist ihm die 
Handlung verständlich, verständlich aber nur, weil er die Hand- 
lung mit Bewusstsein erfahren hat. 

Also nur mit Bewusstsein erfahrene Handlungen 
oder Thätigkeiten können dem Hörenden zum Ver- 
ständnisse gebracht werden. Man denke sich z. B., man 
wolle Jemandem, der nie eine Feder gefUhrt hat, noch auch 
je Jemanden hat sehreiben sehen, mit Worten klar machen, 
wie die Finger an den Federhalter zu legen sind, es ist diese 
Bewegung, wie jede Bewegung, eine zeitlich verlaufende Reihe 
und doch nicht anders als durch das Auge und den Tastsinn 
erkennbar. — Also eine Thätigkeits-Mitteilung ist nur 
dem verständlich, der die Thätigkeit durch Gesicht 
oder Tastsinn wahrgenommen und mit Bewusstsein 
erfahren hat. 

XXIV. 

Und doch scheint diese Anschauung zu Widersprüchen mit 
den Thatsachen zu führen: wer hat die Handlung des 
Faust, der Iphigenie, der Ilias u. s. f. je mit Augen ge- 
sehen? Und wir glauben trotzdem diese Handlung zu ver- 
stehen und haben wohl, wenigstens bis zu einem gewissen 
Grade Recht. 

Sehen wir den Anfang der Homerischen Erzählung vom 
Zorne des Achilleus an Gesang I, 8 flf.: 

,Wer der Unsterblichen reizte sie (Atreus Sohn und Achilleus) 

auf zu feindlichem Hader? 
Leto's Sohn und des Zeus. Denn der, dem Könige zürnend, 
Sandte verderbliche Pest durch das Heer; es sanken die Völker: 
Drum weil ihm den Chryses beleidiget, seinen Priester, 
Atreus Sohn, Denn er kam zu den rüstigen Schiffen Achaia's, 
Frei zu kaufen die Tochter, und bracht' unendliche Lösung, 
Tragend den Lorbeersch?nuck des treffenden Phoebos Apollon, 
üeber dem goldenen StaV; und er flehele allen Achaiern, 
Aber zumeist den Atreiden, den zween Heer fürst en der Völker u. s. f.' 

(Voss.) 

Offenbar ist die Gesammt-Handlung uns unbekannt, doch 


160 

unter den einzelnen Handlungen ist nicht eine, die wir nicht 
irgend wie durch Erfahrung kennen gelernt hätten: Menschen 
zum Zorne reizen, zvmen u. s. f. — Pest senden allerdings werden 
die meisten Leser der Ilias nicht durch persönliche Erfahrung 
kennen, frei kaufen einen Menschen vermutlich ebenso wenig, 
Lorherschmuck tragen vielleicht auch so manche nicht. Und 
trotzdem glauben wir auch diese Handlungen zu verstehen. 
Offenbar denken wir uns Pest senden nach der Analogie v«n 
ansteckende Krayikheit senden, frei kaufen einen Menschen nach 
Analogie vom Viehkaufe oder sonstigen Käufen, Lorherschmuck 
tragen nach Analogie von Eichenkranz oder sonstigem Baum- 
schmuck tragen. 

Es ist damit durchaus nicht gesagt, dass diese Vorstel- 
lungen, also das Verständniss des Hörenden immer richtig sei, 
es gehört zum Verständnisse einer fremdländischen oder zeit- 
lich entfernten Erzählung auch eine bedeutende Menge histo- 
rischer, ethnologischer, antiquarischer Kenntnisse. Uns handelt 
es sich nur darum, wie wir jene Handlungen zu verstehen 
glauben. Das Verständniss nach der Analogie von 
einem bekannten Vorgange ist das Verständniss nach 
einem Muster, einem Gleichnisse. 

Solche Muster können als wirklich deckend oder 
nur zum Teil deckend erscheinen. In dem ersten Falle 
haben wir das Gefühl vollständiger Erkenntniss, im anderen 
Falle das Gefühl nur annähernder Erkenntniss, das GefUhl nur 
etwas dem, was gemeint ist, Aehnliches vorzustellen. 

Dass aber auch die fttr vollständig gehaltenen Handlungs- 
erkenntnisse, die sich nach Mustern vollzogen haben, durchaus 
nicht immer wirklich vollständig und deckend sind, — das 
beweist ein Blick auf bildliche Darstellungen antiker Vorgänge 
auf Gemälden oder Zeichnungen des 16. und 17. Jahrhunderts; 
doch der Hörende oder Lesende merkt die Abweichung seiner 
Vorstellung von der Originalhandlung nicht. 

Es wäre auch ein Irrtum, wollten wir glauben, dass die 
Muster, nach denen Menschen derselben Culturstufe eine sprach- 
liche Handlungsdarstellung in sich nachbilden, gleich wären. 
Wir haben oben die Wichtigkeit der Beziehungspunkte der 
Handlung für das Verständniss derselben kennen gelernt, also 
des Subjects, der Objecte und der Baumangaben. 


161 

Zunächst werden die Personen, von denen uns eine Er- 
zählung berichtet nach einem Muster vorgestellt, wenn 
uns diese Personen nicht selbst von Angesicht bekannt sind. 
Dass uns überhaupt die Personen einer Handlung innerlich 
anschaulich werden, ist leicht zu ersehen: ist uns von einer 
unbekannten lebenden Person das Eine oder Andere erzählt 
und wir sehen dieselbe nach einiger Zeit mit Augen, so wer- 
oen wir sagen: so habe ich mir die Person gedacht oder nicht 
gedacht, ich habe sie fnir gross gedacht, klein, blond u. s. f. Das 
Bild, das wir uns im Voraus von der Person machen, entsteht 
also nicht blos, wenn uns die äussere Erscheinung derselben 
geschildert ist, sondern auch, wenn wir nur gewisse innere, 
ethische und geistige Characterztige derselben kennen gelernt 
haben. Denn diese Züge sind ja nicht vollständig ausgelöst 
aus dem Zusammenhange mit der leiblichen Erscheinung, und 
ein Jeder stellt bei diesen inneren Zügen solche äusseren Züge 
der Person mit vor, wie er sie bei jenen an bestimmten Indi- 
viduen kennen gelernt hat. Die Probe für diesen psychischen 
Vorgang ist die Art, wie wir und besonders der naive Mensch 
eine fremde Person beurteilen. Das Aussehen einer solchen 
erinnert in irgend welchen Zügen wohl stets an eine andere 
Person, und diese bekannte Person gibt da zunächst das 
Muster ab, nach dem wir die neue Person in Betreff ihrer inneren 
Eigenschaften beurteilen. 

Man höre einmal naiven Personen imd Frauen zu, wie sie 
über einen Bomanhelden urteilen, der eine denkt ihn sich 
schlank und blond, der andere bärtig, der clritte ohne Bart, 
der mit blauen, jener mit schwarzen Augen u. s. f., wollen sie 
es deutlicher bezeichnen, so nennen sie ihn einer bekannten 
Person mit ähnlichen Character ähnlich. Stellt der Franzose 
einen Kopf des Achilles dar, so wird man sicher einen Anklang 
an den gallischen Gesichtsschnitt im Bilde erkennen, wenn 
hier nicht eine antike Vorlage das Muster abgibt, — jeden- 
falls, wo historische Muster fehlen, da wird der nationale Typus 
des Künstlers hervortreten. 

Die Bildung solcher Muster geschieht auf dem be- 
kannten psychologischen Wege der Abstraction. Es ordnen 
sich die schönen Männer und schönen Frauen, die edlen Männer 
die tapferen Helden, die Schurken und Bösevdchter, die Lieb- 

11 


162 

haber und Liebhaberinnen, die Spanier und Spanierinnen, die 
Griechen und Italiener u. s. f. zu Gruppen in unserer Seele zu- 
sammen. Die gleichen Züge verbinden und verstärken sich, 
die ungleichen hemmen sich. Ausser Ansatz bei der Entstehung 
dieser Gemeinbilder darf aber nicht bleiben das Verhältniss 
de|r Stärke der einzelnen Bilder zu einander, aus denen 
sich jene Gruppen zusammensetzen. Der Grad der Stärke 
ist zuerst abhängig vom Grade des Interesses, das wir 
an dem betreffenden Einzelbilde haben. FUr die Bildung eines 
Musters yon einer gütigen Mutter, einem gütigen Vater wird 
stets das Bild der eigenen Eltern eine hervoiTagende Bedeutung 
haben. Ferner muss es einen Unterschied machen, in welcher 
Reihenfolge die Einzelbilder in unsere Seele ein- 
treten. 

Es ist ja bekannt, dass wir ein bekanntes Ding erkennen, 
auch wenn wir nur wenige Teile von ihm sehen, wir ergänzen 
dann die übrigen Teile. Diese Ergänzung ist nur möglich, 
wenn wir ein festes Gesammtbild des Dinges in uns tragen. 
Werden einzelne Teile desselben durch einzelne Teile eines 
anderen Bildes in uns associert, so tritt das Ganze in uns auf. 
Daraus folgt, dass die Verbindung verwandter Bilder nur selten 
sich so vollzieht, dass alle gleichen Teile sich mit einander 
verbinden, alle ungleichen Teile sich hemmen. Vielmehr sieht 
man z. B. von einem neuen Menschen nur einzelne Teile und 
ergänzt diese durch das in uns vorhandene Gemeinbild, — er- 
gänzen ist aber ^nichts anderes als an Stelle des neuen Bildes 
Teile des in uns vorhandenen früheren Bildes setzen. 

Dieser Vorgang tritt aber nicht erst ein, wenn die Gemein- 
bilder aus einer Fülle von Einzelbildern schon entstanden sind : 
jedes frühere Bild, durch das wir ein späteres appercipieren, 
gibt von sich Teile und Züge dem neu zu appercipierenden 
Bilde ab. Darum ist es für die Bildung von Mustern so be- 
deutungsvoll, welche Bilder zuerst in unsere Seele getreten sind, 
für die Muster von Personen sind daher von der massgebend- 
sten Bedeutung diejenigen, welche sich zuerst zu voll aus- 
geprägten Bildern in der Seele des Kindes ausgestaltet haben. 
Diese Personen haben ausserdem durchgehend den Vorzug des 
grössten sympathischen oder antipathisehen Interesses in der 
Kinderseele. 


168 

Diese PersoDenmuBter, die wir in uns tragen, sind formell 
genau dasselbe wie die Cliaracter-Ideale der plastischen und 
zeichnenden Künstler. Auch der oft besprochene Zug der 
Frauen, überhaupt des naiv beobachtenden Menschen, überall 
Aehnlichkeiten entdecken zu wollen, entspringt dieser Art der 
psychischen Mechanik. So entstehen in uns all jene Muster 
fttr Held, Schurke, Geizhals, Bösewicht, Bräutigam, Stiefmutter, 
Hexe u. s. f., die wir oben erwähnten. Man prüfe sich nur, ob 
diesen Kategorien nicht vielfacli bestimmte persönliche An- 
schauungsbilder entsprachen, von denen man selbst fühlen 
wird, dass sie einen Anspruch auf AUgemeingiltigkeit nicht 
erheben können. 

Uebrigens sei hier bemerkt : viele dieser Kategorien lernen 
wir erst durch bildliche Darstellung kennen oder aus ge- 
schriebenen Erzählungen mit Illustrationen. Natürlich haften 
unter den Illustrationen auch wieder die ersten am festesten 
und geben die Muster für Personen ab: so bilden für mich 
noch immer die Köpfe in den Beckerschen Erzählungen aus 
der alten Welt für Odysseus und Achilleus die Muster, für 
Hexe die Illustration zum Hansel und Grethel in den Grimm- 
schen Mährchen. Es bedarf einer Ausführung nicht, dass die 
aus Abbildungen gewonnenen Personenbilder wesentlich auf 
gleicher Linie mit den lebendigen Anschauungsbildem von 
Menschen fiir die Bildung solcher Muster stehen. 

XXV. 

Genau dasselbe lässt sich beobachten bei den Objecten 
und dem räumlichen Schauplatze der Handlung. Lesen 
wir ohne besondere antiquarische Kenntnisse vom Brode, Wagen, 
Becher, Wein u. s. f. in den homerischen Dichtungen, so stellen 
wir diese Gegenstände nach dem Muster des modernen Brodes, 
Wagens u. s. 1. vor. Darum ergänzen wir unmittelbar bei den 
auf diese Objecto bezogenen Handlungen die modernen Mani- 
pulationen. Dies bedarf einer besonderen Ausführung nicht, 
das ist allgemein bekannt. 

Doch wie steht es mit dem räumlichen Schauplatze der 
Handlung? Man prüfe sich einmal, wie man z. B. ein Pfarr- 
haus, eine Försterei, einen Palast, ein Schloss, eine Bauernhtttte, 

11* 


164 

den Strand der See, ein Thal im Hochgebirge denkt. An mir 
wenigstens mache ich die Beobachtung, wenn ich mir ver- 
gegenwärtige, wie ich mir in früher gelesenen Erzählnngen die 
Lage und die Raumverteilung in solchen Gebäuden oder von 
solchen Localen vorgestellt habe, — dass ich das Schema des 
mir zuerst bekannt gewordenen Försterhauses und Pfarrhauses 
auf das von der erzählten Handlung betroffene einfach tiber- 
tragen habe; ja so ist es mir noch vor etwa einem Jahre er- 
gangen mit dem Försterhause in Spielhagees Roman , In Reih' 
und Glied' und ebenso mit dem Pfarrhause derselben Erzählung. 

Doch dabei sind Abweichungen zu bemerken, Abwei- 
chungen, die sich nach einem oder mehreren festen Mustern 
für die Bewegung bestimmten. In einer Heyseschen Novelle 
hatte ich gelesen, dass ein Schweizer von Bologna aus auf 
staubiger Chaussee fährt, er kommt an einem Landhause vor- 
über u. s. f Als ich mich später prüfte, wie sich in mir der- 
artige Handlungen geordnet hätten, fand ich, dass mir das 
Landhaus vom Fahrenden und der Strasse links lag. Odysseus 
wandert zur Kirke, der Palast der Nymphe liegt mir seit 
meiner Knabenzeit links vom Odysseus; — Odysseus geht zum 
göttlichen Sauhirten, er geht für mich direct auf das Haus 
zu, von dort passiert er auf dem Heimwege eine Opferstätte, 
sie liegt mir links, er kommt an seinen Palast, dieser liegt 
mir rechts, er muss erst an der Umfassungsmauer des Hofes 
entlang gehen, er wendet sich dann rechts zur Thür, schreitet 
auf das Haus zu, der Herd im Hause liegt vdeder rechts, aber 
der Hund auf dem Hofe links. Hermes tritt auf den Odysseus 
bei seinem Gange zur Kirke zu, — von rechts ; Athene be- 
gegnet dem heimgekommenen Odysseus, von rechts. Kalypso 
geht an das Meeresgestade, den Odysseus zu suchen, sie findet 
ihn links sitzen ; der Meyerhof, an dem Ingo in Freitags Ahnen 
vom Grenzkamm aus vorbeikommt, liegt mir links, die Biegung, 
die er macht, um in das Gehöft Herren Answalds zu kommen, 
geht nach rechts, der Bach, an dem sich Ingo verlobt, fliesst 
rechts von seinem Wege. 

Ich wage nicht, diese persönlichen Anschauungsformen zu 
einer allgemeinen Regel zusammenzufassen, so wie es mir 
scheint, liegt mir Alles links, was zufällig neben dem Wege 
wahrgenommen vnrd, dagegen rechts oder vor dem Wanderer, 


165 

was er absichtlioh aufsucht. Doch finden sich am Wege mehrere 
zufällige Punkte hintereinander, so stellt sich bei mir häufig 
ein Wechsel ein, der erste liegt links, der zweite rechts. Ebenso 
tritt, wenn bei einem Gange oder einem Continuum von Be- 
wegungen mehrere Seitenbewegungen vorkommen, unter Um- 
ständen ein Wechsel ein. 

Es ist sehr fraglich, ob sich diese Anschauungsweise auch 
nur bei einer einzelnen Person auf eine feste Regel bringen 
lässt. Auch ist es nicht der Zweck dieser Ausführung diese 
Regel zu suchen, wir haben diese ganze Betrachtung nur mit- 
geteilt, um zu beweisen, dass feste Raummuster in unserem 
Inneren vorhanden sind, nach denen wir räumliche Mitteilung 
verstehen und dass wir ebenso Muster unserer Bewegung im 
Räume in unserer Seele tragen, aus denen wir Bewegungs- 
mitteilungen ergänzen und so verstehen. Und es ist von grosser 
Wichtigkeit, dass wir ersehen, wie wir nach eigenen Bewegungs- 
mustern die örtlichen Verhältnisse einer Handlung ordnen. 

Es ist ersichtlich, dass diese Bewegungsmuster sich aus auto- 
matischen Bewegungsformen des Menschen bilden, so dass hier 
ein Eindringen in die Geschichte der Bildungsweise noch schwie- 
riger ist als bei den vorher besprochenen Mustern. Dass die Ge- 
brauchsweise des rechten und linken Armes dabei von Bedeutung 
ist, scheint mir sicher, und ich will nicht versäumen auf einen 
Ausdruck hinzuweisen, der mir bei dergleichen Betrachtungen 
mehrfach einfiel : eine Sache links liegen lassen. Auch sonst mag 
der sprachliche Ausdruck mehrfach von diesen Mustern bedingt 
sein, er ist der rechte z. B. und rechts sind im Stamm identisch; 
das Ziel liegt geradeaus, das Recht ist das Gerade, das Unrecht 
die Seitenbewegung (vgl. franz. droit und tort, Recht, rectus). 

Dieselben Muster bilden sich für andere Bestimmungen 
der Handlung, die wir als adverbiale zusammenfassten ; 
es sind dies die Beziehungspunkte der Intensität Quan- 
tität und Qualität. Sagen vnr stark husten, stark laufen, 
so bezeichnen wir damit, dass das Husten und Laufen eine 
bestimmte Norm überschreitet, eben die correcte Norm, das 
Normativ. Dieses Normativ ist für all die verschiedenen 
Handlungen sehr verschieden, die Tonstärke, die wir beim 
Husten als gross bezeichnen, ist für den Donner, das Brüllen 
der See, des Löwen u. s. f. gering. Die Schnelligkeit des Laufs, 


166 

die wir beim Mensehen als bedeutend anseheö, erscheint uns 
beim Hunde, beim Pferde, bei der Locomotive als gering. So 
richten sich diese Normativbilder des Grades nach dem Cha- 
racter des Subject und der Art der Thätigkeit. 

Ein Kind, das wir gross nennen, ist klein gegen den er- 
wachsenen Mann, dieser klein gegen einen Baum, dieser klein 
gegen einen Turm. So haben wir Normalbilder der Quantität, 
die sich gleichfalls nach dem Character des Subjects und der 
Handlung richten; die verschiedenen Subjecte müssen also in 
unserem Innern eine Durchschnittsgrösse haben; ebenso bei 
viel, wenig, oft, selten. 

Bei der Qualität, um der Bequemlichkeit wegen diesen 
Ausdruck zu gebrauchen, finden sich dieselben normativen 
Muster, die sich je nach dem Character des Subjects und der 
Handlung bestimmen : schön ist der Mensch durch ganz andere 
Züge als der Löwe, schlecht das Messer, das nicht schneidet, 
schlecht das Wetter, das unseren Zwecken zuwider ist; heiss 
am Sommertage ist eine andere Temperatur als im Winter die 
Stubenwärme u. s. f. 

Also alle menschlichen Vorstellungsgruppen erzeugen solche 
Normativ- und Durchschnittsbilder, es fehlen uns nur noch die 
für die Handlung und Thätigkeit. Es hat allerdings wohl 
Niemand von uns gesehen, wie Jemand auf einem Armstuhl 
sitzend von einem kleinen Tische sein Mittagsmahl einnimmt, 
wie es Sitte war bei den Homerischen Helden, und doch wissen 
wir uns ein Bild von dieser Handlung zu machen. Wir be- 
sitzen das Muster für essen, in diesem Muster ist das Nehmen 
der Speisen, das Einnehmen, Zerkauen u. s. f. einbegriffen. 
Wir nehmen die gekochten und gebratenen Speisen allerdings 
mit Instrumenten zu uns, nicht so der Alte, also müssen wir 
die Gabeln und Löffel fortdenken. Da tritt nun also das Muster 
des Speisenehmens ein, wie beim Brode, dem Obste und andern 
Speisen. Das Essen von einem seitlich stehenden Tische ver- 
stehen wir nach dem Muster, wie man von einem solchen etwas 
fortnimmt. 

Die Moleküle der Thätigkeit also, vne ich es oben 
nannte, sind die stets unveränderlichen, stets nach 
denselben Mustern gebildeten Handlungscomponenten, 
dagegen die grösseren Complexe dieser Moleküle sind 


167 

in ihrer Znsammensetzung verschieden, doch so, dass 
die Reihenfolge und die Uebergänge von dem einen 
Molekül zum andern wieder nach bestimmten Mustern 
construiert werden. 

Undenkbar ist die Reihenfolge, um bei dem letzten Bei- 
spiele zu bleiben: erst in den Mund stecken, dann nehmen. 
Die Reihenfolge bestimmt sieh im allgemeinen nach 
dem Zwecke der Handlung und dem Causalitäts- 
gesetze, das wir aus der Erfahrung gelernt haben, und da- 
mit bleibtauch die Form grösserer Handlungscomplexe 
bestimmt, nur einzelne Teilchen können unter Umständen 
in dieser Reihe umgestellt werden, wenn ihre Aufeinanderfolge 
nicht notwendig causaliter durch den Zweck bedingt ist. Wenn 
wir daher sagen: die Homerischen Griechen assen ohne Gabeln, 
so weiss der Hörer bestimmt, welche Teile des gesammten 
Handlungscomplexes, des Essens, also der Reihe durch die 
Angabe: ohne Gabeln berührt werden, der gesammte Zusammen- 
hang der Reihe bleibt dabei intact. 

Daher wissen vdr nach solchen Mustern und dem Cau- 
salitätsgesetze noch grössere Handlungsreihen zu reconstruieren : 
z. B. er ass, verlicss den Saal, gimj zum Meeresufer, bestieg das 
Schiff. Wir kennen überall Muster, die uns die überleitende 
Bewegung von einem Stücke der Reihe zum anderen veran- 
schaulichen. 

Aber hat denn ein jeder Mensch für jede Thätigkeit ein 
solches Muster? Sicher nicht z. B. von vielen technischen 
Handlungen, darum bleibt eben die Erzählung technischer Thä- 
tigkeiten dem Laien unverständlich. Ich erinnere nur an die 
technische Handlungsdarstellung des Glockengusses bei Schiller. 
Ein jeder kennt die Schwierigkeiten des Verständnisses, der 
das Gedicht einmal Schülern erklärt hat. Wo also die ein- 
zelnen Handlungen der Erzählung vom Hörer nach 
gewissen Mustern nachgebildet werden, wo die Ver- 
bindung dieser Handlungen gleichfalls nach Mustern 
und dem Causalitätsgesetze, das der Zweck gibt, con- 
struiert werden, da ist auf Verständniss beim Hören- 
den zu rechnen. 

Setzen sich dagegen Thätigkeitsmoleküle ohne den 
bindenden Kitt des Causalitätsgesetzes zu einem blos 


168 

zufälligen Aggregat von Handlungen zusammen, so 
ist das Verständniss und die Anschauung des Ganzen 
sehr erschwert. Z. B. die Reihenfolge von Handlungen, 
welche bei einem fremden Ciiltus- oder Festgebrauche sich 
abspielt, verstehen wir zwar in ihren einzelnen Molekülen, 
aber diese fallen zusammenhangslos auseinander, oder mit 
Lessing zu reden, sie rollen alle den Berg hinab, auf den der 
Erzähler sie mühsam gewälzt hat, der Hörer setzt aus ihnen 
kein anschauliches Bild zusammen. Es geht ihnen also wie 
den Stücken bei Beschreibung eines schönen Mädchens, eines 
stattlichen Mannes, einer Blume. Denn hier fehlt der Kitt der 
Causalität und damit, wie wir sahen, der verbindende Magnet 
der Erwartung. 

XXVI. 

Wir haben gesehen, wie die Beziehungspunkte gleichsam 
die Elemente sind, aus deren Verbindung der electrische Strom 
der Handlung sich im Bewusstsein des Hörenden entwickelt, 
wie der Zweck der Handlung den electrischen Strom der Er- 
wartung erregt, die als Gesetz der Causalität beherschend auf- 
tritt, die auch fehlende Elemente tiberspringt und sich auf 
entferntere weiterleitet. Wir haben ferner gesehen, wie die 
Reproduction dieser Elemente und Ströme sich nach bestimmten 
in der Seele vorhandenen Mustern vollzieht. Doch mussten 
wir anerkennen, dass in der Reihenfolge der molekularen Ele- 
mente gewisse Vertauschungen möglich bleiben, die wir als 
zufällig und unabhängig von der Causalität bezeichneten, dass 
ferner in dem Bestände der Moleküle eine gewisse Veränder- 
lichkeit, also eine Veränderlichkeit der Muster möglich war, 
wie die Homerischen Griechen nicht die Gabeln gebrauchten, 
nicht die Löffel, nicht vor dem Tische sassen, sondern daneben. 
All diese Abweichungen vom Muster sind Abweichungen vom 
Gemeinbilde, und das Gemeinbild ist das Generelle, also diese 
Abweichungen sind das Individuelle der Handlung. Wir haben 
daher die Frage zu stellen und zu beantworten: wie ist Indi- 
vidualsierung verständlich? 

Alle Substantiva sind Genusbezeichnungen, wie der Mensch, 
der Tisch, das La?id, die Bank, der Berg u. s. f., nur die Eigen- 
namen sind wenigstens für gewisse Kreise der Sprachgesell- 


169 

Schaft Individualitätsbezeichnungen, wie Cicero, Augmt, Fried- 
rich, Berlin, Baiem u. 8. f. Dazu kommen noch die wenigen 
namenartigen Worte der Wesen und Dinge, die uns nur in 
einem Exemplar erscheinen, so der Name Gott^ obgleich dem 
Polytheisten auch dieses Wort eine Genusbezeichnung ist, Teufel, 
Hölle, Himmel, Erde, Unterwelt, Welt. 

Der individuelle Character dieser Woii;e beweist, dass der 
Character der Individualität eines Wortes einzig da- 
von bedingt ist, ob wir mehrere oder nur ein Indivi- 
duum unter demselben vorstellen. Werden mehrere Einzel- 
wesen unter einer Wortnota einbegriffen, so müssen diese zu 
einem Gemeinbilde, einer Art von Abstractum werden, sich also 
zu etwas Generellem verbinden. 

Ein Substantiv wird auch nicht individualisiert, nicht zur 
Bezeichnung einer concreten einzelnen Person oder Sache durch 
attributive Verbindung mit dem Adjectiv, z. B. der schöne Tisch, 
der schöne Stuhl, der grosse Mann, das dimkle Sopha u. a. ist 
stets nur eine Unterabteilung, eine Species jenes Genus Tisch, 
Stuhl u. s. f. und ruft alle die Einzelwesen als eine Vielheit in 
unser Bewusstsein, welchen die Merkmale zukommen. 

Auch das Verbum ruft durchaus etwas Generelles in unser 
Bewusstsein: herrschen kann von vielen Subjecten und vielen 
Objecten ausgesagt werden, ebenso gehen, laufen, hören und so 
alle Verba. Und z. B. der grosse Mann beherrscht die kleinen 
Menschen kann eine allgemeine Sentenz sein. 

Die adverbialen Ausdrücke wie sehr, wenig, heftig, so, 
anders u. s. f. bezeichnen doch eine quantitative und generelle 
oder qualitative Modification des Seins, oder Handelns, also 
wider nur eine Species zum Genus : sehr starke Menschen, heftig 
hegehren u. a. 

So gäbe es denn nur eine Möglichkeit Individuelles zu 
bezeichnen, die Eigennamen. Aber wir können doch von einer 
bestimmten Brücke, einer bestimmten Schule, einem bestimmten 
Schranke berichten, ohne Namen zu nennen, das Mährchen 
nennt fast nie ein Namen, und doch verstehen wir die Könige^ 
die Menschenfresser, Fischer, Bauern u. s. f. als bestimmte In- 
dividuen. Es muss also, auch abgesehen vom Eigennamen, 
möglich sein durch die generellen Mittel, welche uns in 
unseren Sprachworten geboten werden, individuelle Dinge, 


170 

Personen und Thätigkeiten darzustellen und zu ver- 
stehen. 

Die Personen in Goethes Hermann und Dorothea haben 
mit Ausnahme der beiden Titelpersonen keine Namen vom 
Dichter erhalten, und doch ist kaum jemals die Individuali- 
sierung so meisterhaft gelungen wie bei den Gestalten dieser 
Dichtung. Der Wirt des goldenen Löwens tritt uns am An- 
fange der Dichtung sogleich mit einer Rede entgegen, dann 
erzählt der Dichter: 

,So sprach, unter dem Thore des Hauses sitzend am Markte, 
Wohlbehaglich zur Frau der Wirt zum goldenen Löwen' 

Eine Rede mit bestimmtem Inhalte und in bestimmter 
Form kann nur von einem einzelnen Menschen gesprochen 
werden. Der Wirt zum goldenen Löwen wird schwerlich bei irgend 
einem Menschen zu einer besonderen generellen Kategorie 
geworden sein, obwohl man sehr wohl denken kann, dass Je- 
mand sagen könnte: die Wirte zum goldenen Löwen prellen die 
Leute, dass dieser Jemand also unter den Wirten denen zum 
goldenen Löwen einen besonderen Character vindiciert und sie 
als Species aus der Gesammtheit der Wirte ausgesondert hätte. 
Undenkbar aber ist, dass die Löwenwirte, welche unter dem 
Thore des Hauses am Markte sitzen und zur Frau sprechen, 
als besondere Kategorie sich in irgend einer Menschenseele 
ausgesondert haben. Dazu kommt, dass das Präteritum eine 
vergangene Thatsache berichtet. 

So viel also ist schon deutlich, dass eine Genusbezeich- 
nung, welche individuell getasst werden soll, eine 
Reihe von Merkmalen erhalten muss, welche als Merk- 
male einer generellen Kategorie in keiner Menschen- 
seele vorhanden sind. Es ist ferner deutlich, dass diese 
Kategorien nicht bei allen Menschen gleich sind. 

Solche Merkmale waren an unserer Stelle 1. locale: 
unter dem Thore des Hauses am Markte, 2. temporale: das 
Präteritum sprach, 3. Zustände, welche nur vorübergehend 
am Menschem vorkommen: sitzend, 4. Verhältnisse, die nicht 
bei jedem Menschen vorhanden sind : Frau als Ehefrau und die 
Gesellschaft derselben mit dem Manne, 5. eine Handlung, wie 
sie nur einmal zu Stande kommen kann: die Rede des Wirts. 


171 

Diese Merkmale, mit Änsnahme des letzten, würden einzeln 
nicht im Stande sein zu individualisieren: der Mensch denkt 
unier dem Thore an den Thorzoll^ — das können alle Menschen 
sein, — auch die Verbindung mit einem Präteritum kiJnnte in 
diesem Sinne verstanden werden = früher dachte der Mensch 
unter dem Thore an — . 

Eine feste Grenze für die Individualisierung eines 
Dinges oder einer Person lässt sich nicht geben, da 
die Zahl und die Abgrenzung der Kategorien bei den einzelnen 
Menschen eine verschiedene ist. Es genügt jedoch die folgende 
ungefäre Begrenzung: Das Verständniss der Indivi- 
dualisierung wird da erreicht, wo ein Individuum 
durch locale und temporale Merkmale, ferner durch 
Merkmale des Characters und der Beziehungen zu 
anderen Wesen, durch Merkmale des Grades und der 
Quantität so abgegrenzt wird, dass diese nicht mehr 
die constitutiven Merkmale einer generellen Kate- 
gorie sein können. 

Bei der Erzählung: In einer grossen Stadt lebt ein Mann — 
weiss der Hörende zunächst nicht, ob von einem Individuum 
oder von einer allgemeinen Person die Rede ist, denn ein 
einzelnes Merkmal genügt noch nicht zur Individualisiening, 
es könnte ja weiter heissen: lebt ?nan billiger oder teuerer als 
in einer kleinen Stadt, Doch ebensowohl kann die Fortsetzung 
lauten: ein Mann, der viel Gutes gethan hat. — Somit kommt 
hier der Hörende erst allmählich zum Bewusstsein, 
dass von einem Individuum die Rede ist, und zwar 
durc;h fortgesetzte Begrenzung oder Limitation des 
Gen US begriff es, den er zuerst gehört hat. 

Wenn wir bei unserem Beispiele von der Wortstellung ab- 
sehen und vorausstellen: Ein Mann^ so wird dieser Ausdruck 
durch das Local in eiiier grossen Stadt beschränkt und weiter 
beschränkt in seiner Thätigkeit und der Zeit nach durch lebt, 
und weiter durch die vollendete Handlung: der viel Gutes ge- 
than hat. Die Beschränkung besteht aber darin, dass eine 
vom Hörenden zunächst zu weit gefasste Vorstellungsgnippe 
nachträglich, in Folge einer neuen Mitteilung, enger gefasst 
und somit corrigiert wird ; — die fortgesetzte Limitation 
ist also auch fortgesetzte Correctur. Ganz entsprechend 


172 

zeigte sich oben, isas die Handlong doreh fortgesetzte Corrector 
Terstanden wird. Und auch hier gilt natürlich der Grandsatz: 
je schneller und geläniiger eine solche Sprachreihe verläuft, 
am so weniger fühlbar ist dem Hörenden die Thatsache der 
Limitation and Correctar. 

Man weiss daher, dass wir keine EntüLaschang empfinden, 
wenn wir gezwangen werden das zaerst vorgestellte Genas im 
Nachfolgenden als Individaam za denken. Doch za der That- 
sache der Mechanisierang tritt noch ein neaer Grand, der ans 
vor Enttäaschang schützt ein Grand, der ans aas dem Vor- 
hergehenden schon bekannt ist. Wir sahen, dass wir Alles 
nach bestimmten Mastern vorstellen, diese Master waren zwar 
darch Abstraction der indi^idaellen Züge vielfach entkleidet, 
wie sie die Einzelbilder besassen, aber doch war die Form 
eines bestimmten Einzelbildes gleichsam die Grandzeiehnang, 
aas der nach Massgabe späterer Bilder nur einzelne Züge, Linien 
and Striche getilgt, andere später darin eingezeichnet warden. 
Das Muster einer Hexe war eine bestimmte Hexe, dass des 
Menschen ein bestimmter Mensch mit mannigfach verwischten 
and veränderten Zügen. Somit behält das generelle Gemein- 
bild doch immer den Character eines anschaalichen Individaal- 
bildes nur mit der Eigenschaft, dass in diese Form eine Mehr- 
heit von Einzelwesen gekleidet sind. Nicht gestaltlose Grappen, 
sondern fest gestaltete Idealbilder sind es, denen wir die gene- 
rellen Merkmale angeheftet haben. 

So taucht also bei dem Verständnisse des generellen Aus- 
drucks der Mensch dieses idealbildliche Muster von echter 
Menschgestalt in unserer Seele auf. — Und doch sollen wir 
diesen allgemeinen Menschen später als Vater oder Helden, 
als edlen Jüngling oder schöne Jungfrau vorstellen, so muss 
notwendig eine Veränderung und Umgestalung dieses Bildes 
eintreten. 

Je allgemeiner ein Muster, um so weniger Züge besitzt dieses 
Gemeinbild; es hat daher keine Schwierigkeit, wenn diesem 
Bilde allmählich ein Ausdrack von Kraft oder Güte, ein mäch- 
tiger Bart, oder ein rosiges Gesicht, dunkle Locken oder blonde 
Flechten wachsen, wenn die Gestalt sich reckt oder verkleinert. 
Je weniger Züge wir an einem Bilde vorstellen, um so undeut- 
licher ist uns das Bild. Sehen wir eine menschliche Gestalt 


178 

in der Ferne, so gentigen die wahrgenommenen Merkmale zu- 
nächst vielleicht nur, in ihr einen Menschen zu erkennen. Sie 
tritt näher, neue Merkmale nehmen wir wahr, es ist eine Frau, 
noch näher tritt uns die Gestalt, es ist eine jugendliche Frau, 
später erkennen wir die Farbe des Haares, die Züge des Ge- 
sichts in voller Schärfe. Es bleibt uns dies scharf und deutlieh 
geschaute Bild dasselbe als jenes erste undeutlich wahrgenom- 
mene, aber ausgestattet mit einer Menge nun zu einer Einheit 
verbundener Ztige. 

Und nicht Enttäuschung fbhlen wir bei einem solchen 
Vorgange, sondern im Gegenteil die Erwartung wurde gespannt, 
als die Gestalt in der Ferne auftauchte, man fragte: wer mag 
das sein? jeder Schritt näher, und die Erkenntniss vervoll- 
ständigte sich, und als die Gestalt klar vor unseren Augen 
stand, da war die Erwartung befriedigt. Die fortschrei- 
tende Umgestaltung des Bildes ist also fortschrei- 
tende Erkenntniss und fortschreitende Befriedigung 
der Erwartung. 

Ein Jeder beobachtet an sich selbst, dass die ersten ex- 
positionellen Mitteilungen in der Erzählung mit geringerem 
Interesse vom Hörer oder Leser aufgenommen werden als die 
weitere Handlung. Wie oft hört man z. B. dass ein Leser in 
Jen breit angelegten Expositionen der Walther-Scottschen Ro- 
mane stecken bleibt. Diese Expositionen sind dazu bestimmt, 
den Hörer mit der Individualität der Handlungsmomente, also 
in erster Linie mit der Individualität der Personen bekannt 
zu machen. Das Interesse und die Spannung wächst also mit 
der näheren Kenntniss der Personen und der Handlungen, in 
die sie verwickelt sind. 

Nun kann man weiter beobachten, dass durchaus nicht 
alle Personen, von denen wir einmal haben erzählen hören, 
sich zu festen und anschaulichen Individualbildern 
in unserer Seele ausgestalten. Viele, sehr viele Personen 
der Geschichte kommen über die allgemeinen Züge Mann und 
Frau in unserer Seele wenig hinaus. Der Grund dieser Er- 
scheinung ist ein doppelter: 1. zum Verständniss einer Indivi- 
dualität gehören immer mehrere Züge und je grösser die Zahl 
dieser Züge, um so vollständiger ist bei dem Hörer das indi- 
viduelle Bild; 2. nicht alle Personen nehmen unser Interesse 


174 

in gleichem Masse in Anspruch, wo aber das Interesse fehlt 
oder doch gering ist, da hebt sich die erregte Vorstellungs- 
gruppe mit nur geringer Stärke aus der Masse der übrigen 
Gruppen empor, sie wird also nur schwach bewusst und mit ihr 
die Muster, aus denen sich das Individualbild erzeugen solL 

So zeigt sich 1. eine Abstufung in der Klarheit und 
Anschaulichkeit der vom Hörer erzeugten Individual- 
bilder, 2. dass diese Abstufung der Klarheitsgrade be- 
dingt ist von dem Interesse des Hörers für die Per- 
son. Die höchste Schärfe und Anschaulichkeit dieser Bilder 
wird daher dann erreicht werden, wenn es dem Erzähler ge- 
lingt, dem Hörer den höchsten Grad des Interesses aufzunötigen. 
Das Gelingen ist 1. bedingt durch das Wesen und den Character 
der mitgeteilten Merkmale, 2. bedingt durch die Art, wie diese 
Merkmale vom Erzähler mitgeteilt werden. 

Die energischten Interessen, wie wir sahen, sind die 
egoistischen Interessen im weitesten Sinne des Wortes 
d. h. die Strebungen des Lust- und Unlustgefiihles in der Er- 
haltung und Befriedigung unseres Ichs. Fest haften daher die 
Bilder unserer Feinde und Wohlthäter in unserer Seele und 
gern hört der Mensch seinen Feind getadelt, seinen Freund 
gelobt. Gern hört er den Worten, welche seine persönlichen 
geistigen Strebungen fördern, hier fehlt nicht das Interesse, 
hier erreicht der Sprechende leicht Anschaulichkeit. Man nennt 
diese Interessen Fachinteressen und spricht damit aus, dass 
sie nur kleineren Gruppen einer Sprachgemeinschaft eigen sind. 
Die niederen egoistischen Interessen zu fördern halten wir für 
unmoralisch, und diese Interessen hat eine jede einzelne Person 
für sich allein, sie tragen also sämmtlich keinen allgemeinen 
Character an sich. 

Fragen wir nach den allgemeingiltigen Interessen, 
den sogenannten allgemeinmenschlichen, die der Erzähler zu 
berücksichtigen hat, der sich an ein grosses Publicum wendet, 
also in erster Linie der Dichter, — so sind dies die Interessen, 
welche die gleichen Gefühle in uns erregen wie die egoisti- 
schen, doch ohne dass wir eine Lust empfinden über Förderung 
des eigenen Ichs, einen Schmerz über die Hemmung, eine 
Furcht über die Gefährdnung unserer eigenen Person. Es sind 
dies die sympathischen Gefühle des Menschen, Gefühle 


175 

gleicher Qualität wie die egoistischen, aber verschieden durch 
die Beziehung: die egoistischen Geftihle sind bezogen auf das 
empfindende Subject selbst, die sympathischen Gefühle auf 
eine fremde Person. Es ist formell der gleiche Vorgang wie 
der oben besprochene, wo das primäre Subject durch das 
secundäre und tertiäre ersetzt wurde, gleichsam ein indirectes 
Interessiertsein, wie der Einsatz des tertiären für das primäre 
Subject eine indirecte Rede war. 

Diese sympathischen Gefühle der Furcht für einen Anderen, 
der Hoffnung, der Freude, des Schmerzes in eines Anderen 
Seele treten ein durch entsprechende Zustände, in welche der 
Mitmensch versetzt wird, doch so dass wir jene Gefühle haben 
würden, wenn wir uns selbst in diesem Zustande befänden. 
Zustände des Menschen aber sind Abschlüsse von Vorgängen, 
die mit ihm vorgenommen sind. Die Zustände, welche unsere 
Furcht und unsere Hoffnung erregen, erregen eben den Wunsch 
in uns, dass der leidende Mensch in einen Zustand übergeführt 
wird, der unser Lustgefühl erregt. Kurz diese Gefühle erzeugen 
sich in uns an und durch Handlungen, welche Leidens- und 
Lustzustände einer fremden Person zur Folge haben. 

Gelingt es also dem Erzähler, diese Gefühle in Bezug auf 
Qine fremde Person bei dem Hörer zu erregen, so wird das 
Interesse des Hörers hoch gespannt, durch das Interesse aber 
das Individualbild oder auch die Individualbilder sehr energisch 
aus der Masse der übrigen Vorstellungen emporgehoben werden. 
Also wenn die Merkmale der Individualität mit den 
sympathischen Gefühlen eng verknüpft werden, so 
tritt gespanntes Interesse ein, das ist nur möglich 
bei Handlungen, die zu gewissen Leidenszuständen führen, 
also darf der Dichter nur derartige Handlungen dar- 
stellen; und Lessings dahingehende Forderung ist 
vollkommen richtig, verfehlt war nur seine Begründung. 

Doch frei, ganz frei ist die Construction dieser 
Individualbilder, eine freie That des Hörers. Thor- 
heit wäre es zu glauben, der Dichter könne den Hörer durch 
seine Mittel zwingen ein ganz bestimmt geformtes Bild zu er- 
zeugen, die Muster des Hörers sind andere als die des Dichters, 
and nur nach den eigenen Mustern erzeugen und eonstruieren 
wir diese Bilder. Lessing hat daher auch wieder Recht, wenn 


176 

er die Berechtigung der Besehreibung von Personenbildern be- 
streitet. Die That des Dichters, seine ganze Grossthat beruht 
darin, dass er den Hörer zwingt, selbständige, rein persönliche 
Individualbilder in seinem Bewusstsein vorzustellen mit voller 
Stärke, mit voller Anschaulichkeit, kurz mit vollem Interesse. 

Aus diesem Hergange lassen sich eine ganze Reihe von 
Forderungen für die Kunst des Dichters ableiten doch ich will 
nur die Hauptforderungen angeben. Beruht das Interesse auf 
der Erregung der Gefühle von Strebungeü für die Person des 
Helden einer Erzählung, Strebungen für dessen Wohl- oder 
Uebelbefinden, — für das Uebelbefinden z. B. des Schurken 
oder Gegenspielers — , so muss der Dichter diesen Strebungen 
entgegen kommen und sie befriedigen, denn die Strebungen 
erzeugen Erwartungen, über den Verlauf des Leidenszustandes 
Weiteres zu hören. Bleiben diese weiteren Mitteilungen aus» 
so wird die Erwartuung getäuscht, die weitere Erzählung ver- 
liert das Interesse, denn sie gibt den Strebungen keine Be- 
friedigung. Wir können die hierin liegende Forderung be- 
zeichnen als die Forderung der Einheit der Handlung. Aus 
dieser Forderung ergibt sich die andere, von der vielgestaltigen 
umgebenden Situation der Personen und der Handlung nur 
das mitzuteilen, was zum Verständniss der Handlung und zur 
Erregung des Interesses notwendig ist, es ist die Forderung 
der straffen Führung der Handlung. Denn an jede Mit- 
teilung knüpfen wir Erwartungen, war die Mitteilung z. B. über 
die Anlage eines Hauses aber blos in baulichem Interesse und 
nicht in Rücksicht auf den WeiteiTcrlauf der Handlung ge- 
geben, so bleiben die Erwartungen unerfüllt, welche wir daran 
geknüpft haben, und wir fühlen uns in unserem Streben ge- 
hemmt, von dem erwarteten Weiterverlauf der angeknüpften 
Handlung Weiteres zu erfahren. 

Da ich bei dieser Gelegenheit nicht vorhabe die angeregten 
Fragen auf das poetische Gebiet weiter zu verfolgen, so weise 
ich nur auf folgende concrete Fälle hin: Ist der Hörer ge- 
zwungen Interesse für die poetischen Personen zu hegen, so 
construiert er frei aus sich Alles, was für die Anschauung eines 
Individualbildes notwendig ist, es bedarf dazu keiner Angabe 
oder Mittelung des Dichters. Als Beispiel hierfür setze ich 
hierher Uhlands Rache. 


177 

yDer Knecht hat erstochen den edeln Herrn, 
Der Knecht tvär* selber ein Ritter gern. 

Er hat ihn erstochen im dunkeln Hain 
Und den Leih verse^iket im tiefen Rhein; 

Hat angeleget die RiXstung blank, 

Auf des Herren Ross sich geschwungen frank. 

Und als er sprengen will ixber die Brück', 
Da stutzet das Ross und bäumt sich zurück, 

Und als er die güldnen Sporen ihm gab. 
Da schleuderts ihn wild in den Strom hinab. 

Mit Arm, mit Fuss er rudert und ringt: 
Der schwere Panzer ihn niederzwingt,' 

Es ist dieses Gedicht ein Beispiel der Individualisierung 
rein aus dem Interesse an der Handlung heraus, die Personen 
des Knechts und des Ritters sind sonst in keiner Weise durch 
Limitation von anderen Knechten und Rittern abgeschieden. 

Ferner die straffe Führung der Handlung, welche die für 
die Handlung unwesentlichen Momente der Situation ver- 
schmäht mitzuteilen, gebe ich den Anfang von Goethes Braut 
von Corinth: 

,Nach Corinthus von Athen gezogen 

Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt. 

Einem Bürger hofft' er sich gewogen; 

Beide Väter waren gastverwandt. 

Hatten frühe schon 

Töchterchen und Sohn 

Braut und Bräutigam voraus genannt* 

Es fehlt hier jede Bezugnahme auf die Zeit, und doch 
sagt uns später die Handlung selbst alles Notwendige darüber, 
keine Angabe über den Ausgangspunkt des Jünglings, keine 
Angabe über Erziehung, Nationalität u. s. f., auch über den 
Weg keine Mitteilung. Ueber die Situation ist uns nur das 
gesagt, was für die Handlung wertvoll ist, nach der unmittel- 
baren Empfindung, dass eine jede Mitteilung auch einen Wert 
haben muss entweder für sich oder in Rücksicht auf ein höheres 

12 


178 

Prädieat. Keine Ausfiilinmg der Handlung selbst, — und doch 
verstellen wir alle Ilaudlungsmitteilung nach unseren Ilandlungs- 
mustern. 

XXVII. 

Wo also Muster fehlen, da ist es vergeblich durch Be- 
schreibung ein Bild entwerfen zu wollen, dem Hörer fehlt die 
Fähigkeit ein solches frei zu construiercn, er wird daher weder 
einen räumlichen Körper noch eine Handlung anschaulieh zu 
verstehen im Staude sein. 

Und doch auch hier gibt es ein Mittel, das Verständniss 
zu wecken, ein Mittel, das wir schon erwähnten: wo die 
deckenden Muster fehlen, da greift mau zu verwandten 
Mustern und veranlasst den Hörenden, den Gegenstand und 
die Bewegung nach Analogie zu erschliessen, dieses Mittel ist 
der Vergleich. 

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Vergleich der Poesie 
eigentümlicli sei, er ist eines der allergewöhnlichsten Sprach- 
mittel, die wir besitzen. Man denke sich, man wolle eine Be- 
wegung genauer mitteilen, die ein Schilf auf dem Wasser 
macht, oder ein Fussgänger auf dem Lande. Man wird da viel- 
leicht sagen: das Schiff fährt eine Meile nach Osten, macht 
eine scharfe Biegung nach Süden, fährt in dieser Richtung 
40 Ellen oder 10 Klafter oder 2 Faden u. s. f.; oder man nennt 
die Bewegung kreisrund, oval, den Raum, den das Schiff um- 
fährt, ein Quadrat. 

Deutlich ist die Bezeichnung oval ein Vergleich mit dem 
Ei, ein Jeder wird wissen, in wiefern eine plauimetrischc B:- 
wcgung mit einem Ei verglichen werden kann und so nach 
dem Muster des Eis die Bewegung richtig anschauen. Das Ei 
al)er wird zum Vergleiche herbeigezogen, weil man voraussetzt, 
dass del* Hörende das Musterbild eines Eis in der Seele trägt. 

Die Länge der Bewegung wird nach Fussy Klafter oder 
Lachler, Schritt, Ellen, Meilen bestimmt. Der Fuss ist ur- 
sprünglich der menschliche Fuss, also ein Anschauungsbild, 
von dessen Ausdelinung man sich jeden Augenblick eine Vor- 
stellung bilden kann entweder weil es fest in unserer Seele 
eingeprägt ist oder weil wir uns am eigenen Fusse das Bild 
stets vergegenwärtigen können. Der Normalfuss dagegen ist ein 


179 

Muster, das wir nnr in unserem Bewusstsein ti-agen, dies Muster 
wird bei den meisten Menschen einem Zollstabe ähnlich sehen, 
mit diesem also wird die Länge der Fahrt verglichen. Ebenso 
war die Elle ursi)rünglich der Unterarm, das Klafter die aus- 
gespannten Arme, die Meile 1000 römische Passus u. s. f. 

Häufig wird die Länge der räumlichen Bewegung nach der 
Zeit bestimmt, die der Mensch gebraucht, um den Raum^zu 
durchmessen: eine Stunde, fünf Minuten. Bekannt ist das Mass: 
eiji Buchs ens clmss, eiyi Picp-Toback, ein Hunnehlaff, lauter Ver- 
gleiche. Schliesslich sind auch die Bezeichnungen der Himmels- 
richtungen Vergleiche, Vergleiche mit dem Laufe der Sonne, 
Oriens {Sol), (Jccideivt, Aufgang, Niedergang; — Abend, Morgen, 
Mittag, Mitternacht sind Vergleiche mit den Tageszeiten. Und 
wenn wir die Richtung mit rechts, links bezeichnen, so ver- 
gleichen wir die Richtung der Bewegung mit der Lage unserer 
Hände. 

Und was thun wir, wenn wir ein Bauwerk beschreiben 
wollen? Wir sprechen von der Lage der Fenster: sie sind so 
und so viele Fuss auseinander, — ein Vergleich, — so und so 
viele Meter hoch, — ein Vergleich. Die Bogen bestimmen wir 
durch einen Vergleich mit dem mathematischen Kreise, als 
Tonnengewölbe durch Vergleich mit der Tonne, bei Zwiebel- 
türmen ist der Vergleich aus der Pflanzenwelt hergenommen. 

Aber auch die elementaren Nerven- und Sinnesempfindungen 
lassen sich nicht beschreiben, sie lassen sich nur vergleichs- 
weise andeuten, die grüne Farbe ist uns grasgrün^ wir sprechen 
von ziegelrot, pechrabe7isch?rarz, stahlblau, rosenrot, essigsauer, 
Obstsäure, honigsüss, gallenbitter u. s. f. Und zerlegen wir die 
oben besprochenen einfachen und elementaren Nerven- und 
Muskelvorgängc die psychischen Erscheinungen in ihre Atome, 
so nehmen wir die Bezeichnungen her aus dem Gebiete der 
Thätigkeit, welche dicsseit der Grenze des Unbewussten liegen: 
die Muskeln bewegen sich, sie zucken, sie werden gestreckt, zu- 
sammengezogcn, die Vorstellungen henimen sich, es geht etwas in 
der Seele vor u. s. f. 

Doch ich breche hier ab, es ist ja ersichtlich, wie tief ein- 
eingreifend diese Bezeichnung nach fremden Mustern für die 
Lehre von der Wortbedeutungsentwicklung, für die Semasiologie 
ist. Es ist auch in der ersten Abhandhing ausgeführt, wie die 

12* 


180 

bildliche Bezeichnung allmählich ihrer Function congruent wird. 
Es ist femer bekannt, eine wie einschneidende Bedeutung der 
Vergleich für die kunstmässige Form der Darstellung in Prosa 
und Poesie gewonnen hat, und es muss aus den vorliegenden 
Untersuchungen klar geworden sein, dass die Fragen der Bhe- 
torik und Poetik nach denselben Gesichtspunkten und Gesetzen 
beantwortet werden müssen, wie die Fragen der Grammatik. 


Zum Schlüsse gebe ich im Ueberblick eine kurze Zu- 
sammenstellung der wichtigsten allgemeinen Resul- 
tat e vorstehender Untersuchungen: 

Wir sehen also, dass die Sprache sich entwickelt aus 
ethischen Bedürfnissen, dem Bedürfnisse, den Willen einer 
fremden Person so zu beeinflussen, wie es dem Sprechenden 
wertvoll erscheint, — in Imperativ, Frage, Hinweis und Auf- 
forderung Bewusstseinselemente zu vergegenwärtigen. 

Das Verständniss dieser Willensbeeinflussung geschieht 
durch Schlüsse, welche der Hörende aus der Situation, ge- 
wissen sprachlichen Andeutungen des Sprechenden und den 
Empfindungserscheinungen an ihm zieht. Er erschliesst Leidens- 
zustände des Sprechenden und fühlt sich durch den ethischen 
Trieb der sympathischen Gefühle veranlasst, dem Leidenden 
in der erschlossenen Weise zu helfen: so folgt er dem er- 
schlossenen Befehle, so beantwortet er die gestellte Frage, so 
schaut er auf das gewiesene Bild der Anschauung, so repro- 
duciert er auf Geheiss ein Bewusstseinsbild, ein Muster, und 
je nach dem Grade, wie der Sprechende die sympathischen 
Gefühle des Hörers zu erregen weiss, wächst sein Interesse 
und die Schärfe der in das Bewusstsein gehobenen Bilder und 
ihre Anschaulichkeit. 

Die Schlüsse des Hörers werden durch Häufigkeit und 
Uebung mechanisiert, sie comprimieren sich zu momentansten 
Vorgängen und verlaufen unbewusst. Der Befehl ein An- 
schauungsbild anzuschauen comprimiert sich mit dem Befehle 
ein Erinnerungsbild zu reproducieren, dem Prädicate, zu einer 
substantiellen Gruppe, dem Substantiv. Neue Prädicate von 
dieser Reihe ausgesagt comprimieren sich mit dei-selben wieder 
in gleicher Weise zum attributiven Verhältnisse und so fort. 


181 

Alle Sprachelemente sind ursprünglich Sätze. Die Sätze 
stufen sieh ab nach ihrem Illustrationswerte, den sie für das 
eigentlich Wertvolle der Mitteilung enthalten, sie werden zu 
Nebensätzen, zu Wollten, zu Wortbestandteilen als Suffixe und 
Präfixe. Nach diesem Gesichtspunkte ist das einfache Wort 
wie der Satz, wie die Periode, wie das geschlossene sprach- 
liche Kunstwerk gebaut und gegliedert. 

Es sind zwei grosse Klassen von Sprachelementen zu 
unterscheiden, die Exposition und das Prädicat, und zwei For- 
men der Anordnung: 1. zuerst das Prädicat gestellt dann die 
Exposition, die naive Form der nachträglichen Correctur, 2. erst 
Exposition dann Prädicat. Die erstere Form ist die in den 
ältesten Bildungsweisen der Flexion, Composition, attributiven 
Verbindung, Apposition, Bildung des Nebensatzes herschende. 
Die zweite Form herscht in den modernen Sprachbildungen 
und bezeichnet einen ethischen Fortschritt. 

Die Erwartung des Prädicats der Mitteilung, der letzten 
eigentlichen Wertprädicate und der untergeordneten Prädicate, 
bildet das innere Band, wodurch der Hörende die Sprach- 
massen zusammenschliesst. Sie bildet die Grundlage des cau- 
salen logischen Zusammenhanges, die Apperceptionsmittel für 
das Verständniss nachfolgender Prädicate. 

Erwartung und Zweckvorstellung der Bewegungsreihen 
sind wichtige Factoren für das Verständniss der Handlung. 
Aus ihnen und aus den durch die Abstraction der Erfahrung 
gewonnenen Musterbildern von Alle dem, was den Inhalt unserer 
Erfahrung bildet, erschliessen wir die Handlung, aus der Er- 
fahrung über den realen Inhalt der mitgeteilten Thätigkeiten 
die zeitliche Ordnung, aus der Erfahrung erschliessen wir den 
generellen oder individuellen Character d.er Gruppen und Reihen, 
von denen Mitteilung gemacht wird. Aus der Erfahrung er- 
schliessen wir das Verhältniss von Subject, den Objecten und 
der Thätigkeit zu einander, und erst aus dem Inhalte der Ob- 
jecte den Inhalt der Thätigkeit. 

Unser genaues Sprachverständniss beruht auf Schlüssen, 
zunächst aus sehr einfachen Elementen, wie dem Empfindungs- 
tone, den mimischen Mitteln, dann aus complicierten, wie dem 
Worte, dem Satze, der Periode, dem ausführenden Kunstwerke. 
Durch Schlüsse sind wir im stände aus den Empfindungstone 


182 

die Hcelischcn Zustände eiuer gcgeuwärtigen Person zu er- 
kennen und den Satzinhalt der Wortraittel zu verstehen. Durch 
Veränderung und Entstellung des Empfindungstones erschliessen 
wir, dass über Zustände einer dritten Person referiert wird ; 
wir erhalten die indireete Rede, damit einen ungeheuren Vorrat 
von lautliehen Aeusserungen , Reflexlauten wie sehallnach- 
ahmenden Lauten, durch die wir an Situationen erinnert wer- 
den, das sind die Prädicate. Die primären Objecte werden zu 
secundären Subjecten und damit erreicht die Sprache den 
Character der Einfachheit und Durchsichtigkeit des Referats. 

All diese Schlussreihen und Schlussketten verkürzen sich 
durch die Mechanisierung, und die sprachlichen Mittel werden 
congnient ihrer Function. Sie sind nicht sogleich congruent, — 
damit erhält die Sprache congruente und nicht congruente 
Mittel flir die gleichen Functionen, d. h. Mittel, durch die ver- 
kürzte oder ausgedehnte Schlussreihen in der Seele des Hörers 
in Bewegung gesetzt werden. Durch die Verschiedenheit dieser 
Schlussreihen sind die stilistischen Unterschiede in der Sprache 
bedingt. 

Die gleichen Erscheinungen, die sich auf syntactischem 
Gebiete finden, wiederholen sich in der Poesie und der aus- 
geführten Rede. Diese Gebiete dürfen daher in ihrer Behand- 
lung von dem Gebiete der Syntax nicht getrennt werden, im 
Gegenteil werden die Erscheinungen in der zerlegenden Dar- 
stellung viel klarer als in der mechanisierten Syntax; die zer- 
legte Form ist aber das Object der Poetik, Rhetorik, Stilistik. 
Das Wort ist comprimierter Satz, also auch die Formenlehre 
ist ein Teil der Syntax. 

Die Sprache beruht auf dem Verkehr der Menschen unter- 
einander, auf den egoistischen und sympathischen Gefühlen, 
ihr Leben ist auf das tiefste in den ethischen Bedingungen 
der Gesellschaft und des Einzelmenschen verwurzelt. Die 
Sprache ist Verkehr der Menschen unter einander und nur die 
sprachlichen Vorgänge, welche wir als Hörende verstanden 
haben, können uns beim Sprechen als Sprachmittel dienen. 
Daher muss die Frage nach dem Sprachverstehen im Vorder- 
grunde der sprachwissenschaftlichen Untersuchung stehen. 

Dies etwa sind in skizzierenden Umrissen die Haupt- 
resultate vorstehender Untersuchungen. Sollte es mir gelungen 


183 

sein, die Einheit von Grammatik, Rhetorik, Stilistik und Poetik 
erwiesen und gezeigt zu haben, wie gerade aus einer solchen 
die verdichtenden und zerlegenden Formen der Sprache unter 
gleichen Gesichtspunkten behandelnden Betrachtungsweise wich- 
tige Resultate gewonnen werden können, und wie in all diesen 
Fragen Ethik und Psychologie die lösenden Schlüssel in Hän- 
den halten, so würde ich glauben, etwas erreicht zu haben. 
Ebenso würde ich wünschen meinesteils die Anschauung in 
den Kreisen der Grammatiker zu fördern, dass die eigentliche 
Aufgabe aller wissenschaftlichen Grammatik darin besteht, die 
grundlegenden Verhältnisse und Gesetze aufzufinden, aus denen 
die sprachlichen Einzelerscheinungen hervorwachsen, — dass 
die Einzelerscheinung auf dem Gebiete einer einzelnen Sprache 
für die Wissenschaft keinen höheren Wert beanspruchen darf 
als in der Mineralogie die Thatsache, dass in dieser oder jener 
Gegend Quarz oder Bleiglanz gefunden wird, — dass die all- 
gemeine Forschung allerdings gesichertes statistisches Material 
bedarf dass aber das statistische Material tot und unbrauch- 
bar ist ohne die belebenden Gesichtsimnktc und Anschauungen, 
welche die allgemeine Betrachtungsweise erschliesst. 


Znsäize und Nachträge. 

S. 11. Dass dieses Gesetz auch für die Geschichte und Ent- 
wicklung der Sprache einschneidende Bedeutung haben muss, 
ist leicht ersichtlich. Zunächst ist für die indogermanischen 
Sprachen ganz allgemein die Thatsache bekannt, dass die hoch- 
betonten Silben ihre Integrität viel treuer bewahrt haben als 
die unbetonten Silben, man vergleiche franz. komme mit latein. 
hominem, fütes mit fuistis, man vergleiche die Ausdehnung, 
welche das deutsche unbetonte e an Stelle anderer Vocale ge- 
wonnen hat und weiter die dialectische Beseitigung auch dieses 
Restes alter vollerer Vocale. 

Die Gründe für den Verlust oder die Verstümmlung der 
unbetonten Silben in der Sprache der sprechfertigen Sprach- 
gesellschaft sind, soweit ich sehe, folgende: 1. eine grössere 
Unsicherheit im Muskelgeftihle für die minder betonten Wort- 
teile, — denn je schwächer die akustische Empfindung, um so 
geringer ist die Genauigkeit in der Nachbildung des Tonbildes, 
d. h. um so schwächer ist die regulierende Kraft des in der 
Seele vorhandenen Lautmusters. Man hat hierfür eine Probe: 
Bei dem Betrunkenen werden alle Bewegungen unsicherer, die 
Bewegung des Gehens, wie des Schreibens und ebenso des 
Sprechens. Es ist in diesem Zustande die psychische Leitung 
auf die motorischen Nerven unsicher geworden, doch mit Ab- 
stufungen : die am meisten mechanisierten Bewegungen werden 
mit verhältnissmässig grösserer Sicherheit ausgeführt als die 
weniger mechanisierten, so kann in diesem Falle Jemand viel- 
leicht noch leidlich gehen, während ihm das Lesen, das Klavier- 
spielen und andere technische Fertigkeiten unmöglich geworden 
sind. In diesem Zustande nun, wo das Lallen beginnt, werden 
die hochbetonten Silben verhältnissmässig sicherer gesprochen 


185 

als die minder betonten Silben, — ein deutlicher Beweis, dass 
Mechanisierung der Aussprache bei jenen Silben weiter fort- 
geschritten ist als die bei den minderbetonten. Und da Me- 
chansierung die Folge der häufigen Bethätigung einer Bewegung 
ist, so ist es begreiflich, dass die Hervorbringung der minder- 
betonten Silben weniger mechanisiert ist als die Lautbewegung 
der hochbetonten Silben, denn letztere werden Mher gesprochen 
als erstere. 

2. Ein zweiter Grund liegt darin, dass wir auch bei mangel- 
hafter Aussprache der unbetonten Silben in den meisten Fällen 
das Wort verstehen, ja dass der Hörende wohl vielfach nur 
die betonte Silbe hört und dass er dabei doch das Gefühl hat, 
als habe er das ganze Wort vernommen. Dass dieser Fall 
sehr häufig ist, kann jeder an sich selbst beobachten. Eine 
Bestätigung erhält diese Thatsache aus dem analogen psychi- 
schen Gebiete der optischen Wahrnehmungen; hier ist es be- 
kannt, dass wir kleine Abweichungen im Aussehen gegenüber 
einem früheren Zustande gar nicht bemerken, sondern die 
Person oder Sache als identisch mit unserem Erinnerungsbilde 
von denselben anerkennen, ferner dass wir die Recognition 
einer bekannten Anschauung nie nach all ihren sichtbaren 
Merkmalen vollziehen, sondern nur nach einigen besonders 
significanten. So ist auch ftir die akustische Wahrnehmung 
von Sprachreihen mit Sicherheit anzunehmen, dass Abweich- 
ungen an Elementen des Wortes oder Satzes, die ftir das Ver- 
ständniss weniger wichtig sind, nicht bemerkt werden. — Ein 
director Beweis hierfür ist die Thatsache, dass wir die Ver- 
stümmlung der wenig betonten Formen des Artikels, der Co- 
pula ist und gewisser anderer Worte, die durch den Satzaccent 
Einbusse erlitten haben wie n Tag statt guten Tag^ nicht oder 
doch oft nicht bemerken, obgleich wir für diese Worte ein 
festes Normalbild in der Seele tragen und demselben in der 
gewählten Rede, wo wir uns nicht gehen lassen, gerecht werden. 

Man könnte vielleicht glauben, dass die wenigen Jahre, die 
wir betonte Silben länger sprechen, als die unbetonten, für die 
Mechanisierung nicht in Beti'acht kämen. Das wäre ein Irrtum. 
Man achte auf andere Fälle der Mechanisierung, und man wird 
die Wichtigkeit gerade der ersten Kinderjahre für die Mecha- 
nisierung zu würdigen wissen. So tritt Unsicherheit im Ge- 


186 

brauch der syntactisclien Formeu, welche später vom Kiude 
gebraucht werden als einzelne Worte, durch Störung z. B. des 
Alkohols leichter als Unsicherheit in der Wahl der Worte ein. 
Der zuerst vom Kinde gebrauchte Wortschatz ist der mechani- 
sierteste Teil des Wortschatzes überhaupt, er überwiegt im Ge- 
brauch sämmtliche synonymen Worte in der Leichtigkeit der 
Reproduction, darum sind die gewählten Worte schwerer zu 
handhaben als die gewöhnlichen. — lieber die in der ersten 
Kindheit geläufig gewordenen VorstelUungsgruppen drücken 
wir uns mit grösserer Leichtigkeit aus als über später erwor- 
bene. — Häufiger Gebrauch bringt mit der Zeit Ueberdruss 
oder vermindert doch den Genuss an gewissen Dingen. Die 
Süssigkeiten und andere Kindergenüsse verlieren zuerst ihren 
Reiz. 

Zu der Thatsache, dass wir die Worte des Sprechenden 
schon nach wenigen Merkmalen auffassen und recognoscieren, 
sei ergänzend bemerkt: in kleinen Kreisen, deren Glieder sich 
nahe stehen, z.B. innerhalb einer Familie, innerhalb einer 
Dorfschft macht man sehr häufig die Beobachtung, dass die 
Worte im Gespräche dieser Glieder unter einander viel mangel- 
hafter artikuliert werden und mit viel geringerer Exspirations- 
stärke gesprochen werden als im Gespräche derselben Leute 
mit Fremden. Jeder Einzelne kennt eben so ziemlich die be- 
sonderen Eigentümlichkeiten der Artikulation des Anderen, — 
und solche hat jeder Mensch. Man erkennt sich daher an der 
blossen Stimme, — man versteht den Sprechenden wenn er 
die Hand vor dem Munde hält, wenn er gähnt, wenn er die 
Pfeife zwischen den Zähnen oder den Lippen hat, wenn er 
isst u. s. f. Man darf daher wohl sagen; je ferner stehend die 
mit einander sprachlich verkehrenden Menschen, je mehr Wert 
wird auf eine genaue Artikulation gelegt. — Uebrigens wirkt 
zu dem leichteren Verständniss nahestehender Glieder einer 
kleinen Gemeinschaft natürlich auch die Gleichheit der Inter- 
essen mit und damit die Durchsichtigkeit der Situation wie der 
Sprachzwecke und Prädicate der Mitteilung. 


187 

S. 11. Die Vcrweehöluug vou Lauten, wie d und /, n und 
/, k und /, der vcröchiedenen Arten des r, besonders des alveo- 
laren und Uvularen r, ist auch ein in der Spraeligesehielite 
wirksamer Vorgang. Ein allmäliliger Uebergang ist in diesen 
Fällen nielit denkbar, sondern nur eine Verwechslung, an der 
die Sprachgemeinscliaft bei der ähnlichen akustischen Em- 
pfindung keinen Anstoss nahra,^ oder auf die sie doch einen 
regulierenden Einfluss nicht übte. — Für die Association der 
Laute vgl. meine Anzeige von H. Paul Prinzipien etc. Zeitschr. 
f. d. Gymnasialwesens. Jahrg. 36 Berl. 1882. 301 ff. 

S. 12. Vgl. hierzu meine Ausführungen über den Wort- 
schatz des Menschen nach Massgabe seiner Bedürfnisse in dem 
Aufsatz über Uialectforschung; Zachers Zeitschr. f. deutsche 
Pliilologie Bd. XI S. 4G8 f. Halle 1880. 

S. 17. Ich habe absiclitlich diesen Modus den Bittmodus 
genannt' und niclit Optativ. Der Grund liierfür ist folgender: 
Bei dem Wunsche z. B. ach wenn er doch käme, ulinam veniat 
und venirei, n yuQ iXd^oL und yXd^t und anderen Ausdrucks- 
formen ist ja allerdings, wie bei der Bitte, das Streben im 
Sprechenden vorhanden, das genannte Gut zu erhalten, aber 
der Bittende macht die Erreichung des Erstrebten von dem 
Willen und der Geneigtlieit der angeredeten Person abhängig, 
er suclit daher die Gunst und die Zuneigung dieser Person zu 
gewinnen, glaubt also selbst auf die Realisierung des Erstrebten 
durch seine Bitte Einfluss üben zu können. 

Bei dem Wunsche dagegen wird das Eintreten der er- 
strebten Thatsache abhängig von Mächten und Bedingungen 
gedacht, auf die wir selbst ganz einflusslos zu sein glauben. 
Ein eigentlicher Wunsch wird daher nur da ausgesprochen 
werden können, wo uns 1. die bestimmenden Mächte räum- 
lieh und zeitlich entrückt sind, z. B. wir wünschen, dass der 
abwesende Bruder jetzt etwas thun möchte, sind uns aber be- 
wusst, dass wir auf den Willen des Bruders einen Einfluss 
nicht üben können. 2, Der eigentliche Wunsch tritt da ein, 
wo wir die Erflülbarkeit des Erstrebten abhängig glauben von 
Mächten, denen gegenüber unser Wollen überhaupt wirkungslos 
erscheint, das sind die Naturgesetze, oder bei gewissen Formen 
der Weltanschauung das Fatum: z. B. wenn wir im Winter 
wünschen: wenn ich draussen doch Blumen fände. 


188 

Jedenfalls setzt der eigentliche Wunsch stets einen Ein- 
blick in die Bedingungen des Eintritts einer Handlung voraus, 
der dem Kinde im Allgemeinen fehlen muss. Wünscht das 
Kind, dass der abwesende Bruder etwas thun möge, so sagt 
es einfach: er soll das thun und richtet diese Worte an die 
Personen, deren Hülfe es in Anspruch zu nehmen pflegt, wenn 
es sich selbst nicht zu helfen weiss, also vor Allem an Vater 
und Mutter. Geht man mit dem Kinde über Land, und wird 
es durstig oder hungrig, so fordert es einfach und rücksichts- 
los zu essen und zu trinken, und wenigstens bis zu einer ge- 
wissen Stufe der Entwicklung sind alle Vorstellungen der Eltern 
vergeblich, dass man doch erst an ein Haus kommen müsse. 

Also die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Willens 
und des Willens der Personen, mit denen das Kind zu thun 
hat, muss es erst sehr allmählig gewinnen, — und schliesslich 
bleibt ja noch immer der Ausweg: der liebe Gott kann Alles 
und auf dessen Willen kann der Mensch einwirken. Diese 
kindliche Stufe ist nicht den Kindern allein eigen, sie ist dem 
naiven Menschen niederer Culturen überhaupt eigentümlich, 
denn wie lange es gedauert, die unabänderliche Geltung der 
Naturgesetze zu erkennen, wie lange der Mensch durch Gebet 
und Zauber gegen das Naturgesetz gekämpft hat, ist nur zu 
bekannt. Kinder also und Menschen kindlicher Entwicklungs- 
stufen erlernen erst mit der Zeit den Wunsch, d. h. das Be- 
gehren mit dem Bewusstsein, dass die Realisierung des Be- 
gehrens an unumstössliche oder doch unantastbare Bedingungen 
geknüpft sei. 

Es ist somit deutlich, dass Wunsch und Bedingung Zwil- 
linge sind, die eine Vorstellungsform kann ohne die andere 
nicht eintreten. Denn man darf sagen, dass die Empfönglich- 
keit des strebenden Menschen, die Empfänglichkeit des er- 
regten Egoismus das Verständniss für die Bedingung und 
damit ftlr den Begriff der Möglichkeit und Unmöglichkeit er- 
schlossen hat. Die Formen der Bedingung sind daher natur- 
gemäss die Formen des Wunsches — oder soll man umgekehrt 
sagen? Das Deutsche: wenn er (doch) käme, das Griechische 
al, el {-&£, /«()), das Lateinisch vereinzelte o, si sind Be- 
dingungsformen, der Wunschausdruck wird erst dadurch voll- 
ständig und dem Hörer verständlich, dass der Begehrungston 


189 

hinzutritt. Durch den Empfindungston wird, ähnlich wie bei 
der Drohung, der Nachsatz ergänzt etwa in dem Sinne: das 
wäre schön, da ivürde ich mich freuen. Thatsächlich allerdings 
ergänzen wir diesen Nachsatz nicht mehr, sondern durch die 
Gewöhnung an die Ergänzung empfinden wir den Inhalt des 
Nachsatzes schon im Vordersatze mit, d. h. der Conditionalsatz 
ist die deckende und congruente Form des Wunsches ge- 
worden. 

Wie schwer es ist, wenigstens für das Griechische, zu ent- 
scheiden, ob die Bedingung durch die Wunschform, oder die 
Wunschfonn durch die Bedingung bezeichnet wird, beweist 
die Negation f/i^ im Bedingungssatze, diese stammt entschieden 
nicht aus der rein objectiven Bezeichnung der Bedingung, son- 
dern aus der Bedingung in der Form der Strebung. — Auch 
der griechische Optativ bezeichnet den Wunsch, die (realisier- 
bare) Bedingung und die Möglichkeit, also auch hier sind die 
Begehrungsformen und die Erkenntnissform der Möglichkeit 
und Bedingung unlöslich verquickt. Wie schon angedeutet 
war, müssen wir glauben, dass die ersten Erkenntnisse der 
Bedingung und der Möglichkeit sich an den Hemmnissen ent- 
wickelten, die das Begehren des Menschen an der Notwendig- 
keit der Schranken menschlichen Könnens fand, — also bedingt 
ist ursprünglich die Handlung, welche begehrt wird, deren 
Realisierung aber nicht in dem Willens des Begehrenden liegt. 

Wissen wir, dass ein Gut nicht realisierbar ist, so nennen 
wir den Wunsch unerfüllbar, die Bedingung irreal. Doch ein 
eigentlicher Wunsch ist dies gar nicht mehr, denn es fehlt 
diesem Afi^ectzustande des Menschen die Hoffnung und die Er- 
wartung der Realisierung. Dieser Wunsch ist thatsächlich nur 
ein Bedauren, ein reiner Schmerzensausdruck, dass uns ent- 
weder ein- Gut nicht zum Teil geworden ist, oder zu Teil 
werden kann. Es ist daher verständlich, dass die Wunsch- 
form im Griechischen für diesen Zustand nicht gebraucht wird. 
Finden wir im Griechischen nun den Indicativ besonders Im- 
perfecti oder Aoristi in diesen Fällen, und gebraucht auch das 
Lateinische und Deutsche eine Präteritalform, so* ist auch diese 
Form psychologisch verständlich, z. B. wenn er (doch) gekommen 
wäre, ein verkürzter Bedingungssatz, der Ton des Bedaurens 
ergibt den Nachsatz: dann war es schön. Aber ebenso: wenn 


190 

(doch) der Mensch nicht stürbe, zu deuken: dann wäre oder 
war es schön, griechisch und deutsch dialectisch wenyi die Men- 
schen nicht starben, französische Bedingung indicativisch: st 
les morts revenaient , . . les peres et les fils ne se comiaitraient 
pas (Mätzner 223). Offenbar ist die Unmöglichkeit oder Irrea- 
lität einer Handlung ein Erfahrungssatz, und der Ausdruck der 
Erfahrungssätze ist passend das Präteritum, wie im Griechi- 
schen der Aoristus gnomicus. 

Nun wird aber Deutsch und Lateinisch diese Bedingung 
meist conjunctivisch bezeichnet, obgleich die deutschen Dialecte 
mehrfach den Indicativ bieten und dieser Lateinisch gleichfalls 
zum Ausdruck der Irrealität vorhanden ist. Wir werden den 
Conjunctly hier aufzufassen haben als eingedrungen aus dem 
Wunschsatze, und anzunehmen haben, dass der unerfüllbare 
Wunschsatz die conjunctivische Form des verwandten realisier- 
baren Wunschsatz angenommen hat. 

"Ferner ist Lateinisch und Deutsch der Conjunctiv der 
Wunschmodus, nicht der Optativ, oder gleich richtig gesagt: 
Lateinisch und Deutsch haben sich Optativ und Conjunctiv als 
nah verwandte Begehrungsformen vermischt. Offenbar hat man 
also den eigentlichen Wunsch nicht scharf getrennt gehalten 
von der Begehrungsform, durch die wir einen fremden Willen 
zu beeinflussen suclien. In gewissen Fällen stehen sich nun 
auch für ein entwickelteres Bewusstsein beide Begehrungsweisen 
sehr nah: per earn, fnoriar, si = ich will sterben, wenn. Als 
Gebet gcfasst an die Gottheit, d. h. als Fluch ist der Ausdruck 
Willcnsausdruck, tritt die Beziehung auf die Gottheit zurück, 
so wird die Formel zum Wunsche. 

Ferner sahen wir, dass der Wunsch sich allmählich aus 
dem Hcmmungsgcftihle des Willens entwickelt, es liegt daher 
nichts näher, als dass der Willcnsausdruck sprachlich bei- 
behalten, aber nach dem modificierten Inhalte einen modifi- 
cicrten Sinn annahm, dem der Ausdruck allmählich congruent 
wurde. Und so sind ohne Zweifel die deutscheu und lateini- 
schen Wunschformen: utinam und o, dass {doch) zu verstehen, 
es sind eigentlich Willcnsausdrücke genau enssprechend dem 
romanischen Imperativ mit que franz., che ital., denn uti-nam 
ist finale Conjunction. So hat also das fortgeschrittene Be- 
wusstsein die Formen einer kindlichen Stufe beibehalten, wo es 


191 

einen Wunßeh nicht kannte, aber mit dem neuen Inhalte er- 
füllt. — 

Entsprechende Wunschformen sind latein.: ut du ilium per- 
dant und die übereinstimmenden romanischen Formen bei Diez 
fJr. S. 918 (vgl. Kühner, Lat. (Ir. § 47, 4). Auch die lateinischen 
WnuRchsätze mit dum, dum modo, modo sind ur8i)rünglich finale 
Willensßätze. — Es mag auch darauf hingewiesen werden, dass 
die so verschiedenen Begehrungsformen des Wunsches und Willens 
vielfach in ihren verbalen und nominalen Ausdrücken nicht 
Hcharf gesondert werden, vgl. griech. ßovXofmi, lat. volo, volun- 
fas] ferner erinnere ich daran, dass die Wunschform leicht als 
lmi)erntiv erschlossen werden kann, wie in der II. Abhandlung 
ausgefühii; ist. 

S. 18. Vgl. zu dieser Ausführung ,über Dialectforschung' 
a. a. (). 41)3. — Ich weise an dieser Stelle auf die Wichtigkeit 
hin, welche die Erkcnntniss der menschlichen Satzmelodie, des 
Tempos und der Energie des Si)recheus auch für ein wissen- 
schafkliches Verständniss der Musik liat. Es bedarf keines 
Beweises, dass die Form der sprachlichen Satzmelodie von der 
Musik sehr vielfach verwertet wird, ich verweise z. B. unter 
Schumanns Kinderstücken auf die , Bitte', in der eine deutliche 
Nachahmung der fragenden Satzmelodie des Sprechenden zu 
erkennen ist. Verstehen wir ein deraiiages Musikstück, was 
ohne programmatische Bezeichnung immerhin seine Schwierig- 
keiten hat, so gibt uns das Bewusstsein der Situation, unter 
der sprachlich eine derartige Tonfolge gebräuchlich ist, den 
Schlüssel zum Verständniss; so ist also in diesem Falle das 
Muster, nach dem wir die Tonfolge ihrem Inhalte nach ver- 
stehen, die Satzmelodie. 

Auch das Tempo und die Energie der Tongebung eines 
Musikstückes pflegen wir durch das Medium der sprachlichen 
Formen der Leidenschaft und Empfindung aufzufassen, wenn 
uns nicht der sprachliche Text oder ein illustrierendes Wort 
der programmatischen Musik anweist, ein anderes Wesen als 
Tnlger der leidenschaftlichen Bewegung oder als Ursache der 
Tcine zu denken. So denken wir in Schuberts Erlkimig die 
Bewegungsform der instrumentalen Begleitung als Trappen des 
Rosses und auch als Ursache der Time denken wir das Ross, 


192 

in Beethovens Pastorale werden Töne als Donnergetose und 
Schalmeienklang der Hirten gedeutet. 

Ist Tempo und Rhythmus mit gewissen Bewegungsformen 
des Hörenden fest associiert wie die Tanzrhythmen, so werden 
die Tanzsituationen dem Hörer in das Bewusstsein gerufen 
und geben die Mittel der Deutung. Oder sind gewisse Har- 
monisierungen und Tonfolgen fest für gewisse Situationen, wie 
die Kirchentonarten für die Situationen religiöser Erbauung, 
so müssen auch diese als Deutungsmaterial in das Bewusstsein 
gerufen werden. 

Abgesehen von diesen Fällen, wo die Association mit ge- 
wissen äusseren Situationen der Musik einen realen und an- 
schaulichen Inhalt geben, erregt die wortlose Musik nur ge- 
wisse formale Empfindungsqualitäten aus der Linie von der 
Lust zum Schmerze, der Hörer kann bei einer deraiügen Ge- 
fühlserregung daher Tonfolge, Tempo und Energie auch nur 
als Formen deuten, unter denen jene Empfindungen wie die 
der Wehmut, der Lust u. s. f zur Erscheinung treten, d. h. er 
muss jene musikalischen Erscheinungsformen nach dem Muster 
deuten, wie sich Empfindungen überhaupt hörbar äussern, hör- 
bar in den Reflex- oder artikulierten Sprachlauten. 

S. 19. Der perfectische Conjunctiv ne dixeris ist Rest 
einer älteren Verwendungsweise des Conjunctivs des lateini- 
schen Perfects, dieser Conjunctiv ist zeitlos. Wir wissen, dass 
sich im Lateinischen Perfect Aorist und Perfect einer älteren 
Sprachstufe gemischt haben, deutlich beweist dies die Aorist- 
bedeutung des lateinischen Indicat. Perf histor. Fassen wir 
jenen Conjunctiv als Aoristmodus, so stimmt der Gebrauch 
genau überein mit dem griechischen Prohibitiv firj jcoirj6^]g, und 
auch dieser Prohibitiv ist auf die IL Person beschränkt. Man 
könnte bei der Erklärung des lateinischen conjunct. Perf. pro- 
hibit, vielleicht an die Verwendung des Infinitiv Perf. in Willens- 
sätzen denken, doch spricht für die Annahme der zeitlosen 
Bedeutung des Conj. Perf noch deutlich der Conjunctiv. potential, 
der Gegenwart dixerit quis u. s. f. Diese Conjunctivverwendung 
schliesst, so weit sich beurteilen lässt, an den alten Optativ 
an, der Lateinisch mit dem alten Conjunctiv in Form und Be- 
deutung zusammengeflossen ist. — Beide Fälle des Conj. Perf. 


193 

sind Isolierungen, wie Paul treffend solche Erscheinungen nennt. 
Es wäre Zeit, dass man auch auf syntactischem Gebiete der 
alten Sprachen anfinge, die Isolierungen zu sammeln, das Urteil 
über die syntactische Verbindungsweise würde sich sehr wesent- 
lich umgestalten, die Regeln würden vielfach eine ganz andere 
Fassung erhalten müssen. 

S. 25. Die Erzählung steht in der . Sigurdarkwida III' 
und lautet nach Simrocks Uebersetzung : 

47 ,I^un geht herzu, die Gold wollen 
Und minderes Gut von Mir erlangen; 
Ich gehe Jeder goldrothen Halsschmuck, 
Schleif und Schleier und schimmernd Gewand' 

Also es ist nicht einmal das Ansinnen ausgesprochen, für 
die Geschenke mitzusferben, so selbstverständlich erscheint es. 

48 Stille schwiegen sie und sannen auf Rat, 
Bis endlich zur Antwort sie alle gäben: 
„Wie dürftig wir seien, wir wollen doch leben, 
Saalweiber bleiben und thun was gebührlich ist." 


49 Sinnend sprach die lichtgeschmückte 
Jung von Jahren jetzo das Wort: 
„Nicht eine soll ungern und unbereit 
Sterben müssen um meinetwillen. 

50 Doch brennet auf euern Gebeinen dereinst 
Karge Zier, kommt ihr zu sterben 

Und mich heimzusuchen, nicht herrliches Gut'* 

Nur diese leise Andeutung ermöglicht einen Schluss auf 
die Anschauungsweise jener Zeit. 

S. 33. Sobald die Relativconstruction als congruenter Aus- 
druck erschien für die Bestimmung einer Person oder Sache 
nach einer bestimmten Handlung oder Qualität, konnte der 
Relativsatz auch an die Spitze treten. Eine ähnliche Erschei- 
nung liegt in der Umstellung der Glieder einer Periode nach 
dem Gesetze des Proteron-Hysteron vor. 

S. 37. Der englische Relativsatz ohne Relativpronomen 
(vgl. Fölsing, Engl. Gr. § 86) ist jenem deutschen Erklärungs- 

13 


194 

Satze bei weil, dass u. s. f. gleich und hat sich aus der ein- 
fachen Parenthese entwickelt. 

S. 38. Ich generalisiere natürlich diese Erklärung nicht 
auf Fälle mit ut finale, quombius, quin, obgleich auch diese Con- 
junctionen von dem Interrogativstamme gebildet sind. Uöber 
die Sätze mit quominus und ne ist im Texte der II. Abhandlung 
gesprochen. Sicher sind die mit ne gebildeten Sätze eigentlich 
die directe Rede, und das sogenannte regierende Verbum mit 
hohem Illustrationsweiie ist Referatsexposition ; ebenso steht es 
mit quin, z. B. non dubito, quin veniat ist eigentlich wie, warum 
sollte er nicht kommen? ich zweifle nicht. Also auch hier haben 
wir es mit Umsetzung aus director Frage zu thun. 

Bei der Beurteilung des ut finale wird man an die Verba 
studii et voluntatis anzuknüpfen haben, wie sie passend die 
Schulgrammatik nennt. Hier erinnert die Constiniction der Verba 
des Sorgens wie euro, provideo u. a. mit ut sehr deutlich an 
die entsprechenden Verba des Griechischen mit ojca)g z. B. 
tjüifisjLeTöO^at ojtcoq. Und hier, d. h. bei den Verben der sor- 
genden Ueberlegung, ist die Construction als indirecte Frage 
etymologisch sehr durchsichtig: ich überlege sorgend, wie ich 
thun soll und diese indirecte Frage entwickelt sich aus der 
directen: wie soll ich thun, sorgte A. Auch hier ist das sog. 
regierende Verb Referatsexposition. Diese Construction des ut 
ist unmittelbar verständlich bei Verben wie consulo, prospicio, 
video, conte^ido, laboro, nitor, operam do, id ago, id specfo, nihil 
antiquius habeo. 

Da erscheint es nun wahrscheinlich, dass nach Analogie 
dieser Verba all die verwandten Verba, bei denen eine Absicht 
empfunden wurde, diese Construction annahmen. Diese Annahme 
erscheint um so wahrscheinlicher, wenn wir die in klassischer Zeit 
bei den Prosaisten isolierten Constructionen der Verba volo, nolo, 
malo, cupio, iubeo, veto in Betracht ziehen, die genau wie die 
griechischen Verba der Absicht den Infinitiv bei sich haben, 
bei umgleichem Subjecte den Accusativ c. Inf. Dazu gesellt 
sich die gleichfalls isolierte Construction von studeo und den 
Verben des Beschliessens. Doch auch die übrigen Verba des 
Bittens, Forderns, Erlaubens, Ratens, Befehlens, Aufforderns 
haben in der älteren Latinität den Infinitiv bei sich. Und wie 


195 

in so vieleu Punkten folgt in dieser Construction die augusteische 
Diclitersprache der alten Latinität, denn das poetische Stilgefühl 
der augusteischen Zeit bildet sich an der Sprache des alten Epos 
und Dramas. Und an der Sprache der augusteischen Dichter, 
in erster Linie des Vergil, bildet sich das Stilgefühl der spätem 
Prosa wie z. K. das des Tacitus, daher auch hier die Infinitiv- 
construction. — Somit erscheint es wahrscheinlich, dass die 
Constructionsweise mit ut finale, die nur für eine Gruppe von 
Verben etymologisch angemessen war (denen des Sorgens), im 
Laufe der Zeit eine viel weitere Ausdehnung gewann, sich 
sowohl mit den übrigen Verben der Absicht verband als da 
eintrat, wo deutsch damit gebräuchlich ist. 

S. 42. Natürlich ist als nachträgliche Correctur auch der 
häufige Ausdruck zu fassen : es kam Karl^ also dem bestimmten 
Subjecte voraus erst das unpersönlich unbestimmte es. 

Das Deutsche und Französische verwendet das Personal- 
pronomen ich, du und die romanischen Vertreter von ego, tu 
in nicht betonter Bedeutung (vgl. Diez, Gr. 984), doch auch in 
den übrigen romanischen Sprachen hat es durchaus nicht immer 
den Nachdruck (Diez 985). Für das Lateinische nimmt man 
allgemein an, dass das persönliche Pronomen nur mit be- 
sonderem Nachdrucke stehe (z. B. Kühner, Lat. Gr. § 116, 1). In 
dieser Allgemeinheit ist die Annahme falsch : zunächst wird es 
nicht bestritten , dass bei quidem — sed = zrvar — aber das 
persönliche Pronomen ohne Nachdruck hinzugefügt wird, wobei 
equidem die Verbindung ego quidem vertritt, für die II. und 
III. Person tu quidem und ille quidem gewählt wird. — Bei den 
augusteischen Dichtern ferner ist es mir sehr zweifelhaft ge- 
worden, ob jene Annahme berechtigt sei. Zu einer Ent- 
scheidung dieser Frage würde es eines vollen Stellenverzeich- 
nisses bedürfen, das ich nicht besitze, auch nicht für einen 
einzelnen der Dichter, ich gebe hier einige Beispiele, aus denen 
man ersehen wird, dass jene Annahme allerdings ihre grossen 
Bedenken hat: Hör. c. 1,18,11 n07i ego te — quatiam; 2,17,9 
non ego perfidum Dixi sacramenium ; 4, 4, 69 Carthagini iam non 
ego nuntios Mittam superhos \ 1,9,16 nee dulces amores sperrte 
puer neque tu choreas, Ep. 1, 18, 39 Arcanum neque tu scruta- 
heris. Es sind dies Fälle mit der Negation non, neque^ die oft 

13* 


196 

mit dem persönlichen Pronomen verbunden steht, Hör. c. 3, 10, 11 
non te, 4, 7, 23 non te, epod. 2, 49 non me. In der Antwort 
non ego Sat. 1, 2, 19. Ebenso ist es bedenklich Ep. 1, 2, 63 hunc 
frenis, hunc tu compesce catena, Sat. 2, 2, 20 tu pulmentaria quaere 
Ep. 1, 18, tu cede, hier überall sententiös, im betonten Sinne 
zu fassen. Die Frage verdient eine nähere Untersuchung, diese 
anzuregen, war der Zweck dieser Mitteilung. — 

Es ist interessant, dass sich die altindogermanische Reihen- 
folge der Satzelemente auch in der Sprache des Taubstummen 
wiedei*findet. Schmalz sagt S. 274 (nach Steinthal, Kl. Schrift 
1,40): 

, Dasjenige, was dem Taubstummen das Wichtigste scheint, 
schickt er dem Uebrigen immer voran, und lässt dabei das 
ihm überflüssig Scheinende hinweg. Z. B. um zu sagen : der 
Vater gab mir einen Apfel, machte er das Zeichen für Apfel, 
dann dasjenige flir Vater und das flir ich ohne das für geben 
hinzuzufügen.' 

Uebereinstimmend mit unseren Resultaten ist: 1. die Stel- 
lung des logischen Prädicats, 2. die Handlung selbst bleibt 
unausgedrückt und wird ergänzt aus ihren Beziehuugspunkten, 
3. die Beziehungspunkte sind nicht unter einander conform 
gemacht, sondern jedesmal eine selbständige Bewegung für 
sich, die als solche nur Beziehung hat auf das mimischthätige 
Subject. Darum ist das Zeichen für ich nicht besonders ge- 
schieden von dem Zeichen für mir, 

S. 45. Ich gebe einige sichere Beispiele der expositions- 
losen Form des Vergleichs : Latein, aliud ego, aliud tu = anderes 
ich als du, — Horaz. Ep. 1, 1, 25 f.: aeque pauperibus prodest, 
locupletibus aeque, aeque neglectum pueris senibusque nocebit. — 
Die Vergleichung mit tamquam fällt unter die im Texte be- 
sprochene Vergleichsweise mit nachträglicher Correctur tarn, 
quafu; — quasi ist aus der Frage qua? (o. quam) = wie? und 
der Antwort si hervorgegangen; Caesar aeque ac Pompeius eig. 
Cäsar in gleicher ff^eise, und (auch) Pomp, zeigt dieselbe Cor- 
rectur wie et — et, ebenso das griech. xal nach Ausdrücken 
der Gleichheit. Die gegenseitige analogische Beeinflussung 
der Vergleichung mit atque und quam 4st durchsichtig ; und es 


197 

bedarf nur eines Hinweises auf non aliier quam neben melius 
atque. Ebenso hat sich Griechisch aualogisch beeinflusst bfiotog 
c. Dat. und o avzog xai — Expositionslos ist franz. plusieurs, 
lat. complures und plures, deutsch fnehrere, und doch erhalten 
sie mit der Zeit den Massstab eins aus dem Bcwusstsein, so 
dass sie sind = mehr als einer. 

Expositionslos ist das mhd. beide = so wohl — als auch, 
z. B. beide mit der nachträglichen Correctur des vater und des 
suns (Paul, mhd. Gr. 315). Ebenso er ist uns also leit so dir 
und das nhd. als = ebenso. 

S. 49. Um nicht selbst derbe Kraftausdrücke zu gebrauchen, 
vermeide icli Beispiele, die sich von selbst ergeben. Nur möchte 
ich auf gewisse Verschiedenheiten im Sprachbewusstsein der 
Zeiten und Völker hinweisen über das Gemeine und Unedle 
in der Sprache. Es ist z. B. verständlich, dass man gewisse 
Körperteile so wenig benennt als cntblösst, der Grund scheint 
ja einfach der zu sein , weil sie mit gewissen Verrichtungen 
zusammenhängen, die uns Ekel erregen, oder die wir obscön 
nennen. Nun erzählt Ebers in seiner Reisebeschreibuug von 
Gosen zum Sinai von erheblichen Abweichungen in der Ver- 
hüllung gewisser Körperteile der Frauen bei verschiedenen 
Völkern. Finden sich da auch Abweichungen betreffs der Scheu 
diese Körperteile zu nennen? 

Auch bei dem Vergleich der höheren Dichtersprache ver- 
schiedener Völker zeigen sich Abweichungen betreffs der Be- 
nennung von Körperteilen. So trägt Horaz in dem höchsten 
Odenstil kein Bedenken die popliies zu nennen, z. B. C. 3, 2, 16 
nee parcit iuventae poplitibus, Vergil A. 9, 761. 10, 699 a. a. 0., 
kein deutscher Dichter dürfte im höheren Stile wagen von 
Kniekehlen zu sprechen. Auch vom Schienbein zu reden möchte 
kaum in der höheren deutscheu Poesie möglich sein, doch die 
crura werden in der höheren römischen Poesie unbedenklich 
gebraucht (vgl. Vergil A 11,639. 777; Georg. 3, 76; Hör. C. 2, 
20, 9). Geht diese Abweichung aus einem ethischen oder wohl 
gar religiösen Widerwillen hervor, oder ist der Grund die Ab- 
neigung in der Poesie, pedantisch genau zu werden? Aber 
andere Körperteile wie die Ferse, das Knie, das Äuge, Kinn, 
Mund, Zunge, Faust werden viel gebraucht und oft gerade mit 


198 

dem ästhetisch wohlthuenden Eindruck der individuellen Be- 
zeichnung ; an diese Worte müssen sich also Vorstellungen ge- 
knüpft haben, die ethisch und ästhetisch höher stehen. Und 
wie verhält sich die Freude an individueller Bezeichnung zum 
Unlustgeftthle am pedantisch-genauen, wenn die Darstellung 
selbst doch nicht den Character der Pedanterie trägt? 

S. 53. Es wäre eine dankbare Aufgabe, zu untersuchen, 
inwiefern auf den Sprachgebrauch die Festsetzungen von Regeln 
eingewirkt haben. Bei den römischen Dichtern ist die An- 
nahme unabweisbar, dass sie bestimmte rhetorische und stili- 
stische Vorschriften in den Schulen lernten und in ihren poe- 
tischen Schöpfungen verwendeten. Z. B. war sicherlich eine 
solche Regel die Anweisung, bei gewählter Darstellung pars 
pro toto zu gebrauchen. Offenbar ist diese Form in dem natür- 
lichen Sprachbewusstsein durchaus begründet, wie, will ich hier 
nicht untersuchen, aber in der Anwendungsweise, welche die 
römischen Dichter der augusteischen Zeit davon machen, ist 
jene Form zur Unnatur geworden. Ein eklatantes Beispiel 
liefert Vergils hölzernes Ross im ü. Buche der Acneis: V. 112 f. 
heisst es hie trahibus contcxtus acernis staret equus, 185 f. 
hanc tarnen immensam Calehas altoller c molem r oh or ihn s textis 
caeloque educere iussil, 258 f. inclusos utero Danaos et pine a 
furtim laxat clausira Sinon: illos patefactus ad auras reddit 
equus, laetiqua caro se roh ore prommit. 

Und in ähnlicher Weise geht es mit der Benennung der 
Winde, der Musen u. s. f. — Eine solche Ausdrucksform, die 
zunächst auf einer bewussten Reflexion beruht, kann aber 
ebenso mechanisiert werden wie jede andere Ausdrucksform 
und natürlich auch breite und tiefe Spuren in der Sprach- 
geschichte zurücklassen, besonders wenn man bedenkt, dass 
die junge Generation ihr Stil- und Sprachgefühl an den Dichtern 
besonders Vergil in den Schulen bildete. 

S. 78. So leiten sich in ganz gleicher Weise Satzformen, 
welche eine reale Thatsache bezeichnen, aus allgemeiu^gefassten 
Sätzen ab. Bekannt ist die Verbindung des griech. d mit den 
Verben d^avfid^ecv, axd^todat, dyavaxrtlv, aiöxvvtö&aCj fiefi- 
(fbOüac u. s. f. in dem Sinne eines Satzes mit ore vgl. Kühner, 
Gr. Gr. § 551, 8, also {^^avfidc^o), 6tl ravra yiyvtrai und tl ravxa 


199 

yiyvtrat. Die Ergänzung der Realität musH daö jedesmalige 
Situationsbewusstsein des Hörenden ergeben. — Auf derselben 
Linie stehen etymologisch die lateinischen Sätze mit eisi, ta- 
meisi = obgleich, wo es sich um eine reale Thatsache handelt, 
z. B. Cic. Fam. 4, 15, 2 sed tarnen eist anlea scripsi, quae exist i- 
mavi scribi oportere, tarnen hoc tempore putavi. Ferner lat. si- 
quidem =^ da ja. — Die Sätze in der Beschwörung : weiin ich 
dir Opfer gebracht habe, so hilf mir und ebenso Lateinisch und 
Griechisch. — Auch das causale quom, cum, quoniam des Latei- 
nischen erklärt sich so. Danach ist der Satz da {cum) es regnet, 
ist es nass zunächst ein allgemeiner Satz = fvanii es regnet, 
ist es nass, die llealität aber wird je nach dem Situations- 
bewusstseiu ergänzt. Es ist für diese Frage gleichgiltig, ob 
wir annehmen, dass sich die causale Bedeutung von cum direct 
aus der Frageform entwickelt hat oder aus der allmählich im 
lateinischen Sprachbewusstsein festgewordeueu Verwendung des 
Interrogativstammes in relativem Sinne. In beiden Fällen ist 
als Grundbedeutung doch ein wann anzusetzen, fragend oder 
relativ. Der Satz: es ist nass, wann? es regnet ist ebenso all- 
gemein wie der Satz: wann es regnet, ist es nass. Somit muss 
sicher die relative Verwendung des cum = wann für die cau- 
sale Bedeutung schon vorausgesetzt werden. Ebenso steht es 
mit quando. Uebrigens bleibt der Ursprung des Conjr.nctivs 
bei dem causaleu cum noch dunkel. — Auch das deutsche die 
weil, weil kann etymologisch schwerlich anders als in all- 
gemeinen, die Bedingung bezeichnenden, Sätzen gebraucht sein. 


Excurs zu Abhandln St. XXI. 

Die Welt ist für den sprechenden Menschen zunächst nur 
vorhanden als das Object seiner Empfindungen, Strebungen 
und Wahrnehmungen. Alles ausser dem sich selbst fühlenden 
Menschen, was als existierend vorgestellt wird, wird eben vor- 
gestellt und ist somit Object; das einzige Subject ist somit der 
sich selbst empfindende Mensch. Diese Vorstellungsweise ist 
die eigentlich normale, und in dem Satze z. B. mein Bruder 
geht ist das Urteil entsprungen aus der Wahrnehmung, die der 
Sprechende am Bruder macht, also eigentlich: ich nehme meinen 


200 

Bruder währ, er geht; ebenso bei dem Erinnerungs- und Wissens- 
nrteile: mein Bruder ist gross, eigentlich: ich weiss meinen Bruder, 
er ist gross. 

Ebenso steht es bei den Begehrungs- und Willenssätzen: 
0, wenn doch der Bruder käme und der Bruder soll kommen, — 
eigentlich : ich wünsche oder ich will den Bruder, er soll kommen. 
Der Empfindungston ist ja eben einem ausgesprochenen Verbum 
des Begehrens und Willens gleich. Ebenso bei der Verwun- 
derung, dem Schmerze, der Freude: in mein Bruder kommt ist 
mein Bruder das Object des betreflfenden Affects. 

Und natürlich ist es in nicht mechanisierter Rede möglich 
und häufig, dass der Redende den inneren Vorgang seiner Vor- 
stellung oder seines Aflfects durch einen besonderen Satz be- 
zeichnet, in dem das secundäre Subject Object ist; z. B. ich 
wünsche vom Bruder, dass er; ich hoffe vom — , ich denke vom — , 
ich wundere mich über — , es thut mir tveh am Bruder u. s. f. 
Und diese Ausdrucksform ist noch weiterer Zerdehnung fähig. 

Nach dem im Texte Gesagten würden wir eine solche 
Ausdrucksform die des Referats nennen, die sich offenbar an 
solchen Fällen gebildet hat, wo der Aflfect nicht unmittelbar 
durch den Empfindungston erschlossen werden konnte, und wo 
die referierende und redende Person nicht identisch war. Bei der 
direeten Aflfect- oder VorstcUungsmitteilung ist die unmittelbare, 
nicht referierende. Form die übliche. 

In diesem Falle ist es nun deutlich, dass die innere Thä- 
tigkeit des redenden Subjects ein so undeutliches Bewusstseins- 
element geworden ist, dass sie im Allgemeinen die Construction 
der Aussage nicht mehr bestimmt. An einer Formel veran- 
schaulicht würde das Verhältniss folgendes sein, wenn wir das 
redende Subject mit A, das Handlungssubject, das flir A Object 
ist, mit B und die Handlung selbst mit x bezeichnen: 



B X 

d. h. A stellt B und x vor oder empfindet diese Objecto in 
irgend einer Weise. 


201 

Tritt (lagegeu die innere Tlüitigkeit von A zurück, so ist 
die Formel: 

d. b. A mit seinen Beziehungen tritt im Bewusstsein ganz in 
den Hintergrund, und B und x verbinden sieh so mit einander, 
dass sie dem Hörenden eonform zu sein scheinen. 

Wie sich diese Verdunklung im Bewusstsein vollzog, ist 
leicht ersichtlich: 1. die Thatsache jener inneren Thätigkeit 
tritt bei jeder Sprachäusserung hervor, ist also v^egen ihrer 
Häufigkeit mechanisiert. 2. Der innere Vorgang selbst gibt 
ein wichtiges Merkmal zum Erschliessen des Prädicats nur, 
insofern ihm ein Empfindungston entspricht, also sind unter 
jenen Vorgängen nur die Aflfecte bedeutungsvoll und wertvoll; 
die objective, leidenschaftlose Vorstellung ist für den Schluss 
auf das Wertprädicat bedeutungslos. 

Damit werden wir eine Abstufung in der Wirksamkeit 
jener inneren Vorgänge auf die Ausdrucksform anzunehmen 
haben, die verhältnissmässig stärkste Wirksamkeit werden die 
Affects -Vorgänge des redenden Subjects haben. 

Bedenken wir weiter, dass wir einen Spraciizustand an- 
nehmen mussten, bei dem der Satz aus dem einzelnen Worte 
bestand, so wird auf dieser Sprachstufe die Neigung B und x, 
also das Ilandlungssubject und die Handlung conform zu machen 
zunächst nicht vorhanden gewesen sein. Für diese Zeit würden 
wir die Formel erhalten: 

A 

I 

B [x erschlossen]. 

Diese Ausdrucksform, sahen wir, ist erhalten in den Wort- 
sätzen der entwickelten Sprache, z. B. t?iei7ie Stiefeln, meinen 
Bock; in Verwunderungssätzen: der Mensch! in Sätzen der 
Freude und des Schmerzes wie: ei, der Vogel; ach, der Hund- 

Wir sehen auch hier constant den Nominativ ausser in 
der Imperativform, offenbar wird also zu dem affectvoU aus- 
gerufenen Gegenstande oder der benannten Person eine Hand- 


202 

lung gedacht, zu der dieser Gegenstand oder diese Person als 
Subject empfunden wird. Eine Angleichung zwischen dem 
Object des Affects und der zugeliörigen Handlung findet auch 
hier statt, wo eine directe Handlungsbezeichnung nicht vor- 
handen ist, allerdings vermutlich nach dem Schema des ge- 
bräuchlichen vollständigen Satzes. 

Diese Angleichung ist weder absolut notwendig, noch in 
den indogermanischen Sprachen thatsächlich tiberall vorhanden. 
Dialectisch wird im Deutschen (z. B. bei Magdeburg ausgerufen: 
den Minschen, sonnen Minschen). Offenbar ist also hier die 
Person als Object des aflfectvoll erregten Subjects zu denken. 

Derselbe Fall ist aus dem Lateinischen sehr bekannt, vgl. 
Kühner, Lat. Gr. § 70, 5. Die Fassung der Regel ist allerdings in 
dem Kühnerschen Buche sehr mangelhaft, verkehrt ist erstens, die 
Annahme dass besondere Verben wie staunt an, befrachtet, seht, 
vernehfnt, ich beschwöre bei pro deum /idem und dergl. mit- 
gedacht seien ; wenn auch dergleichen Verba in der zerlegenden 
Darstellung ergänzt wer Jen; viel verkehrter aber ist die Be- 
dingung, welche Kühner für den Gebrauch des Accusativ an- 
gibt, er sei regelmässig mit einem attributiven Adjective oder 
Genetiv verbunden. Seine eigenen Beispiele hätten ihn eines 
Besseren belehren können, so ohne Adjectiv: pro ftdem, pro 
deum fidem, en 7nea malefacta, nieam en avariiiam, ecce me, die 
bei Komikern häufigen Formen ellum, eccnm, cccam, eccos, 
eccas, eccillnm, eccillam. Mit Adjectiven der Qualität oder des 
Zustandes: forliinaliim Nicobulum, lepidum te, edepol morialis 
malos, ieu ?ne miserum u. a. Allerdings sind die Adjectiva attri- 
butiv verbunden, ihre Function ist jedoch prädicativ, es sind 
Ausrufssätze in dem Sinne von : miser sum. Häufig finden sich 
bei diesem Accusativ die Interjectionen o, heu, eheu, hem, pro, 
edepol, en, ecce. 

Ein Ausdruck wie 77ie miserum zeigt, dass das von me 
ausgesagte Prädicat miser dem Objectscasus conform geworden 
ist, das Gegenteil zeigte sich oben, wo das Object des reden- 
den Subjectes conform wurde dem nachfolgenden Prädicate, 
wie in der Verwunderung: der Mensch stirbt. 

Ein gleicher Vorgang, eine gleiche Entwicklung zur Con- 
formität der Formen hat auch an dem oben besprochenen Zu- 
stande des lateinischen Ausdrucks geändert; ausser au einer 


203 

Stelle (Phil. 5, 6 15 m causam) schreibt Cicero bei en den No- 
minativ (vgl. Kühner a. a. 0.), und ebenso v^rird ecce mit dem 
Nominativ verbunden: ecce homo. 

Noch schlagender und tiberzeugender ergibt sich dieser 
Fortschritt zur Conformität zwischen Ausrufsobject und ge- 
dachter Handlung bei dem deutschen sieh, sieh mal Dieser 
Imperativ sollte stets den Accusativ bei sich haben, und so 
ist der schriftdeutsche Ausdruck sieh mal den Menschen, doch 
vulgär nach der mitgedachten Subjectsf unction: sieh mal, der 
Mensch! 

Der sprachhistorische Vorgang ist klar: es ist ein Object 
der Vorstellung des sprechenden Subjects sprachlich zum Sub- 
ject einer Thätigkeit geworden, welche von diesem Objecto 
ausgeht. Uebertragen wir dies auf die Stufe des Wortsatzes, 
so lautet der Ausruf zunächst: den Menschen, er kommt, 

Otfenbar ist dieser Vorgang wesensgleich der sogenannten 
Attraction, die im Griechischen besonders so häufig eintritt, 
vgl. Ktihner, Griech. Gr. § 600, 4, z. B. Homer B 409 'ijöti yccQ 
xata ß'Vfiov ddeXcpsov (hi^ sjiovtlro, Latein, nosti Marcellum, 
quam tardus sit. Auch hier zeigt sich eine Concurrenz zwischen 
der Thätigkeit des Hauptsubjects in Bezug auf ein Object, und 
der eigenen Thätigkeit, welche von diesem Objecto wider aus- 
geht. — Das Deutsche zeigt dem Lateinischen gegenüber eine 
ähnliche Neigung wie das Griechische; wir sagen gern bei den 
Verben des Sagens und Vorstellens z. B. ich stelle mir die 
Mittel vor, durch die, Lateinisch ist es viel gewöhnlicher das 
Object dem nachfolgenden Nebensatze conform zu machen und 
zu sagen: cor/ito quibus rebus. 

Vergegenwärtigen wir uns, dass die Sätze, welche wir 
in der ausgebildeten Sprache als wirkliche Sätze anzusehen 
pflegen, — dass diese Sätze durch allmähliches Aneinander- 
rücken melirer selbständiger Sätze entstanden. Es ist daher 
nur wahrscheinlich, dass uns die Sprachen selbst Reste der 
Beziehung des Objects des redenden Subjects auch da noch 
bieten, wo die Conformität längst durchgeführt ist. — Doch 
erst noch eine Vorbemerkung: mit Absicht ist im Vorgehenden 
stets der Ausdruck Handlung gebraucht, denn ein wahres Sub- 
ject kann nur bei einer Handlung vorhanden sein. Unsere 
indogermanischen Sprachen zeigen uns aber auch Subjecte von 


204 

Zuständen und Leiden. Der Grammatiker hat Recht diese als 
logische Objecte einer Thätigkeit zu bezeichnen. Wahre Hand- 
lungssubjecte können nur Personen sein. So viel also ist deut- 
lich, dass bei Objecten, die ihrem Wesen nach nicht eigentlich 
Subjecte sein konnten auch die Subjectsfunction nicht hervor- 
treten und sie der Subjectsfunction nicht congruent werden 
konnten. Das war erst möglich, wenn die Bedeutung des Sub- 
jects sich durch gewisse Sprachvorgänge so umgestaltete, dass 
auch das leidende Object zum Subject gerechnet wurde. 

Nun liegt in den indogermanischen Sprachen die That- 
sache vor, dass die unpersönlich gedachten Gruppen, soweit 
sie o-Stämme sind, als Subjects-Casus den Accusativ, d. h. den 
Objectscasus verwenden, zunächst ist das deutlich am Ad- 
jectivum magnum, fiaxQov u. s. f., dann an Substantiven wie 
avTQov, arvum, arairum u. s. f. Ich denke, es ist nach dem 
Gesagten deutlich, dass hier die Thatsache vorliegt: Objecte 
des sprechenden Subjects wurden zunächst nicht zu Subjecten, 
da sie nicht Handlungssubjecte sein konnten also auch ein 
Congruentwerden mit der Subjectsfunction und ein Conform- 
werden mit der Handlungsbezeichnung nicht eintreten konnte. 

Diese sogenannten Neutra sehen aus wie Accusative mascu- 
linalcr Substantiva; was von ihrer Function als Objecten gilt, 
wird auch von den übrigen Neutris anzunehmen sein: dulce, 
rj6v, aXrjd^tq etc., deren Subjectsfunction durch den reinen Stamm 
versehen wird, ebenso ytQag, öoqv, munus, yivoi; u. s. f. Be- 
zeichnend genug wird auch die Objectsfunction durch den 
reinen Stamm versehen, man sagt : der Accusativ sei dem No- 
minativ gleich. Offenbar ist auch hier die Objectsbezeichnung 
durch Veränderung des Sprachbewusstseins vom Subjecte fähig 
geworden wirklich als Subject zu gelten. 

Die genannten Adjectiva zeigen deutlich, wie man formell 
das Handlungssubject vom Vorstellungsobject schied, nemlich 
durch eine Satzform, d. h. die Verbindung mit einem Wörtchen, 
vielleicht sa, sä. Ohne hierauf näher einzugehen, werden wir 
doch daraus schliessen dürfen, dass der reine Stamm eben 
nicht zur Subjectsfunction ursprünglich geeignet war, sondern 
das Object des redenden Subjects bezeichnete. 

Der reine Stamm ist im Allgemeinen als Vocativbezeich- 
nuug gewählt, und der Vocativ ist ein Imperativ, der etwa ein 


205 

ich will den Bruder bezeichnet. Aber als persönliches Object 
erp^ünzte besonders der angeredete Hörer aus dieser Form: ich 
soll kommen, hören, ihxm n. s. f., und so tritt der Vocativ dem 
Nominativ so ausserordentlich nahe, dass der Nominativ selbst 
vertretend für den Vocativ eintritt, und dass der Nominativ 
appositionell den Vocativ erklärt. 

Hatten wir Recht, dass die Thätigkeit oder Handlung in 
jedem Falle ergänzt und erschlossen werden muss, so wird der 
Ver])al8tamm, der sich in Nichts vom Nominalstamme unter- 
scheidet, wohl ursprünglich gleichfalls Object des redenden 
Subjects gewesen sein, und At/f im Imperativ wird sich von 
avfhQc/)j!:£ in seiner Function nicht unterschieden haben, es 
wird gebraucht sein wie meinen Slack u. a. Aber auch diese 
Form wird gedeutet als ein Subject du in sich tragend. 

Die übrigen Formen des Verbs werden natürlich ursprüng- 
lich gleichfalls nach dem Schema gebildet sein: 

A oder A 

A A 

B X X B 

In rl&rj-öc also war rt^yy- Object und öc Object zu A. 
Und ganz entsprechend werden die Stämme ma, ta für die 
erste und dritte Person verwandt, die übereinstimmend die 
Casus Obliqui nicht den Subjectscasus bezeichnen. 

Die Bildungsweise steht also auf gleicher Linie mit dem 
infinitivischen Ausrufe: cum venire, in dem eum wie venire zu- 
nächst Object des redenden Subjects waren, — genau so wie 
sie es bei einem dico eum venire sind. Aber auch hier tritt 
zweifellos jene Conformität ein, bei der eum u. s. f. auch als 
Subject zu venire gedacht wird, nur dass der Infinitiv seinen 
Objectscasus in der Sprachfunction beibehält. Als wirklicher 
Objectscasus erscheint der Accusativ beim Infinitiv, wenn die 
passive Construction den Nominativ mit dem Infinitiv fordert 
wie dicor venisse. Wo das jedoch nicht der Fall ist, kann 
der Accusativ nur noch als Subjectscasus des Infinitivs em- 
pfunden sein. 

Es ist deutlich, dass wir das hier eben ausgeführte Ver- 
hältniss des Stammes zum redenden Subjecte bei allen syn- 


206 

tactischen Betrachtungen über Formenlehre des Indogerma- 
nischen zu Grunde legen müssen. 

Ehe wir diesen Punkt verlassen, muss noch auf eins hin- 
gewiesen werden: Wir sahen, dass die Formen venis, veyiil 
Referatsformen waren, in denen das Suffix die Exposition ent- 
hielt zu dem Stamme. Der Stamm allein würde eben nur ein 
Object des empfindenden Subjects bezeichnen, dessen Function 
aus der sprachlichen Andeutung und dem Empfindungstonc 
erschlossen wird. Es bedeutet die Form also etwa Kunft ihn, 
Kunfi oder Gang dich. Nach dem eben Gesagten dürfen wir 
ungefähr das Lat. te venire, eum venire das Griech. oe eXd^nv 
etc. dem gleich setzen. 

Wird das Kommen nicht berichtet, sondern spricht es die 
redende Person von sich selbst aus = venio^ so fehlt das ex- 
positionelle Pronomen. Ist das vcnio nun gleich dem Objecto 
Kiin/'t etwa oder gleich sXO'eZv, und lässt sich der innere Vor- 
gang des redenden Subjects mit den Verben des Sagens und 
Vorstellens explicieren, so haben wir etwa einen Ausdruck: 
jLiyco hXd'Blv^ nur dass Ityco blos auf der Referatsstufe aus- 
gedrückt wird; also auch hier fehlt das Object-Subject zu Xiyo) 
kXd'Elv weil es dasselbe ist wie das sprechende Subject, da- 
gegen ist dies verschieden, so heisst es Xiyo) eX^elv es, avxov. 
Diese Infinitivconstruction ist fast sämmtlichen Verben eigen- 
tümlich, welche referierend über die inneren Vorgänge des 
redenden Subjects und das Reden desselben berichten, und auch 
das Gesetz galt allgemein, dass bei gleichem Subjecte der 
blosse Infinitiv, bei ungleichem der Accusativ mit dem Infinitiv 
stehe. Ausser dem Griechischen beweist es das Deutsche: ich 
hoffe zu sehen etc., die isolierten Verben der classischen Lati- 
nität wie volo, nolo, malo, ciipio, die Verben des Beschliessens 
mit blossem Infinitiv und der Dichtergebrauch. 

Somit sehen wir, dass die Form des Referatsausdrucks in 
den ältesten Zeiten der indogermanischen Sprachen sich nach 
demselben Gesetze bildete wie später in der ausgebildeten 
Sprache. Die lateinischen Constructionen polUceor me venturum 
esse u. a. sind nach dem Muster der Referatsformen gebildet 
und stehen auf gleicher Linie mit dem l'örfjfic u. s. f.. Formen 
in denen das Pronomen nach dem Muster der echten Referats- 
formen iorr/g, iöT7jOc angetreten ist. Bekanntlich hat diese